ZweiterBand

Der Schatz

Die Sonne hatte ungefähr ein Drittel ihres Tageslaufes zurückgelegt, und ihre Strahlen fielen warm undbelebend auf die Felsen. Tausende von Grillen ließen im Heidekraut ihr eintöniges, unablässiges Zirpen vernehmen, und in der Ferne sah man auf den Felsen wilde Ziegen springen, die zuweilen einen Jäger auf die Insel locken; mit einem Worte, das Eiland war voll Leben. Dennoch fühlte sich Edmond allein in Gottes Hand, und es erfaßte ihn etwas wie Furcht. Dieses Gefühl war so stark, daß er, als er zur Arbeit schreiten wollte, innehielt, seine Hacke niederlegte, die Flinte wieder aufnahm, zum letztenmal den höchsten Felsen der Insel erstieg und einen weitenBlick über seine Umgebung warf. Alles, was er sah, beruhigte ihn; dieBrigantine, diebei Tagesanbruch die Anker gelichtet hatte, war am Horizont verschwunden, die Tartane fuhr in entgegengesetzter Richtung an Korsika hin. Er faßte nun seine nähere Umgebung ins Auge. Kein Mensch war auf der Insel sichtbar, keineBarke an ihrem Gestade, nichts als das azurblaue Meer, das den Strand peitschte. Dann stieg er mit raschen Schritten, aber vorsichtig hinab; er hütete sich ängstlich vor einem Unfall, wie er ihn so geschickt und erfolgreich seinen Gefährten vorgetäuscht hatte.

Dantes war, wie gesagt, den Spuren der in den Felsen gehauenen Zeichen rückwärts gefolgt und hatte gesehen, daß sie zu einer kleinen, verborgenenBucht führten, die tief genug war, daß ein kleines Fahrzeug darin ankern konnte. Er sagte sich, der Kardinal Spada sei, in der Absicht, nichtbemerkt zu werden, in dieserBucht gelandet, habe sein kleines Fahrzeug darin versteckt, die gezeichnete Linie verfolgt und an ihrem Ende seinen Schatz vergraben. In dieser Annahme war Dantes wieder zu dem runden Felsen gelangt. Nur einsbeunruhigte ihn und machte ihn wankend in seiner Vermutung. Wie hatte man ohne gewaltige Kraftanstrengung diesen Felsen, der etwa fünfzig Zentner schwer war, auf die Stelle hinaufbringen können, auf der er jetzt ruhte?

Plötzlich kam Dantes ein Gedanke. Konnte man den Felsen nicht auch von oben heruntergebracht haben? Und er eilte hinaus, um die Stelle des ersten Standortes zu suchen. Er erkannte in der Tatbald, daß der Fels herabgeglitten war und an der Stelle Halt gemacht hatte, wo ihm ein anderer Fels als Untersatz diente. Steine und Kiesel waren sorgfältig wieder so gelegt worden, daß man die vorgenommene Änderung nicht merkte. Pflanzenerde war darauf gedeckt worden. Gras war gewachsen, und Moos hatte sich ausgebreitet. Dantes nahm vorsichtig die Erde weg und erkannte, wie sinnreich die Sache angelegt war. Dann fing er an, mit der Hacke die im Laufe der Zeit dicht gewordene Zwischenmauer anzugreifen.

Nach einer Arbeit von zehn Minuten gabdie Mauer nach, und es entstand ein Loch, durch das man den Arm schieben konnte. Dantes fällte nun einen starken Olivenbaum, steckte ihn in das Loch und machte so einen Hebel daraus; aber der Fels war zu schwer und zu fest durch den unteren Felsen unterlegt, als daß eine menschliche Kraft ihn hätte erschüttern können. Da wurde ihm klar, daß er diese Unterlage selbst angreifen müsse, aber durch welches Mittel? Er schaute spähend umher, und seinBlick fiel auf sein Pulverhorn, das ihm sein Freund Jacopo zurückgelassen hatte; er lächelte: des Pulvers Kraft sollte das Werk verrichten.

Mit Hilfe seiner Hacke grubDantes zwischen dem oberen und unteren Felsen einen Minengang, dann stopfte er ihn mit Pulver voll, fädelte sein Taschentuch aus, rollte es in Salpeter und machte eine Lunte daraus. Sobald die Luntebrannte, entfernte er sich. Die Explosion ließ nicht auf sich warten; der obere Fels wurde einen Augenblick durch die gewaltige Kraft aufgehoben, der untere zersprang in Stücke.

Dantes näherte sich. Nunmehr ohne Stütze, neigte sich der obere Fels gegen den Abgrund. Der unermüdliche Sucher ging um ihn herum, wählte eine von den schwankendsten Stellen, stützte seinen Hebel an eine der Ecken und stemmte sich mit ganzer Kraft gegen den Felsen. Schon wankte dieser, und als Dantes seine Anstrengung verdoppelte, gaber endlich nach, rollte, stürzte nieder und verschwand, im Meer versinkend. Er ließ einen kreisförmigen Platz entblößt undbrachte einen eisernen Ring an den Tag, der mitten in eine Platte von viereckiger Form gelötet war.

Dantes stießbei diesem glänzenden Erfolge einen Schrei der Freude und des Erstaunens aus. Dann steckte er seinen Hebel in den Ring und hobihn kräftig empor. Die Platte öffnete sich, und eine Art von Treppe wurde sichtbar, die sich im Schatten einer immer dunkler werdenden Grotte verlor.

Dantesbliebeine Minute unbeweglich. Dann aber stieg er hinab, ein Lächeln auf den Lippen, und murmelte das letzte Wort der menschlichen Weisheit: Vielleicht…

Aber statt der Finsternis, die er zu finden erwartet hatte, statt einer undurchsichtigen, schlechten Atmosphäre, sah er nur einen Schimmer sanften, bläulichen Tageslichtes. Luft und Licht drangen nicht nur durch die Öffnung, die er gemacht hatte, sondern auch durch Felsspalten des oberenBodens, durch die man das Azur des Himmels erblickte, auf dem die zitternden Zweige der grünen Eichen und die dornigenBrombeerstauden spielten. Nach einem Aufenthalte von ein paar Sekunden, vermochte sein an die Finsternis gewöhnterBlick die entferntesten Winkel der aus glitzerndem Granitbestehenden Höhle zu erforschen. Dantes erinnerte sich des Testaments, das er auswendig wußte: In der entferntesten Ecke der zweiten Öffnung.

Er war aber nur in die erste Grotte gedrungen und mußte nun den Eingang in die zweite suchen. Diese mußte natürlich in das Innere der Insel verlaufen. Er untersuchte die Steinlagen und schlug an eine Wand, von der erbestimmt glaubte, daß sich hinter ihr die zweite Höhlebefinde. Die Hacke entlockte dem Felsen einen matten Ton. Endlich kam es dembeharrlichen Gräber vor, als obein Teil der Granitmauer ein dumpferes, tieferes Echo gebe. Er näherte seinen glühendenBlick der Wand und erkannte mit den scharfen Augen des Gefangenen, daß hier eine Öffnung sein mußte. Um sich jedoch keine unnötige Arbeit zu machen, untersuchte er auch die anderen Wände mit seiner Hacke, prüfte denBoden mit dem Schafte seiner Flinte, durchwühlte den Sand an verdächtigen Stellen und kehrte, als er nichts fand, nichts erkannte, zu dem Teile der Wand zurück, der den tröstlichen Ton von sich gab. Hier mußte er wühlen und ging kräftig an die Arbeit. Nach einigen Schlägenbemerkte er, daß die Steine nicht festgemauert, sondern nur übereinander gelegt und mit einem Anwurfbedeckt waren. Edmond steckte das Eisen der Hacke in eine Spalte, drückte auf den Stiel und sah zu seiner großen Freude den Stein wie auf Angeln rollen und zu seinen Füßen fallen. Nun hatte er nur noch jeden Stein mit dem eisernen Zahn der Hacke an sich zu ziehen, und einer nach dem andern rollte zu dem ersten.

Die zweite Grotte war niedriger, düsterer und sah furchtbarer aus als die erste. Die Luft, die nur durch die soeben gemachte Öffnung eindrang, erfüllte schwefliger Geruch, den Dantes zu seinem Erstaunen in der ersten nicht gefunden hatte. Er ließ der äußeren Luft Zeit, diese tote Atmosphäre wieder zubeleben, und trat dann ein. Links von der Öffnung war eine tiefe, finstere Ecke, die jedoch für Dantes' scharfe Augen nicht undurchdringlich war. Er untersuchte die zweite Grotte, aber auch sie war leer wie die erste. Der Schatz mußte also, wenn überhaupt vorhanden, in der düstern Ecke vergraben sein.

Nun ergriff ihn aber die Angst derBangigkeit; er hatte nur noch zwei Fuß Erde zu durchwühlen, und der Erfolg mußte ihm entweder die höchste Freude oder die höchste Verzweiflungbereiten. Unverzüglich griff er zur Hacke und schlug auf denBoden. Beim fünften oder sechsten Hiebe erklang Eisen. Daneben fand er denselben Widerstand, aber nicht denselben Ton. Es ist eine hölzerne Kiste mit eisernen Reifen, sagte er.

In diesem Augenblick zog ein rascher Schatten vorüber. Dantes ließ seine Hacke fallen, ergriff seine Flinte, schlüpfte durch die Öffnung und stürzte hinaus. Eine wilde Ziege warbeim Eingang zur ersten Grotte vorüber gesprungen und weidete einige Schritte davon. Dantes schnitt einen harzigenBaum ab, entzündete ihn an dem noch rauchenden Feuer, an dem die Schmuggler ihr Frühstückbereitet hatten, und kehrte mit dieser Fackel zurück. Er näherte die Fackel der Ecke und erkannte, daß er sich nicht getäuscht hatte. Seine Streiche hatten abwechselnd das Eisen und das Holz getroffen. Er steckte nun seine Fackel in die Erde und ging wieder ans Werk. In einem Augenblicke war eine drei Fuß lange und etwa zwei Fußbreite Stelle frei, und Dantes vermochte eine Kiste zu erkennen, die mit Reifen von ziseliertem Eisen umlegt war. In der Mitte des Deckels glänzte auf silberner Platte das Wappen der Familie Spada, ein pfahlartig auf ovalem Wappenschild ruhendes Schwert und darüber ein Kardinalshut.

Im Augenblick war die ganze Umgebung der Kiste abgeräumt, und Dantes sah nach und nach das mittlere Schloß, das zwischen zwei Vorlegschlössern angebracht war, und diebeiden Griffe an der Seite erscheinen. Er faßte die Kiste an den Griffen und suchte sie aufzuheben; es war unmöglich. Er wollte sie öffnen, aber die Schlösser waren geschlossen und schienen als getreue Wächter ihren Schatz nicht herausgeben zu wollen. Er schobdie schneidende Seite seiner Hacke zwischen die Kiste und den Deckel, drückte auf den Stiel, und der Deckel krachte und zersprang.


Ein schwindelartiges Fieber ergriff Dantes, er nahm seine Flinte und stellte sie mit gespanntem Hahn neben sich. Anfangs schloß er die Augen, wie es Kinder tun, um in der funkelnden Nacht ihrer Einbildungskraft mehr Sterne zu sehen, als sie am gestirnten Himmel zählen können, dann öffnete er sie wieder undbliebgeblendet.

Drei Abteilungen enthielt die Kiste; in der ersten glänzten die Goldtaler mit ihren rötlichgelben Reflexen, in der zweitenbefanden sich in guter Ordnung aufgereihte, aber schlecht geglättete Goldstangen, aus der dritten endlich, die halbvoll war, zog Dantes handvollweise Diamanten, Perlen, Rubine heraus. Nachdem erberührt, betastet, seinebebenden Hände in Gold und Edelsteinen gebadet hatte, erhober sich wieder und lief durch die Höhlen, vor Erregung zitternd, wie ein Mensch, der dem Wahnsinne nahe ist. Er sprang auf einen Felsen, von wo er das Meer überschauen konnte, und sah nichts; er war allein, ganz allein mit diesen unberechenbaren, unerhörten, fabelhaften Reichtümern, die ihm gehörten. Er war ungewiß, ober wache oder träume. War es ein flüchtiger Traum, oder umfaßte er die Wirklichkeit?

Er mußte sein Gold wiedersehen, und dennoch fühlte er, daß er in dieser Minute nicht die Kraft hatte, seinen Anblick zu ertragen. Er drückte einen Augenblickbeide Hände an den Kopf, als wollte er die Vernunft nicht entfliehen lassen; dann stürzte er durch die Insel, ohne einerbestimmten Richtung zu folgen, scheuchte die wilden Ziegen auf und erschreckte die Seevögel durch sein Geschrei und seine heftigen Gebärden. Endlich kehrte er noch zweifelnd auf einem Umwege zurück, eilte von der ersten Grotte in die zweite undbefand sich wieder im Angesichte der ungeheuren Gold- und Diamantenmine. Diesmal fiel er auf die Knie, preßte seine Hände krampfhaft an sein springendes Herz und murmelte ein für Gott allein verständliches Gebet. Bald fühlte er sich ruhiger und folglich auch glücklicher, denn jetzt erst fing er an, an sein Glück zu glauben.

Erbegann, sein Vermögen zu zählen; er fand tausend Goldstangen, jede von zweibis drei Pfund; dann häufte er fünfundzwanzigtausend Goldtaler auf, je im Werte von etwa achtzig Franken und alle mit demBildnis Papst Alexanders VI. und seiner Vorgänger, und erbemerkte, daß das Fach nur halbleer war; endlich maß er zweimal die Weite seinerbeiden Hände in Perlen, in Edelsteinen, in Diamanten, von denen viele, von denbesten Goldschmieden ihrer Zeit gefaßt, abgesehen von ihrem Preise an sich, einenbesonderen Wert durch die Arbeitbesaßen.

Dantes sah den Tag sich neigen und allmählich erlöschen. Erbefürchtete, überrascht zu werden, wenn er in der Höhlebliebe, und ging, seine Flinte in der Hand, hinaus. Ein Stück Zwieback und einige Schluck Wein waren sein Abendbrot. Dann setzte er den Stein wieder an seine Stelle, legte sich darauf und schlief, mit seinem Leibe den Eingang der Höhlebedeckend, nur wenige Stunden.

Der Unbekannte

Der Tag, den Dantes längst mit offenen Augen erwartet hatte, erschien endlich. Bei seinen ersten Strahlen erhober sich und stieg, wie am Tage vorher, auf den höchsten Felsen der Insel, um die Gegend zu erforschen. Es war alles öde, wie am Tage vorher.

Edmond stieg wieder hinab, hobden Stein auf, füllte seine Taschen mit Edelsteinen, brachte, so gut er konnte, dieBretter undBeschläge der Kiste wieder an ihre Stelle, bedeckte sie mit Erde, stampfte diese Erde ein, warf Sand darauf, um die frisch umgewühlte Stelle dem übrigenBoden gleichzumachen. Dann trat er aus der Grotte hervor, legte die Platte wieder auf, häufte auf die Platte Steine von verschiedener Größe, stopfte Erde in die Zwischenräume, pflanzte in diese Myrten und Heidekraut, bedeckte die neuen Pflanzungen, damit sie wie alte aussähen, mit Staub, verwischte die Spuren seiner ringsum sichtbaren Tritte und erwartete mit Ungeduld die Rückkehr seiner Gefährten. Denn jetzt galt es nicht mehr, seine Zeit mitBeschauung dieses Goldes und dieser Diamanten hinzubringen und, wie ein unnütze Schätze hütender Drache, auf der Insel Monte Christo zu verweilen; er mußte ins Leben, unter die Menschen zurückkehren und in der Gesellschaft den Rang, den Einfluß, die Gewalt erlangen, die in der Welt der Reichtum verleiht, die erste und größte der Kräfte, worüber der Mensch zu verfügen hat.

Am sechsten Tage kehrten die Schmuggler zurück; Dantes schleppte sich zum Hafen wie der verwundete Philoktet, und als seine Gefährten landeten, sagte er ihnen, immer noch klagend, es sei eine merklicheBesserung in seinem Zustande eingetreten; dann hörte er seinerseits die Erzählung der Abenteurer an. Die Fahrt war im ganzen nicht schlecht gewesen, und alle, besonders Jacopo, beklagten, daß Dantes nicht mitgemacht habe, und darum seines auf fünfzig Piaster sichbelaufenden Anteils am Nutzen verlustig gehe. Edmond verriet sich durch keine Miene, er lächelte nicht einmalbei der Aufzählung der Vorteile, die ihm zugeflossen wären, wenn er die Insel hätte verlassen können. Da die Amalie nur nach Monte Christo gekommen war, um ihn abzuholen, so schiffte er sich ein und folgte dem Patron nach Livorno, wo er sich, da seine Dienstzeit abgelaufen war, von dem alten Seemann verabschiedete. In Livorno ging er zu einem Juden und verkaufte für hunderttausend Franken vier von seinen kleinsten Diamanten. Der Jude hätte sich erkundigen können, wie ein Fischer zu solchen Wertgegenständen komme, aber er hütete sich wohl, denn er gewann an jedem Stein mehrere tausend Franken. Am andern Tage kaufte er eine ganz neueBarke und schenkte sie Jacopo, dem er außerdem noch hundert Piaster gab, damit er sich Leute anwerben könne, alles unter derBedingung, daß Jacopo nach Marseille ginge und dort über einen Greis, namens Louis Dantes, der in den Allées de Meillan wohnte, und über ein Mädchen in dem Dorfe der Katalonier, namens Mercedes, Erkundigungen einzöge.

Jacopo glaubte zu träumen. Edmond erzählte ihm, er sei aus Eigensinn, und weil ihm seine Freunde das Geld zu seinem Unterhalt verweigerten, Seemann geworden, aberbei seiner Ankunft in Livorno habe er die Erbschaft eines Oheims empfangen, der ihn zu seinem alleinigen Erben eingesetzt. Dantes' überlegeneBildung verlieh der Erzählung solche Wahrscheinlichkeit, daß Jacopo seine Angabe keinen Augenblick in Zweifel zog.

Am andern Morgen ging Jacopo nach Marseille unter Segel; er sollte Edmond auf Monte Christo wiederfinden. An demselben Tage reiste Dantes, ohne zu sagen, wohin, nach Genua ab.

In dem Augenblick, wo er hier ankam, machte man eine Probefahrt mit einer kleinen Jacht, die ein Engländerbestellt hatte. Der Erbauer hatte dafür vierzigtausend Franken gefordert; Dantesbot ihm sechzigtausend unter derBedingung, daß ihm das Schiff noch am selben Tage übergeben würde. Man wurde einig, und der Schiffsbauer erbot sich, Dantes auch eine Mannschaft anzuwerben; aber Dantes dankte und erwiderte, er pflege allein zu schiffen; er wünschte nur, daß man in der Kajüte, oben amBette, einen Geheimschrank anbringe, in dem sich drei geheime Fächer fänden; dieser Auftrag wurde auch nach den von ihm gegebenen Maßen am andern Tage ausgeführt.

Zwei Stunden nachher verließ Dantes den Hafen, von denBlicken einer Menge von Neugierigenbegleitet, die den spanischen Herrn sehen wollten, der allein zu schiffen pflegte. Dantes machte seine Sache vortrefflich; mit Hilfe des Steuerruders ließ er sein Schiff alleBewegungen ausführen, die er wollte, und er gestand, daß die Genueser ihren Ruf als die ersten Schiffsbauer der Welt verdienten. Niemand wußte, wohin der fremde Schiffer fahren würde. Sein Reiseziel war jedoch Monte Christo, wo er gegen das Ende des zweiten Tages ankam. Das Schiff war ein vortrefflicher Segler und hatte die Entfernung in 35 Stunden durchlaufen. Dantes hatte sich die Lage der Küste sehr gut gemerkt, und statt in dem gewöhnlichen Hafen zu landen, warf er in der kleinenBucht Anker. Die Insel war öde, niemand schien seit Dantes' Abreise gelandet zu sein. Erbesuchte seinen Schatz; alles war in dem Zustand, wie er es verlassen hatte. Am andern Abend war das ungeheure Vermögen anBord der Jacht gebracht und in den drei Fächern des Geheimschrankes eingeschlossen. Dantes wartete noch acht Tage. Während dieser Zeit ließ er seine Jacht um die Insel manövrieren und studierte sie, wie der Stallmeister ein edles Pferd. Am achten Tage sah er ein kleines Schiff, das mit vollen Segeln auf die Insel zusteuerte; er erkannte JacoposBarke, machte ein Signal, das dieser erwiderte, und zwei Stunden nachher lag dieBarke neben der Jacht. Auf diebeiden Fragen erhielt Edmond eine traurige Antwort; der alte Dantes war tot, Mercedes war verschwunden.

Edmond vernahm diese Nachrichten mit ruhiger Miene; aber er stieg an das Land, wohin ihm keiner folgen durfte. Nach zwei Stunden kam er zurück und nahm nun zwei Mann von JacoposBarke auf seine Jacht über, die ihmbeim Manövrieren helfen sollten. Sodann gaberBefehl, nach Marseille zu segeln. Den Tod seines Vaters hatte er vorhergesehen; aber was war aus Mercedes geworden?

Ohne sein Geheimnisbekannt werden zu lassen, konnte Dantes einem Agenten keine genügenden Instruktionen geben; überdies wollte er noch andere Erkundigungen einziehen, wobei er sich nur auf sich selbst verließ. Sein Spiegel hatte ihn in Livornobelehrt, daß er keine Gefahr lief, erkannt zu werden; auch standen ihm alle Mittel, sich zu verkleiden, zu Gebote. Eines Morgens lief also die Jacht, nebst der kleinenBarke, kühn in den Hafen von Marseille ein und legte sich gerade vor der Stelle vor Anker, wo man Dantes an jenem Abend unseligen Andenkens nach dem Kastell If eingeschifft hatte.

Nicht ohne ein gewissesBeben sah Dantes in dem Sanitätskahne einen Gendarmen auf sich zukommen. Doch mit der vollkommenen Sicherheit, die er erlangt hatte, reichte er ihm einen in Livorno erkauften englischen Paß, und mittels dieses fremden Ausweises, der in Frankreich viel mehr geachtet wird als der französische, stieg er ohne Schwierigkeit ans Land. Das erste, was er erblickte, als er den Fuß auf die Cannebière setzte, war einer von den ehemaligen Matrosen des Pharao. Er schritt gerade auf ihn zu und richtete mehrere Fragen an ihn, die der Matrosebeantwortete, ohne nur entfernt durch seine Worte oder sein Gesicht vermuten zu lassen, daß er sich erinnerte, den Fremden je gesehen zu haben.

Dantes setzte seinen Weg fort; jeder Schritt, den er tat, brachte eine neue Erschütterung in seinem Herzen hervor; alle Erinnerungen aus seiner Kindheit, unvertilgbare Erinnerungen, erhoben sich auf jedem Platze, an jeder Straßenecke. Als er an das Ende der Rue de Noailles gelangte und die Allées de Meillan erblickte, fühlte er, wie ihm die Knie versagten, und er wärebald unter die Räder eines Wagens gefallen. Er kam zu dem Hause, das sein Vaterbewohnt hatte. Hier lehnte er sich an einenBaum und schaute einen Augenblick nachdenkend den obersten Stock des armseligen Häuschens an; endlich ging er auf die Tür zu, überschritt die Schwelle, fragte, obkeine Wohnung frei sei, und drang, obgleich das Hausbesetzt war, so lange in den Hausverwalter, bis dieser hinaufstieg und die Personen, die den obersten Stockbewohnten, im Namen eines Fremden um die Erlaubnisbat, ihre zwei Zimmer sehen zu dürfen.

Die Personen, die den kleinen Raumbewohnten, waren ein junger Mann und eine junge Frau, die sich erst acht Tage vorher geheiratet hatten. Als Dantes diese jungen Leute sah, stieß er einen tiefen Seufzer aus. Nichts erinnerte ihn indessen an die Wohnung seines Vaters. Nur die Wände waren dieselben. Dantes kehrte sich nach demBette um; es stand an derselben Stelle wie das des früheren Mieters; Dantes' Augenbefeuchteten sich unwillkürlich mit Tränen; auf diesem Platze mußte der Greis gestorben sein. Die zwei jungen Leute schauten voll Erstaunen den Mann mit der ernsten Stirn an, über dessen Wangen zwei große Tränen flossen, ohne daß sich sein Gesicht nur im geringsten veränderte. Aber da jeder Schmerz etwas Heiliges an sich hat, so richteten die jungen Leute keine Frage an den Unbekannten; sie zogen sich nur etwas zurück, um ihn ungestört weinen zu lassen, und da er sich entfernte, begleiteten sie ihn und sagten ihm, er könne wiederkommen, wann er wolle, und ihr armes Haus würde ihn jederzeit gastfreundlich aufnehmen. Als er am untern Stocke vorbeikam, blieber vor einer Tür stehen und fragte, obder Schneider Caderousse immer noch hier wohne; der Hausverwalter antwortete ihm jedoch, der Mann, von dem er spreche, habe schlechte Geschäfte gemacht und führe gegenwärtig die Gastwirtschaft zum Pont du Gard zwischenBellegarde undBeaucaire.

Dantes ging hinab, fragte nach der Adresse des Eigentümers des Hauses der Allées de Meillan, begabsich zu ihm, ließ sich als Lord Wilmore melden (auf diesen Namen lautete sein Paß) und kaufte ihm das Häuschen für die Summe von 25 000 Franken ab, was wenigstens 10 000 Franken mehr war, als es wert sein mochte. Aber Dantes würde eine halbe Millionbezahlt haben, wenn man so viel dafür gefordert hätte.

An demselben Tage wurden die jungen Leute des fünften Stockes durch den Notar, der den Vertrag gemacht hatte, benachrichtigt, daß ihnen der neue Eigentümer eine Wohnung im ganzen Hause nach ihrer Wahl überlasse, ohne ihren Mietzins zu erhöhen, unter derBedingung, daß sie ihm die zwei Zimmer, die siebewohnten, abträten. Dieses seltsame Ereignisbeschäftigte acht Tage lang alleBewohner der Allées de Meillan und gabzu tausend Vermutungen Anlaß, von denen keine der Wahrheit entsprach. Noch mehr Aufregung und Unruhe erregte es aber, daß man den Lord Wilmore im Dorfe der Katalonier umhergehen und in ein armseliges Fischerhäuschen eintreten sah, wo er mehr als eine Stundeblieb, um Erkundigungen über verschiedene Personen einzuziehen, die tot oder seit fünfzehnbis sechzehn Jahren verschwunden waren.

Am andern Tage erhielten die Leute, bei denen er eingetreten war, eine ganz neue katalonischeBarke zum Geschenk, die mit Schleppnetzen und allem, was man sonstbedarf, ausgerüstet war. Gern hätten diebraven Leute dem großmütigen Geber gedankt, doch hatte man ihn, als er sie verließ, einem MatrosenBefehle geben, zu Pferd steigen und aus Marseille wegreiten sehen.

Das Wirtshaus zum Pont du Gard

An der Straße zwischenBeaucaire undBellegarde liegt mit der Rückseite nach der Rhone zu ein altes, verwahrlostes Gasthaus. Seit etwa acht Jahren wurde diese kleine Wirtschaft von einem Manne und einer Frau geführt, deren einzige Dienerschaft ein Stubenmädchen, genannt Toinette, und ein Hausknecht, namens Pacaud, bildeten, die indessen für dieBedürfnisse des Dienstes genügten, seitdem ein vonBeaucaire nach Aigues‑Mortes gegrabener Kanal der Landstraße den Frachtverkehr entzogen hatte.

Der Mann, der diese kleine Wirtschaft führte, war ungefähr vierzig Jahre alt, groß, mager und nervig, der wahre südliche Typus, mit seinen tiefliegenden, glänzenden Augen, seiner adlerförmigen Nase und seinen Zähnen, so weiß wie die eines fleischfressenden Tieres. Seine Haare waren, wie sein dichter, krauserBart, kaum mit etwas Grau vermischt, sein von Naturbräunlicher Teint hatte sich noch tiefer gebräunt, weil sich der arme Teufel vom Morgenbis zum Abend auf seiner Türschwelle aufzuhalten pflegte, um zu sehen, obihm nicht zu Fuß oder zu Wagen ein Kunde zukäme, eine Erwartung, in der er fast immer getäuscht wurde, indes er sich vor der sengenden Sonnenhitze nach der Weise der spanischen Maultiertreiber nur durch ein um den Kopf gewickeltes rotes Taschentuch zu schützen suchte. Dieser Mann war unser alterBekannter Gaspard Caderousse. Seine Frau sah im Gegenteilbleich und kränklich aus. In der Gegend von Arles geboren, war ihr Gesicht, obwohl die ursprünglichen Spuren derbekannten Schönheit ihrer Landsleutebewahrend, langsam unter dem Einfluß eines fastbeständigen Sumpffiebers verfallen. Sie hielt sich, fast immer vor Kälte zitternd, in ihrem im ersten Stocke liegenden Zimmer auf, entweder in einem Lehnstuhle ausgestreckt, oder an ihremBette lehnend, während ihr Mann an der Tür seine gewöhnliche Wachebezog, die sich um so länger ausdehnte, als ihn seine magere Ehehälfte, so oft er sich wieder mit ihr zusammenfand, mit ihren ewigen Klagen gegen das Schicksal verfolgte, die er gewöhnlich nur mit den philosophischen Worten erwiderte: Schweig, Carconte, Gott will es so!

Trotz dieser anscheinenden Fügsamkeit in dieBeschlüsse der Vorsehung darf man indessen nicht glauben, daß unser Wirt den armseligen Zustand nicht erkannte, in den ihn der elende Kanal vonBeaucaire versetzt hatte, und daß er unverwundbar gegen die ewigen Klagenblieb, mit denen ihn seine Frau verfolgte. Er war, wie alle Südländer, ein mäßiger Mensch und ohne großeBedürfnisse, aber eitel in äußeren Dingen. So ließ er in den Zeiten seines Wohlstandes nie eine Prozession vorübergehen, ohne sich dabei mit der Carconte zu zeigen, er in der malerischen Tracht des Südfranzosen, die die Mitte zwischen der des Andalusiers und des Kataloniers hält, sie in dem reizenden Gewande der Frauen von Arles, das Griechenland und Arabien entlehnt zu sein scheint. Allmählich aber waren Uhrketten, Halsbänder, tausendfarbige Gürtel, gestickte Leibchen, Samtwesten, Strümpfe mit zierlichen Zwickeln, bunte Gamaschen, Schuhe mit silbernen Schnallen verschwunden, und Caderousse, der sich nicht mehr in seinem ehemaligen Glanze zeigen konnte, hatte für sich und seine Frau Verzicht geleistet auf alles weltliche Gepränge, dessen freudiges Geräuschbis in sein armseliges Wirtshaus drang, das ihm mehr als Schirmdach, denn als Einnahmequelle diente.

Caderousse hatte sich seiner Gewohnheit gemäß am Morgen vor der Tür aufgehalten und seinen schwermütigenBlick von einem Stückchen kahlen Rasens, woraus ein paar Hühner kauerten, nach den Enden der öden Landstraße spazieren lassen, die einerseits nach Süden und anderseits nach Norden lief, als ihn plötzlich die spitzige Stimme seiner Frau seinen Posten zu verlassen nötigte. Er gingbrummend hinein und stieg in den ersten Stock hinauf, ließ aber nichtsdestoweniger seine Tür weit offen stehen, als wollte er die Reisenden einladen, ihn im Vorbeigehen nicht zu vergessen.

In dem Augenblick, wo Caderousse hineinging, näherte sich vonBellegarde her ein Reiter. Es war ein Priester mit schwarzem Rock und dreieckigem Hute, der vor der Tür anhielt. Der Reiter stieg ab, zog das Pferd am Zügel nach undband es an; dann schritt er, seine von Schweiß triefende Stirn mit einem roten Tuche abwischend, auf die Tür zu und tat mit dem eisernen Ende seines Stockes drei Schläge auf die Schwelle.

Sogleich erhobsich ein großer schwarzer Hund, bellend und seine weißen, scharfen Zähne zeigend. Alsdann erschütterte ein schwerer Tritt die hölzerne Treppe.

Hierbin ich! sagte Caderousse ganz erstaunt, hierbin ich. Willst du schweigen, Margotin. Fürchten Sie sich nicht, Herr, erbellt, aber erbeißt nicht. Was wünschen Sie, was verlangen Sie, Herr Abbé? Ich stehe zuBefehl.

Der Priester schaute den Mann ein paar Sekunden lang mit seltsamer Aufmerksamkeit an, er schien sogar seinerseits die Aufmerksamkeit des Wirtes auf sich lenken zu wollen; als er aber sah, daß die Züge des letzteren kein anderes Gefühl ausdrückten, als ein Erstaunen darüber, daß er keine Antwort erhielt, sagte er mit stark italienischem Ton: Sind Sie nicht Monsou Caderousse?

Ja, Herr, antwortete der Wirt noch mehr erstaunt, ichbin es in der Tat, Gaspard Caderousse, Ihnen zu dienen.

Gaspard Caderousse?… Ja… ich glaube, das ist der Vorname, nicht wahr, Sie wohnten einst in der Allée de Meillan, im vierten Stocke? — Ja.

Und Sie trieben dort das Gewerbe eines Schneiders?

Ja, aber die Sache nahm eine schlimme Wendung. Es ist so heiß in dem spitzbübischen Marseille, daß man sich dort am Ende gar nicht mehr kleiden wird. Doch was die Hitzebetrifft, wollen Sie sich nicht erfrischen, Herr Abbé?

Allerdings! geben Sie mir eine Flasche von Ihrembesten Wein, und wir nehmen dann, wenn's Ihnenbeliebt, das Gespräch wieder auf, wo wir es verlassen.

Um die Gelegenheit nicht zu versäumen, eine von den letzten Flaschen Cahors‑Wein, die ihmblieben, anzubringen, beeilte sich Caderousse, seinem Gast eine solche vorzusetzen. Als er nach Verlauf von fünf Minuten zurückkehrte, fand er den Abbé auf einem Schemel sitzend, den Ellenbogen auf den Tisch gestützt, während Margotin, der Frieden mit ihm gemacht zu haben schien, seinen fleischlosen Hals und seinen Kopf mit dem schmachtendem Auge auf dem Schenkel des Priesters ausstreckte.

Sie sind allein? fragte der Abbé seinen Wirt, während dieser die Flasche und ein Glas vor ihn stellte.

Oh! mein Gott, ja, allein oderbeinahe so, denn ich habe eine Frau, die mich in nichts unterstützen kann, weil sie immer krank ist, die arme Carconte.

Ah! Sie sind verheiratet? sagte der Priester mit einer gewissen Teilnahme und warf einenBlick umher auf das elende Mobiliar des armseligen Haushalts.

Sie finden, daß ich nicht reichbin, nicht wahr? sagte Caderousse seufzend; aber was wollen Sie, um in dieser Welt zu gedeihen, genügt es nicht, ein ehrlicher Mann zu sein!

Der Abbé heftete einen durchdringendenBlick auf ihn.

Ja, ein ehrlicher Mann, dessen kann ich mich rühmen, sagte der Wirt, der denBlick des Abbés aushielt, und in unseren Zeiten kann das nicht jeder von sich sagen.

Destobesser, wenn Sie wahr reden, versetzte der Abbé; denn ich habe die Überzeugung, daß früher oder später der ehrliche Mannbelohnt und der schlechtebestraft wird.

Sie, als Priester, sagen dies wohl, Herr Abbé! versetzte Caderousse mitbitterem Ausdruck. Doch es steht jedem frei, nicht zu glauben, was Sie sagen.

Sie haben unrecht, daß Sie so sprechen, mein Herr; denn vielleicht werde ich selbst für Sie derBeweis dessen sein, was ichbehaupte.

Wie soll ich das verstehen? fragte Caderousse mit erstaunter Miene.

Ich muß mich vor allem versichern, daß Sie wirklich der sind, den ich suche.

WelcheBeweise soll ich Ihnen geben?

Haben Sie im Jahre 1814 oder 1815 einen Seefahrer namens Dantes gekannt?

Dantes! Obich ihn gekannt habe, den armen Edmond! Ich glaube wohl; er war sogar einer meinerbesten Freunde! rief Caderousse, dessen Gesicht Purpurröte überströmte, während sich das klare, sichere Auge des Abbés zu erweitern schien.

Ja, ich glaube, er hieß wirklich Edmond.

Was ist aus dem armen Edmond geworden, mein Herr? fuhr der Wirt fort; haben Sie ihn vielleicht gekannt? Lebt er noch, ist er frei? Ist er glücklich?

Er ist im Gefängnis gestorben, elender und verzweiflungsvoller, als die Galeerensklaven, die ihre Kugel in demBagno von Toulon schleppen.

Eine Totenblässe überflog Caderousses Antlitz. Er wandte sich um, und der Abbé sah, wie er eine Träne mit einer Ecke seines roten Tuches trocknete.

Armer Kleiner, murmelte Caderousse. Das ist abermals einBeweis von dem, was ich Ihnen sagte, Herr Abbé, daß nämlich der gute Gott nur für die Schlechten gut sei. Oh, diese Welt wird immer schlechter.

Sie scheinen diesen Jungen von ganzem Herzen liebgehabt zu haben? fragte der Abbé.

Oh! ich liebte ihn ungemein, obgleich ich mir vorzuwerfen habe, daß ich ihn einen Augenblick um sein Glückbeneidete. Aber seitdem, das schwöre ich Ihnen, so wahr ich Caderousse heiße, habe ich sein unseliges Geschick sehrbeklagt.

Es trat ein augenblickliches Stillschweigen ein, während dessen der festeBlick des Abbés nicht eine Sekunde diebewegliche Physiognomie des Wirtes zu erforschen aufhörte. Und Sie haben ihn also gekannt, den armen Kleinen? fuhr Caderousse fort.

Ich wurde an sein Sterbebett gerufen, um ihm die letzten Tröstungen der Religion zubieten.

Und woran starber? fragte Caderousse mit halberstickter Stimme.

Woran stirbt man im Gefängnis im Alter von dreißig Jahren, wenn nicht am Gefängnis selbst?

Caderousse trocknete den Schweiß ab, der von seiner Stirn floß.

Das Seltsamstebei alledem ist, fuhr der Abbé fort, daß mir Dantes auf seinem Sterbebettebei dem Christus, dessen Füße er küßte, wiederholt schwur, er wisse die wahre Ursache seiner Gefangenschaft gar nicht.

Das ist richtig, murmelte Caderousse, er konnte sie nicht wissen; nein, Herr Abbé, der Kleine log nicht.

Darumbeauftragte er mich, sein Unglück aufzuklären, was er nie selbst zu tun imstande gewesen war, und sein Andenken zu reinigen, wenn ein Flecken darauf ruhte.

Und derBlick des Abbés wurde immer starrer und verschlang fast den düstern Ausdruck, der auf Caderousses Antlitz hervortrat.

Ein reicher Engländer, fuhr der Abbé fort, sein Unglücksgefährte, der das Gefängnisbei der zweiten Restauration verließ, warBesitzer eines Diamanten von großem Werte. Als er von Dantes, der ihn während einer Krankheit, die er ausgestanden, wie einBruder gepflegt hatte, Abschied nahm, wollte er ihm einenBeweis seiner Dankbarkeit zurücklassen und gabihm diesen Diamanten. Statt sich desselben zubedienen, um die Gefängniswärter zubestechen, die den Edelstein ja nehmen und ihn hernach verraten konnten, bewahrte er ihn stets als ein kostbares Kleinod, falls er aus dem Gefängnis käme, denn wenn ihm dies gelang, so war sein Glück durch den Verkauf dieses Diamanten allein gesichert.

Es war also, wie Sie sagen, ein Diamant von großem Werte? fragte Caderousse mit glühenden Augen.

Allesbeziehungsweise, erwiderte der Abbé; er war für Edmond von großem Werte; man hat den Stein auf fünfzigtausend Franken geschätzt.

Fünfzigtausend Franken! rief Caderousse; er war also so groß wie eine Nuß?

Nein, nicht ganz; doch Sie mögen selbst urteilen, ich habe ihnbei mir. Und der Abbé zog aus seiner Tasche ein kleines Futteral von schwarzem Saffianleder, öffnete es und ließ vor Caderousses geblendeten Augen den herrlichen Stein funkeln, der in einen Ring vonbewunderungswürdiger Arbeit gefaßt war.

Und das ist fünfzigtausend Franken wert? fragte Caderousse gierig.

Ohne die Fassung, die auch ihren Preis hat, sagte der Abbé, machte das Futteral zu und steckte den Diamanten, der in Caderousses Phantasie fortfunkelte, in seine Tasche.


Aber woherbesitzen Sie diesen Diamanten, Herr Abbé? fragte Caderousse; haben Sie ihn von Edmond?

Ja, als sein Testamentsvollstrecker. Ich hatte drei gute Freunde und eineBraut, sagte er zu mir; alle vier, ichbin überzeugt, beklagen michbitterlich; der eine dieser Freunde hieß Caderousse.

Caderoussebebte.

Der andere, fuhr der Abbé fort, ohne daß er Caderousses Erregung wahrzunehmen schien, hieß Danglars; der dritte, obgleich mein Nebenbuhler, liebte mich ebenfalls…

Ein teuflisches Lächeln entstellte Caderousses Züge, und er machte eineBewegung, um den Abbé zu unterbrechen.

Warten Sie, sagte der Abbé, lassen Sie mich vollenden, und wenn Sie etwas zubemerken haben, so können Sie es dann sogleich tun. Der dritte, obgleich mein Nebenbuhler, liebte mich ebenfalls und hieß Fernand; der Name meinerBraut war… Ich erinnere mich des Namens derBraut nicht mehr, sagte der Abbé.

Mercedes.

Ah! ja, versetzte der Abbé mit unterdrücktem Seufzen. DieBraut hieß Mercedes; ja, so ist es. Sie gehen nach Marseille… Verstehen Sie? So sprach Dantes.

Ich verstehe.

Sie verkaufen diesen Diamanten, Sie machen fünf Teile und geben sie diesen guten Freunden, den einzigen Wesen, die mich auf Erden geliebt haben.

Wie, fünf Teile? fragte Caderousse; Sie haben mir nur vier Personen genannt!

Weil die fünfte tot ist, wie ich erfuhr… Die fünfte war Dantes' Vater.

Ach! ja, sagte Caderousse, erschüttert durch die Leidenschaften, die sich in seinem Innern durchkreuzten; ach! ja, der arme Mann ist tot.

Ich habe das in Marseille erkundet, erwiderte der Abbé, der Mühe hatte, gleichgültig zu erscheinen; aber der Tod ist schon so lange erfolgt, daß ich über die näheren Umstände nichts erfahren konnte… Wissen Sie vielleicht etwas von dem Ende des Greises?

Ei! erwiderte Caderousse, wer kann dasbesser wissen, als ich?… Ich wohnte Tür an Tür mit dem guten Mann.

… Ei! mein Gott; ja, ein Jahr nach dem Verschwinden seines Sohnes starbder arme Greis!

Woran starber?

Die Ärzte nannten die Krankheit; er starb, glaube ich, an einer Art Magendarmentzündung; seineBekannten sagten, er sei vor Schmerz gestorben;… ich aber, der ich ihnbeinahe verscheiden sah, sage, er starb…

Woran? versetzte der Priester voll Angst.

Hungers!

Hungers? rief der Abbé, von seinem Schemel aufspringend; Hungers! Die schlechtesten Tiere sterben nicht Hungers; die Hunde, die in den Straßen umherirren, finden eine mitleidige Hand, die ihnen ein StückBrot zuwirft, und ein Mensch, ein Christ ist vor Hunger gestorben, mitten unter andern Menschen, die sich Christen nannten, wie er? Unmöglich! oh! das ist unmöglich!

Was ich gesagt habe, habe ich gesagt, sagte Caderousse.

Und du hast unrecht gehabt, rief eine Stimme auf der Treppe; worein mischst du dich?

Die Männer wandten sich um und erblickten durch das Treppengeländer Carcontes fiebrigen Kopf; sie hatte sichbis hierher geschleppt undbelauschte, auf der letzten Stufe sitzend und den Kopf auf ihre Knie stützend, das Gespräch.

Worein mischst du dich, Frau? entgegnete Caderousse. Der Herr verlangt Auskunft, die Höflichkeit will, daß ich ihm entspreche.

Ja, aber die Klugheit will, daß du ihm die Auskunft weigerst. Wer sagt dir, in welcher Absicht man dich zum Sprechen veranlaßt, Dummkopf?

In einer vortrefflichen, Madame, dafür stehe ich Ihnen, versetzte der Abbé. Ihr Gatte hat nichts zubefürchten, falls er offenherzig antwortet!

Nichts zubefürchten… ja, man fängt mit schönen Versprechungen an, hernachbeschränkt man sich darauf, zu sagen, man habe nichts zubefürchten; dann geht man und hält nichts von dem, was man versprochen hat, und eines Morgensbricht das Unglück über die armen Leute herein, ohne daß man weiß, woher es kommt.

Seien Sie unbesorgt, gute Frau, erwiderte der Abbé, das Unglück wird von meiner Seite nicht über Sie kommen, dafür stehe ich.

Die Carcontebrummte ein paar Worte, die man nicht verstehen konnte, ließ ihren Kopf wieder auf die Knie sinken, zitterte, fortwährend vom Fieber geschüttelt, und stellte es ihrem Manne frei, das Gespräch fortzusetzen, jedoch nur so, daß sie kein Wort davon verlor.

Mittlerweile hatte der Abbé einige Schluck Wasser getrunken und sich etwas gesammelt.

Dieser unglückliche Greis, fuhr er fort, war also dergestalt von aller Welt verlassen, daß er eines solchen Todes starb?

Oh! Herr, antwortete Caderousse, nicht als hätten ihn Mercedes, die Katalonierin, oder Herr Morel verlassen, aber der unglückliche Greis hatte einen solchen Widerwillen gegen Fernand gefaßt, gerade gegen den, fügte Caderousse mit einem ironischen Lächelnbei, den Dantes Ihnen als einen seiner Freundebezeichnete.

Er war es also nicht? fragte der Abbé.

Kann man der Freund eines Menschen sein, dessen Frau manbegehrt? Dantes, der ein Goldherz war, nannte alle diese Leute seine Freunde. Armer Edmond!.. Es istbesser, daß er nichts erfahren hat;… es hätte ihn zu sehr gequält, ihnen im Augenblick des Todes verzeihen zu sollen. Und was man auch sagen mag, fuhr Caderousse in seinerbilderreichen Sprache fort, mir graut noch mehr vor dem Fluche der Toten, als vor dem Hasse der Lebendigen.

Schwachkopf, sagte die Carconte.

Sie wissen also, was dieser vermeintliche Freund gegen Dantes getan hat? fragte der Abbé.

Obich es weiß! Ich glaube wohl!

Gaspard, tu, was du willst, 's ist deine Sache, rief die Frau oben von der Treppe herab, doch wenn du mir Gehör schenktest, sagtest du nichts.

Diesmal glaube ich, daß du recht hast, Frau.

Sie wollen also nichts sagen? versetzte der Abbé.

Wozu soll es nützen? sagte Caderousse. Wenn der Kleine noch am Leben wäre und zu mir käme, um einmal alle seine Freunde und Feinde kennen zu lernen, dann wohl; aber er liegt unter der Erde, wie Sie mir sagen, er kann keinen Haß mehr haben, er kann sich nicht mehr rächen, folglich ausgelöscht die ganze Geschichte!

Ich soll also diesen Leuten, die Sie für unwürdige und falsche Freunde erklären, eine für die TreuebestimmteBelohnung geben?

Es ist wahr, Sie haben recht, erwiderte Caderousse. Was wäre überdies für sie jetzt das Legat des armen Edmond? Ein in das Meer fallender Tropfen Wasser.

Abgesehen davon, daß dich diese Leute mit einer Gebärde vernichten können, sagte die Fran.

Wieso? Diese Menschen sind also reich und mächtig geworden?

Sie kennen Ihre Geschichte nicht?

Nein; erzählen Sie!

Caderousse schien einen Augenblick nachzudenken und sprach sodann: Nein, es wäre in der Tat zu lang.

Sie mögen nach IhremBelieben schweigen, mein Freund, versetzte der Abbé mit dem Tone der größten Gleichgültigkeit, und ich ehre IhreBedenklichkeiten; sprechen wir nicht mehr davon! Womit wurde ichbeauftragt? Mit einer einfachen Förmlichkeit. Ich werde also diesen Diamanten verkaufen.

Und er zog den Edelstein aus der Tasche, öffnete das Futteral und ließ ihn abermals vor Caderousses geblendeten Augen glänzen.

Sieh doch, Fran, sagte dieser mit heiserer Stimme.

Ein Diamant? sagte die Carconte, aufstehend und mit ziemlich festem Schritte die Treppe herabsteigend. Was ist's mit diesem Diamanten?

Hast du denn nicht gehört, Frau? Es ist ein Diamant, den uns der Kleine vermacht hat, zuerst seinem Vater, sodann Fernand, Danglars, mir und Mercedes, seinerBraut. Dieser Diamant ist fünfzigtausend Franken wert.

Oh, der schöne Juwel! rief sie.

Also gehört der fünfte Teil dieser Summe uns? fragte Caderousse.

Ja, antwortete der Abbé, nebst dem Teile des Vaters von Dantes, den ich unter euch vier zu verteilen michberechtigt glaube.

Und warum unter uns vier? fragte Caderousse.

Weil ihr Edmonds vier Freunde seid.

Verräter sind keine Freunde, murmelte dumpf die Frau.

Ja, ja, sagte Caderousse, das sagte ich auch. Es ist eine Entheiligung, ein Frevel, den Verrat, vielleicht das Verbrechen zubelohnen.

Sie wollen es so haben, erwiderte der Abbé und steckte ruhig den Diamanten in die Tasche seiner Soutane. Nun geben Sie mir die Adresse von Edmonds Freunden, damit ich seinen letzten Willen vollstrecken kann.

Der Schweiß floß in schweren Tropfen über Caderousses Stirn; er sah den Abbé aufstehen, sich nach der Tür wenden, als wollte er seinem Pferde einenBlick zuwerfen, und zurückkommen. Caderousse und seine Frau schauten sich mit einem unbeschreiblichen Ausdruck an.

Der Diamant wäre ganz unser! sagte Caderousse.

Glaubst du? erwiderte seine Frau.

Ein Geistlicher wird uns gewiß nicht täuschen wollen.

Tu, was du willst. Ich wenigstens mische mich nicht drein.

Und sie ging fieberschauernd wieder die Treppe hinauf. Ihre Zähne klapperten trotz der Glühhitze. Auf der letzten Stufebliebsie einen Augenblick stehen und rief: Bedenke wohl, Gaspard.

Ichbin entschlossen, antwortete Caderousse.

Die Carconte ging, einen Seufzer ausstoßend, in ihre Stube zurück; man hörte die Decke unter ihren Tritten krachen, bis sie ihren Lehnstuhl wieder erreicht hatte, in dem sie sich schwerfällig niederließ.

Ich glaube in der Tat, es ist dasbeste, was Sie tun können, mir alles zu sagen, sagte der Priester; nicht als obmir viel daran gelegen wäre, die Dinge zu erfahren, die Sie mir verbergen wollen; aber es wirdbesser sein, wenn Sie mich in den Stand setzen, das Vermächtnis nach dem Willen des Erblassers zu verteilen.

Ich hoffe dies, antwortete Caderousse mit von Hoffnung und Gier geröteten Wangen. Er ging an die Tür seines Wirtshauses, verschloß sie und schobzu größerer Sicherheit den Nachtriegel vor. Mittlerweile hatte der Abbé seinen Platz gewählt, um mitBequemlichkeit zu hören; er saß so in einer Ecke, daß er im Schattenblieb, während das volle Licht auf Caderousses Gesicht fiel. Das Haupt geneigt, die Hände zusammengelegt oder vielmehr krampfhaft zusammengepreßt, schickte er sich an, mit der größten Aufmerksamkeit auf jedes Wort zu lauschen. Caderousse rückte einen Schemel vor und setzte sich ihm gegenüber.

Vergiß nicht, daß du's gegen meinen Willen tust, sagte die zitternde Stimme der Carconte, als hätte sie durch denBoden die Szene unten sehen können.

Gut, gut! rief Caderousse; genug, ich nehme alles auf mich.

Und er fing an.

Die Erzählung

Vor allem, Herr, sagte Caderousse, vor allem muß ich Siebitten, mir zu versprechen, daß Sie, wenn Sie von den Umständen Gebrauch machen, die ich Ihnen mitteilen werde, nie sagen, von wem diese Mitteilung herrührt; denn die Leute, von denen ich zu sprechen habe, sind reich und mächtig, und wenn sie mich nur mit dem Fingerberührten, würden sie mich wie Glas zerbrechen.

Seien Sie unbesorgt, mein Freund, ichbin Priester, und dieBekenntnisse sterben in meinerBrust. Erinnern Sie sich, daß wir keinen andern Zweck haben als den, den letzten Willen unseres Freundes würdig zu erfüllen. Sprechen Sie also ohne Schonung, wie ohne Haß, sagen Sie die volle Wahrheit! Ich kenne die Personen nicht, von denen die Rede sein wird, und werde sie wohl nie kennen lernen; überdiesbin ich Italiener und nicht Franzose; ich gehöre Gott und nicht den Menschen und kehre in mein Kloster zurück, das ich nur verlassen habe, um den letzten Willen eines Sterbenden zu vollziehen.

Diesesbestimmte Versprechen schien Caderousse einige Sicherheit zu verleihen. In diesem Falle, versetzte er, will und muß ich Ihnen die Täuschung über diejenigenbenehmen, die der arme Edmond für treu und redlich hielt.

Fangen Sie mit seinem Vater an, bitte. Edmond hat mit mir viel von dem Greise gesprochen, für den er eine tiefe Liebe hegte.

Diese Geschichte ist traurig, mein Herr, erwiderte Caderousse seufzend. Sie kennen wahrscheinlich den Anfang?

Ja, versetzte der Abbé, Edmond hat mir die Sachebis zu dem Augenblick erzählt, wo er in einer kleinen Schenke in der Nahe von Marseille verhaftet wurde, und nie hat er eine von den fünf Personen wiedergesehen, die ich Ihnen nannte, nie hat er von ihnen sprechen hören.

Nun wohl, als Dantes einmal verhaftet war, lief Herr Morel weg, um Erkundigungen einzuziehen; sie fielen sehr traurig aus. Der Greis kehrte allein nach Hause zurück, legte weinend seinen Hochzeitsrock zusammen, schritt den ganzen Tag in seinem Zimmer auf und abund ging abends nicht schlafen; denn ich wohnte unter ihm und hörte ihn die ganze Nacht umhergehen; ich muß sagen, ich schlief selbst auch nicht. Der Schmerz dieses armen Vaters tat mir sehr wehe, und jeder seiner Tritte zermalmte mir das Herz. Am andern Tage kam Mercedes nach Marseille, in der Absicht, den Staatsanwalt um seinen Schutz anzuflehen; sie erreichte nichts; siebesuchte zugleich auch den Greis. Als sie sah, daß er so düster und niedergeschlagen war, daß er die Nacht, ohne sich zuBette zu legen, zugebracht und seit dem vorhergehenden Tage nichts gegessen hatte, wollte sie ihn mit sich nehmen, um ihn zu pflegen; aber der Greis willigte nicht ein. Nein, sagte er, ich werde das Haus nicht verlassen, denn mich liebt mein armer Sohn vor allen andern, und wenn er aus dem Gefängnis kommt, wird er zuerst zu mir laufen. Was würde er sagen, wenn ich ihn nicht hier erwartete? Ichbelauschte dies alles durch die Wand, denn es wäre mir liebgewesen, Mercedes hätte ihnbestimmt, ihr zu folgen; der Tag und Nacht über mir erschallende Tritt ließ mir keinen Augenblick Ruhe.

Aber gingen Sie denn nicht selbst zu dem Greise hinaus, um ihn zu trösten? fragte der Priester.

Ah! Herr, erwiderte Caderousse, man tröstet nur die, welche getröstet sein wollen, er aber wollte dies nicht. Überdies kam es mir vor, als hätte er einen Widerwillen gegen meinen Anblick. In einer Nacht jedoch, da ich sein Schluchzen hörte, konnte ich nicht widerstehen und ging hinaus; als ich jedoch an die Tür kam, schluchzte er nicht mehr, erbetete. Ich kann Ihnen nicht wiederholen, welcheberedten Worte, welche erbarmenswertenBitten er fand; es war mehr als Frömmigkeit, es war mehr als Schmerz; ich, der ich kein Heuchlerbin und die Jesuiten nicht liebe, sagte mir auch an diesem Tage: Es ist ein Glück, daß ich alleinbin, und daß der liebe Gott mir keine Kinder geschenkt hat, denn wenn ich Vater wäre und empfände einen Schmerz, wie der arme Greis, und könnte weder in meinem Geiste, noch in meinem Herzen finden, was er dem guten Gotte sagt, so stürzte ich mich geradenwegs ins Meer, um nicht länger zu leiden.

Armer Vater! murmelte der Priester.

Von Tag zu Tag lebte er einsamer und abgeschiedener; Herr Morel und Mercedes kamen oft, ihn zubesuchen, aber seine Tür war verschlossen, und er antwortete nicht, obgleich ichbestimmt wußte, daß er zu Hause war. Als er eines Tages, gegen seine Gewohnheit, Mercedes einließ und das arme Kind, selbst in Verzweiflung, ihn zu trösten suchte, sagte er: Glaube mir, meine Tochter, er ist tot… und statt daß wir ihn erwarten, erwartet er uns. Ichbin sehr glücklich, denn ichbin älter und werde ihn folglich zuerst wiedersehen.

Bei aller Gutmütigkeit hört man am Ende doch auf, die Menschen zubesuchen, die einen traurig machen; sobliebder alte Dantes zuletzt ganz allein. Ich sah nur noch von Zeit zu Zeit unbekannte Leute zu ihm hinaufgehen, die mit irgend einem schlecht verborgenen Päckchen zurückkamen; ichbegriff, welcheBewandtnis es mit diesen Päckchen hatte; er verkaufte nach und nach, was erbesaß, um zu leben. Endlich nahm esbei dem guten Mann ein Ende mit seiner armseligen Habe… Er war drei Mietzinse schuldig, man drohte ihm mit Hinauswerfen. Erbat um acht Tage Geduld, die man ihmbewilligte. Ich erfuhr diesen Umstand, weil der Hauseigentümer mich gleich daraufbesuchte. Während der drei ersten Tage hörte ich ihn wie gewöhnlich auf und abgehen; am vierten… vernahm ich nichts mehr… Ich ging hinauf, die Tür war verschlossen; durch das Schlüsselloch sah ich den Greis jedoch sobleich und entstellt, daß ich ihn für sehr krank hielt, Herrn Morelbenachrichtigen ließ und zu Mercedes lief. Beide eilten herbei; Herr Morelbrachte einen Arzt; der Arzt erkannte eine Magendarmentzündung und verordnete Diät. Ich war dabei, Herr, und werde nie das Lächeln des Greisesbei dieser Verordnung vergessen. Von nun an öffnete er seine Tür, er hatte eine Entschuldigung, daß er nicht mehr aß; der Arzt hatte Diät verordnet.

Der Abbé stieß einen Seufzer aus.

Mercedes kam wieder; sie fand ihn so verändert, daß sie ihn wie das erste Mal in ihr Hausbringen lassen wollte. Es war dies auch Herrn Morels Ansicht, der ihn mit Gewalt dorthin schaffen wollte; doch der Greis schrie dergestalt, daß sie Angstbekamen. Mercedesblieban seinemBett. Herr Morel entfernte sich, nachdem er Mercedes durch ein Zeichenbedeutet hatte, er lasse eineBörse auf dem Kamine. Aber auf Grund der Verordnung des Arztes wollte der Greis nichts zu sich nehmen. Endlich, nach nenn Tagen der Verzweiflung und Enthaltsamkeit, verschied er mit Flüchen für die Urheber seines Unglücks. Zu Mercedes aber sagte er noch: Wenn du meinen Edmond wiedersiehst, so sage ihm, ich sei, ihn segnend, gestorben.

Der Abbé stand auf und ging zweimal im Zimmer auf und ab, wobei er seine zitternde Hand an seine trockene Kehle legte.

Und Sie glauben, er starb…

Hungers, mein Herr, Hungers, dafür stehe ich, so wahr wir hier zwei Christen sind, antwortete Caderousse.

Der Abbé ergriff mit krampfhafter Hand noch das halbvolle Glas, leerte es auf einen Zug und setzte sich nieder, die Augen gerötet und die Wangenbleich.

Gestehen Sie, daß dies ein großes Unglück ist, sagte er mit heiserer Stimme.

Um so größer, mein Herr, als es nicht Gott herbeigeführt hat, sondern die Menschen allein schuld daran sind.

Wenden wir uns also diesen Menschen zu, doch vergessen Sie nicht, rief der Abbé mitbeinahe drohender Miene, Sie haben mir alles zu sagen versprochen; wer sind die, denen es zuzumessen ist, daß der Sohn vor Verzweiflung und der Vater vor Hunger starb?

Zwei Menschen, die auf ihn eifersüchtig waren, der eine aus Liebe, der andere aus Ehrgeiz, Fernand und Danglars.

Was haben sie aus Eifersucht getan?

Sie denunzierten Edmond alsbonapartistischen Agenten.

Welcher vonbeiden tat es? Welcher vonbeiden ist der wahre Schuldige?

Beide, Herr; Danglars schriebdie Anzeige mit der linken Hand, um seine Schrift zu verstellen, und Fernand schickte sie ab.

Ja, so ist es, murmelte der Abbé… Oh! Faria! Faria! wie gut kanntest du die Menschen! Waren Sie auch dabei?

Ich? versetzte Caderousse erstaunt, wer hat Ihnen gesagt, daß ich dabei war?

Der Abbé sah, daß er zu weit gegangen war, und erwiderte: Niemand; doch um alle diese Einzelheiten so genau zu kennen, müssen Sie notwendig Zeuge gewesen sein.

Das ist wahr, sagte Caderousse mit erstickter Stimme, ich war dabei.

Und Sie haben sich dieser Schändlichkeit nicht widersetzt? Folglich sind Sie ein Mitschuldiger!

Herr, sie hatten mich so trunken gemacht, daß ichbeinahe die Vernunft verlor. Ich sah nur noch durch eine Wolke. Alles, was ein Mensch in einem solchen Zustande sagen kann, sagte ich, aberbeide erwiderten, sie hätten nur einen Scherz machen wollen, und dieser Scherz hätte keine Folgen.

Doch am andern Tage sahen Sie, daß er Folgen hatte; Sie sagten aber nichts und waren dabei, als man ihn verhaftete.

Ja, Herr, ich war dabei und wollte alles sagen, Danglars hielt mich jedoch zurück. Wenn er etwa schuldig ist, sagte er zu mir, wenn er wirklich an der Insel Elba angehalten, wirklich einenBrief für dasbonapartistische Komitee in Paris mitgenommen hat, wenn dieserBriefbei ihm gesunden wird, so werden die, welche ihn unterstützt haben, als seine Mitschuldigenbetrachtet werden. Ich fürchtete mich und schwieg; ich gestehe, es war Feigheit, aber kein Verbrechen.

Ichbegreife, Sie ließen die Sache eben gehen.

Ja, Herr, und das plagt mein Gewissenbei Tag undbei Nacht. Ich schwöre Ihnen, ichbitte Gott sehr oft um Verzeihung, und zwar um so mehr, als diese Handlung, die einzige, die ich mir in meinem ganzen Leben vorzuwerfen habe, ohne Zweifel die Ursache meines Unglücks ist. Ichbüße einen Augenblick der Selbstsucht und sage auch immer zu Carconte, wenn sie sichbeklagt: Schweig, Frau, Gott will es so.

Und Caderousse neigte das Haupt mit allen Zeichen wahrer Reue.

Gut, sagte der Abbé, Sie haben offenherzig gesprochen; sich so anklagen heißt Verzeihung verdienen.

Leider ist Edmond tot und hat mir nicht verziehen.

Er wußte es nicht.

Aber nun weiß er es vielleicht, sagte Caderousse. Man sagt, die Toten wissen alles.

Es trat ein kurzes Stillschweigen ein; der Abbé war aufgestanden und ging nachdenklich auf und ab; dann kehrte er zu seinem Platze zurück und setzte sich wieder.

Sie haben mir schon zwei- oder dreimal einen gewissen Herrn Morel genannt, sagte er. Wer war dieser Mann?

Der Reeder des Pharao, Dantes' Patron.

Und welche Rolle spielte er in dieser traurigen Geschichte?

Die Rolle eines redlichen, mutigen, liebevollen Mannes. Zwanzigmal verwendete er sich für Edmond; als der Kaiser zurückkehrte, schrieber, bat er, drohte er dermaßen, daß erbei der zweiten Restauration alsBonapartist hart verfolgt wurde. Zwanzigmal kam er, wie ich Ihnen sagte, zu Dantes' Vater, um ihn in sein Haus zu nehmen, und einen oder zwei Tage vor seinem Tode ließ er, wie ich ebenfalls erwähnte, eineBörse auf dem Kamine, womit man die Schulden des guten Mannesbezahlte und seineBeerdigungbesorgte, so daß der arme Greis wenigstens sterben konnte, wie er gelebt hatte, ohne jemand unrecht zu tun. Ich habe dieBörse noch, eine großeBörse von roter Seide.

Und dieser Herr Morel lebt noch? — Ja.

Dann muß er ein vom Himmel gesegneter Mann, er muß reich, er muß glücklich sein.

Caderousse lächeltebitter und erwiderte: Ja, wie ich.

Wie, Herr Morel wäre unglücklich? rief der Abbé.

Er ist der Armut nahe, mehr noch, er steht an der Grenze der Schande. Ja, nach 25 jähriger Arbeit, nachdem er die ehrenvollste Stellung in der Marseiller Handelswelt erlangt hatte, ist Herr Morel völlig zu Grunde gerichtet. Er hat in zwei Jahren fünf Schiffe verloren, dreiBankerotte erlitten, und seine einzige Hoffnung steht nun auf eben diesem Pharao, den der arme Dantes kommandierte; dieses Schiff soll mit einer Ladung Cochenille und Indigo aus Indien zurückkommen; bleibt es auch aus, wie die andern, so ist er verloren.

Hat der Unglückliche Frau und Kinder? fragte der Abbé.

Ja, er hat eine Frau, die sich wie eine Heiligebenimmt; er hat eine Tochter, die einen Mann heiraten sollte, den sie liebt, den aber seine Familie ein zu Grunde gerichtetes Mädchen nicht heiraten lassen will; er hat endlich einen Sohn, der Leutnant ist. Doch Siebegreifen: alles dies verdoppelt den Schmerz des Armen, statt ihn zu mildern. Wäre er allein, so würde er sich einfach die Hirnschale zerschmettern.

Das ist furchtbar! murmelte der Abbé.

Sobelohnt Gott die Tugend! sagte Caderousse. Ich, der, abgesehen von dem, was ich Ihnen erzählte, nie eine schlechte Handlungbegangen hat, bin im Elend. Wenn ich meine arme Frau am Fieber habe hinscheiden sehen, ohne etwas für sie tun zu können, werde ich Hungers sterben, wie der alte Dantes, während Fernand und Danglars sich auf dem Golde wälzen.

Wieso?

Weil sichbei ihnen alles zum Guten gewendet hat, wie sichbei ehrlichen Leuten alles zum Schlimmen wendet.

Was ist aus Danglars, dem Schuldigsten, dem Anstifter, geworden?

Er hat Marseille verlassen und ist auf Herrn Morels Empfehlung, der nichts von seinem Verbrechen wußte, bei einem spanischenBankier als Commis eingetreten. Zur Zeit des spanischen Kriegesbeteiligte er sich an den Lieferungen für das französische Heer und hatte Glück; mit diesem ersten Gelde spielte er in Papieren und verdreifachte, vervielfachte sein Vermögen. Witwer von der Tochter desBankiers, heiratete er sodann eine Witwe, Frau von Nargonne, Tochter des Herrn von Servieux, der Kammerherr des gegenwärtigen Königs ist und sich der höchsten Gunst erfreut. Er hatte sich zum Millionär gemacht, erhielt dann den Grafentitel und hat nun einen Palast in der Rue du MontBlanc, zehn Pferde in seinen Ställen, sechs Lakaien in seinem Vorzimmer, und ich weiß nicht wieviel Millionen in seinen Kassen.

Ah! rief der Abbé mit einem seltsamen Ausdrucke, und er ist glücklich?

Glücklich… wer kann das sagen? Macht ein großes Vermögen das Glück aus, so ist Danglars glücklich.

Und Fernand?

Fernand war noch glücklicher, er hat zugleich Vermögen und Stellung; er wurdebald nach Dantes' Verhaftung zum Heere ausgehoben; ich ebenfalls, und da ich älter als Fernand und verheiratet war, so verwandte man michbeim Dienst an der Küste. Fernand wurde den aktiven Truppen eingereiht, kam mit seinem Regiment an die Grenze und wohnte der Schlachtbei Lignybei. In der Nacht, die auf das Treffen folgte, stand er Schildwache vor der Tür eines Generals, der in geheimer Verbindung mit dem Feinde stand. In derselben Nacht sollte der General mit den Engländern eine Zusammenkunft haben; er schlug Fernand vor, ihn zubegleiten. Dieser willigte ein, verließ seinen Posten und folgte dem General. Was Fernand vor ein Kriegsgericht gebracht hätte, wenn Napoleon auf dem Throne geblieben wäre, diente ihmbei denBourbonen zur Empfehlung. Er kehrte nach Frankreich als Unterleutnant zurück, und durch die Gunst des sehr angesehenen Generals wurde er 1823 Kapitän. Fernand war Spanier; er wurde deshalbin diplomatischen Diensten nach Madrid geschickt. Hier leistete er seinem Vaterlande so gute Dienste undbewährte sich in dem folgenden spanischen Feldzug so, daß er nach der Einnahme von Trocadero zum Obersten ernannt wurde und das Offizierskreuz der Ehrenlegion mit demBaronentitel erhielt.

Verhängnis! Verhängnis! murmelte der Abbé.

Ja, doch hören Sie, das ist noch nicht alles. Als der Kriegbeendigt war, fand Fernand, daß erbei dem langen Frieden, der in Westeuropa nun vorauszusehen war, wenig Aussicht aufBeförderung habe. Er erbat demnach von der Regierung die Erlaubnis, in den Reihen der griechischen Freiheitskämpfer gegen die Türkei zu dienen, während er doch in der französischen Armeeliste fortgeführt wurde. Einige Zeit nachher erfuhr man, daß derBaron von Morcerf, dies war der Name, den er führte, in die Dienste Ali Paschas mit dem Grade eines Generalinstruktors eingetreten war. Ali Pascha wurde getötet; aber ehe er starb, belohnte er Fernands Dienste, indem er ihm einebeträchtliche Summe zustellen ließ, mit der er nach Frankreich zurückkehrte, wo ihm sein Grad als Generalleutnantbestätigt wurde.

Und heute? fragte der Abbé.

Heute ist er Graf, Deputierter undbesitzt ein prachtvolles Haus in Paris, Rue du Helder Nr. 27.

Der Abbé öffnete den Mund, zögerte einen Augenblick und sagte dann, sich selbstbezwingend: Und Mercedes? Man hat mir versichert, sie sei verschwunden.

Verschwunden, wie die Sonne verschwindet, um am andern Tage glänzender aufzugehen.

Sie hat also ebenfalls ihr Glück gemacht? fragte der Abbé mit ironischem Lächeln.

Mercedes ist in diesem Augenblicke eine der vornehmsten Damen von Paris, antwortete Caderousse.

Fahren Sie fort, sagte der Abbé; es ist mir, als hörte ich die Erzählung eines Traumes. Aber ich habe selbst so außerordentliche Dinge erlebt, daß mich die, welche Sie mir mitteilen, weniger in Erstaunen setzen.

Mercedes war anfangs in Verzweiflung über den Schlag, der ihr Edmond raubte. Ich sprachbereits von ihrenBittenbei dem Staatsanwalt und von ihrer Ergebenheit für Dantes' Vater. Mitten in ihrer Verzweiflung traf sie ein neuer Schmerz, das Scheiden Fernands, den sie, mit seinem Verbrechen nichtbekannt, als ihrenBruderbetrachtete. Fernand reiste als Konskribierter zum Heer, Mercedesblieballein.

Drei Monate verliefen für sie in Tränen; keine Kunde von Edmond, keine Nachricht von Fernand, nichts vor Augen, als einen Greis, der in seiner Verzweiflung hinstarb. Weder Geliebter, noch Freund war ihr geblieben. Plötzlich kam es ihr vor, als hörte sie einenbekannten Tritt; sie wandte sich ängstlich um, die Tür ging auf, und Fernand erschien in seiner Unterleutnants‑Uniform. Es war nicht die Hälfte dessen, was siebeweinte, aber es war doch ein Teil ihres vergangenen Lebens, was zu ihr zurückkehrte. Sie faßte Fernands Hände mit einem Entzücken, das dieser für Liebe hielt, während es nur die Freude war, nicht mehr allein auf der Welt zu sein und endlich nach langen Stunden einsamer Trauer einen Freund wiederzusehen. Auch muß ich sagen, Fernand war ihr nie verhaßt gewesen, nur hatte sie ihn nie geliebt. Ein andererbesaß ihr ganzes Herz; dieser andere aber war abwesend, verschwunden, vielleicht tot. Bei diesem letzten Gedankenbrach Mercedes in Schluchzen aus und rang die Hände vor Schmerz; aber der Gedanke, den sie verwarf, wenn er ihr von einem andern zugeflüstert wurde, kehrte jetzt von selbst in ihrembetrübten Geiste ein. Überdies sagte der alte Dantes unablässig zu ihr: Unser Edmond ist tot, denn wenn er nicht tot wäre, käme er zu uns zurück.

Der Greis starb, wie gesagt; hätte er gelebt, so würde Mercedes vielleicht nie die Frau eines andern geworden sein; denn er wäre da gewesen, um ihr ihre Untreue vorzuwerfen. Fernand sah dies ein. Als er daher den Tod des Greises erfuhr, kehrte er zurück. Diesmal war er Leutnant. Bei seiner ersten Reise hatte er Mercedes kein Wort von Liebe gesprochen, bei der zweiten erinnerte er sie an seine heiße Zuneigung. Ein Jahr war inzwischen vergangen; sie forderte noch sechs Monate, um Edmond zu erwarten und zubeweinen.

Das macht im ganzen achtzehn Monate, sagte der Abbé mitbitterem Lächeln. Was kann der angebetetste Geliebte mehr fordern? Dann murmelte er die Worte des englischen Dichters: Schwachheit, dein Name ist Weib.

Sechs Monate nachher, fuhr Caderousse fort, fand die Hochzeit in der Kirche des Accoules statt.

Es war dieselbe Kirche, in der sie Edmond heiraten sollte, murmelte der Abbé, nur war's ein andererBräutigam.

Mercedes heiratete also, sagte Caderousse; doch obgleich sie allen Augen ruhig erschien, wurde sie doch ohnmächtig, als sie vor der Reserve vorbeikam, wo achtzehn Monate vorher ihre Verlobung mit dem gefeiert worden war, den sie noch liebte, wenn sie in den Grund ihres Herzens zu sehen wagte. Glücklicher, aber nicht ruhiger, — denn ich sah ihn in jener Zeit, und er fürchtetebeständig die Rückkehr Edmonds, — war Fernand sogleich daraufbedacht, seine Frau aus der Gegend zu entfernen und sich selbst zu verbannen; er hatte zugleich zu viele Gefahren zubefürchten und zu viele Erinnerungen zubekämpfen, wenn erbei den Kataloniernblieb. Acht Tage nach der Hochzeit reisten sie ab.

Sahen Sie Mercedes wieder? fragte der Priester.

Ja, zur Zeit des spanischen Krieges, in Perpignan, wo Fernand sie zurückgelassen hatte; siebeschäftigte sich damals mit der Erziehung ihres Sohnes.

Der Abbébebte. Ihres Sohnes? sagte er.

Ja, antwortete Caderousse, des kleinen Albert.

Aber um den Sohn zu erziehen, sagte der Abbé, muß sie wohl selbst erst noch eine Ausbildung erhalten haben? Es ist mir, als hätte ich von Edmond gehört, sie sei die Tochter eines einfachen Fischers, schön, aber ungebildet gewesen?

Oh, kannte er denn seineBraut so schlecht? versetzte Caderousse. Mercedes hätte Königin werden können, wenn die Krone nur auf den schönsten und gescheitesten Köpfen getragen werden sollte. Als ihre Verhältnissebesser wurden, lernte sie wohl auch zeichnen, Musik und was weiß ich alles, aber ich glaube, unter uns gesagt, daß sie dies alles nur tat, um sich zu zerstreuen, um zu vergessen, und daß sie nur so viele Dinge in ihren Kopfbrachte, um das zubetäuben, was ihr Herz erfüllte. Nun scheint es jetzt, Vermögen und Ehre haben sie ohne Zweifel getröstet. Sie ist reich, sie ist Gräfin, und dennoch… — Caderousse schwieg.

Was dennoch?

Dennochbin ich überzeugt, daß sie nicht glücklich ist.

Warum glauben Sie das?

Als ich selbst gar sehr im Elend war, dachte ich, meine ehemaligen Freunde würden mich unterstützen. Ichbegabmich zu Danglars, der mich nicht einmal empfing. Ich ging zu Fernand, und dieser ließ mir hundert Franken durch seinen Kammerdiener zustellen.

Also sahen Sie weder den einen noch den andern?

Nein, aber Frau von Morcerf hat mich gesehen. — Während ich hinausging, fiel eineBörse zu meinen Füßen! Sie enthielt fünfundzwanzig Louisd'or. Ich schaute rasch empor und erblickte Mercedes, die den Laden wieder schloß.

Und der Staatsanwalt, Herr von Villefort? fragte der Abbé.

Oh! er war nicht mein Freund gewesen, ich kannte ihn nicht und hatte nichts von ihm zu fordern.

Doch wissen Sie nicht, was aus ihm geworden ist, und welchen Teil er an Edmonds Unglück gehabt hat?

Nein, ich weiß nur, daß er einige Zeit, nachdem er Edmond hatte verhaften lassen, Fräulein von Saint‑Meran heiratete undbald darauf Marseille verließ. Ohne Zweifel hat ihm das Glück gelächelt, wie den anderen, ohne Zweifel ist er reich wie Danglars, geachtet wie Fernand; ich alleinbin, wie Sie sehen, arm, elend und von Gott vergessen geblieben. Sie täuschen sich, mein Freund, sagte der Abbé, Gott kann zuweilen scheinbar vergessen, wenn seine Gerechtigkeit ruht, aber es kommt immer ein Augenblick, wo er sich erinnert, und hier ist derBeweis davon.

Bei diesen Worten zog der Abbé den Diamanten aus der Tasche, reichte ihn Caderousse und sagte: Nehmen Sie diesen Diamanten, er gehört Ihnen.

Wie, mir allein? rief Caderousse; oh! Herr, Sie scherzen?

Dieser Diamant sollte unter Edmonds Freunde verteilt werden! Edmond hatte nur einen Freund, die Verteilung wird also unnötig. Nehmen Sie den Stein und verkaufen sie ihn; ich wiederhole, er ist fünfzigtausend Franken wert, und diese Summe wird hoffentlich genügen, um Sie der Armut zu entziehen.

Oh! Herr, sagte Caderousse schüchtern, eine Hand ausstreckend und mit der andern den Schweiß abwischend, der auf seiner Stirn perlte, oh! Herr, treiben Sie nicht Spott mit dem Glück und der Verzweiflung eines Menschen.

Ich weiß, was Glück und was Verzweiflung ist, und werde nie damit Kurzweil treiben. Nehmen Sie; dagegen…

Caderousse, derbereits den Diamantenberührte, zog seine Hand zurück.

Dagegen, fuhr der Abbé lächelnd fort, geben Sie mir die rote seideneBörse, die Herr Morel auf dem Kamin des alten Dantes zurückließ.

Immer mehr erstaunt, ging Caderousse an einen großen Schrank von Eichenholz, öffnete ihn und reichte dem Abbé eine langeBörse von erbleichter roter Seide; der Abbé nahm sie und gabdafür Caderousse den Diamanten.

Oh! Sie sind ein Mann Gottes, rief Caderousse, denn es wußte in der Tat niemand, daß Edmond Ihnen den Diamanten übergeben hatte, und Sie konnten ihnbehalten.

Gut, sagte der Abbé zu sich selbst, du hättest es getan, wie mir scheint.

Der Abbé stand auf, nahm seinen Hut und seine Handschuhe und sagte: Ist alles, was Sie gesagt haben, wahr, und kann ich Ihnen in allen Punkten glauben?

Sehen Sie, Herr Abbé, antwortete Caderousse, dort in jener Ecke ist ein Christus von geweihtem Holze, hier auf dieser Kiste liegt das Evangelienbuch meiner Frau, öffnen Sie diesesBuch, und ich will Ihnen darauf schwören, ich schwöre Ihnenbei dem Heile meiner Seele, bei meinem christlichen Glauben, daß ich Ihnen alles so gesagt habe, wie es vorgefallen ist.

Es ist gut, sagte der Abbé, überzeugt, daß Caderousse die Wahrheit gesagt habe, es ist gut; möge Ihnen dieses Geld Nutzenbringen! Leben Sie wohl, ich kehre zurück, um fern von den Menschen zu leben, die so vielBöses tun.

Und sich mit Mühe denbegeisterten Ergüssen Caderousses entziehend, verließ der Abbé das Zimmer, stieg zu Pferde, grüßte zum letztenmal den Wirt, der sich in geräuschvollen Abschiedsworten sozusagen verwickelte, und entfernte sich in der Richtung, in der er gekommen war.

Als sich Caderousse umwandte, sah er hinter sich die Carconte, bleicher und zitternder als je.

Ist es wahr, was ich gehört habe? sagte sie.

Was? Daß er uns den Diamanten für uns ganz allein gegeben hat? entgegnete Caderoussebeinahe närrisch vor Freude.

Und wenn er falsch wäre? sagte sie.

Falsch, murmelte er, falsch… Und warum sollte mir dieser Mann einen falschen Diamanten gegeben haben?

Um dein Geheimnis zubesitzen, ohne es zubezahlen, Schwachkopf!

Caderoussebliebeinen Augenblick wiebetäubt von dem Gewichte dieser Mutmaßung, bald aber nahm er seinen Hut, setzte ihn auf das rote um seinen Kopf gewickelte Taschentuch und rief: Oh! das werden wir wohl erfahren.

Auf welche Art?

Es ist Messe inBeaucaire, es sind Pariser Juweliere dort, ich will ihnen den Stein zeigen. Hüte das Haus, Frau, in zwei Stundenbin ich zurück.

Und er stürzte aus dem Hause und lief auf der Straße fort. Fünfzigtausend Franken, murmelte die Carconte, als sie allein war, das ist Geld… aber es ist kein Vermögen.

Die Gefängnisregister

Einen Tag, nachdem die Szene auf der Straße vonBellegarde nachBeaucaire vorgefallen war, erschien ein Mann von dreißig Jahren inblauem Frack, Nankingbeinkleidern und weißer Weste, mit der Haltung und der Aussprache eines Engländers, bei dem Maire von Marseille und sagte: Mein Herr, ichbin der erste Kommis des Hauses Thomson und French in Rom; wir stehen seit zehn Jahren in Verbindung mit dem Hause Morel und Sohn in Marseille, sein Kontobeläuft sichbei uns auf etwa l00 000 Franken, und wir sind einigermaßen in Unruhe, da manbehauptet, dieses Haus sei dem Ruin nahe. Ich komme daher ausdrücklich von Rom, um mir von Ihnen Auskunft über Morel und Sohn zu erbitten.

Mein Herr, antwortete der Maire, ich weißbestimmt, daß seit vierbis fünf Jahren das Unglück Herrn Morel zu verfolgen scheint; er hat hintereinander vier Schiffe verloren und durch dreiBankerotte Verluste erlitten; aber obgleich ich selbst mit einigen tausend Franken Gläubiger des Hausesbin, geziemt es mir doch nicht, irgend eine Auskunft über den Zustand seines Vermögens zu geben. Fragen Sie mich als Maire, was ich von Herrn Morel denke, so antworte ich Ihnen, er ist ein streng rechtlicher Mann und hatbis jetzt alle seine Verbindlichkeiten äußerst pünktlich erfüllt. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Wollen Sie mehr wissen, so wenden Sie sich an Herrn vonBoville, Inspektor der Gefängnisse, Rue Noailles Nr. 15; er hat, soviel ich weiß, 200 000 Frankenbeim Hause Morel angelegt, und wenn wirklich etwas zu fürchten wäre, so würden Sie ihn, da diese Summebeträchtlicher ist, als mein Guthaben, wahrscheinlich über diesen Punktbesser unterrichtet finden, als ich esbin.

Der Engländer schien diese Rücksicht zu würdigen, grüßte, verließ den Maire und wanderte mit dem den Söhnen Großbritanniens eigentümlichen Gange nach derbezeichneten Straße. Herr vonBoville war in seinem Kabinett; als ihn der Engländer erblickte, machte er eineBewegung des Erstaunens, die anzudeuten schien, daß er nicht zum erstenmal diesem Manne gegenüber stand. Herr vonBoville aber war so verzweiflungsvoll, gleichsam verschlungen von dem Gedanken, der ihn in diesem Augenblickbeschäftigte, daß er nichts für alte Erinnerungen übrig hatte. Der Engländer legte ihm mit dem seiner Nation eigenen Phlegma fast in denselben Ausdrücken dieselbe Frage vor wie dem Maire.

Oh! Herr, rief Herr vonBoville, IhreBefürchtungen sind leider nur zu sehrbegründet, und Sie sehen einen verzweifelnden Mann vor sich. Ich hatte 200 000 Frankenbei dem Hause Morel angelegt. — Es war dies die Mitgift meiner Tochter, die ich in vierzehn Tagen zu verheiraten gedachte. Ich hatte Herrn Morel von meinem Wunsche, das Geldbis zum 15. nächsten Monats zu erheben, benachrichtigt, und nun ist er vor einer halben Stunde zu mir gekommen, um mir zu sagen, wenn sein Schiff Pharaobis zum 15. nicht einlaufe, sei er außer stande, seine Verbindlichkeit zu erfüllen.

Da handelt sich's doch wohl nur um Fristverlängerung, sagte der Engländer.

Es handelt sich um einenBankerott, rief Herr vonBoville.

Der Engländer schien einen Augenblick nachzudenken und sagte sodann: Diese Schuldforderung scheint Ihnen also gefährdet?

Das heißt, ichbetrachte sie als verloren.

Gut, ich kaufe sie Ihnen ab.

Sie? Ja, ich.

Aber sicher nur mit ungeheurem Rabatt?

Nein, um 200 000 Franken; unser Haus, fügte der Engländer lachendbei, macht keine solchen Geschäfte.

Und Siebezahlenbar?

Der Engländer zog, ohne ein Wort zu sagen, ein PäckchenBanknoten aus seiner Tasche, die das Doppelte der Summebetragen mochten, die Herr vonBoville zu verlieren fürchtete. EinBlitz der Freude zog über das Gesicht des Herrn vonBoville; doch suchte er sich zubemeistern und sagte: Mein Herr, ich muß Ihnenbemerken, daß Sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht sechs Prozent von dieser Summe zurückerhalten.

Das geht mich nichts an, erwiderte der Engländer, das geht das Haus Thomson und French an, in dessen Namen ich handle. Es liegt vielleicht in seinem Interesse, einen Nebenbuhler zu Grunde zu richten. Ich weiß nur, daß ich Ihnen diese Summe gegen Übertragung zubezahlen habe, wobei ich mir indessen einen Maklerlohn erbitten werde.

Das ist nicht mehr alsbillig! rief Herr vonBoville. Die Kommissionbeträgt gewöhnlich anderthalb; wollen Sie zwei? Wollen Sie drei? Wollen Sie fünf, wollen Sie noch mehr? Sprechen Sie!

Mein Herr, antwortete der Engländer lachend, ichbin wie mein Haus, ich mache keine solchen Geschäfte; mein Maklerlohn ist ganz anderer Natur. Sie sind Inspektor der Gefängnisse?

Seit vierzehn Jahren.

Führen Sie Eintritts- und Abgangsverzeichnisse, die Noten inBezug auf die Gefangenen enthalten.

Jeder Gefangene hat sein Aktenheft.

Nun wohl, ichbin in Rom von einem armen Teufel von Abbé erzogen worden, der plötzlich von dort verschwunden ist. Seitdem habe ich erfahren, daß man ihn im Kastell If gefangen gehalten hat, und ich möchte gern etwas Näheres über seinen Tod wissen; er hieß Abbé Faria.

Oh! ich erinnere mich seiner ganz genau, rief Herr vonBoville, er war ein Narr.

Es ist möglich. Welcher Art war seine Narrheit?

Erbehauptete, Kenntnis von einem unermeßlichen Schatze zu haben, undbot der Regierung tolle Summen, wenn man ihn in Freiheit setzen wollte.

Armer Teufel! Und er ist tot?

Ja, er starbungefähr vor fünf oder sechs Monaten, im vergangenen Februar. Ich erinnere mich dieser Geschichte deshalbso genau, weil der Tod des armen Teufels von einem seltsamen Ereignisbegleitet war.

Was war denn das für ein Ereignis? fragte der Engländer mit dem Ausdruck großer Neugierde.

Das Gefängnis des Abbés war ungefähr fünfzig Fuß vom dem eines ehemaligenbonapartistischen Agenten entfernt, eines sehr entschlossenen und gefährlichen Menschen aus der Zahl derer, die am meisten zur Rückkehr des Usurpators im Jahre 1815beigetragen haben.

Wirklich? sagte der Engländer.

Ja, ich hatte selbst Gelegenheit, diesen Menschen im Jahre 1816 oder 1817 zu sehen; man stieg in seinen Kerker stets nur mit einer Wache hinab; er machte einen tiefen Eindruck auf mich, und ich werde sein Gesicht nie vergessen.

Der Engländer lächelte unmerklich. Und Sie sagen, versetzte er, diebeiden Kerker…

Waren etwa fünfzig Fuß voneinander, aber es scheint, dieser Edmond Dantes…, so hieß nämlich der gefährliche Mensch, hatte sich Werkzeuge verschafft oder verfertigt, denn man fand einen Gang, durch den die Gefangenen miteinander verkehrten.

Dieser Gang war ohne Zweifel für einen Fluchtversuch gemacht worden?

Allerdings; aber zum Unglück für die Gefangenen wurde der Abbé von der Starrsuchtbefallen und starb.

Ichbegreife; das mußte die Fluchtpläne ein für allemal vereiteln.

Für den Toten, ja, antwortete Herr vonBoville, für den Lebenden nicht; dieser Dantes sah im Gegenteil darin ein Mittel, seine Flucht zubeschleunigen. Er dachte ohne Zweifel, die im Kastell If gestorbenen Gefangenen würden auf einem gewöhnlichen Friedhofebegraben, trug den Hingeschiedenen in seine Zelle, nahm dessen Platz in dem Sacke ein, in den man ihn genäht hatte, und erwartete den Augenblick desBegräbnisses.

Das war ein gewagtes Mittel, woraus sich auf einigen Mut schließen läßt, bemerkte der Engländer.

Ich habe Ihnenbereits gesagt, daß es ein sehr gefährlicher Mensch war; zum Glückbefreite er die Regierung selbst von der Furcht, die sie seinetwegen hegte.

Wieso?

Das Kastell If hat keinen Friedhof; man wirft die Toten ganz einfach ins Meer, nachdem man ihnen eine Eisenkugel von 36 Pfund an die Füße gebunden hat. Sie können sich denken, wie groß das Erstaunen des Flüchtlings gewesen sein muß, als er fühlte, daß man ihn vom Felsen herabstürzte. Ich hätte sein Gesicht in diesem Augenblick sehen mögen.

Das wäre schwierig gewesen.

Gleichviel, sagte Herr vonBoville, den die Gewißheit, seine 200 000 Franken wieder zu erhalten, in gute Laune versetzte; gleichviel, ich stelle es mir vor.

Der Flüchtling ist also ertrunken? fragte der Engländer, und somit wurde der Gouverneur des Kastells zugleich von dem Wütenden und von dem Narrenbefreit?

Gewiß.

Es mußte doch eine Art von Protokoll über dieses Ereignis aufgenommen werden? fragte der Engländer.

Ja, ja, ein Sterbeprotokoll. Siebegreifen, für die Verwandten des Dantes, wenn er welche hat, konnte es von Interesse sein, sich zu versichern, ober gestorben sei oder noch lebe. Folglich können sie nun ruhig sein, wenn sie von ihm erben. Er ist wohl tot, sehr tot.

Oh! mein Gott, ja. Man wird Ihnen einen Schein ausstellen, wenn sie einen haben wollen.

Selbstverständlich, sagte der Engländer. Doch um auf die Listen zurückzukommen…

Richtig… Diese Geschichte hat uns abgeführt. Verzeihen Sie.

Was soll ich verzeihen? Die Geschichte? Keineswegs; sie war mir sehr interessant.

Sie ist es in der Tat… Sie wünschen also alles zu sehen, was sich auf den armen Abbébezieht, der die Sanftmut selbst war, so? Kommen Sie in mein Amtszimmer, ich will es Ihnen zeigen.

Beide gingen in das Zimmer des Herrn vonBoville.

Alles war hier in vollkommener Ordnung; jedes Registerbei seiner Nummer, jedes Aktenheft in seinem Fach. Der Inspektor nötigte den Engländer in seinen Lehnstuhl, legte ihm das Register und die Akten vor und ließ ihm volle Muße, darin zublättern, während er selbst, in einem Winkel sitzend, seine Zeitung las.


Der Engländer fand ohne Mühe die Akten, die sich auf den Abbé Fariabezogen; doch es scheint, die Geschichte, die ihm Herr vonBoville erzählt, hatte ihn lebhaft interessiert, denn nachdem er die ersten Stücke eingesehen, blätterte er weiter, bis er zu Edmond Dantes' Akten gekommen war. Hier fand er schönbeisammen: Denunziation, Verhör, Bittschrift des Herrn Morel, Randglosse des Herrn von Villefort. Er faltete unbemerkt die Denunziation zusammen, steckte sie in seine Tasche, las das Verhör und sah, daß der Name Noirtier unterdrückt war, durchlief dann auch noch das Gesuch vom 10. Februar 18l5, worin Herr Morel, nach Villeforts Rat, in guter Absicht, weil Napoleon noch regierte, die Dienste übertrieb, die Dantes der kaiserlichen Sache geleistet hatte. Nunbegriff er alles. Das von Villefort aufbewahrte Gesuch war nach Napoleons zweiter Entthronung eine furchtbare Waffe in den Händen des Staatsanwalts geworden. Er wunderte sich daher nicht mehr über folgende Note, die er neben seinem Namen fand:

Edmond Dantes

WütenderBonapartist, hat tätigen Anteil an der Rückkehr von der Insel Elba genommen.

Im geheimsten Gewahrsam und unter der strengsten Aussicht zu halten.

Unter diesen Zeilen stand von einer andern Handschrift: InBetracht obiger Note nichts zu machen.

Die Handschrift der Randbemerkung mit der der Erklärung vergleichend, die der Staatsanwalt unter Morels Gesuch gesetzt hatte, bekam der Engländer die Gewißheit, daß Randglosse und Erklärung von einer Hand, nämlich Villeforts, herrührten.

Was die letzte Notebetrifft, so sagte er sich, daß sie von irgend einem Inspektor herrührte, der vorübergehendes Interesse an Dantes' Lage genommen, durch die erwähnteBemerkung sich aber in die Unmöglichkeit versetzt gesehen hatte, seiner Teilnahme Folge zu geben.

Aus Diskretion hatte sich der Inspektor entfernt und las im Staatsanzeiger. Er sah also nicht, wie der Engländer die von Danglars in der Sommerlaube der Reserve geschriebene Denunziation zusammenlegte und einsteckte. Hätte er es aber auch gesehen, so würde er sicher zu wenig Gewicht auf dieses Papier und zu viel auf seine 200 000 Franken gelegt haben, um einzugreifen.

Ich danke, sagte der Engländer, indem er das Register geräuschvoll schloß. Ich weiß, was ich wissen wollte, und nun ist es an mir, mein Versprechen zu halten; erklären Sie schriftlich, daß Sie mir Ihre Schuldforderung für die Summe von 200 000 Franken abtreten, und ichbezahle Ihnen die Summe.

Und während Herr vonBoville eiligst die Erklärung aufsetzte, zählte der Engländer auf einem Tischchen dieBanknoten auf.

Das Haus Morel

Wer ein paar Jahre früher Marseille verlassen hätte und zu der Zeit, in der Dantes seine Vaterstadt wiedersah, zurückgekehrt wäre, hätte die Verhältnisse des Hauses Morel sehr verändert gefunden.

Statt desBehagens und Glückes, das von einem im Gedeihenbegriffenen Hause ausgeht, wäre ihm auf den erstenBlick eine gewisse Trauer und Stille aufgefallen. In denBüros, die früher von zahlreichen Kommis wimmelten, waren nur noch zwei zurückgeblieben. Der eine war ein junger Mann, namens Emanuel Raymond, der die Tochter des Herrn Morel liebte, der andere der alte einäugige Cocles, der den Posten eines Kassendienersbekleidete. In der Stellung des letzteren war eine sonderbare Veränderung eingetreten; er war zugleich zum Range eines Kassierers avanciert und zum Range eines Dienstboten heruntergerückt. Es war aber immer der nämliche Cocles, geduldig, treu und ein Rechner, wie man nicht leicht einen zweiten wiederfinden konnte.

Inmitten der allgemeinen Schwermut, die über dem Hause Morel lagerte, war Cocles übrigens der einzige, der unempfindlich geblieben zu sein schien. Diese Gelassenheit entsprang nicht einem Gefühlsmangel, sondern im Gegenteil einer unerschütterlichen Überzeugung. Als die andern Kommis und Angestellten des Hauses dieBüros verlassen hatten, hatte Cocles sie gehen sehen, ohne sich weiter darum zu kümmern. Er hatte seinen letzten Monatsabschluß fertig gemacht und darin eine Differenz von siebzig Centimes zu Gunsten der Kasse entdeckt, die er am gleichen Tage seinem Prinzipal überbrachte. Der Prinzipal nahm sie mit wehmütigem Lächeln, ließ sie in einebeinahe leere Schublade fallen und sagte zum Kassierer: Gut, Cocles, Sie sind die Perle aller Kassierer.

Cocles entfernte sich äußerst zufrieden; denn ein Lobvon Herrn Morel schmeichelte ihm mehr als ein Geschenk von fünfzig Talern. Aber seit diesem so glücklich durchgeführten Monatsschluß hatte Herr Morel grausame Stunden durchgemacht; um diesen Monatsschluß herbeizuführen, hatte er alle seine Mittel zusammengerafft und sogar einige Juwelen und einen Teil seines Silberzeugs verkauft. Infolge dieser Opfer war diesmal noch alles zur größten Ehre des Hauses Morel vorübergegangen. Die Kasse aberbliebvöllig leer. Erschreckt durch umlaufende Gerüchte, zog sich der Kredit mit seiner gewöhnlichen Selbstsucht zurück, und um gegen die 200 000, die in wenigen Wochen zurückzuzahlen waren, aufzukommen, hatte Herr Morel in Wirklichkeit nichts mehr, als die Hoffnung auf die Rückkehr des Pharao, von dessen Abfahrt ein Schiff, das mit ihm die Anker gelichtet, Kunde gegeben hatte. Dieses Schiff, das wie der Pharao von Kalkutta kam, war aberbereits seit vierzehn Tagen im Hafen eingelaufen, während man vom Pharao keine Nachricht hatte.

So standen die Dinge, als der Vertreter des Hauses Thomson und French in Rom am Tage, nachdem er den von uns mitgeteiltenBesuchbei Herrn vonBoville gemacht hatte, sichbei Herrn Morel einfand. Emanuel empfing ihn. Der erschreckte junge Mann, der in jedem neuenBesucher einen Gläubiger vermutete, wollte seinem Herrn den Ärger ersparen und ihn selbst abfertigen. Der Geschäftsreisende erklärte ihm aber, er müsse durchaus mit Herrn Morel persönlich sprechen.

Emanuel rief seufzend Cocles undbefahl ihm, den Fremden zu Herrn Morel zu führen. Cocles ging voraus, und der Fremde folgte. Auf der Treppebegegneten sie einem hübschen jungen Mädchen, das den Fremden voll Unruhe anschaute. Coclesbemerkte diesen Gesichtsausdruck nicht, der jedoch dem Fremden keineswegs entgangen war.

«Herr Morel ist in seinem Kabinett, nicht wahr, Fräulein Julie?«fragte der Kassierer.

«Ja, ich glaube wenigstens«, antwortete das Mädchen zögernd,»sehen Sie nach, Cocles, und wenn mein Vater dort ist, melden Sie den Herrn!«

«Es wäre unnütz, mich zu melden, «erwiderte der Engländer,»Herr Morel kennt meinen Namen nicht. Dieserbrave Mann mag ihm nur sagen, ich sei der erste Kommis der Herren Thomson und French in Rom, mit denen das Haus Ihres Herrn Vaters in Verbindung steht.«

Das Mädchen erbleichte und schritt weiter die Treppe hinab, während der Fremde vollends hinaufging. Julie, wie sie der Kassierer genannt hatte, trat in dasBüro, wo sich Emanuel aufhielt, und Cocles öffnete mit Hilfe eines Schlüssels eine Tür im zweiten Stock und ließ den Fremden eintreten. Der Fremde fand Herrn Morel erschöpft undbleich an seinem Schreibtische sitzend. Als er den Fremden erblickte, stand er auf und schobeinen Stuhl hin; woraufbeide Platz nahmen.

Vierzehn Jahre hatten eine gewaltige Veränderungbei dem würdigen Handelsherrn hervorgebracht, der, am Anfang dieser Geschichte sechsunddreißig Jahre alt, nun das fünfzigste erreicht hatte. Seine Haare waren gebleicht, seine Stirn von sorgenvollen Runzeln durchzogen; sein einst so fester, bestimmterBlick war unbestimmt, unentschlossen geworden. Der Engländer schaute ihn aufmerksam und scheinbar teilnahmsvoll an.

Mein Herr, sagte Morel, dessen Unbehaglichkeit dieses Anschauen zu verdoppeln schien, Sie wünschten mich im Namen des Hauses Thomson und French zu sprechen?

Ja, mein Herr. Das Haus Thomson und French soll im Laufe des nächsten Monats in Frankreich 3bis 400.000 Frankenbezahlen, und hat im Vertrauen auf Ihre Zuverlässigkeit alle Papiere angekauft, die es mit Ihrer Unterschrift finden konnte, wobei mir der Auftrag geworden ist, nach Maßgabe des Verfalls die Gelderbei Ihnen zu erheben und sodann zu verwenden.

Morel stieß einen schweren Seufzer aus, fuhr mit der Hand über seine schweißbedeckte Stirn und erwiderte: Sie haben also von mir unterzeichnete Tratten?

Ja, Herr, für einebeträchtliche Summe.

Für welche Summe? fragte Herr Morel mit einer Stimme, der er Sicherheit zu verleihen strebte.

Einmal, sagte der Engländer, ein Päckchen aus der Tasche ziehend, einmal habe ich hier eine Abtretung von 200.000 Franken seitens des Herrn vonBoville an unser Haus. Erkennen Sie diese Schuld an?

Ja, mein Herr, das Geld wurde zu 4½ Prozent vorbald fünf Jahrenbei mir angelegt.

Und Sie haben denBetrag zurückzuzahlen?

Ja, am 15. des nächsten Monats.

So ist es; dann habe ich hier 32.500 auf Ende dieses; es sind von Ihnen unterzeichnete Wechsel.

Ich erkenne sie an, sagte Herr Morel, dembei dem Gedanken, daß er zum erstenmal in seinem Leben vielleicht seiner Unterschrift nicht entsprechen könnte, die Schamröte ins Gesicht stieg. Ist das alles?

Ich habe noch auf Ende nächsten Monats diese Papiere, die das Haus Pascale und das Haus Wild und Turner in Marseille an uns verkauften, etwa 55000 Franken, im ganzen 287500 Franken.

Es läßt sich nichtbeschreiben, was der unglückliche Morel während dieser Aufzählung litt.

287500 Franken, wiederholte er mechanisch.

Ja, sagte der Engländer. Ich kann Ihnen nun nicht verbergen, fuhr er nach kurzem Stillschweigen fort, daß, so sehr man auch Ihrebis jetzt vorwurfsfreie Redlichkeit schätzt, in Marseille doch das Gerücht geht, Sie seien nicht imstande, Ihren Verpflichtungen nachzukommen.

Bei dieser rücksichtslosen Offenheit erbleichte Herr Morel furchtbar.

Mein Herr, sagte er, bis jetzt, und es sind mehr als zwanzig Jahre, seitdem ich das Haus aus den Händen meines Vaters übernommen habe, der es selbst fünfunddreißig Jahre führte, bis jetzt ist kein von Morel und Sohn unterzeichnetes Papier an der Kasse präsentiert worden, ohne daß wir Zahlung dafür geleistet hätten.

Ja, ich weiß dies; doch sprechen Sie offenherzig, wie ein Ehrenmann zum andern! Werden Sie diese Papiere mit derselben Pünktlichkeitbezahlen?

Morelbebte und schaute den Engländer ängstlich an.

Auf eine so offenherzig gestellte Frage, antwortete er, muß ich auch offenherzig Antwort geben. Ja, mein Herr, ichbezahle, wenn mein Schiff, wie ich hoffe, glücklich im Hafen einläuft, denn seine Ankunft wird mir den Kredit wiedergeben, den mir schnell aufeinander folgende Unglücksfälle geraubt haben; bliebe aber der Pharao, die letzte Quelle, auf die ich zähle, aus…

Die Tränen traten dem armen Reeder in die Augen.

Nun? fragte der Engländer, bliebe diese letzte Quelle aus?

Es ist grausam zu sagen… doch, bereits an das Unglück gewöhnt, muß ich mich auch an die Schmach gewöhnen… ich glaube, ich wäre dann genötigt, meine Zahlungen einzustellen.

Haben Sie keine Freunde, die Sie unter diesen Umständen unterstützen könnten? fragte der Engländer.

Herr Morel lächelte traurig und erwiderte: Im Geschäftsleben hat man keine Freunde, wie Sie wissen, sondern nur Korrespondenten.

Das ist wahr, murmelte der Engländer. Sie haben also keine Hoffnung mehr?

Eine einzige; die letzte.

Und wenn diese Hoffnung sich nicht verwirklicht?

Bin ich völlig zu Grunde gerichtet.

Als ich zu Ihnen kam, lief ein Schiff im Hafen ein.

Ich weiß, doch ist es nicht das meine, sondern einbordolesisches Schiff, die Gironde; es kommt ebenfalls von Indien.

Vielleichtbringt es Ihnen vom Pharao Kunde.

Soll ich es Ihnen sagen, mein Herr, ich fürchtebeinahe ebensosehr, Nachricht von meinem Dreimaster zu erhalten, als in Ungewißheit zubleiben. Die Ungewißheit ist noch Hoffnung. Dann fügte Herr Morel mit dumpfem Tonebei: Dieses Zögern ist nicht natürlich; der Pharao ist am 5. Februar in Kalkutta abgegangen und ist seit mehr als einem Monat hier fällig.

In diesem Augenblicke hörte man Lärm auf der Treppe; verschiedene Personen näherten sich, sogar ein Schmerzensruf ließ sich vernehmen. Morel stand auf, um die Tür zu öffnen, doch es gebrach ihm an Kraft, und er fiel in seinen Stuhl zurück. Während diebeiden Männer einander gegenüber saßen, Morel an allen Gliedern zitternd, der Engländer ihn mit einem Ausdrucke tiefen Mitleids anschauend, öffnete sich die Tür, und man sah das Mädchen, in Tränen gebadet, erscheinen. Morel stand zitternd auf und stützte sich, um nicht zu fallen, auf den Arm seines Lehnstuhls.

Oh! Vater! sagte das Mädchen, die Hände faltend, verzeihen Sie Ihrem Kinde, daß es Ihnen schlimmeBotschaftbringt.

Morel wurde furchtbarbleich; Julie warf sich in seine Arme.

Oh, Vater! Vater! rief sie, Mut gefaßt!

Der Pharao ist also zu Grunde gegangen? fragte Morel mit zusammengeschnürter Stimme.

Das Mädchen antwortete nicht, sondern machte nur einbejahendes Zeichen mit seinem an dieBrust des Vaters gelehnten Haupte.

Und die Mannschaft? fragte Morel.

Gerettet, antwortete das Mädchen, gerettet durch dasbordolesische Schiff, das soeben in den Hafen eingelaufen ist.

Morel hobseine Hände mit einem Ausdruck voll Ergebenheit und erhabener Dankbarkeit zum Himmel empor und sagte: Ich danke, mein Gott, ich danke; wenigstens schlägst du nur mich allein.

So phlegmatisch der Engländer war, sobefeuchtete doch eine Träne sein Augenlid.

Tretet ein, sagte Herr Morel, denn ich vermute, ihr seid alle vor der Türe.

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als Frau Morel schluchzend eintrat; Emanuel folgte ihr; im Vorzimmer sah man die rauhen Gesichter von siebenbis acht halbnackten Matrosen. Beim Anblick dieser Menschenbebte der Engländer; er machte einen Schritt, als wollte er auf sie zugehen, aber erbezwang sich und drückte sich im Gegenteil in den dunkelsten Winkel des Zimmers. Frau Morel setzte sich in den Lehnstuhl und nahm die Hand ihres Gatten, während Julie, an dieBrust ihres Vaters gelehnt, stehenblieb.

Wie ist es zugegangen? fragte Herr Morel. Tretet näher, Penelon, und erzählt! Wo ist der Kapitän?

Was den Kapitänbetrifft, Herr Morel, so ist er krank in Palma geblieben; doch wird es wohl nichts weiter sein, und Sie werden ihn in einigen Tagen wohl und gesund ankommen sehen.

Gut… nun sprecht, Penelon.

Penelon erzählte, wie der Pharaobei KapBlanc von einem heftigen Sturm überfallen wurde und trotz heldenmütigem Widerstande untergegangen sei, nachdem sich die Mannschaft und der Kapitän in einBoot gerettet hatten.

Als der Alte geendet hatte, sagte Herr Morel: Gut, mein Freund, ihr seidbrave Leute, und ich wußte zum voraus, daßbei dem Unglück, das mirbegegnet ist, nichts anders schuld war als mein Verhängnis. Es ist der Wille Gottes und nicht der Fehler der Menschen. Nun sagt, wieviel Soldbin ich euch schuldig?

Ah! bah… sprechen wir nicht davon, Herr Morel.

Im Gegenteil sprechen wir davon, erwiderte der Reeder mit traurigem Lächeln. Cocles, bezahlen Sie jedem von diesenbraven Leuten zweihundert Franken. Zu andrer Zeit hätte ich gesagt: Geben Sie jedem zweihundert Franken über seinen Lohn, aber die Zeiten sind ungünstig, meine Freunde, und das wenige Geld, das mir übrigbleibt, ist nicht mehr mein Eigentum; entschuldigt mich also und liebt mich darum nicht minder!

Penelon zeigte eine gerührte Miene, er wandte sich gegen seine Gefährten um, sprach einige Worte mit ihnen, kam dann zurück und sagte: Was dasbetriffst, Herr Morel, was dasbetrifft…

Nun?

Nun, Herr Morel, die Kameraden meinen, sie hätten für den Augenblick mit fünfzig Franken jeder genug, und sie könnten mit dem Reste warten.

Ich danke, meine Freunde, rief Herr Morel, tief erschüttert, ihr seidbrave Leute; aber nehmt nur, nehmt, und wenn ihr einen guten Dienst findet, tretet ein, ihr seid frei.

Diese letzten Wortebrachten eine wunderbare Wirkung auf die Matrosen hervor; sie schauten einander mitbestürzter Miene an. Penelon, dem es an Atem fehlte, hättebeinahe seinen Kautabak verschluckt; zum Glück fuhr er zu rechter Zeit mit der Hand an seine Zunge.

Wie, Herr Morel! sagte er mit zusammengepreßter Stimme, wie? Sie schicken uns weg, Sie sind also unzufrieden mit uns?

Nein, Kinder, erwiderte der Reeder, nein, ichbin nicht unzufrieden mit euch, im Gegenteil; nein, ich schicke euch nicht weg. Aber was wollt ihr, ich habe kein Schiff mehr, undbedarf folglich auch keiner Matrosen.

Wie? Sie haben keine Schiffe mehr? rief Penelon; wohl, Sie lassen anderebauen, und wir warten.

Ich habe kein Geld mehr, um Schiffebauen zu lassen, Penelon, entgegnete Herr Morel traurig lächelnd; ich kann also euer Anerbieten nicht annehmen, so freundlich es auch ist.

Wohl, wenn Sie kein Geld haben, so dürfen Sie uns nichtbezahlen, wir machen es, wie es der arme Pharao gemacht hat, wir laufen aufs Trockene.

Genug, genug, meine Freunde, erwiderte Herr Morel, dem vor Rührungbeinahe die Sprache versagte. Wir werden uns inbesseren Zeiten wiederfinden. Emanuel, begleiten Sie diesebraven Leute, und seien Sie dafürbesorgt, daß meine Wünsche erfüllt werden.

Also wenigstens auf Wiedersehen, nicht wahr, Herr Morel? versetzte Penelon.

Ja, meine Freunde, ich hoffe wenigstens; geht!

Auf ein Zeichen seiner Hand marschierte Cocles voran. Die Matrosen folgten dem Kassierer, und Emanuel folgte den Matrosen.

Nun laßt mich einen Augenblick allein, sagte der Reeder zu seiner Frau und zu seiner Tochter, ich habe mit diesem Herrn zu sprechen.

Und seine Augen richteten sich auf den Vertreter des Hauses Thomson und French, der während desbeschriebenen Auftritts unbeweglich in seiner Ecke stehen geblieben war. Die Frauen schauten den Fremden an, den sie völlig vergessen hatten, und entfernten sich sodann; nur die Tochter warf im Weggehen dem Engländer einen inständigbittendenBlick zu, den er mit einem Lächeln erwiderte. Die Männerblieben wieder allein.

«Nun«, sagte Morel,»Sie haben alles gesehen und gehört, und ich habe Ihnen nichts mehr mitzuteilen«.

«Ich habe gesehen, mein Herr«, erwiderte der Engländer,» daß Ihnen ein neues Unglück, so unverdient als die anderen, widerfahren ist, und das hat mich in meinem Wunsche, Ihnen angenehm zu sein, bestärkt«.

«Oh! mein Herr…«

«Ichbin einer von Ihren Hauptgläubigern, nicht wahr«?

«Sie sind wenigstens der, welcher die Wechsel kürzester Sicht von mir in Händen hat. Eine Fristverlängerung könnte mir die Ehre und folglich das Leben retten«.

«Wieviel verlangen Sie«?

«Zwei Monate«, sagte Morel zögernd.

«Gut«, sagte der Fremde,»ich gebe Ihnen drei«.

«Doch glauben Sie, daß das Haus Thomson und French… «?

«Seien Sie unbesorgt, ich nehme alles auf mich… Wir haben heute den 5. Juni. — Schreiben Sie also alle diese Papiere auf den 5. September um, und an diesem Tage um elf Uhr morgens werde ich michbei Ihnen einfinden«.

«Ich werde Sie erwarten, mein Herr, und Sie sollenBezahlung erhalten, oder ichbin tot«.

Diese letzten Worte sprach Morel so leise, daß sie der Fremde nicht hören konnte. Die Papiere wurden umgeschrieben, die alten zerrissen, und der arme Reeder hatte wenigstens drei Monate vor sich, um seine letzten Mittel aufzubieten. Der Engländer empfing seinen Dank mit dem seiner Nation eigentümlichen Phlegma und nahm von Morel Abschied, der ihn unter Segnungenbis an die Tür zurückführte. Auf der Treppe traf er Julie; das Mädchen tat, als obes hinabginge, aber es wartete auf ihn.

«Oh! Herr…«rief Julie die Hände faltend.

«Mein Fräulein«, sagte der Fremde,»Sie werden eines Tages einenBrief, unterzeichnet… Simbad der Seefahrer…, erhalten. Tun Sie Punkt für Punkt, was derBrief sagt, so seltsam Ihnen auch die Aufforderung erscheinen mag.«

«Gut, mein Herr«, erwiderte Julie.

«Versprechen Sie es mir?«

«Ich schwöre es Ihnen.«

«Leben Sie wohl, mein Fräulein; bleiben Sie stets ein gutes, frommes Mädchen, und ich hoffe, Gott wird Sie dadurchbelohnen, daß er Ihnen Herrn Emanuel zum Gatten gibt.«

Julie stieß einen leichten Schrei aus, wurde rot wie eine Kirsche und hielt sich am Geländer, um nicht zu fallen. Der Engländer entfernte sich mit einer Verneigung. Im Hofebegegnete er Penelon; dieser hatte eine Rolle von hundert Franken in der Hand und schien sich nicht entschließen zu können, das Geld fortzutragen.

«Kommt, Freund«, sagte der Engländer zu ihm,»ich habe mit Euch zu sprechen«.

Der fünfte September

Die von dem Mandatar des Hauses Thomson und French in dem Augenblick, wo es Morel am wenigsten erwartete, bewilligte Frist glaubte der arme Reeder als eine von jenen Wendungen des Geschickesbetrachten zu dürfen, die dem Menschen ankündigen, das Schicksal sei endlich müde geworden, ihn zu verfolgen. An demselben Tage erzählte er, was ihmbegegnet war, seiner Tochter, seiner Frau und Emanuel, und es kehrte ein wenig Hoffnung und Ruhe in die Familie zurück. Leider aber hatte es Morel nicht allein mit dem Hanse Thomson und French zu tun, das sich so nachsichtig gegen ihn zeigte.

Zum Unglück hatten, sei es aus Haß, sei es aus Verblendung, nicht alle Korrespondenten dieselbe Nachsicht. Die von Morel unterzeichneten Tratten wurden daher mit ängstlicher Strenge an der Kasse präsentiert, aber infolge der von dem Engländerbewilligten Frist ohne Verzugbezahlt von Cocles, der unverändert in seiner prophetischen Ruhe verharrte.

Der ganze Marseiller Handelsstand war der Meinung, nach den Unglücksfällen, die Herrn Morel hintereinander getroffen, könnte dieser sich nicht halten. Man staunte daher nicht wenig, als man sah, daß sein Monatsschluß sich mit der gewöhnlichen Pünktlichkeit abwickelte. Doch das Vertrauen kehrte darum nicht zurück, und man verschobeinstimmig auf das Ende des nächsten Monats die Insolvenzerklärung des unglücklichen Reeders.

Der ganze Monat verging in unerhörten Anstrengungen Morels, alle Mittel aufzubieten. Früher wurden seine Wechsel, auf welches Datum sie auch ausgestellt sein mochten, mit Vertrauen angenommen und sogar gesucht. Jetzt fand er alleBanken geschlossen, als er Papiere mit dreimonatiger Frist unterbringen wollte. Zum Glück hatte er jetzt einige Zahlungen zu erwarten, auf die er rechnen konnte, und die erwarteten Gelder gingen auch wirklich ein; Morel fand sich dadurch abermals in den Stand gesetzt, seinen Verbindlichkeiten zu entsprechen, als das Ende des Juli erschien.

Den Vertreter des Hauses Thomson und French hatte man übrigens nicht mehr in Marseille gesehen. Er war verschwunden, und da er in Marseille nur mit dem Maire, dem Gefängnisinspektor und Herrn Morel verkehrt hatte, so ließ seine Anwesenheit keine andere Spur zurück, als die verschiedenen Erinnerungen, die diese drei Personen von ihmbewahrten. Die Matrosen des Pharao hatten, wie es schien, irgend ein Unterkommen gefunden, denn sie waren ebenfalls verschwunden.

Von der Unpäßlichkeit, die ihn in Palma zurückgehalten hatte, wieder genesen, kehrte der Kapitän des Pharao, Herr Gaumard, bald nach Marseille zurück. Er zögerte, sichbei Morel zu zeigen, aber dieser erfuhr seine Ankunft und suchte ihn selbst auf. Der würdige Reeder hatte schon durch Penelons Erzählung von dem mutigenBenehmen des Kapitäns während des unglücklichen Ereignisses erfahren, und er suchte nun seinerseits den Seemann zu trösten. Erbrachte ihm denBetrag seines Soldes, den der Kapitän sonst nicht zu erheben gewagt hätte.

Der August verlief inbeständig erneuerten Versuchen Morels, seinen alten Kredit wiederzuheben und sich einen neuen zu eröffnen, ohne daß ihm dies gelang. Als aber der 31. kam, öffnete sich gegen alle Voraussicht die Kasse wie gewöhnlich. Cocles erschien hinter dem Gitter, ruhig, wie ein Gerechter, untersuchte mit gewohnter Gewissenhaftigkeit das Papier, das man ihm präsentierte, undbezahlte die Tratten von der erstenbis zur letzten mit gleicher Pünktlichkeit. Manbegriff dies durchaus nicht und verschobmit der den Unglückspropheten eigentümlichen Hartnäckigkeit denBankrott auf das Ende des September.

Morel war einige Tage in Paris gewesen und hatte versucht, bei seinem ehemaligen Rechnungsführer Danglars ein Anlehen aufzunehmen, doch auch dieses letzte Mittel, zu dem er sich nur schwer entschlossen hatte, schlug fehl. Schwer gedemütigt durch eine abschlägige Antwort, kam er zurück.

Er stießbei seiner Ankunft keine Klage aus, brachte keine Anschuldigung vor, umarmte nur weinend seine Frau und seine Tochter, reichte Emanuel freundschaftlich die Hand, ließ Cocles kommen und schloß sich mit diesem in sein Kabinett im zweiten Stock ein.

«Diesmal sind wir verloren«, sagten die Frauen zu Emanuel, und in einer kurzenBeratung, die sie unter sich pflogen, wurdebeschlossen, daß Julie an ihrenBruder, der in Nimes in Garnison lag, schreiben und ihn auffordern sollte, sogleich zu kommen. Die armen Frauen fühlten, daß sie aller ihrer Kräftebedurften, um den Schlag zu ertragen, der siebedrohte. Überdies übte Maximilian Morel, obgleich erst zweiundzwanzig Jahre alt, dochbereits einen großen Einfluß auf seinen Vater aus.

Er war ein energischer, rechtschaffner junger Mann, der die militärische Laufbahn erwählt hatte. Vorzüglich vorbereitet, trat er in die polytechnische Schule ein, die er, zum Unterleutnant im 53sten Linien‑Regiment ernannt, wieder verließ. Im Regiment galt Maximilian Morel als strenger, pflichtgetreuer Soldat; man nannte ihn nur den Stoiker.

Diebeiden Frauen täuschten sich nicht über das Mißliche ihrer Lage, denn einen Augenblick nachher, nachdem Herr Morel mit Cocles in sein Kabinett gegangen war, sah Julie den letzterenbleich, zitternd und mit völlig verstörtem Gesichte wieder herauskommen. Sie wollte ihn fragen, als er an ihr vorüberging, doch derbrave Mann lief mit einerbei ihm ungewöhnlichen Eile unaufhaltsam die Treppe hinabund rief ihr nur, die Hand zum Himmel erhebend, zu: Oh, mein Fräulein! Welch ein furchtbares Unglück, wer hätte das je gedacht!

Eine Minute nachher sah ihn Julie, mit ein paar dicken Handlungsbüchern, einem Portefeuille und einem Sacke Geld wieder hinaufgehen. Morel prüfte dieBücher, öffnete das Portefeuille und zählte das Geld. Allebaren Mittelbeliefen sich auf 7bis 8000 Franken, die Einnahmenbis zum 5. auf 4bis 5000, was also im höchsten Fall einen Aktivstand von 17 000 Frankenbildete, womit einer Tratte von 287 500 Franken entsprochen werden sollte. Eine solche Abschlagszahlung anzubieten, war nicht möglich.

Als jedoch Herr Morel zum Mittagsessen kam, schien er ziemlich ruhig. Diese Ruhe erschreckte die Frauen mehr, als es die tiefste Niedergeschlagenheit hätte tun können. Cocles schien ganz stumpfsinnig; er hielt sich einen Teil des Tages, auf einem Steine sitzend und mitbloßem Kopfebei dreißig Grad Wärme, im Hofe auf. Emanuel suchte die Frauen zu trösten; aber es mangelte ihm anBeredsamkeit. Der junge Mann war zu sehr in die Angelegenheiten des Hauses eingeweiht, um nicht zu fühlen, daß eine große Katastrophebevorstand. Es kam die Nacht; die Frauen wachten, in der Hoffnung, Morel würde, von seinem Kabinett herabkommend, bei ihnen eintreten, doch sie hörten, wie er, ohne Zweifel aus Furcht, man könnte ihn rufen, mit leisen Tritten an ihrer Tür vorüberschlich. Sie horchten; er kehrte in sein Zimmer zurück und schloß die Tür von innen.

Frau Morel hieß ihre Tochter schlafen gehen; eine halbe Stunde nach dem sich Julie entfernt hatte, stand sie auf, zog ihre Schuhe aus und schlüpfte in den Gang, um zu sehen, was ihr Gatte machte. Im Gang erblickte sie einen Schatten, der sich zurückzog. Sie erkannte Julie, die, selbst unruhig, ihrer Mutter zuvorgekommen war. Julie ging auf ihre Mutter zu und sagte: Er schreibt.

Frau Morel neigte sich zum Schlüsselloch herab. Morel schriebwirklich; aber was ihre Tochter nichtbemerkt hatte, dasbemerkte Frau Morel; ihr Gatte schriebauf gestempeltes Papier. Es kam ihr der furchtbare Gedanke, er mache sein Testament; siebebte an allen Gliedern und hatte dennoch die Kraft, nichts zu sagen.

Am andern Tage erschien Herr Morel ganz ruhig, er hielt sich wie gewöhnlich in seinemBüro auf, kam wie gewöhnlich zum Frühstück herab; nur ließ er nach dem Mittagsessen seine Tochter neben sich sitzen, nahm den Kopf des Kindes in seinen Arm und hielt ihn lange an seineBrust. Am Abend sagte Julie zu ihrer Mutter, sie habe, obgleich ihr Vater scheinbar ruhig gewesen, doch sein Herz heftig schlagen gefühlt. Die zwei nächsten Tage gingen ungefähr auf dieselbe Weise hin.

Die ganze Nacht vom 4. auf den 5. horchte Frau Morel, ihr Ohr fester an das Täfelwerk haltend; bis 3 Uhr morgens hörte sie ihren Gatten in großer Aufregung im Zimmer umhergehen; erst nach drei Uhr warf er sich auf seinBett. Die Frauenbrachten die Nachtbeisammen zu. Seit dem vorhergehenden Abend erwarteten sie Maximilian. Um acht Uhr trat Herr Morel in ihr Zimmer; er war ruhig, aber die Aufregung der Nacht zeigte sich auf seinembleichen, verstörten Gesichte. Die Frauen wagten es nicht, ihn zu fragen, ober gut geschlafen habe. Morel war freundlicher gegen seine Frau und väterlicher gegen seine Tochter, als er es je gewesen; er konnte nicht satt werden, das arme Kind anzuschauen und zu küssen.

Julie wollte ihrem Vater folgen, als er sich entfernte; er stieß sie jedoch sanft zurück und sagte:»Bleibbei deiner Mutter.

Julie drang in ihn, doch er sprach: Ich will es.

Siebliebstumm und unbeweglich auf ihrem Platze stehen.

Eine Minute nachher öffnete sich die Tür, und sie fühlte zwei Arme, die sie umschlangen, und einen Mund, der sich auf ihre Stirn preßte. Sie schlug die Augen auf und stieß einen Freudenschrei aus.

Maximilian! MeinBruder! rief sie.

Bei diesem Rufe lief Frau Morel herbei und warf sich in die Arme ihres Sohnes.

Mutter! sprach der junge Mann und schaute dabei abwechselnd Frau Morel und ihre Tochter an, was gibt es denn? Was geht denn vor? EuerBrief hat mich erschreckt, und ich eile herbei!

Julie, sagte Frau Morel, ihrem Sohne ein Zeichen machend, benachrichtige deinen Vater, daß Maximilian angekommen ist.

Julie eilte hinaus, aber auf der ersten Stufe der Treppebegegnete sie einem Manne, der einenBrief in der Hand hielt.

Sind Sie nicht Fräulein Julie Morel? fragte dieser Mann mit stark italienischerBetonung.

Ja, Herr, stammelte Julie; doch was wollen Sie? Ich kenne Sie nicht.

Lesen Sie diesenBrief, antwortete der Mann und reichte ihr dasBillett. Julie zögerte.

Es handelt sich um die Wohlfahrt Ihres Vaters.

Das Mädchen entriß dasBillett seinen Händen, öffnete es rasch und las:

«Begeben Sie sich sogleich in die Allées de Meillan; treten Sie in das Haus Nr. 15; verlangen Sie von dem Hausverwalter den Schüssel des Zimmers im fünften Stocke; gehen Sie in dieses Zimmer; nehmen Sie von der Ecke des Kamins eine rote seideneBörse, undbringen Sie dieseBörse Ihrem Vater. Es ist von großemBelang, daß er sie vor elf Uhr erhält. Sie haben mirblinden Gehorsam versprochen; ich erinnere Sie an dieses Versprechen.

Simbad der Seefahrer.

Julie stieß einen Freudenschrei aus, schlug die Augen auf und suchte den Mann, der ihr dasBillett zugestellt hatte, um ihn zubefragen, aber er war verschwunden. Sie schaute dann wieder auf dasBillett, um es zum zweiten Male zu lesen, undbemerkte, daß es eine Nachschrift hatte. Julie las:

«Es ist wichtig, daß Sie diese Sendung in Person und allein erfüllen; kämen Sie inBegleitung, oder erschiene eine andere Person an Ihrer Stelle, so würde der Hausverwalter antworten, er wisse nicht, was man wolle.«

Diese Nachricht mäßigte Julies Freudebedeutend. Hatte sie nichts zubefürchten? War es nicht eine Falle, die man ihr stellte? Julie zögerte; siebeschloß, um Rat zu fragen, nahm aber seltsamerweise ihre Zuflucht weder zu ihrer Mutter noch zu ihremBruder, sondern zu Emanuel. Sie ging hinab, erzählte ihm, was ihr vor drei Monatenbegegnet sei, und welches Versprechen sie dem Engländer gegeben habe, und zeigte denBrief.

Sie müssen den Gang machen, Fräulein, sagte Emanuel.

Ich muß ihn machen?

Ja, ichbegleite Sie.

Haben Sie denn nicht gelesen, daß ich allein sein soll?

Sie werden auch allein sein; ich erwarte Sie an der Ecke der Rue du Musée, und wenn Sie so lange ausbleiben, daß es mir Unruhebereitet, so suche ich Sie auf, und ich stehe Ihnen dafür, wehe denen, von denen Sie mir sagen werden, Sie haben sich über sie zubeklagen! Also, Emanuel, versetzte zögernd das junge Mädchen, es ist Ihre Ansicht, daß ich dieser Aufforderung Folge leisten soll?

Ja. Sagte Ihnen derBote nicht, es handle sich um die Wohlfahrt Ihres Vaters?

Aber, Emanuel, welche Gefahr läuft er denn? fragte Julie.

Emanuel zögerte einen Augenblick, doch das Verlangen, sie mit einem einzigen Schlage und ohne Verzug zubestimmen, gewann die Oberhand, und er sagte: Hören Sie! Nicht wahr, um elf Uhr soll Ihr Vater gegen 300 000 Frankenbezahlen? Nun, er hat keine 15 000 in der Kasse. Wenn also Ihr Vaterbis heute vor elf Uhr nicht jemand gefunden hat, der ihm zu Hilfe kommt, so ist er um Mittag genötigt, sich zahlungsunfähig zu erklären.

Ah! kommen Sie, rief Julie und zog den jungen Mann mit sich fort.

Mittlerweile hatte Frau Morel ihrem Sohne alles auseinandergesetzt. Der junge Mann wußte wohl, daß wiederholte Unglücksfälle dem Wohlstand des Hauses schwere Wunden geschlagen hatten, hatte aber keine Vorstellung von dem vollen Umfang der Gefahr. Erbliebwie vernichtet; dann eilte er plötzlich aus dem Zimmer und stieg rasch die Treppe hinauf, denn er glaubte, sein Vater sei in seinem Kabinett, aber er klopfte vergebens. Als er vor der Tür des Kabinetts stand, hörte er die untere Wohnung sich öffnen; er wandte sich um und sah seinen Vater. Dieser stieß einen Schrei der Überraschung aus, als er Maximilian erblickte: erbliebunbeweglich auf der Stelle und preßte mit dem linken Arme einen Gegenstand, den er unter seinem Oberrock verborgen hielt. Maximilian stieg rasch die Treppe hinabund warf sich seinem Vater um den Hals; aber plötzlich wich er zurück und ließ nur seine linke Hand auf MorelsBrust ruhen.

Vater, sagte er, bleich wie der Tod, warum haben Sie ein paar Pistolen unter Ihrem Oberrock?

Oh! dasbefürchtete ich, versetzte Morel. Vater! Vater! Im Namen des Himmels, rief der junge Mann, wozu diese Waffen?

Maximilian, antwortete Morel, seinen Sohn starr anschauend, dubist ein Mann, dubist ein Ehrenmann; komm, und ich werde es dir sagen!

Und mit sicherem Schritte stieg Morel in sein Kabinett hinauf, während ihm sein Sohn wankend folgte. Morel öffnete die Tür und schloß sie wieder hinter seinem Sohne; dann durchschritt er das Vorzimmer, näherte sich demBüro, legte seine Pistolen auf die Ecke des Tisches undbezeichnete Maximilian mit der Fingerspitze ein offenesBuch. In diesemBuche war der Stand der Dinge genau eingetragen. Morel hatte in einer halben Stunde 287 500 Franken zubezahlen undbesaß im ganzen nur 15 227 Franken. Der junge Mann las und war einen Augenblick völlig niedergeschmettert. Morel sprach kein Wort; was hätte er zu dem unerbittlichen Urteile der Zahlen noch hinzufügen können?

Und Sie haben alles getan, um diesem Unglück zubegegnen, mein Vater? fragte der junge Mann. — Ja.

Sie haben alle Ihre Quellen erschöpft? — Alle.

Und in einer halben Stunde ist unser Name entehrt? fügte der Sohn mit düsterem Tone hinzu.

Blut wäscht die Schande ab, sprach Morel.

Sie haben recht, Vater, ich verstehe Sie. Dann seine Hand nach den Pistolen ausstreckend, fuhr Maximilian fort: Eine für Sie, eine für mich.

Morel hielt seine Hand zurück.

Und deine Mutter… deine Schwester… wer wird sie ernähren?

Ein Schauder durchlief den Leibdes jungen Mannes.

Vater, sagte er, bedenken Sie, daß Sie mich leben heißen?

Ja, ich sage es dir, denn es ist deine Pflicht; du hast einen starken, ruhigen Geist, Maximilian… Maximilian, dubist kein gewöhnlicher Mensch; ichbefehle dir nichts, ich schreibe dir nichts vor, ich sage dir nur: Untersuche die Lage der Dinge, als obdu ein Fremder wärst, und urteile dann selbst!

Der junge Mann dachte einen Augenblick nach, dann trat ein Ausdruck erhabener Resignation auf seinem Antlitz hervor; nur zuckte er mit einer langsamen, traurigenBewegung die Schulter.

Wohl, sagte er, Morel die Hand reichend, sterben Sie in Frieden, ich werde leben, mein Vater.

Morel warf sich seinem Sohne an dieBrust, Maximilian zog ihn an sich, und die zwei edlen Herzen schlugen einen Augenblick fest aneinander gepreßt.

Du weißt, daß es nicht meine Schuld ist, sagte Morel.

Maximilian lächelte.

Ich weiß, mein Vater, daß Sie der ehrlichste Mann sind den ich kennen gelernt habe.

Wohl, alles ist abgemacht; kehre nun zu deiner Mutter und zu deiner Schwester zurück!

Vater, sagte der junge Mann, die Kniebeugend, segnen Sie mich!

Morel nahm den Kopf seines Sohnes zwischen seine Hände und drückte wiederholt seine Lippen darauf.

Ja, ja, rief er, ich segne dich in meinem Namen und im Namen dreier Generationen vorwurfsfreier Menschen. Höre, was sie dir durch meine Stimme sagen: Das Gebäude, das das Unglück zerstört hat, kann die Vorsehung wieder aufbauen. Wenn sie mich einen solchen Tod sterben sehen, werden die Unerbittlichsten Mitleid mit mir haben; dir wird man vielleicht die Zeit gönnen, die man mir verweigert hat. Dann strebe vor allem danach, daß das Wort ehrlos nicht ausgesprochen werde; schreite zum Werke, arbeite, junger Mann, kämpfe heiß und mutig! Lebet, du, deine Mutter und deine Schwester, vom Notwendigsten, damit Tag für Tag das Gut derer, denen ich schuldigbin, wachse und unter deinen Händen Früchte trage! Bedenke, daß es ein schöner Tag, ein großer Tag, ein feierlicher Tag sein wird, der Tag, wo du in diesem Zimmer sagen wirst: Mein Vater ist gestorben, weil er nicht tun konnte, was ich heute tue, doch er ist ruhig und getrost gestorben, weil er wußte, ich würde es tun!

Oh! Vater, Vater, wenn Sie dennoch leben könnten!

Wenn ich lebe, ist alles verloren, wenn ich lebe, verwandelt sich die Teilnahme in Zweifel, das Mitleid in Erbitterung; wenn ich lebe, bin ich nur ein Mensch, der sein Wort gebrochen hat, der seiner Verbindlichkeit nicht nachgekommen ist; ichbin nichts anderes, als einBankerottierer. Sterbe ich dagegen, bedenke wohl, Maximilian, so ist mein Leichnam der eines unglücklichen, aber ehrlichen Mannes. Bleibe ich am Leben, so werden meinebesten Freunde mein Haus meiden. Bin ich tot, so folgt mir ganz Marseille weinend zu meiner letzten Ruhestätte. Lebe ich, so mußt du dich meines Namens schämen; sterbe ich, so erhebe stolz das Haupt und sprich: Ichbin der Sohn des Mannes, der sich getötet hat, weil er zum erstenmal im Leben sein Wort nicht halten konnte.

Der junge Mann stieß einen Seufzer aus, doch er schien sich zu fügen. Zum zweiten Male erfüllte die Überzeugung nicht sein Herz, aber seinen Geist.

Und nun laß mich allein, sagte Morel, und suche die Frauen zu entfernen!

Wollen Sie nicht meine Schwester noch einmal sehen? fragte Maximilian, indem er eine letzte, schwache Hoffnung auf diese Zusammenkunft setzte.

Herr Morel schüttelte den Kopf und erwiderte: Ich habe sie heute morgen gesehen und ihr Lebewohl gesagt.

Haben Sie mir keinenbesonderen Auftrag zu erteilen, mein Vater? fragte Maximilian mitbebender Stimme.

Allerdings, mein Sohn, einen heiligen Auftrag.

Sprechen Sie, Vater!

Das Haus Thomson und French ist das einzige, das aus Menschlichkeit, vielleicht aus Selbstsucht — es kommt mir nicht zu, in den Herzen der Menschen zu lesen, — Mitleid mit mir gehabt hat. Sein Vertreter, der in zehn Minuten erscheinen wird, um denBetrag von 287 500 Franken in Empfang zu nehmen, hat mir drei Monate nichtbewilligt, sondern angeboten. — Dieses Haus werde zuerstbefriedigt, mein Sohn, dieser Mann sei dir heilig.

Ja, Vater.

Und nun noch einmal Lebewohl, mein Sohn; geh, geh, ich muß allein sein. Du findest mein Testament in dem Schreibpult in meinem Schlafzimmer.

Höre, Maximilian, sprach der Vater, als er sah, daß der Sohn immer noch zauderte, denke dir, ich sei Soldat, wie du, ich habe denBefehl erhalten, eine Schanze zu nehmen, und du wissest, ich müssebeim Erstürmen fallen, würdest du mir nicht sagen: Gehen Sie, Vater, denn Sie entehren sich, wenn Siebleiben, undbesser der Tod, als die Schande!

Ja, ja, sagte der junge Mann, Morel krampfhaft in seine Arme schließend; ja, gehen Sie!

Und er stürzte aus dem Kabinett.

Morelbliebein paar Sekunden, die Augen starr auf die Tür heftend, stehen; dann läutete er. Alsbald erschien Cocles, der seinem früheren Selbst nicht mehr glich; die drei letzten Tage hatten ihn gelähmt. Der Gedanke: das Hans Morel ist imBegriff, seine Zahlungen einzustellen, beugte ihn mehr nieder, als es zwanzig Jahre getan hätten.

Mein guter Cocles, sagte Morel mit einem Tone, dessen Ausdruck sich nichtbeschreiben läßt, du wirst im Vorzimmerbleiben. Wenn der Herr, derbereits vor drei Monaten hier gewesen ist, der Vertreter von Thomson und French, kommt, meldest du ihn. Cocles antwortete nicht; er machte ein Zeichen mit dem Kopfe, setzte sich in das Vorzimmer und wartete. Morel fiel in seinen Lehnstuhl zurück; seine Augen wandten sich nach der Pendeluhr; esblieben ihm nur noch sieben Minuten; der Zeiger rückte mit unglaublicher Geschwindigkeit vor; es schien ihm, er sehe ihn fortschreiten. Was nun in dem Geiste dieses Mannes vorging, der, noch jung, sich von allem, was er auf der Welt liebte, trennen und das Leben verlassen wollte, vermag keine Feder zu schildern; man hätte, um einenBegriff zubekommen, seine mit Schweißbedeckte und dennoch ruhige Stirn, seine von Tränenbefeuchteten und dennoch zum Himmel aufgeschlagenen Augen sehen müssen.

Der Zeiger rückte immer weiter vor, die Pistolen waren geladen; er streckte die Hand aus, ergriff eine und murmelte den Namen seiner Tochter; dann legte er die tödliche Waffe wieder nieder, nahm eine Feder und schriebein paar Worte. Es kam ihm vor, als hätte er seinem geliebten Kinde nicht genug Lebewohl gesagt; dann wandte er sich wieder nach der Pendeluhr… er zählte nicht mehr nach Minuten, sondern nach Sekunden. Er faßte abermals die Waffe, den Mund halbgeöffnet und die Augen starr auf den Zeiger geheftet; und erbebtebei dem Geräusch, das er selbst, den Hahn spannend, machte. Der Schweiß lief ihm immer kälter über die Stirn, immer tödlicher schnürte ihm die Angst das Herz zusammen; er hörte, wie die Tür der Treppe auf ihren Angeln knarrte und sich sodann die seines Kabinetts öffnete; die Pendeluhr war auf dem Punkte, die elfte Stunde zu schlagen.

Morel wandte sich nicht um, er erwartete von Cocles die Worte zu hören: Der Vertreter des Hauses Thomson und French! und näherte die Waffe seinem Munde. Plötzlich hörte er einen Schrei… es war die Stimme seiner Tochter.

Er kehrte sich um und erblickte Julie; die Pistole entglitt seinen Händen.

«Vater!«rief das Mädchen atemlos undbeinahe sterbend vor Freunde,»gerettet! Sie sind gerettet!«

Und sie warf sich, mit der Hand eine rote seideneBörse emporhaltend, in seine Arme.

«Gerettet, mein Kind?«sagte Morel,»was willst du damit sagen?«

«Ja, gerettet! Sehen Sie, sehen Sie!«

Morel ergriff dieBörse undbebte, denn eine dunkle Erinnerung sagte ihm, daß sie einst ihm gehört habe. Auf der einen Seite fand er die Tratte von 287 00O Franken; die Tratte war quittiert. Auf der andern gewahrte er einen Diamanten von der Größe einer Haselnuß, mit den auf ein Stück Pergament geschriebenen drei Worten: Mitgift für Julie.

Morel fuhr mit der Hand über seine Stirn; er glaubte zu träumen. In diesem Augenblick schlug die Pendeluhr die elfte Stunde. Der Klang durchbebte ihn, als objeder Schlag des stählernen Hammers an seinem eigenen Herzen widertönte.

Sprich, Kind, sagte Morel, erkläre dich! Wo hast du dieseBörse gefunden?

In einem Hause der Allées de Meillan, Nr. 15, auf der Ecke des Kamins eines armseligen Zimmers im fünften Stocke.

DieseBörse gehört aber nicht dir! rief Morel.

Julie reichte dem Vater denBrief, den sie am Morgen empfangen hatte.

Und dubist allein in jenem Hause gewesen? sagte er, nachdem er gelesen hatte.

Emanuelbegleitete mich, Vater; er sollte an der Ecke der Rue du Musée auf mich warten, war aber seltsamerweisebei meiner Rückkehr nicht dort.

Herr Morel!.. rief man auf der Treppe, Herr Morel!

Zu gleicher Zeit trat Emanuel, das Gesicht vor Freude und Aufregung ganz verstört, ein.

Der Pharao! rief er, der Pharao!

Was, der Pharao? Sind Sie verrückt, Emanuel? Sie wissen, daß er zu Grunde gegangen ist!

Der Pharao! Herr, man signalisiert den Pharao! Der Pharao läuft in den Hafen ein!

Morel fiel in seinen Stuhl zurück; die Kräfte verließen ihn; sein Verstand weigerte sich, diese Folge unglaublicher, unerhörter, fabelhafter Ereignisse zu fassen. Aber Maximilian trat ebenfalls ein und rief: Vater, was sagten Sie denn, der Pharao sei zu Grunde gegangen? Die Wache hat ihn signalisiert, und er läuft, wie ich höre, in den Hafen ein.

Meine Freunde, sagte Morel, wenn dies der Fall wäre, so müßte man an ein Wunder des Himmels glauben. Unmöglich! Unmöglich!

Was aber wirklich war und nicht minder unglaublich erschien, das war dieBörse, die er in der Hand hielt, das war der quittierte Wechsel, das war der prachtvolle Diamant.

Oh, Herr, sagte Cocles, was soll dasbedeuten, der Pharao?

Auf, Kinder, sagte Morel sich erhebend, wir wollen sehen, und Gott sei unsbarmherzig, wenn es eine falsche Nachricht ist.

Sie gingen hinab; mitten auf der Treppe wartete Frau Morel; die arme Frau hatte es nicht gewagt, hinaufzugehen. In einem Augenblickbefanden sie sich auf der Cannebière. Es war eine Menge von Menschen versammelt. Alles Volk gabRaum für Morel.

Der Pharao! Der Pharao! riefen alle Stimmen.

Wunderbar, unerhört! Ein Schiff, an dessen Vorderteil in weißenBuchstaben die Worte: Der Pharao, Morel und Sohn in Marseille, geschrieben waren, und das ganz die Gestalt des Pharao hatte und wie dieser mit Indigo und Cochenillebeladen war, ging in der Tat vor dem Saint‑Jean‑Turme vor Anker. Aus dem Verdecke gabder Kapitän Gaumard seineBefehle, und Meister Penelon machte Herrn Morel Zeichen. Es ließ sich nicht mehr zweifeln, die Sinnebezeugten, und zehntausend Menschenbestätigten es. Als Morel und sein Sohn auf dem Hafendamm unter demBeifallsgeschrei der ganzen diesem Schauspielbeiwohnenden Stadt sich umarmten, murmelte ein Mann, dessen Kopf halbvon einem schwarzenBartebedeckt war, indem er, hinter einem Schilderhäuschen verborgen, voll Rührung diese Szenebetrachtete, die Worte: Sei glücklich, edles Herz; sei gesegnet für alles Gute, was du getan hast und noch tun wirst, und meine Dankbarkeitbleibe im Dunkeln, wie deine Wohltat. Und mit einem Lächeln, in dem sich Freude und Glück ausprägten, verließ er den Ort, an dem er sich verborgen gehalten hatte, stieg, ohne daß jemand darauf achtete, eine von den kleinen Treppen hinab, die zum Landenbenutzt werden, und rief dreimal: Jacopo!

Eine Schaluppe kam auf ihn zu, nahm ihn anBord und führte ihn zu einer reich ausgerüsteten Jacht, auf deren Verdeck er mit der Gelenkigkeit eines Seemanns sprang; von hier ausbetrachtete er noch einmal Morel, der vor Freude weinend herzliche Händedrücke an alle Welt austeilte und mit suchendemBlicke dem unsichtbaren Wohltäter dankte, den er im Himmel zu vermuten schien.

Und nun, sagte der Unbekannte, fahret wohl, Güte, Menschlichkeit, Dankbarkeit… fahret wohl alle Gefühle, die das Herz schwellen lassen!.. Ich habe die Stelle der Vorsehung eingenommen, um die Guten zubelohnen… jetzt trete mir der rächende Gott seinen Platz ab, um dieBösen zubestrafen!

Nach diesen Worten machte er ein Signal, und die Jacht ging, als hätte sie nur auf dieses Signal gewartet, sogleich in See.

Simbad der Seefahrer

Am Anfang des Jahres 1838befanden sich in Florenz zwei junge Leute, die der elegantesten Gesellschaft von Paris angehörten. Der eine war der Vicomte Albert von Morcerf, der andere derBaron Franz d'Epinay. Sie hatten verabredet, den Karneval dieses Jahres in Rom zuzubringen, wo Franz, der seitbeinahe vier Jahren in Italien lebte, Albert als Cicerone dienen sollte. Albert wollte die Zeit, die er noch vor sich hatte, benutzen und reiste nach Neapel ab. Franzbliebin Florenz. Als er einige Zeit das Leben, das die Stadt der Medicibietet, genossen hatte, kam es ihm in den Kopf, da er Korsika, Bonapartes Wiege, bereitsbesucht hatte, auch Elba, dieseberühmte napoleonische Station, zu sehen.

Eines Abends machte er daher eineBarchetta von dem eisernen Ringe los, an dem sie im Hafen von Livornobefestigt war, legte sich, in seinen Mantel gehüllt, darin nieder und sagte zu den Schiffern nur die Worte: Nach Elba! DieBarke verließ den Hafen, wie der Meervogel sein Nest verläßt, und landete am andern Tage in Porto Ferrajo. Nachdem Franz allen Spuren gefolgt war, die der Tritt des korsischen Riesen auf der Insel zurückgelassen hatte, schiffte er sich in Marciana wieder ein. Zwei Stunden später stieg er in Pianosa, wo seiner, wie man ihm versicherte, zahllose Schwärme von Rothühnern warteten, abermals ans Land. Die Jagd war schlecht, Franz schoß nur ein paar magere Hühner und kehrte übler Laune in seineBarke zurück.

Oh! wenn Euere Exzellenz wollte, sagte der Patron zu ihm, könnte sie eine schöne Jagd machen.

Wo denn?

Sehen Sie jene Insel? sagte der Patron, den Finger nach Süden ausstreckend und auf eine kegelförmige Masse deutend, die in den schönsten Farben mitten aus dem Meere aufstieg.

Was für eine Insel ist denn das? fragte Franz.

Die Insel Monte Christo, antwortete der Livornese.

Was für Wildpret werde ich dort finden?

Tausende von wilden Ziegen.

Die davon leben, daß sie an den Steinen lecken? versetzte Franz mit ungläubigem Lächeln.

Nein, davon, daß sie Heidekraut, Myrten undBrombeerstauden abweiden.

Aber wo soll ich schlafen?

Auf der Erde, in den Grotten, oder anBord in Ihrem Mantel. Auch können wir, wenn es Eure Exzellenz so haben will, unmittelbar nach der Jagd wieder absegeln? sie weiß, daß wirbei Nacht wiebei Tag fahren können und neben den Segeln auch Ruder haben.

Da Franz noch Zeit genugblieb, um wieder zu seinem Gefährten zurückzukehren, nahm er den Vorschlag an und rief dem Patron zu: Also vorwärts nach Monte Christo!

Der Kapitän gabdie geeignetenBefehle; man legte sich gegen die Insel und näherte sich ihr rasch. Je näher man kam, desto mehr trat das Eiland wachsend aus dem Schoße des Meeres hervor, und durch die klare Atmosphäre der letzten Strahlen des Tages unterschied man die Masse der aufeinander gehäuften Felsen, in deren Zwischenräumen das rötliche Heidekraut und die grünendenBäume sichtbar wurden. Sie waren noch ungefähr fünfzehn Meilen von Monte Christo entfernt, als die Sonne hinter Korsika, dessenBerge rechts zum Vorschein kamen, unterzugehen anfing. Eine halbe Stunde nachher herrschte völlige Finsternis. Zum Glückbefanden sich die Schiffer in einer Gegend des toskanischen Archipels, die sie aufs genaueste kannten, denn inmitten der Dunkelheit, welche dieBarke umhüllte, wäre Franz sonst etwasbeunruhigt gewesen.

Es war ungefähr eine Stunde seit Sonnenuntergang vorüber, als Franz auf eine Viertelmeile links eine dunkle Masse zu erblicken glaubte; doch es ließ sich durchaus nicht unterscheiden, was es war, und er schwieg, weil er dachte, es seien vielleicht nur schwebende Wolken, und die Matrosen würden ihn auslachen. Nun wurde aber ein Heller Schimmer sichtbar, und Franz rief:

Wasbedeutet jenes Licht?

Still! sagte der Patron, es ist ein Feuer.

Ich glaubte doch, die Insel sei unbewohnt?

Sie hat keine festeBevölkerung, doch dient sie manchmal als Aufenthaltsort für Schmuggler und für Seeräuber, fuhr Gaetano fort; deshalbhabe ichBefehl gegeben, daran vorbeizufahren, denn das Feuer ist, wie Sie sehen, nunmehr hinter uns.

Mir scheint, dieses Feuer muß uns eher Sicherheit gewähren, als Unruhe verursachen; Leute, die gesehen zu werdenbefürchten, zünden kein Feuer an.

Oh! das will nichts sagen, entgegnete Gaetano; wenn Ihnen die Lage der Insel genaubekannt wäre, würden Sie wissen, daß dieses Feuer weder von Korsika noch von Pianosa, sondern nur von der offenen See ausbemerkt werden kann.

Ihr fürchtet also, das Feuer kündige uns schlimme Gesellschaft an?

Darüber muß man sich Gewißheit verschaffen, erwiderte Gaetano, die Augenbeständig darauf heftend.

Hieraufberatschlagte Gaetano mit seinen Gefährten, und nach einer kurzen Unterredung wendete man stillschweigend das Schiff; nun war das Feuer nicht mehr sichtbar. Dann gabder Lotse dem kleinen Fahrzeug, dasbald nur noch fünfzig Schritte von der Insel entfernt war, eine neue Richtung. Gaetano zog das Segel ein, und dieBarkebliebstehen.

Dies alles war mit der größten Stille vor sich gegangen, und man hatte seit Änderung der Richtung keine Silbe anBord gesprochen. Gaetano, der die Expedition vorgeschlagen, hatte auch die ganze Verantwortlichkeit übernommen. Die drei andern Matrosen wandten kein Auge von ihm, während sie die Ruder richteten und sich offenbarbereit hielten, die Flucht zu ergreifen, wasbei der großen Dunkelheit nicht schwer sein konnte. Franz untersuchte seine Gewehre, zwei Doppelflinten und eineBüchse, mit seiner gewöhnlichen Kaltblütigkeit; dann wartete er, auf alles gefaßt.

Inzwischen zog der Patron seine Kleiderbis auf die Hosen aus und legte einen Finger auf die Lippen, um den andern Stillschweigen anzuempfehlen, ließ sich in das Meer hinabgleiten und schwamm mit solcher Vorsicht nach dem Ufer, daß es nicht möglich war, auch nur das geringste Geräusch zu hören. Man konnte seine Spur nur an der leuchtenden Furche verfolgen, die seineBewegungen verursachten. Bald verschwand auch diese Furche; Gaetano hatte offenbar das Land erreicht.

Eine halbe Stunde langblieben alle auf dem Schiffe unbeweglich; nach Verlauf dieser Zeit sah man dieselbe leuchtende Furche wiedererscheinen und sich derBarke nähern. Mit einigen Stößen war Gaetano wiederbei derBarke.

Nun? fragten gleichzeitig Franz und die drei Matrosen.

Es sind drei spanische Schmuggler, die zwei korsischeBanditenbei sich haben.

Gut, so viel sind wir auch gerade; unsere Kräfte sind, falls die Herren schlimme Absichten haben sollten, gleich. Also, auf nach Monte Christo!

Ja, Exzellenz; doch Sie werden mir ohne Zweifel erlauben, daß ich einige Vorsichtsmaßregeln nehme?

Freilich, mein Teurer. Seid weise wie Nestor und klug wie Ulysses! Ich erlaube es Euch nicht nur, sondern ich ermahne Euch dazu.

Still also! sagte Gaetano. Alle schwiegen.

Für einen Mann wie Franz, der alles vom richtigen Gesichtspunkte ausbetrachtete, ermangelte die Lage der Dinge, ohne gefährlich zu sein, doch nicht eines gewissen Ernstes. Erbefand sich in der tiefsten Finsternis mitten auf dem Meere mit Schiffern, die ihn nicht kannten und keinen Grund hatten, ihm ergeben zu sein, die wußten, daß in seinem Gürtel tausend Franken waren, und wenigstens zehnmal, wenn nicht mit Lüsternheit, doch mit Neugierde seine wirklich schönen Gewehre untersucht hatten. Sodann sollte er ohne anderes Geleit, als diese Menschen, auf einer Insel landen, auf der Schmuggler undBanditen ihr Wesen trieben. Zwischen diese doppelte, vielleicht eingebildete, vielleicht wirkliche Gefahr gestellt, ließ er seine Leute nicht aus den Augen, seine Flinte nicht aus der Hand.

Die Matrosen hatten indessen ihre Segel wieder gehißt, und dieBarke fuhr das Ufer entlang; bald erblickte man das Feuer deutlicher und fünf daran sitzende Personen. Der Wiederschein der Glut erstreckte sich auf etwa hundert Schritt ins Meer hinaus. Gaetano fuhr längs dem Feuer hin, wobei er jedoch dieBarke in dem nichtbeleuchteten Teile hielt; als er sich endlich gerade vor dem Feuerbefand, richtete er das Vorderteil seines Fahrzeugs auf dieses zu und fuhr mutig in denbeleuchteten Kreis, wobei er ein Fischerlied anstimmte, dessen Refrain seine Gefährten im Chor wiederholten.

Bei dem ersten Worte des Liedes erhoben sich die um das Feuer sitzenden Männer und näherten sich dem Strand, ihre Augen auf dieBarke heftend, derenBesatzung zu erkennen und deren Absicht zu erraten sie sich sichtbar anstrengten. Sobald sie sich genügend überzeugt hatten, setzten sie sich, einen Mann ausgenommen, der am Ufer stehenblieb, wieder um das Feuer, an dem man eine junge Ziegebriet.

Als das Schiffbis auf zwanzig Schritte zum Land gelangt war, rief der Mann am Ufer in sardinischer Mundart: Wer da?

Franz spannte kaltblütig seine Doppelflinte.

Gaetano wechselte mit dem Manne am Ufer ein paar Worte, von denen der Reisende nichts verstand, die aber offenbar seine Personbetrafen.

Will Eure Exzellenz sich nennen oder ihr Inkognitobeibehalten? fragte der Patron.

Mein Name muß diesen Leuten völlig unbekanntbleiben, antwortete Franz; sagt ihnen ganz einfach, ich sei ein Franzose, der zu seinem Vergnügen reise.

Als Gaetano diese Worte wiederholt hatte, gabdie Schildwache einem von den am Feuer sitzenden Männern einenBefehl; dieser stand sogleich auf und verschwand in den Felsen. Es herrschte tiefe Stille. Jeder schien mit seinen Angelegenheitenbeschäftigt, Franz mit dem Ausschiffen, die Matrosen mit ihren Segeln, die Schmuggler mit ihrer jungen Ziege. Dochbei aller scheinbaren Sorglosigkeitbeobachtete man sich gegenseitig scharf.

Der Mann, der sich durch die Felsen entfernt hatte, erschien plötzlich wieder von der entgegengesetzten Seite; er machte der Schildwache mit dem Kopfe ein Zeichen, diese wandte sich um und sprach nur die Worte: s'accommodi.

Das italienische s'accommodi läßt sich nicht übersetzen. Esbedeutet zugleich: Kommt, tretet ein, seid willkommen. tut, als obIhr zu Hause wäret, Ihr habt zu gebieten. Die Matrosen ließen sich das nicht zweimal sagen; mit vier Ruderschlägenberührte dieBarke das Land. Gaetano sprang ans Ufer, wechselte leise noch ein paar Worte mit der Schildwache, seine Gefährten stiegen ebenfalls nacheinander aus, und die Reihe kam an Franz.

Er trug selbst eine von seinen Flinten, Gaetano hatte die andere, einer von den Matrosen hielt seineBüchse. Seine Tracht hielt die Mitte zwischen der eines Künstlers und der eines Stutzers, was den Leuten auf der Insel keinen Verdacht und folglich keine Unruhe einflößte. Manband dieBarke am Ufer an und ging einige Schritte vorwärts, um einbequemesBiwak zu suchen; aber ohne Zweifel paßte die Stelle, wo man suchte, dem Schmuggler, der Wache stand, nicht, denn er rief Gaetano zu: Nein, nicht dort!

Gaetano stammelte eine Entschuldigung und schritt ohne Widerspruch in entgegengesetzter Richtung fort, während zwei Matrosen, um den Weg zubeleuchten, Fackeln am Feuer anzündeten. Man machte ungefähr dreißig Schritte und hielt auf einem freien Platze an, der ganz von Felsen umgeben war.

Sobald Franz einmal den Fuß auf die Erde gesetzt und die, wenn nicht gerade freundschaftliche, doch wenigstens gleichgültige Stimmung seiner Wirte wahrgenommen hatte, verschwandbei ihm jede Unruhe, und der Geruch der an dem nahenBiwakbratenden Ziege verwandelte seine Unruhe sogar in Appetit.

Er erwähnte dies gegen Gaetano, der ihm erwiderte, es gebe nichts Einfacheres, als ein Abendbrot, wenn man, wie sie, in derBarkeBrot, Wein, sechs Feldhühner und ein gutes Feuer zumBratenbesäße.

Überdies, fügte erbei, wenn Eure Exzellenz den Geruch der Ziege so verführerisch findet, so kann ich hingehen und unsern Nachbarn zwei von unsern Vögeln für eine Schnitte von ihrem Vierfüßigenbieten.

Tut das, Gaetano, antwortete Franz. Während dieser Zeit hatten die Matrosen Arme voll Heidekraut ausgerissen undBündel von Myrten und grünen Eichen gemacht, woran sie Feuer legten, wasbald einen sehr ansehnlichenBrand gab. Franz erwartete, beständig den Geruch der jungen Ziege einatmend, die Rückkehr des Patrons. Dieser erschien und ging mit sehr unruhiger Miene auf ihn zu.

Nun, fragte Franz, was Neues? Man weist unser Anerbieten zurück?

Im Gegenteil, erwiderte Gaetano, der Anführer, dem man gesagt hat, Sie seien ein junger französischer Edelmann, lädt Sie zum Abendbrot zu sich ein.

Gut! Tiefer Anführer ist ein sehr höflicher Mann, und ich weiß nicht, warum ich seiner Einladung nicht entsprechen sollte, um so mehr, als ich meinen Teil zum Abendbrot mitbringe.

Oh, das ist es nicht, denn es findet sich dort genug zum Abendbrot; aber er stellt eine sonderbareBedingung, unter der er Siebei sich empfangen will.

Bei sich! versetzte der junge Mann; er hat sich also ein Hausbauen lassen?

Nein, erbesitzt aber darum nichtsdestoweniger ein sehrbehagliches Heim, wenigstens wie man mir versichert hat.

Ihr kennt also diesen Anführer?

Ich habe von ihm sprechen hören.

Und wie heißt dieBedingung, die er mir stellt?

Sie sollen sich die Augen verbinden lassen und dieBinde nicht eher abnehmen, alsbis er Sie selbst dazu auffordert.

Franz schaute forschend in Gaetanos Augen, um zu erfahren, was hinter diesem Vorschlage verborgen sein könnte.

Ah! bei Gott! sagte dieser, auf FranzensBlick antwortend, ich weiß wohl, die Sache verdient Überlegung.

Was würdet Ihr an meiner Stelle tun? fragte der junge Mann.

Ich, der nichts zu verlieren hat, ginge hin, und wär's nur aus Neugierde. Es ist also etwas Merkwürdigesbei diesem Anführer zu sehen?

Hören Sie, sagte Gaetano, die Stimme dämpfend, ich weiß nicht, obdas, was man sagt, wahr ist. Er schwieg und schaute umher, obkein Fremder ihnbehorchte. Man sagt, dieser Anführerbesitze einen unterirdischen Palast, im Vergleich zu dem der Palast Pitti gar nichts sei.

Welche Phantasie! rief Franz.

Oh, es ist keine Phantasie, es ist Wahrheit. Cama, der Lotse des Ferdinando, ist einmal darin gewesen; er kam voll Verwunderung zurück und sagte, dergleichen Schätze finden sich nur in Feenmärchen.

Franz dachte einen Augenblick nach, erbegriff, daß ein so reicher Mann gegen ihn, der nur ein paar tausend Frankenbei sich hatte, nichts im Schilde führen konnte; und da ihm im Augenblick vor allem an einem vortrefflichen Abendbrot lag, so willigte er ein. Gaetano überbrachte seine Antwort.

Franz war indessen, wie gesagt, klug; er wollte soviel als möglich über seinen seltsamen, geheimnisvollen Wirt in Erfahrungbringen, wandte sich deshalbgegen den Matrosen um, derbeständig mit dem Ernste eines auf sein Amt stolzen Mannes die Feldhühner gerupft hatte, und fragte ihn, wie diese Leute hätten landen können, da kein Schiff sichtbar sei.

Dasbeunruhigt mich nicht, antwortete der Matrose, ich kenne das Schiff, worauf sie fahren.

Ist es ein hübsches Schiff?

Ich wünsche Eurer Exzellenz ein ähnliches, um damit die Reise um die Welt zu machen.

Wie groß?

Etwa hundert Tonnen. Es ist eine Jacht, aber so gebaut, daß sie sichbei jedem Wetter auf der See halten kann.

Wo ist sie gebaut worden?

Ich weiß es nicht, doch ich glaube in Genua.

Und wie kann es ein Anführer von Schmugglern wagen, eine für sein Gewerbebestimmte Jacht in Genuabauen zu lassen?

Ich sagte gar nicht, der Eigentümer dieser Jacht sei ein Schmugglerführer.

Nein, aber Gaetano hat es gesagt, meine ich.

Gaetano hat das Schiffsvolk von fern gesehen, aber noch mit niemand gesprochen.

Doch was ist denn dieser Mensch, wenn er kein Schmuggler ist?

Ein reicher Herr, der zu seinem Vergnügen reist.

Bei so widersprechenden Aussagen wird diese Person immer geheimnisvoller, dachte Franz. Und wie heißt er?

Wenn man fragt, so sagt er, er heiße Simbad der Seefahrer; doch ich zweifle, daß dies sein wahrer Name ist.

Und wo wohnt dieser Herr? — Auf dem Meere. — Aus welchem Lande ist er? — Ich weiß es nicht. — Habt Ihr ihn gesehen? — Einige Male. — Was für ein Mann ist es? — Eure Exzellenz wird ihn selbst sehen. — Und wo wird er mich empfangen? — Ohne Zweifel in seinem unterirdischen Palaste.

Und wenn Ihr hier anhieltet und die Insel verlassen fandet, triebEuch die Neugierde nie an, in diesen Zauberpalast zu dringen?

Oh! doch wohl, Exzellenz, erwiderte der Matrose, und zwar mehr als einmal, aber unsere Nachforschungen waren stets vergeblich; wir umwühlten die Grotte von allen Seiten, fanden aber nirgends einen Eingang. Übrigens sagt man, die Tür öffne sich nicht mit einem Schlüssel, sondern mittels eines magischen Wortes.

Ichbin offenbar in ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht versetzt, murmelte Franz.

Seine Exzellenz erwartet Sie, sprach hinter ihm eine Stimme, in welcher er die der Schildwache erkannte.

Der Vortretende war von zwei Personen von der Mannschaft der Jachtbegleitet. Statt jeder Antwort zog Franz sein Taschentuch und reichte es dem, welcher ihn angeredet hatte. Ohne ein Wort zu sprechen, verband man ihm die Augen mit einer Sorgfalt, aus der man erkannte, wie sehr man eine Indiskretion fürchtete, und ließ ihn sodann schwören, daß er auf keine Weise versuchen würde, seineBinde abzunehmen, bevor man ihn dazu aufforderte.

Diebeiden Männer nahmen ihn jeder an einem Arm, und er entfernte sich, von ihnen geleitet, die Schildwache voran. Nach etwa 50 Schritten fühlte er an der Veränderung der Atmosphäre, daß man in ein unterirdisches Gewölbe eintrat. Nachdem man noch einige Sekunden gegangen war, hörte er ein Krachen, und es kam ihm vor, als hätte sich die Atmosphäre wieder geändert und würde lau und wohlriechend; endlich fühlte er, haß seine Füße auf einen dicken, weichen Teppich traten; seine Führer verließen ihn. Nach kurzem Stillschweigen sagte eine Stimme in gutem Französisch, obgleich mit fremderBetonung: Ich heiße Sie willkommen; Sie können IhreBinde abnehmen.

Franz kam dieser Aufforderung sofort nach, nahm das Tuch abundbefand sich einem Manne von vierzig Jahren in tunesischer Tracht gegenüber; der Unbekannte trug einen roten Fez mit einer langen Quaste vonblauer Seide, eine reich mit Gold gestickte Jacke von schwarzem Tuch, weite, bauschigeBeinkleider, goldgestickte Gamaschen von derselben Farbe und gelbe Pantoffeln. Ein prachtvoller Kaschmir umgürtete seine Hüften, und ein kleiner spitziger, gebogener Handschar stak in diesem Gürtel. Obgleichbleich, fastbleifarbig, hatte dieser Mann doch ein interessantes Gesicht; seine Augen waren lebhaft und durchdringend; seine gerade und die Stirnlinie fast fortsetzende Nase deutete den griechischen Typus in seiner ganzen Reinheit an, und seine perlweißen Zähne hoben sich von dem schwarzen Schnurrbart prächtig ab. Nur dieBlässe war seltsam; man hätte glauben sollen, er habe lange im Grabe gelegen und könne nun die natürliche Farbe der Lebenden nicht wieder annehmen. Wenn auch nicht hoch gewachsen, war er doch wohlgebaut und hatte, wie die Südländer, kleine Hände und Füße. Am meisten aber erstaunte Franz über die Kostbarkeit der Ausstattung.

Das ganze Zimmer war mit einem türkischen Stoffe von karmesinroter Farbe austapeziert. In einer Vertiefung stand ein Diwan, über dem man eine Trophäe von arabischen Waffen erblickte, deren Scheiden und Griffe von Edelsteinen funkelten; an der Zimmerdecke hing eine Lampe von venetianischem Glas von reizender Form und Farbe, und die Füße ruhten auf einem türkischen Teppich, in dem siebis an die Knöchel versanken. Vorhänge waren vor der Tür angebracht, durch die man Franz eingeführt hatte, und ebenso vor einer andern Tür, die nach einem zweiten Gemache ging, das glänzend erleuchtet zu sein schien. Der Wirt überließ Franz eine Zeit lang gänzlich seinem Staunen, prüfte ihn überdies auch seinerseits neugierig und hattebeständig seine Augen auf ihn geheftet.

Mein Herr, sagte er endlich, ichbitte Sie tausendmal um Entschuldigung wegen der Vorsichtsmaßregeln, die man von Ihnen verlangte. Da aber die Insel meist öde und verlassen ist, so fände ich, wenn das Geheimnis dieses Aufenthaltsortesbekannt würde, ohne Zweifelbei meiner Rückkehr mein Absteigequartier in schlimmem Zustand, was mir sehr unangenehm wäre, nicht wegen des Verlustes, den es mir verursachen würde, sondern weil ich nicht mehr die Gewißheit hätte, mich nachBelieben von der Welt abschließen zu können. Ich will mich nunbemühen, Sie diese kleine Unannehmlichkeit vergessen zu lassen, indem ich Ihnen anbiete, was Sie gewiß nicht zu finden hofften, nämlich ein erträgliches Abendbrot und guteBetten.

Wahrhaftig, mein lieber Wirt, Siebrauchen sich deshalbnicht zu entschuldigen. Ich habe immer gehört, daß man den Leuten, die in Zauberpaläste drangen, die Augen verband, auch geziemt es mir nicht, mich zubeklagen, denn das, was Sie mir zeigen, bildet offenbar die Fortsetzung von Tausendundeiner Nacht.

Ach! ich möchte Ihnen wie Lucullus sagen, wenn ich gewußt hätte, daß mir die Ehre IhresBesuches zuteil würde, so hätte ich mich daraus vorbereitet. Doch ich stelle meine Einsiedelei, so wie sie ist, zu Ihrer Verfügung; mein Abendbrot ist Ihnen angeboten, so mager es auch sein mag. Ali, ist ausgetragen?

In demselben Augenblick wurde der Türvorhang ausgehoben, und ein nubischer Neger, so schwarz wie Ebenholz und in einen einfachen weißen Leibrock gekleidet, deutete seinem Herrn durch ein Zeichen an, er könnte sich in den Speisesaalbegeben.

Ich weiß nicht, sagte der Unbekannte zu Franz, obSie meiner Ansicht sind, aber ich finde nichts unbehaglicher, als zweibis drei Stunden einander unter vier Augen gegenüber zubleiben, ohne zu wissen, mit welchem Namen oder welchem Titel man sich nennen soll. Ich achte indessen zu sehr die Gesetze der Gastfreundschaft, um Sie nach Ihrem Namen zu fragen, undbitte Sie nur, mir irgend eineBenennung zubezeichnen, unter der ich das Wort an Sie richten kann. Mich nennt man gewöhnlich Simbad, den Seefahrer.

Und ich denke, erwiderte Franz, ich kann mich, da mir, um in Aladins Lage zu sein, nur dieberühmte Wunderlampe fehlt, für den Augenblick Aladin nennen.

Wohl, edler Herr Aladin, sagte der Fremde, Sie haben gehört, daß aufgetragen ist, wollen Sie also die Güte haben, in den Speisesaal einzutreten! Ihr untertäniger Diener geht voran, um Ihnen den Weg zu zeigen.

Bei diesen Worten hobSimbad den Türvorhang auf und ging Franz voran. Franz schritt von Zauber zu Zauber; die Tafel schien herrlichbestellt. Nachdem er sich von diesem wichtigen Punkte überzeugt hatte, schaute er umher. Der Speisesaal war nicht minder glänzend, als das Zimmer, das er soeben verlassen hatte; er war ganz von Marmor mit antikenBasreliefs vom höchsten Werte, und in den vier Ecken des länglichen Saales standen vier prächtige Statuen, die Körbchen auf ihren Köpfen trugen. Diese Körbchen enthielten Pyramiden von herrlichen Früchten, Ananas von Sizilien, Granaten von Malaga, Orangen von denbalearischen Inseln, Pfirsiche aus Frankreich und Datteln aus Tunis. Das Abendbrotbestand aus gebratenem Fasan, mit korsischen Merlen garniert, einer Wildschweinskeule mit Gelee, einem Ziegenviertel, einem herrlichen Turbot und einer riesigen Languste. Daneben enthielten kleinere Platten die Nebengerichte. Die Platten waren von Silber, die Teller von japanischem Porzellan. Franz riebsich die Augen, um sich zu überzeugen, daß er nicht träume. Ali allein war zurBedienung zugelassen und entledigte sich vortrefflich seiner Pflichten. Der Gast sagte seinem Wirte hierüber ein Kompliment.

Ja, sagte dieser, er ist ein mir sehr ergebenerBursche, der nach seinenbesten Kräften zu Werke geht. Er erinnert sich, daß ich ihm das Leben gerettet habe, und dafürbewahrt er mir die größte Dankbarkeit.

Wäre es nicht unbescheiden, edler Herr Simbad, sagte Franz, so möchte ich Sie fragen, bei welcher Gelegenheit Sie diese schöne Tat ausgeführt haben.

Mein Gott! Das ist ganz einfach, antwortete Simbad. Es scheint, derBursche war dem Serail desBeis von Tunis nähergekommen, als es sich für einen Menschen seiner Farbe geziemt, und so sollten ihm Zunge, Hand und Kopf abgeschnitten werden, die Zunge am ersten Tag, die Hand am zweiten, der Kopf am dritten. Es gelüstete mich immer, einen Stummen in meinem Dienste zu haben; ich wartete daher, bis ihm die Zunge abgeschnitten war, und schlug demBei vor, mir ihn gegen eine herrliche Doppelflinte zu überlassen, die tags zuvor dieBegierde Seiner Hoheit erregt hatte. Er schwankte einen Augenblick, so viel war ihm daran gelegen, mit dem armen Teufel ein Ende zu machen. Aber ich fügte zur Flinte noch ein englisches Jagdmesser, mit dem ich den Yatagan Seiner Hoheit durchhackt hatte, worauf derBei sich entschloß, Ali zubegnadigen, jedoch unter derBedingung, daß er nie mehr das Gebiet von Tunisbetreten würde. Dies anzuempfehlen war unnötig. Wenn der Unglückliche nur von fern die Küste von Afrika erblickt, flüchtet er sich in den untersten Raum des Schiffes, und man kann ihn nicht mehr herausbringen, bis man den dritten Weltteil aus dem Gesichte verloren hat.

Franzbliebeinen Augenblick stumm und nachdenklich, er überlegte sich, was er von der grausamen Gutmütigkeit denken sollte, mit der ihm sein Wirt diese Geschichte erzählte.

Und wie der ehrenwerte Seemann, dessen Namen Sie angenommen haben, sagte er, das Gespräch ändernd, bringen Sie Ihr Leben mit Reisen hin?

Ja, es ist ein Gelübde, das ich in einer Zeit getan habe, wo ich kaum glaubte, es je erfüllen zu können, sagte Simbad lächelnd! ich habe einige weitere getan, die, wie ich hoffe, wenn die Reihe an ihnen ist, ebenfalls erfüllt werden.

Obgleich Simbad diese Worte mit der größten Kaltblütigkeit sprach, schleuderten doch seine Augen dabei einen seltsam wildenBlick.

Sie haben viel gelitten, mein Herr? sprach Franz.

Simbadbebte, schaute ihn starr an und erwiderte: Woran sehen Sie dies?

An allem, an Ihrer Stirn, an IhremBlicke, an IhrerBlässe und an dem Leben, das Sie führen.

Ich? Ich führe das glücklichste Leben, das ich kenne, ein wahres Pascha‑Leben; ichbin der König der Schöpfung. Gefällt es mir an einem Orte, sobleibe ich; langweile ich mich, so reise ich ab; ichbin frei, wie der Vogel, ich habe Flügel, wie er. Die Leute meiner Umgebung gehorchen mir auf den Wink; von Zeit zu Zeitbelustige ich mich damit, der menschlichen Gerechtigkeit zu spotten, indem ich ihr einenBanditen entziehe, den sie sucht, oder sonst einen Verbrecher, den sie verfolgt. Dann habe ich meine eigene Gerichtsbarkeit, hohe und niedere, ohne Frist und Appellation, eine Gerichtsbarkeit, die verurteilt und freispricht, während sich niemand um sie zu kümmern hat. Ah, hätten Sie mein Leben gekostet, Sie würden sich kein anderes mehr wünschen, und Sie kehrten nie mehr in die Welt zurück, wenn Sie nicht ein großes Vorhaben antriebe.

Eine Rache zumBeispiel! versetzte Franz.

Der Unbekannte heftete auf den jungen Mann einen von jenenBlicken, die in die tiefste Tiefe des Herzens und des Geistes eintauchen. Dann fragte er: Und warum eine Rache?

Weil Sie aussehen wie ein Mann, der, von der Gesellschaft verfolgt, eine furchtbare Rechnung mit ihr abzuschließen hat.

Sie irren sich, erwiderte Simbad mit seltsamem Lachen, wobei sich seine weißen spitzigen Zähne zeigten; so wie Sie mich sehen, bin ich eher ein Menschenfreund, und ich gehe vielleicht eines Tages nach Paris, um mich dort um den Tugendpreis zubewerben.

Wird es das erste Mal sein, daß Sie diese Reise machen?

Mein Gott, ja. Nicht wahr, es scheint, daß ich sehr wenig neugierigbin? Doch ich versichere Ihnen, es ist nicht mein Fehler, daß ich so lange gezögert habe; jedenfalls wird es einmal geschehen.

Gedenken Sie diese Reisebald zu machen?

Ich weiß noch nicht; es hängt von verschiedenen Umständen ab.

Ich wünschte wohl, zur Zeit, wo Sie nach Paris kommen, ebenfalls dort zu sein; ich würde michbemühen, Ihnen, soviel in meinen Kräften liegt, die Gastfreundschaft zu vergelten, die Sie mir so reichlich auf Monte Christo angedeihen ließen.

Ich würde Ihr Anerbieten mit großem Vergnügen annehmen, versetzte der Unbekannte; leider aber wird es, wenn ich dahin gehe, wohl inkognito geschehen.

Das Abendbrot nahm indessen seinen Fortgang; es schien nur für Franzbestimmt zu sein, denn Simbad kostete kaum voll ein paar Schüsseln des glänzenden Mahles, dem sein unerwarteter Gast alle Ehre antat. Endlichbrachte Ali den Nachtisch, er nahm vielmehr die Körbchen aus den Händen der Statuen und setzte sie auf die Tafel. Zwischen zwei Körbchen stellte er einenBecher von Vermeil, der mit einem Deckel von demselben Metalle verschlossen war.

Die Ehrfurcht, mit der Ali diesenBecher herbeibrachte, stachelte Franzens Neugierde; er hobden Deckel auf und sah eine Art von grünlichem Teig, der ihm aber völlig unbekannt war. Er setzte den Deckel wieder auf und wußte ebensowenig wie zuvor, was derBecher enthielt; als er seine Augen zu seinem Wirte aufschlug, sah er, wie dieser über seine Neugier lächelte.

Sie können nicht erraten, sagte der Unbekannte, welche Art von eßbarem Stoffe diese kleine Vase enthält, und das setzt Sie in Verlegenheit?

Ich gestehe es.

Nun, diese Sorte von Zuckerwerk ist nichts mehr und nichts weniger als die Ambrosia, die Hebe an Jupiters Tafel reichte. Sind Sie ein materieller Mensch, ist das Gold Ihr Gott? Kosten Sie hiervon; und die Minen von Peru, Goleonda und Guzerate sind Ihnen geöffnet. Sind Sie ein Mann von Phantasie? Sind Sie ein Dichter? Kosten Sie abermals hiervon, und die Schranken des Möglichen werden verschwinden; die Gefilde des Unendlichen öffnen sich, und Sie wandeln, frei an Herz, frei an Geist, auf dem grenzenlosen Gebiete des Traumlebens umher. Sind Sie ehrgeizig, jagen Sie der irdischen Größe nach? In einer Stunde sind Sie König, nicht König eines kleinen Reiches, wie Spanien, Frankreich und England, sondern König der Welt, König des Weltalls. Sprechen Sie, ist es nicht verführerisch, was ich Ihnen dabiete, und ist es nicht etwas Leichtes, da nur folgendes zu tun ist? Sehen Sie!

Bei diesen Worten hober ebenfalls den Deckel von dem kleinenBecher ab, der den so gepriesenen Stoff enthielt, nahm einen Kaffeelöffel von dem magischen Zuckerwerk, führte ihn an den Mund und zog, die Augen halbgeschlossen und den Kopf zurückgelegt, die wunderbare Speise langsam in den Mund. Franz ließ ihm Zeit, sein Lieblingsgericht zu verzehren; als er ihn aber wieder etwas zu sich kommen sah, sagte er zu ihm: Was für ein kostbares Gericht ist denn dies?

Haben Sie vom Alten vomBerge sprechen hören?

Allerdings.

Sie wissen, daß ihm ein reiches Tal gehörte, das derBergbeherrschte, von dem er seinen malerischen Namen genommen hatte. In diesem Tale waren herrliche, von HassanBen Saba angelegte Gärten, und in diesen Gärten einzeln stehende Pavillons. In diese Pavillonsberief er seine Auserwählten, und hier ließ er sie ein gewisses Kraut essen, das sie in das Paradies, unter ewigblühende Pflanzen, stets reife Früchte und immer jungfräulich reizvolle Mädchen versetzte. Was aber die seligen jungen Leute für Wirklichkeit hielten, war ein Traum; doch ein so sanfter, soberauschender, so wollüstiger Traum, daß sie sich mit Leibund Seele an den verkauften, der sie darein versetzt hatte; daß sie, seinenBefehlen wie denen Gottes gehorchend, bis ans Ende der Welt gingen, um dasbezeichnete Opfer zu schlagen; daß sie unter den gräßlichsten Martern, ohne zu klagen, einzig und allein in dem Gedanken starben, der Tod, den sie erlitten, sei nur ein Übergang zu dem köstlichen Leben, von dem ihnen das Kraut einen Vorgeschmack gegeben hatte.

Also ist es Haschisch, rief Franz; ich kenne dies wenigstens dem Namen nach.

Sie haben das richtige Wort ausgesprochen, Herr Aladin, es ist Haschisch aus Alexandrien.

Wissen Sie, daß ich große Lust habe, selbst ein Urteil über die Richtigkeit Ihrer Lobeserhebungen zu gewinnen?

Urteilen Sie selbst, mein Gast! Sie werden nie mehr leben und immer nur träumen wollen. Kosten Sie von dem Haschisch, mein Freund, kosten Sie davon!

Franz nahm, ohne zu antworten, einen Löffel voll von dem Wunderteig und führte ihn an den Mund.

Dann standenbeide auf Simbads Vorschlag auf und traten in das anstoßende Zimmer. Dieses war einfacher, obwohl nicht minder reich ausgestattet. Es hatte eine runde Form, und ein großer Diwan prangte rings umher. Aber Diwan, Wände, Decken undBoden waren insgesamt mit prächtigem, weichem, teppichartigem Pelzwerk überzogen. Beide legten sich auf Diwans; Pfeifen in gehöriger Anzahl standen mit Jasminrohren undBernsteinspitzen imBereich der Hand. Jeder nahm eine. Ali zündete sie an und ging sodann hinaus, um Kaffee zu holen.

Während Wirt und Gast einen Augenblick schwiegen, überließ sich Simbad Gedanken, die ihn unablässig, selbst während des Gesprächs, zubeschäftigen schienen, und Franz gabsich jenen stummen Träumereien hin, in die man leicht verfällt, wenn man vortrefflichen Tabak raucht, wobei der Rauch alle Schmerzen des Geistes mitzunehmen und dem Raucher alle Goldträume der Seele dafür zu geben scheint. Alibrachte den Kaffee.

Ah! sehen Sie, unterbrach Simbad die Träumereien seines Gastes, die Orientalen sind die einzigen Menschen, die zu leben wissen. Ich für meine Person, fügte er mit seltsamem Lächelnbei, das dem jungen Manne nicht entging, ich werde, wenn meine Angelegenheiten in Parisbeendigt sind, nach dem Orient ziehen, um dort zu sterben, und wenn Sie mich dann Wiedersehen wollen, so müssen Sie mich in Kairo, inBagdad oder in Ispahan aufsuchen.

Wahrhaftig, sagte Franz, nichts kann in der Welt leichter sein, denn ich glaube, es wachsen mir Adlerflügel, und mit diesen Flügeln mache ich in 24 Stunden die Reise um die Welt.

Ah! ah! der Haschisch wirkt; wohl, so öffnen Sie die Flügel und fliegen Sie in überirdische Regionen; fürchten Sie nichts, man wacht über Ihnen.

Hierauf sagte er einige arabische Worte zu Ali, der ein Zeichen des Gehorsams machte und sich zurückzog, jedoch ohne sich zu entfernen. Bei Franz ging eine seltsame Veränderung vor: die ganze körperliche Ermattung, die ganze Unruhe seines Geistes verschwanden wie in einem ersten Augenblick der Ruhe, wo man noch genug lebt, um den Schlaf kommen zu fühlen. Sein Körper schien eine ätherische Leichtigkeit zubekommen, sein Geist erleuchtete sich auf wunderbare Weise, seine Sinne schienen ihre Fähigkeiten zu verdoppeln. Der Horizont erweiterte sich immer mehr, aber es war nicht mehr der düstere Horizont, den er so oft vor seinem Entschlummern gesehen hatte, sondern einblauer, durchsichtiger Horizont, mit allem, was das Meer an Azur, die Sonne an Goldfunken, der Abendwind an Wohlgeruch hat! Dann sah er mitten unter Gesängen seiner Matrosen die Insel Monte Christo erscheinen, nicht mehr wie eine über den Wellen drohende Klippe, sondern wie eine in der Wüste verlorene Oase.

Endlichberührte dieBarke das Ufer, und es kam Franz vor, als trete er in die Grotte, ohne daß diebezaubernde Musik aufhörte. Er stieg hinab, eine frische, balsamische Lust einatmend, und er sah alles, was er vor seinem Schlummer gesehen hatte, von Simbad, dem phantastischen Wirte, bis auf Ali, den stummen Diener; dann schien sich alles unter seinen Augen zu verwischen und zu vermengen, wie die letzten Schatten einer Zauberlaterne, die man auslöscht, und er fand sich wieder in dem Zimmer mit den Statuen, das nur von einer jener antiken, blassen Lampenbeleuchtet war, die mitten in der Nacht den Schlummer der Wollustbewachen.

Es waren wohl dieselben an Formen, Üppigkeit und Poesie reichen Statuen, mit den magnetischen Augen, mit dem verführerischen Lächeln, mit den überreichen Haupthaaren. Es waren Phryne, Kleopatra, Messalina, die drei großen Kurtisanen; dann glitt mitten unter diese unzüchtigen Schatten, wie ein reiner Engel, wie mitten im Olymp ein christlicher Engel, eine von den keuschen Gestalten, einer von den ruhigen Schatten, eine von den sanften Visionen, die ihre jungfräuliche Stirn unter allen diesen marmornen Unreinheiten zu verschleiern schien. Da kam es ihm vor, als hätten diese drei Statuen ihre dreifache Liebe für einen Menschen vereinigt, und dieser Mensch wäre er, als näherten sie sich demBette, wo er einen zweiten Schlaf träumte, die Füße in ihre langen, weißen Tuniken gehüllt, die Haare gleich Wellen sich entrollend, in einer von jenen Stellungen, denen die Heiligen widerstanden, denen aber die Götter unterlagen; mit einem jener unwiderstehlichen, glühendenBlicke, wie sie die Schlange auf den Vogel heftet, und als gäbe er sich diesenBlicken hin, die so schmerzlich waren wie ein gewaltiger Druck und zugleich so wollüstig wie ein Kuß.

Franz schien es, als schlösse er die Augen und als gewahrte er durch den letztenBlick, den er umherwarf, die züchtige Statue, die sich gänzlich verschleierte; als sodann seine Augen für die wirklichen Dinge geschlossen waren, öffneten sich seine Sinne für unbeschreibliche Eindrücke. Dann trat eine Wollust ohne Unterlaß, eine Liebe ohne Rast ein, wie die, die der Prophet seinen Auserwählten verspricht. Dannbelebten sich alle diese steinernen Wände dergestalt, daß für Franz, der zum erstenmal der Herrschaft des Haschisch unterlag, diese Liebebeinahe ein Schmerz, diese Wollustbeinahe eine Marter wurde, als er über seinenbebenden Mund die Lippen dieser Statuen, kalt und geschmeidig wie die Ringe einer Schlange, hinschlüpfen fühlte. Aber je mehr seine Arme diese unbekannte Liebe zurückzustoßen strebten, desto mehr unterlagen seine Sinne dem Zauber des geheimnisvollen Traumes, und nach einem Kampf, für den er seine Seele geopfert hätte, gaber sich ohne Rückhalt hin und fiel endlich stöhnend, brennend vor Müdigkeit, unter den Zauber dieses unerhörten Traumes zurück.

Erwachen

Als Franz wieder zu sich kam, schien seine Umgebung den Traum fortzusetzen; er glaubte, in einem Grabe zu sein, in das kaum ein Sonnenstrahl wie einBlick des Mitleids drang; er streckte die Hand aus und fühlte Stein, er setzte sich auf und fand, daß er in seinemBurnus auf getrocknetem Heidekraut gelegen hatte. Jede Vision war verschwunden, und die Statuen hatten, als wären sie nur während seines Traumes aus ihren Gräbern hervorgegangen, bei seinem Erwachen die Flucht ergriffen. Er machte einige Schritte nach dem Punkt zu, woher das Licht kam; auf die ganze Aufregung des Traumes folgten die Ruhe und die Wirklichkeit. Er sah sich in einer Grotte, schritt auf die Öffnung zu und erblickte durch die gewölbte Tür einenblauen Himmel und ein Azurmeer. Luft und Wasser erglänzten in den Strahlen der Morgensonne, auf dem Ufer saßen plaudernd und lachend die Matrosen, zehn Schritte in der See schaukelte sich anmutig dieBarke an ihrem Anker.

Da kostete er eine Zeitlang den frischen, gelinden Wind, der seine Stirn umspielte; er horchte auf das geschwächte Geräusch der Welle, die am Strand erstarbund auf den Felsen eine Spitze von silberweißem Schaum zurückließ; er überließ sich ganz und ohne Rückhalt dem göttlichen Zauber, der in den Dingen der Natur liegt, besonders wenn man aus einem phantastischen Traume erwacht. Dannbrachte ihm die stille, ungetrübte, großartige Umgebung allmählich die Unwahrscheinlichkeit eines Traumes zumBewußtsein, und die Erinnerungen fingen an, in sein Gedächtnis wiederzukehren. Er erinnerte sich seiner Ankunft auf der Insel, seiner Vorstellungbei einem Anführer von Schmugglern, eines unterirdischen Palastes voll Pracht und Herrlichkeit, eines vortrefflichen Abendbrotes und eines Löffels voll Haschisch. Nur kam es ihm der Wirklichkeit des lichten Tages gegenüber vor, als sei dies alles schon vor einem Jahre gewesen, so lebendig war der Traum in seinem Geiste, so gewaltig hatte er sich seinem Innern eingeprägt. Von Zeit zu Zeit ließ auch seine Einbildungskraft einen von den Schatten, derenBlicke und Küsse seine Nacht durchleuchtet hatten, mitten unter den Matrosen erscheinen, oder über einen Felsen hinschreiten, oder auf derBarke sich wiegen. Im übrigen war sein Kopf völlig frei, sein Körper ganz ausgeruht; keine Schwerfälligkeitbelastete das Gehirn, sondern im Gegenteil ein gewisses Wohlbehagen verlieh eine größere Fähigkeit als je, Luft und Licht einzusaugen. Er näherte sich daher heiter seinen Matrosen. Sobald sie ihn erblickten, standen sie auf, und der Patron kam ihm entgegen.

Herr Simbad, sagte er zu ihm, hat uns mit Empfehlungen für Eure Exzellenzbeauftragt; wir sollen seinBedauern ausdrücken, daß er nicht habe Abschied nehmen können; doch er hoffe, Sie werden ihn entschuldigen, wenn Sie erfahren, daß ihn eine sehr dringende Angelegenheit nach Malaga rufe.

Ah! mein lieber Gaetano, sagte Franz, dies alles ist also Wirklichkeit? Es hat mich jemand auf der Insel empfangen, mir königliche Gastfreundschaft gewährt, und ist während meines Schlafes abgereist!

Es ist so sehr Wahrheit, daß Sie dort seine kleine Jacht mit vollen Segeln hinfahren sehen können.

Franz zog sein Fernglas aus der Tasche, hielt es vor sein Auge und richtete es nach dembezeichneten Punkte. Gaetano täuschte sich nicht. Auf dem Hinterteile des Schiffes stand der geheimnisvolle Fremde, nach der Insel gekehrt und ebenfalls ein Fernglas in der Hand haltend. Er war ganz so gekleidet, wie er sich am Abend vorher vor seinem Gaste gezeigt hatte, und schwenkte zum Zeichen des Abschieds ein Tuch in der Luft. Franz zog auch sein Taschentuch, ließ es flattern und erwiderte den Gruß. Nach einer Sekunde erschien eine leichte Rauchwolke auf dem Hinterteil des Schiffes, machte sich leicht vom Verdeck los und stieg langsam zum Himmel empor; dann traf ein schwacher Knall Franzens Ohr. Hören Sie? rief Gaetano, er nimmt von Ihnen Abschied. Der junge Mann ergriff seineBüchse und schoß sie in die Lust.

Wasbefiehlt nun Eure Exzellenz? fragte Gaetano.

Zündet mir vor allem eine Fackel an.

Ah! ja, ichbegreife, um den Eingang in die Zaubergemächer zu suchen. Viel Vergnügen dabei, Exzellenz; die Fackel will ich Ihnen geben. Auch mich hat der Gedanke erfaßt, der Sie jetztbeschäftigt, drei- oder viermal habe ich gesucht, aber am Ende gabich jede weitere Nachforschung auf. Giovanni, fügte er hinzu, zünde eine Fackel an undbringe sie Seiner Exzellenz! Giovanni gehorchte. Franz nahm die Fackel und trat mit Gaetano in den unterirdischen Raum.

Er erkannte den Platz, wo er erwacht war, an dem noch ganz zerdrückten Lager von Heidekraut; doch wenn er auch mit der Fackel die ganze äußere Oberfläche der Grotte ableuchtete, er sah nichts und erkannte nur an Spuren von Rauchschwärze, daßbereits andere vor ihm vergeblich in gleicher Weise gesucht hatten. Er ließ indessen keinen Fuß dieser undurchdringlichen Granitmauer ungeprüft. Er sah keine Spalte, in die er nicht die Klinge seines Jagdmessers stieß. Erbemerkte keinen hervorspringenden Punkt, auf den er nicht drückte, in der Hoffnung, er würde nachgeben; aber alles war umsonst, und nachdem er zwei Stunden vergeblich aufgewendet hatte, leistete er Verzicht. Gaetano triumphierte.

Franz hielt nichts mehr auf Monte Christo zurück; er hatte jede Hoffnung verloren, das Geheimnis der Grotte zu entdecken, beeilte sich zu frühstücken, und eine halbe Stunde nachherbefand er sich anBord seinerBarke. Er warf einen letztenBlick auf die Jacht, die imBegriff war, im Golf von Porto‑Veechio zu verschwinden, und gabnun das Signal zur Abfahrt. In der Sekunde, wo dieBarke sich inBewegung setzte, verschwand die Jacht; mit ihr erlosch die letzte Wirklichkeit der vorhergehenden Nacht: Abendessen, Simbad, Haschisch und Statuen, alles fing an, sich für Franz im gleichen Traume zu vermengen.

DieBarke segelte den Tag und die ganze Nacht, und am Morgenbei Sonnenaufgang war die Insel Monte Christo ebenfalls verschwunden. Sobald Franz die Erdeberührte, vergaß er, wenigstens für den Augenblick, die erlebten Ereignisse, um seine Angelegenheiten in Florenz abzumachen. Dann reiste er ab, seinen Gefährten in Rom aufzusuchen, wobereits die ersten Karnevalsfestlichkeitenbegonnen hatten.

Franz mußte sich durch diebereits in gehobener Feststimmung die Straßen Roms passierende Menge — es war der Sonnabend vorBeginn des Festes — drängen und kam endlich zu Pastrinisberühmtem Hotel zur Stadt London, wo er mit seinem ihn erwartenden Freunde Albert von Morcerf zusammentraf.

Römische Banditen

Am nächsten Tage nach ihrer Ankunftbeabsichtigten diebeiden Freunde noch nach dem Abendessenbei Mondschein eine Spazierfahrt vor die Tore der ewigen Stadt zu machen. Aber der Wirt Pastrini, der einen Wagenbesorgen sollte, machte alle möglichen Ausflüchte und riet ernstlich von einer so gefährlichen, nächtlichen Partie ab. Als die neugierig gemachten Freunde energisch nach dem wahren Grunde seines ängstlichen Zögerns fragten, erklärte er endlich, daß die Kampagna gerade in letzter Zeit der Schauplatz häufiger Raubanfälle gewesen sei, und daß derbekannte Räuberhauptmann Luigi Vampa mit seinen gefährlichenBanditen die ganze Umgegend unsicher mache.

Die ungläubigen Zuhörerbaten ihren Wirt um ausführlichere Auskunft über denberüchtigten Räuber, worauf Pastrini anfing:

Luigi Vampa war ein einfacher Hirtenknabe auf dem Gute des Grafen San Felice, das zwischen Palestrina und dem Gabri‑See liegt. In Pampinara geboren, trat er in einem Alter von fünf Jahren in den Dienst des Grafen. Sein Vater, selbst ein Hirte, hatte eine eigene kleine Herde und lebte von der Wolle seiner Hammel und der Einnahme aus der Milch seiner Schafe, die er in Rom verkaufte. Luigi war gelehrig, und ein hervorragender Nachahmungstriebbefähigte ihn, alles rasch aufzufassen; so lernte er spielend lesen und schreiben, zeichnen und hübsche Holzschnitzereien anfertigen.

Ein Mädchen, etwas jünger als Vampa, hütete ebenfalls seine Schafe in der Nähe von Palestrina; die Kleine war Waise, in Valmontone geboren und hieß Teresa. Die Kinder trafen sich, setzten sich nebeneinander, ließen ihre Herden zusammen weiden, plauderten, lachten und spielten; am Abend trennte man die Schafe des Grafen San Felice von denen desBarons von Cervetri, und die Kinder kehrten nach Hause zurück mit dem gegenseitigen Versprechen, sich am nächsten Morgen wieder aufzusuchen. Bei diesem Leben wurde der Knabe zwölf, das Mädchen elf Jahre alt.

Inzwischen entwickelten sich ihre natürlichen Gaben. Bei seinen künstlerischen Neigungen, seinem feinen Geschmack für die Kunst zeigte sich Luigi eigensinnig, leidenschaftlich, unberechenbar und stets höhnisch. Kein Knabe aus Pampinara, Palestrina oder Valmontone vermochte je einen Einfluß auf ihn zu gewinnen oder sein Kamerad zu werden. Denn immer herrisch stieß er mit seinem eigenwilligen Temperament jede freundschaftliche Regung zurück. Teresa alleinbeherrschte mit einem Worte, mit einemBlick diesen festen Charakter, der sich unter eine weibliche Hand schmiegte, aber unter dem Einfluß eines Mannesbis zumBrechen starr geworden wäre. Teresa ihrerseits war lebhaft, munter, heiter, aber im Übermaß gefallsüchtig; die zwei Piaster, die Luigi als Monatslohn erhielt, gingen für allerlei Schmuck- und Putzgegenstände auf. Die Kinder wuchsen heran, brachten alle Tage miteinander zu und überließen sich ohne Widerstand dem Zuge und der Phantasie ihrer unverdorbenen Natur; so sah sich Vampa in seinen Gesprächen und Träumen stets als Schiffskapitän, als General eines Heeres, als Gouverneur einer Provinz; Teresa wähnte sich reich, in den schönsten Kleidern und vonBedienten umgeben.

Eines Tages sagte der junge Hirt dem Intendanten des Grafen, er habe einen Wolf aus dem Sabinergebirge hervorkommen und um seine Herde schweifen sehen. Der Intendant gabihm eine Flinte; damit hatte sich Luigis langgehegter Wunsch verwirklicht. Von diesem Augenblick an widmete er jede freie Zeit den Übungen im Gebrauch seiner Flinte; er kaufte Pulver undBlei, und nichts war vor seiner Kugel sicher. Bald war er so geschickt, daß Teresa mit Vergnügen zusah, wie ihr Gefährte jedes Ziel unfehlbar traf. Eines Tages kam in der Nähe der jungen Leute ein Wolf aus einem Fichtenwalde hervor, den Luigis Kugel nach kaum zehn Schritten tot niederstreckte. Stolz auf den ersten Erfolg, lud Vampa den Wolf auf seine Schultern und trug ihn nach Hause. Dies alles verschaffte ihm einen gewissen Ruf in der Gegend, der junge Hirte galt als der geschickteste, stärkste, mutigsteBursche weit undbreit in der Runde, und obgleich Teresa eines der hübschesten Mädchen des Sabinerlandes war, wagte doch niemand, ihr ein Wort von Liebe zu sagen, denn man wußte, daß sie von Vampa geliebt wurde.

Als Teresa sechzehn, Vampa siebzehn Jahre alt waren, fing man an, viel von einer Räuberbande zu sprechen, die sich in den Lepinerbergenbildete. Die Räuberei ist in der Nähe der ewigen Stadt nie ernstlich ausgerottet worden. Es fehlt oft an Anführern, aber wenn sich ein Anführer zeigt, fehlt es selten an einerBande. In den Abruzzen umstellt, aus dem Königreiche Neapel, wo er geradezu einen Feldzug geführt hatte, vertrieben, durchzog Cucumetto das Garigliano, eine neueBandebildend. Mehrere junge Leute von Palestrina, Frascati und Pampinara verschwanden, undbald erfuhr man, daß sie sich an CucumettosBande angeschlossen hatten. Nach einiger Zeit wurde Cucumetto der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit. Man erzählte sich von diesemBanditenanführer Züge von außerordentlicher Kühnheit und von empörender Roheit.

Eines Tages raubte er ein junges Mädchen, die Tochter des Feldmessers von Frosinone. Nach demBrauch derBanditen gehört ein junges Mädchen zuerst dem, der es raubt, dann ziehen die anderen das Los, und die Unglückliche dient der ganzenBande zum Vergnügen, bis sie verlassen wird oder stirbt. Sind die Eltern reich genug, um sie loszukaufen, so schickt man einenBoten ab, der um das Lösegeld unterhandelt; der Kopf der Gefangenen haftet für die Sicherheit des Abgesandten. Wird das Lösegeld verweigert, so ist die Gefangene unwiderruflich verurteilt. Das Mädchen hatte seinen Liebhaber in CucumettosBande, er hieß Carlini. Als die Unglückliche den jungen Mann erkannte, streckte sie die Hände nach ihm aus; doch dem armen Carlinibrach das Herzbei ihrem Anblick, denn er wußte, welches Los ihrer harrte.

Da er indessen Cucumettos Liebling war, mit dem er seit drei Jahren alle Gefahren geteilt, und dem er das Leben gerettet hatte, hoffte er, Cucumetto würde Mitleid haben. Erbat daher den Hauptmann, zu seinen Gunsten eine Ausnahme zu machen und Rita zu schonen, wobei er ihmbemerkte, der Vater sei reich und würde ein gutes Lösegeldbezahlen. Cucumetto schien auch wirklich denBitten seines Freundes nachzugeben. Da trat Carlini freudig zu seiner Geliebten, sagte ihr, sie sei gerettet, und forderte sie auf, ihrem Vater einenBrief zu schreiben und ihm zu sagen, das Lösegeld sei auf dreihundert Piaster festgesetzt. Man gabdem Vater eine Fristbis zum andern Morgen um neun Uhr.

Sobald derBrief geschrieben war, lief Carlini fort, um einenBoten zu suchen. Er fand einen jungen Hirten, der sich sogleich mit dem Versprechen entfernte, in einer Stunde in Frosinone zu sein. Carlini kam ganz heiter zurück, um wieder mit seiner Geliebten zusammenzutreffen und ihr die frohe Kunde mitzuteilen. Er fand dieBande auf einer Lichtung, wo sie lustig die Mundvorräte verzehrte, welche dieBanditen wie einen Tribut von denBauern erhoben; doch vergebens suchte er unter den fröhlichen Gästen Cucumetto und Rita. Er fragte, wo sie wären; dieBanditen antworteten mit einem schallenden Gelächter. Ein kalter Schweiß lief Carlini über die Stirn, und er fühlte, wie ihn die Angstbei den Haaren faßte. Er wiederholte seine Frage. Einer von den Genossen füllte ein Glas mit Orvieto‑Wein, reichte es ihm und sagte: Auf die Gesundheit desbraven Cucumetto und der schönen Rita!

In diesem Augenblick glaubte Carlini den Schrei einer Frau zu hören, und er erriet alles. Er nahm das Glas, zerschmetterte es am Gesichte dessen, der es ihm reichte, und eilte in der Richtung des Schreies fort. Nachdem er hundert Schritte gelaufen war, fand er in einem Gebüsche Rita ohnmächtig in Cucumettos Armen. Als dieser Carlini erblickte, erhober sich, in jeder Hand eine Pistole haltend. DieBanditen schauten einander einen Augenblick an, der eine mit dem Lächeln der Unzucht auf den Lippen, der andre mit derBlässe des Todes auf der Stirn. Es war, als sollte etwas Furchtbares zwischen denbeiden Männern vorgehen, aber allmählich verloren Carlinis Züge ihre Spannung, und seine Hand, die er an eine Pistole in seinem Gürtel gelegt hatte, fiel an der Seite nieder; Rita lag zwischenbeiden. Der Mondbeleuchtete die Szene.

Nun! sagte Cucumetto, hast du deinen Auftragbesorgt?

Ja, Kapitän, antwortete Carlini; morgen vor neun Uhr wird Ritas Vater mit dem Gelde hier sein.

Vortrefflich. Inzwischen wollen wir die Nacht lustig zubringen. Das Mädchen ist reizend, und du hast wahrhaftig einen guten Geschmack, Carlini. Da ich nicht eigennützigbin, so wollen wir zu den Kameraden zurückkehren und das Los ziehen, wem sie nun gehören soll.

Ihr seid also entschlossen, sie allen zu überantworten? fragte Carlini.

Warum sollte manbei ihr eine Ausnahme machen? — Ich glaubte auf meineBitte… — Bist du etwa mehr, als die andern? — Das ist richtig. — Doch sei unbesorgt, früher oder später kommt ja auch die Reihe an dich.

Bei diesen Worten preßte Carlini krampfhaft die Zähne zusammen.

Nun vorwärts, sagte Cucumetto, einen Schritt nach den Genossen zu machend, kommst du?

Ich folge Euch.

Cucumetto entfernte sich, jedoch ohne Carlini aus dem Gesichte zu verlieren, denn er fürchtete ohne Zweifel, er könnte von hinten auf ihn schießen; doch nichts deutetebei demBanditen eine feindselige Absicht an. Er stand mit gekreuzten Armenbei der immer noch ohnmächtigen Rita. Einen Augenblick dachte Cucumetto, der junge Mann würde sie in seine Armen nehmen und mit ihr fliehen. Es war ihm nun auch wenig mehr daran gelegen, denn er hatte von Rita, was er haben wollte, und auch das geringe Lösegeld ließ ihn gleichgültig. Er setzte daher seinen Weg nach der Lichtung fort, ohne umzuschauen; doch zu seinem großen Erstaunen kam Carlinibeinahe mit ihm hier an. Das Los gezogen! riefen dieBanditen, als sie ihren Anführer erblickten. Man legte alle Namen, den Carlinis wie die der andern, in einen Hut, und der jüngste derBande zog ein Zettelchen aus der improvisierten Urne. Auf diesem Zettelchen stand der Name Diavolaccio. Es war derselbe, dem Carlini, als er ihm auf die Gesundheit des Anführers zutrank, das Glas im Gesichte zerschmettert hatte. Als Diavolaccio sich so vom Glückebegünstigt sah, brach er in ein schallendes Gelächter aus.

Alle glaubten, Carlini werde losbrechen; aber zum allgemeinen Erstaunen nahm er ein Glas und rief mit vollkommen ruhiger Stimme: Auf deine Gesundheit, Diavolaccio! und leerte das Glas, ohne daß seine Hand zitterte. Dann setzte er sich ans Feuer, aß und trank, als obnichts vorgefallen wäre, während sich Diavolaccio entfernte.

DieBanditen schauten ihn voll Erstaunen an, denn siebegriffen diese Unempfindlichkeit nicht, als sie hinter sich denBoden unter einem schweren Tritte erdröhnen hörten. Sie wandten sich um und sahen Diavolaccio, der Rita in seinen Armen hielt; ihr Kopf war zurückgeworfen und ihre langen Haare hingenbis zur Erde herab. Als Diavolaccio mehr in den Kreis des vom Feuer sich verbreitenden Lichtes trat, sah man, daß das Mädchen wie derBandit ausfallendbleich waren. Erstaunt undbeunruhigt standen alle auf mit Ausnahme von Carlini, der sitzenbliebund zu trinken und zu essen fortfuhr, als obihn alles nichts anginge. Diavolaccio näherte sich unter dem tiefsten Stillschweigen und legte Rita zu den Füßen des Kapitäns nieder.

Jetzt sahen alle, daß in Ritas linkerBrust ein Messer stak, bis ans Heft eingebohrt. Alle Augen richteten sich auf Carlini; die Scheide hing leer an seinem Gürtel.

Auch rohe Naturen sind imstande, eine kraftvolle Handlung zu würdigen; obgleich schwerlich ein anderer von denBanditen die gleiche Tat ausgeführt hätte, sobegriffen sie doch, was er getan.

Nun, sagte Carlini, ebenfalls aufstehend und dem Leichnam sich nähernd, während er die Hand an den Kolben einer Pistole legte, ist vielleicht noch einer hier, der mir diese Frau streitig machen will?

Nein, erwiderte der Anführer, sie gehört dir.

Carlini nahm sie nun in seine Arme und trug sie aus dem Lichtkreise fort.

Am Fuße einer alten Eiche fand ihn am Morgen Ritas Vater, der herbeigeeilt war, das Lösegeld zubringen.

Elender! rief der Greis, was hast du getan?

Und erblickte voll Schrecken auf Rita, diebleich, unbeweglich, mit einemblutigen Messer in derBrust, da lag.

Cucumetto hatte deine Tochter geschändet, sagte derBandit, und da ich sie liebte, mußte ich sie töten, denn nach ihm hätte sie der ganzenBande zum Spielzeug gedient.

Der Greis sprach kein Wort, er wurde nurbleich wie ein Gespenst.

Räche sie nun, wenn ich unrecht gehabt habe, fügte Carlini hinzu.

Und er riß das Messer aus demBusen des Mädchens und reichte es dem Greise mit der einen Hand, während er mit der andern seine Weste auf die Seite schobund ihm seine nackteBrust darbot.

Du hast wohl getan, sprach der Greis mit dumpfer Stimme, umarme mich, mein Sohn!

Carlini warf sich schluchzend in die Arme des Vaters seiner Geliebten. Es waren die ersten Tränen, die dieserBlutmensch vergoß.

Dannbegruben sie das Mädchen, und Carlini schwurblutige Rache; doch er konnte seinen Schwur nicht halten, denn zwei Tage nachher wurde er in einem Kampfe von römischen Carabinieri getötet. Man wunderte sich nur, daß er, dem Feinde das Gesichtbietend, eine Kugel zwischen die Schulternbekommen hatte. Das Erstaunen hörte aber auf, als einer von denBanditen gegen seine Kameradenbemerkte, Cucumetto habe zehn Schritte hinter Carlini gestanden. Man erzählt sich von diesem Räuberhauptmann noch zehn andere, ebenso grauenvolle Geschichtchen, und es zitterte auch alles von Fondibis Perugia, wenn man nur Cucumettos Namen nannte.

Diese Geschichtenboten Luigi und Teresa oft Stoff zur Unterhaltung. Das Mädchen hörte immer diese Erzählungenbebend an, aber Vampaberuhigte sie mit einem Lächeln und schlug an seine nie fehlende Flinte. War sie dann noch nicht völligberuhigt, so zeigte er ihr auf hundert Schritte einen Raben, der auf einem dürren Aste saß, schlug an, drückte los, und das Tier fiel wohlgetroffen an dem Fuß desBaumes nieder.

Mittlerweile verlief die Zeit; die jungen Leute hattenbeschlossen, sich zu heiraten, wenn Vampa zwanzig Jahre alt wäre. Sie warenbeide Waisen und hatten nur ihre Herren um Erlaubnis zubitten; siebaten darum und erhielten auch die Einwilligung.

Als sie eines Tages von ihren Zukunftsplänen sprachen, vernahmen sie ein paar Schüsse; dann trat plötzlich ein Mann aus dem Gehölze hervor, bei dem die jungen Leute ihre Herden zu werden pflegten, lief auf sie zu und rief: Ich werde verfolgt, könnt ihr mich verbergen?

Die jungen Leute erkannten sogleich, daß der Flüchtige einBandit war; doch zwischen dem römischenBauern und dem römischenBanditen herrscht eine angeborene Sympathie, weshalbder erste immerbereit ist, dem zweiten Dienste zu leisten. Luigi lief, ohne ein Wort zu sagen, nach dem Steine, der den Eingang einer nahen Grotte verstopfte, entblößte diesen Eingang, hieß den Flüchtling durch ein Zeichen in dieses nur ihm und Teresabekannte Asyl schlüpfen, stieß den Stein wieder an seine vorige Stelle, kehrte zu Teresa zurück und setzte sich neben sie. Beinahe im selben Augenblick erschienen vier Carabinieri zu Pferde am Saume des Waldes. Sie gewahrten die jungen Leute, sprengten im Galopp auf sie zu undbefragten sie; doch diese gaben an, sie hätten nichts gesehen.

Das ist ärgerlich, sagte derBrigadier; denn der, den wir suchen, ist der Anführer.

Cucumetto? riefen Teresa und Luigi unwillkürlich.

Ja, antwortete derBrigadier, und da ein Preis von 1000 Talern auf seinen Kopf gesetzt ist, so wären 500 euch zugekommen, wenn ihr mir geholfen hättet, ihn aufzufinden.

Die jungen Leute wechselten einenBlick. DerBrigadier hatte eine Minute lang Hoffnung. 500 römische Taler sind ein Vermögen für arme Waisen, die sich heiraten wollen.

Ja, das ist schade, erwiderte Vampa, doch wir haben ihn nicht gesehen. Die Carabinieri durchstreiften nun die Gegend in verschiedenen Richtungen, aber vergebens; dann verschwanden sie allmählich. Vampa zog den Stein zurück, und Cucumetto trat hervor.

Er hatte durch eine Spalte die jungen Leute mit den Carabinieri sprechen hören und den Gegenstand ihres Gespräches vermutet. Jetzt zog er aus seiner Tasche eineBörse voll Gold undbot sie ihnen zum Lohn an. Aber Vampa hobstolz das Haupt empor, während Teresas Augenbei dem Gedanken all alles das glänzten, was sie sich für dieses Gold an reichen Juwelen und schönen Kleidern kaufen könnte. Cucumetto war ein listiger Teufel. Er erhaschte diesenBlick, erkannte in Teresa eine würdige Tochter Evas und kehrte vollböser Lust in den Wald zurück, wobei er sich wiederholt, als wolle er seineBefreier noch einmal grüßen, umdrehte. Es vergingen mehrere Tage, ohne daß man Cucumetto wiedersah oder von ihm sprechen hörte. Der Karneval nahte heran, und der Graf von San Felice veranstaltete einenBall, wozu die ganze elegante Welt Roms eingeladen war. Teresa hatte große Lust, diesenBall zu sehen. Luigibat seinenBeschützer, den Intendanten, um Erlaubnis für sie und für sich, unter den Dienern des Hauses verborgen, dem Festebeiwohnen zu dürfen, was ihm auch zugestanden ward.

DerBall wurde von dem Grafen hauptsächlich gegeben, um seiner Tochter Carmela, die er anbetete, ein Vergnügen zubereiten. Carmela war gerade von Teresas Alter und Wuchs, und Teresa war wenigstens ebenso schön, als Carmela. Am Abend desBalles wählte Teresa ihre schönste Toilette, ihre reichsten Nadeln, ihren glänzendsten Glasschmuck. Sie trug die Tracht der Frauen von Frascati, Luigi die malerische Festkleidung der römischenBauern. Beide mischten sich, wie man es ihnen erlaubt hatte, unter die zuschauenden Diener undBauern. Das Fest war prachtvoll. Nicht nur die Villa war glänzendbeleuchtet, sondern es hingen auch Tausende von farbigen Lampen an denBäumen im Garten. Bald strömte der Festjubel vom Palast auch auf die Terrassen über, und von den Terrassen wogte es in den Alleen. An jedem Kreuzweg gabes ein Orchester, Trinktische und Erfrischungen aller Art; die Spaziergängerblieben stehen, esbildeten sich Quadrillen, und man tanzte, wo einem die Lust dazu ankam. Carmela war wie die Frauen von Sonnino gekleidet; sie trug eine mit Perlen gestickte Mütze, die Nadeln in ihren Haaren waren von Gold und Diamanten, ihr Gürtel war von türkischer Seide, ihr Oberrock von Kaschmir, ihre Schürze von indischem Musselin, dir Knöpfe ihres Miedersbestanden aus Edelsteinen. Zwei andere Gefährtinnen von ihr hatten, die eine die Tracht der Frauen von Nettuno, die andere die der Riccianerinnen.

Vier junge Männer aus den edelsten und reichsten Familien Romsbegleiteten sie mit jener italienischen Zwanglosigkeit, die in keinem andern Lande der Welt ihresgleichen hat; sie waren alsBauern gekleidet. Carmela kam der Gedanke, eine Quadrille zubilden; es fehlte nur noch an einer Teilnehmerin. Carmela schaute umher, keine von den Eingeladenen hatte eine der ihrigen und der ihrer Gefährtinnen entsprechende Tracht. Da zeigte ihr der Graf von San Felice mitten unter denBäuerinnen Teresa, die sich auf Luigis Arm stützte.

Erlauben Sie mir, mein Vater? sagte Carmela.

Allerdings, erwiderte der Graf; sind wir nicht im Karneval? Carmela neigte sich an das Ohr eines jungen Mannes, der sie plauderndbegleitete, und sagte ihm leise ein paar Worte, wobei sie mit dem Finger auf Teresa deutete. Der junge Mann lud Teresa ein, an der von der Tochter des Grafen geleiteten Quadrille teilzunehmen. Teresa fühlte es wie eine Flamme über ihr Gesicht hinziehen, siebefragte Luigi mit demBlicke — es war ihr nicht möglich, zu widerstreben; Luigi ließ langsam ihren Arm los, und Teresa entfernte sich, geführt von ihrem zierlichen Kavalier, und nahm zitternd ihren Platz in der aristokratischen Quadrille an. Bei ihrer Eitelkeit und Putzsucht war sie von den feinen Stickereien, dem Glanz des Kaschmirs ganz geblendet, und das Feuer der Diamanten und Saphire machte sie toll. Luigi seinerseits fühlte ein unbekanntes Etwas in sich entstehen, es war anfangs wie ein dumpfer Schmerz, der ihm das Herz durchzuckte. Er verfolgte mit den Augen jedeBewegung Teresas und ihres Kavaliers. Wenn ihre Hände sichberührten, flimmerte es vor seinen Augen, und dasBlut hämmerte in seinen Adern. Zwar hörte Teresa, wenn sie miteinander sprachen, nur schüchtern und mit niedergeschlagenen Augen zu, aber Luigi, der in den glühendenBlicken des schönen jungen Mannes las, daß seine Reden Schmeicheleien waren, kam es dennoch vor, als drehte sich die Erde unter ihm, und als flüsterten ihm alle Stimmen der Hölle Mordgedanken zu. Dann klammerte er sich, aus Furcht, sich von seinem Wahnsinn hinreißen zu lassen, mit einer Hand an der nahenBuche an, erfaßte mit der andern in krampfhafterBewegung seinen Dolch und zog ihn, ohne es gewahr zu werden, mehrmals fast ganz aus der Scheide.

Als endlich der Tanz zu Ende war, führte ihr schöner Kavalier Teresa mit vielen Artigkeiten an den Platz zurück, wo Luigi ihrer harrte. Wiederholt hatte Teresa während des Kontertanzes einenBlick auf Luigi geworfen, und jedesmal waren ihr seine verstörten Züge aufgefallen. So faßte sie zitternd den Arm ihres Geliebten wieder, der sie, ohne ein Wort zu sagen, mit sich fortzog. Erst als sie eben in ihre Wohnung traten, fragte er: Teresa, woran dachtest du, als du der jungen Gräfin von San Felice gegenüber tanztest?

Ich dachte, ich würde die Hälfte meines Lebens für eine Kleidung geben, wie sie die Gräfin trägt.

Und was sagte dir dein Kavalier?

Er sagte mir, es hinge nur von mir ab, eine solche zu haben, und es koste mich nur ein Wort.

Er hatte recht, sagte Luigi. Wünschest du eine solche Tracht so glühend, wie du sagst? — Ja. — Wohl, du sollst sie haben.

Erstaunt schaute Teresa empor, um ihn zubefragen; aber sein Gesicht war so düster und furchtbar, daß das Wort auf ihren Lippen erstarb. Übrigens entfernte sich Luigi sogleich. Teresa folgte ihm in der Dunkelheit mit den Augen, solange sie ihn sehen konnte. Als er verschwunden war, trat sie in ihre Wohnung.

In derselben Nacht ereignete sich ein großes Unglück, ohne Zweifel durch die Unvorsichtigkeit einesBedienten, der die Lichter auszulöschen vergaß. Esbrach unmittelbar neben den Gemächern der schönen Carmela Feuer aus. Mitten in der Nacht durch den Schein der Flammen aufgeweckt, sprang sie aus demBette, hüllte sich in ihr Nachtkleid und suchte zu entfliehen; aber der Hausflur, durch den sie gehen mußte, war schon vom Feuer ergriffen. Da kehrte sie in ihr Zimmer zurück und rief aus Leibeskräften um Hilfe, als plötzlich ihr zwanzig Fuß über demBoden liegendes Fenster sich öffnete, ein jungerBauer in das Gemach stürzte, sie in seine Arme nahm und mit übermenschlicher Kraft und Gewandtheit auf den Rasen vor der Villa schleppte, wo sie ohnmächtig niedersank. Als sie wieder zu sich kam, war ihr Vaterbei ihr. Alle Diener umgaben sie, um ihr Hilfe zu leisten. Ein ganzer Flügel der Villa war abgebrannt; doch was lag daran, Carmela war unversehrt. Man suchte überall ihren Retter, aber der Retter fand sich nirgends; niemand hatte ihn gesehen. Carmela war so sehr von Angst ergriffen gewesen, daß sie ihn nicht erkannt hatte.

Am andern Tage fanden sich die jungen Leute zur gewöhnlichen Stunde am Saume des Waldes ein. Luigi war zuerst gekommen. Er ging dem Mädchen mit großer Heiterkeit entgegen und schien die Szene vom vorhergehenden Abend völlig vergessen zu haben. Teresa war sichtlich nachdenkend; als sie aber Luigi so gestimmt sah, heuchelte sie eine lachende Sorglosigkeit, die den Grundzug ihres Charaktersbildete, wenn sie nicht von irgend einer Leidenschaft ergriffen war. Luigi nahm Teresabeim Arm und führte sie zum Eingang der erwähnten Grotte. Hierblieber stehen. Das Mädchenbegriff, daß etwas Außerordentlichesbevorstand, und schaute ihn fest an.

Teresa, sagte Luigi, gestern hast du mir gesagt, du würdest alles in der Welt darum geben, eine Kleidung wie die der Grafentochter zubesitzen?

Allerdings, erwiderte Teresa erstaunt, aber ich war toll, daß ich einen solchen Wunsch hegte.

Und ich antwortete dir: Gut, du sollst sie haben. — Ich habe dir nie etwas versprochen, Teresa, ohne es dir zu geben, geh in die Grotte und kleide dich an.

Bei diesen Worten zog er den Stein heraus und zeigte Teresa die Grotte, die von zwei Kerzenbeleuchtet war, zwischen denen ein prachtvoller Spiegel stand; auf dem von Luigi verfertigten rohen Tische waren Diamantnadeln und ein Perlenhalsband ausgebreitet; auf einem Stuhle daneben lag die übrige Kleidung. Teresa stieß einen Freudenschrei aus und stürzte, ohne zu fragen, woher diese wertvollen Dinge kämen, ohne sich Zeit zu lassen, Luigi zu danken, in die Grotte. Luigi drückte den Stein wieder hinter ihr hinein, denn er erblickte auf der Höhe eines kleinen Hügels einen Reisenden zu Pferd, der einen Augenblick anhielt, als wäre er des Weges nicht kundig. Luigi hatte sich nicht getäuscht, der Reisende, der von Palestrina nach Tivoli ritt, war im Zweifel über seinen Weg. Der junge Mann wies ihn zurecht, und der Reisendebat Luigi, ihm ein kleines Stück als Führer zu dienen. Luigibegleitete ihnbis zum nächsten Kreuzweg und sagte: Hier ist Ihr Weg, Exzellenz, Sie können, nun nicht mehr fehlen.

Und hier ist deineBelohnung, sagte der Reisende undbot dem jungen Hirten einige kleine Münzen.

Ich danke, versetzte Luigi, seine Hand zurückziehend, ich leiste Dienste, ich verkaufe sie nicht.

Wohl, entgegnete der Reisende, wenn du eineBelohnung ausschlägst, so nimmst du wenigstens ein Geschenk an.

Oh! ja, das ist etwas anderes.

So nimm diese zwei venetianischen Zechinen und gibsie deinerBraut, die sich ein paar Ohrringe dafür kaufen soll.

Und Sie nehmen diesen Dolch, sagte der junge Hirt, und reichte ihm die von seiner eigenen kunstfertigen Hand geschnitzte Waffe. Sie finden von Albanobis Civita Castellana keinen, dessen Griffbesser geschnitzt wäre.

Ich nehme ihn an, sagte der Reisende. Wie heißt du?

Luigi Vampa. Und Sie?

Ich? Ich heiße Simbad der Seefahrer.

Franz d'Epinay stieß einen Schrei des Erstaunens aus.

Simbad der Seefahrer? wiederholte er.

Ja, diesen Namen nannte der Reisende.

Was haben Sie gegen diesen Namen einzuwenden? fragte Albert, es ist ein sehr schöner Name, und die Abenteuer des Ersten dieses Namens haben mich in meiner Jugend ungemeinbelustigt.

Franz antwortete nicht. Der Name Simbad der Seefahrer hattebei ihm eine ganze Welt von Erinnerungen geweckt.

Vampa, fuhr der Wirt fort, steckte verächtlich die Zechinen in die Tasche und schlug langsam den Rückweg wieder ein. Zwei‑bis dreihundert Schritte von der Grotte glaubte er einen Schritt zu hören. Er sprang wie eine Gemse, spannte den Hahn seiner Flinte im Laufe und gelangte in weniger als einer Minute auf die Spitze des kleinen Hügels dem gegenüber, wo er den Reisenden erblickt hatte. Hier hörte er rufen: Zu Hilfe! Er schaute sich um und sah, wie ein Mann Teresa fortschleppte. Der Unbekannte war wenigstens zweihundert Schritte vor ihm voraus, und er hatte keine Hoffnung, ihn einzuholen, ehe er das Gehölz erreichte. Der junge Hirtbliebstehen, als hätten seine Füße Wurzel gefaßt. Er stützte den Schaft seiner Flinte an seine Schulter, hobsacht das Rohr in der Richtung des Räubers und gabFeuer. — Der Räuber hielt an, seine Kniebogen sich, und er fiel, Teresa mit sich zur Erde ziehend; Teresa erhobsich sogleich wieder. Als Luigi sich überzeugt hatte, daß sie unversehrt war, wandte er sich gegen den Verwundeten um, der mit geballten Fäusten und schmerzverzogenem Munde tot dalag. Vampa erkannte Cucumetto. DerBandit hatte sich an dem Morgen, wo ihn die jungen Leute retteten, in Teresa verliebt und geschworen, das Mädchen sollte ihm gehören. Seit jenem Morgen spähte er nach ihr, und im Augenblick, wo Luigi Teresa allein ließ, um dem Reisenden den Weg zu zeigen, packte er sie undbetrachtete siebereits als seineBeute, als Vampas Kugel ihm das Herz durchdrang. Vampa schaute ihn ohne die geringsteBewegung an, während Teresa, noch ganz zitternd, sich dem totenBanditen nur mit kleinen Schritten zu nähern wagte und zögernd über die Schulter ihres Geliebten einenBlick auf den Leichnam warf. Nach ein paar Sekunden wandte sich Vampa zu dem Mädchen um und rief: Ah! das ist gut, dubist angekleidet; nun muß ich mich ebenfalls putzen. Teresa erschien in der Tat vom Kopfbis zu den Füßen in der Tracht der Tochter des Grafen von San Felice. Vampa nahm Cucumettos Leiche in seine Arme und trug ihn in die Grotte, während Teresa außenblieb.

Es war ein sonderbarer Anblick: eine Schäferin, die ihre Lämmer im Kaschmirkleide, mit Ohrringen und Halsband von Perlen, mit Diamantnadeln und Knöpfen von Saphiren, Smaragden und Rubinen hütete. Nach einer Viertelstunde kam Vampa ebenfalls aus der Grotte heraus. Seine Tracht war in ihrer Art nicht minder zierlich, als die Teresas. Er hatte ein Wams von granatfarbigem Samt mit ziselierten goldenen Knöpfen, eine mit Stickereienbedeckte seidene Weste, eine um den Hals geknüpfte römische Schärpe, eine mir Gold und roter und grünen Seide gesteppte Patronentasche, Hosen von himmelblauem Samt, die über dem Knie mit Diamantschnallenbefestigt waren, bunte Gamaschen von Damhirschleder und einen Hut, woranBänder von allen Farben flatterten; zwei Uhren hingen an seinem Gürtel, und ein prachtvoller Dolch stak in seinem Patronenleder.

Teresa stieß einen Schrei aus; Vampa hatte Cucumettos Kleidung angelegt. Der junge Mannbemerkte die Wirkung, die er auf seineBraut hervorbrachte; ein Lächeln des Stolzes umspielte seinen Mund, und er sagte zu Teresa: Bist du nunbereit, mein Schicksal zu teilen, wie es auch sein mag?

Oh ja! rief das Mädchen vollBegeisterung.

So nimm meinen Arm und vorwärts, denn wir haben keine Zeit zu verlieren.

Teresa schlang ihren Arm durch den ihres Geliebten, ohne ihn nur zu fragen, wohin er sie führte; denn in diesem Augenblick kam er ihr schön, stolz und mächtig vor, wie ein Gott. Undbeide schritten dem Walde zu, dessen Saum sie nach ein paar Minuten hinter sich hatten. Vampa kannte alle Pfade des Gebirges; er wanderte daher, ohne zu zögern, im Walde fort. Nach ungefähr anderthalbStunden erreichten sie eine tiefe Schlucht. Plötzlich erschien, zehn Schritte vor ihnen, ein Mann, der auf Vampa zielte und rief: Keinen Schritt weiter, oder dubist tot!

Ruhig, sagte Vampa, die Hand mit einer verächtlichen Gebärde aufhebend, während Teresa sich schreckhaft an ihn drängte; zerreißen sich die Wölfe untereinander?

Werbist du? fragte die Wache.

Ichbin Luigi Vampa, der Hirte von dem Gute San Felice, und will mit deinen Genossen sprechen, die auf der Lichtung von RoccaBianca versammelt sind.

So folge mir, sagte die Wache, oder geh vielmehr voraus, da du weißt, wo es ist.

Vampa lächelte über diese Vorsichtsmaßregel und ging mit gleichmäßig festen, ruhigen Schritten, von Teresabegleitet, voran. Nach fünf Minuten hieß sie derBandit durch ein Zeichen stille stehen; die jungen Leute gehorchten. DerBandit ahmte dreimal das Krächzen des Raben nach, und ein ähnliches Geschreibeantwortete diesen Ruf.

Gut, sagte derBandit. Du kannst nun weiter gehen. Luigi und Teresa machten sich wieder auf den Weg, doch je mehr sie vorrückten, desto fester preßte sich die zitternde Teresa an ihren Geliebten an, denn man sah nun durch dieBäume Menschen erscheinen und Flintenläufe funkeln. Die Lichtung von RoceaBianca lag oben auf einem kleinenBerge. Teresa und Luigi erreichten die Anhöhe undbefanden sich in demselben Augenblick zwanzigBanditen gegenüber.

Dieser junge Mann sucht euch und will euch sprechen, sagte die Wache.

Und was will er uns sagen?

Ich will euch sagen, daß ich es satt habe, die Schafe zu hüten, antwortete Vampa.

Ah! ichbegreife, sagte ein anderer, und du kommst, uns um Aufnahme in unsere Reihen zubitten?

Er sei willkommen! riefen mehrereBanditen von Ferrusino, Pampinara und Anagni, die Luigi Vampa erkannten.

Ja, nur will ich euch um etwas anderesbitten, als um die Gunst, euer Gefährte zu sein.

Was verlangst du von uns? fragten dieBanditen erstaunt.

Ich will euer Kapitän werden.

DieBanditenbrachen in ein Gelächter aus.

Wasberechtigt dich, auf diese Ehre Anspruch zu machen? fragte der Leutnant.

Ich habe euren Anführer Cucumetto getötet, dessen Nachlaß ihr an mir seht, und Feuer an die Villa San Felice gelegt, um meinerBraut ein Hochzeitskleid zu schenken.

Eine Stunde nachher war Luigi Vampa an Cucumettos Stelle zum Kapitän erwählt. –

Nun, mein lieber Albert, sagte Franz, sich an seinen Freund wendend, was denken Sie von Luigi Vampa?

Ich sage, es ist eine Mythe, und er hat gar nie existiert.

Was ist das, eine Mythe? fragte Pastrini.

Es wäre zu lang, Ihnen dies zu erklären, mein lieber Wirt, antwortete Franz. Und Sie sagen, Herr Vampa treibe sein Gewerbe in diesem Augenblick in der Gegend von Rom?

Ja, und zwar mit einer Kühnheit, von der nie einBandit vor ihm einBeispiel gegeben hat.

Die Polizei hat seiner also nicht habhaft werden können?

Was wollen Sie? Er ist zugleich mit den Hirten der Ebene, mit den Fischern des Tiber und den Schmugglern an der Küste im Einverständnis. Sucht man ihn auf dem Gebirge, so ist er auf dem Fluß; verfolgt man ihn auf dem Fluß, so erreicht er die offene See; und glaubt man, er habe sich auf die Isola del Giglio, del Gnanuti oder nach Monte Christo geflüchtet, so sieht man ihn plötzlich in Albano, in Tivoli oder la Riccia auftauchen.

Und wie verfährt er gegen die Reisenden?

Oh, mein Gott! Das ist ganz einfach. Je nach der Entfernung, in der man sich von der Stadtbefindet, gibt er ihnen acht Stunden, zwölf Stunden oder einen Tag, das Lösegeld zubezahlen; ist diese Zeit abgelaufen, so gewährt er noch eine Stunde Gnadenfrist. Hat er nach sechzig Minuten das Geld noch nicht, so schießt er dem Gefangenen eine Kugel vor den Kopf oder stößt ihm seinen Dolch ins Herz, und alles ist abgemacht.

Nun, Albert, fragte Franz seinen Gefährten, sind Sie immer noch geneigt, vor die Stadt zu fahren?

Allerdings, wenn der Weg malerisch ist.

In diesem Augenblick schlug es neun Uhr, die Tür ging auf, und der Kutscher erschien.

Exzellenz, sagte er, der Wagen erwartet Sie.

Wohl! rief Franz, also nur in das Kolosseum.

Ah! mein Lieber, versetzte Albert, ebenfalls aufstehend und eine Zigarre anzündend, ich hielt Sie in der Tat für mutiger.

Hierauf gingen die jungen Leute die Treppe hinabund stiegen in den Wagen.

Erscheinungen

Auf der Fahrt durch die dunkle Stadt sprach Franz kein Wort, sein Geistbeschäftigte sich mit dem, was er über Luigi Vampa gehört hatte, denn es war ihmbefremdlich erschienen, daß Pastrini dabei den Namen seines Gastgebers auf Monte Christo genannt und diese Insel als Schlupfwinkel derBanditenbezeichnet hatte. Dabei erinnerte er sich, daß erbei seiner Landung auf Monte Christobei den Matrosen auch zwei flüchtigeBanditen getroffen hatte. So sehr auch alles dies seinen Geistbeschäftigte, so war es doch völlig vergessen in dem Augenblick, wo er das düstere, riesige Gespenst des Kolosseums, auf das der Mond seine langen, bleichen Strahlen warf, vor sich sah. Der Wagen hielt, die jungen Leute sprangen heraus und standen vor einem Führer. Franz kannte das Kolosseum, denn er hatte esbereits mehr als zehnmalbesucht; aber auf seinen Gefährten, der das gewaltige Monument zum erstenmalbetrat, brachte der Anblick einen mächtigen Eindruck hervor. Man hat in der Tat, wenn man es nicht gesehen, keinenBegriff von der Majestät einer solchen Ruine, deren Verhältnisse in dieser geheimnisvollenBeleuchtung des südlichen Mondes verdoppelt erscheinen.

Kaum hatte Franz gedankenvoll hundert Schritt unter den inneren Säulengängen gemacht, als er, Albert seinem Führer überlassend, der ihm den Löwengraben, die Loge der Gladiatoren, das Podium der Cäsaren zeigen wollte, eine halbin Trümmer zerfallene Treppe hinaufstieg und sich im Schatten einer Säule vor einem Ausschnitte niederließ, der ihm den Granitriesen in seiner ganzen majestätischen Ausdehnung zu erfassen gestattete. Franz war ungefähr eine Viertelstunde hier undblickte jetzt nach Albert hinüber, der, begleitet von zwei Fackelträgern, aus einer Vertiefung am andern Ende des Kolosseums hervorkam. Die Führer stiegen eben wie Schatten, die einem Irrlichte folgen, von Stufe zu Stufe zu den den Vestalinnen vorbehaltenen Plätzen hinab, als es ihm schien, als hörte er in die Tiefen des Gebäudes einen von der gegenüberliegenden Treppe abgestürzten Stein rollen. Es kam ihm vor, als wäre der Stein unter dem Fuße eines Menschen gewichen, und als vernähme er ein Geräusch.

Nach einen: Augenblick erschien wirklich ein Mensch; er trat allmählich aus dem Schatten hervor, während er die von dem Mondebeleuchtete Treppe hinaufstieg. Es konnte ein Reisender sein, wie er, der eine einsameBetrachtung dem Geschwätz seiner Führer vorzog, aber aus dem vorsichtigen Zögern, mit dem er die letzten Stufen erstieg, aus der Art und Weise, wie er, auf der Plattform angelangt, still stand und zu horchen schien, ging klar hervor, daß er zu einembesonderen Zwecke gekommen war und auf jemand wartete. Unwillkürlich verbarg sich Franz so viel als möglich hinter der Säule. Zehn Schritte davon war das Gewölbe ausgebrochen, und eine runde Öffnung ließ den mit Sternenbesäten Himmel hereinschauen. Um diese Öffnung her, die vielleicht schon seit Jahrhunderten den Mondstrahlen Durchgang gestattete, wuchsen Gesträuche, deren grüne Umrisse sich kräftig von dem matten Azur des Firmaments abhoben, während große Lianen und mächtige Efeuranken von der obern Terrasse herabhingen und sich, schwelgendem Tauwerk ähnlich, unter dem Gewölbe wiegten.

Der Mann, dessen geheimnisvolles Erscheinen Franzens Aufmerksamkeit erregt hatte, stand so im Halbdunkel, daß man seine Züge nicht zu unterscheiden vermochte, doch war die Tracht des Unbekannten zu erkennen: er war in einen großenbraunen Mantel gehüllt, dessen rechte Spitze, über die linke Schulter geworfen, den unteren Teil seines Gesichtes verbarg, während seinbreitkrempiger Hut seinen Kopfbedeckte. Nur das äußerste Ende seiner Kleidung wurde von dem schiefen Lichtebeleuchtet, das durch die Öffnung drang und ein schwarzes, einen Lackstiefel zierlich umschließendesBeinkleid gewahren ließ. Der Mann gehörte offenbar, wenn nicht der Aristokratie, doch wenigstens der guten Gesellschaft an. Er war ungefähr zehn Minuten anwesend und gabsichtbare Zeichen der Ungeduld von sich, als sich ein leichtes Geräusch auf der obern Terrasse hören ließ. In demselben Augenblick verdeckte ein Schatten den Lichtschein, ein Mann zeigte sich an der Öffnung, tauchte seinen durchdringendenBlick in die Finsternis und gewahrte den Mann im Mantel; sogleich ergriff er eine Handvoll herabhängender Lianen und Efeuranken, ließ sich hinabgleiten und sprang, sobald er nur noch drei Fuß vomBoden entfernt war, leicht zur Erde. Dieser Mann zeigte die vollständige Tracht eines Trasteveriners.

Entschuldigen Sie, Exzellenz, sagte er in römischem Dialekt, ich ließ Sie warten, doch nur ein paar Minuten, denn es hat soeben zehn Uhr geschlagen.

Ich kam zu früh und nicht Ihr zu spät, antwortete der Fremde, also keine Umstände; hättet Ihr mich übrigens auch warten lassen, so würde ich vermutet haben, ein von Eurem Willen unabhängigerBeweggrund halte Euch zurück.

Und Sie hätten recht gehabt, Exzellenz, ich komme vom Kastell St. Angelo, wo ich die größte Mühe hatte, bis es mir endlich gelang, mitBeppo zu sprechen.

Wer ist Beppo?

Beppo ist ein Angestellterbeim Gefängnis, dem ich eine kleine Rente dafür zukommen lasse, daß ich erfahre, was im Innern derBurg Seiner Heiligkeit vorgeht.

Ah! ah! ich sehe, Ihr seid ein vorsichtiger Mann, mein Lieber.

Man weiß nicht, was geschehen kann, Exzellenz; vielleicht werde ich auch eines Tages im Netze gefangen, wie der arme Peppino, undbedarf einer Ratte, um einige Maschen meines Gefängnisses zu durchnagen.

Sprecht, was habt Ihr in Erfahrung gebracht?

Dienstag um zwei Uhr sollen zwei Hinrichtungen stattfinden, wie dies in Rombei Eröffnung großer Feste gebräuchlich ist; einer von den Verurteilten wird durch Totschlag hingerichtet (mezzolato); er ist ein Elender, der einen Priester umgebracht hat, von dem er erzogen worden ist, und der keine Teilnahme verdient; der andere wird mit der Guillotine enthauptet, das ist der arme Peppino.

Was wollt Ihr, mein Lieber. Ihr flößt nicht nur der päpstlichen Regierung, sondern auch denbenachbarten Staaten einen so großen Schrecken ein, daß man durchaus einBeispiel geben muß.

Aber Peppino gehört nicht einmal zurBande, er ist ein armer Hirte, der kein anderes Verbrechenbeging, als daß er uns Lebensmittel lieferte.

Was ihn vollkommen zu Eurem Mitschuldigen macht. Es wird also ein Schauspiel stattfinden, das den Geschmack des römischen Volkesbefriedigen wird.

Dazu soll dann noch ein unerwartetes Schauspiel kommen, das ich mir vorbehalte, versetzte der Trasteveriner.

Mein lieber Freund, entgegnete der Mann im Mantel, erlaubt mir dieBemerkung, daß Ihr mir ganz geneigt zu sein scheint, irgend eine Albernheit zubegehen.

Ichbin zu allem geneigt, um die Hinrichtung des armen Teufels zu verhindern, der in der Klemme steckt, weil er mir gedient hat. Bei der heiligen Jungfrau, ich müßte mich als feigbetrachten, wenn ich nicht etwas für denbraven Jungen unternähme.

Und was gedenkt Ihr zu tun?

Ich stelle etwa zwanzig Mann um das Schafott, und in dem Augenblick, wo man ihn herbeibringt, stürzen wir auf ein Signal, das ich geben werde, mit dem Dolche in der Faust auf die Eskorte los und entführen ihn.

Das scheint mir sehr unsicher, und mein Plan taugt entschieden mehr, als der Eurige.

Und worinbesteht dieser Plan, Exzellenz?

Ich gebe irgend einem, den ich kenne, zweitausend Piaster; dafürbewirkt er, daß Peppinos Hinrichtung auf das nächste Jahr verschoben wird; im Verlaufe des Jahres gebe ich sodann weitere zweitausend Piaster einem andern, den ich ebenfalls kenne, undbringe es dahin, daß man ihn entschlüpfen läßt.

Sind Sie des Gelingens sicher?

Mein Lieber, ich sage, ich werde mit meinem Golde mehrbewirken, als Ihr und Eure Leute mit allen ihren Dolchen, Pistolen undBüchsen. Laßt mich also machen!

Vortrefflich; doch wenn Sie scheitern, sind wir immer nochbereit.

Haltet Euch immerhinbereit, wenn es Euch Vergnügen macht, doch seid überzeugt, daß ich die Freiheit für ihn erlange.

Vergessen Sie nicht, daß schon übermorgen Dienstag ist. Sie haben nur noch morgen.

Wohl, aber ein Tagbesteht aus 24 Stunden, jede Stunde aus 60 Minuten, jede Minuten aus 60 Sekunden, und in 86 400 Sekundenbringt man viel zu Wege.

Wie werden wir es erfahren, Exzellenz, wenn es Ihnen gelungen ist?

Das ist ganz einfach: die drei letzten Fenster des Palastes Rospoli sind von mir gemietet; habe ich den Aufschuberlangt, so sollen die zwei Fenster an der Ecke mit gelbem, das in der Mitte aber mit weißem Damast mit rotem Kreuzbehängt werden.

Gut; und durch wen werden Sie dieBegnadigung in diebetreffenden Hände gelangen lassen?

Schickt mir einen von Euren Leuten, alsBüßer verkleidet, und ich gebe sie ihm. Mit seinem Gewande wird erbis zum Fuße des Schafotts vordringen, wo er dieBulle dem Obersten derBrüderschaft übergibt, der sie dem Nachrichter einhändigt. Mittlerweile laßt diese Kunde Peppino zu Ohren kommen, daß er nicht vor Angst stirbt oder ein Narr wird, sonst hätten wir eine unnötige Ausgabe für ihn gemacht.

Hören Sie, Exzellenz, sagte der Trasteveriner, ichbin Ihnen ergeben, und davon sind Sie überzeugt, nicht wahr?

Ich hoffe es wenigstens.

Nun! Wenn Sie Peppino retten, so wird meine Ergebenheit sich in Gehorsam wandeln.

Gebt wohl acht auf das, was Ihr sagt, mein Lieber! Ich werde Euch eines Tages daran erinnern, denn vielleichtbedarf ich Euer einst ebenfalls.

Wohl, Exzellenz, dann sollen Sie mich zur Stunde der Not finden, wie ich Sie zu derselben Stunde gefunden habe. Wären Sie am andern Ende der Welt, sobrauchen Sie mir nur zu schreiben: Tue dies, und ich werde es tun, so wahr ich…

Still! sagte der Unbekannte, ich höre Geräusch.

Es sind Reisende, die das Kolosseum mit Fackelnbesuchen.

Sie sollen uns nichtbeisammen finden. Diese Spione von Führern könnten Euch erkennen, und so ehrenwert auch Eure Freundschaft ist, mein Lieber, sobefürchte ich doch, es dürfte mir meinen Kredit nehmen, wenn man erführe, in welchem Grade wir miteinander verbunden sind.

Also, wenn Sie den Aufschubhaben?

So ist am mittleren Fenster ein Damastvorhang mit rotem Kreuze.

Wenn Sie dieBulle nicht haben?

Drei gelbe Vorhänge.

Und dann?

Dann spielt mit dem Dolche nach EuremBelieben, ich erlaube es Euch und werde da sein, um Euch zuzusehen.

Gottbefohlen, Exzellenz, ich zähle auf Sie, zählen Sie auf mich!

Nach diesen Worten verschwand der Trasteveriner auf der Treppe, während der Unbekannte, sein Gesicht noch mehr als zuvor mit dem Mantel verhüllend, zwei Schritte entfernt an Franz vorüberging und auf den äußeren Stufen in die Arena hinabstieg. Eine Sekunde nachher hörte Franz seinen Namen unter dem Gewölbe erschallen; es war Albert, der ihn rief. Er wartete, um zu antworten, bis sich diebeiden Männer entfernt hätten, denn er wollte nicht, daß sie erführen, sie hätten einen Zeugen gehabt, der, wenn er auch ihr Gesicht nicht sehen konnte, wenigstens kein Wort von ihrem Gespräche verlor. Kaum waren zehn Minuten vergangen, als Franz nach dem Hotel Stadt London zurückfuhr. Er ließ Albert seine Eindrücke erzählen, ohne viel zu erwidern, denn er wollte sobald als möglich allein sein, um ungestört das, was in seiner Gegenwart vorgefallen war, überlegen zu können.

Von denbeiden Männern war ihm der eine offenbar fremd, und er sah und hörte ihn zum erstenmal; nicht so war es mit dem andern, und obgleich Franz seinbeständig im Schatten oder durch den Mantel verborgenes Gesicht nicht hatte unterscheiden können, so war ihm doch der Ton dieser Stimme sofort zu sehr aufgefallen, als daß sie in ihm nichtbestimmte Erinnerungen geweckt hätten. Es lag in dieser Stimme etwas Scharfes, Metallisches, das ihn ebensosehr im Kolosseum, wie in der Grotte von Monte Christo hatte erbeben lassen; er war auch vollkommen überzeugt, daß dieser Mann Simbad der Seefahrer war.

Unter allen andern Umständen hätte er sichbei der Neugierde, die ihm dieser Mann eingeflößt, ihm zu erkennen gegeben; aber das Gespräch, das erbei dieser Veranlassung gehört, war so vertraulicher Natur, daß ihn die Überzeugung, seine Erscheinung müßte ihm unangenehm sein, zurückhielt. Doch während er fernblieb, gelobte er sich, daß er sich eine zweite Gelegenheit mit ihm zu sprechen, nicht entschlüpfen lassen wollte.

Franz war zu sehr von seinen Gedanken in Anspruch genommen, um zu schlafen. Erbrachte die Nacht damit hin, daß er alle Umstände, die sich auf den Mann in der Grotte und den Unbekannten im Kolosseumbezogen und die auf die Gleichheitbeider Personen deuteten, in Erwägung zog; und je mehr Franz nachdachte, desto mehr wurde er in seiner Meinung, es sei ein und dieselbe Person, bestärkt. Er entschlummertebei Tagesanbruch und erwachte daher sehr spät. Albert hatte als echter Pariserbereits seine Maßregeln für den Abend getroffen und eine Loge im Theater Argentina genommen. Franz mußte mehrereBriefe schreiben und überließ deshalbAlbert den Wagen für den ganzen Tag. Um fünf Uhr kehrte Albert zurück; er hatte seine Empfehlungsbriefe abgegeben, Einladungen für alle Abende erhalten und Rom gesehen.

Albert war in der letzten Zeit sehr unzufrieden, denn seit den vier Monaten, wo er Italien in allen Richtungen durchkreuzte, hatte er nicht ein einziges galantes Abenteuer gehabt. Die Sache war um so peinlicher, als er, nach derbescheidenen Anschauung seiner Landsleute, von Paris mit der Überzeugung abgereist war, er würde in Italien die größten Erfolge erringen. Ach! es war dem nicht so gewesen; die reizenden genuesischen, florentinischen und neapolitanischen Gräfinnen hielten sich zwar nicht an ihre Ehemänner, aber an ihre Liebhaber, und Albert erlangte die grausame Überzeugung, die Italienerinnen hätten vor den Französinnen wenigstens den Vorzug, daß die meisten in ihrer Untreue treublieben.

Und dennoch war Albert nicht nur ein vollkommen eleganter Kavalier, sondern auch ein Mann von viel Geist; ferner war er Vicomte, allerdings Vicomte von neuem Adel; doch heutzutage, wo man keine Ahnenproben mehr zu liefern hat, was liegt daran, obder Adelstitel von 1399 oder von 1815 datiert? Dabei hatte er, was schwerer ins Gewicht fiel, fünfzigtausend Franken Rente, und das war mehr, als manbrauchte, um in Paris Mode zu sein. Es erschien also einigermaßen demütigend, daß er in keiner von den Städten, die erbesucht, Aufsehen erregt hatte.

Er hoffte sich in Rom zu entschädigen, da der Karneval in allen Ländern der Erde, die dieses herrliche Fest feiern, eine Zeit der Freiheit ist, wo sich die Strengsten zu einer Tollheit hinreißen lassen. Weil nun der Karneval am andern Tagebegann, so war es für Albert von großer Wichtigkeit, sich der vornehmen Welt noch vorherbemerklich zu machen. Er hatte daher eine von den am meisten ins Auge fallenden Logen des Theaters gemietet, und eine tadellose Toilette gemacht. Indes hegte er noch eine andere Hoffnung: er dachte, wenn es ihm gelänge, einen Platz im Herzen einer schönen Römerin zu erobern, so würde er damit natürlich auch einen Platz in einem Wagen erlangen und er dann in der Lage sein, den Karneval von der Höhe eines aristokratischen Gefährtes oder eines fürstlichenBalkons herabzu genießen.

Alle diese Gedanken trugen dazubei, Albert lebhafter zu machen, als er es je gewesen war. Er wandte den Schauspielern den Rücken zu, neigte sich mit halbem Leibe aus der Loge heraus, lorgnettierte alle jungen Frauen, was aber keinebewog, ihn mit einem einzigenBlicke zubelohnen. Alle Plauderten von ihren eigenen Angelegenheiten, von ihren Liebschaften, von ihren Vergnügungen, vom Karneval, von der nächsten heiligen Woche, ohne nur einen Augenblick den darstellenden Künstlern oder dem Stücke die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Gegen das Ende des ersten Aktes öffnete sich die Tür einer Loge, diebis jetzt leer geblieben war, und Franz sah eine Dame eintreten, der er in Paris vorgestellt zu werden die Ehre gehabt hatte; bis dahin war er der Meinung gewesen, siebefände sich noch in Frankreich. Albert sah, daß sein Freundbeim Erscheinen der Dame erregt wurde, wandte sich zu ihm und fragte: Kennen Sie diese Frau?

Ja; wie finden Sie sie?

Reizend, mein Lieber. Es ist eine Französin?

Nein, eine Venetianerin!

Und sie heißt?

Gräfin***.

Ah! ich kenne sie dem Namen nach, rief Albert; man sagt, sie sei ebenso geistreich als hübsch. Teufel! Wenn ichbedenke, daß ich mich ihrbei dem letztenBall von Frau von Villefort hätte vorstellen lassen können, und daß ich Dummkopf dies versäumte!

In diesem Augenblick gewahrte die Gräfin Franz und machte ihm mit der Hand ein anmutiges Zeichen, das er mit einer höflichen Verbeugung erwiderte.

Ah! es scheint mir, Sie stehen sehr gut mit ihr? sagte Albert.

Mein Lieber, was Sie hier täuscht und was uns Franzosen im Auslande tausend Albernheitenbegehen läßt, ist, daß wir alles von unserm Pariser Gesichtspunktbetrachten. In Spanien und in Italienbesonders dürfen Sie die Vertrautheit der Leute nie nach der Freiheit in ihren Umgangsformenbeurteilen. Wir haben eine gewisse Sympathie zu einander gehegt, das ist alles.

Endlich fiel der Vorhang zur großen Freude des Vicomte von Morcerf, der seinen Hut nahm und seinen Freundbat, ihn der Gräfin vorzustellen. Diebeiden Freundebetraten die Loge der Gräfin, und Franz stellte Albert als einen durch gesellschaftliche Stellung und Geist ausgezeichneten Kavalier vor. Er fügte hinzu, in Verzweiflung darüber, daß er den Aufenthalt der Gräfin in Paris nichtbenutzt, um sich ihr vorstellen zu lassen, habe er ihnbeauftragt, diesen Fehler gutzumachen, und er entledige sich dieses Auftrags, indem er die Gräfin, bei der er selbst eines Fürsprechersbedurft hätte, bitte, seine Unbescheidenheit entschuldigen zu wollen. Die Gräfin antwortete, Albert anmutigbegrüßend und Franz die Hand reichend. Von ihr eingeladen, nahm Albert den leeren Platz vorn ein, und Franz setzte sich in die zweite Reihe hinter die Gräfin.

Albert fand einen vortrefflichen Gegenstand zur Unterhaltung: Paris; er sprach mit der Gräfin von ihren gemeinschaftlichenBekannten. Franz seinerseits ließ sich von seinem Freunde dessen Riesenlorgnette geben und fing ebenfalls an, sich im Saal umzusehen. Allein, auf dem Vordersitze einer Loge, im dritten Rang ihnen gegenüber, saß einebewunderungswürdig hübsche Frau in griechischem Kostüm, das sie mit so viel Anmut trug, daß es offenbar ihre Landestracht sein mußte. Hinter ihr saß ein Mann, dessen Gesicht sich jedoch nicht erkennen ließ. Franz unterbrach das Gespräch Alberts mit der Gräfin, um diese zu fragen, obsie die schöne Albanesin kenne, die wohl würdig wäre, nicht nur die Aufmerksamkeit der Männer, sondern auch die der Frauen zu erregen.

Nein, sagte sie, ich weiß nur, daß sie seit dem Anfange der Saison in Rom ist, dennbei Eröffnung des Theaters habe ich sie da gesehen, wo sie jetzt sitzt, und seit einem Monat versäumt sie keine Vorstellung; baldbegleitet sie der Mann, der in diesem Augenblickbei ihr ist, bald folgt ihr nur ein schwarzer Diener.

Franz und die Gräfin tauschten ein Lächeln aus, dann setzte die Gräfin ihr Gespräch mit Albert fort, während Franz wieder seine Albanesinbetrachtete. Die Ouverture des zweiten Aktesbegann. Bei den erstenBogenstrichen sah Franz den Herrn aufstehen und sich der Griechin nähern, die sich umwandte, um einige Worte an ihn zu richten, und sich abermals mit dem Ellenbogen auf dieBrüstung der Loge stützte. Das Gesicht ihresBegleiters war immer noch im Schatten, und Franz vermochte seine Züge nicht zu unterscheiden.

Der Vorhang ging auf, Franzens Aufmerksamkeit richtete sich nun selbstverständlich auf die Schauspieler, und seine Augen verließen für kurze Zeit die Loge der schönen Griechin, um sich nach der Szene zu richten.

Als der zweite Akt zu Ende war, wollte er ebenBeifall spenden, als dasBravo, das seinem Munde entschlüpfen wollte, auf seinen Lippen erstarb.

Der Mann in der Loge war völlig aufgestanden, und Franz erkannte nun in ihm, da sein Kopf vom Licht getroffen wurde, den geheimnisvollenBewohner von Monte Christo, den Mann, dessen Stimme er am Abend zuvor in den Ruinen des Kolosseums wiederzuhören geglaubt hatte. Es unterlag keinem Zweifel, der fremde Reisende wohnte in Rom. Wahrscheinlich drückte sich auf Franzens Gesicht die Unruhe aus, die diese Erscheinung in seinem Innern hervorrief, denn die Gräfin schaute ihn an und fragte ihn, was er hätte.

Frau Gräfin, antwortete Franz, wenn ich Sie vorhin fragte, obSie jene albanesische Frau kennen, so frage ich Sie nun, obSie ihren Gatten kennen.

Ebensowenig als sie. Jedenfalls, sagte sie, mit Alberts Glas nach der Loge sehend, muß es aber ein Abgeschiedener sein, der mit Erlaubnis des Totengräbers aus seinem Sarge gestiegen ist, denn er sieht furchtbarblaß aus.

So sieht er immer aus, sagte Franz.

Sie kennen ihn also? sagte die Gräfin; dann ist es an mir, Sie zu fragen, wer er ist.

Ich habe ihn, glaube ich, bereits gesehen und erkenne ihn wieder.

In der Tat, sagte die Gräfin, während sie mit den Schultern eineBewegung machte, als durchliefe ein Schauer ihre Adern, ichbegreife, daß man einen solchen Menschen nie vergißt, wenn man ihn einmal gesehen hat.

Die Wirkung, die Franz an sich empfunden, war also keinebesondere, da sie sich auchbei einer andern Person fühlbar machte.

Nun! fragte Franz die Gräfin, als sie zum zweiten Male zu dem Fremden hinübersah, was denken Sie von diesem Manne?

Hören Sie, erwiderte die Gräfin, der verstorbene LordByron hat mir geschworen, er glaube an Vampire, er sagte mir sogar, er habe welche gesehen. Er schilderte mir ihr Gesicht, und wahrhaftig, gerade so, wie ich's dort drüben sehe: die schwarzen Haare, die großen, von seltsamem Feuer glänzenden Augen, die Totenblässe; bemerken Sie ferner, daß er mit keiner gewöhnlichen Frau zusammen ist, es ist eine Fremde, eine Griechin,… eine Abtrünnige… eine Magierin ohne Zweifel, wie er…

Die Gräfin war in der Tat sehr erregt, und Franz selbst konnte sich einem gewissen abergläubischen Schrecken nicht entziehen, der um so natürlicher erschien, als das, wasbei der Gräfin die Folge eines instinktartigen Eindrucks war, bei ihm durchbestimmte Erinnerungen hervorgebracht wurde. Er fühlte, daß sie zitterte, als sie in den Wagen stieg. Erbegleitete sie nach Hause; es war niemand da, und sie wurde nicht erwartet; Franz machte ihr darüber einen Vorwurf.

In der Tat, sagte sie zu ihm, ich fühle mich nicht wohl undbedarf der Einsamkeit; der Anblick dieses Menschen hat mich völlig verstört.

Franz versuchte zu lachen.

Lachen Sie nicht, sagte die Gräfin; Sie haben auch gar keine Lust dazu. Aus Gründen, die ich Ihnen nicht sagen kann, wünschte ich zu erfahren, wer dieser Mann ist, woher er kommt und wohin er geht. Aber nun guten Abend! Schlafen Sie wohl, ich weiß, wer nicht schlafen wird.

Als Franz in den Gasthof kam, fand er Albert im Schlafrock eine Zigarre rauchend und wütend darüber, daß ihm der Hotelbesitzer wiederholt erklärt hatte, daß zu dem Karneval weder ein Wagen noch ein Fenster zum Zuschauen mehr zubekommen sei.

Auch Franzbedauerte lebhaft das Mißgeschick, als der Wirt nochmals eintrat und sagte: Der Graf von Monte Christo, der auf dem gleichen Stocke mit Ihnen wohnt, hat durch mich von der Verlegenheit, in der Sie sichbefinden, gehört undbietet Ihnen zwei Plätze in seinem Wagen und zwei an seinen Fenstern im Palaste Rospoli an.

Albert und Franz schauten einander ins Gesicht.

Können wir das Anerbieten eines Fremden, eines uns völlig unbekannten Mannes annehmen? fragte Albert.

Wer ist dieser Graf von Monte Christo? fragte Franz den Wirt.

Ein vornehmer Herr aus Sizilien oder Malta, ich weiß nicht genau, aber edel wie einBorghese und reich wie eine Goldmine.

In diesem Augenblick klopfte man an die Tür.

Auf Franzens Herein erschien ein Diener in sehr zierlicher Livree auf der Schwelle und sprach: Von dem Grafen von Monte Christo für Herrn Franz d'Epinay und den Herrn Vicomte Albert von Morcerf.

Und er reichte dem Wirte zwei Karten, die dieser den jungen Leuten zustellte.

Der Herr Graf von Monte Christo, fuhr der Diener fort, läßt die Herren um Erlaubnisbitten, sich ihnen als Nachbar morgen früh vorstellen zu dürfen; er wird die Ehre haben, sichbei den Herren erkundigen zu lassen, um welche Stunde sie zu sprechen sind.

Sagen Sie dem Grafen, antwortete Franz, wir werden die Ehre haben, ihm unsernBesuch zu machen.

DerBediente entfernte sich.

Das nenne ich mit Artigkeit erstürmen, rief Albert; Sie haben offenbar recht, Herr Wirt, Ihr Graf von Monte Christo ist ein Mann von derbesten Lebensart.

Das Anerbieten von zwei Plätzen an einem Fenster des Palastes Rospoli erinnerte Franz an das Gespräch, das er in den Ruinen des Kolosseums zwischen seinem Unbekannten und dem Trasteveriner gehört, wobei der Mann mit dem Mantel die Verbindlichkeit übernommen hatte, Begnadigung für einen Verurteilten zu erlangen. War aber der Mann im Mantel, wie Franz allem Anschein nach glauben mußte, derselbe, dessen Erscheinen im Theater Argentina ihn so sehr in Anspruch genommen hatte, so erkannte er ihn ohne Zweifel wieder, und nichts sollte ihn dann abhalten, seine Neugierde inBezug auf seine Person zubefriedigen.

Franzbrachte einen Teil der Nacht damit zu, daß er von dem zweimaligen Auftauchen des Grafen träumte und den andern Tag herbeiwünschte. Der andere Tag sollte wirklich alles aufklären, und diesmal — besäße sein Wirt von Monte Christo nicht den Ring des Gyges und damit die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen — würde er ihm sicherlich nicht entgehen. Er erwachte vor acht Uhr und ließ sogleich den Wirt rufen.

Herr Wirt, sagte er zu ihm, soll nicht heute eine Hinrichtung stattfinden?

Ja, aber wenn Sie mich fragen, um einen Platz dazu zubekommen, so wird es zu spät sein.

Wahrscheinlich werde ich nicht hingehen; doch möchte ich gern die Anzahl der Verurteilten, ihre Namen und die Art der Hinrichtung wissen.

Das trifft sich gut, Exzellenz, man hat mir soeben die Tavolette gebracht.

Was ist das: Tavolette?

Die Tavolette sind hölzerne Täfelchen, die man am Tage vor einer Hinrichtung an allen Straßenecken anhängt, und worauf die Namen der Verurteilten, der Grund ihrer Verurteilung und die Art ihrer Hinrichtung angegeben sind. Damit werden die Gläubigen aufgefordert, zu Gott zubeten, er möge den Schuldigen eine aufrichtige Reue verleihen. Ich will sie Ihnen gleich holen.

Einen Augenblick späterbrachte er Franz die Tafel. Auf dieser stand wörtlich:

Es wird hiermit männiglich zu wissen getan, daß Dienstag den 22. Februar am ersten Tage des Karnevals durch Spruch des Tribunals der Rota auf der Piazza del popolo Andrea Rondolo, schuldig des Mordes an der Person des hochwürdigen und hochverehrten Don Cäsar Torlini, Kanonikus der Kirche St. Giovanni in Laterano, und Peppino, genannt Rocca Priori, überwiesen der Genossenschaft mit dem verabscheuungswürdigenBanditen Luigi Vampa und den Leuten seinerBande, hingerichtet werden sollen. Der erste wird mazzolato (totgeschlagen) und der zweite decapitato (enthauptet). Mitleidige Seelen wollen Gott um aufrichtige Reue für diese unglücklichen Verurteiltenbitten.

Das war genau dasselbe, was Franz zwei Tage vorher in den Ruinen des Kolosseums gehört hatte. Somit war aller Wahrscheinlichkeit nach der Trasteveriner kein anderer, als derBandit Luigi Vampa, und der Mann im Mantel Simbad der Seefahrer, der in Rom, wie in Porto Vecchio und Tunis als Menschenfreund in den Gang der Gerichte eingriff.

Indessen war es neun Uhr geworden, und Franz schickte sich an, Albert zu wecken, als dieser zu seinem großen Erstaunen ganz angekleidet aus seinem Zimmer trat. Der Karneval ließ ihn nicht länger schlafen und hatte ihn früher auf dieBeine gebracht, als sein Freund dies hoffte.

Franz und Albert hatten, um zum Grafen von Monte Christo zu gelangen, dem sie ihre Aufwartung machen wollten, nur den Flur zu durchschreiten. Der Wirt ging voran und klingelte für sie; ein Diener öffnete, verbeugte sich undbedeutete durch ein Zeichen, sie möchten eintreten. Sie durchschritten zwei Zimmer, die mit einem Luxus ausgestattet waren, den sie in Pastrinis Gasthofe nicht vermutet hätten, und gelangten endlich in einen Salon von vollkommener Eleganz. Ein türkischer Teppich war auf demBoden ausgebreitet, und diebehaglichsten Möbel mit schwellenden Kissen und zurückgebogenen Lehnen luden zum Sitzen ein. Herrliche Gemälde hingen neben kunstvollen Waffen an den Wänden, und große gestickte Vorhänge wogten von allen Fenstern und Türen.

Wollen sich Eure Exzellenzen setzen, sagte der Diener, ich werde den Herrnbenachrichtigen. Und er verschwand durch eine der Türen.

Nun, fragte Franz seinen Freund, was sagen Sie zu all diesen Herrlichkeiten?

Meiner Treu, mein Lieber, unser Nachbar muß ein Wechselagent sein, der auf das Fallen der spanischen Papiere spekuliert hat, oder ein Fürst, der inkognito reist.

Still! Wir werden esbald erfahren, denn hier kommt er. Eine Tür öffnete sich, der Vorhang hobsich, und derBesitzer dieser Reichtümer erschien. Albert ging ihm entgegen, Franz aberbliebwie an seinen Platz genagelt.

Der Eintretende war kein andrer, als der Mann mit dem Mantel im Kolosseum, der Unbekannte der Loge, der geheimnisvolle Wirt von Monte Christo.

Mazzolalo

Meine Herren, sagte der Graf von Monte Christo eintretend, ichbitte Sie tausendmal um Entschuldigung, daß ich mir zuvorkommen ließ, aber ich fürchtete, wenn ich früherbei Ihnen erschiene, unbescheiden zu sein.

Franz und ich sind Ihnen den größten Dank schuldig, Herr Graf, erwiderte Albert; Sie entziehen uns in der Tat einer großen Verlegenheit.

Ei! mein Gott, erwiderte der Graf, indem er diebeiden jungen Männer ersuchte, sich auf einen Diwan zu setzen, es ist Pastrinis Fehler, wenn ich Sie so lange in Verlegenheit ließ; er sagte mir kein Wort von Ihrer mißlichen Lage, während ich nur eine Gelegenheit suchte, mit meinen NachbarnBekanntschaft zu machen. Sie haben auch gesehen, wie ich im ersten Augenblick, wo ich erfuhr, ich könnte Ihnen in irgend einerBeziehung nützlich sein, mit allem Eifer diese Veranlassung ergriff, um Ihnen meine Achtung zubeweisen.

Die jungen Leute verbeugten sich. Franz hatte noch kein Wort sprechen können, er hatte auch noch keinen Entschluß gefaßt, und da nichtsbei dem Grafen seinen Willen, ihn zu erkennen, oder den Wunsch, von ihm erkannt zu werden, andeutete, so wußte er nicht, ober mit irgend einem Worte auf die Vergangenheit anspielen, oder es der Zukunft überlassen sollte, ihm neueBeweise an die Hand zu geben. Völlig überzeugt, daß derselbe Mann am Tage vorher in der Loge gewesen, konnte er nicht ebensobestimmt dafür stehen, daß er zwei Tage vorher im Kolosseum verweilt hatte. Erbeschloß daher, die Dinge ihren Gang gehen zu lassen, ohne dem Grafen irgend einebestimmte Eröffnung zu machen. Überdies war er ihm in gewisserBeziehung überlegen, da er Herr seines Geheimnisses war. Mittlerweile wollte er jedoch das Gespräch auf einen Punktbringen, der einiges Licht in das Dunkel werfen könnte, und er sagte:

Herr Graf, Sie haben uns Plätze in Ihrem Wagen und an Ihren Fenstern im Palaste Rospoli angeboten, können Sie uns nun auch noch sagen, wie wir uns einen Platz auf der Piazza del popolo verschaffen?

Ah! das ist wahr, entgegnete der Graf mit zerstreuter Miene, zugleich aber Morcerf mitbesonderer Aufmerksamkeit anschauend, findet auf der Piazza del popolo nicht eine Hinrichtung oder dergleichen statt?

Ja, antwortete Franz, als er sah, daß der Graf von selbst dahin kam, wohin er ihnbringen wollte.

Ah! ich glaube, ich habe gestern meinen Intendantenbeauftragt, hierfür zu sorgen; vielleicht kann ich Ihnen noch einen kleinen Dienst leisten.

Er streckte die Hand nach einer Klingelschnur aus.

Es trat ein Mann von 50 Jahren ein, der fast aufs Haar dem Schmuggler glich, durch den Franz in die Grotte geführt wurde, der ihn aber durchaus nicht zu erkennen schien.

HerrBertuccio, sagte der Graf, haben Sie sich meinem Auftrag gemäßbemüht, mir ein Fenster auf der Piazza del popolo zu verschaffen?

Ja, Exzellenz, es ist das, welches vom Fürsten Lobanieff gemietet worden war; doch ich mußte hundert…

Gut, gut, HerrBertuccio, erlassen Sie uns dieseBerechnungen; Sie haben das Fenster, weiteres ist nicht nötig. Geben Sie dem Kutscher die Adresse des Hauses, und stellen Sie sich auf die Treppe, um uns zu führen!

Der Intendant verbeugte sich und machte einen Schritt, um sich zu entfernen.

Oh! fügte der Graf hinzu, tun Sie mir den Gefallen und fragen Sie Pastrini, ober die Tavoletta erhalten habe und ober mir das Programm der Hinrichtung schicken wolle.

Das ist nicht nötig, versetzte Franz, seine Schreibtafel aus der Tasche ziehend, ich habe den Zettel gelesen und kopiert; hier ist er.

Sie können gehen, HerrBertuccio, ichbedarf Ihrer nicht mehr. Man melde uns nur, wenn das Frühstück aufgetragen ist. Diese Herren, fuhr er, sich an diebeiden Freunde wendend, fort, werden mir die Ehre erzeigen, mit mir zu frühstücken?

In der Tat, Herr Graf, das hieße Ihre Güte mißbrauchen, erwiderte Albert.

Im Gegenteil, Sie machen mir ein großes Vergnügen; einer oder der andere von Ihnen, vielleichtbeide, vergelten mir das alles einmal in Paris.

Er nahm die Schreibtafel aus Franzens Händen und las mit einem Tone, als seien es» Kleine Anzeigen«, die unsbekannte Ankündigung von der Hinrichtung derbeiden Verurteilten. Ja, in der Tat, sagte er dann, so sollte die Sache anfangs vor sich gehen; aber ich glaube, seit gestern hat man sich zu einer Programmänderung entschlossen.

Bah! rief Franz.

Ja, gestern warbei dem Kardinal Rospigliosi, wo ich den Abend zubrachte, glaub' ich, die Rede von einem Aufschube, der einem von den Verurteiltenbewilligt sein soll.

Andrea Rondolo? fragte Franz.

Nein, dem andern, erwiderte gleichgültig der Graf, dem andern — er warf einenBlick auf die Schreibtafel, als suchte er sich des Namens zu erinnern — Peppino, genannt Rocca Priori. Sie verlieren also eine Guillotinierung, aber esbleibt Ihnen noch die Mazzolata, die eine interessante Art von Hinrichtung ist, wenn man die Sache zum erstenmal sieht, und selbst noch zum zweitenmal, während die andre, Ihnen jedenfalls auchbekannte Art, zu einfach, zu einförmig erscheint, um das Zuschauen zu lohnen. Oh! fügte der Graf verächtlich hinzu, reden Sie mir nicht von den Europäern, was Hinrichtungenbetrifft, sie verstehen nichts davon und stecken wahrhaftig in dieserBeziehung noch in den Kinderjahren oder vielmehr im Greisenalter.

In der Tat, Herr Graf, erwiderte Franz, man sollte glauben, Sie hätten das Hinrichtungsverfahrenbei den verschiedenen Völkern der Welt zum Gegenstand eines vergleichenden Studiums gemacht.

Es gibt wenige Arten, die ich nicht gesehen habe, antwortete kalt der Graf.

Und Sie fanden ein Vergnügen daran, so furchtbaren Schauspielenbeizuwohnen?

Mein erstes Gefühl war Widerstreben, mein zweites Gleichgültigkeit, mein drittes Neugierde.

Neugierde? Das Wort ist schrecklich!

Warum? Es gibt im Leben nur eine ernste Sache, die unser ganzes Wesen erfaßt, und das ist der Tod. Ist nun nicht das Studium anziehend, auf welch verschiedene Arten die Seele aus dem Leibe gehen kann, und wie nach den Charakteren, nach den Temperamenten und selbst nach den Sitten der Länder die einzelnen Menschen diesen Übergang vom Sein zum Nichts ertragen? Ich meinesteils stehe Ihnen für eines: je mehr man sterben gesehen hat, desto leichter wird es einem zu sterben; meiner Ansicht nach ist der Tod vielleicht eine Strafe, aber keine Sühne.

Ichbegreife Sie nicht ganz, sprach Franz.

Hören Sie, versetzte der Graf, und sein Gesicht unterlief sich mit Galle. Wenn ein Mensch durch unerhörte Qualen, unter endlosen Martern Ihren Vater, Ihre Mutter, Ihre Geliebte, kurz eines von den Wesen hätte sterben lassen, die, aus Ihrem Herzen gerissen, eine ewige Leere, eine stetsblutende Wunde darin zurücklassen, würden Sie die Genugtuung, die Ihnen das Gesetz durch die Guillotine gewährt, für hinreichend erachten, weil der, welcher Sie jahrelang moralische Leiden erdulden ließ, ein paar Sekunden lang körperliche Schmerzen ausgestanden hat?

Ja, ich weiß, versetzte Franz, die menschliche Gerechtigkeit ist als Trösterin ungenügend; sie kannBlut fürBlut vergießen, und mehr nicht; man muß nicht mehr von ihr verlangen, als sie zu tun vermag.

Und ich setze noch den Fall, wo die Gesellschaft, durch den Tod eines Menschen in der Grundlage angegriffen, worauf sieberuht, den Tod durch den Tod rächt. Gibt es aber nicht Millionen von Schmerzen, von denen die Eingeweide des Menschen zerrissen werden können, ohne daß sich die Welt nur im geringsten darum kümmert, und ohne daß sie ihm auch nur das ungenügende Mittel einer Rachebietet, von der wir soeben gesprochen haben? Gibt es nicht Verbrechen, für die der Pfahl der Türken, die Nervenzerrung der Irokesen noch zu gelinde Strafen wären, während sie die gleichgültige Gesellschaft völlig straflos läßt… antworten Sie mir, gibt es nicht solche Verbrechen?

Ja, versetzte Franz, und um sie zubestrafen, ist das Duell geduldet.

Ah! das Duell, rief der Graf, eine schöne Art, zu seinem Ziele zu gelangen, wenn das Ziel Rache ist. Es hat Ihnen ein Mensch Ihre Geliebte geraubt, Ihre Frau verführt, Ihre Tochter entehrt; er hat aus einem ganzen langen Leben ein Dasein des Schmerzes, des Elends oder der Schande gemacht, und Sie halten sich für gerächt, weil Sie diesem Menschen, der Ihnen Wahnsinn in den Geist, Verzweiflung ins Herz pflanzte, einen Degenstich in dieBrust gegeben oder eine Kugel vor den Kopf geschaffen haben? Abgesehen davon, daß er oft siegreich aus dem Kampfe hervorgeht, in den Augen der Welt rein gewaschen und von Gott gleichsam freigesprochen wird. Nein, nein, wenn ich mich je zu rächen hätte, würde ich mich nicht auf diese Art rächen.

Sie mißbilligen also das Duell, Sie würden sich nicht auf einen Zweikampf einlassen? fragte Albert, erstaunt, eine so seltsame Theorie aussprechen zu hören.

Oh! doch wohl, erwiderte der Graf. Verstehen wir uns recht! Ich würde mich schlagen wegen einer Erbärmlichkeit, wegen einerBeleidigung, wegen einer Ohrfeige, wenn man mich einer Lügebezichtigen wollte, und dies mit um so mehr Kaltblütigkeit, als ich infolge der Gewandtheit, die ich in allen körperlichen Übungen erlangt habe, infolge langer Gewöhnung an die Gefahr so gut wie sicher wäre, meinen Mann zu töten. Aber für einen tiefen, endlosen, ewigen Schmerz würde ich, wenn es möglich wäre, einen ähnlichen Schmerz dembereiten wollen, der ihn mir verursacht hätte. Auge um Auge, Zahn um Zahn, wie die Orientalen sagen… unsere Meister in allen Dingen, diese Auserwählten der Schöpfung, die sich ein Leben der Träume und ein Paradies der Wirklichkeit zubereiten gewußt haben. — Aber auf Ehre, meine Herren, wir führen da ein sonderbares Gespräch für einen Karnevalstag; setzen wir uns vor allem zu Tische, denn man meldet, daß aufgetragen ist.

Ein Diener öffnete eine von den vier Türen des Salons. Die jungen Männer standen auf und gingen in den Speisesaal. Während des Frühstücks, das aus allen möglichen Leckerbissenbestand und mit dem feinsten Luxus serviert wurde, suchte Franz mit den Augen AlbertsBlick, um darin den Eindruck zu lesen, den die Worte ihres Wirtes, wie er nicht zweifelte, auf ihn hervorgebracht haben mußten. Er fand aber seinen Gefährten nicht im geringsten ergriffen; er erwies im Gegenteil dem Mahle die schuldige Ehre. Der Graf dagegen, den Alberts Person merkwürdig zubeunruhigen schien, berührte die Schüsseln kaum. Es war, als erfüllte er, wenn er sich mit seinen Gästen zu Tische setzte, nur eine einfache Pflicht der Höflichkeit, und als erwarte er ihr Fortgehen, um sich irgend einbesonderes Gericht vorsetzen zu lassen. Dies erinnerte Franz unwillkürlich an den Schrecken, den der Graf der Gräfin G*** eingeflößt, und an ihre Überzeugung, der Mann, den er ihr in der Loge gegenüber der ihrigen gezeigt, sei ein Vampir. Als das Frühstück zu Ende war, zog Franz seine Uhr.

Nun!.. sagte der Graf zu ihm, was machen Sie denn?

Sie werden uns entschuldigen, Herr Graf, erwiderte Franz, wir haben noch tausenderlei zubesorgen. Wirbesitzen zumBeispiel noch keine Maskenanzüge, und heute ist die Verkleidung strengstes Gebot.

Sorgen Sie nicht hierfür! Wir haben auf der Piazza del popolo einbesonderes Zimmer; ich lasse dahin die Kostümebringen, die Sie mir gefälligstbezeichnen wollen, und wir maskieren uns, während wir dort verweilen.

Nach der Hinrichtung? rief Franz.

Nachher, während derselben oder vorher, wie Sie wollen.

Im Angesicht des Schafotts?

Das Schafottbildet einen Teil des Festes.

Vorwärts also, da Sie es so wollen, sagte Franz; doch wünschte ichbeim Gange nach der Piazza del popolo über den Korso zu kommen.

Gut, über den Korso! Wir schicken den Wagen voraus mit demBefehl, uns auf der Piazza del popolo zu erwarten; überdies ist es nur auch nicht unangenehm, wenn wir den Korso passieren, denn ich kann michbei dieser Gelegenheit überzeugen, obmeineBefehle vollzogen worden sind.

In diesem Augenblick öffnete ein Diener die Tür und meldete: Exzellenz, ein Mensch in der Tracht einesBüßers wünscht Sie zu sprechen.

Ah ja, sagte der Graf, ich weiß. Meine Herren, wollen Sie in den Salon zurückkehren, Sie finden auf dem Tische einige Havanna; ich folge Ihnen sogleich.

Die jungen Männer standen auf und gingen zu einer Tür hinaus, während sich der Graf, nachdem er seine Entschuldigung wiederholt hatte, durch die andere entfernte.

Nun, sagte Franz zu Albert, was denken Sie von dem Grafen von Monte Christo?

Was ich denke? erwiderte dieser, sichtbar erstaunt, daß Franz eine solche Frage an ihn richtete. Ich denke, er ist ein sehr angenehmer Mann, der vortrefflich die Honneurs seines Hauses macht, viel gesehen, viel nachgedacht, viel studiert hat, der einemBrutus der stoischen Schule gleicht, und der, fügte er hinzu, indem er eine Rauchwolke ausstieß, die in einer Schneckenlinie zum Plafond aufstieg, und der ausgezeichnete Zigarrenbesitzt.

Dies war die Ansicht, die Albert über den Grafen äußerte. Da Franz aber wußte, sein Freund urteile nur nach eigener Überzeugung, erbilde seine Ansicht über Menschen und Dinge erst nach reiflicher Erwägung, sobemerkte er nichts dagegen und fragte nur: Doch haben Sie die Aufmerksamkeitbemerkt, mit der er Siebetrachtete?

Albert dachte nach.

Ah! rief er, einen Seufzer ausstoßend, darüber darf man sich nicht wundern. Ichbin fast ein Jahr von Paris abwesend und muß Kleider wie ein Hinterwäldler haben. Der Graf wird mich für einen Menschen aus der Provinz halten; ichbitte Sie, klären Sie ihn darüberbei der nächsten Gelegenheit auf.

Franz lächelte; einen Augenblick nachher kehrte der Graf zurück.

Hierbin ich, meine Herren, sagte er, und ich stehe nun ganz zu Ihren Diensten. Nehmen Sie von diesen Zigarren, Herr von Morcerf, fügte er hinzu, indem er einen seltsamen Nachdruck auf diesen Namen legte, den er zum erstenmal aussprach.

Mit großem Vergnügen; wenn Sie nach Paris kommen, werde ich es Ihnen vergelten.

Ich weise das nicht von mir ab, denn ich gedenke eines Tages dorthin zu gehen und werde dann, wenn Sie es mir erlauben, an Ihre Tür klopfen.

Alle drei gingen hinabund schlugen den Weg über die Piazza di Spagna nach der Via Frattina ein, die sie gerade an den Palast Rospoli führte. Franz schaute nach diesem Palaste; er hatte das im Kolosseum zwischen dem Manne mit dem Mantel und dem Trasteveriner verabredete Signal nicht vergessen.

Welche Fenster gehören Ihnen? fragte er den Grafen mit dem natürlichsten Tone, den er anzunehmen vermochte.

Die drei letzten, erwiderte der Graf mit einer Nachlässigkeit, die nichts Geheucheltes hatte.

Franzens Augen richteten sich rasch nach den drei Fenstern. An denbeiden Seitenfenstern erblickte er Vorhänge von gelbem Damast, an dem mittleren einen Vorhang von weißem Damast mit rotem Kreuz. Der Mann mit dem Mantel hatte dem Trasteveriner Wort gehalten; es unterlag keinem Zweifel mehr, der Mann mit dem Mantel war der Graf. Die drei Fenster waren noch leer. Man traf übrigens auf allen Seiten Vorbereitungen, man stellte Stühle, schlug Gerüste auf undbehing die Fenster. Erst mit dem Klange der Glocke durften die Masken erscheinen und die Wagen fahren.

Franz, Albert und der Graf setzten ihren Weg auf dem Korso fort. Je mehr sie sich der Piazza del popolo näherten, desto dichter wurde die Menge, und schon sah man über den Häuptern des Volkes zwei Gegenstände emporragen: im Mittelpunkt des Platzes den Obelisken, überragt von einem Kreuze, und davor diebeiden oberstenBalken des Schafotts, zwischen denen das runde Eisen glänzte.

An der Ecke der Straße fand man den Intendanten des Grafen, der seinen Herrn erwartete. Das gemietete Fenster gehörte zu dem zweiten Stocke des zwischen der Strada delBabuino und dem Monte Pincio liegenden großen Palastes. Es lag in einem Ankleidekabinett, das in ein Schlafzimmer ging; schloß man die Tür des Schlafzimmers, so waren die Mieter des Kabinetts für sich allein; auf den Stühlen lagen die zierlichstenBajazzo‑Anzüge von weiß‑blauem Atlas.

Da Sie mir die Wahl der Tracht überließen, so wählte ich diese, sagte der Graf. Einmal wird sie in diesem Jahre am meisten Mode sein, und dann ist sie dasBequemste für die Konfetti, da man das Mehl nicht daraufbemerkt.

Franz hörte kaum die Worte des Grafen, denn seine ganze Aufmerksamkeit war von dem Schauspiel, das die Piazza del popolobot, und von dem furchtbaren Werkzeuge gefesselt, das zu dieser Stunde ihren Hauptzierratbildete. Er sah zum erstenmal eine Guillotine.

Zwei Männer, die Gehilfen des Nachrichters, die auf demBrette saßen, woraus man den Verurteilten legt, frühstückten in Erwartung der Dinge und aßen, soviel Franz sehen konnte, Brot und Würste; der eine hobdasBrett auf, zog eine Flasche Wein hervor, trank einen Schluck und reichte sie seinem Kameraden. Schonbei diesem Anblick fühlte Franz den Schweiß an den Wurzeln seiner Haare hervorbrechen.

Am Abend zuvor von den neuen Gefängnissen in die kleine Kirche Santa‑Maria‑del‑Popolo geführt, hatten die Verurteilten, jeder unter demBeistande von zwei Priestern, die Nacht in einer schwarz ausgeschlagenen Kapelle zugebracht, die mit einem Gitter verschlossen war, vor dem Schildwachen auf und abgingen. Eine doppelte Reihe von Carabinieri stand von der Kirchentürbis zumBlutgerüst, um das herum sich diese Doppelreihe schloß. Der ganze übrige Platz war mit Männer- und Frauenköpfen wie gepflastert, während viele Frauen ihre Kinder auf den Schultern hielten.

Der Monte Pincio sah aus wie ein weites Amphitheater, dessen Plätze insgesamt mit Zuschauern überfüllt waren; dieBalkone der Kirchen waren vonbevorzugten Neugierigen vollgepfropft; jeder Mauervorsprung trug lebendige Statuen. Was der Graf sagte, entsprach also der Wahrheit: das Interessanteste im Leben ist das Schauspiel des Todes. Und dennoch stieg statt des Stillschweigens, das die Feierlichkeit dieser Szene zu fordern schien, ein Geräusch aus dieser Menge empor, das sich aus Gelächter, Gezisch und freudigem Geschrei zusammensetzte; die Hinrichtung war eben, wie der Graf ebenfalls gesagt hatte, für all dieses Volk nichts anderes, als der Anfang des Karnevals.

Plötzlich hörte der Lärm wie durch einen Zauberschlag auf; die Tür der Kirche hatte sich geöffnet. Mönche von derBrüderschaft derBüßer, deren Mitglieder insgesamt in graue, nur an den Augen ausgehöhlte Säcke gekleidet waren und eine angezündete Kerze in der Hand hielten, erschienen zuerst. Hinter denBüßern kam ein Mensch von hoher Gestalt; dieser Mensch war nackt, abgesehen von einer Leinwandhose, an deren linker Seite er ein großes in seiner Scheide verborgenes Messerbefestigt hatte; auf der Schulter trug er eine schwere eiserne Keule. Es war der Henker. Unter den Füßen hatte er noch mit Stricken angebundene Sandalen. Hinter dem Henker marschierten in der Ordnung, in der sie hingerichtet werden sollten, zuerst Peppino und dann Andrea, jeder von zwei Priesternbegleitet. Keiner hatte die Augen verbunden. Peppino ging festen Schrittes einher; ohne Zweifel hatte er Kunde von dem, was sich für ihn vorbereitete. Andrea wurde unter dem Arme durch einen Priester unterstützt. Beide küßten von Zeit zu Zeit das Kruzifix, das ihnen derBeichtiger darbot.

Franz fühlte, wie ihmbei diesem Anblick dieBeine den Dienst versagten; er schaute Albert an. Dieser warblaß wie sein Hemd und warf unwillkürlich seine Zigarre von sich. Nur der Graf allein sah unempfindlich aus. Mehr noch, es schien sogar eine leichte Röte die Leichenblässe seiner Wangen durchdringen zu wollen. Seine Nase erweiterte sich wie die eines wilden Tieres, dasBlut riecht. Bei alledem hatte sein Antlitz einen Ausdruck lächelnder Sanftmut, den Franz nie an ihm wahrgenommen; seine Augenbesonders waren vonbewunderungswürdiger Weichheit und Milde.

Die Verurteilten setzten indessen den Weg nach dem Schafott fort, und ihre Gesichtszüge ließen sich nach und nach deutlicher unterscheiden. Peppino war ein hübscher Junge von etwa 25 Jahren, mit sonnverbranntem Gesichte und freiem, wildemBlicke. Er trug den Kopf hoch und schien den Wind einzuziehen, als wollte er sehen, von welcher Seite seinBefreier käme. Andrea war dick und kurz; sein gemein grausames Gesicht ließ das Alter nicht genau erkennen; er mochte jedoch ungefähr dreißig Jahre zählen. Im Gefängnis hatte er seinenBart wachsen lassen. Der Kopf fiel ihm auf eine Schulter herab, seineBeinebogen sich unter der Last; sein Körper schien nur einem mechanischen Triebe zu gehorchen, an dem sein Wille keinen Teil mehr hatte.

Wie mir scheint, kündigten Sie uns an, es würde nur eine Hinrichtung stattfinden? sagte Franz zu dem Grafen.

Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt, antwortete er kalt.

Hier sind aber zwei Verurteilte.

Ja, doch von den zwei Verurteilten ist der eine dem Tode nahe, während der andere noch lange Jahre zu leben hat.

Soll die Gnade kommen, so ist meiner Ansicht nach keine Zeit zu verlieren.

Sie kommt schon, sehen Sie dort! sagte der Graf.

In dem Augenblick, wo Peppino am Fuße des Schafotts anlangte, drang einBüßer, der sich verspätet zu haben schien, durch die Hecke der Soldaten, ohne daß diese Widerstand leistete, eilte auf den Anführer derBrüderschaft zu und überreichte ihm ein zusammengelegtes Papier. Peppinos glühenderBlick war diesem Vorgang mit äußerster Spannung gefolgt. Der Anführer derBrüderschaft entfaltete das Papier, las es, hobdie Hand auf und sagte mit lauter, verständlicher Stimme:

Der Herr sei gesegnet und Seine Heiligkeit sei gelobt! Man hat dem Leben eines Gefangenen Gnade angedeihen lassen.

Gnade! rief das Volk mit einem Schrei; begnadigt!

Bei dem Worte schien Andrea emporzuspringen und den Kopf aufzurichten.

Gnade für wen? rief er.

Die Todesstrafe ist Peppino, genannt Rocca Priori, erlassen. antwortete der Anführer der Priesterschaft und übergabdas Papier dem die Carabinieribefehligenden Kapitän, der es ihm, nachdem er es gelesen hatte, zurückstellte.

Gnade für Peppino! rief Andrea, völlig aus der Starrheit erwachend, in die er versunken zu sein schien. Warum Gnade für ihn und nicht für mich? Wir sollten miteinander sterben, man versprach mir, er würde vor mir sterben, man darf mich nicht allein sterben lassen; ich will nicht allein sterben, nein, ich will nicht.

Und er hing sich an die Arme der Priester und krümmte sich und heulte undbrüllte und strengte sich wahnsinnig an, die Stricke zu zerreißen, mit denen seine Hände gebunden waren. Der Henker machte seinen Gehilfen ein Zeichen: sie sprangen vom Schafott herabundbemächtigten sich des Verurteilten.

Was gibt es denn? fragte Franz den Grafen, denn da alles in römischer Mundart gesprochen wurde, hatte er's nicht gut verstanden.

Was es gibt? erwiderte der Graf, erraten Sie es nicht? Dieser Mensch, der sterben soll, ist wütend darüber, daß der andre nicht mit ihm stirbt, und wenn man ihn gewähren ließe, würde er ihn eher mit seinen Nägeln und Zähnen zerreißen, als ihn das Leben genießen lassen, dessen er selbstberaubt werden soll. Oh! Menschen, Menschen! Krokodilenbrut, wie Karl Moor sagt, rief er, seinebeiden Fäuste nach der Menge ausstreckend, wie erkenne ich euch hier, und wie sehr seid ihr jeder Zeit euer selbst würdig.

Andrea und diebeiden Gehilfen des Henkers wälzten sich wirklich im Staube, wobei der Verurteilte fortwährend ausrief: Er muß sterben, ich will, daß er sterbe, man hat nicht das Recht, mich allein umzubringen. Die Knechte trugen Andrea schließlich auf das Schafott, alles Volk nahm gegen ihn Partei, und zwanzigtausend Stimmen riefen wie mit einem Schrei: Tötet ihn! tötet ihn! Franz warf sich zurück, aber der Graf ergriff ihn am Arm und hielt ihn am Fenster fest.

Was machen Sie denn? sagte er zu ihm; Mitleid? Das wäre in der Tat gut angebracht! Wenn Sie rufen hörten: Dort ist ein wütender Hund! so würden Sie Ihr Gewehr nehmen, auf die Straße eilen und das arme Tier niederschießen, dessen ganze Schuld am Ende darinbestände, daß es, von einem andern Hunde gebissen, das, was man ihm getan, vergilt. Und Sie haben Mitleid mit einem Menschen, den kein anderer Mensch gebissen, und der dennoch seinen Wohltäter umgebracht hat, und nun, da er nicht mehr umbringen kann, weil seine Hände gebunden sind, mit aller Gewalt seinen Kerkergefährten, seinen Unglückskameraden sterben sehen will? Sehen Sie, sehen Sie!

Diese Ausforderung war überflüssig geworden, Franz war von dem furchtbaren Schauspiel wie von einemBlendwerk ergriffen. Die Knechte hatten den Verurteilten auf das Schafott geschleppt und ihn hier, trotz seines Widerstrebens, seinesBeißens, seines Geschreis, genötigt, sich auf die Knie zu werfen; währenddessen stellte sich der Henker an seine Seite und hielt die Keule empor; auf ein Zeichen zogen sich die Gehilfen zurück. Der Verurteilte wollte sich erheben, doch ehe er dazu Zeit hatte, fiel die Keule auf seine linke Schläfe; man hörte ein dumpfes, mattes Geräusch, und der Verbrecher stürzte mit dem Gesicht voran wie ein geschlagener Ochs zur Erde. Der Henker ließ nun die Keule aus seinen Händen sinken, zog das Messer aus seinem Gürtel und öffnete dem Opfer mit einem Schnitte die Gurgel.

Nun konnte es Franz nicht mehr aushalten; er warf sich zurück und fiel halbohnmächtig in einen Lehnstuhl. Albertbliebmit geschlossenen Augen auf seinen Füßen, klammerte sich aber an den Vorhängen an, ohne deren Unterstützung er gewiß gefallen wäre.

Der Graf stand aufrecht und triumphierend wie der Racheengel.

Der Karneval in Rom

Als Franz zu sich kam, erblickte er Albert, der ein Glas Wasser trank, was er, nach seinerBlässe zu urteilen, sehr nötig hatte, und den Grafen, derbereits die Tracht einesBajazzo anlegte. Auf dem Platze war alles verschwunden, Schafott, Henker, Opfer; nur das geräuschvolle, geschäftige, lustige Volk war noch übrig; die Glocke des Monte‑Citorio, die nurbeim Tode des Papstes undbei der Eröffnung des Karnevals hörbar wird, ertönte in vollen Schwingungen.

Nun! fragte er den Grafen, was ist denn vorgefallen?

Nichts, durchaus nichts, wie Sie sehen, erwiderte der Graf; der Karneval hat nunbegonnen, und wir wollen uns ankleiden.

In der Tat, sagte Franz, von dieser ganzen furchtbaren Szene ist nichts mehr vorhanden, als die Spur eines Traumes.

Weil es nichts anderes ist, als ein Traum, ein Alp, den Sie gehabt haben.

Ja, ich, aber der Verurteilte?

Auch für ihn ist es ein Traum, nur ist er eingeschlafen geblieben, während Sie erwacht sind; und wer vermag zu sagen, welcher vonbeidenbesser daran ist?

Und Peppino, fragte Franz, was ist aus ihm geworden?

Peppino ist ein Mensch von Verstand und ohne alle Eitelkeit. Während sonst die Leute wütend darüber werden, wenn man sich nicht mit ihnenbeschäftigt, war er entzückt, als er sah, daß sich die allgemeine Aufmerksamkeit seinem Kameraden zuwandte; erbenutzte daher die Zerstreuung, um unter die Menge zu schlüpfen und zu verschwinden, ohne auch nur den würdigen Priestern, die ihnbegleitet hatten, zu danken. Der Mensch ist offenbar ein sehr undankbares und selbstsüchtiges Geschöpf… Doch kleiden Sie sich an! Sie sehen, Herr von Morcerf geht Ihnen mit gutemBeispiel voran.

Albert zog mechanisch seine Taffethose über seine schwarzenBeinkleider und seine Lackstiefel.

Nun, Albert, fragte Franz, sind Sie wirklich im Zuge, Karnevalstollheiten zubegehen? Sprechen Sie offenherzig.

Nein, aber es ist mir lieb, daß ich eine solche Szene gesehen habe, und ichbegreife nun, was der Herr Graf sagte. Hat man sich einmal an ein solches Schauspiel gewöhnen können, so ist es das einzige, das noch Aufregung gewährt.

Abgesehen davon, daß man in diesem Augenblick allein Charakterstudien machen kann, sagte der Graf. Auf der ersten Stufe des Schafotts reißt der Tod die Larve ab, die man das ganze Leben hindurch getragen hat, und das wahre Gesicht erscheint. Man muß gestehen, Andreas war nicht schön anzuschauen… der häßliche Schuft!.. Kleiden wir uns an, meine Herren! Ich fühle dasBedürfnis, Pappenmasken zu sehen, um mich über die Fleischmasken zu trösten.

Franz schämte sich, demBeispiel derbeiden andern nicht zu folgen. Er legte daher ebenfalls sein Kostüm an und nahm seine Maske, die sicher nichtbleicher war als er. Als alle drei mit der Toilette fertig waren, gingen sie hinunter. Der Wagen wartete vor der Tür, voll von Confetti und Sträußen. Man schloß sich der Reihe an.

Es läßt sich kaum ein vollständigerer Gegensatz denken, als der, welcher sich jetzt vollzogen hatte. Statt der düsteren, schweigsamen Todesszenebot die Piazza del popolo den Anblick einer tollen, brausenden Orgie. Eine Menge von Masken drängte von allen Seiten hervor, strömte aus allen Türen, stieg von allen Fenstern herab; mit Pierrots, Harlekins, Dominos, Marquis, mit Trasteverinern, Grotesken, Kavalieren undBauernbeladen, quollen die Wagen aus allen Straßenecken hervor, und alles schrie, gestikulierte, schleuderte Eier voll Mehl, Confetti, Sträuße, griff mit Worten und Geschossen Freunde und Fremde, Bekannte und Unbekannte an, ohne daß jemand das Recht hatte, sich darüber zu ärgern, ohne daß auch nur einer etwas anderes tat, als lachen.

Franz und Albert waren wie Menschen, die man, um sie von einem heftigen Kummer zu zerstreuen, zu einer Orgie führt, und die, je mehr sie trinken und sichberauschen, fühlen, wie sich ein immer dichterer Schleier zwischen die Vergangenheit und die Gegenwart zieht. Sie sahen immer noch den Wiederschein dessen, was sie geschaut hatten. Aber allmählich erfaßte sie doch die allgemeine Trunkenheit; es kam ihnen vor, als sei ihre schwankende Vernunft imBegriff, sie zu verlassen, sie verspürten in sich dasBedürfnis, an diesem Geräusch, an dieserBewegung, an diesem Schwindel teilzunehmen. Eine Handvoll Confetti (etwa erbsengroße Wurfkügelchen aus Gips), die Morcerf von einembenachbarten Wagen zuflog, prickelte ihn am Halse und an allen Teilen seines Gesichts, die nicht durch die Maske geschützt waren, als hätte man ihm hundert Nadeln zugeworfen, und dies zog ihn vollends in den allgemeinen Kampf hinein, in denbereits alle Masken verwickelt waren. Er erhobsich nun auch in seinem Wagen, schöpfte mit vollen Händen aus den Taschen und schleuderte mit aller ihm zu Gebote stehenden Kraft und Geschicklichkeit seine Geschosse gegen seine Nachbarn. Von nun an nahm der Kampf ununterbrochen seinen Fortgang. Die Erinnerung an das, was sie eine halbe Stunde zuvor gesehen, verwischte sichbei Franz und Albert völlig, so viel Abwechslungbot ihnen dasbuntscheckige, bewegliche, tolle Schauspiel, das sie vor sich hatten. Auf den Grafen von Monte Christo dagegen schien nichts einenbesonderen Eindruck hervorbringen zu können.

Man denke sich die große, schöne Straße des Korso, von einem Ende zum andern mit Palästen von vierbis fünf Stockwerken eingefaßt, derenBalkone insgesamt mit Teppichen verziert, deren Fenster alle reich drapiert sind, auf diesenBalkonen und an diesen Fenstern dreimal hunderttausend Zuschauer, Römer, Italiener, Fremde aus allen Weltteilen; alles Vornehme vereinigt: Aristokraten der Geburt, des Geldes und des Genies; reizende Frauen, die, von diesem Schauspiel hingerissen, sich über dieBalkone herabneigen, aus den Fenstern sichbeugen und auf die vorüberfahrenden Wagen einen Hagel von Confetti regnen lassen, auf den man ihnen mit Sträußen erwidert, bis die Luft ganz voll ist von herabfliegenden Dragées (Zuckerwerk) und hinaufsteigendenBlumen. Dazu auf der Straße eine freudige, rastlose, tolle Menge in den phantastischen Trachten und Gestalten: wandernde Kohlköpfe, Büffelköpfe, auf menschlichen Leibernbrüllend, Hunde, die auf den Vorderbeinen zu gehen schienen; und mitten darunter eine Maske, die sich lüftet, oder irgend eine Astarte, die ein reizendes Gesicht zeigt, von dem man aber, wenn man ihm folgen will, durch Dämonen getrennt wird, wie man sie nur in seinen Träumen sieht; — man versuche, sich das alles vereinigt vorzustellen, und man hat einen schwachenBegriff von dem, was der Karneval in Rom ist.

Bei der zweiten Fahrt ließ der Graf den Wagen halten, bat die Freunde um Erlaubnis, sie verlassen zu dürfen, und stellte die Kalesche zu ihrer Verfügung. Manbefand sich vor dem Palaste Rospoli, und an dem mittleren Fenster, woran der weiße Damastvorhang mit einem roten Kreuz angebracht war, stand ein Domino, unter dem sich Franzens Einbildungskraft ohne Mühe die schöne Griechin des Teatro Argentina vorstellte.

Meine Herren, sagte der Graf, aus dem Wagen springend, sind Sie müde, Schauspieler zu sein, und wollen Sie wieder Zuschauer werden, so wissen Sie, daß Sie Platz an meinen Fenstern haben; inzwischen verfügen Sie über meinen Kutscher, meinen Wagen und meineBedienten.

Franz dankte dem Grafen für sein höfliches Anerbieten. Die Freunde fuhren davon, nutzten das lustige Karnevalsfest noch gehörig aus und amüsierten sichbis zum späten Abend, um wiederum das Theater zubesuchen.

Im Foyer trafen sie mit der Gräfin zusammen, die ihnen mit allen Zeichen der Ungeduld entgegenkam und Franz hastig fragte: Ich hörte, daß Siebereits heute mit ihm inBeziehung traten. Wie heißt er? Sprechen Sie, ich muß näheres über ihn erfahren.

Lächelnd verbeugte sich Franz und erwiderte der schönen Frau: Allerdings habe ich schon seit heute morgenbei einem vorzüglichen Frühstück dieBekanntschaft des Grafen von Monte Christo gemacht.

Was für ein Name ist dies? Ich kenne das Geschlecht nicht.

Es ist der Name einer Insel, die er gekauft hat.

Und er ist Graf?

Toskanischer Graf.

So werden wir ihn dulden wie die andern, sagte die Gräfin, die einer der ältesten Familien aus Venetien angehörte. Und was für ein Mann ist er im übrigen? wandte sich die Gräfin an den Vicomte von Morcerf.

Oh, uns gefällt er ausgezeichnet, antwortete Albert; ein zehnjähriger Freund hätte nicht mehr für uns getan, als er, und dies mit einer Anmut, einer Zartheit, einer Höflichkeit, worin sich der wahre Weltmann offenbart.

Gehen Sie, versetzte die Gräfin lachend. Sie werden sehen, mein Vampir ist nichts als ein plötzlich reichgewordener Emporkömmling, der für seine Millionen Verzeihung sucht. Und sie haben Sie auch gesehen?

Welche sie? fragte Franz lächelnd.

Die schöne Griechin von gestern.

Nein. Wir hörten, wie ich glaube, den Ton ihrer Zither, doch siebliebvöllig unsichtbar.

Das heißt, wenn Sie unsichtbar sagen, mein lieber Franz, unterbrach Albert, so geschieht dies nur, um den Geheimnisvollen zu spielen. Für wen halten Sie denblauen Domino, der an dem mittleren Fenster mit dem weißen Damastvorhang im Palaste Rospoli stand? — Der Graf hatte also drei Fenster im Palaste Rospoli? Dieser Mensch muß ein wahrer Nabobsein. Wissen Sie, daß drei solche Fenster für acht Karnevalstage 2–3000 römische Taler kosten? Ah, Teufel! — Bezieht er diese Einkünfte von seiner Insel? — Seine Insel trägt ihm keinen Heller ein. — Warum hat er sie dann gekauft? — Aus Phantasie. — Er ist also ein Original? — Ich kann es nicht leugnen, er kam mir sehr exzentrisch vor, sagte Albert.

Es war Zeit geworden, sich zu verabschieden, und diebeiden Freunde verließen die Gräfin. Die nächsten Tage vergingen im Taumel der Vergnügungen, und endlich kam der Dienstag, der letzte und lärmendste von den Karnevalstagen. Am Dienstag öffneten sich die Theater um zehn Uhr morgens, denn sobald acht Uhr abends vorüber ist, beginnt die Fastenzeit. Am Dienstag mischt sich alles, was aus Mangel an Zeit, Geld oderBegeisterung an den vorhergehenden Festen nicht teilgenommen hat, in dasBacchanal, läßt sich von der Orgie fortreißen undbringt seinen Tribut an Leben und Lärm zu der allgemeinen Tollheit. Von zwei Uhrbis fünf Uhr folgten Franz und Albert der Reihe, tauschten Hände voll Confetti mit den Wagen der entgegengesetzten Reihe und den Fußgängern aus, die zwischen den Füßen der Pferde, zwischen den Rädern der Karrossen umherschwärmten, ohne daß mitten unter diesem furchtbaren Gedränge ein Unfall geschah oder irgend ein Streit entstand. Die Italienerbilden in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Die Feste sind für sie wahre Feste.

Albert triumphierte in seinerBajazzotracht. Er trug auf der Schulter einen Knoten von rosaBändern, deren Enden ihmbis zu den Knien herabfielen, um keine Verwechslung zwischen ihm und Franz herbeizuführen, der seinerseits in der Tracht eines römischenBauern steckte.

Je mehr der Tag vorrückte, desto größer wurden Lärm und Gedränge; es war in der Tat ein menschliches Ungewitter, das sich aus einem Donner schreiender Stimmen und einem Hagel von Dragées, Sträußen, Eiern, Orangen undBlumen zusammensetzte. Um drei Uhr verkündigtenBöllerschüsse, die zu gleicher Zeit auf der Piazza del popolo und im venetianischen Palaste gelöst wurden, daß das Wettrennenbeginne.

Das Wettrennen ist, wie die Moccoli, einebesondere Eigenheit der letzten Tage des Karnevals. Bei dem Krachen derBöllerbrachen die Wagen sofort aus ihren Reihen und flüchteten sich in die nächste Querstraße. Alle diese Szenenwechsel vollziehen sich übrigens mit unbegreiflicher Geschicklichkeit und wunderbarer Geschwindigkeit, und zwar ohne daß die Polizei nur im geringsten nötig gehabt hätte, jedem seinen Posten anzuweisen oder seinen Weg vorzuschreiben. Die Fußgänger drückten sich an die Paläste, dann hörte man ein gewaltiges Geräusch von Pferden und Säbelrasseln.

Eine fünfzehn Mann starke Abteilung von Carabinieri sprengte im Galopp durch die Straße des Korso, um den Wettrennern Platz zu machen. Als diese Abteilung zum venetianischen Palaste gelangte, verkündigte eine zweiteBatterie vonBöllern, daß die Straße frei sei.

Beinahe im selben Augenblick sah man unter allgemeinem, unerhörtem Geschrei siebenbis acht Reiter, vom Zuruf von dreimal hunderttausend Personen angestachelt, vorüberjagen; dann verkündigten drei Kanonenschüsse vom Kastell St. Angelo, daß Nummer 3 gewonnen habe.

Sogleich setzten sich die Wagen wieder inBewegung, strömten gegen den Korso zurück und mündeten aus allen Straßen aus. Nun hatte sich ein neues Element des Lärmens und derBewegung in die Menge gemischt: die Moccolihändler traten in Szene.

Die Moccoli oder Moccoletti sind Kerzen von verschiedener Dicke, diebei den Schauspielern dieser Schlußszene des römischen Karnevals zweierlei Tätigkeiten auslösen: erstens, das eigene Moccolettobrennend zu erhalten, zweitens, das anderer auszulöschen.

Das Moccoletto wird an irgend einem Lichte angezündet. Wer aber vermöchte die tausend Mittel zubeschreiben, die erfunden worden sind, um das Moccoletto auszulöschen… die Riesenohrfeigen, die ungeheuren Löschhörner, die übermenschlichen Windfächer? Allebeeilten sich, Moccoletti zu kaufen, Franz und Albert so gut wie die andern.

Die Nacht rückte rasch heran, undbereitsbegannenbei dem tausendfachen schrillen Rufe der Händlern» Moccoli!«einige Sterne über der Menge zu glänzen. Es war dies wie ein Signal. Nach Verlauf von zehn Minuten funkelten fünfzigtausend Lichter von dem venetianischen Palaste nach der Piazza del popolo herab, und von der Piazza del popolo nach dem venetianischen Palaste hinauf. Man hätte glauben sollen, es sei das Fest der Irrlichter; denn man kann sich in der Tat von diesem Anblick, wenn man nicht einmal Augenzeuge davon gewesen ist, keinenBegriff machen.

In diesem Augenblickbesonders gibt es keinen gesellschaftlichen Unterschied mehr. Der Facchino hängt sich an den Prinzen, der Prinz an den Trasteveriner, der Trasteveriner an denBürger… Jederbläst, löscht aus, zündet wieder an. Das tolle Lichterspiel dauerte ungefähr zwei Stunden; der Korso war erleuchtet wie am hellen Tage, man konnte die Züge der Zuschauer im dritten und vierten Stocke unterscheiden.

Plötzlich erscholl die Glocke, die das Signal zum Schlusse des Karnevals gibt, und in einer Sekunde erloschen wie durch einen Zauber alle Moccoli. Es war, als obein einziger, ungeheurer Windstoß alles vernichtet hätte. Franz, den Albert mit derBemerkung, er gehe zu einem Stelldichein, verlassen hatte, befand sich in der tiefsten Finsternis. Man hörte jetzt nur noch das Rollen der Wagen, die die Masken nach Hause führten, und sah nur spärliche Lichter hinter den Fenstern glänzen.

Der Karneval war zu Ende.

Die Katakomben von San Sebastiano

Franz hatte vielleicht in seinem Leben keinen so scharfen, schneidenden Eindruck, keinen so raschen Übergang von der Heiterkeit zur Traurigkeit erfahren, als in diesem Augenblick; es war, als hätte sich Rom unter dem magischen Hauche eines Dämons der Nacht in ein Grabverwandelt. Da der abnehmende Mond erst um elf Uhr abends aufging, so waren die Straßen, durch die der junge Mann fuhr, noch in die tiefste Finsternis versenkt. Nach Verlauf von zehn Minuten hielt sein Wagen oder vielmehr der des Grafen vor dem Gasthofe zur Stadt London.

Das Diner harrte der Freunde; da jedoch Albert erwähnt hatte, er gedenke nicht sobald zurückzukehren, so setzte sich Franz ohne ihn zu Tische. Gewohnt, sie miteinander speisen zu sehen, erkundigte sich Herr Pastrini nach der Ursache seiner Abwesenheit, aber Franzbegnügte sich, ihm zu erwidern, Albert habe am Tage zuvor eine Einladung erhalten, der er Folge leiste. Das plötzliche Auslöschen der Moccoletti, die Dunkelheit, die auf den maßlosen Lärm folgende Stille hatten Franz in eine traurige Stimmung versetzt, die nicht ganz frei von Unruhe war. Er speiste also sehr schweigsam, trotz der Dienstfertigkeit seines Wirtes, der wiederholt erschien, um zu fragen, ober nichtsbedürfe.

Franz war entschlossen, solange als möglich auf Albert zu warten. Erbestellte daher den Wagen erst auf elf Uhr undbeauftragte Pastrini, ihn sogleichbenachrichtigen zu lassen, wenn Albert zurückkehrte. Um elf Uhr war dies noch nicht geschehen. Franz kleidete sich an und entfernte sich mit derBemerkung, er würde die ganze Nachtbei dem Herzog vonBracciano, bei dem die Freunde zu einemBalle geladen waren, zubringen.

Das Haus des Herzogs vonBracciano gehörte zu den gesuchtesten Häusern Roms; die Herzogin, eine der letzten Erbinnen der Colonna, war eine der gefeiertsten Damen der ewigen Stadt, und die Feste, die der Herzog gab, hatten europäischen Ruf. Franz und Albert waren mit Empfehlungsbriefen an ihn nach Rom gekommen, er fragte deshalbFranz auch sogleich, wo sein Reisegefährte geblieben sei. Franz erwiderte dem Herzog, er habe ihn in dem Augenblick, wo man die Moccoletti ausgelöscht, verlassen und sei ihmbei der Via Macello aus dem Gesichte gekommen.

Er ist also nicht nach Hause zurückgekehrt? fragte der Herzog.

Ich erwartete ihnbis zu dieser Stunde.

Wissen Sie, wohin er gegangen ist?

Nicht genau; ich glaube jedoch, es handelt sich um ein Stelldichein.

Teufel! rief der Herzog; das ist ein übler Tag, oder vielmehr eine üble Nacht, um noch spät außen zubleiben, nicht wahr, Frau Gräfin?

Diese Worte waren an die Gräfin G*** gerichtet, die soeben erschien und am Arme des Herrn Torlonia, desBruders des Herzogs, auf und abging.

Mir scheint im Gegenteil, daß es einebezaubernde Nacht ist, entgegnete die Gräfin, und die, welche sich hierbefinden, werden nur klagen, daß sie so schnell vorübergeht.

Ich spreche auch nicht von den Personen, die hier sind, versetzte der Herzog lächelnd; die Männer laufen keine andere Gefahr, als die, in Sie verliebt zu werden, die Frauen keine andere, als vor Eifersucht zu sterben, wenn sie Ihre Schönheit erschauen; ich spreche von denen, die in den Straßen der Stadt umherlaufen.

Ei! guter Gott, fragte die Gräfin, wer läuft zu dieser Stunde aus den Straßen umher, wenn nicht, um auf denBall zu gehen?

Unser Freund Albert von Morcerf, Frau Gräfin, den ich heute abend um sieben Uhr, als er einer Unbekannten folgte, verlassen und seitdem nicht wieder gesehen habe, sagte Franz. Hat er Waffenbei sich?

Er geht in der Tracht einesBajazzo.

Sie hätten ihn nicht sollen gehen lassen, sagte der Herzog zu Franz, Sie, der Sie Rombesser kennen, als er.

Oh! es wäre ebenso leicht gewesen, Nummer 3 der Wettrenner, die heute den Preis gewonnen hat, aufzuhalten als ihn zu hindern; und dann, was soll ihm geschehen?

Wer weiß? Die Nacht ist sehr finster, und der Tiber ganz nahebei der Ria Macello.

Franz fühlte, wie ihm ein Schauer durch die Adern lief, als er fand, daß die Gedanken des Herzogs und der Gräfin so sehr mit seiner persönlichen Unruhe im Einklang standen.

Ich habe auch im Gasthofebemerkt, ich würde die Nacht hier zubringen, und manbenachrichtigt mich, sobald er zurückkommt, versetzte Franz.

Halt, sprach der Herzog, ich glaube, es kommt hier gerade einer von meinen Dienern, der Sie sucht.

Der Herzog täuschte sich nicht, der Diener näherte sich Franz und sagte: Exzellenz, der Gastwirt von der Stadt London läßt Ihnen melden, daß Sie ein Mann mit einemBriefe des Vicomte von Morcerfbei ihm erwarte.

Warumbrachte er denBrief nicht hierher?

DerBote hat mir keine Erklärung gegeben.

Und wo ist der Bote?

Er ging sogleich wieder weg, als er mich in denBallsaal eintreten sah, um Sie zubenachrichtigen.

Oh! mein Gott! sagte die Gräfin zu Franz, gehen Sie schnell; es ist ihm vielleicht ein Unglück widerfahren, und kommen Siebald zurück, uns Kunde zu geben.


Franz nahm seinen Hut und entfernte sich in größter Eile. Er hatte seinen Wagen weggeschickt und erst auf zwei Uhr wiederbestellt, aber zum Glück ist der PalastBracciano kaum zehn Minuten von der Stadt London entfernt. Als sich Franz dem Gasthofe näherte, sah er einen Menschen mitten auf der Straße stehen, von dem er keinen Augenblick zweifelte, daß er der von Albert abgeschickteBote sei. Er ging auf den Menschen, der in einen langen Mantel gehüllt war, zu; doch zu seinem großen Erstaunen richtete der Unbekannte zuerst das Wort an ihn.

Was wollen Sie von mir, Exzellenz? sagte er, einen Schritt zurückweichend, wie ein Mensch, der auf seiner Hut ist. Seid Ihr es nicht, der mir einenBrief vom Vicomte von Morcerfbringt? entgegnete Franz.

Wie heißt Eure Exzellenz?

Baron Franz d'Epinay.

Dann ist dieserBrief wohl an Eure Exzellenz gerichtet.

Bedarf er einer Antwort? fragte Franz, denBrief aus den Händen des Unbekannten nehmend.

Ja, wenigstens hofft Ihr Freund auf eine Antwort.

So kommt mit mir herauf, und ich werde sie Euch geben.

Ich will lieber hier warten, sagte derBote lachend.

Warum?

Eure Exzellenz wird die Sachebegreifen, wenn sie denBrief gelesen hat.

Franz ging in den Gasthof; auf der Treppebegegnete er Pastrini, der ihn mit verstörter Miene erwartet hatte. Franz entfaltete rasch das Papier. DerBrief war von Alberts Hand geschrieben und von ihm unterzeichnet. Franz las ihn zweimal, so überrascht war er von seinem Inhalt. Er lautete:

«Lieber Freund!

Sobald Sie Gegenwärtiges empfangen, haben Sie die Gefälligkeit, aus meinem Portefeuille, das Sie in der viereckigen Schublade des Sekretärs finden werden, den Kreditbrief zu nehmen; nehmen Sie den Ihrigen dazu, wenn meiner nicht reicht. Laufen Sie zu Torlonia, lassen Sie sich auf der Stelle viertausend Piaster geben, und händigen Sie dieselben dem Überbringer ein. Es ist dringend, daß mir diese Summe ohne Verzug zukommt. Ich sage nicht mehr, da ich auf Sie zähle, wie Sie auf mich zählen können. N. S. Ibelieve now in Italianbandits. [Fußnote]

Ihr Freund Albert von Morcerf

Unter diese Zeilen waren von fremder Hand folgende italienische Worte geschrieben:

Se alle sei della mattina le quattro mille piastre non sono nelle miei mani, alle sette il conte Alberto avrà cessto di vivere. [Fußnote]

Luigi Vampa

Die zweite Unterschrift erklärte Franz alles, und erbegriff das Widerstreben desBoten, zu ihm heraufzukommen; die Straße schien ihm sicherer als Franzens Zimmer. Albert war in die Hände desberüchtigtenBanditenführers gefallen, an dessen Existenz er so lange nicht hatte glauben wollen.

Es war keine Zeit zu verlieren. Er lief an den Sekretär, öffnete ihn, fand in derbezeichneten Schublade das Portefeuille, und in dem Portefeuille den Kreditbrief; er war im ganzen auf 6000 Piaster ausgestellt; aber von diesen 6000 Piastern hatte Albertbereits 3000 verbraucht. Franzbesaß keinen Kreditbrief; da er in Florenz wohnte und nur nach Rom gekommen war, um hier siebenbis acht Tage zubleiben, so hatte er etwa 100 Louisd'or mitgenommen, und davonblieben ihm höchstens noch 50. Es waren also noch 7bis 800 Piaster erforderlich, wenn Franz und Albert die verlangte Summe zusammenbringen sollten. Allerdings konnte Franz auf die Gefälligkeit des Herrn Torlonia rechnen, und er war daher auch schon imBegriff, in den PalastBracciano zurückzukehren, als ein leuchtender Gedanke seinen Geist durchblitzte.

Der Graf von Monte Christo fiel ihm ein. Franz wollte eben den Wirt rufen lassen, als dieser auf der Türschwelle erschien.

Mein lieber Herr Pastrini, sagte er, glauben Sie, daß der Graf zu Hause ist?

Ja, Exzellenz, er ist soeben zurückgekommen.

Ichbitte Sie, fragen Sie ihn für mich um Erlaubnis, ihn einen Augenblick sprechen zu dürfen.

Der Wirtbeeilte sich, diesen Auftrag zu vollziehen; fünf Minuten nachher meldete er Franz, der Graf erwarte ihn. Franz durchschritt rasch den Gang, ein Diener führte ihnbei dem Grafen ein. Erbefand sich in einem kleinen, ganz von Diwans umgebenen Kabinett, das Franz noch nicht gesehen hatte. Der Graf kam ihm entgegen.

Ei! welcher gute Wind führt Sie zu dieser Stunde hierher? sagte er. Sollten Sie das Abendessen mit mir nehmen wollen? Das wäre sehr liebenswürdig.

Nein, ich komme wegen einer sehr ernsten Angelegenheit.

Wegen einer ernsten Angelegenheit! sagte der Graf, Franz mit dem ihm eigentümlichen tiefenBlicke anschauend; worum handelt es sich?

Franz übergabihm AlbertsBrief und sagte: Lesen Sie.

Ah! ah! rief der Graf.

Was sagen Sie dazu? fragte Franz.

Haben Sie die verlangte Summe? Es fehlen mir achthundert Taler.

Der Graf ging an einen Sekretär, öffnete ihn, zog eine Schublade voll Gold heraus und sagte zu Franz: Ich hoffe, daß Sie mir nicht dieBeleidigung antun werden, sich an einen andern, als mich zu wenden?

Sie sehen im Gegenteil, daß ich gerade zu Ihnen gekommenbin.

Dafür danke ich; nehmen Sie. Und er ersuchte Franz, das Gold zu nehmen.

Ist es denn durchaus notwendig, diese Summe Luigi Vampa zu schicken? fragte der junge Mann, den Grafen ebenfalls fest anschauend.

Bei Gott! rief dieser, urteilen Sie selbst, die Nachschrift klingt sehrbestimmt.

Es scheint mir, wenn Sie ein wenig nachdenken wollten, würden Sie ein Mittel finden, das die Unterhandlung sehr vereinfachen müßte? entgegnete Franz.

Welches? fragte der Graf erstaunt.

Wenn wir zumBeispiel Luigi Vampa miteinander aufsuchten… ichbin überzeugt, er schlüge es Ihnen nicht ab, Albert freizugeben.

Mir? Welchen Einfluß soll ich auf denBanditen ausüben?

Haben Sie ihm nicht einen von den Diensten geleistet, die man nie vergißt? — Einen Dienst?

Haben Sie nicht vor wenigen Tagen Peppino gerettet?

Ah! ah! rief der Graf, wer hat Ihnen das gesagt?

Was liegt daran? Ich weiß es.

Der Grafbliebeinen Augenblick stumm.

Und wenn ich Vampa aufsuchte, würden Sie michbegleiten?

Falls Ihnen meine Gesellschaft nicht zu unangenehm wäre.

Gut! Es sei; das Wetter ist schön, ein Spaziergang nach der Campagna kann uns nur wohltun. Wo ist der Mensch, der diesenBrief gebracht hat? Auf der Straße.

Er muß hören, wohin wir gehen; ich werde ihn rufen.

Der Graf trat an das Fenster des Kabinetts, das nach der Straße ging, und pfiff auf einebesondere Weise. Der Mann mit dem Mantel entfernte sich von der Mauer und schrittbis in die Mitte der Straße vor.

Salite! sprach der Graf mit einem Tone, als gäbe er seinemBedienten einenBefehl. DerBote gehorchte, ohne zu zögern, ja sogar mit einem gewissen Eifer, sprang die vier Stufen der Freitreppe hinauf und trat in den Gasthof. Fünf Sekunden nachher war er an der Tür des Kabinetts.

Ah! Dubist es, Peppino, rief der Graf.

Doch statt zu antworten, warf sich Peppino auf die Knie, ergriff die Hand des Grafen und drückte seine Lippen wiederholt darauf.

Oh! sagte der Graf, du hast noch nicht vergessen, daß ich dir das Leben rettete! Das ist seltsam, es sind doch heute schon acht Tage vorüber.

Nein, Exzellenz, ich werde es nie vergessen, antwortete Peppino mit dem Tone der tiefsten Dankbarkeit.

Nie? Das ist sehr lange; doch schon genug, wenn du es nur glaubst. Steh auf und antworte.

Peppino warf einen unruhigenBlick auf Franz.

Oh! du kannst vor dem Herrn sprechen, versetzte der Graf, es ist einer meiner Freunde. Wie ist der Graf Albert in Luigis Hände gefallen?

Exzellenz, die Kalesche des Franzosen hat wiederholt den Wagen gekreuzt, worin Teresa saß.

Des Hauptmanns Geliebte?

Ja. Der Franzose liebäugelte mit ihr, Teresa machte sich den Spaß es zu erwidern: der Franzose warf ihr Sträuße zu und sie ihm, alles, wohlverstanden, mit Einwilligung des Hauptmanns, der sie, als Kutscher verkleidet, führte.

Und dann? fragte der Graf.

Nun, dann nahm der Franzose die Maske ab; Teresa tat dasselbe; der Franzose verlangte eine Zusammenkunft, Teresa sagte sie ihm zu; nur fand sich, statt Teresa, Beppo — verkleidet alsBäuerin — auf den Stufen der Kirche von San Giacomo ein; ein Wagen wartete am Ende der Via Macello, Beppo forderte den Franzosen auf, ihm zu folgen; er ließ sich dies nicht zweimal sagen und setzte sich neben ihn. Dieser sagte ihm nun, er führe ihn nach einer Villa, die eine Meile von der Stadt liege. Der Franzose versicherteBeppo, er seibereit, ihmbis ans Ende der Welt zu folgen. Sogleich fuhr der Kutscher die Strada di Ripetta hinauf, erreichte die Porta di San Paolo, und als der Franzose, zweihundert Schritte in der Campagna, zu unternehmend wurde, setzte ihmBeppo ein paar Pistolen vor dieBrust; rasch hielt der Kutscher seine Pferde an, wandte sich auf seinem Sitze um und tat dasselbe. Zu gleicher Zeit stürzten vier von den Unseren, die am Ufer des Almo verborgen waren, an den Kutschenschlag. Der Franzose hatte große Lust, sich zu verteidigen, würgteBeppo auch ein wenig, wie ich hörte; aber er konnte gegen fünfbewaffnete Männer nichts machen, er mußte sich ergeben. Man ließ ihn aussteigen, folgte dem Ufer des Flüßchens und führte ihn zu Teresa und Luigi, die ihn in den Katakomben von San Sebastiano erwarteten.

Ei, das ist eine romantische Geschichte, bemerkte der Graf. Was sagen Sie dazu, Sie, der Sie Kenner sind?

Ich würde sie sehr lustig finden, wäre sie einem anderen, als dem armen Albertbegegnet.

Wenn Sie mich nicht gefunden hätten, erwiderte der Graf, so würde dieses Liebesabenteuer Ihrem Freunde ziemlich teuer zu stehen gekommen sein; dochberuhigen Sie sich, er wird mit der Angst davon kommen.

Und wir suchen ihn auf? fragte Franz.

Bei Gott! Um so mehr, als er sich an einem sehr malerischen Ortebefindet. Kennen Sie die Katakomben von San Sebastiano?

Nein, doch ich dachte, sie einmal zubesuchen. Wohl, die Gelegenheit ist da, und es wäre schwer, einebessere zu finden. Haben Sie Ihren Wagen?

Nein.

Gleichviel; es istbei mir Gewohnheit, Tag und Nacht einen Wagen angespannt halten zu lassen.

Tag und Nacht angespannt?

Ja, ichbin ein sehr launenhafter Mensch und muß Ihnen sagen, daß mir zuweilen, wenn ich aufstehe, nach der Mahlzeit oder auch mitten in der Nacht, die Lust ankommt, nach irgend einem Punkte der Welt zu reisen, und dann reise ich auch.

Der Graf läutete, sein Kammerdiener erschien.

Lassen Sie den Wagen vorfahren, sagte der Graf zu ihm, nehmen Sie die Pistolen heraus, die in den Taschen sind! es ist nicht nötig, den Kutscher zu wecken, Ali fährt.

Nach einem Augenblick hörte man den Wagen.

Halbein Uhr, sagte der Graf, auf seine Uhrblickend, wir hätten erst um fünf Uhr fahren können und wären noch zu rechter Zeit gekommen; doch dann würde Ihr Gefährte vielleicht eine schlimme Stunde durchgemacht haben, und es ist daherbesser, ihn auf der Stelle den Händen der Ungläubigen zu entziehen. Sind Sie immer noch entschlossen, mich zubegleiten?

Mehr als je.

Franz und der Graf verließen das Zimmer, gefolgt von Peppino. Vor der Tür fanden sie den Wagen, Ali saß auf demBocke; Franz erkannte den stummen Sklaven der Grotte von Monte Christo. Franz und der Graf stiegen in den Wagen; Peppino setzte sich neben Ali, und man fuhr im Galopp fort. Ali hatte vorherBefehle erhalten, denn er fuhr über den Korso und erreichte die Porta di San Sebastiano; hier wollte der Torwart einige Schwierigkeiten machen, aber der Graf von Monte Christo zeigte ihm einen Erlaubnisschein vom Gouverneur der Stadt, der ihm zu jeder Stunde des Tages und der Nacht ungehinderten Aus- und Einlaß zusicherte; das Fallgatter wurde also aufgehoben, der Torwart erhielt einen Louisd'or für seine Mühe, und man fuhr hinaus.

Die Straße war die alte, beiderseits von Gräbernbegrenzte Via Appia. Von Zeit zu Zeit kam es Franzbeim Lichte des aufgehenden Mondes vor, als obeine Schildwache hinter einer Ruine hervorträte; doch auf ein zwischen Peppino und dieser Schildwache ausgetauschtes Zeichen kehrte sie in den Schatten zurück und verschwand. Wenige Schritte vor dem Zirkus des Caracalla hielt der Wagen an, Peppino öffnete den Schlag, und Franz und der Graf stiegen aus.

In zehn Minuten sind wir an Ort und Stelle, sagte der Graf zu seinemBegleiter. Dann nahm er Peppinobeiseite, gabihm leise einenBefehl, und derBandit entfernte sich, nachdem er sich mit einer Fackel versehen hatte, die er aus einem Kistchen hervorzog. Es vergingen fünf Minuten, während Franz Peppino auf einem schmalen Fußpfade fortschreiten und dann in hohem rötlichem Grase verschwinden sah. Franz und der Graf schlugen denselben Fußpfad ein, der sie nach hundert Schritten auf einen sich in ein Tälchen senkenden Abhang führte.

Exzellenz, sagte Peppino, der stehen geblieben war, folgen Sie mir, bitte, die Öffnung der Katakomben ist nur zwei Schritte von hier.

Gut, sagte der Graf, geh voraus!

Esbot sich in der Tat hinter einem Gebüsch und mitten unter einigen Felsen eine Öffnung, durch die kaum ein Mann dringen konnte. Peppino schlüpfte zuerst hinein; aber kaum hatte er einige Schritte getan, als der unterirdische Gang sich erweiterte. Erbliebnun stehen und zündete seine Fackel an. Der Graf war zuerst in eine Art von Luftloch gedrungen, und Franz folgte ihm. Das Terrain vertiefte sich allmählich und wurde immer weiter, je mehr man vorrückte. Franz und der Graf waren jedoch genötigt, gebückt zu marschieren, und konnten nur mit Mühe nebeneinander gehen. Sie machten auf diese Weise noch ungefähr fünfzig Schritte, dann wurden sie durch den Ruf: Wer da? angehalten. Zu gleicher Zeit sahen sie inmitten der Finsternis den Lauf eines Karabiners im Schimmer ihrer eigenen Fackel aufblitzen.

Gut Freund! antwortete Peppino, und sagte einige Worte mit leiser Stimme zu der Schildwache, die, wie die erste, grüßte und dann den nächtlichen Gästen durch ein Zeichenbedeutete, sie könnten weitergehen. Hinter der Wache war eine Treppe von ungefähr zwanzig Stufen. Franz und der Graf stiegen die zwanzig Stufen hinabundbefanden sich an einem Kreuzweg. Fünf Wege liefen wie Strahlen von dieser Stelle aus, und an den Wänden, in denen sargartige Nischen ausgegraben waren, erkannte man, daß man in den Katakomben angelangt war. In einer von diesen Höhlen, deren Ausdehnung sich nicht erkennen ließ, gewahrte man einige Lichtstrahlen. Der Graf legte die Hand auf Franzens Schulter und sagte: Wollen Sie ein Lager ruhenderBanditen sehen, so folgen Sie mir! Peppino, lösche deine Fackel aus!

Peppino gehorchte, und Franz und der Grafbefanden sich in der tiefsten Finsternis; nur tanzte fortwährend etwa fünfzig Schritte vor ihnen längs den Wänden ein rötlicher Schein nach dem andern hin. Sie rückten langsam vor, wobei der Graf Franz leitete, alsbesäße er die seltene Fähigkeit, in der Finsternis zu sehen. Drei Arkaden, von denen die mittlere als Tür zubetrachten war, gewährten ihnen Durchlaß. Diese Arkaden öffneten sich einerseits nach dem Gange, wo Franz und der Graf sichbefanden, andererseits nach einem großen viereckigen Gemache, das ganz von Nischen, den vorhergehenden ähnlich, umgeben war. Mitten in diesem Gemach erhoben sich vier Steine, die einst als Altar gedient hatten, wie das überragende Kreuz andeutete. Eine einzige auf einem Säulenschafte stehende Lampebeleuchtete mitbleichem, flackerndem Lichte die seltsame Szene, die sich den Augen der im Schatten verborgenen Gefährtenbot. Den Ellenbogen auf diese Säule gestützt, saß ein Mann und las, den Rücken den Arkaden zuwendend, durch deren Öffnung die Ankömmlinge ihnbetrachteten. Es war der Anführer derBande, Luigi Vampa. Ringsumher sah man in ihren Mänteln liegend oder an eine Steinbank gelehnt etwa zwanzig Räuber; jeder hatte seinen Karabiner imBereiche der Hand. Im Hintergrunde ging schweigsam, kaum sichtbar und einem Schatten ähnlich, eine Schildwache vor einer Öffnung auf und ab, die man kaum zu unterscheiden vermochte.

Als der Graf glaubte, Franz hätte seineBlicke hinreichend an diesem malerischenBilde geweidet, legte er den Finger an seine Lippen, um ihm Stillschweigen zu empfehlen, trat, die drei Stufen hinabsteigend, die von dem Gange ins Lager führten, durch die mittlere Arkade in das Gemach und ging auf Vampa zu, der so tief in das Lesen versunken war, daß er das Geräusch seiner Tritte nicht hörte.

Wer da? rief die Schildwache, diebei dem Schimmer der Lampe etwas wie einen Schatten sah, der hinter ihrem Hauptmann immer größer wurde. Bei diesem Ruf erhobsich Vampa rasch und zog gleichzeitig eine Pistole aus seinem Gürtel. In einem Augenblick waren alleBanditen auf denBeinen, und zwanzig Karabinerläufe richteten sich auf den Grafen.

Nun! sagte dieser mit vollkommen ruhiger Stimme und ohne daß eine Muskel seines Gesichtes sich rührte; nun, mein lieber Vampa, es scheint, Ihr macht Euch große Unkosten, um einen Freund zu empfangen.

'runter die Gewehre! rief der Anführer mit einem gebieterischen Zeichen einer Hand, während er mit der andern ehrfurchtsvoll seinen Hut abnahm. Dann, sich gegen den hinwendend, der diese ganze Szenebeherrschte, sagte er: Verzeihen Sie, Herr Graf, aber ich war so weit entfernt, die Ehre IhresBesuches zu erwarten, daß ich Sie nicht erkannte.

Es scheint, Ihr habt in allen Dingen ein kurzes Gedächtnis, Vampa, entgegnete der Graf, und Ihr vergeßt nicht nur das Gesicht der Menschen, sondern auch dieBedingungen, die Ihr mit ihnen eingegangen seid.

WelcheBedingungen habe ich vergessen, Herr Graf? fragte derBandit, wie ein Mensch, dem alles daran liegt, einen etwa gemachten Fehler wieder gutzumachen.

Sind wir nicht miteinander übereingekommen, daß Euch nicht nur meine Person, sondern auch die meiner Freunde heilig sein soll?

In welcherBeziehung habe ich mich gegen diesen Vertrag verfehlt, Exzellenz?

Ihr habt den Vicomte Albert von Morcerf entführt und hierher gebracht; nun, so wißt, fuhr der Graf mit einem Tone fort, der Franz erbeben ließ, dieser junge Mann gehört zu meinen Freunden, er wohnt in demselben Gasthofe wie ich, er hat acht Tage lang in meinem Wagen den Korso mitgemacht, und dessenungeachtet, ich wiederhole es, habt Ihr ihn entführt, hierher geschleppt und — der Graf zog denBrief aus der Tasche — ein Lösegeld wie für den nächstenbesten festgesetzt.

Warum habt ihr mich nicht davon in Kenntnis gesetzt? sagte der Anführer, sich gegen seine Leute wendend, die sämtlich vor seinemBlicke zurückwichen; warum habt ihr mich dem ausgesetzt, daß ich mein Wortbreche gegen einen Mann, der unser aller Leben in seinen Händen hat? Bei demBlute Christi! Wenn ich dächte, einer von euch hätte gewußt, der junge Mann sei der Freund Seiner Exzellenz, ich würde ihm die Hirnschale zerschmettern.

Nun! sprach der Graf, sich an Franz wendend, ich sagte Ihnen, es walte irgend ein Irrtum ob.

Sind Sie nicht allein? fragte Vampa unruhig.

Die Person istbei mir, an die derBrief gerichtet war; ich wollte ihrbeweisen, daß Luigi Vampa ein Mann von Wort ist. Kommen Sie, Exzellenz, sagte er zu Franz, hier ist Luigi Vampa, der Ihnen selbst zu sagen wünscht, er sei in Verzweiflung über den Irrtum, den erbegangen hat.


Franz näherte sich; derBanditenführer trat ihm entgegen und sagte: Seien Sie uns willkommen, Exzellenz; Sie haben gehört, was der Herr Graf sagte, und was ich antwortete; ich füge hinzu, gern gäbe ich viertausend Piaster her, könnte ich das Geschehene ungeschehen machen. Doch wo ist der Gefangene? versetzte Franz, unruhig umherschauend, ich sehe ihn nicht.

Es ist ihm hoffentlich nichts widerfahren, fragte der Graf, die Stirn faltend.

Der Gefangene ist dort antwortete Vampa, auf die Vertiefung deutend, vor welcher derBandit als Schildwache auf und abging; ich werde ihm selbst ankündigen, daß er frei ist.

Der Anführer schritt dem von ihmbezeichneten Orte und zu, und Franz folgte ihm mit dem Grafen.

Der Graf und Franz stiegen, dem Hauptmann folgend, siebenbis acht Stufen hinauf; sobald Vampa einen Riegel gezogen und eine Tür aufgestoßen hatte, konnte manbeim Schimmer einer Lampe Albert sehen, der, in einen Mantel gehüllt, in einem Winkel im tiefsten Schlafe lag. Sieh da, sagte der Graf mit eigentümlichem Lächeln, nicht übel für einen Menschen, der um sieben Uhr erschossen werden sollte.

Bampa schaute den schlafenden Albert mit einer gewissenBewunderung an; man sah, daß er für einen solchenBeweis von Mut nicht unempfindlich war.

Sie haben recht, Herr Graf, sagte er, dieser Mann muß zu Ihren Freunden gehören. Dann, sich Albert nähernd und ihn an der Schulterberührend, fügte er hinzu: Exzellenz, ist's gefällig, aufzuwachen?

Ah! ah! sagte Albert, Ihr seid es, Hauptmann? Ihr hättet mich, bei Gott! sollen schlafen lassen; ich hatte einen entzückenden Traum; es träumte mir, ich tanze mit der Gräfin G***. Er zog seine Uhr, die man ihm gelassen hatte.

Halbzwei Uhr morgens… warum zum Teufel weckt Ihr mich zu dieser Stunde?

Um Ihnen zu sagen, daß Sie frei sind, Exzellenz.

Mein Lieber, erwiderte Albert mit vollkommener Geistesfreiheit, befolgt künftig den Grundsatz des großen Napoleon! Weckt mich nur wegen schlimmer Nachrichten! Hättet Ihr mich schlafen lassen, so würde ich meinen Tanz fortgesetzt haben und wäre Euch mein Leben lang dankbar… Man hat also mein Lösegeldbezahlt?

Nein, Exzellenz, einer, dem ich nichts verweigern kann, hat Sie zurückgefordert.

Ah! bei Gott, dieser jemand ist sehr liebenswürdig.

Albert schaute umher, erblickte Franz und rief: Wie, mein lieber Freund, Sie treiben die Ergebenheit so weit?

Nein, nicht ich, sondern der Herr Graf von Monte Christo.

Ah! bei Gott! Herr Graf, sagte Albert heiter, während er seine Krawatte und seine Manschetten ordnete, Sie sind wahrlich ein kostbarer Mann, und ich hoffe, daß Sie mich als Ihnen ewig verbunden ansehen werden. Er reichte dem Grafen die Hand, der siebebend in die seine nahm.

DerBandit sah mit erstaunter Miene zu; er war offenbar gewohnt, seine Gefangenen vor sich zittern zu sehen, und hier fand er einen, den seine heitere Laune nicht verlassen hatte. Franz war entzückt, daß Albert selbst einemBanditen gegenüber die Ehre der Nation aufrecht erhielt.

Mein lieber Albert, sagte er zu ihm, wenn Sie sichbeeilen wollten, so haben wir noch Zeit, die Nachtbei Torlonia zubeschließen. Sie nehmen Ihren Galopp wieder auf, wo Sie ihn unterbrochen haben, und werden somit keinen Groll gegen den edlen Herrn Luigibewahren, der sich in der Tatbei dieser ganzen Angelegenheit auf das artigstebenommen hat.

Ah! gewiß, versetzte Albert, Sie haben recht, wir können um zwei Uhr dort sein. Herr Luigi, ich wünsche Ihnen ein lustiges Leben. Kommen Sie, meine Herren, kommen Sie!

Und Franz und dem Grafen voran ging Albert die Treppe hinabund durchschritt den großen viereckigen Saal. AlleBanditen standen mit dem Hut in der Hand. Der Hauptmann nahm die Fackel aus den Händen des Hirten und ging den Gästen voran, nicht wie ein Diener, sondern wie ein König, der seinenBotschaftern voranschreitet. An der Tür verbeugte er sich und sagte: Und nun, Herr Graf, wiederhole ich meine Entschuldigung, und ich hoffe, daß Sie mir wegen dessen, was geschehen ist, nicht ferner grollen werden.

Nein, mein lieber Vampa, sagte der Graf; Ihr sühnt überdies Eure Irrtümer auf eine so artige Weise, daß man versucht ist, Euch auch dafür, daß Ihr siebegangen habt, Dank zu wissen.

Meine Herren, sagte derBanditenführer, sich nach den jungen Männern umwendend, vielleicht kommt Ihnen mein Anerbieten nicht sehr lockend vor, aber wenn Sie je Lust verspüren, mir einen zweitenBesuch zu machen, so werden Sie, wo ich auch sein mag, stets willkommen sein.

Franz und Albert grüßten, und alle drei gingen hinaus. Sie fanden den Wagen, wo sie ihn gelassen hatten. Der Graf sagte zu Ali ein einziges arabisches Wort, und die Pferde setzten sich in schnellsten Galopp. Es war zwei Uhr, als die Freunde wieder im Tanzsaal erschienen; ihre Rückkehr machte das größte Aufsehen; da sie aber miteinander kamen, so hörte im Augenblick jede Unruhe wegen Alberts auf.

Gnädige Frau, sagte der Vicomte von Morcerf, auf die Gräfin zuschreitend, Sie haben gestern die Güte gehabt, mir einen Galopp zu versprechen, ich komme etwas spät, um Sie an diese entzückende Zusage zu erinnern; doch hier ist ein Freund, dessen Wahrheitsliebe Sie kennen; er wird Ihnenbestätigen, daß ich nicht schuld daranbin.

Und da die Musik in diesem Augenblick mit einem Galopp einsetzte, schlang Albert seinen Arm um die Hüfte der Gräfin und verschwand mit ihr im Wirbel der Tänzer. Während dieser Zeit dachte Franz an den seltsamen Schauder, der den ganzen Leibdes Grafen in dem Augenblicke durchlaufen hatte, wo er Albert die Hand gereicht hatte.

Das Wiedersehen

Am andern Tage machte Albert seinem Freunde mit dem ersten Worte den Vorschlag, den Grafen zubesuchen. Er hatte ihm zwarbereits gedankt, aber er meinte, daß ein Dienst, wie der Graf ihn geleistet, wohl zwei Danksagungen wert war. Franz, den ein mit Furcht gemischter Zauber zu dem Grafen von Monte Christo hinzog, wollte Albert nicht allein gehen lassen undbegleitete ihn. Beide wurden eingeführt, und nach fünf Minuten erschien der Graf.

Herr Graf, sagte Albert, ihm entgegengehend, erlauben Sie mir, Ihnen heute zu wiederholen, was ich gestern schlecht ausgedrückt habe: nie werde ich vergessen, unter welchen Umständen Sie mir zu Hilfe gekommen sind, und stets werde ich mich erinnern, daß ich Ihnen das Leben zu verdanken habe.

Mein lieber Nachbar, antwortete der Graf lachend, Sie übertreiben Ihre Verbindlichkeiten gegen mich, denn Sie sind mir nicht mehr schuldig, als eine kleine Ersparnis von 20 000 Franken an Ihren Reiseausgaben. Sie sehen, daß es nicht der Mühe wert ist, davon zu sprechen. Empfangen Sie Ihrerseits mein Kompliment, fügte er hinzu, Siebesitzen einebewunderungswürdige Ungezwungenheit und Leichtigkeit desBenehmens.

Was wollen Sie, Herr Graf? entgegnete Albert, ich stellte mir vor, ich hätte Händel gehabt, und ein Duell sei die Folge davon, und so wollte ich demBanditenbegreiflich machen, daß, wenn man sich auch in allen Ländern der Welt schlägt, doch nur die Franzosen sich lachend schlagen. Nichtsdestoweniger, da meine Verbindlichkeit Ihnen gegenüber nicht minder groß ist, komme ich, um Sie zu fragen, obich Ihnen nicht durch mich, durch meine Freunde und meineBekannten in irgend einerBeziehung nützlich sein kann. Mein Vater, der Vicomte von Morcerf, besitzt großen Einfluß in Spanien und in Frankreich. Verfügen Sie über mich und über alle, die mich lieben!

Ich gestehe, Herr von Morcerf, erwiderte der Graf, ich erwartete Ihr Anerbieten und nehme es von ganzem Herzen an. Es war sogar meine Absicht, Sie um einen großen Dienst zubitten. Ichbin nie in Paris gewesen, ich kenne Paris nicht.

Wirklich? rief Albert, Sie konntenbis jetzt leben, ohne Paris zu sehen? Das ist unglaublich.

Und dennoch ist es so. Doch ich fühle, daß eine längere Unbekanntschaft mit dieser Hauptstadt der intelligenten Welt unverantwortlich ist. Mehr noch, ich hätte die seit langer Zeit unerläßliche Reise dorthin vielleicht schon gemacht, wäre ich mit irgend jemandbekannt gewesen, der mich in diese Welt eingeführt hätte, in der ich mich keiner Verbindung erfreue.

Oh! ein Mann wie Sie, rief Albert.

Sie sind sehr gütig. Doch da ich eben kein anderes Verdienst von mir kenne, als daß ich mit Ihren reichstenBankiers in die Schranken zu treten imstandebin, und da ich nicht nach Paris gehe, um an derBörse zu spielen, so hielt mich dieser kleine Umstand zurück. Ihr Anerbieten hat aber nunmehr meinen Entschluß zur Reife gebracht. Machen Sie sich anheischig, mein lieber Herr von Morcerf, — der Grafbegleitete diese Worte mit einem seltsamen Lächeln, — wenn ich nach Frankreich komme, mir die Türen dieser Welt zu öffnen, in der ich so fremd sein werde, wie ein Hurone oder ein Cochinchinese?

Oh! Herr Graf, mit der größten Freude, um so mehr, als ich nach Paris durch einen mir soeben zugekommenenBrief zurückgerufen werde, worin für mich von einer Verbindung mit einem sehr angenehmen Hause die Rede ist, das in denbesten Verhältnissen zu der ganzen Pariser Welt steht.

Verbindung durch Heirat? versetzte Franz lachend.

Oh! mein Gott, ja. Wenn Sie nach Paris kommen, finden Sie mich als einen gesetzten Mann und vielleicht als Familienvater. Nicht wahr, das wird sich zu meinem natürlichen Ernste gut machen? In jedem Falle wiederhole ich Ihnen, ich und die Meinigen gehören Ihnen mit Leibund Seele.

Ich nehme es an, sagte der Graf, denn ich schwöre Ihnen, es fehlte mir nur eine solche Gelegenheit, um Pläne zu verwirklichen, mit denen ich mich seit geraumer Zeit trage.

Franz zweifelte keinen Augenblick, diese Pläne seien die, welche der Graf in der Grotte von Monte Christo angedeutet hatte, und er schaute den Grafen, während er sprach, fest an, um auf seinem Gesichte irgend eine Enthüllung der Entwürfe, die ihn nach Paris führten, zu erhaschen; aber es war sehr schwierig, in das Innere dieses Mannes zu dringen, besonders wenn er es mit einem Lächeln verschleierte.

Wann werden Sie selbst dort sein? fragte der Graf Albert.

In vierzehn Tagen oder spätestens drei Wochen, gerade soviel ich Zeit zur Rückkehrbrauche.

Wohl! ich gebe Ihnen drei Monate; Sie sehen, ich mache das Maß lang. Und in drei Monaten werden Sie an meine Tür klopfen? rief Albert vor Freude.

Wollen Sie ein Wiedersehen auf Tag und Stunde? Ich sage Ihnen, daß ich von einer verzweifelten Pünktlichkeitbin.

Auf Tag und Stunde! sagte Albert, das ist mir äußerst angenehm.

Wohl, es sei!

Und er streckte die Hand nach einem in der Nähe des Spiegels hängenden Kalender aus und fuhr dann fort: Wir haben heute den 21. Februar, es ist halbelf Uhr morgens. Wollen Sie mich am 21. Mai um halbelf Uhr morgens erwarten?

Vortrefflich! Das Frühstück wirdbereit sein.

Wo wohnen Sie?

In der Rue du Helder, Nr. 27. Ich wohne im Hotel meines Vaters, aber in einem völlig abgesonderten Hintergebäude.

Der Graf nahm seine Schreibtafel und schrieb: Rue du Helder, Nr. 27 am 21. Mai um halbelf Uhr morgens.

Und nun seien Sie unbesorgt, sagte der Graf, ich werde pünktlich sein.

Ich sehe Sie noch vor meiner Abreise? fragte Albert.

Je nachdem, wann reisen Sie?

Morgen abend um fünf Uhr.

Dann sage ich Ihnen Lebewohl. Ich habe Geschäfte in Neapel und werde erst Samstag oder Sonntag früh zurückkommen. Und Sie, fragte der Graf Franz, reisen Sie ebenfalls, HerrBaron?

Ja, nach Venedig. Ichbleibe noch in Italien.

Wir werden uns also in Paris nicht sehen?

Ichbefürchte, nicht die Ehre zu haben.

Meine Herren, glückliche Reise, sagte der Graf zu den Freunden und reichte jedem eine Hand. Es war das erstemal, daß Franz die Hand dieses Mannesberührte; erbebte, denn sie war eisig wie die Hand eines Toten. Also, auf Wiedersehen, am 21. Mai um halbelf Uhr morgens, Rue du Helder, Nr. 27, sagte Albert.

Hierauf grüßten die jungen Männer den Grafen und entfernten sich.

Was haben Sie denn? sagte Albert, in sein Zimmer zurückkehrend, zu Franz, Sie sehen ja ganz sorgenvoll aus?

Ja, ich gestehe, der Graf ist ein seltsamer Mann, antwortete Franz, und nur mit Unruhe sehe ich seinem Pariser Aufenthalt entgegen.

Mit Unruhe? Ah! Sie sindbefangen, lieber Franz! rief Albert.

Obbefangen, obnicht, es ist einmal so.

Hören Sie, und es ist mir sehr lieb, daß sich eine Gelegenheitbietet, Ihnen dies zu sagen, ich habe Sie sehr kalt gegen den Grafen gefunden, während mir seinBenehmen gegen Sie tadellos, ja sogar höchst zuvorkommend erschien. Haben Sie etwasBesonderes gegen ihn einzuwenden?

Vielleicht.

Haben Sie ihn etwa schon irgendwo gesehen, ehe Sie ihm hierbegegneten?

Allerdings.

Wo?

Versprechen Sie mir, nicht ein Wort von dem zu sagen, was ich Ihnen mitteilen werde?

Ich verspreche es Ihnen.

Gut. Hören Sie.

Hierauf erzählte Franz seinem Freunde den ganzen Verlauf seines Ausflugs nach der Insel Monte Christo, wie er dort mehrere Schmuggler gefunden und unter diesen Schmugglern einigeBanditen. Er verweiltebei allen einzelnen Umständen der feenhaften Gastfreundschaft, die ihm der Graf in seiner Grotte hatte angedeihen lassen; er sprach vom Abendessen, vom Haschisch, von den Statuen, von Wirklichkeit und Traum, und wie am Morgen alsBeweis und als Erinnerung an all diese Ereignisse nichts mehr übrig geblieben sei, als eine kleine Jacht, die er am Horizont nach Porto Vecchio segeln sah. Dann ging er auf Rom über, auf die Nacht im Kolosseum, auf das Gespräch über Peppino, das er zwischen dem Grafen undBampabelauscht und wobei der Graf versprochen habe, dieBegnadigung desBanditen zu erlangen.

Endlich gelangte er zu dem Abenteuer der vorhergehenden Nacht, zu seiner Verlegenheit, als er gesehen, daß ihm 6bis 700 Piaster fehlten, um die erforderliche Summe vollständig zu machen, und endlich zu dem Eintreten des Grafen. Albert hörte mit größter Aufmerksamkeit zu.

Nun, sagte er, als sein Freund geendigt hatte, was finden Sie daran auszusetzen? Der Graf hat ein eigenes Schiff, weil er reich ist. Gehen Sie nach Portsmouth oder Southampton, und Sie werden die Häfen voll von Jachten sehen, die reichen Engländern gehören, die dieselbe Neigung haben. Um zu wissen, wo erbei seinen Ausflügen anhalten soll, um nicht aus der abscheulichen Küche zu essen, die mich seit vier Monaten vergiftet, um nicht in den niederträchtigenBetten zu liegen, in denen man nicht schlafen kann, läßt er sich ein Absteigequartier auf Monte Christo einrichten. Nachdem er sein Absteigequartier eingerichtet hat, befürchtet er, die toskanische Regierung könnte ihm die Sache verleiden, und er seiner Aufwendungen verlustig gehen; er kauft daher die Insel und nimmt deren Namen an.

Aber dieBanditen, die sichbei seiner Mannschaftbefanden? Was sagen Sie zu dem Einfluß des Grafen auf dergleichen Leute?

Ich sage, mein Lieber: Insofern ich aller Wahrscheinlichkeit nach diesem Einfluß das Leben zu verdanken habe, ist es nicht meine Sache, hierüber zu scharf zu urteilen. Statt ihm, wie Sie, ein Hauptverbrechen daraus zu machen, werden Siebegreifen, daß ich ihn entschuldige, nicht weil er mir das Leben gerettet, was vielleicht übertrieben ist, sondern weil er mir 4000 Piaster erspart hat, eine Summe, die gerade 20 000 Franken unseres Geldes gleichkommt, eine Summe, zu der man mich sicherlich in Frankreich nicht angeschlagen hätte, was zumBeweise dient, fügte er lachendbei, daß der Prophet in seinem Vaterlande nie etwas gilt.

Wohl! gerade das ist es. Aus welchem Lande ist der Graf? Welche Sprache spricht er? Welches sind seine Existenzmittel? Woher kommt sein ungeheures Vermögen? Wie war der erste Teil seines Lebensbeschaffen? Was hat über den zweiten den düsteren, menschenfeindlichen Schatten geworfen? Das wünschte ich an Ihrer Stelle zu wissen.

Mein lieber Franz, erwiderte Albert, als Siebeim Empfang meinesBriefes sahen, daß Sie seines Einflussesbedurften, sagten Sie zu dem Grafen: Albert von Morcerf, mein Freund, ist in Gefahr; helfen Sie mir, ihn dieser Gefahr entziehen! Nicht wahr? — Ja.

Fragte er dann: Wer ist Albert von Morcerf? Woher hat er seinen Namen? Woher sein Vermögen? Welches sind seine Existenzmittel? Welches ist sein Vaterland? Wo ist er geboren? Sprechen Sie, hat er Sie danach gefragt?

Ich muß gestehen, nein.

Er ist ohne weiteres gegangen und hat mich aus Vampas Händenbefreit, wo ich eben keinebeneidenswerte Rolle spielte. Nun, mein Lieber, wenn er mich dafür um etwasbittet, was man jeden Tag für jeden italienischen oder russischen Fürsten tut, der durch Paris reist, das heißt, ihn in der Gesellschaft vorzustellen… soll ich ihm das verweigern? Oh, Franz, Sie sindbefangen.

Tun Sie, wie Sie wollen, lieber Vicomte, versetzte Franz nach kurzem Stillschweigen, denn alles, was Sie mir da sagen, ist dem Anscheine nach völlig richtig; aber darum scheint es mir nicht minder wahr, daß der Graf ein äußerst seltsamer Mann ist.

Der Graf von Monte Christo ist ein Menschenfreund; hat er Ihnen nicht gesagt, in welcher Absicht er nach Paris kommt? Nun wohl, er kommt, um sich um den von Monthyon für edle Schriftwerke gestifteten Tugendpreis zubewerben, und wenn es nur meiner Stimmebedarf, damit er ihn erhält, so werde ich sie ihm geben. Somit wollen wir diesen Gegenstand ruhen lassen, lieber Franz, uns zu Tische setzen und dann Sankt Peter einen letztenBesuch machen.

Es geschah, wie Albert sagte, und am andern Tage um fünf Uhr nachmittags trennten sich die jungen Leute, Albert von Morcerf, um nach Paris zurückzukehren, Franz d'Epinay, um vierzehn Tage in Venedig zuzubringen. Doch ehe Albert in den Wagen stieg, übergaber einem Diener im Gasthofe eine Karte für den Grafen von Monte Christo, auf die er unter die Worte: Vicomte Albert von Morcerf, die Worte geschrieben hatte:

Am 21. Mai, um halbelf Uhr morgens, Rue du Helder, Nr. 27.

Das Frühstück

In dem Hause der Rue du Helderbereitete sich am Morgen des 21. Mai alles vor, um dem Worte des jungen Mannes Ehre zu machen. Albert von Morcerfbewohnte einen Pavillon, der an der Ecke eines großen Hofes und einem andern für die Dienerschaftbestimmten Gebäude gegenüber lag. Nur zwei Fenster dieses Pavillons gingen auf die Straße, während drei nach dem Hof und zwei weitere rückwärts nach dem Garten schauten. Zwischen dem Hofe und dem Garten erhobsich die modische, geräumige Wohnung des Grafen und der Gräfin von Morcerf.

Aus der Wahl des zur Wohnung für Albertbestimmten Pavillons leuchtete die zarte Fürsorge einer Mutter, die sich von ihrem Sohne nicht trennen wollte, aber wohl einsah, daß ein junger Mann vom Alter des Vicomte seiner vollen Freiheitbedurfte. Zugleich ergabsich daraus auch der verständige Egoismus des jungen Mannes, dem es das freie, müßige Leben eines minderjährigen Sohnes angetan hatte, das man ihm vergoldete, wie dem Vogel seinenBauer.

Durch die nach der Straße gehenden Fenster konnte Albert sich von den Vorgängen draußen unterrichten, und wenn er sich weiter orientieren wollte, durch eine kleine Tür gehen, die neben der Wohnung des Pförtners angebracht war. Es sah aus, als sei es ein seit Erbauung des Hauses vergessenes und zu fortwährender Vergessenheit verurteiltes Pförtchen, sobestaubt undbescheiden erschien esbeim erstenBlick; aberbei nähererBetrachtung zeugten Schloß und Angeln, sorgfältig eingeölt, von einer geheimenbeständigenBenutzung.

Am Ende eines weiten, stillen, als Vorzimmer dienenden Ganges öffneten sich rechts der nach dem Hofe gehende Speisesaal Alberts und links sein kleiner Salon, von dem man die Aussicht nach dem Garten hatte. Gesträuche und Schlingpflanzenbreiteten sich fächerartig von den Fenstern aus und verbargen dem Hofe und dem Garten das Innere der zwei einzigen im Erdgeschosse liegenden Zimmer, in die unbescheideneBlicke hätten dringen können. Im ersten Stocke fanden sich die gleichen Zimmer, außerdem ein drittes, das als Vorzimmer diente. Diese drei Gelasse waren ein Salon, ein Schlafzimmer und einBoudoir. Der untere Salon war nur eine Art algerischen Rauchzimmers. DasBoudoir des ersten Stockes ging in das Schlafzimmer und stand durch eine unsichtbare Tür mit der Treppe in Verbindung. Es waren, wie man sieht, alle Vorsichtsmaßregeln getroffen.

Über diesem ersten Stocke fand sich ein geräumiges Atelier, das man, Mauern und Scheidewände einreißend, vergrößert hatte… ein Pandämonium, das der Künstler dem Stutzer streitig machte. Dort sammelten sich alle Spuren der verschiedenen Neigungen Alberts: Waldhörner, Baßgeigen, Flöten, ein ganzes Orchester, denn Albert hatte einen Augenblick nichtBegabung, sondern Neigung zur Musik gehabt; sodann fanden sich dort Staffeleien, Paletten, Pastelle, auf die Neigung zur Musik war nämlich die Neigung zur Malerei gefolgt, ferner Rappiere, Boxhandschuhe und Stöcke aller Art, denn nach den Überlieferungen der jungen Modeherren der Zeit pflegte Albert mit unendlich mehr Ausdauer, als er diesbei der Musik und Malerei getan, jene drei Künste, welche die Erziehung des Salonlöwen vollenden, die Fechtkunst, dasBoxen und die Handhabung des Stockes.

Im übrigenbestand die Ausstattung in alten Truhen aus der Zeit Franz I., die mit chinesischem Porzellan, japanischen Vasen, Fayencen von Lucca della Robbia und Platten vonBernard de Palissy gefüllt waren; in antiken Lehnstühlen, worin vielleicht Heinrich IV. oder Ludwig XIII. gesessen hatte, denn zwei von diesen Stühlen waren mit dem geschnitzten Lilienwappen geschmückt. Auf diesen Stühlen lagen durcheinander kostbare Stoffe aus Persien oder Indien. An dem am meisten in die Augen fallenden Platze stand ein prächtiges Piano. Überall, längs den Wänden, über den Türen, an der Decke sah man Schwerter, Dolche, Keulen, Äxte, ganz vergoldete Rüstungen; Kräuterbücher, Haufen von Mineralien, ausgestopfte Vögel u. s. w.

Es versteht sich von selbst, daß dieses Zimmer Alberts Lieblingszimmer war.

Am Tage des Wiedersehens hatte jedoch der junge Mann sein Hauptquartier in dem kleinen Salon im Erdgeschosse aufgeschlagen und alle Anordnungen zu einem würdigen Empfange seines Gastes getroffen.

Um drei Viertel auf zehn Uhr trat ein Kammerdiener ein. Erbildete für gewöhnlich mit einem kleinen Reitknecht, der nur englisch sprach und auf den Namen John antwortete, die ganze Dienerschaft Alberts. Der Kammerdiener, der Germain hieß und das vollkommene Vertrauen seines jungen Herrn genoß, hielt in der Hand einen Stoß Zeitungen, die er auf den Tisch legte, und ein PäckchenBriefe, das er Albert übergab.

Albert schaute mit zerstreutem Auge die verschiedenen Schreiben an, wählte zwei mit zarter Schrift und wohlriechenden Umschlägen, öffnete sie und las sie mit einiger Aufmerksamkeit.

Lassen Sie Frau Danglars sagen, wandte er sich dann an den Diener, ich nehme den Platz an, den sie mir in ihrer Loge anbietet… Warten Sie doch… im Verlaufe des Tages gehen Sie zu Rosa und melden ihr, ich werde ihrer Einladung zufolge nach der Operbei ihr zu Nacht speisen; bringen Sie ihr sechs Flaschen ausgesuchten Wein, Cyprier, Xeres und einen KorbOstender Austern…

Um welche Zeit soll gedeckt werden?

Servieren Sie um halbelf Uhr. Debray muß vielleicht in sein Ministerium gehen… Und überdies… es ist die Stunde, die ich dem Grafen angegeben habe, am 21. Mai um halbelf Uhr morgens; wenn ich auch nicht erwarte, daß er sein Versprechen hält, so will ich doch pünktlich sein. Wissen Sie nicht, obdie Frau Gräfin aufgestanden ist?

Wenn es der Herr Vicomte wünscht, werde ich mich erkundigen.

Ja… erbitten Sie sich von ihr einen Likörkasten, meiner ist unvollständig; sagen Sie ihr, ich werde um drei Uhr die Ehre haben, zu ihr zu kommen.

Der Kammerdiener ging ab. Albert warf sich auf einen Diwan, blätterte in ein paar Zeitungen, sah nach den Theatern, machte eine Grimasse, als er wahrnahm, daß man eine Oper und keinBallett gab, warf einBlatt nach dem andernbeiseite und murmelte gähnend: Diese Zeitungen werden in der Tat immer erbärmlicher.

In diesem Augenblick hielt ein leichter Wagen vor der Tür, und eine Minute nachher kam der Kammerdiener zurück, um Herrn Lucien Debray zu melden. Ein großer, blonder, bleicher junger Mann, mit grauem, sicherem Auge, dünnen, kalten Lippen, mit weißer Kravatte und einem an einer seidenen Schnur hängenden Monokle trat, ohne zu lächeln, ohne zu sprechen und mit einer halboffiziellen Miene ein. Er war nämlich Privatsekretär des Ministers des Innern. Diebeiden jungen Leute sprachen von allerlei Stadtklatsch, und Debray erzählte eben, ihr gemeinschaftlicherBekannter, Baron von Danglars, habe in spanischen Papieren eine Million gewonnen, als der Kammerdiener eintrat und HerrnBeauchamp anmeldete.

Herein! Herein! Furchtbare Feder! rief Albert, aufstehend und dem jungen Manne entgegengehend, hier ist Debray, der Ihr Gegner ist, ohne Sie zu lesen… so sagt er wenigstens.

Er hat recht, erwiderteBeauchamp, es geht ihm wie mir, ich kritisiere ihn, ohne zu wissen, was er tut. Doch sage mir, lieber Albert: Frühstücken wir oder speisen wir zu Mittag? Die Deputiertenkammer nimmt mich in Anspruch. Es ist, wie Sie sehen, nicht alles rosa in unsermBerufe.

Wir frühstücken nur; wir erwarten noch zwei Personen und setzen uns zu Tische, sobald sie gekommen sind.

Ich werde also zum Nachtisch zurückkehren. Heben Sie mir Erdbeeren, Kaffee und Zigarren auf. Ich esse mein Kotelett in der Kammer.

Tun Sie das nicht, Beauchamp, denn wir frühstücken Punkt elf Uhr; mittlerweile machen Sie es wie Debray, kosten Sie meinen Xeres und meine Zwiebacke.

Gut, ichbleibe; ich muß mich heute unbedingt zerstreuen.

Sie machen's gerade wie Debray, doch mir scheint, wenn das Ministerium traurig ist, sollte die Opposition heiter sein.

Ah! sehen Sie, lieber Freund, sagte Debray, Sie wissen nicht, was mir droht. Ich werde heute in der Deputiertenkammer eine Rede von Herrn Danglars hören. Der Teufel hole die konstitutionelle Regierung!

Ichbegreife, Siebedürfen eines Vorrats an Heiterkeit.

Machen Sie Herrn Danglars' Reden nicht schlecht, sagte Albert zuBeauchamp, wenn er auch zur Opposition gehört. Erinnern Sie sich doch, daß die Pariser Chronik von einer Heirat zwischen mir und Fräulein Eugenie Danglars spricht. Ich kann Sie also nicht mit gutem Gewissen dieBeredsamkeit eines Mannes anzweifeln lassen, der mir eines Tages sagen soll: Herr Vicomte, Sie wissen, daß ich meiner Tochter zwei Millionen mitgebe.

Still doch! sagteBeauchamp, diese Heirat wird nie stattfinden. Der König konnte ihn zum Grafen machen, er kann ihn zum Pair ernennen, aber er wird ihn nie zum Edelmann machen, und der Graf von Morcerf ist ein viel zu aristokratischer Degen, um gegen zwei armselige Millionen in eine Mesalliance zu willigen. Der Vicomte von Morcerf darf nur eine Marquise heiraten.

Lassen Sie ihn reden, Morcerf, versetzte Debray nachlässig, und heiraten Sie! Sie heiraten die Etikette eines gewissen Sacks, nicht wahr? Wohl, was liegt Ihnen daran? Es istbesser, ein Wappenschild wenigerbei dieser Etikette und eine Null mehr; Sie haben sieben Amseln in Ihrem Wappen, Sie geben Ihrer Frau drei, und esbleiben Ihnen immer noch vier; das ist eine mehr, als Herr von Guise gehabt hat, derbeinahe König von Frankreich geworden wäre, und dessen Vetter Kaiser von Deutschland war.

Meiner Treu, ich glaube, Sie haben recht, erwiderte Albert zerstreut.

Herr von Chateau‑Renaud! Herr Maximilian Morel, sagte der Kammerdiener, zwei neue Gäste meldend.

Vollzählig also! riefBeauchamp, denn wenn ich mich nicht täusche, erwarteten Sie nur noch zwei Personen, Albert?

Morel! murmelte Albert erstaunt; Morel, wer ist das?

Doch ehe er vollendet hatte, nahm Herr von Chateau‑Renaud, ein junger Mann von etwa dreißig Jahren, ein Edelmann vom Scheitelbis zur Zehe, Albertbei der Hand und sagte zu ihm: Erlauben Sie mir, mein Lieber, Ihnen den Spahi‑Kapitän, Herrn Maximilian Morel, meinen Freund und meinen Retter, vorzustellen, obgleich ein solcher Mann wohl keiner Vorstellungbedarf. Begrüßen Sie meinen Helden, Vicomte.

Und er trat auf die Seite, um den großen, edeln, jungen Mann mit derbreiten Stirne, mit dem durchdringenden Auge, mit dem schwarzen Schnurrbart vorzustellen, den unsere Leserbereits in Marseille unter so dramatischen Umständen kennen gelernt haben. Eine reiche, halbfranzösische, halborientalische, stolz getragene Uniform ließ seinebreite, mit dem Kreuze der Ehrenlegion geschmückteBrust und die kühnen Linien seines Wuchses nochbesser hervortreten.

Der junge Mann verbeugte sich mit anmutreicher Höflichkeit.

Mein Herr, sagte Albert mit zuvorkommender Freundlichkeit, Herr von Chateau‑Renaud wußte zum voraus, welches Vergnügen er mir durch IhreBekanntschaftbereiten würde; Sie gehören zu seinen Freunden, lassen Sie sich auch zu den unsern zählen.

Sehr gut, rief Chateau‑Renaud, Sie können nur wünschen, daß er eintretendenfalls für Sie tun möge, was er für mich getan hat.

Und was hat er denn getan? fragte Albert.

Oh! es ist nicht der Mühe wert, davon zu reden, sagte Morel; der Herr übertreibt.

Wie? entgegnete Chateau‑Renaud, es ist nicht der Mühe wert, davon zu reden? Das Leben ist nicht wert, daß man davon spricht…? In der Tat, was Sie da sagen, ist zu philosophisch, mein lieber Herr Morel. Gut für Sie, der Sie Ihr Leben jeden Tag aufs Spiel setzen, aber nicht für mich, der es zufällig einmal in Gefahrbrachte.

Aus Ihren Worten entnehme ich, daß Ihnen Kapitän Morel das Leben gerettet hat, unterbrach ihn Albert.

Ja, es ist so, erwiderte Chateau‑Renaud.

Bei welcher Gelegenheit? fragteBeauchamp.

Sie wissen alle, daß mir der Gedanke kam, nach Afrika zu gehen.

Das ist ein Weg, den Ihnen Ihre Ahnen, die Kreuzfahrer, vorgezeichnet haben, mein lieber Chateau‑Renaud, bemerkte Morcerf höflich.

Ja, doch ich zweifle, daß esbei Ihnen auch dieBefreiung des Grabes Christi galt, warfBeauchamp ein.

Sie haben recht, Beauchamp, versetzte der junge Aristokrat. Ich ging nur, um mich im Pistolenschießen zu üben. Das Duell widerstrebt mir, wie Sie wissen, seitdem zwei Zeugen, die ich gewählt, um eine Sachebeizulegen, mich zwangen, einem meinerbesten Freunde den Arm zu zerschmettern… oh! bei Gott, dem armen Franz d'Epinay, den ihr alle kennt.

Ah! ja, es ist wahr, ihr habt euch geschlagen, sagte Debray. Aus welcher Veranlassung?

Der Teufel soll mich holen, wenn ich mich dessen erinnere, erwiderte Chateau‑Renaud; ich weiß nur noch, daß ich mich schämte, ein Talent wie das meinige ruhen zu lassen, und daß ich an den Arabern die Pistolen versuchen wollte, die ich zum Geschenkebekommen habe. Demzufolge schiffte ich mich nach Oran ein undbegabmich nach Constantine, wo ich gerade ankam, als dieBelagerung aufgehoben wurde. Ich zog mich daher zurück wie die andern. 48 Stunden lang ertrug ich den Regenbei Tage, den Schneebei Nacht, am dritten Morgen endlich starbmein Pferd vor Kälte. Armes Tier! Als es tot war, mußte ich zu Fuß zurückgehen. Da sprengten sechs Araber im Galopp herbei, mir den Kopf abzuhauen. Ich schoß zwei mit der Flinte, zwei mit meinen Pistolen nieder; aber esblieben noch zwei übrig, und ich hatte keine Waffe mehr. Der eine nahm michbei den Haaren, weshalbich sie jetzt kurz trage, denn man kann nicht wissen, was wieder geschieht; der andere zielte mit seinem Yatagan nach meinem Halse, und ich fühltebereits das kalte Eisen, als dieser Herr, den Sie hier sehen, ebenfalls auf sie eindrang, den, welcher michbei den Haaren hielt, mit einem Pistolenschuß niederstreckte und dem andern, der mir mit einem Säbelhiebden Hals abschlagen wollte, den Schädel spaltete. Der Herr hatte sich die Aufgabe gestellt, an diesem Tage einen Menschen zu retten, der Zufall wollte, daß ich dies war; wenn ich einmal reichbin, lasse ich dem Zufall eine Statue errichten.

Ja, sagte Morel lächelnd, es war am 5. September, am Jahrestage einer wunderbaren Rettung meines Vaters, ich feiere daher auch, soviel in meinen Kräften liegt, diesen Tag jedes Jahr durch irgend eine Handlung.

Durch eine heldenmütige, nicht wahr? unterbrach ihn Chateau‑Renaud; kurz ich war der Auserwählte, doch das ist noch nicht alles. Nachdem er mich vom Eisen errettet, rettete er mich vor der Kälte, indem er mir seinen Mantel gab; dann schützte er mich vor dem Hunger dadurch, daß er sein kostbares Pferd, von dem wir, vom Hunger getrieben, jeder ein Stück mit großem Appetit verzehrten, mit mir teilte.

Ich ahnte, Sie würden mein Freund werden, Herr Graf, sagte Morel; überdies habe ichbereits die Ehre gehabt, Ihnen zubemerken, daß ich an diesem Tage dem Schicksal eine Gabe als Wiedervergeltung für die Gunst schuldigbin, die uns einst zu teil geworden ist.

Die Geschichte, auf die Herr Morel anspielt, fuhr Chateau‑Renaud fort, ist eine ganzbewunderungswürdige Geschichte, die er Ihnen eines Tages erzählen wird, wenn Sie nähereBekanntschaft mit ihm gemacht haben; für heute wollen wir den Magen und nicht das Gedächtnis stärken. Um wieviel Uhr frühstücken Sie, Albert?

Um halbelf Uhr.

Auf den Punkt? fragte Debray, seine Uhr ziehend.

Ah! Sie werden mir doch die fünf Wartminuten gewähren, erwiderte Morcerf, denn ich erwarte ebenfalls einen Retter.

Einen Retter wessen?

Von mir, bei Gott! antwortete Morcerf. Glauben Sie, man könne mich nicht auch retten, wie einen andern, und nur die Araber schlagen Köpfe ab? Unser Frühstück ist ein philanthropisches Frühstück, und wir werden, wenigstens hoffe ich es, zwei Wohltäter der Menschheitbei Tische haben.

Und woher kommt er? fragte Debray.

Das weiß ich nicht, erwiderte Albert. Als ich ihn vor drei Monaten einlud, war er in Rom; doch wer kann sagen, welchen Weg er seitdem gemacht hat?

Glauben Sie, daß er Pünktlichkeitbesitzt? fragte Debray.

Ich glaube, daß er alle guten Eigenschaftenbesitzt.

Passen Sie ja auf! Mit Ihren fünf Wartminuten sind's noch zehn.

Ich werde siebenutzen, um Ihnen ein Wort von meinem interessanten Gaste zu sagen. Ich war während des letzten Karnevals in Rom und wurde von Räubern entführt.

Es gibt keine Räuber, sagte Debray.

Allerdings gibt es welche und zwar abscheuliche, das heißt liebenswürdige, denn ich habe sie zum Fürchten zu schön gefunden. Die Räuber hatten mich also entführt und an einen jammervollen Ort gebracht, den man die Katakomben von San Sebastiano nennt. Man kündigte mir an, ich sei Gefangener gegen Lösegeld für erbärmliche 4000 römische Taler. Zum Unglückbesaß ich nicht mehr als fünfzehnhundert; ich war am Ende meiner Reise und mein Kredit erschöpft. Ich schrieban Franz, daß ich mich, wenn er nicht um sechs Uhr morgens mit den 4000 Talern käme, zehn Minuten später in der Gesellschaft der Heiligen und glorreichen Märtyrerbefinden würde, und Luigi Vampa, dies ist der Name meines Räuberhauptmanns, hätte gewissenhaft sein Wort gehalten, das dürfen Sie glauben.

Doch Franz kam mit den 4000 Talern? sagte Chateau‑Renaud. Zum Teufel! Man ist um 4000 Taler nicht in Verlegenheit, wenn man Franz d'Epinay oder Albert von Morcerf heißt!

Nein, er kam einfach inBegleitung des Gastes, den ich Ihnen ankündige und vorzustellen hoffe.

Oh! dieser Herr ist also ein Herkules.

Nein, er ist ein Mann etwa von meiner Figur.

Bis unter die Zähnebewaffnet?

Er hatte nicht einmal eine Stricknadelbei sich.

Unterhandelte er wegen Ihres Lösegeldes?

Er sagte dem Anführer zwei Worte ins Ohr, und ich war frei.

Man entschuldigte sich sogarbei Ihnen, daß man Sie festgenommen hatte? sagteBeauchamp.

Allerdings, sagte Morcerf.

Der Mann war also ein Geisterbanner?

Es war der Graf von Monte Christo.

Es gibt keinen Grafen von Monte Christo, sagte Debray.

Ich glaube nicht, fügte Chateau‑Renaud mit der überlegenen Miene eines Mannesbei, der sein europäisches Adelsbuch an den Fingern auswendig weiß, daß irgend wer irgend was von einem Grafen von Monte Christo gehört hat.

Verzeihen Sie, meine Herren, sagte Maximilian, ich glaube, ich kann Ihnen einen Fingerzeig geben. Monte Christo ist eine kleine Insel, von der ich die Matrosen im Dienste meines Vaters oft sprechen hörte… ein Sandkorn im Mittelländischen Meere.

Ganz richtig, versetzte Albert. Nun, dieses Sandkorns Gebieter und König ist der, von dem ich eben rede; er wird das Grafendiplom irgendwo in Toskana gekauft haben.

Ihr Graf ist also reich?

Haben Sie Tausendundeine Nacht gelesen?

Bei Gott, eine schöne Frage!

Wissen Sie denn, obdie Leute, die man dort sieht, reich oder arm sind? Obihre Getreidekörner nicht Diamanten oder Rubinen sind? Sie sehen aus wie armselige Fischer, nicht wahr? Plötzlich öffnen Sie Ihnen eine geheimnisvolle Höhle, worin Sie einen Schatz finden, für den man Indien kaufen könnte.

Nun?

Nun, mein Graf von Monte Christo ist einer von diesen Fischern. Er hat sogar einen entsprechenden Namen angenommen, denn er nennt sich Simbad der Seefahrer undbesitzt eine Höhle voll Gold.

Und haben Sie diese Höhle gesehen, Morcerf? sagteBeauchamp.

Ich nicht, aber Franz. Doch still! Man darf kein Wort davon in seiner Gegenwart sprechen. Franz stieg mit verbundenen Augen in die Höhle hinabund wurde von Stummen und von Frauenbedient, gegen die Kleopatra nur eine Lorette ist. Nur ist er nicht ganz sicher inBeziehung auf diese Frauen, weil er sie erst gesehen hat, nachdem er Haschisch gegessen hatte, so daß möglicherweise das, was er für tanzende Frauen hielt, eine Quadrille von Statuen war.

Die jungen Leute schauten Morcerf mit Augen an, als wollten sie sagen: Sind Sie wahnsinnig, oder wollen Sie unser spotten?

In der Tat, sagte Morel nachdenklich, ich habe einen alten Matrosen namens Penelon etwas erzählen hören, was mit Herrn von Morcerfs Erzählung übereinstimmt.

Ah! rief Albert, es ist ein Glück, daß mir Herr Morel zu Hilfe kommt. Nicht wahr, es ärgert Sie, daß er einen Faden in mein Labyrinth wirft?

Verzeihen Sie, lieber Freund, entgegnete Debray, Sie erzählen uns so unwahrscheinliche Dinge.

Ja, aber mein Graf von Monte Christo existiert.

Bei Gott! Die ganze Welt existiert, ein schönes Wunder also!

Allerdings existiert die ganze Welt, aber nicht unter ähnlichenBedingungen. Nicht die ganze Welt hat schwarze Sklaven, fürstliche Galerien, Waffen wie in der Kasauba, Pferde für 6000 Franken das Stück, eine griechische Geliebte.

Haben Sie die griechische Geliebte gesehen?

Ja, ich habe sie gesehen und gehört, gesehen im Teatro Argentina, gehört eines Tages, als ichbei dem Grafen frühstückte.

Ihr außerordentlicher Mann ißt also?

Meiner Treu, wenn er es tut, ist es so wenig, daß es sich nicht der Mühe lohnt, nur davon zu sprechen.

Sie werden sehen, es ist ein Vampir.

Lachen Sie, wenn Sie wollen. Das war auch die Ansicht der Gräfin G***.

Falbes Auge, dessen Stern sich nachBelieben vermindert oder erweitert, sagte Debray; stark hervortretende Gesichtswinkel, herrliche Stirn, Leichenblässe, schwarzerBart, weiße, spitzige Zähne, Höflichkeit ebenso.

Ganz genau getroffen, Lucien, rief Morcerf, das Signalement paßt Zug für Zug. Ja, spitzige, einschneidende Höflichkeit. Er hat mich oft schaudern lassen, so eines Tages, als wir gemeinschaftlich einer Hinrichtungbeiwohnten und ich ihn kalt über alle Arten von Hinrichtungen sprechen hörte.

Hat er Sie nicht auch in die Ruinen des Kolosseums geführt, um Ihnen dasBlut auszusaugen, Morcerf? fragteBeauchamp.

Spotten Sie, solange Sie wollen, meine Herren, versetzte Morcerf etwas gereizt. Wenn ich Sie anschaue, Sie, den schönen Pariser, und mir daneben diesen Mann vorstelle, so kommt es mir vor, als wären wir nicht von demselben Geschlechte.

Jedenfalls, sagte Chateau‑Renaud, ist Ihr Graf in seinen verlorenen Augenblicken ein artiger Mann, abgesehen von seinem Verkehr mit den italienischenBanditen.

Es gibt keine italienischenBanditen! sagte Debray.

Keine Vampire! fügteBeauchamp hinzu.

Keinen Grafen von Monte Christo, sagte Debray. Hören Sie, Albert, es schlägt halbelf Uhr. Gestehen Sie, daß Sie der Alp gedrückt hat, und lassen Sie uns frühstücken!

Doch die Pendeluhr hatte vom Schlage noch nicht zu schwingen aufgehört, als die Tür sich öffnete; Germain trat ein und meldete: Der Graf von Monte Christo.

Alle Zuhörer fuhren in die Höhe, so sehr hatte sie Morcerfs Erzählung erregt; Albert selbst konnte sich einer ungestümenBewegung nicht erwehren. Man hatte weder einen Wagen auf der Straße noch Tritte im Vorzimmer gehört; selbst die Tür hatte sich geräuschlos geöffnet.


Der Graf erschien auf der Schwelle mit der größten Einfachheit gekleidet, aber auch der anspruchsvollste Gesellschaftslöwe hätte an seiner Toilette nichts zu tadeln gefunden. Alles war vom feinsten Geschmack und aufs eleganteste gearbeitet.

Er schien kaum fünfunddreißig Jahre alt zu sein, und allen Anwesenden fielbeim erstenBlick die große Ähnlichkeit mit dem von Debray entworfenen Porträt auf.

Der Graf trat lächelnd mitten in den Saal und ging auf Albert zu, der ihm mit zuvorkommendem Eifer die Hand reichte.

Die Pünktlichkeit, sagte Monte Christo, ist die Höflichkeit der Könige, wie einer Ihrer Fürstenbehauptet hat; doch sie ist nicht immer die der Reisenden, trotz ihrembesten Willen. Ich hoffe indessen, mein lieber Vicomte, Sie werden zu gunsten meines guten Willens die paar Sekunden entschuldigen, die ich zu spät erscheine. Fünfhundert Meilen macht man nicht, ohne auf Hindernisse zu stoßen, besonders in Frankreich, wo es, wie mir scheint, verboten ist, die Postillone durchzuprügeln.

Herr Graf, erwiderte Albert, ich war eben damitbeschäftigt, IhrenBesuch einigen meiner Freunde anzukündigen, die ich aus Veranlassung Ihrer Zusage eingeladen und nun Ihnen vorzustellen die Ehre habe. Es sind dies der Herr Graf von Chateau‑Renaud, dessen Adelbis zu den zwölf Pairs hinaufsteigt, und dessen Ahnen an der Tafelrunde gesessen haben; Herr Lucien Debray, Privatsekretär des Ministers des Innern, HerrBeauchamp, ein furchtbarer Journalist, der Schrecken der französischen Regierung, von dem Sie jedoch vielleicht trotz seiner nationalenBerühmtheit in Italien niemals etwas gehört haben, weil seine Zeitung wegen ihrer freien Haltung in Italien nicht zugelassen wird, ferner Herr Maximilian Morel, Kapitänbei den Spahis.

Bei diesem Namen machte der Graf, derbis dahin höflich, aber mit echt englischer Kälte und Unempfindlichkeit gegrüßt hatte, einen Schritt vorwärts, und ein leichter rötlicher Ton zog wie einBlitz über seinebleichen Wangen hin.

Der Herr trägt die Uniform der neuen französischen Sieger? sagte er; es ist eine schöne Uniform.

Man hätte schwer sagen können, was die Stimme des Grafen so tief ertönen ließ, was den unwillkürlichen Glanz in sein Auge lockte, das so schön, so ruhig, so durchsichtig war, wenn er nicht irgend einen Grund hatte, es zu verschleiern.

Sie haben unsre Afrikaner nie gesehen? sagte Albert.

Nie, erwiderte der Graf, der nun wieder vollkommen seiner Herr geworden war.

Wohl, unter dieser Uniform schlägt eins derbravsten und edelsten Herzen des Heeres.

Oh! Herr Vicomte… unterbrach ihn Morel.

Lassen Sie mich sprechen, Kapitän. Wir haben soeben von diesem Herrn einen so edelmütigen Zug erfahren, fuhr Albert fort, daß ich mir, obgleich ich ihn heute zum erstenmal sehe, die Gunst erbitte, ihn als meinen Freund vorstellen zu dürfen.

Bei diesen Worten konnte manbeim Grafen abermals den seltsamenBlick und das leichte Zittern des Augenlides wahrnehmen, wodurch sichbei ihm eine innereBewegung kundgab. Ah! der Herr hat ein edles Herz, destobesser, sagte er.

Dieser mehr dem eigenen Gedanken, als dem, was Albert gesagt hatte, entsprechende Ausruf überraschte alle, besonders Morel, der Monte Christo ganz erstaunt anschaute. Aber der Ton war zu gleicher Zeit so sanft und weich, daß man sich, so seltsam auch der Ausruf erscheinen mußte, unmöglich darüber ärgern konnte.

Warum sollte er daran zweifeln? sagteBeauchamp leise zu Chateau‑Renaud.

In der Tat, versetzte Chateau‑Renaud ebenso, der mit seiner Welterfahrenheit und der Schärfe seines aristokratischenBlickes allesbei Monte Christo durchdrungen hatte, wasbei ihm zu durchdringen war, in der Tat, Albert hat uns nicht getäuscht; dieser Graf ist eine seltsame Person. Was sagen Sie dazu, Morel?

Meiner Treu, sagte Morel, er hat ein offenes Auge und eine sympathische Stimme, und er gefällt mir, trotz der sonderbarenBemerkung, die er soeben über mich gemacht hat.

Meine Herren, sagte Albert, Germain meldet mir, daß aufgetragen ist. Mein lieber Graf, erlauben Sie mir, Ihnen den Weg zu zeigen.

Man ging schweigend in den Speisesaal.

Meine Herren, sagte der Graf, nachdem er sich gesetzt hatte, erlauben Sie mir ein Geständnis, das zur Entschuldigung für jede Unschicklichkeit dienen soll, die ichbegehen dürfte; ichbin fremd, und zwar dergestalt fremd, daß ich zum erstenmal nach Paris komme. Das französische Leben ist mir folglich unbekannt, und ich habebis jetzt nur ein orientalisches Leben geführt, das den guten Pariser Traditionen am allerwenigsten entspricht. Ichbitte Sie also, mich zu entschuldigen, wenn Sie an mir etwas zu Türkisches, zu Neopolitanisches oder zu Arabisches finden. So, nun lassen Sie uns aber frühstücken, meine Herren!

Wie er das alles sagt! murmelteBeauchamp; es ist entschieden ein vornehmer Herr.

Ein vornehmer Herr aus fremden Lande, flüsterte Debray.

Ein vornehmer Herr in allen Ländern, sagte Chateau‑Renaud.

Der Graf war, wie man sich erinnern wird, ein mäßiger Esser. Albertbefürchtete, das Pariser Leben könnte dem Gast schon von Anfang an durch seine materiellste, aber zugleich notwendigste Seite mißfallen, und sagte daher zu ihm: Mein lieber Graf, ich fürchte, die Küche der Rue du Helder wird Ihnen nicht so sehr munden, als die der Piazza di Spagna. Ich hätte Ihren Geschmack zu Rate ziehen und Ihnen einige Gerichte nach Ihrer Phantasiebereiten lassen sollen.

Wenn Sie mich näher kennten, antwortete der Graf lächelnd, so würden Sie sich deswegen nicht die geringste Sorgebei einem Reisenden machen, der abwechselnd von Maccaroni in Neapel, von Polenta in Mailand, von Olla potrida in Valencia, von Pilau in Konstantinopel, von Carick in Indien und von Schwalbennestern in China gelebt hat. Es gibt keine Küche für einen Kosmopoliten wie ichbin. Ich esse von allem und überall, nur esse ich wenig, und heute, wo Sie mir meine Nüchternheit zum Vorwurf machen, habe ich gerade Appetit, denn seit gestern morgen ist nichts über meine Lippen gekommen.

Wie, seit gestern morgen? riefen die Gäste; Sie haben seit vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen?

Nein, erwiderte Monte Christo, ich war genötigt, von der Straße abzugehen und in der Gegend von Nimes Erkundigungen einzuziehen; dadurch verspätete ich mich etwas, und dann wollte ich nicht mehr anhalten. Und Sie speisten in Ihrem Wagen? fragte Morcerf.

Nein, ich schlief, wie mir diesbegegnet, wenn ich mich langweile, ohne den Mut zu haben, mich zu zerstreuen, oder wenn mich hungert, ohne daß ich Lust habe zu essen.

Sie können also dem Schlafbefehlen?

So ungefähr.

Besitzen Sie ein Rezept hierzu?

Ein untrügliches.

Das wäre gut für uns Afrikaner, die wir nicht immer zu essen und selten zu trinken haben, bemerkte Morel.

Ja, erwiderte Monte Christo, doch so vortrefflich mein Rezept für einen Menschen ist wie ich, der ein ausnahmsweises Leben führt, so gefährlich wäre es für eine ganze Armee, die nicht mehr erwachen würde, wenn man ihrerbedürfte.

Darf man wissen, worin dieses Rezeptbesteht? fragte Debray.

Oh! mein Gott, ja, ich mache kein Geheimnis daraus. Es ist eine Mischung von vortrefflichem Opium, das ich selbst in Canton geholt habe, um es rein zubesitzen, und vombesten Haschisch, den man im Orient, das heißt zwischen dem Tigris und Euphrat, findet. Man mengt diesebeiden Ingredienzien zu gleichen Teilen und macht daraus eine Art von Pillen, die man im Augenblick desBedürfnisses verschluckt. Zehn Minuten nachher tritt die Wirkung ein. Fragen Sie denBaron Franz d'Epinay, ich glaube, er hat eines Tages davon gekostet.

Ja, versetzte Morcerf, er erzählte mir davon, und erbewahrt eine sehr angenehme Erinnerung an diesen Genuß.

Sie führen also diese Droge stetsbei sich? fragteBeauchamp, der in seiner Eigenschaft als Journalist sehr ungläubig war.

Beständig, antwortete Monte Christo.

Wäre es unbescheiden, wenn ich Siebitte, diese Pillen sehen zu dürfen? fuhrBeauchamp fort, in der Hoffnung, den Fremden auf einerBlöße zu ertappen. Nein, mein Herr, erwiderte der Graf; und er zog aus seiner Tasche eine wundervolleBonbonniére, die aus einem einzigen Smaragd gearbeitet und mit einer Schraube verschlossen war, und die, wenn man sie ausschraubte, ein Kügelchen von grünlicher Farbe und von der Größe einer Erbse durchließ. Dieses Kügelchen hatte einen scharfen, durchdringenden Geruch; es waren vier oder fünf ähnliche in dem Smaragd, der ungefähr ein Dutzend fassen mochte. DieBonbonniére machte die Runde um die Tafel, doch die Gäste ließen sie mehr umhergehen, um den prachtvollen Smaragd zubewundern, als um die Pillen zuberiechen.

Und diese Speisebereitet Ihnen Ihr Koch? fragteBeauchamp.

Nein, erwiderte Monte Christo; ich überlasse meine reellen Genüsse nicht der Willkür unwürdiger Hände. Ichbin ein ziemlich guter Chemiker undbereite meine Pillen selbst.

Das ist einbewunderungswürdiger Smaragd… es ist der größte, den ich je gesehen habe, obgleich meine Mutter als Familienwertstücke verschiedene ziemlich merkwürdige Juwelenbesitzt, sagte Chateau‑Reuaud.

Ich hatte drei gleiche, versetzte Monte Christo; den einen gabich dem Großsultan, der ihn an seinen Säbel fassen ließ; den andern unserem heiligen Vater, dem Papst, auf dessen Geheiß er auf seine Tiara, als Gegenstück zu einem ähnlichen, aber doch minder schönen Smaragd, einer Gabe Napoleons an seinen Vorgänger Pius VII., eingesetzt wurde. Den drittenbehielt ich für mich; ich ließ ihn aushöhlen, was ihm ungefähr die Hälfte seines Wertesbenommen, aber für den Gebrauch, zu dem ich ihnbestimmte, bequemer gemacht hat.

Alle schauten Monte Christo erstaunt an; er sprach mit so viel Einfachheit, daß er offenbar die Wahrheit sagte oder verrückt sein mußte. Beim Anblick des Smaragds in seinen Händen aber neigte man natürlich zu der ersten Vermutung.

Und was haben Ihnen diesebeiden Herrscher dagegen gegeben? fragte Debray.

Der Großherr die Freiheit einer Frau, antwortete der Graf, unser heiliger Vater, der Papst, das Leben eines Mannes. So war ich einmal in meinem Dasein so mächtig, als hätte mich Gott auf den Stufen eines Thrones geboren werden lassen.

Es ist Peppino, den Siebefreit haben, nicht wahr? rief Morcef; für ihn haben Sie IhrBegnadigungsrecht angewendet?

Vielleicht, antwortete Monte Christo lächelnd.

Herr Graf, Sie machen sich keinenBegriff, welches Vergnügen es mirbereitet, Sie so sprechen zu hören, sagte Morcerf. Ich hatte Sie zum voraus meinen Freunden als einen fabelhaften Mann, als einen Zauberer aus Tausendundeiner Nacht, als einen Hexenmeister angekündigt; doch die Pariser sind so paradoxe Leute, daß sie die unbestreitbarsten Wahrheiten für Launen der Einbildungskraft halten, wenn diese Wahrheiten nicht in ihrer täglichen Existenz in Erscheinung treten, Nehmen Sie zumBeispiel hier Debray, der alle Tage liest, undBeauchamp, der täglich druckt, daß man auf demBoulevard ein verspätetes Mitglied des Jockeyklubs geplündert, daß man vier Personen in der Rue Saint‑Denis oder im Faubourg Saint‑Germain ermordet hat, daß zehn Diebe in einem Kaffeehause desBoulevard du Temple verhaftet worden sind, und dennochbestreiten sie das Vorhandensein vonBanditen in der römischen Campagna. Sagen Sie ihnen doch selbst, Herr Graf, daß michBanditen festgenommen, und daß ich ohne Ihre edelmütige Vermittelung aller Wahrscheinlichkeit nach heute die ewige Auferstehung in den Katakomben von San Sebastiano zu erwarten hätte, statt Ihnen in meinem unwürdigen Häuschen in der Rue du Helder ein Frühstück zu geben.

Bah! rief Monte Christo, Sie haben mir versprochen, von dieser Kleinigkeit nie zu sprechen. Nicht ich, Herr Graf, entgegnete Morcerf; Sie verwechseln mich mit einem andern, dem Sie wahrscheinlich denselben Dienst geleistet haben, wie mir. Sprechen wir im Gegenteil davon, ichbitte Sie! Denn wenn Sie sich entschließen, hiervon zu reden, so werden Sie mir vielleicht nicht nur das wiederholen, was ich weiß, sondern auch vieles sagen, was ich nicht weiß.

Es scheint mir aber, entgegnete der Graf lächelnd, Sie habenbei dieser ganzen Angelegenheit eine genügend wichtige Rolle gespielt, um ebensogut wie ich zu wissen, was vorgefallen ist.

Wollen Sie mir versprechen, wenn ich alles sage, was ich weiß, mir Ihrerseits zu sagen, was ich nicht weiß?

Das ist nurbillig, antwortete Monte Christo.

Gut, sagte Morcerf, und sollte es auch auf Kosten meiner Eitelkeit gehen. Ich hielt mich drei Tage lang für den Gegenstand der Liebesblicke einer Maske, die mir als neue Julia oder Poppäa erschien, während ich doch in Wahrheit von einerBäuerin geködert wurde. Ich weiß nur, daß ich Dummkopf einen jungenBanditen von fünfzehnbis sechzehn Jahren mitbartlosem Kinn und von schlankem Wuchse für dieseBäuerin hielt, der im Augenblick, wo ich mir die Freiheit nehmen wollte, einen Kuß auf seine keusche Schulter zu drücken, mir die Pistole vor dieBrust setzte und mich mit Hilfe von sieben oder acht Gefährten in die Katakomben von Sebastiano führte oder vielmehr schleppte. Hier fand ich einen wissenschaftlich gebildetenBanditenanführer, der Cäsars Kommentar las und sich nurbewogen fühlte, seine Lektüre zu unterbrechen, um mir zu sagen, daß ich, wenn ich am andern Morgen um sechs Uhr nicht viertausend Taler in seine Kasse entrichtet hätte, um Viertel auf sieben Uhr zu leben aufhören würde. DerBrief ist noch in Franzens Händen, von mir unterzeichnet und mit einer Nachschrift von Luigi Vampa versehen. Zweifeln Sie an meinen Worten, so schreibe ich an Franz und lasse die Echtheit der Unterschriftenbescheinigen. Das ist alles, was ich weiß. Was ich aber nicht weiß, ist der Umstand, wie es Ihnen gelungen ist, denBanditen so große Achtung einzuflößen. Ich gestehe Ihnen, daß Franz und ich vonBewunderung erfüllt waren.

Nichts ist einfacher, antwortete der Graf; ich kannte denberüchtigten Vampa seit mehr als zehn Jahren. Als er noch ganz jung und Hirte war, gaber mir eines Tages dafür, daß ich ihm irgend eine Goldmünze schenkte, weil er mir den Weg gezeigt hatte, einen von ihm selbst geschnitzten Dolch, den Sie wohl in meiner Waffensammlung gesehen haben. Später,… hatte er nun dieses Vorkommnis vergessen, oder hatte er mich nicht erkannt… wollte er mich einmal festnehmen; es gelang mir aber im Gegenteil, ihn mit einem Dutzend seiner Leute gefangen zu nehmen. Ich konnte Vampa der römischen Justiz ausliefern, die ziemlich rasch zu Werke geht und in seinem Fall sich noch mehr als gewöhnlichbeeilt haben würde, aber ich tat es nicht; ich entließ ihn und die Seinigen.

Unter derBedingung, daß sie nicht mehr sündigen würden, sagte der Journalist lachend. Ich sehe mit Vergnügen, daß sie ihr Wort gewissenhaft gehalten haben.

Nein, entgegnete Monte Christo, unter der einzigenBedingung, daß sie mir und den Meinen Achtung erweisen. Was ich Ihnen sage, kommt Ihnen vielleicht seltsam vor, meine Herren Sozialisten, Progressisten, Humanisten, aber ich kümmere mich nie um meinen Nächsten, ich suche nie die Gesellschaft zubeschützen, die mich nichtbeschützt und sich, ich darf es wohlbehaupten, im allgemeinen nur mit mirbeschäftigt, um mir zu schaden, und indem ich sie gering achte und ihnen gegenüber Neutralitätbeobachte, sind mir die Gesellschaft und mein Nächster das gleiche schuldig.

Das gefällt mir! rief Chateau‑Renaud; das ist der erste Mensch, den ich ehrlich und geradeheraus die Selbstsucht predigen höre. Sehr schön, bravo, Herr Graf!

Es ist wenigstens offenherzig, bemerkte Morel; doch ichbin überzeugt, der Herr Grafbereut es nicht, daß er einmal von den Grundsätzen abgegangen ist, die er soeben so unbedingt gegen uns ausgesprochen hat.

Wiesobin ich von diesen Grundsätzen abgegangen? fragte Monte Christo, der von Zeit zu Zeit Maximilian unwillkürlich so aufmerksam anschaute, daß der kühne junge Mann schon ein paarmal die Augen vor dem klaren, durchsichtigenBlicke des Grafen niedergeschlagen hatte.

Mir scheint, antwortete Morel, indem Sie Herrn von Morcerf, der Ihnen unbekannt war, befreiten, dienten Sie Ihrem Nächsten und der Gesellschaft.

Deren schönste Zierde erbildet, sagteBeauchamp ernst und leerte mit einem Zuge ein volles Glas Champagner.

Herr Graf, rief Morcerf, Sie sind gefangen, Sie, einer der schärfsten Logiker, die ich kenne, und Sie werden sehen, manbeweist Ihnen sogleich, daß Sie kein Egoist, sondern ein Philanthrop sind. Ah, Herr Graf, Sie sagen, Sie seien Orientale, Malaie, Indianer, Chinese, Wilder, Sie nennen sich Monte Christo mit Familiennamen, Simbad der Seefahrer mit Vornamen, und an dem Tage, wo Sie Paris zum erstenmalbetreten, besitzen Siebereits das größte Verdienst oder den größten Fehler unserer überschwenglichen Pariser, das heißt, Sie maßen sich Laster an, die Sie nicht haben, und verbergen die Tugenden, die Siebesitzen.

Lieber Vicomte, sagte Monte Christo, ich sehe in allem, was ich gesprochen oder getan, nicht das geringste, was des Lobes wert wäre, das ich soeben von Ihnen und diesen Herren empfangen habe. Sie waren kein Fremder für mich, da ich Sie kannte, da ich Ihnen zwei Zimmer abgetreten, da ich Ihnen ein Frühstück gegeben, da ich Ihnen meinen Wagen geliehen, da wir miteinander auf dem Korso die vorüberziehenden Maskenbetrachtet und von einem Fenster der Piazza del popolo einer Hinrichtung zugeschaut hatten, die einen so gewaltigen Eindruck auf Sie machte, daß Ihnenbeinahe übel geworden wäre. Ich frage nun alle diese Herren: Konnte ich meinen Gast in den Händen derBanditen lassen, wie Sie diese Leute nennen? Auch hatte ich, als ich Sie rettete, wie Sie wissen, einen Hintergedanken; ich wollte gern durch Sie in die Pariser Salons eingeführt werden, wenn ich nach Frankreich käme. Sie konnten das damals für einen flüchtigen Einfall halten, heute aber sehen Sie, daß es eine ernste Wahrheit ist, der Sie sich unterwerfen müssen, wenn Sie Ihr Wort nichtbrechen wollen.

Ich werde es halten, sagte Morcerf, doch ich fürchte sehr, es wird eine Entzauberungbei Ihnen eintreten, lieber Graf, da Sie durch romantischeBegebenheiten und phantastische Ereignisse verwöhnt sind. Bei uns finden Sie keine Spur von Episoden der Art, wie sie in Ihrem abenteuerlichen Leben zur Regel gehören. Unser Chimborasso ist der Montmartre, unser Himalaya der Mont‑Valérien, unsere große Wüste die Ebene von Grenelle, wo man einen artesischenBrunnen gegraben hat, damit die Karawanen Wasser finden. Wir haben auch Räuber, viele Räuber, wenn auch nicht so viele, wie man sagt, aber diese Räuber fürchten der weitem mehr den kleinsten Spion, als den mächtigsten Herrn: kurz, Frankreich ist ein so prosaisches Land und Paris eine so zivilisierte Stadt, daß Sie in allen unseren Departements keinenBerg finden, auf dem nicht eine Telegraphenstange stände, und keine etwas dunkle Grotte, in der die Polizei nicht hätte eine Glastür einsetzen lassen. Ich kann Ihnen folglich nur einen Dienst leisten, lieber Graf, und für diesen stehe ich zu Ihrer Verfügung: ich kann Sie überall vorstellen oder durch meine Freunde vorstellen lassen. Übrigensbrauchen Sie niemand hierzu; mit Ihrem Namen, mit Ihrem Vermögen und Ihrem Geiste — Monte Christo verbeugte sich mit leichtem ironischem Lächeln — stellt man sich überall selbst vor und wird überall gut aufgenommen. Ich kann Ihnen also nur in einerBeziehung nützlich sein. Gereicht es mirbei Ihnen zur Empfehlung, daß ich ein wenig mit dem Pariser Leben vertrautbin, einige Erfahrung im Komfortablen habe und unsereBasare kenne, so verfügen Sie über mich, wenn Sie sich einbequemes Haus aussuchen wollen. Ich wage es nicht, Ihnen den Vorschlag zu machen, meine Wohnung mit mir zu teilen, wie ich die Ihrige in Rom geteilt habe, ich, der ich mich nicht zum Egoismusbekenne, aber nichtsdestoweniger vorzugsweise Egoistbin; dennbei mir würde es, mich selbst ausgenommen, kein Schatten aushalten, dieser Schatten müßte denn der einer Frau sein.

Ah! rief der Graf, das ist ein ganz ehrlicher Vorbehalt. Sie haben mir in der Tat in Rom ein paar Worte von einem Heiratsplane gesagt; darf ich Ihnen zu Ihrer nahebevorstehenden Verbindung Glück wünschen?

Meinem Vater ist daran gelegen, und ich hoffe Ihnenbinnen kurzem, wenn nicht meine Frau, doch meineBraut, Fräulein Eugenie Danglars, vorzustellen.

Eugenie Danglars! rief Monte Christo, warten Sie doch… ist Ihr Vater nicht der Graf Danglars?

Ja, antwortete Morcerf, aber ein Graf neuer Herkunft.

Oh! Was tut das? entgegnete Monte Christo. Wenn er nur dem Staate Dienste geleistet hat, welche diese Auszeichnung als gerechteBelohnung erscheinen lassen.

Ungeheure Dienste, sagteBeauchamp. Er hat, obgleich in seinem Innern liberal, im Jahre 1829 ein Anlehen von sechs Millionen für den König Karl X. zu stande gebracht und wurde von diesem dafür zum Grafen und Ritter der Ehrenlegion ernannt, und so trägt er dasBand nicht an seiner Westentasche, wie man glauben könnte, sondern hübsch am Knopfloch seines Frackes.

Oh! rief Morcerf lachend, Beauchamp, Beauchamp, sparen Sie sich das für das Journal Amüsant und den Charivari, aber schonen Sie in meiner Gegenwart meinen künftigen Schwiegervater!

Sich an Monte Christo wendend, fragte Morcerf: Sie haben soeben seinen Namen ausgesprochen, wie einer, der den Grafen kennt?

Ich kenne ihn nicht, antwortete Monte Christo mit nachlässigem Tone, werde jedoch wahrscheinlichbald seineBekanntschaft machen, da ich einen offenen Kredit auf ihn durch das Haus Thomson und French in Rom habe.

Beim Aussprechen dieser Namen warf der Graf aus einem Winkel seines Auges Morel einenBlick zu.

Hatte der Fremde auf Morel eine Wirkung hervorzubringen gehofft, so täuschte er sich nicht. Morel zitterte, wie vom elektrischen Schlag getroffen. Thomson und French, sagte er, kennen Sie dieses Haus?

Es sind meineBankiers in der Hauptstadt der christlichen Welt, antwortete ruhig der Graf, kann ich Ihnenbei diesen Herren in irgend einerBeziehung nützlich sein?

Oh! Herr Graf, Sie könnten uns vielleicht in Nachforschungen unterstützen, diebis jetzt fruchtlos gewesen sind. Dieses Haus hat einst dem unsrigen einen großen Dienst geleistet, diesen Dienst aber, ich weiß nicht warum, stets abgeleugnet.

Ich stehe zuBefehl, sagte der Graf, sich verbeugend.

Aber wir sind vom Gegenstande unseres Gespräches abgekommen, bemerkte Morcerf. Es war davon die Rede, eine taugliche Wohnung für den Grafen von Monte Christo auszusuchen. Also meine Herren, wir wollen unsbesinnen! Wo werden wir unsern neuen Gast einquartieren?

Im Faubourg Saint‑Germain, sagte Chateau‑Renaud, der Herr findet dort ein reizendes kleines Hotel zwischen Garten und Hof.

Bah! Chateau‑Renaud, rief Debray, Sie kennen nur Ihren öden, langweiligen Faubourg Saint‑Germain. Hören Sie nicht auf ihn, Herr Graf! Wohnen Sie in der Chaussée‑d'Antin, das ist der wahre Mittelpunkt von Paris.

Boulevard de l'Opéra, sagteBeauchamp, im ersten Stock, ein Haus mitBalkon, der Herr Graf läßt Kissen von Silberstoff dahinbringen und sieht, seinen Tschibuk rauchend oder seine Pillen schluckend, die ganze Hauptstadt vor seinen Augen vorüberziehen.

Haben Sie keinen Gedanken, Morel, daß Sie nichts vorschlagen? sagte Chateau‑Renaud.

Doch wohl, erwiderte lächelnd der junge Mann; ich habe einen Gedanken, wartete aber, obsich der Herr Graf nicht durch einen von den glänzenden Vorschlägen, die man ihm macht, verführen lassen würde. Nun, da er nicht geantwortet, glaube ich ihm eine Wohnung in einem reizenden kleinen Hotel… ganz Pompadour… anbieten zu dürfen, das meine Schwester seit einem Jahr in der Rue Meslay gemietet hat.

Sie haben eine Schwester? fragte Monte Christo.

Ja, mein Herr, eine vortreffliche Schwester.

Verheiratet?

Seitbald neun Jahren, und so glücklich, als es ein menschliches Geschöpf nur sein kann, antwortete Maximilian; sie hat den Mann geheiratet, den sie liebte, der uns in unserem Unglück treu geblieben ist: Emanuel Raymond.

Monte Christo lächelte unmerklich.

Ich wohnte dort während meines halbjährigen Urlaubs, fuhr Maximilian fort, und stehe mit meinem Schwager Emanuel mit jeder Auskunft zu Diensten, deren der Herr Grafbedürfen sollte.

Einen Augenblick, rief Morcerf, noch ehe der Graf von Monte Christo Zeit gehabt hatte zu antworten. Bedenken Sie wohl, was Sie tun, Herr Morel; Sie wollen einen freien, schrankenlosen Reisenden, Simbad den Seefahrer, an das Familienleben fesseln; Sie wollen aus einem Mann, der gekommen ist, Paris zu sehen und zu genießen, einen Patriarchen machen.

Oh nein, erwiderte Morel lächelnd. Meine Schwester ist fünfundzwanzig Jahre alt, mein Schwager dreißig; sie sindbeide jung, heiter und glücklich. Zudem wird der Graf in eigenen Räumen leben, völlig sein eigener Herr sein und seine Wirte nur sehen, so oft es ihmbeliebt, sich zu ihnen zubegeben.

Ich danke, ich danke, sagte Monte Christo, ich werde michbegnügen, Ihrer Schwester und Ihrem Schwager durch Sie vorgestellt zu werden, wenn Sie mir diese Ehre erweisen wollen; aber ich nehme keines von den Anerbieten der Herren an, da schon eine Wohnung für michbereit steht.

Wie? rief Morcerf, Sie wollen im Gasthof absteigen? Das wird sehr unbequem für Sie sein.

War ich denn in Rom so übel dran? fragte Monte Christo.

Oh! in Rom, entgegnete Morcerf, dort haben Sie fünfzigtausend Piaster ausgegeben, um sich eine Wohnung möblieren zu lassen, doch ich setze voraus, Sie sind nicht geneigt, sich jeden Tag eine solche Ausgabe zu machen.

Das hätte mich nicht zurückgehalten, sagte Monte Christo; doch ich war entschlossen, ein Haus in Paris zu haben, ein eigenes Haus, und schickte meinen Kammerdiener voraus, der mir dieses Haus kaufen und möblieren lassen mußte.

Haben Sie denn einen Kammerdiener, der Paris kennt? riefBeauchamp.

Er kommt, wie ich, zum erstenmal nach Frankreich, mein Herr, ist schwarz und spricht nicht.

Dann ist es Ali? versetzte Albert, während alle erstaunt aufblickten.

Ja, es ist Ali, mein Nubier, mein Stummer, den Sie, wie ich glaube, in Rom gesehen haben.

Allerdings, ich erinnere mich seiner, sagte Morcerf.

Aber wie konnten Sie einen Nubierbeauftragen, Ihnen ein Haus zu kaufen, einen Stummen, es möblieren zu lassen? Der arme Unglückliche wird alles verkehrt gemacht haben.

Sie täuschen sich, Herr; ichbin im Gegenteil überzeugt, daß er alles nach meinem Geschmack eingerichtet hat, denn Sie wissen, mein Geschmack stimmt mit dem gewöhnlichen nicht überein. Er ist vor acht Tagen angekommen und wird in der Stadt mit dem Instinkte eines guten Jagdhunds herumgelaufen sein. Er kennt meine Neigungen, meine Schrullen, meineBedürfnisse, und ich zweifle nicht, daß er alles nach meinem Sinn gewählt hat. Er wußte, daß ich heute um zehn Uhr ankomme, und wartete auf mich seit neun Uhr an derBarrière de Fontainebleau. Dort übergaber mir dieses Papier, auf dem meine neue Adresse steht; sehen Sie! Monte Christo reichte das Papier Albert, und dieser las: Champs‑Elysées Nr. 30.

Das ist in der Tat originell, riefBeauchamp unwillkürlich.

Und ganz fürstlich, fügte Chateau‑Renaud hinzu.

Sie kennen Ihr Haus nicht einmal? fragte Debray.

Nein, erwiderte Monte Christo. Ich habe Ihnenbereits gesagt, daß ich die Stunde nicht versäumen wollte. Ich machte meine Toilette im Wagen und stieg vor der Tür des Vicomte aus.

Die jungen Leute schauten sich an; sie wußten nicht, obMonte Christo Komödie spielte; doch alles, was aus dem Munde dieses Mannes kam, trug ein solches Gepräge der Einfachheit, daß man an keine Lüge denken konnte. Warum sollte er auch gelogen haben?

Wir werden uns alsobegnügen müssen, dem Herrn Grafen alle die kleinen Dienste zu leisten, die in unserer Macht liegen, sagteBeauchamp. Ich meinerseits öffne ihm in meiner Eigenschaft als Journalist alle Theater von Paris.

Ich danke, versetzte Monte Christo lächelnd, mein Intendant hatbereitsBefehl erhalten, mir in jedem eine Loge zu mieten.

Ist Ihr Intendant auch ein Nubier, ein Stummer? fragte Debray.

Nein, er ist ein Landsmann von Ihnen, soweit manbei einem Korsen überhaupt von Landsmannschaft reden kann, er ist also ein Korse: doch Sie kennen ihn, Herr von Morcerf?

Sollte es etwa derbrave SignorBertuccio sein, der so gut Fenster zu mieten versteht?

Ganz richtig, Sie haben ihnbei mir an dem Tage gesehen, wo ich Siebeim Frühstück zu empfangen die Ehre hatte. Er ist ein sehrbraver Mann, der ein wenig Soldat, ein wenig Schmuggler, ein wenig von allem, was man sein kann, gewesen ist. Ich möchte nicht schwören, daß er nicht einmal mit der Polizei wegen einer Lumperei, etwa wegen eines Messerstichs, in Konflikt gekommen ist.

Und Sie haben diesen ehrlichen Weltbürger zum Intendanten gewählt, Herr Graf? sagte Debray. Wieviel stiehlt er Ihnen jährlich?

Auf mein Ehrenwort, nicht mehr als ein andrer, dessenbin ich sicher; doch erbesorgt meine Angelegenheiten, kennt keine Unmöglichkeit, und ichbehalte ihn.

Also Sie haben ein völlig eingerichtetes Haus, sagte Chateau‑Renaud, ein Hotel in den Champs‑Elysées, Bediente, Intendanten; es fehlt Ihnen nur noch eine Geliebte.

Albert lächelte; er dachte an die schöne Griechin, die er in der Gesellschaft des Grafen gesehen hatte.

Ich habe etwasBesseres, antwortete Monte Christo, ich habe eine Sklavin. Sie mieten Ihre Geliebten im de l'Opéra, im Théâtre des Variétés, ich habe die meinige in Konstantinopel gekauft; sie hat mich sehr viel gekostet, aber ichbrauche mich in dieserBeziehung um nichts mehr zubekümmern.

Doch Sie vergessen, sagte Debray lachend, wir sind, wie König Karl gesagt hat, frank dem Namen nach, frank der Natur nach, und somit ist Ihre Sklavin, sobald sie den Fuß auf die Erde Frankreichs gesetzt hat, frei geworden.

Wer wird es ihr sagen? fragte Monte Christo.

Der nächstebeste.

Sie spricht nur Neugriechisch.

Das ist etwas anderes.

Aber wir werden sie wenigstens sehen, fragteBeauchamp, oderbesitzen Sie auch Eunuchen, wie Sie einen Stummen haben?

Nein, erwiderte Monte Christo, so weit treibe ich den Orientalismus nicht. Jedem von meiner Umgebung steht es frei, mich zu verlassen, und wer mich verläßt, bedarf weder mehr meiner, noch irgend einer andern Person, darum verläßt man mich vielleicht nicht.

Inzwischen war man längstbeim Nachtisch undbei den Zigarren angelangt.

Mein Lieber, sagte Debray, als er aufstand und wegging, zum Wirt, es hat halbdrei Uhr geschlagen, Ihr Gast ist entzückend, aber die Gesellschaft mag so gut sein, wie sie will, man verläßt sie doch endlich… zuweilen einer schlechten zu Liebe; ich muß in mein Ministerium zurückkehren. Über den Grafen spreche ich mit dem Minister, und wir erfahren sicherlich, wer er ist.

Nehmen Sie sich in acht, entgegnete Morcerf; die Schlauesten haben darauf Verzicht geleistet.

Bah! wir haben drei Millionen für unsere Polizei; sie sind allerdings fast immer zum voraus ausgegeben, doch gleichviel, esbleiben immerhin fünfzigtausend Franken, die man hierauf verwenden kann.

Und wenn Sie wissen, wer er ist, werden Sie es mir sagen?

Ich verspreche es Ihnen. Auf Wiedersehen, meine Herren!

Mit diesen Worten verließ Debray die Gesellschaft und rief ganz laut im Vorzimmer: Vorfahren!

Gut, sagteBeauchamp zu Albert, ich gehe nicht in die Kammer, aber ich habe nun meinen Lesern etwasBesseres zubieten, als eine Rede von Danglars.

Ichbitte, Beauchamp, erwiderte Morcerf, ichbitte, kein Wort, hiervon; berauben Sie mich nicht des Verdienstes, ihn vorzustellen. Nicht wahr, er ist interessant?

Er ist noch mehr, sagte Chateau‑Renaud, er ist in der Tat einer der außerordentlichsten Menschen, die ich in meinem Leben gesehen habe. Kommen Sie mit, Morel?

Lassen Sie mich nur meine Karte dem Grafen geben, der uns einenBesuch zugesagt hat.

Seien Sie versichert, daß ich nicht verfehlen werde, ihn abzustatten, sagte der Graf mit einer Verbeugung.

Nachdem hierauf Morel dem Grafen seine Karte überreicht hatte, entfernte er sich mit demBaron von Chateau‑Renaud und ließ Monte Christo mit Morcerf allein.

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