Vierter Band

Wie man einen Gärtner von den Murmeltierenbefreit, die seine Pfirsiche fressen

Nicht an demselben Abend, wie er gesagt hatte, aber am andern Morgen verließ der Graf von Monte Christo Paris und zwar durch das Höllentor, schlug den Weg nach Orléans ein, fuhr durch das Dorf Linas, ohnebei der Telegraphenstation anzuhalten, und erreichte den Turm von Monthléry.

Am Fuße des Hügels sprang er aus dem Wagen und erstieg dann auf einem ringsherum führenden, achtzehn Zollbreiten Fußpfade die Anhöhe, sah sich aber auf dem Gipfel durch eine Hecke aufgehalten.

Monte Christo suchte die Tür des kleinen Geheges und fand sie auch sogleich. Es war ein hölzernes Gatter, das statt durch Angeln mit Weidenrutenbefestigt war und mittelst eines Nagels und einesBindfadens geschlossen wurde. Der Grafbegriff im Nu den Mechanismus, und die Tür öffnete sich.

Der Eindringlingbefand sich nun in einem kleinen, zwanzig Fuß langen und zwölf Fußbreiten Garten, der auf der einen Seite durch den alten, ganz mit Efeu umgürteten und von Mauernelken übersäten Turmbegrenzt war. Man ging durch diesen Garten, indem man einem vielfach geschlängelten, mit rotem Sandebestreuten Wege folgte, an dem sich eine mehrere Jahre alteBuchsbaumeinfassung hinzog. Nie ist Flora durch einen so sorglichen und reinen Kultus geehrt worden, wie man ihr ihn in diesem kleinen Gehege angedeihen ließ.

In der Tat, keiner von den zwanzig Rosenstöcken, die auf demBlumenbeet standen, zeigte auf einem seinerBlätter die Spur von Käfern oderBlattläusen, welche sonst die auf feuchtemBoden wachsenden Pflanzen zernagen. Und dennoch fehlte es dem Garten nicht an Feuchtigkeit; die rußschwarze Erde, das undurchsichtige Laubwerk derBäume ließen daran nicht zweifeln. Aus den Wegen war sorgsam jedes Gräslein entfernt und jedes Unkraut von denBeeten.

Monte Christobliebstehen, nachdem er die Tür, denBindfaden am Nagelbefestigend, wieder geschlossen hatte. Es scheint, der Telegraphist hält sich einen eigenen Gärtner, sagte der Graf, oder er widmet sich selbst leidenschaftlich der Gärtnerei. Plötzlich stieß er an einen Gegenstand, der hinter einem mitBlätterwerkbeladenen Schubkarren kauerte; dieser Gegenstand erhobsich, es entschlüpfte ihm ein Ausruf des Erstaunens, und Monte Christo stand einem Manne von etwa fünfzig Jahren gegenüber, der Erdbeeren pflückte und diese auf Weinblätter legte.

Er hatte zwölf Weinblätter undbeinahe ebensoviele Erdbeeren.

Sie halten Ihre Ernte, mein Herr? sagte Monte Christo lächelnd.

Verzeihen Sie, mein Herr, erwiderte der gute Mann, mit der Hand nach seiner Mütze greifend, ichbin allerdings nicht oben an meinem Posten, komme aber in diesem Augenblicke erst herab.

Ich will Sie durchaus nicht in IhrerBeschäftigung stören, erwiderte der Graf, pflücken Sie ruhig Ihre Erdbeeren.

Ichbitte noch einmal um Vergebung, mein Herr; ich lasse vielleicht einen Vorgesetzten warten? sagte der Mann undbetrachtete mit ängstlichemBlicke den Grafen und seinenblauen Frack.

Seien Sie unbesorgt, mein Freund, entgegnete Monte Christo mit jenem Lächeln, das einen so wohlwollenden, aber, wenn er wollte, auch einen so furchtbaren Eindruck machte, und das diesmal nur Wohlwollen ausdrückte, ichbin kein Vorgesetzter, der hier erscheint, um Sie zu inspizieren, sondern ein einfacher Reisender, der, von der Neugierde zu Ihnen geführt, es sich zum Vorwurfe macht, daß er Ihnen Ihre kostbare Zeit raubt.

Oh! meine Zeit ist nicht kostbar, versetzte der gute Mann mit schwermütigem Lächeln. Doch gehört meine Zeit der Regierung, und ich sollte sie nicht verlieren; doch kann ich, bis ein Signal ertönt, ruhig im Gartenbleiben… Würden Sie übrigens glauben, mein Herr, daß die Murmeltiere mir meine Erdbeeren wegfressen? fügte er mit sonderbarem Gedankensprunge hinzu.

Meiner Treu, nein, das hätte ich nicht geglaubt, erwiderte mit ernstem Ton Monte Christo; diese Murmeltiere sind schlimme Nachbarn für uns, die wir sie nicht essen, wie dies die Römer taten.

Ah! die Römer aßen sie, rief der Gärtner, sie aßen Murmeltiere?

Das erzählen uns die alten Schriftsteller, sagte der Graf.

Wirklich? Das kann nichts Gutes sein, obgleich man sagt: Fett wie ein Murmeltier. Und man darf sich nicht wundern, daß die Murmeltiere fett sind, denn sie schlafen den lieben langen Tag und wachen nur auf, um die ganze Nacht hindurch zu nagen. Sehen Sie, im letzten Jahre hatte ich vier Aprikosen; sie stahlen mir eine von den vieren. Ich hatte einenBlutpfirsich, einen einzigen, es ist gewiß eine seltene Frucht; nun, mein Herr, sie fraßen mir die Hälfte weg, auf der Mauerseite; es war ein herrlicher vortrefflicherBlutpfirsich; ich habe nie einenbesseren gegessen.

Sie haben ihn gegessen? fragte der Graf.

Das heißt, Sie verstehen, die übrig gebliebene Hälfte. Ah! verdammt, diese Spitzbuben wählen sich nicht die schlechtesten Stücke. Doch in diesem Jahr, fuhr der Gartenfreund fort, wird mir das nicht wiederbegegnen, und sollte ich die Früchte, bis sie vollends reif sind, die ganze Nacht hindurch hüten müssen.

Monte Christo hatte genug gesehen. Jeder Mensch hat seine Leidenschaft, die sich in seinem Herzen festsetzt, wie der Wurm in der Frucht; die des Telegraphisten war die Gärtnerei.

Er fing an, die Weinblätter abzupflücken, welche die Trauben vor der Sonne verbargen, und gewann sich dadurch das Herz des Gärtners.

Der Herr ist wohl gekommen, um den Telegraphen zu sehen? fragte dieser.

Ja, mein Herr, wenn es nicht durch die Vorschriften verboten ist?

Oh! nicht im geringsten, da ja keine Gefahr dabei ist und auch niemand weiß oder wissen kann, was wir telegraphieren. Ist es Ihnen gefällig, mit mir hinaufzugehen?

Ich folge Ihnen.

Monte Christo trat in den in drei Stockwerke abgeteilten Turm; der unterste enthielt einiges Gartengerät, wie Spaten, Rechen, Gießkannen. Der zweite diente dem Angestellten als Wohn- und Schlafraum; er enthielt einen armseligen Hausrat, einBett, einen Tisch, zwei Stühle, ein steinernes Waschbecken und an der Decke getrocknete Kräuter, in denen der Graf spanischeBohnen und wohlriechende Erbsen erkannte. Es war alles so sorgfältig mit Etiketten versehen, wie im PariserBotanischen Garten.

Braucht man viel Zeit, um telegraphieren zu lernen? fragte Monte Christo.

Das Studium dauert nicht lange, wohl aber die Zeit, die man als überzählig zu dienen hat.

Und wieviel erhält man Gehalt?

Tausend Franken, mein Herr.

Das ist nicht viel.

Nein, aber man hat freie Wohnung, wie Sie sehen.

Monte Christobetrachtete sich das Zimmer.

Wenn er nur nicht zu große Stücke auf seine Wohnung hält, murmelte er.

Sie gingen in den dritten Stock, wo sich das Telegraphenzimmerbefand. Monte Christo schaute den zierlichen Apparat an. Das ist sehr interessant, sagte er, aber in der Länge der Zeit muß Ihnen ein solches Leben etwas einförmig erscheinen.

Ja, am Anfang, doch nach Verlauf von ein paar Jahren ist man daran gewöhnt, und während meiner freien Zeit gehe ich meiner Lieblingsbeschäftigung, der Gärtnerei, nach, pflanze, schneide, raupe, und sobleibe ich vor Langeweilebewahrt.

Seit wie lange sind Sie hier?

Seit zehn Jahren, und fünf Jahre als Überzähliger, das macht fünfzehn.

Wie lange müssen Sie dienen, um Ruhegehalt zubekommen?

Oh! Herr, fünfundzwanzig Jahre.

Und wievielbeträgt dieser Ruhegehalt?

Hundert Taler.

Arme Menschheit! murmelte Monte Christo.

Was sagen Sie, mein Herr? fragte der Mann.

Ich sage, es sei alles sehr interessant, was Sie mir zeigen… setzt sich nicht soeben die Mechanik Ihres Apparates inBewegung?

Ah! es ist wahr, mein Herr.

Und was sagt Ihnen Ihr Korrespondent?

Er fragt mich, obichbereit sei, und wird sogleich eine Nachricht telegraphieren, die ich an die nächste Station weiterzubefördern habe.

Mein lieber Herr, sagte Monte Christo, Sie lieben die Gärtnerei?

Leidenschaftlich.

Und Sie wären glücklich, wenn Sie statt einer Terrasse von zwanzig Fuß ein Grundstück von zwei Morgen hätten?

Mein Herr, ich würde ein irdisches Paradies daraus machen.

Mit Ihren tausend Franken leben Sie schlecht?

Ziemlich schlecht; doch ich lebe.

Ja; aber Sie haben einen elenden Garten.

Es ist wahr, der Garten ist nicht groß.

Und dabei noch voll von Murmeltieren, die alles auffressen. — Sagen Sie mir, wenn Sie das Unglück hätten, ein Telegramm zu übersehen, was geschähe dann?

Ich würde wegen Nachlässigkeit um Geld gestraft.

Um wieviel?

Um hundert Franken, den zehnten Teil meines Einkommens.

Ist Ihnen das schonbegegnet? fragte Monte Christo.

Einmal, mein Herr, während ich einen Rosenstock pfropfte.

Gut. Wenn es Ihnen nun einfiele, etwas an dem Texte zu ändern oder ein anderes Telegramm dafür einzusetzen?

Dann würde ich entlassen und verlöre mein Ruhegehalt. Siebegreifen daher, mein Herr, daß ich nie etwas dergleichen tun würde.

Nicht einmal für fünfzehn Jahre Ihres Gehaltes?

Für 15 000 Franken? Mein Herr, Sie erschrecken mich.

Bah!

Mein Herr, Sie wollen mich in Versuchung führen?

Ganz richtig! Für 15 000 Franken, begreifen Sie?

Mein Herr, lassen Sie mich nach meinem Apparat schauen!

Im Gegenteil schauen Sie nicht nach ihm, sondern schauen Sie dies an. Kennen Sie diese Papierchen nicht?

Banknoten!

Ja, Tausender; es sind fünfzehn.

Wem gehören sie?

Ihnen, wenn Sie wollen.

Mir! rief der Telegraphist zitternd.

Mein Gott! ja, Ihnen, als freies Eigentum.

Mein Herr, sehen Sie, mein Apparat arbeitet.

Lassen Sie ihn arbeiten.

Mein Herr, Sie haben mich aufgehalten, und ich werde gestraft.

Das kostet Sie hundert Franken; Siebegreifen, Sie haben alles Interesse daran, meine fünfzehnBanknoten zu nehmen. Der Graf legte das Päckchen in die Hand des Angestellten. Doch das ist noch nicht alles, sagte er; mit Ihren 15 000 Franken können Sie nicht leben.

Ich werde immerhin noch meinen Platz haben.

Nein, Sie werden ihn verlieren; denn Siebefördern ein anderes Telegramm, als das Ihres Korrespondenten.

Oh! mein Herr, was verlangen Sie von mir?

Monte Christo zog aus seiner Tasche ein zweites Päckchen und sagte: Hier sind noch weitere 10 000 Franken; mit denen, die Sie in der Tasche haben, macht das 25 000 Franken; mit 5000 Franken kaufen Sie ein hübsches Häuschen und zwei Morgen Land, aus den weiteren 20 000 Franken ziehen Sie eine Rente von 1000 Franken.

Einen Garten von zwei Morgen?

Und tausend Franken Rente.

Mein Gott! mein Gott!

So nehmen Sie doch! Und Monte Christo steckte mit Gewalt die zehntausend Franken in die Hand des Angestellten.

Was soll ich tun?

Dieses Telegramm weiterbefördern. Monte Christo zog aus seiner Tasche ein Papier, auf dem sich in deutlicher Schrift der Textbefand. Das ist schnell getan, wie Sie sehen.

Ja, aber…

Dafür haben Sie sodannBlutpfirsiche und Gott weiß was.


Dieser Streich wirkte. Rot vor fieberhafter Aufregung und dicke Tropfen schwitzend, beförderte der gute Mann das Telegramm, das für das Ministerium des Innernbestimmt war.

Nun sind Sie reich, sagte Monte Christo.

Ja, erwiderte der Gartenfreund, aber um welchen Preis?

Hören Sie, mein Freund, Sie sollen keine Gewissensbisse haben; glauben Sie mir, ich schwöre Ihnen, Sie haben niemand geschadet.

Der Angestelltebetrachtete dieBanknoten, befühlte und zählte sie; er wurdebleich, er wurde rot; endlich stürzte er halbohnmächtig in sein Zimmer, um ein Glas Wasser zu trinken.

Fünf Minuten, nachdem die telegraphische Nachricht im Ministerium des Innern angelangt war, ließ Debray anspannen und eilte zu Danglars. Ihr Gatte hat spanische Anleihwerte? sagte er zurBaronin.

Ich glaube wohl! Er hat für sechs Millionen.

Er soll sie um jeden Preis verkaufen; Don Carlos ist ausBourges entflohen und nach Spanien zurückgekehrt.

Woher wissen Sie dies?

Bei Gott! Wie man Nachrichten erfährt, erwiderte Debray, die Achseln zuckend.

DieBaronin ließ sich das nicht zweimal sagen; sie lief zu ihrem Manne, der seinerseits zu seinem Wechselagenten eilte und ihm den Auftrag gab, um jeden Preis zu verkaufen.

Als man sah, daß Danglars verkaufte, fielen die spanischen Papiere sogleich. Danglars verlor dabei 500 000 Franken, doch er entäußerte sich aller seiner spanischen Papiere.

Am Abend las man im Messager:

Telegraphische Depesche.

Don Carlos ist der Überwachung, unter der er stand, inBourges entgangen und über die katalonische Grenze nach Spanien zurückgekehrt. Barcelona hat sich für ihn erhoben.

Den ganzen Abend hindurch war nur von der Vorsicht Danglars', der seine Spanier verkauft hatte, und von seinem Glücke alsBörsenhändler die Rede, weil erbei einem solchen Schlage nur fünfmalhunderttausend Franken verlor.

Diejenigen, die ihre Papierebehalten oder die Danglars' gekauft hatten, wähnten sich ruiniert undbrachten eine sehr schlimme Nacht zu.

Am andern Morgen las man im Moniteur:

Ohne allen Grund hat der Messager gestern die Flucht des Don Carlos und den Ausstand inBarcelona gemeldet. Eine falsche telegraphische Depesche veranlaßte die irrtümliche Nachricht.

Die Fonds stiegen wieder um das Doppelte.

Dies machte an Verlust und entgangenem Gewinn für Danglars eine Ziffer von einer Million.

Gut! sagte Monte Christo zu Morel, der sich in dem Augenblickbei ihmbefand, wo man ihm den seltsamenBörsenumschlag meldete, dessen Opfer Danglars geworden war, ich habe für fünfundzwanzigtausend Franken eine Entdeckung gemacht, für die ich hunderttausendbezahlt hätte.

Was haben Sie denn entdeckt? fragte Morel.

Das Mittel, wie man einen Gärtner von den Murmeltierenbefreit, die seine Pfirsiche fressen.

Gespenster

Beim ersten Anblick und von außenbetrachtet, hatte das Haus in Auteuil nichts Glänzendes, nicht was man von einer Wohnung des prachtliebenden Grafen von Monte Christo erwartete. Jedoch diese Einfachheit lag in dem Willen desBesitzers, der den strengenBefehl gegeben hatte, nichts an dem Äußeren zu ändern. Sobald aber die Tür geöffnet war, änderte sich das Schauspiel.

Herr Bertuccio hatte sich inBezug auf geschmackvolle Ausstattung und schnelle Ausführung selbst übertroffen. So hatte er in drei Tagen einen völlig nackten Hofbepflanzt, und schöne Pappelbäume und Sykomoren, welche mit ihren ungeheuren Wurzelblöcken angekommen waren, beschatteten die Hauptfassade des Hauses, vor der, statt eines halbunter Gras verborgenen Pflasters, ein frischgrüner Rasen sich ausbreitete und einen großen das Auge erquickenden Teppichbildete.

Die Befehle rührten übrigensbis ins einzelne vom Grafen her; er selbst hatteBertuccio einen Plan eingehändigt, worauf die Zahl und die Stelle derBäume, sowie die Form und der Umfang des Rasens angegeben waren.

So war das Innere des Hauses ganz unkenntlich geworden. Dem Intendanten wäre es nicht unangenehm gewesen, wenn er den Garten ebenfalls einigen Veränderungen hätte unterwerfen dürfen, aber der Graf hatte es aufsbestimmteste verboten, irgend etwas darin zuberühren. Bertuccio entschädigte sich dadurch, daß er die Vorzimmer, die Treppen und die Kamine mitBlumen überlud.

Die außerordentliche Gewandtheit des Intendanten und die große Umsicht desBesitzers zeigten sich darin, daß das seit zwanzig Jahren verlassene Haus in einem Tage den Anblick frischen Lebens gewonnen hatte. Der Graf fand zu seinem freudigen Erstaunen seineBücher und seine Waffenbei der Hand, seine Lieblingsgemälde an günstigen Plätzen aufgehängt; in den Vorzimmern traf er die Hunde, deren Liebkosungen ihn erfreuten, und die Vögel, deren Gesang ihn ergötzte. Kurz das Haus war wie Dornröschens Schloß aus seinem langen Schlafe wiedererweckt; in allen Teilen lebte, sang, blühte es, wie in unserer Phantasie die von uns seit langem geliebten Häuser, in denen wirbeim Scheiden einen Teil unserer Seele zurücklassen.

Die Diener gingen freudig in dem schönen Hofe hin und her, die einenbesorgten Küche und Keller und schlüpften, als wären sie hier stets zu Hause gewesen, über die am Tage zuvor wiederhergestellten Treppen hin; die andern tummelten sich in den Stallungen, wo die numerierten Equipagen schon seit fünfzig Jahren aufgestellt zu sein schienen, und die Pferde ließen an der Raufe ein frohes Wiehern hören, als wollten sie auf den Zuruf der Knechte antworten, die mit unendlich mehr Achtung mit ihnen sprachen, als viele Diener mit ihren Herren.

Die Bibliothek war in einem Flügel aufgestellt und enthielt ungefähr zweitausendBände; eine ganze Abteilung war für die moderne Novellistikbestimmt, und der am Tage zuvor erschienene Roman prunktebereits an seiner Stelle in rotem Einband mit Goldschnitt.

Auf der andern Seite des Hauses fand sich, als Gegenstück zurBibliothek, das Treibhaus, geschmückt mit den seltensten Pflanzen, die hier in großen japanischen Gefäßenblühten; und mitten in dem Treibhause, einem Wunder an Farbenpracht und Wohlgeruch, stand einBillard, das aussah, als wäre es erst eine Stunde zuvor von den Spielern verlassen worden.

An einem einzigen Zimmer hatte HerrBertuccio keine Veränderungen vorgenommen. Vor diesem Zimmer, das in der linken Ecke des ersten Stockes lag, und zu dem man auf der großen Treppe hinaufsteigen konnte, während eine geheime Treppe von dort herabführte, gingen die Diener mit Neugierde undBertuccio mit Schrecken vorbei.

Schlag fünf Uhr fuhr der Graf, von Alibegleitet, vor. Bertuccio erwartete diese Ankunft ziemlich ungeduldig und ruhig; er hoffte auf einige Komplimente, während er zugleich ein Stirnrunzelnbefürchtete.

Monte Christo stieg im Hofe aus, durchschritt das ganze Haus und ging im Garten umher, schweigsam und ohne das geringste Zeichen vonBilligung oder Mißbilligung von sich zu geben.

Nur streckte er, als er in sein Schlafzimmer trat, das dem geschlossenen Zimmer gegenüber lag, die Hand nach der Schublade eines kleinen Schrankes von Rosenholz aus, den erbereitsbei seiner ersten Reise wahrgenommen hatte, und sagte: Das kann nur als Handschuhbehälter dienen.

In der Tat, Exzellenz, erwiderteBertuccio entzückt, öffnen Sie, und Sie werden Handschuhe darin finden.

In den andern Schränken fand der Graf ebenfalls, was er zu finden hoffte, Flacons, Zigarren, Juwelen.

Gut! sagte der Graf. UndBertuccio entfernte sich mit dem freudigsten Gemüte; so groß und unwiderstehlich war Monte Christos Einfluß auf seine ganze Umgebung.

Pünktlich um sechs Uhr hörte man ein Pferd vor der Haustür. Es war unser Kapitän der Spahis, der auf Medea kam. Monte Christo erwartete ihn, ein Lächeln auf den Lippen, auf der Freitreppe.

Ichbin sicherlich der Erste, rief ihm Morel zu: ich richtete dies so ein, um Sie, ehe die andern Gäste da sind, einen Augenblick für mich allein zu haben. Julie und Emanuel sagen Ihnen tausend schöne Dinge. Doch wissen Sie, daß es hier herrlich ist?

In diesem Augenblick langte ein Wagen, dem Debray und Chateau‑Renaud zu Pferde folgten, vor der Treppe an.

Debray sprang auf der Stelle von seinem Pferde, eilte an den Kutschenschlag und reichte seine Hand derBaronin Danglars, die ihm ein unmerkliches, aber dem Grafen von Monte Christo nicht entgehendes Zeichen machte.

Zugleich sah der Graf ein kleinesBillett glänzen, das mit einer Leichtigkeit, welche von Übung in diesem Manöver zeugte, aus Frau Danglars' Hand in die des Sekretärs überging.

Hinter seiner Frau stieg derBankier aus; er war sobleich, als käme er aus dem Grabe.

Man trat ins Haus und fing an, die Kunstwerke zubewundern, alsBaptistin den MajorBartolomeo Cavalcanti und den Grafen Andrea Cavalcanti anmeldete.

Mit einer Halsbinde von schwarzem Atlas, soeben erst aus den Händen des Fabrikanten kommend, das Kinn frisch rasiert, grauer Schnurrbart, sicheres Auge, Majorsuniform mit drei Sternen und fünf Kreuzen geschmückt, in Summa tadellose Haltung des alten Soldaten,… so erschien der MajorBartolomeo Cavalcanti, der uns wohlbekannte zärtliche Vater.

Neben ihm schritt in einem frischglänzenden Gewande, ein Lächeln auf den Lippen, der Graf Andrea Cavalcanti, der unsbekannte ehrfurchtsvolle Sohn.

Die drei, Debray, Morel und Renaud, plauderten miteinander; ihreBlicke richteten sich von dem Vater auf den Sohn undblieben natürlich länger auf dem letzteren haften, den sie zergliederten.

Cavalcanti! sagte Debray.

Pest! ein schöner Name, sagte Morel.

Ja, versetzte Chateau‑Renaud, es ist wahr, diese Italiener nennen sich geschmackvoll, kleiden sich aber geschmacklos.

Sie sind sehr heikel, Chateau‑Renaud, sagte Debray, diese Kleider sind von einem vortrefflichen Schneider und ganz neu.

Das ist es gerade, was ich ihnen zum Vorwurf mache. Der Herr sieht aus, als ober sich heute zum erstenmal anständig kleidete.

Wer sind diese Herren? fragte Danglars den Grafen von Monte Christo.

Sie haben gehört, Cavalcanti.

Dadurch erfahre ich ihren Namen und sonst nichts.

Ah! es ist wahr, Sie sind nicht auf dem laufenden inBezug auf den italienischen Adel; wer Cavalcanti sagt, sagt Fürstengeschlecht.

Schönes Vermögen? fragte derBankier.

Fabelhaft.

Was machen sie?

Sie suchen es zu verzehren, ohne zum Ziele gelangen zu können. Übrigens haben sie Kreditbriefe auf Sie, wie mir diese Herren sagten, als sie mich vorgesternbesuchten. Ich habe sie sogar Ihnen zuliebe eingeladen und werde Ihnenbeide vorstellen.

Doch es scheint mir, sie sprechen das Französische sehr rein, bemerkte Danglars.

Der Sohn ist in einem Kolleg im Süden, ich glaube in Marseille oder in der Nähe, erzogen worden. Sie werden ihn ganzbegeistert finden.

Wofür? fragte dieBaronin.

Für die Französinnen, gnädige Frau. Er will durchaus eine Frau in Paris nehmen.

Wahrlich ein schöner Gedanke! sagte Danglars, die Achseln zuckend.

DerBaron scheint heute sehr düster, sagte Monte Christo zu Frau Danglars; sollte man ihn etwa zum Minister machen wollen?

Nein, nicht daß ich wüßte. Ich glaube eher, daß er an derBörse gespielt, dabei verloren hat, und noch nicht weiß, wem er die Schuld daranbeimessen soll.

Herr und Frau von Villefort! riefBaptistin.

Die zwei gemeldeten Personen traten ein; Herr von Villefort war trotz seiner Selbstbeherrschung sichtbar erschüttert. Als Monte Christo seine Handberührte, fühlte er, daß sie zitterte.

Offenbar nur die Frauen wissen sich zu verstellen, sagte Monte Christo zu sich selbst, während er Frau Danglars anschaute, die dem Staatsanwalt zulächelte und dessen Frau umarmte.

Nach den erstenBegrüßungen sah der Graf, wieBertuccio in einen kleinen Salon schlüpfte, der unmittelbar an den stieß, in dem die Gesellschaft versammelt war.

Der Graf fragte ihn: Was wollen Sie, HerrBertuccio?

Seine Exzellenz hat mir die Zahl der Gäste nicht genannt.

Ah! das ist wahr. Zählen Sie selbst.

Bertuccio warf einenBlick durch die halbgeöffnete Tür, Monte Christobeobachtete ihn mit scharfem Auge.

Oh, mein Gott! rief er.

Was denn? fragte der Graf.

Diese Frau… diese Frau…

Welche?

Die mit dem weißen Kleide und den vielen Diamanten… dieBlonde…

Frau Danglars?

Ich weiß nicht, wie sie heißt. Doch sie ist es! Sie ist es!

Wer, sie?

Die Frau aus dem Garten! Die, welche in andern Umständen war, spazieren ging… und wartete… und wartete auf…

Bertuccio erbleichte und schaute, den Mund geöffnet und die Haare gesträubt, hinaus.

Und wartete auf wen?

Bertuccio deutete, ohne zu antworten, mit dem Finger auf Villefort, ungefähr mit derselben Gebärde, mit der einst Macbeth aufBanco deutete.

Oh!.. oh!.. murmelte er endlich, sehen Sie?

Ihn!.. den Herrn Staatsanwalt Villefort? Allerdings sehe ich ihn.

Ich habe ihn also nicht getötet?

Ich glaube, Sie werden ein Narr, meinbraver HerrBertuccio, sprach der Graf.

Er ist also nicht tot?

Ei, nein, er ist nicht tot, wie Sie sehen; statt ihn zwischen die sechste und siebente linke Rippe zu stoßen, wie dies Ihre Landsleute zu tun pflegen, haben Sie ihn etwas höher oder tiefer getroffen, undbei diesen Männern der Justiz ist die Seele gleichsam mit Pflöcken im Körperbefestigt. Oder es ist vielleicht nichts Wirkliches an dem, was Sie mir sagten, es ist ein Traum Ihrer Einbildungskraft, eine Täuschung Ihrer Sinne; Sie werden, nachdem Sie Ihre Rache schlecht verdaut haben, eingeschlafen sein, sie hat Sie wohl auf den Magen gedrückt, und ein Alpdruck hat Ihnen etwas vorgespiegelt… Das ist das Ganze. Sammeln Sie sich, beruhigen Sie sich und zählen Sie: Herr und Frau von Villefort zwei; Herr und Frau Danglars vier; Herr von Chateau‑Renaud, Herr Tebray, Herr Morel sieben; der Herr MajorBartolomeo Cavalcanti…

Acht, wiederholteBertuccio.

Warten Sie doch! Warten Sie doch! Sie haben große Eile! Den Teufel! Sie vergessen einen von meinen Gästen. Schauen Sie ein wenig links… dort… Herr Andrea Cavalcanti, der junge Mann im schwarzen Frack, der die Jungfrau von Murillobetrachtet und sich eben umdreht.

Diesmal stießBertuccio einen Schrei aus, den derBlick Monte Christos auf seinen Lippen erstickte.

Benedetto, murmelte er ganz leise, oh Verhängnis!

Es hat halbsieben Uhr geschlagen, HerrBertuccio, sagte der Graf mit strengem Tone; dies ist die Stunde, zu der man sich meinemBefehl gemäß zur Tafel setzt; Sie wissen, ich liebe das Warten nicht.

Monte Christo kehrte in den Salon zurück, wo die Gäste seiner harrten, währendBertuccio, sich an den Wänden haltend, den Speisesaal wieder zu erreichen suchte.

Fünf Minuten nachher öffneten sich diebeiden Türen des Salons. Bertuccio erschien und sagte mit einer letzten heldenmütigen Anstrengung: Herr Graf, es ist aufgetragen.

Monte Christobot Frau von Villefort seinen Arm.

Herr von Villefort, sagte er, ichbitte Sie, seien Sie der Kavalier der FrauBaronin Danglars.

Villefort gehorchte, und man ging in den Speisesaal.

Das Mittagsmahl

Offenbarbelebte dasselbe Gefühl alle Gäste, als man in den Speisesaal trat. Sie fragten sich, welch ein seltsamer Einfluß sie alle in dieses Haus geführt habe, und so erstaunt und sogar so unruhig auch einige darüber waren, daß sie sich darinbefanden, so hatten sie doch keineswegs den Wunsch, nicht hier zu sein.

Gleichwohl machten es die kurzeBekanntschaft mit dem Grafen, die sonderbare Ausnahmestellung, die er einnahm, das seiner Herkunft nach unbekannte und fast fabelhafte Vermögen des Grafen den Männern zur Pflicht, behutsam zu sein. Die Damen aber hätten ein Haus nichtbetreten sollen, wo sich keine Frauen fanden, um sie zu empfangen; und dennoch hatten Männer und Frauen, die einen die Vorsicht, die andern die Schicklichkeit aus den Augen gesetzt, indem die Neugierde mit unwiderstehlichem Zuge jedes Widerstreben überwand.

Alle Anwesenden ohne Ausnahme, sogar Cavaleanti, der Vater, trotz seiner Steifheit, und Cavalcanti der Sohn, trotz seiner Leichtfertigkeit, schienen darüberbeunruhigt, daß sie sichbei einem Manne, dessen Zwecke sie nichtbegreifen konnten, mit andern Menschen zusammenbefanden, die sie zum erstenmal sahen.

Frau Danglars machte eineBewegung, als sie gewahrte, daß Herr von Villefort auf Monte Christos Einladung sich ihr näherte, um ihr den Arm zubieten; und Herr von Villefort empfand, daß sich seinBlick unter seiner goldenenBrille verwirrte, als er fühlte wie sich der Arm derBaronin auf den seinigen legte.

Keine dieserBewegungen war dem Grafen entgangen, und es lag schon in dieser einfachenBerührung derbeiden Menschen für denBeobachter dieser Szene ein großes Interesse.

Herr von Villefort hatte zu seiner Rechten Frau von Danglars und zu seiner Linken Morel.

Der Graf saß zwischen Frau von Villefort und Danglars.

Die andern Zwischenräume wurden ausgefüllt durch Debray, der zwischen Cavalcanti Vater und Cavalcanti Sohn, und durch Chateau‑Renaud, der zwischen Frau von Villefort und Morel saß.

Das Mahl war prachtvoll; Monte Christo hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Pariser Symmetrie völlig umzustürzen und mehr noch der Neugierde als dem Appetit seiner Gäste die gewünschte Nahrung zu geben. Es war ein orientalischer Schmaus, was man ihnenbot, doch orientalisch auf eine Weise, wie man sie sich nurbei Festen arabischer Feen vorstellt.

Alle Früchte, welche die vier Weltteile unversehrt und wohlschmeckend in das europäische Füllhorn zu spenden vermögen, waren in Pyramiden in chinesischen Vasen und auf japanischen Schalen aufgehäuft. Seltene Vögel mit glänzendem Gefieder, riesenhafte Fische auf silbernen Platten, alle Weine des Archipels, von Kleinasien und vom Kap, in Flaschen vonbizarren Formen, zogen gleich wiebei jenen gastronomischen Wunderschmäusen, welche die römischen Schlemmer der üppigsten Kaiserzeit ihren Gästenboten, vor diesen Parisern vorüber, welche meinten, man könne tausend Louisd'or für ein Mittagsmahl von zehn Personen nur ausgeben, wenn man wie Cleopatra Perlen verschluckte.

Monte Christo sah das allgemeine Erstaunen und fing an zu lachen und zu spotten.

Meine Herren, sagte er, Sie werden mir eines wohl zugeben, daß es nämlich, wenn man zu einem gewissen Grade des Vermögens gelangt ist, nichts so sehr Notwendiges gibt, als das Überflüssige. Was ist eigentlich ein wahrhaft wünschenswertes Gut? Ein Gut, das wir nicht haben können. Dinge sehen, die ich nichtbegreifen kann, mir Dinge verschaffen, die unmöglich zu haben sind, das ist nun das einzige Streben meines Lebens. Ich gelange hierzu durch zwei Mittel, durch das Geld und durch den Willen. Um eine Laune zu verfolgen, wende ich zuweilen dieBeharrlichkeit an, die Sie anwenden, Herr Danglars, um eine neue Eisenbahnlinie herzustellen; Sie, Herr von Villefort, um einen Menschen zum Tode verurteilen zu lassen; Sie, Herr Debray, um ein Diplomatenkunststück zu vollbringen; Sie, Herr von Chateau‑Renaud, um einer Frau zu gefallen; Sie, Herr Morel, um ein Pferd zubändigen, das sonst niemand zubändigen vermag. Sehen Sie zumBeispiel diese Fische an, von denen der eine fünfzig Meilen von St. Petersburg, der andere fünf Meilen von Neapel das Licht der Welt erblickt hat. Ist es nichtbelustigend, sie auf derselben Tafel zu vereinigen?

Was für Fische sind dies? fragte Danglars.

Hier ist Herr von Chateau‑Renaud, der sich in Rußland aufgehalten hat und Ihnen den Namen des einen sagen wird, antwortete Monte Christo, und hier ist Herr Major von Cavalcanti, ein Italiener, der Ihnen wohl den Namen des andern nennt.

Dieser hier ist, glaube ich, ein Sterlet, sagte Chateau‑Renaud.

Und dieser hier ist, wenn ich mich nicht täusche, eine Lamprete, versetzte Cavalcanti.

So ist es. Mein lieber Herr Danglars, fragen Sie nun diebeiden Herren, wo man diese Fische fängt.

Die Sterlets fängt man nur in der Wolga, sagte Chateau‑Renaud.

Nur der Fusaro‑See liefert meines Wissens Lampreten von dieser Größe, sagte Cavalcanti. Ganz richtig: der eine kommt aus der Wolga, der andere aus dem Fusaro‑See.

Unmöglich! riefen zugleich alle Gäste.

Sehen Sie, das ist es gerade, was michbelustigt, sagte Monte Christo. Ichbin wie Nero, das Unmögliche zieht mich an, und das ist es auch, was Sie ergötzt, denn daß Ihnen dieses Fleisch, das in Wirklichkeit vielleicht nicht so viel wert ist, als das desBarsches oder des Salms, ausgezeichnet erscheint, rührt wohlbloß davon her, daß es Ihnen unmöglich schien, es sich zu verschaffen, und daß es nun doch da ist.

Doch wie hat man es fertig gebracht, diese Fische nach Paris zu transportieren?

Oh, mein Gott! Es gibt nichts Einfacheres; man hat jeden in ein großes Faß getan, von denen das eine mit Schilfrohr und Meergras, das andere mitBinsen und Seepflanzen ausgepolstert war. Man legte sie sodann auf einenbesonders hierzu gebauten Packwagen, und so lebte der Sterlet zwölf Tage und die Lamprete acht; undbeide waren noch völlig lebendig, als sie meinem Koch in die Hände fielen, der den einen in Milch, den andern in Wein sterben ließ.

Sie sind in der Tat ein wunderbarer Mann! rief Danglars, und die Philosophen mögen sagen, was sie wollen, es ist doch herrlich, reich zu sein.

Das alles istbewundernswürdig, sagte Chateau‑Renaud; doch ich gestehe, was ich am meistenbewundere, ist die staunenswerte Schnelligkeit, mit der Siebedient werden. Nicht wahr, Herr Graf, Sie haben dieses Haus erst vor fünfbis sechs Tagen gekauft?

Allerdings.

Nun wohl, ichbin überzeugt, daß es in acht Tagen völlig umgestaltet sein wird; denn wenn ich mich nicht täusche, hatte es einen ganz andern Eingang, als jetzt, und der Hof war gepflastert und leer, während er heute aus einem herrlichen Rasenbesteht, eingefaßt vonBäumen, die über hundert Jahre alt zu sein scheinen.

Das ist natürlich, ich liebe das Grüne und den Schatten, versetzte Monte Christo.

In der Tat, sagte Frau von Villefort, früher kam man durch ein Tor, das auf die Straße ging, und am Tage meiner wunderbaren Rettung ließen Sie mich, wie ich mich erinnere, von der Straße aus in das Haus eintreten.

Ja, gnädige Frau, erwiderte Monte Christo; doch seitdem zog ich einen Eingang vor, der mir erlaubt, dasBois deBoulogne durch mein Gitter zu sehen.

In vier Tagen, rief Morel, das ist ein Wunder!

Sie haben recht, sagte Chateau‑Renaud, aus einem alten Hause ein neues zu machen, ist etwas höchst Wunderbares, denn das Haus war in der Tat sehr alt und hatte sogar ein sehr düsteres Aussehen; ich entsinne mich dessen, denn ich war von meiner Mutterbeauftragt, es in Augenschein zu nehmen, als es Herr von Saint‑Meran vor ein paar Jahren zum Verkaufe ausbot.

Herr von Saint‑Meran! sagte Frau von Villefort, dieses Haus gehörte also Herrn von Saint‑Meran, ehe Sie es kauften, Herr Graf?

Es scheint so, antwortete Monte Christo.

Wie, es scheint? Sie wissen nicht, wem Sie Ihr Haus abgekauft haben?

Meiner Treu, nein, mein Intendantbesorgt alle diese Einzelheiten.

Es war wenigstens zehn Jahre gar nichtbewohnt, bemerkte Chateau‑Renaud, und esbot einen gar traurigen Anblick mit seinen geschlossenen Läden und Türen und dem Grase im Hofe. Wahrlich, wenn es nicht dem Schwiegervater eines Staatsanwaltes gehört hätte, man wäre versucht gewesen, es für eines von jenen verfluchten Häusern zu halten, in denen ein großes Verbrechenbegangen worden ist.

Villefort, derbis jetzt keines von den dreibis vier mit außerordentlichen Weinen gefüllten Gläsernberührt hatte, die vor ihm standen, nahm das nächststehende und leerte es in einem Zuge.

Monte Christo ließ einen Augenblick hingehen, dann sagte er, das Stillschweigen unterbrechend, das auf die Worte Chateau‑Renauds gefolgt war: Es ist seltsam, HerrBaron, aber derselbe Gedanke ergriff mich, als ich es zum erstenmalebetrat, und dieses Haus kam mir so düster vor, daß ich es nie gekauft haben würde, wenn nicht der Intendant die Sache für mich abgemacht hätte. Ohne Zweifel hat derBursche vom Sachwalter ein hübsches Trinkgeldbekommen.

Das ist wahrscheinlich, stammelte Villefort, der zu lächeln suchte; glauben Sie mir jedoch, daß ich an dieserBestechung keinen Teil habe. Es war der Wille des Herrn von Saint‑Meran, daß dieses Haus, das zur Mitgift seiner Enkelin gehört, verkauft würde, denn wäre es noch drei oder vier Jahre unbewohnt geblieben, so müßte es in Trümmer zerfallen sein.

Nun erbleichte Morel ebenfalls.

Besonders ein Zimmer, fuhr Monte Christo fort, ein Zimmer, mein Gott! ein scheinbar ganz einfaches Zimmer, ein Zimmer wie alle anderen Zimmer, mit rotem Damast austapeziert, kam mir, ich weiß nicht warum, so tragisch vor, wie nur etwas sein kann.

Warum dies? fragte Debray, warum tragisch?

Gibt man sich Rechenschaft über unbewußte Eindrücke? Gibt es nicht Orte, an denen man geradezu Traurigkeit einzuatmen scheint? Warum? Man weiß es nichts durch eine Verkettung von Erinnerungen, durch eine Laune des Geistes, der uns in andere Zeiten, an andere Orte zurückführt, die vielleicht in gar keinem Zusammenhang mit den Zeiten und Orten stehen, wo wir unsbefinden! Ich weiß nur gewiß, daß mich dieses Zimmer auf eine wunderbare Weise an das Zimmer der Desdemona erinnerte. Bei Gott, da wir mit dem Mittagsmahl fertig sind, muß ich es Ihnen zeigen, dann gehen wir in den Garten und nehmen dort den Kaffee. Monte Christobefragte seine Gäste durch ein Zeichen. Frau von Villefort stand auf, Monte Christo tat dasselbe, und die andern folgten demBeispiel.

Villefort und Frau Danglarsblieben einen Augenblick wie an ihre Plätze genagelt, siebefragten sich mit kalten, stummen, eisigen Augen.

Haben Sie gehört? fragte Frau Danglars.

Wir müssen gehen, antwortete Villefort, aufstehend und ihr den Arm reichend.

Es hatten sichbereits alle Gäste, von Neugierde getrieben, gesammelt, denn man dachte wohl, derBesuch würde sich nicht auf dieses Zimmerbeschränken, und man würde zugleich die übrigen Teile der ehemaligenBaracke, aus der Monte Christo einen Palast gemacht hatte, durchwandern. Jeder eilte durch die offene Tür. Monte Christo wartete auf die Zögernden; als sie ebenfalls hinausgegangen waren, schloß er den Zug mit einem Lächeln, das seine Gäste, wenn sie es hättenbegreifen können, ganz anders in Schrecken gesetzt haben würde, als das Zimmer, das manbetreten sollte. Man durchschritt nach und nach die auf orientalische Weise ausgestatteten Räume und die mit den schönsten Gemälden alter Meister geschmückten Salons; endlich gelangte man in dasberüchtigte Gemach.

Es zeigte nichtsBesonderes, als daß es, obgleich der Tag sich neigte, nicht erleuchtet war und sein altes Aussehenbeibehalten hatte, während alle übrigen Zimmer in gänzlich neuem Schmucke erschienen. Diese zwei Ursachen genügten in der Tat, ihm eine düstere Farbe zu verleihen.

Hu; rief Frau von Villefort, das ist in der Tat schauerlich.

Frau Danglars suchte ein paar Worte zu stammeln, die man nicht verstand. VerschiedeneBemerkungen flogen durcheinander undbestätigten insgesamt, das Zimmer mit dem roten Damast habe ein unheilschwangeres Aussehen.

Nicht wahr? sagte Monte Christo. Schauen Sie nur, wie diesesBett sonderbar gestellt ist, welch eine düstere, blutige Tapete! Und diesebeiden Porträts mit ihren infolge der Feuchtigkeit verblichenen Augen, scheinen ihreblassen Lippen und ihre irren Augen nicht zu sagen: Ich habe gesehen?

Villefort wurde leichenbleich, und Frau Danglars fiel auf einen in der Nähe des Kamins stehenden Stuhl.

Oh! haben Sie wirklich den Mut, sich auf diesen Stuhl zu setzen, worauf das Verbrechen vielleichtbegangen worden ist? fragte Frau von Villefort lächelnd.

Frau Danglars stand rasch auf.

Und das ist noch nicht alles, sagte Monte Christo.

Was gibt es denn noch? fragte Debray, dem Frau Danglars Aufregung nicht entging.

Sehen Sie doch diese kleine Treppe, sagte Monte Christo, eine in der Tapete verborgene Tür öffnend, schauen Sie, und sagen Sie mir, was Sie davon denken!

Welch unheilschwangere Stufen! rief lachend Chateau‑Renaud.

Ich weiß in der Tat nicht, obes der Wein von Chios ist, der so schwermütig macht, aber ich sehe dieses Haus allerdings ganz schwarz, sagte Debray.

Morel war, seit von Valentines Mitgift die Rede gewesen war, traurig geblieben und hatte kein Wort mehr gesprochen.

Denken Sie sich einen Othello oder irgend einen Abbé von Ganges, sagte Monte Christo, der Schritt für Schritt in einer finstern, stürmischen Nacht mit einer unseligenBürde, die er, wenn nicht dem Auge Gottes, doch demBlicke der Menschen zu entziehen eiligbemüht wäre, diese Treppe hinabginge.

Frau Danglars wurde halbohnmächtig am Arme Villeforts, der sich selbst an die Wand lehnen mußte.

Ah! mein Gott, gnädige Frau, was haben Sie denn? rief Debray, wiebleich werden Sie!

Was sie hat? Das ist ganz einfach, versetzte Frau von Villefort; Herr von Monte Christo erzählt uns schreckliche Geschichten, ohne Zweifel, damit wir vor Furcht sterben sollen. Ja wohl, sagte Villefort. In der Tat, Graf, Sie erschrecken die Damen.

Was haben Sie denn? fragte Debray wiederholt Frau Danglars.

Nichts, nichts, erwiderte diese, nicht ohne eine gewisse Anstrengung, ichbedarf nur der Luft.

Wollen Sie in den Garten hinabgehen? fragte Debray, Frau Danglars seinen Armbietend und auf die Geheimtreppe zuschreitend.

Nein, nein, antwortete sie, ich will lieber hierbleiben!

Ist dieser Schrecken in der Tat ernst, gnädige Frau? sagte Monte Christo.

Nein, mein Herr, erwiderte Frau Danglars; doch Sie haben eine Art, die Dinge an die Wand zu malen, welche die Illusion zur Wirklichkeit macht.

Oh! Gott, ja, sagte Monte Christo lächelnd, und das ist alles ein Erzeugnis der Einbildungskraft; denn warum sollte man sich nicht ebensogut dieses Zimmer als ein ehrliches, gutes Zimmer einerbiederen Hausfrau vorstellen, diesesBett mit seinen purpurroten Vorhängen als ein von der fruchtbaren Göttin Lucinabesuchtes Lager, und diese geheimnisvolle Treppe als den Gang, durch den sacht, und um den erquickenden Schlaf der Wöchnerin nicht zu stören, der Arzt geht, oder die Amme, oder der Vater, das schlummernde Kind auf dem Arme…?

Diesmal stieß Frau Danglars, statt sich zuberuhigen, einen Seufzer aus und fiel in Ohnmacht.

Frau Danglarsbefindet sich unwohl, stammelte Villefort; man sollte sie vielleicht in ihren Wagenbringen.

Oh, mein Gott! rief Monte Christo, ich habe meinen Flacon vergessen.

Hier ist der meinige, sagte Frau von Villefort und reichte Monte Christo einen Flacon voll eines roten Saftes, dem ähnlich, dessen wohltätige Wirkung der Graf an Eduard versucht hatte.

Ah! sagte Monte Christo, während er das Fläschchen aus Frau von Villeforts Händen nahm.

Ja, flüsterte ihm diese zu, ich habe es nach Ihren Angaben versucht.

Und es ist Ihnen gelungen?

Ich glaube.

Man hatte Frau Danglars in das Nebenzimmer gebracht. Monte Christo ließ einen Tropfen von dem roten Safte auf ihre Lippen fallen, und sie kam zu sich.

Oh! welch ein gräßlicher Traum! rief sie.

Villefort drückte ihr kräftig die Hand, um ihr zu verstehen zu geben, sie hätte nicht geträumt.

Man suchte Herrn Danglars; Monte Christo schien in Verzweiflung; er nahm Frau Danglars am Arm und führte sie in den Garten, wo man Herrn Danglars fand, zwischen den Herren Cavalcanti Vater und Sohn Kaffee schlürfend.

Habe ich Sie wirklich erschreckt? fragte Monte Christo.

Nein; aber Sie wissen, die Dingebringen Eindrücke auf uns hervor, je nach der Stimmung, in der wir unsbefinden.

Villefort zwang sich zu lachen. Und dannbegreifen Sie, sagte er, es genügt eine Voraussetzung, eine Chimäre…

Nun wohl, sagte Monte Christo, Sie mögen nur glauben oder nicht, ich habe die feste Überzeugung, daß ein Verbrechen in diesem Hausebegangen worden ist.

Nehmen Sie sich in acht, entgegnete Frau von Villefort, wir haben einen Staatsanwalt hier.

Meiner Treu, rief Monte Christo, da sich dies gerade so trifft, so werde ich esbenutzen, um meine Angabe zu machen.

Ihre Angabe? fragte Villefort.

Ja, und zwar in Gegenwart von Zeugen.

Alles dies ist sehr interessant, bemerkte Debray, und wenn wirklich ein Verbrechen vorliegt, so werden wir vortrefflich verdauen.

Es liegt ein Verbrechen vor, sagte Monte Christo. Kommen Sie hierher, meine Herren, kommen Sie, Herr von Villefort; damit die Angabe gültig ist, muß siebei der zuständigenBehörde gemacht werden. Monte Christo nahm Villefort am Arme, und während er zugleich Frau Danglars' Arm unter den seinigen drückte, zog er den Staatsanwaltbis unter die Platane, wo der Schatten am stärksten war. Die andern Gäste folgten insgesamt.

Sehen Sie, sagte Monte Christo, hier, gerade auf dieser Stelle — und er stieß mit dem Fuße auf die Erde — hier ließ ich, um die altenBäume durch andere zu ersetzen, graben und Erde auslegen; bei dem Graben entdeckten meine Arbeiter ein Kistchen, oder vielmehr die eisernenBande eines Kistchens, unter denen das Skelett eines neugeborenen Kindes lag. Das ist, denke ich, keine Sinnestäuschung?

Monte Christo fühlte, wie Frau Danglars' Arm erstarrte und Villeforts Hand zitterte.

Ein neugeborenes Kind, wiederholte Debray; Teufel! die Sache wird ernst, wie mir scheint.

Oh! wer kann sagen, daß es ein Verbrechen ist? versetzte Villefort mit einer letzten Anstrengung.

Wie? Ein Kind in einem Garten lebendigbegraben und kein Verbrechen? rief Monte Christo. Wie nennen Sie denn diese Handlung, Herr Staatsanwalt?

Aber wer sagt denn, es sei lebendigbegraben worden?

Warum es hierbegraben, wenn es tot war? Dieser Garten ist nie ein Friedhof gewesen.

Was widerfährt den Kindesmördern in diesem Lande? fragte naiv der Major Cavalcanti.

Mein Gott, man schneidet ihnen ganz einfach, den Hals ab, antwortete Danglars.

Ah! man schneidet ihnen den Hals ab, rief Cavalcanti.

Ich glaube… nicht wahr, Herr von Villefort? fragte Monte Christo.

Ja, Herr Graf, antwortete dieser mit einem Ausdrucke, der nichts Menschliches mehr hatte.

Monte Christo sah, daß diebeiden Personen, für welche er die Szene vorbereitet hatte, nicht mehr ertragen konnten, und sagte, da er die Sache nicht weiter treiben wollte: Doch, meine Herren, mir scheint, wir vergessen den Kaffee. Und er führte seine Gäste zu dem mitten auf dem Rasen stehenden Tische.

In der Tat, Herr Graf, sagte Frau Danglars, ich schäme mich, meine Schwäche zu gestehen, aber alle diese furchtbaren Geschichten haben mich gewaltig angegriffen; ichbitte, erlauben Sie, daß ich mich setze.

Und sie fiel auf einen Stuhl.

Monte Christo verbeugte sich vor ihr, trat zu Frau von Villefort und sagte zu dieser: Ich glaube, Frau Danglarsbedarf abermals Ihres Flacons.

Doch ehe sich Frau von Villefort ihrer Freundin näherte, hatte der Staatsanwaltbereits Frau Danglars zugeflüstert:

Ich muß Sie morgen sprechen.

Wo?

Kommen Sie in meinBüro, das ist noch der sicherste Ort.

Ich werde kommen.

In diesem Augenblick kam Frau von Villefort.

Ich danke, liebe Freundin, sagte Frau Danglars, welche zu lächeln suchte, es ist nichts, und ich fühle michbereitsbesser.

Der Bettler

Der Abend rückte heran; Frau von Villefort äußerte den Wunsch, nach Paris zurückzukehren, was Frau Danglars trotz ihres augenscheinlichen Unbehagens nicht zu tun wagte.

Auf das Verlangen seiner Frau gabHerr von Villefort zuerst das Zeichen zum Aufbruch. Erbot Frau Danglars einen Platz in seinem Wagen, damit sie unter der Sorge seiner Frau wäre. In ein höchst interessantes gewerbliches Gespräch vertieft, schenkte Herr Danglars allem, was um ihn her vorging, nicht die geringste Aufmerksamkeit. Während Monte Christo von Frau von Villefort ihren Flacon verlangte, bemerkte er, daß sich Herr von Villefort Frau Danglars näherte, und erriet nach seiner Kenntnis der Sachlage, was der Staatsanwalt ihr sagte, obgleich dieser so leise sprach, daß es kaum Frau Danglars hörte.

Vom Grafen sich verabschiedend ritten Morel, Chateau‑Renaud und Debray fort, während diebeiden Damen in den Wagen des Herrn von Villefort stiegen und Herr Danglars, immer mehr entzückt von Herrn Cavalcanti dem Vater, diesen einlud, mit ihm in seinem Coupé zu fahren.

Was Andrea Cavalcantibetrifft, sobenutzte dieser sein neues Tilbury, das ihn vor der Tür erwartete und dessen Eisenschimmel ein Reitknecht hielt. Andrea hatte während des Mittagsmahles nicht viel gesprochen, weil er ein ganz gescheiterBursche war und diebegründete Furcht hegte, es könnte ihm mitten unter diesen reichen und angesehenen Gästen, unter denen sein Auge wohl nicht ohneBangen einen Staatsanwalt erblickte, eine Albernheit entschlüpfen.

Dann war er von Herrn Danglars inBeschlag genommen worden. Dieser glaubtebeim Anblick des alten Majors mit dem steifen Kragen und seines noch etwas schüchternen Sohnes und in Hinsicht auf Monte Christos Gastfreundschaft, er habe es mit irgend einem Nabobzu tun, der nach Paris gekommen sei, um seinen einzigen Sohn sich im gesellschaftlichen Leben vervollkommnen zu lassen.

Er hatte mit unendlichem Wohlgefallen den ungeheuren Diamantenbetrachtet, der an dem kleinen Finger des Majors glänzte, denn als ein kluger und erfahrener Mann hatte der Major, aus Furcht, es könnte seinenBanknoten ein Unglück widerfahren, diese sogleich in einen Wertgegenstand verwandelt. Nach dem Mittagsmahlebefragte er, immer unter dem Vorwande industrieller und touristischer Interessen, den Vater und den Sohn über ihre Lebensweise, und da der Vater und der Sohn davonbenachrichtigt waren, daß ihnen ihr Kredit, dem einen von 48 000 Franken ein für allemal, dem andern von 50 000 Franken jährlich, bei Danglars eröffnet werden sollte, so waren sie außerordentlich freundlich und zuvorkommend gegen denBankier.

Ein Umstandbesonders vermehrte die Achtung, wir möchten sogar sagen, die Verehrung Danglars' für Cavalcanti. Getreu dem Grundsatze von Horaz, nil mirari (Laß dich nicht verblüffen!), hatte sich dieser, wie man gesehen, begnügt, einenBeweis seines Wissens nur dadurch zu geben, daß er den See nannte, in dem man die Lampreten fängt. Dann hatte er seinen Teil an dem Fische gegessen, ohne ein Wort zu sagen. Daraus schloß Danglars, dergleichen Kostbarkeiten seien etwas ganz Gewöhnliches für den erhabenen Abkömmling der Cavalcanti.

Er nahm es auch mit sichtbarem Wohlgefallen auf, als Cavalcanti zu ihm die Worte sprach: Morgen, mein Herr, werde ich Ihnen in Geschäften einenBesuch machen.

Und ich, erwiderte Danglars, werde glücklich sein, Sie zu empfangen.

Hierauf schlug er Cavalcanti vor, ihn, wenn es ihm nicht zu unangenehm wäre, sich von seinem Sohne zu trennen, nach dem Hotel des Princes zurückzufahren. Cavalcanti antwortete ihm, sein Sohn sei seit langer Zeit gewohnt, ein Junggesellenleben zu führen, er habe folglich seine eigenen Pferde.

Der Major stieg also in Danglars' Wagen, und derBankier setzte sich an seine Seite, immer mehr entzückt über das geordnete, ökonomische Wesen eines Mannes, der doch seinem Sohne jährlich 50 000 Franken gab, was ein Vermögen mit 5bis 600 000 Franken Zinsen annehmen ließ.

Andrea fing, um sich ein vornehmes Ansehen zu geben, damit an, daß er seinem Reitknecht einen Verweis erteilte, weil er ihn, statt an der Freitreppe vorzufahren, an der Ausfahrt erwartet hatte. In diesem Augenblicke legte sich eine Hand auf seine Schulter. Der junge Mann wandte sich um und erblickte erstaunt ein seltsames von der Sonne verbranntes, in einen dichtenBart eingerahmtes Gesicht, wie Karfunkel glänzende Augen und ein spöttisches Lächeln, das einen Mund öffnete, in dem schneeweiße schakalartige Zähne sichtbar wurden.

Ein rotkarriertes Taschentuch umgabdiesen Kopf mit seinen graulichen, starren Haaren, und ein im höchsten Maße fettiger und zerlumpter Oberrockbedeckte den großen, mageren, skelettartigen Körper darunter.

Erkannte der junge Mann dieses Gesichtbei dem Scheine der Laterne seines Tilbury, oder war er nurbetroffen von dem furchtbaren Anblick des Menschen, der sich ihm näherte?

Was wollen Sie von mir? sagte er.

Um Verzeihung, antwortete der Mensch, indem er seine Hand an das rote Taschentuch legte, ich störe Sie vielleicht, habe aber mit Ihnen zu sprechen.

Manbettelt nicht am Abend, sagte der Reitknecht, mit einerBewegung, als wollte er seinen Herrn von dem Lästigenbefreien.

Ichbettle nicht, mein hübschem Junge, sagte der Unbekannte zu dem Diener mit einem so ironischen Lächeln und einem so furchtbarenBlicke, daß dieser zurückwich; ich will nur ein paar Worte mit Ihrem Herrn reden, der mir vor etwa vierzehn Tagen einen Auftrag gegeben hat.

Sprechen Sie, versetzte Andrea kräftig genug, um vor dem Diener seine Unruhe zu verbergen, was wollen Sie? Sagen Sie es geschwind, mein Freund.

Ich wünschte… ich wünschte… erwiderte ganz leise der Mann mit dem roten Tuch, ich wünschte, Sie würden mir die Mühe ersparen, zu Fuße nach Paris zurückzukehren. Ichbin sehr müde, habe nicht so gut zu Mittag gespeist wie du und kann mich kaum auf denBeinen halten.

Der junge Mannbebtebei dieser seltsamen Vertraulichkeit und entgegnete: Sprechen Sie doch endlich, was wollen Sie?

Nun, du sollst mich in deinen schönen Wagen steigen und zurückfahren lassen.


Andrea erbleichte, antwortete aber nicht.

Oh, mein Gott! ja, sagte der Mann, die Hände in seine Tasche steckend und Andrea mit herausfordernden Augen anschauend, es ist so ein Gedanke von mir, verstehst du, mein kleinerBenedetto?

Bei diesem Namen überlegte der junge Mann ohne Zweifel, denn er näherte sich seinem Reitknecht und sagte zu ihm: Dieser Mensch hat wirklich einen Auftrag von mir erhalten, über den er mirBericht erstatten soll. Geh zu Fußbis ans Tor und nimm dort einen Wagen, damit du nicht zu spät kommst.

Der Diener entfernte sich sehr erstaunt.

Lassen Sie mich wenigstens in den Schatten treten, sagte Andrea.

Oh! was dasbetrifft, erwiderte der Mann mit dem roten Tuch, ich will dich selbst an einen schönen Platz führen, warte nur.

Und er nahm das Pferdbeim Gebiß und führte das Tilbury an eine Stelle, wo es wirklich keinem Menschen in der Welt möglich war, zu sehen, welche Ehre ihm Andrea erwies. Oh! es istbei mir nicht der Stolz, in einen schönen Wagen steigen zu dürfen, sagte der Unbekannte: nein, es geschieht nur, weil ich müdebin und ein wenig in Geschäften mit dir zu sprechen habe.

Steigen Sie ein! sagte der junge Mann.

Zum Glück war es nicht Tag, denn es wäre ein seltsames Schauspiel gewesen, diesenBettlerbreit auf gestickten Kissen neben dem jungen, zierlichen Führer des Tilbury sitzen zu sehen. Andrea ließ sein Pferdbis an das letzte Haus des Dorfes laufen, ohne nur ein Wort zu seinem Gefährten zu sagen, der seinerseits lächelte und schwieg, als sei er entzückt, in einem so schönen Wagen fahren zu dürfen.

Sobald Andrea außerhalbAuteuils war, schaute er umher, ohne Zweifel, um sich zu versichern, obsie niemand sehen oder hören könnte, hielt dann sein Pferd an, kreuzte die Arme vor dem Mann mit dem roten Taschentuch und sagte zu ihm: Nun, Herr Caderousse! Warum kommen Sie und stören mich in meiner Ruhe?

Ei, mein Gott! ärgere dich nicht, Kleiner; du mußt doch wissen, was das Unglückbedeutet; das Unglück, sage ich dir, macht eifersüchtig. Ich glaubte, du liefest in Piemont und Toskana umher, genötigt, den Facchino oder Cicerone zu spielen; ichbeklagte dich vom Grunde meines Herzens, wie ich mein Kindbeklagen würde. Du weißt, daß ich dich stets mein Kind genannt habe.

Weiter! Weiter!

Und ich sehe dich plötzlich durch das Tor desBons Hommes, mit einem Reitknecht, mit einem Tilbury und mit funkelneuen Kleidern fahren. Ah! Du hast also eine Goldmine entdeckt oder eine Stelle als Wechselagent gekauft?

Sie sind somit, wie Sie gestehen, eifersüchtig?

Nein, ichbin zufrieden, so zufrieden, daß ich dir meine Komplimente machen wollte. Kleiner; da ich jedoch nicht gut gekleidet war, nahm ich meine Vorsichtsmaßregeln, um dich nicht zu kompromittieren.

Schöne Vorsichtsmaßregeln, Sie reden mich in Gegenwart meinesBedienten an.

Ei, was willst du denn, mein Kind? Ich rede dich an, wo ich deiner habhaft werden kann. Du hast ein sehr lebhaftes Pferd, dubist von Natur schlüpfrig wie ein Aal; verfehlte ich dich heute abend, so lief ich Gefahr, dich nie mehr zu erwischen.

Sie sehen wohl, daß ich mich nicht verberge.

Dubist sehr glücklich, und ich wünschte dasselbe von mir sagen zu können; ich aber verberge mich. Zwar fürchtete ich, du würdest mich nicht erkennen; doch du hast mich erkannt, fügte Caderousse mit seinem schlimmen Lächeln hinzu; dubist sehr artig, mein Junge.

Wasbrauchen Sie? versetzte Andrea.

Du duzest mich nicht mehr, und das ist schlimm von einem alten Kameraden; Benedetto, nimm dich in acht, du wirst mich anspruchsvoll machen.

Bei dieser Drohung sank der Zorn des jungen Mannes; der Wind des Zwanges wehte ihn nieder. Er ließ sein Pferd wieder im Trabgehen und sagte: Es ist von dir selbst schlimm, Caderousse, daß du dich so gegen einen alten Kameradenbenimmst, wie du mich soeben nanntest:; dubist ein Marseiller, ichbin…

Du weißt also nun, was dubist?

Nein, ich wurde in Korsika aufgezogen; dubist alt und halsstarrig, ichbin jung und starrköpfig. Unter Leuten, wie wir sind, tut eine Drohung nicht gut, und alles muß sich auf gütliche Weise abmachen. Ist es mein Fehler, wenn das Glück, das dir noch den Rücken zukehrt, mir eine freundliche Miene zeigt?

Das Glück ist dir also freundlich? Es ist kein entlehnter Reitknecht, es ist kein entlehntes Tilbury, es sind keine entlehnten Kleider, was ich da sehe? Gut, destobesser! sagte Caderousse, in dessen AugenBegierde und Lüsternheit glänzten.

Oh! Du siehst es wohl und weißt es wohl, da du mich anredest, sagte Andrea, immer lebhafter werdend. Hätte ich ein Taschentuch, wie du, um meinen Kopf, trüge ich einen fettigen Rock auf den Schultern und durchlöcherte Schuhe an den Füßen, so würdest du mich nicht kennen.

Du täuschest dich, du hast unrecht; nun, da ich dich wiedergefunden, hindert mich nichts gekleidet zu sein, wie ein anderer, denn ich weiß, daß du ein gutes Herz hast. Besitzest du zwei Röcke, so wirst du mir wohl einen davon geben; ich gabdir auch eine Portion Suppe undBohnen, als dich hungerte.

Das ist wahr, bestätigte Andrea.

Welch einen Appetit hattest du! Hast du immer noch einen so guten Appetit?

Ja wohl, sagte Andrea lachend.

Du mußt vortrefflichbei dem Fürsten gespeist haben, von dem du kommst.

Es ist kein Fürst, sondern nur ein Graf.

Ein Graf, und zwar ein reicher, nicht wahr?

Ja, doch traue ich ihm nicht, er ist ein Herr, der nicht ganzbequem aussieht.

Mein Gott, sei nur unbesorgt! Man hat keine Absichten auf deinen Grafen und überläßt dir ihn ganz allein. Doch, fügte Caderousse mit dem schlimmen Lächeln hinzu, das schon einmal seine Lippen gestreift hatte, doch dubegreifst, du mußt etwas dafür geben.

Sprich, wievielbrauchst du?

Ich glaube, mit 100 Franken monatlich könnte ich leben…

Mit hundert Franken?

Allerdings schlecht, wie du ebenfallsbegreifst!

Hier sind zweihundert, sagte Andrea. Und er legte in Caderousses Hand zehn Louisd'or.

Gut, sagte Caderousse.

Finde dich immer am Ersten des Monatsbeim Hausmeister ein, und du wirst ebensoviel finden.

Du demütigst mich abermals dadurch, daß du mich mitBedientenvolk inBerührungbringst; nein, siehst du, ich will nur mit dir zu tun haben.

Es sei, frage nach mir, und am Ersten jeden Monats erhältst du deine Rente, wenigstens solange ich die meinige erhalte.

Schön, schön! ich sehe, daß ich mich nicht täuschte, dubist einbraver Junge, und es ist ein Segen, wenn das Glückbei Leuten deiner Art einkehrt. Erzähle doch, wie dein Glück gekommen ist.

Ich habe meinen Vater wieder gefunden. — Deinen wahren Vater? — Verdammt! Solange erbezahlt… — Wirst du es glauben und ihn ehren, das ist ganz richtig. Wie nennt sich dein Vater? — Major Cavalcanti. — Und wer half dir dazu, daß du deinen Vater wiederfandest? — Der Graf von Monte Christo. — Der, von dem du herkamst? — Ja. — Ei, so versuche es doch, michbei ihm als nächsten Verwandten anzubringen, da er solche Geschäfte treibt.

Wohl; ich werde mit ihm über dich sprechen.

Dubist sehr gut, daß du es tun willst, sagte Caderousse.

Da du so viel Anteil an mir nimmst, versetzte Andrea, so erlaubst du wohl, mir auch einige Auskunft über dich zu erbitten.

Das ist richtig… Ich will ein Zimmer in einem ehrlichen Hause mieten, mich mit einem anständigen Kleidebedecken, mich alle Tage rasieren lassen und das Kaffeehausbesuchen, um die Zeitungen zu lesen. Am Abend gehe ich mit irgend einem Claqueur ins Schauspiel; ich sehe dann aus wie einBäcker, der sich vom Geschäft zurückgezogen hat, und das ist mein Ideal.

Sehr gut! Willst du diesen Plan ausführen und vernünftig sein, so wird alles gut gehen. Und nun, da du hast, was du willst, und da wir an Ort und Stelle sind, springe aus meinem Wagen und verschwinde.

Nein, Kleiner, bedenke doch ein rotes Tuch auf dem Kopf, so gut wie keine Schuhe, keine Spur von Papieren und zehn Napoleons in Gold in der Tasche — man würde mich unfehlbar am Tor anhalten; zu meiner Rechtfertigung wäre ich dann genötigt, zu sagen, du habest mir diese zehn Napoleons gegeben. Dann erfolgt eine Nachforschung, eine Untersuchung; man erfährt, daß ich Toulon verlassen habe, ohne Abschied zu nehmen, und man führt mich ohne Gnade an das Mittelländische Meer zurück. Ich werde wieder ganz einfach Nr. 106, und dahin ist mein Ideal, einem ehemaligenBäcker zu gleichen! Nein, mein Sohn, ich ziehe es vor, ganz ehrlich in der Hauptstadt zubleiben.

Andrea runzelte die Stirn; der vermeintliche Sohn des Majors von Cavalcanti war, wie er sich dessen selbst gerühmt hatte, ein ziemlich schlimmer Kopf. Er hielt einen Augenblick an, warf einen raschenBlick umher und steckte dann die Hand verstohlen in seine Hosentasche, wo er denBügel einer Taschenpistole zu streichelnbegann.

Caderousse aber, der seinen Gefährten nicht aus den Augen verlor, griff mit seinen Händen hinter seinen Rücken und öffnete ganz sacht ein langes, spanisches Messer, das er für jeden Fallbei sich trug.

Diebeiden würdigen Freunde verstanden einander, wie man sieht. Andreas Hand kam harmlos wieder aus der Tasche hervor und stiegbis zu seinem roten Schnurrbarte hinauf, den er eine Zeitlang zwischen den Fingern drehte.

Gut, Caderousse, sagte er, du willst also glücklich werden?

Ich werde mein möglichstes tun, erwiderte der Wirt vom Pont du Gard, während er sein Messer wieder in die Scheide steckte.

Vorwärts, fahren wir in die Stadt hinein! Doch wie willst du es machen, um durch das Tor zu kommen, ohne Verdacht zu erwecken? Mir scheint, mit deiner Tracht wagst du noch mehr im Wagen, als zu Fuß.

Warte, das wirst du sehen, erwiderte Caderousse.

Er nahm den Mantel mit großem Kragen, den derBediente an seinem Platze zurückgelassen hatte, und legte ihn auf seine Schultern; dann griff er nach Cavalcantis Hut und setzte ihn sich auf, worauf er die Stellung einesBedienten, dessen Herr selbst fährt, einnahm.

Und ich, sagte Andrea, soll ich etwabarhauptbleiben?

Bah! Es weht ein so starker Wind, daß er dir wohl deinen Hut fortgenommen haben kann.

Vorwärts also, daß wir zu Ende kommen!

Sie gelangten ohne Unfall durch das Tor. Bei der ersten Querstraße hielt Andrea sein Pferd an, Caderousse sprang zuBoden.

Nun, sagte Andrea, und der Mantel und mein Hut?

Oh! erwiderte Caderousse, du wirst nicht wollen, daß ich den Schnupfenbekomme. Und er verschwand in einem Gäßchen.

Ach! kann man denn in dieser Welt nie ganz glücklich sein! sagte Andrea, einen Seufzer ausstoßend.

Eheliche Szene

Morel, Chateau‑Renaud und Debray waren aus der Gesellschaft gemeinsam fortgerittenbis zum Platze Ludwigs XVI.; hier trennten sich die jungen Leute; Morel schlug den Weg über dieBoulevards ein, Chateau‑Renaud ritt über den Pont de la Revolution, und Debray folgte dem Kai.

Morel und Chateau‑Renaud kehrten zweifellos nach Hause zurück; nicht so Debray, denn er ritt im scharfen Trabnach der Rue de la Michodière zu und kam vor Herrn Danglars' Tür gerade in dem Augenblick an, als der Wagen des Herrn von Villefort, nachdem er diesen und seine Frau im Faubourg Saint‑Honoré abgesetzt hatte, anhielt, um dieBaronin nach Hause zubringen.

Als ein im Hausebekannter Mann ritt Debray zuerst in den Hof, warf den Zügel einemBedienten zu und kehrte dann an den Wagenschlag zurück, empfing Frau Danglars undbot ihr den Arm, um sie in ihre Gemächer zu führen. Sobald das Tor geschlossen war und dieBaronin und Debray sich im Hofebefanden, fragte der letztere: Was haben Sie, Herminie, und warum ist Ihnen so übel gewordenbei der Geschichte oder vielmehr Fabel, die der Graf erzählte?

Weil ich heute abend abscheulich aufgelegt war.

Nein, Herminie, Sie werden mich das nicht glauben machen. Sie waren im Gegenteil in vortrefflicher Stimmung, als Siebeim Grafen ankamen. Es hat Ihnen irgend jemand etwas getan. Erzählen Sie es mir! Sie wissen wohl, ich dulde es nicht, daß Ihnen eineBeleidigung zugefügt wird.

Ich versichere Ihnen, Sie täuschen sich, Lucien, es ist so, wie ich Ihnen gesagt habe.

Frau Danglars stand offenbar unter dem Einfluß einer jener Nervenreizungen, von denen die Frauen sich selbst keine Rechenschaft geben können, oder sie hatte, wie Debray annahm, irgend eine geheime Aufregung erfahren, die sie niemand gestehen wollte. Als ein Mensch, der gewohnt ist, die Launen als ein unvermeidliches Element der Weiblichkeit zubetrachten, drang er nicht weiter in sie undbeschloß, einen günstigen Augenblick zu neuem Ausforschen oder ein freiwilliges Geständnis abzuwarten.

An der Tür ihres Zimmers traf dieBaronin Fräulein Cornelie, ihre Lieblingskammerfrau. Was macht meine Tochter? fragte Frau Danglars.

Sie hat den ganzen Abend studiert und ist dann zuBett gegangen, antwortete Fräulein Cornelie.

Es kommt mir doch vor, als hörte ich ihr Klavier?

Fräulein Louise d'Armilly musiziert, während das Fräulein imBett liegt.

Gut, kleiden Sie mich aus!

Man trat in das Schlafzimmer. Debray streckte sich auf einem großen Sofa aus, und Frau Danglars ging mit Fräulein Cornelie in ihr Ankleidekabinett.

Einige Minuten nachher kam sie in einem reizenden Negligé aus ihrem Kabinett und setzte sich neben Lucien.

Dann fing sie an, träumerisch mit ihrem spanischen Schoßhündchen zu spielen. Lucienbetrachtete sie eine Minute schweigend und sagte hierauf mit weichem Tone: Antworten Sie offenherzig, Herminie, nicht wahr, es hat Sie irgend etwas verletzt?

Nichts, erwiderte dieBaronin.

Doch sie mußte aufstehen und suchte freieren Atem zu gewinnen, denn es schnürte ihr dieBrust zusammen; sie stellte sich vor einen Spiegel und rief: Ich sehe in der Tat heute abend aus, daß einem vor mirbange werden könnte.

Debray erhobsich ebenfalls lächelnd, um Frau Danglars über diesen letzten Punkt zuberuhigen, als plötzlich die Tür sich öffnete. Herr Danglars erschien; Debray setzte sich wieder. Bei dem Geräusch der Tür wandte sich Frau Danglars um und schaute ihren Gatten mit einem Erstaunen an, das sie sich nicht einmal zu verbergenbemühte.

Guten Abend, gnädige Frau, sagte Danglars; guten Abend, Herr Debray. DieBaronin glaubte ohne Zweifel, dieser unvorhergeseheneBesuchbedeute etwas wie ein Verlangen, diebitteren Worte wieder gutzumachen, die ihm am Tage entschlüpft waren.

Siebewaffnete sich mit einer würdigen Miene, wandte sich gegen Debray um und sagte zu diesem, ohne Danglars' Gruß zu erwidern: Lesen Sie mir etwas vor, Herr Debray.

Debray, den dieserBesuch anfangs einigermaßenbeunruhigt hatte, erholte sichbald wieder, als er dieBaronin so unbewegt sah, und streckte die Hand nach einemBuche aus.

Verzeihen Sie, sagte derBankier, doch Sie werden sehr müde werden, Baronin, wenn Sie so lange wachen; es ist elf Uhr, und Herr Debray wohnt sehr weit von hier.

Debray war im höchsten Maße erstaunt; nicht als obDanglars' Ton nicht vollkommen ruhig und höflich gewesen wäre; doch hinter dieser Ruhe und Höflichkeit ließ sich die ungewöhnliche Absicht nicht verkennen, an diesem Abend etwas anderes zu tun, als den Willen seiner Frau. DieBaronin war ebenfalls verwundert undbezeigte ihr Erstaunen durch einenBlick, der ihrem Manne ohne Zweifel zu überlegen gegeben haben würde, hätte dieser seine Augen nicht auf eine Zeitung gerichtet gehabt, in der er die Schlußnotierung der Rente suchte. Demzufolge ging dieserBlick ins Leere und verfehlte völlig seine Wirkung.

Herr Lucien, sagte dieBaronin, ich erkläre Ihnen, daß ich nicht die geringste Lust habe zu schlafen, ich muß Ihnen tausend Dinge erzählen, und Sie werden die Nacht damit zubringen, mich anzuhören, und sollten Sie stehend schlafen.

Zu IhrenBefehlen, gnädige Frau, antwortete phlegmatisch Lucien.

Mein lieber Herr Debray, sagte derBankier, bringen Sie sich nicht damit um, daß Sie stundenlang Frau Danglars' Torheiten anhören, denn Sie können sie ebensogut noch morgen vernehmen; doch dieser Abend gehört mir, ich muß mir ihn vorbehalten und mit Ihrer gütigen Erlaubnis derBesprechung ernster Interesse mit meiner Frau widmen.

Diesmal war der Schlag so unmittelbar, daß er Lucien und dieBaroninbetäubte; beidebefragten sich mit den Augen, als wollte das einebei dem andern eine Hilfe gegen den Angriff suchen; aber die unwiderstehliche Gewalt des Herrn vom Hause siegte, und die Machtbliebdem Gatten.

Glauben Sie indessen nicht, daß ich Sie fortjage, mein lieber Debray, fügte Danglars hinzu, nein, durchaus nicht; infolge eines unvorhergesehenen Umstandes muß ich noch heute eine Unterredung mit derBaronin wünschen; dies kommt so selten vor, daß man mir deshalbnicht grollen darf.

Debray stammelte ein paar Worte und verabschiedete sich.

Es ist unbegreiflich, sagte er, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, wie leicht diese Ehemänner, die wir so lächerlich finden, den Vorteil über uns erringen!

Als Lucien weggegangen war, nahm Danglars seinen Platz auf dem Sofa ein, schloß das offen gebliebeneBuch und fuhr fort, in einer, wie seine Frau meinte, furchtbar anmaßenden Haltung mit dem Hunde zu spielen. Da jedoch der Hund keine Sympathie für ihn hatte und ihnbeißen wollte, so faßte er ihn am Genick und schleuderte ihn an das andere Ende des Zimmers auf eine Chaiselongue.

Das Tier stieß einen Schrei aus; doch am Orte seinerBestimmung angelangt, kauerte es sich hinter ein Kissen und verhielt sich, erstaunt über diese ungewohnteBehandlung, stumm und regungslos.

Wissen Sie, Herr Danglars, sagte dieBaronin, ohne eine Miene zu verziehen, wissen Sie, daß Sie Fortschritte machen? Gewöhnlich waren Sie nur grob, heute sind Sie roh und unverschämt.

Dies kommt davon, daß ich heute abend in einer schlimmeren Launebin, als gewöhnlich.

Herminie schaute denBankier mit der größten Verachtung an. Sonstbrachten solcheBlicke den stolzenBankier außer sich; doch an diesem Abend schien er kaum darauf zu achten.

Was geht mich Ihre schlimme Laune an? entgegnete dieBaronin, gereizt durch die Unempfindlichkeit ihres Gatten; was habe ich mich darum zubekümmern? Schließen Sie Ihre schlechten Launenbei sich ein, oder verweisen Sie sie in IhreBüros, und da Sie Kommis haben, die Siebezahlen, so lassen Sie an denen Ihre Launen aus.

Nein, versetzte Danglars, Ihre Ratschläge sind verkehrt, und ich werde sie nichtbefolgen. Meine Kommis sind ehrliche Leute, die mir mein Vermögen verdienen und die ich weit unter ihrem Wertebezahle; ich werde mich also nicht gegen sie erzürnen. In Zornbringen mich die, welche meine Mittagsmahle verzehren, meine Pferde zu Tode hetzen und meine Kasse zu Grunde richten.

Und wer sind denn die, welche Ihre Kasse zu Grunde richten? Ichbitte Sie, erklären Sie sich deutlicher.

Oh! seien Sie unbesorgt; spreche ich in Rätseln, so gedenke ich Sie doch nicht lange nach dem Schlüssel suchen zu lassen, versetzte Danglars. Es sind die, welche in einer Stunde 700 000 Franken daraus ziehen.

Ich verstehe Sie nicht, entgegnete dieBaronin, die zugleich die Aufregung ihrer Stimme und die Röte ihres Gesichtes zu verbergen suchte.

Sie verstehen mich im Gegenteil sehr gut, versetzte Danglars; doch wenn Sie in Ihrer Verstellung verharren, so werde ich Ihnen sagen, daß ich 700 000 Franken an den spanischen Papieren verliere.

Ah! was höre ich! rief dieBaronin hohnlächelnd; und mich machen Sie verantwortlich für diesen Verlust? Ist es meine Schuld, daß Sie 700 000 Franken verloren haben?

In jedem Falle ist es nicht die meinige.

Mein Herr, ich habe Ihnen ein für allemal gesagt, Sie sollen nicht von Kassenangelegenheiten mit mir sprechen, erwiderte spitzig dieBaronin; es ist dies eine Sprache, die ich wederbei meinen Eltern nochbei meinem ersten Manne gelernt habe.

Das glaube ichbei Gott wohl, sagte Danglars, weder die einen noch der anderebesaßen einen Sou.

Ein Grund mehr für mich, bei Ihnen das Rotwelsch derBank, das mir hier vom Morgenbis zum Abend die Ohren zerreißt, nicht zu lernen; dieser Klang von Talern, die man wieder und wieder zählt, ist mir verhaßt, und außer dem Tone Ihrer Stimme kenne ich nichts, was mir unangenehmer wäre.

In der Tat, das ist seltsam! Ich glaubte gerade, Sie nähmen den lebhaftesten Anteil an meinen Operationen!

Ich? Wer hat Ihnen eine solche Albernheit vorgeredet?

Sie selbst. Erinnern Sie sich vielleicht, daß Sie im verflossenen Februar zu mir zum ersten Male von den haytischen Papieren sprachen; Sie hatten geträumt, ein Schiff laufe in den Hafen von Havre ein, und dieses Schiffbringe die Nachricht, eine Zahlung, von der man glaubte, sie sei auf die langeBank geschoben, würde wirklich geleistet. Ich traute der Hellseherei Ihres Schlafes, kaufte unter der Hand alle haytischen Schuldscheine, die ich auftreiben konnte, und gewann 400 000 Franken, von denen Ihnen gewissenhaft 100 000 zugestellt wurden. Sie machten damit, was Sie wollten,… das geht mich nichts an.

Im März handelte es sich um eine Eisenbahnkonzession. Drei Gesellschaftenboten gleiche Garantien. Sie sagten mir, Ihr Instinkt — und obgleich Siebehaupten, Sie seien der Spekulation fremd, so glaube ich doch im Gegenteil, daß Ihr Instinkt in gewissen Dingen sehr entwickelt sei — Sie erklärten mir also, Ihr Instinkt sage Ihnen, das Privilegium werde einerbestimmten Gesellschaft erteilt werden. Ich ließ mich auf der Stelle für zwei Drittel der Aktien dieser Gesellschaft einschreiben; das Privilegium wurde ihr wirklichbewilligt, wie Sie gesagt hatten; die Aktien erhielten einen dreifachen Wert, ich gewann eine Million, wovon Ihnen 250 000 Franken als sogenanntes Nadelgeld zukamen. Wie Sie diese 250 000 Franken angewendet haben, geht mich nichts an.

Doch wo wollen Sie denn am Ende mit all dem hinaus, mein Herr? rief dieBaronin, zitternd vor Zorn und Ungeduld.

Geduld, ich komme zum Ziele. Im April speisten Siebei dem Minister zu Mittag, Man plauderte von Spanien, und Siebelauschten ein geheimes Gespräch, in dem von der Austreibung Don Carlos' die Rede war: ich kaufte spanische Fonds, Die Austreibung fand wirklich statt, und ich gewann 600 000 Franken, Von diesen 600 000 Franken erhielten Sie 50 000 Taler; sie gehörten Ihnen; Sie verfügten darüber nach Ihrer Laune, ich verlange keine Rechenschaft von Ihnen, So haben Sie in diesem Jahre 500 000 Livres erhalten.

Nun, und weiter, mein Herr? In der Tat, Sie haben Redensarten…

Sie drücken meine Gedanken aus, und das genügt… Vor drei Tagen sprachen Sie mit Herrn Debray über Politik, und Sie glaubten, aus seinen Worten zu vernehmen, Don Carlos sei nach Spanien zurückgekehrt. Da verkaufe ich meine Rente, die Nachricht verbreitet sich, ein manischer Schrecken ergreift die Leute; ich verkaufe nicht mehr, ich verschenke; am andern Tage findet es sich, daß die Nachricht falsch war, und daß ich 700 000 Franken durch diese falsche Nachricht verloren habe.

Nun?

Nun! da ich Ihnen ein Viertel gebe, wenn ich gewinne, so sind Sie mir auch ein Viertel schuldig, wenn ich verliere; das Viertel von 700 000 Franken macht 175 000 Franken.

Was Sie mir sagen, ist ganz ungereimt, und ich sehe gar nicht ein, warum Sie den Namen Debray mit dieser ganzen Geschichte vermengen.

Weil Sie, wenn Sie etwa die 175 000 Franken, die ich von Ihnen verlange, nicht haben, sie von Ihren Freunden entlehnen werden, zu denen auch Herr Debray gehört.

Pfui! rief dieBaronin.

Oh! keine Gebärden, kein Geschrei, kein modernes Drama, sonst muß ich Ihnenbemerken, daß ich von hier aus sehe, wie Herr Debraybei den 150 000 Franken, die Sie ihm in diesem Jahrebezahlt haben, hohnlächelt und sich sagt, er habe endlich das gefunden, was die geschicktesten Spieler nie zu entdecken vermochten, nämlich ein Roulette, wo man ohne Einsatz gewinnt, und wo man nichts verspielt, wenn man auch verliert.

DieBaronin wurde wütend. Elender, rief sie, wollen Sie sich erdreisten, mir zu sagen, Sie hätten das nicht gewußt, was Sie mir heute zum Vorwurf zu machen wagen?

Ich sage Ihnen nicht, daß ich es wußte, ich sage Ihnen auch nicht, daß ich es nicht wußte, ich sage Ihnen nur: Beachten Sie meinBenehmen seit den vier Jahren, seitdem Sie nicht mehr meine Frau sind und ich nicht mehr Ihr Mannbin, und Sie werden sehen, obes immer folgerecht gewesen ist. Kurze Zeit vor unseremBruche wünschten Sie von demberühmtenBariton, der mit so großem Erfolg in der italienischen Oper auftrat, fingen zu lernen; ich wollte von jener Tänzerin tanzen lernen, die sich in London einen so großen Ruf erworben hat. Das kostete mich, sowohl für Sie als für mich, ungefähr 100 000 Franken. 100 000 Franken, damit der Mann und die Frau gründlich tanzen und musizieren lernen, ist nicht zuviel. Bald waren Sie des Gesanges überdrüssig, und Sie wünschten, von einem Ministerialsekretär Diplomatie zu lernen. Ich habe nichts dagegen, da Sie die Lektionen, die Sie nehmen, aus Ihrer Kassebezahlen. Doch nun sehe ich, daß es auf Rechnung der meinigen geht, und daß mich Ihr Unterricht 700 000 Franken monatlich kosten kann. Halt, meine Dame! Das geht nicht weiter. Entweder gibt der Diplomat unentgeltliche Lektionen, und ich werde ihn dulden; oder er setzt keinen Fuß mehr in mein Haus; verstehen Sie mich?

Oh! das ist zu stark, rief sie, vom Zornbeinahe erstickt. Sie überschreiten die Grenzen der Gemeinheit.

Sie haben recht; wir wollen unsere Sache ruhig und kaltbehandeln, um zum Ziele zu kommen. Wenn ich mich je in Ihre Angelegenheiten mischte, so geschah es nur zu IhremBesten, machen Sie es ebenso! Meine Kasse geht Sie nichts an, operieren Sie mit der Ihrigen, aber füllen Sie die meinige nicht, und leeren Sie sie ebensowenig. Wer weiß übrigens, obnicht diese ganze Geschichte ein politischer Messerstich ist, obnicht der Minister, wütend darüber, daß ich der Opposition angehöre, sich mit Herrn Debray verständigt hat, um mich zu Grunde zu richten?

Wie wahrscheinlich ist das!

Allerdings; wer hat je so etwas gesehen… eine falsche telegraphische Nachricht, das scheint ja unmöglich oder fast unmöglich! Es ist in der Tat ausdrücklich für mich geschehen.

Sie wissen, sagte dieBaronin, wie es scheint, nicht, daß der Telegraphenbeamte sogar fortgejagt wurde, daß man denBefehl erteilte, ihn zu verhaften, und daß dieserBefehl vollstreckt worden wäre, hätte er sich nicht der ersten Nachforschung durch Flucht entzogen, woraus sich seine Verrücktheit oder seine Schuld ergibt… Das ist ein Irrtum.

Ja, der mich 700 000 Franken kostet.

Mein Herr, sagte plötzlich Herminie, wenn diese ganze Geschichte Ihrer Ansicht nach von Herrn Debray herrührt, warum sagen Sie es mir, statt es unmittelbar ihm selbst zu sagen? Warumbeschuldigen Sie den Mann und halten sich an die Frau?

Kenne ich Herrn Debray? Will ich ihn kennen? Will ich wissen, daß er Ratschläge gibt? Will ich siebefolgen? Spiele ich? Nein, Sie tun dies alles und nicht ich!

Doch da Sie Nutzen daraus ziehen…

Danglars zuckte die Achseln und erwiderte: In der Tat, tolle Geschöpfe, diese Weiber! Sie halten sich für Genies, weil sie ein paar Intrigen so durchgeführt haben, daß nicht ganz Paris davon voll ist. Dochbedenken Sie, hätten Sie Ihre Extratouren auch Ihrem Manne verborgen, was das ABC der Kunst ist, da die Ehemänner meist gar nicht sehen wollen, so wären Sie doch nur eineblasse Kopie von dem, was die Hälfte Ihrer Freundinnen, die Frauen von Welt, tun. Das ist aber nicht mein Fall. Ich habe seit etwa sechzehn Jahren gesehen und immer gesehen, Sie konnten mir vielleicht einen Gedanken verbergen, aber nie einen Schritt, Handlung, einen Fehler. Während Sie sich selbst wegen Ihrer GeschicklichkeitBeifall spendeten und fest überzeugt waren, Sie täuschten mich, was war das Resultat? Daß infolge meiner vermeintlichen Täuschung, von Herrn von Villefort anbis zu Herrn Debray, nicht einer von Ihren Freunden nicht vor mir zitterte. Jederbehandelte mich als Herrn des Hauses; keiner wagte es, Ihnen von mir zu sagen, was ich Ihnen heute selbst sage. Ich erlaube Ihnen, mich verhaßt zu machen, aber ich werde Sie verhindern, mich lächerlich zu machen, und ich verbiete Ihnenbesonders auf dasbestimmteste und vor allein, mich zu Grunde zu richten.

Bis zu dem Augenblick, wo der Name Villefort ausgesprochen wurde, beobachtete dieBaronin eine ziemlich gute Haltung; dochbei diesem Name erbleichte sie, streckte, indem sie, wie von einer Feder geschnellt, auffuhr, ihre Arme aus, wie um eine Erscheinung zubeschwören, und machte drei Schritte gegen ihren Gatten, als wollte sie ihm das volle Geheimnis entreißen.

Herr von Villefort! Was soll dasbedeuten? Was wollen Sie damit sagen?

Das sollbedeuten, daß Herr von Nargonne, Ihr erster Mann, der weder ein Philosoph noch einBankier war und sah, daß sich aus einem Staatsanwalt kein Nutzen ziehen ließ, aus Kummer oder aus Ingrimm starb, als er Sie nach einer Abwesenheit von neun Monaten im sechsten Monat schwanger fand. Ichbin roh und unverschämt, ich weiß es nicht nur, sondern ich rühme mich dessen; es ist eines von meinen Mitteln, in Geschäftsunternehmungen Erfolg zu erzielen. Warum hat er sich selbst töten lassen, statt zu töten? Weil er keine Kasse zu retten hatte; aber ichbin mich meiner Kasse schuldig. Herr Debray, mein Associé, ist schuld, daß ich 700 000 Franken verliere! er trage seinen Teil am Verlust, und wir setzen unsere Geschäfte fort; wenn nicht, so mache er mirBankerott mit diesen 175 000 Livres, und tue dann, wasBankerottierer tun, er verschwinde! Mein Gott! ich weiß wohl, er ist ein reizenderBursche, wenn seine Nachrichten pünktlich und richtig sind; doch wenn sie dies nicht sind, so gibt es fünfzig in der Welt, die mehr Wert haben, als er.

Frau Danglars war niedergeschmettert; sie machte jedoch eine äußerste Anstrengung, um diesen letzten Angriff zu erwidern. Sie fiel in einen Lehnstuhl, denn sie dachte an Villefort, an die Szene in Auteuil, au die Unglücksfälle, die seit ein paar Tagen über ihr Haus hereingebrochen waren.

Danglars schaute sie nicht einmal an, obgleich sie alles mögliche tat, um ohnmächtig zu werden. Er öffnete die Tür des Schlafzimmers, ohne ein Wort hinzuzufügen, und kehrte in seine Wohnung zurück, so daß Frau Danglars, als sie von ihrer Halbohnmacht wieder zu sich kam, glauben konnte, sie hätte einenbösen Traum gehabt.

Heiratspläne

Am Tage nach dieser Szene machte Debray Frau Danglars keinenBesuch.

Gegen halbzwei Uhr verlangte die Dame nach ihrem Wagen und fuhr aus.

Danglars hatte, hinter dem Fenster stehend, dieses Ausfahren, das er erwartete, beobachtet. Er gabBefehl, ihn zubenachrichtigen, sobald seine Frau wiedererscheinen würde; doch um zwei Uhr war sie noch nicht zurückgekehrt.

Von Mittagbis zwei Uhr war Danglars in seinem Kabinett geblieben, wo er Depeschen entsiegelte, immer düsterer wurde, Ziffern auf Ziffern häufte, und unter anderenBesuchen auch den des Majors Cavalcanti empfing, der stets gleichblau, gleich steif und gleich pünktlich zu der am Tage vorherbezeichneten Stunde sich einfand, um seine Angelegenheit mit demBankier abzumachen.

Um zwei Uhr forderte er seine Pferde, begabsich in die Kammer, zeigte sich hier sehr aufgeregt und war herber undbitterer gegen das Ministerium, als je. Nach der Sitzung stieg er wieder in seinen Wagen undbefahl dem Kutscher, ihn nach der Avenue der Champs‑Elysées zu fahren.

Monte Christo war zu Hause, nurbefand sich jemandbei ihm, und erbat Danglars, einen Augenblick im Salon zu warten.

Während derBankier wartete, öffnete sich die Tür, und er sah einen als Abbé gekleideten Mann eintreten, der, statt zu warten wie er, ohne Zweifel vertrauter in dem Hause, ihn grüßte, in das Innere der Gemächer ging und verschwand.

Einen Augenblick nachher öffnete sich die Tür, durch die der Priester eingetreten war, abermals, und Monte Christo erschien.

Verzeihen Sie, lieberBaron, sagte er, einer meiner Freunde, der AbbéBusoni, den Sie wohlbemerkt haben, ist soeben angekommen; wir waren seit langer Zeit getrennt, und ich hatte nicht den Mut, ihn sogleich zu verlassen; ich hoffe, daß Sie mich deshalbentschuldigen.

Wie! rief Danglars, das ist ganz einfach, ich habe meine Zeit schlecht gewählt und entferne mich.

Keineswegs, im Gegenteil, setzen Sie sich! Aber, guter Gott! Was haben Sie denn? Sie sehen ganz sorgenvoll aus, in der Tat, Sie erschrecken mich; einbetrübter Kapitalist ist wie ein Komet und weissagt der Welt stets ein großes Unglück. Mein Herr, das Unglück ruht seit ein paar Tagen auf mir, und ich erfahre nur Schlimmes, antwortete Danglars.

Mein Gott! haben Sie einen Umschlag an derBörse erlebt?

Nein, davonbin ich geheilt, wenigstens auf einige Tage; es handelt sich für mich um einenBankerott in Triest.

Wirklich? Meinen Sie etwa Jacopo Manfredi?

Ganz richtig! Denken Sie sich einen Menschen, der, ich weiß nicht seit wie langer Zeit, für 8bis 900 000 Franken Geschäfte jährlich mit mir macht. Nie ein Verrechnen, nie eine Zögerung; ein Mann, derbezahlte wie ein Fürst immerbezahlte. Ich lasse mich auf einen Kredit von einer Million mit ihm ein, und der Teufel von Jacopo Manfredi stellt seine Zahlungen ein! Das ist ein unerhörtes Unglück. Ich ziehe auf ihn 600 000 Livres, die mir unbezahlt zurückkommen; mehr noch! Ichbin der Inhaber von 400 000 Franken Wechsel, von ihm unterzeichnet und zahlbar Ende diesesbei seinem Korrespondenten in Paris. Wir haben den dreißigsten, ich schicke hin, um einkassieren zu lassen, ah, ja wohl! der Korrespondent ist verschwunden. Mit der spanischen Geschichte macht das einen schönen Monatsschluß. — Sagen Sie, bringen Ihnen die spanischen Papiere wirklich Verlust?

Allerdings, nicht weniger als 700 000 Franken!

Wie, zum Teufel, kam es, daß Sie, ein alter Luchs, eine solche Schule durchmachen mußten?

Es ist der Fehler meiner Frau. Es träumte ihr, Don Carlos sei nach Spanien zurückgekehrt; sie glaubt an Träume. Allerdings spielte sie nicht um mein Geld, sondern um das ihrige. Doch gleichviel, Siebegreifen, wenn 700 000 Franken aus der Tasche der Frau gehen, so merkt es der Mann immer ein wenig. Wie! Sie wußten das nicht? Die Sache hat doch ungeheueres Aufsehen gemacht?

Ich habe davon sprechen hören, kannte aber die einzelnen Umstände nicht, auch verstehe ich nicht das geringste vonBörsengeschäften. Sie spielen also nicht?

Ich! wie soll ich spielen? Habe ich doch so schon Mühe genug, meine Finanzen in Ordnung zu halten. Ich wäre genötigt, außer meinem Intendanten noch einen Kommis und einen Kassengehilfen zu nehmen. Doch was Spanienbetrifft… mir scheint, die FrauBaronin hat Don Carlos' Rückkehr nicht völlig geträumt; erzählten nicht die Zeitungen davon?

Das ist gerade das Unerklärliche, daß diese Rückkehr des Don Carlos wirklich eine telegraphische Nachricht war.

Somit verlieren Sie diesen Monat ungefähr siebzehnhunderttausend Franken? Teufel! für ein Vermögen dritten Ranges ist dies immerhin ein Schlag, sagte Monte Christo.

Dritten Ranges, entgegnete Danglars etwas gedehnt, was verstehen Sie darunter?

Ich mache drei Rangklassen; ersten Ranges sind Vermögen, die, in liegenden Gütern, inBergwerken und dergleichen angelegt, einen Gesamtbetrag von hundert Millionen ausmachen; zweiten Ranges sind Vermögen mit einer Rente von 1 1/2 Millionen, d. h. einem Kapital von fünfzig Millionen und dritten Ranges solche, die sich wie das Ihrige auf fünfzehn Millionen eingebildetes oder wirkliches Kapitalbelaufen. Daraus geht hervor, fuhr Monte Christo mit unzerstörbarer Ruhe fort, daß ein Haus dritten Ranges mit sechs Monatsschlüssen, wie dieser, im Todeskampfe läge.

Wie rasch Sie zu Werke gehen! versetzte Danglars mitbleichem Lächeln.

Setzen wir sieben Monate, sagte der Graf mit demselben Tone. Sagen Sie mir, haben Sie zuweilen daran gedacht, daß siebenmal siebzehnhunderttausend Franken ungefähr zwölf Millionen machen? Nein… Nun, Sie haben recht, dennbei dergleichenBetrachtungen würde man nie seine Kapitalien einsetzen, die für den Finanzmann ungefähr das sind, was für den zivilisierten Menschen die Haut ist. Wirbesitzen mehr oder minder kostbare Kleider, das ist unser Kredit; doch wenn der Mensch stirbt, hat er nur seine Haut, wie Sie, wenn Sie aus dem Geschäft austreten, nur Ihren wirklichenBesitz, das heißt, höchstens fünf oder sechs Millionen, haben. Von diesen fünfbis sechs Millionen, die Ihr wirkliches Aktivvermögenbilden, haben Sie in jüngster Zeit etwa zwei verloren, ein Verlust, der zugleich Ihr eingebildetes Vermögen, das heißt Ihren Kredit, vermindert; dasbedeutet, mein lieber Herr Danglars, Ihre Haut ist durch einen Aderlaß geöffnet worden, der, viermal wiederholt, den Tod nach sich ziehen würde. Ei! ei! nehmen Sie sich in acht, Herr Danglars. Brauchen Sie Geld, soll ich Ihnen leihen?

Was für ein schlechter Rechner sind Sie! sagte Danglars, indem er seine ganze Philosophie und seine ganze Verstellungsgabe zu Hilfe rief; zu dieser Stunde ist das Geld durch andere Spekulationen, die mir gelungen sind, wieder in meine Kasse zurückgeflossen; das durch den Aderlaß entzogeneBlut hat sich durch Nahrung wieder ersetzt. Ich habe eine Schlacht in Spanien verloren, ichbin in Triest geschlagen worden, doch meine Kriegsflotte in Indien wird wohl einige Gallionen genommen und meineBergleute in Mexiko werden wohl eine Mine entdeckt haben.

Sehr gut! sehr gut! doch die Narbebleibt und öffnet sich wiederbei dem nächsten Verluste.

Nein, ichbin meiner Sache ganz gewiß, fuhr Danglars mit der Alltagsberedsamkeit des Charlatans fort, der gewöhnt ist, seinen Kredit herauszustreichen; um mich zu stürzen, müßten drei Regierungen untergehen. Doch da wir von Geschäften reden, fügte er, froh, einen Grund zur Veränderung des Gespräches zu finden, hinzu, sagen Sie mir doch, was ich für Herrn Cavalcanti tun kann.

Geben Sie ihm Geld, wenn er einen Kredit auf Sie hat, und dieser Kredit Ihnen gut scheint.

Vortrefflich! er hat sich heute morgenbei mir eingefunden mit einer Anweisung von 40 000 Franken, zahlbar nach Sicht, auf Sie, unterzeichnetBusoni, und durch Sie mit Ihrem Indossement an mich zurückgeschickt; Siebegreifen, daß ich ihm auf der Stelle seine vierzig Scheine auszahlte.

Monte Christo machte mit dem Kopfe ein Zeichen, das seine ganzeBeistimmung andeutete.

Doch das ist noch nicht alles, fuhr Danglars fort; er hat seinem Sohnebei mir einen Kredit eröffnet.

Sagen Sie, wieviel gibt er dem jungen Manne, wenn ich, ohne unbescheiden zu sein, fragen darf?

5000 Franken monatlich.

60 000 Franken jährlich. Ich dachte mir's, sagte Monte Christo, die Achseln zuckend, die Cavalcanti sind Filze. Was soll der junge Mann mit 5000 Franken monatlich machen?

Siebegreifen, wenn er ein Paar tausend Franken mehrbraucht…

Tun Sie das nicht, der Vater würde Sie nicht entschädigen; Sie kennen diese italienischen Millionäre nicht, es sind wahre Geizhälse. Und durch wen ist dieser Kredit eröffnet worden?

Oh! durch das Haus Fenzi, eines derbesten in Florenz.

Ich will durchaus nicht sagen, daß Sie dabei Gefahr laufen; doch halten Sie sich genau an denBuchstaben des Kreditbriefes.

Sie hätten also kein Vertrauen zu diesem Cavalcanti?

Ich würde ihm sechs Millionen auf seine Unterschrift geben. Seines gehört zu den Vermögen zweiten Ranges, nach meiner Einteilung, mein lieber Herr Danglars.

Und wie einfach ist er dabei! Ich hätte ihn für einen Major gehalten, nichts anderes.

Und Sie würden ihm damit, denke ich, noch eine Ehre angetan haben, denn in der Tat, erbesticht nicht durch sein Aussehen. Als ich ihn zum erstenmal sah, machte er auf mich den Eindruck eines alten, unter der Epaulette verschimmelten Leutnants. Doch alle Italiener sind so; sie gleichen alten Juden, wenn sie nicht wie die Magier des Orientsblenden.

Der junge Mann siehtbesser aus, sagte Danglars. Ja, vielleicht ein wenig schüchtern, doch im ganzen kam er mir anständig vor. Ich war seinetwegen in Unruhe.

Warum?

Weil er, als Sie ihn in meinem Hause gesehen haben, wenigstens, wie er mir sagt, eben erst in die Welt eingetreten ist. Er reiste mit einem sehr strengen Hofmeister und war nie in Paris.

Alle diese Italiener von Stande haben die Gewohnheit, sich untereinander zu verheiraten, nicht wahr? fragte Danglars scheinbar gleichgültig; sie lieben es, ihre Reichtümer znsammenzuhäufen.

Gewöhnlich machen sie es allerdings so; doch Cavalcanti ist ein Original und tut nichts wie die anderen. Ich lasse es mir nicht nehmen, daß er seinen Sohn nach Frankreich schickt, damit er hier eine Fran findet.

Und Sie haben von seinem Vermögen sprechen hören?

Dies ist eben eine zweifelhafte Sache; die einen gestehen ihm Millionen zu, die andernbehaupten, erbesitze keinen Heller.

Und was ist Ihre Meinung?

Darauf können Sie sich nicht stützen, denn sie ist ganz persönlich.

Und Sie glauben…

Ich glaube, daß alle diese alten Podestas, alle diese ehemaligen Condottieri, denn die Cavalcanti haben Heerebefehligt und Provinzen regiert, ich glaube, sage ich, daß sie Millionen in Winkeln vergraben haben, die nur ihre Erstgeborenen kennen und deren Kenntnis so von Geschlecht zu Geschlecht überliefert wird.

Das ist gut, rief Danglars, und um so mehr, als man von allen diesen Leuten nicht weiß, obsie auch nur einen Quadratzoll Landbesitzen.

Mindestens sehr wenig, ich weiß es wohl, denn ich kenne als Cavalcantis Grundbesitz nur seinen Palast in Lucca.

Ah! er hat einen Palast! sagte Danglars lachend, das ist schon etwas.

Ja, und er vermietet ihn an den Minister der Finanzen, während er selbst in einem kleinen Häuschen wohnt. Oh! ich habe es Ihnen gesagt, ich halte ihn für einen großen Geizhals.

Sie schmeicheln ihm nicht.

Hören Sie, ich kenne ihn kaum und habe ihn höchstens dreimal in meinem Leben gesehen; was ich weiß, weiß ich von dem AbbéBusoni und von ihm selbst. Er sprach heute morgen mit mir über seine Absichten mit seinem Sohn und ließ durchblicken, daß er es müde sei, in Italien, das ein totes Land sei, beträchtliche Fonds schlummern zu lassen, und ein Mittel suche, um entweder in Frankreich oder in England seine Millionen nutzbar zu machen. Doch wollen Sie immerhinbemerken, daß ich für nichts stehe, obschon ich zu dem AbbéBusoni persönlich das größte Zutrauen hege.

Gleichviel, ich danke Ihnen für den Kunden, den Sie mir zugeschickt haben; es steht ein guter Name mehr in meinen Registern, und mein Kassierer, dem ich erklärte, wie es mit diesem Cavalcanti steht, ist ganz stolz darauf. Doch sagen Sie, — die Frage kommt mir nur eben in den Mund — geben diese Leute ihren Söhnen, wenn sie sie verheiraten, eine Mitgift?

Ei, mein Gott! jenachdem. Ich kannte einen italienischen Fürsten, so reich wie ein Goldbergwerk, einen der ersten Namen von Toskana. Verheirateten sich seine Söhne nach seinem Gefallen, so gaber ihnen Millionen; verheirateten sie sich gegen seinen Willen, sobeschränkte er sich darauf, ihnen eine Rente von dreißig Talern monatlich auszusetzen. Nehmen wir an, Andrea verheirate sich nach den Ansichten seines Vaters, so wird er ihm vielleicht eine, zwei, drei Millionen geben. Handelte es sich z. B. um die Tochter einesBankiers, so würde er wohl Teilhaber des Hauses werden. Mißfällt ihm dagegen seine Schwiegertochter, dann gute Nacht! Der Cavalcanti steckt den Schlüssel in seine Kasse, dreht ihn zweimal um, und mein Andrea ist genötigt, davon zu leben, daß er die Karten zeichnet und die Würfel kneipt.

Der junge Mann wird einebayerische oder eine peruanische Prinzessin finden; er wird eine Krone haben wollen.

Nein, diese vornehmen Herren heiraten häufig einfache Sterbliche; sie lieben es, dasBlut zu mischen. Doch sagen Sie, wollen Sie Andrea verheiraten, lieber Herr Danglars, daß Sie alle diese Fragen an mich stellen?

Meiner Treu, es scheint mir keine schlechte Spekulation zu sein, und ichbin ein Spekulant.

Aber ich denke, nicht mit Ihrer Fräulein Tochter? Sie wollen doch wohl nicht den armen Andrea von Albert ins Jenseitsbefördern lassen?

Albert, versetzte Danglars die Achseln zuckend, dem liegt gerade etwas daran!

Er ist doch der Verlobte Ihrer Tochter?

Das heißt, Herr von Morcerf und ich sprachen zuweilen von dieser Heirat, aber Frau von Morcerf und Albert…

Halten Sie diesen für keine gute Partie?

Jedenfalls denke ich, Fräulein Danglars ist so viel wert wie Herr von Morcerf.

Fräulein Danglars' Mitgift wird in der Tat nicht übel sein, daran zweifle ich nicht, besonders wenn der Telegraph keine neuen Torheitenbegeht.

Oh! es handelt sich nicht allein um Mitgift. Aber sagen Sie mir dochbei dieser Gelegenheit, warum haben Sie Morcerf und seine Familie nicht eingeladen?

Ich habe dies getan, doch er entschuldigte sich um einer Reise nach Treport mit Frau von Morcerf, der man die Seeluft angeraten habe.

Ja, ja, sagte Danglars lachend, die muß ihr wohl gutbekommen? — Warum dies? — Weil es die Luft ist, die sie in ihrer Jugend einatmete.

Monte Christo ließ diesen Witz vorübergehen, ohne daß er ihn zubeachten schien.

Aber wenn Albert auch nicht so reich ist, wie Fräulein Danglars, sagte der Graf, so können Sie doch nicht leugnen, daß er einen schönen Namen führt?

Gerade darum würde ich Herrn Andrea Cavalcanti Herrn Albert von Morcerf vorziehen.

Ich denke die Morcerf stehen den Cavalcanti nicht nach, entgegnete Monte Christo.

Die Morcerf!.. Herr Graf, nicht wahr, Sie sind ein Kenner von Wappen?

Ein wenig.

Nun wohl, schauen Sie die Farbe des meinigen an; sie ist haltbarer, als die von Morcerfs Wappen.

Warum dies?

Weil ich, wenn ich auch nichtBaron von Geburtbin, doch wenigstens Danglars heiße, während er nicht Morcerf heißt.

Wie, er heißt nicht Morcerf?

Keineswegs, mich hat man zumBaron gemacht, und somitbin ich es.

Unmöglich.

Hören Sie, lieber Graf, fuhr Danglars fort, Herr von Morcerf ist mein Freund, oder vielmehr meinBekannter seit dreißig Jahren. Wohl! als ich noch ein kleiner Kommis war, war Morcerf ein einfacher Fischer, namens Fernand Mondego.

Wissen Sie das sicher?

Er hat, bei Gott! Fische genug an mich verkauft, daß ich ihn kenne.

Warum würden Sie ihm dann Ihre Tochter geben?

Weil Fernand und Danglarsbeide geadelte, beide reich gewordene etwa gleichwertige Emporkömmlinge sind, abgesehen von gewissen Dingen, die man von ihm gesagt und nie von mir gesehen hat.

Ah! ja, ichbegreife; was Sie hier sprechen, frischt mein Gedächtnis für den Namen Fernand Mondego auf. Ich habe diesen Namen in Griechenland gehört.

In Zusammenhang mit Ali Pascha? — Ganz richtig. — Das ist eben das Geheimnis, und ich gestehe, ich hätte viel darum gegeben, es zu entdecken. — Das wäre nicht schwierig, wenn Sie große Lust dazu hätten. — Wieso? — Ohne Zweifel haben Sie einen Korrespondenten in Janina? — In Janina? Ja! — Gut, so schreiben Sie an ihn und fragen ihn, welche Rolle in der Katastrophe von Ali Tependelini ein Franzose namens Fernand gespielt habe.

Sie haben recht! rief Danglars rasch aufstehend; ich will noch heute schreiben.

Tun Sie dies. Und wenn Sie irgend einebelastende Nachrichtbekommen…

So teile ich sie Ihnen mit.

Sie werden mir ein Vergnügenbereiten.

Danglars eilte aus dem Zimmer und machte gleichsam nur einen Sprung in den Wagen.

Das Kabinett des Staatsanwalts

Lassen wir denBankier in scharfem Trabe seiner Pferde nach Hause fahren und folgen Frau Danglarsbei ihrem Morgenausfluge. Sie war, wie gesagt, um halbzwei Uhr ausgefahren und ließbei der Passage du Pout‑Neuf halten. Sie stieg aus und ging durch die Passage. Ihre Kleidung war sehr einfach, wie es sich für eine Frau von Geschmack geziemt, wenn sie sich morgens auf der Straße zeigt.

In der Rue Génégaut stieg sie in einen Fiaker undbezeichnete als Ziel die Rue de Harlay. Kaum war sie in dem Wagen, als sie aus ihrer Tasche einen sehr dichten schwarzen Schleier zog, den sie an ihrem Strohhutebefestigte; dann setzte sie ihren Hut wieder auf undbemerkte mit Vergnügen, als sie sich in einem kleinen Taschenspiegelbeschaute, daß man von ihr nichts als ihre weiße Haut und die funkelnden Augensterne sehen konnte. Der Fiaker fuhr zum Justizpalast. Hier eilte Frau Danglars zur Treppe, stieg diese leicht hinauf und gelangtebald in den Saal des Pas‑Perdus.

Am Morgen gibt es im Justizpalast sehr viel geschäftige Leute, die sich wenig umeinander kümmern. Frau Danglars durchschritt daher den Saal des Pas‑Perdus, ohne von andernbemerkt zu werden, als von zwei Frauen, die hier auf ihren Advokaten warteten.

Das Vorzimmer des Herrn von Villefort war gedrängt voll von Menschen, doch Frau Danglars hatte nicht einmal nötig, ihren Namen zu nennen. Sobald sie erschien, stand ein Gerichtsdiener auf, ging ihr entgegen und fragte sie, obsie nicht die Person sei, die der Herr Staatsanwaltbeschieden habe. Auf ihrebejahende Antwort führte er sie durch einenbesonderen Gang in Herrn von Villeforts Kabinett.

DerBeamte schrieb, in seinem Lehnstuhl sitzend, den Rücken der Tür zuwendend. Er hörte die Tür sich öffnen, den Diener die Worte: Treten Sie ein, gnädige Frau! aussprechen und die Tür sich wieder schließen, ohne die geringsteBewegung zu machen. Doch kaumbemerkte er, daß sich die Tritte des Gerichtsdieners verloren, als er sich rasch umwandte, die Riegel vorschob, die Vorhänge herabließ und jeden Winkel des Kabinetts untersuchte. Sobald er Gewißheit erlangt hatte, daß er weder gehört, noch gesehen werden konnte, sagte er: Gnädige Frau, meinen innigen Dank für Ihre Pünktlichkeit. Und erbot Frau Danglars einen Stuhl, den sie annahm, denn ihr Herz schlug so gewaltig, daß sie sich dem Ersticken nahe fühlte.

Es ist schon lange, sagte der Staatsanwalt, während er sich Frau Danglars gegenübersetzte, daß ich nicht mehr das Glück gehabt habe, mit Ihnen allein zu sprechen, und zu meinem großenBedauern finden wir uns wieder zusammen, um eine sehr peinliche Unterredung zu pflegen.

Sie sehen jedoch, mein Herr, daß ich auf Ihre erste Aufforderung gekommenbin, obgleich diese Unterredung für mich noch peinlicher sein muß, als für Sie.

Es ist also wahr, sagte er, mehr auf seine eigenen Gedanken als auf Frau Danglars' Worte erwidernd, daß alle unsere Schritte in diesem Leben dem Zuge der Schlangen auf dem Sande gleichen und eine Furche machen! Ach! für viele ist dies eine Tränenfurche.

Mein Herr, sagte Frau Danglars, nicht wahr, Siebegreifen meine Erschütterung? Schonen Sie mich also, ichbitte Sie. Dieses Zimmer, durch das so viele Schuldige zitternd und voll Scham gekommen sind, dieser Stuhl, auf den ich mich ebenfallsbeschämt und zitternd setze!.. Oh! ichbedarf meiner ganzen Vernunft, um nicht in mir eine sehr schuldige Frau und in Ihnen einen drohenden Richter zu sehen; schon habe ich gestern eine schwere Strafe für meine Schuld erlitten.

Arme Frau! sagte Villefort, ihr die Hand drückend. Sie war zu schwer für Ihre Kräfte, denn zweimal waren Sie nahe daran, zu unterliegen, und doch müssen Sie Ihren Mut zusammenraffen, gnädige Frau, denn Sie sind noch nicht am Ziele!

Mein Gott! rief Frau Danglars erschrocken, was gibt es denn noch?

Sie sehen nur die Vergangenheit, und diese ist allerdings düster. Doch stellen Sie sich eine Zukunft vor, die vielleicht noch vielblutiger ist!

DieBaronin kannte Villeforts Ruhe, sie war so erschrocken über seinen gereizten Zustand, daß sie den Mund öffnete, um zu schreien, aber der Schrei erstarbin ihrer Kehle.

Wie ist sie wiedererwacht, diese furchtbare Vergangenheit? rief Villefort; wie ist sie aus der Tiefe des Grabes und aus der Tiefe unserer Herzen, wo sie schlummerte, hervorgetreten, einem Gespenst ähnlich, um unsere Wangen erbleichen und unsere Stirnen erröten zu lassen?

Ach! ohne Zweifel durch Zufall! sagte Herminie.

Durch Zufall! versetzte Villefort: nein, nein, nein, gnädige Frau, es gibt keinen Zufall!

Doch wohl; ist es nicht ein Zufall, allerdings ein unseliger, aber immerhin ein Zufall, der dies alles herbeigeführt hat? Hat nicht durch Zufall der Graf von Monte Christo dieses Haus gekauft? Hat er nicht durch Zufall die Erde ausgraben lassen? Ist nicht endlich durch Zufall das unglückliche Kind unter denBäumen ausgegraben worden? Armes, unschuldiges, mir entsprossenes Geschöpf, dem ich nie einen Kuß geben konnte, während ich ihm viele Tränen weihte. Ach! mein ganzes Herz flog dem Grafen entgegen, als er von der teuren Hülle sprach, die man unter denBlumen fand.

Nein, nein, gnädige Frau; das ist es gerade, was ich Ihnen Furchtbares zu sagen habe, erwiderte Villefort mit dumpfer Stimme; nein, man hat keine Hülle unter denBäumen gefunden; nein, es war dort kein vergrabenes Kind; nein, Sie dürfen nicht weinen; nein, Sie dürfen nicht seufzen, Sie müssen zittern.

Was wollen Sie damit sagen? rief Frau Danglars schauernd.

Ich will damit sagen, daß Herr von Monte Christo, als er am Fuße derBäume graben ließ, weder das Skelett eines Kindes, noch dieBeschläge einer Kiste finden konnte, weil unter diesenBäumen weder das eine noch das andere vorhanden war.

Es war weder das eine noch das andere vorhanden! wiederholte Frau Danglars, auf den Staatsanwalt Augen heftend, deren furchtbar erweiterter Stern den tiefsten Schrecken andeutete; es war weder das eine noch das andere vorhanden, wiederholte sie noch einmal, wie eine Person, die durch den Klang ihrer Worte und das Geräusch ihrer Stimme ihre Gedanken festzuhalten versucht.

Nein! rief Villefort, während er seine Stirn in seine Hände sinken ließ; nein, hundertmal nein… Sie hatten also das arme Kind nicht dort niedergelegt, mein Herr? Warum täuschten Sie mich, sprechen Sie, in welcher Absicht taten Sie dies?

Hören Sie mich, gnädige Frau, und Sie werden michbeklagen, mich, der ich zwanzig Jahre lang, ohne den geringsten Teil auf Sie zu werfen, eine Last von Schmerzen getragen habe. Sie wissen, wie jene schmerzhafte Nacht verging, wo Sie, mit dem Tode ringend, auf IhremBette in jenem Zimmer von rotem Damast lagen, während ich, fast ebenso keuchend wie Sie, Ihre Entbindung erwartete. Das Kind kam, wurde mir ohneBewegung, ohne Atem, ohne Stimme übergeben, wir hielten es für tot.

Frau Danglars machte eine rascheBewegung, als wollte sie vom Stuhle aufspringen. Doch Villefort hielt sie zurück, indem er, die Hände faltend, sie gleichsam um Aufmerksamkeit anflehte.

Wir hielten es für tot, wiederholte er; ich legte es in ein Kistchen, das den Sarg ersetzen sollte, ging in den Garten, grubein Grabund verscharrte es in Eile. Kaum hatte ich das Kistchen mit Erdebedeckt, als sich der Arm des Korsen nach mir ausstreckte. Ich sah es wie einen Schatten sich emporrichten, wie einenBlitz leuchten. Ich fühlte einen Schmerz, ich wollte schreien, ein eisiger Schauer durchlief meinen ganzen Leibund schnürte mir die Kehle zusammen. Ich glaubte, meine letzte Minute sei gekommen, undbrach zusammen. Nie werde ich Ihren erhabenen Mut vergessen, als ich mich, wieder zu mir gekommen, mit der größten Anstrengungbis unten an die Treppe schleppte, und Sie mir, selbst sterbend, entgegenkamen. Wir mußten völliges Stillschweigen über diese Katastrophebeobachten; Sie kehrten, von Ihrer Amme unterstützt, in Ihr Haus zurück; ein Duell diente als Vorwand für meine Wunde. Gegen alle Erwartungbliebunser Geheimnisbewahrt. Drei Monate lang kämpfte ich gegen den Tod; endlich, da ich wieder zum Leben zurückzukehren schien, verordnete man mir die Sonne und die Luft des Südens. Ich wurde nach Marseille gebracht, und Frau von Villefort folgte mir. Meine Wiedergenesung dauerte zehn Monate; ich hörte nichts von Ihnen und wagte nicht, mich zu erkundigen, was aus Ihnen geworden sei. Als ich nach Paris zurückkehrte, erfuhr ich, Sie hätten nach Herrn von Nargonnes Tode Herrn Danglars geheiratet.

Woran hatte ich, seitdembei mir dasBewußtsein wiedergekehrt war, gedacht? Immer an dasselbe, immer an den Leichnam des Kindes, der jede Nacht in meinen Träumen dem Schoße der Erde entstieg und, mich mitBlick und Gebärdebedrohend, über dem Grabe schwebte. Kaum war ich nach Paris zurückgekehrt, als ich mich erkundigte; das Haus war, seitdem wir es verlassen, nicht wiederbewohnt, jedoch kurz zuvor auf neun Jahre vermietet worden. Ich suchte den Mieter auf, ich stellte mich, als hätte ich ein großes Verlangen, dieses Haus, das dem Vater und der Mutter meiner Frau gehörte, nicht in fremde Hände übergehen zu sehen, ichbot eine Entschädigung, wenn man den Vertrag aufheben wolle. Man verlangte 6000 Franken von mir; ich hätte 10, ja 20 000 gegeben. Ich trug die Summebei mir, ließ auf der Stelle den Rücktritt unterzeichnen und ritt, sobald ich die ersehnte Abtretung in Händen hatte, im Galopp nach Auteuil. Niemand hatte das Hausbetreten, seitdem ich es verlassen hatte. — Es war fünf Uhr nachmittags; ich ging in das rote Zimmer und wartete die Nacht ab. Alles, was ich mir seit einem Jahre inbeständigem Todeskampfe sagte, stellte sich hierbedrohlicher vor mich als je in meinen Gedanken.

Der Korse, der mir die Vendetta erklärt hatte, der mir von Nimes nach Paris gefolgt war, der sich im Garten verborgen, mir den Stoß versetzt, mich das Grabhattebereiten sehen, er hatte auch gesehen, wie ich das Kind verscharrt; es konnte ihm gelingen, Sie kennen zu lernen; er kannte Sie vielleichtbereits… Würde er sich nicht eines Tages das Geheimnis dieser furchtbaren Geschichtebezahlen lassen?… Wäre es nicht für ihn eine süße Rache, wenn er erführe, sein Dolchstich habe mich nicht getötet? Es war daher vor allem dringend, daß ich unter jederBedingung die Spuren der Vergangenheit verschwinden ließ. Aus diesem Grunde hobich den Mietsvertrag auf, deshalbwar ich gekommen, deshalbwartete ich.

Als die Nacht dicht und düster genug geworden war, ging ich ans Werk. Ich stand ohne Licht in jenem Zimmer, wo Windstöße die Türvorhänge zittern ließen, hinter denen ichbeständig irgend einen verborgenen Spion zu sehen glaubte: von Zeit zu Zeitbebte ich, es kam mir vor, als hörte ich hinter mir, in jenemBette, Ihre Klagen, und ich wagte nicht, mich umzuwenden. Mein Herz pochte laut, und ich fühlte es so heftig schlagen, daß ich glaubte, meine Wunde wolle sich wieder öffnen; endlich schienen alle Geräusche umher erstorben zu sein. Ich sah, daß ich nichts mehr zubefürchten hatte, daß ich weder gesehen, noch gehört werden konnte, und entschloß mich, hinabzugehen.

Hören Sie, Herminie, ich hielt mich für so mutig, wie ein Mann sein kann; als ich aber aus meinerBrusttasche jenen kleinen Treppenschlüssel hervorzog, jenen Schlüssel, den wirbeide so sehr liebten, und den Sie an einem goldenen Ringbefestigen ließen, — als ich die Tür öffnete, als ich denbleichen Mond einen langen Streifen weißen Lichtes, einem Gespenste ähnlich, durch die Fenster auf die schneckenförmigen Stufen werfen sah, da hielt ich mich an der Mauer und war nahe daran, zu schreien. Es war mir, als würde ich verrückt.

Es gelang mir, wieder meiner Herr zu werden. Ich stieg Stufe für Stufe die Treppe hinab; das einzige, was ich nicht zu überwinden vermochte, war ein seltsames Zittern in den Knien. Ich hielt mich an dem Geländer, hätte ich es nur einen Augenblick losgelassen, so wäre ich hinabgestürzt. Ich gelangte an die untere Tür. Außen lehnte ein Spaten an der Mauer; ich nahm ihn und schritt dem Gebüsche zu. Ich hatte mich mit einerBlendlaterne versehen; mitten auf dem Rasenbliebich stehen, um sie anzuzünden, und setzte dann meinen Weg fort. — Der November war seinem Ende nahe; alles Grüne des Gartens war verschwunden, und das dürre Laubraschelte mit dem Sande unter meinen Tritten. Die Angst schnürte mir so gewaltig das Herz zusammen, daß ich, als ich mich denBäumen näherte, eine Pistole aus der Tasche zog und den Hahn spannte. Beständig glaubte ich die Gestalt des Korsen durch die Zweige zu sehen.

Ichbeleuchtete das Gebüsch mit meinerBlendlaterne; es war leer; ich schaute rings umher und fand mich allein; kein Geräusch störte die Stille der Nacht. Das Gras war den Sommer hindurch hier sehr hoch gewachsen, und niemand hatte es gemäht. Eine wenigerbewachsene Stelle fesselte meine Aufmerksamkeit; hier hatte ich offenbar die Erde ausgegraben.

Ich schritt zum Werke. Endlich war ich zu dem Ziele gelangt, das ich seit mehr als einem Jahr ersehnte! Doch wie ich auch hoffte, wie ich arbeitete, wie ich jedes Stückchen Rasen untersuchte, im Glauben, ich würde am Ende meines Spatens Widerstand finden… nichts! Und ich machte doch ein Loch, zweimal so groß, als das erste gewesen war. Ich glaubte mich in der Stelle getäuscht zu haben, ich schaute mich um, ichbetrachtete dieBäume, ich suchte die einzelnen Gegenstände, die mir früher in das Auge gefallen waren, wiederzuerkennen.

Ein kalter, scharfer Wind strich durch die entblätterten Zweige, und dennoch floß der Schweiß von meiner Stirn. Ich erinnerte mich, daß ich den Dolchstoß in dem Augenblick erhalten hatte, wo ich die Erde einstampfte, um das Grabwieder zu füllen. Beim Einstampfen hielt ich mich an einerBauhinie; hinter mir war ein künstlicher Fels, der alsBank diente, denn als ich niedersank, fühlte meine Hand, die denBaum losgelassen hatte, diesen Stein. Zu meiner Rechten war dieBauhinie, hinter mir der Fels; ich fiel, indem ich mich setzen wollte; ich stand wieder auf und fing an, aufs neue zu graben und das Loch zu erweitern; — nichts, abermals nichts; das Kistchen war nicht da.

Das Kistchen war nicht da? murmelte Frau Danglars, vom Schreckenbeinahe erstickt.

Glauben Sie nicht, daß ich mich auf diesen ersten Versuchbeschränkte, fuhr Villefort fort, nein, ich durchwühlte das ganze Gebüsch; ich dachte, der Mörder habe im Glauben, es sei ein Schatz, das Kistchen ausgegraben, sodann, nachdem er seinen Irrtum wahrgenommen, selbst ein anderes Loch gemacht, und es dort hineingelegt… nichts! Dann kam mir der Gedanke, er sei nicht so vorsichtig zu Werke gegangen, und habe das Kistchen in einen Winkel geworfen. Um dies feststellen zu können, mußte ich aber den Tag abwarten. Ich ging wieder ins Zimmer hinauf und wartete. Bei Tagesanbruch ging ich abermals hinab. Zuerstbegabich mich wieder zu derBaumgruppe, wo ich Spuren zu finden hoffte, die mir in der Dunkelheit entgangen wären. Ich hatte die Erde in einer Oberfläche von mehr als zwanzig Quadratfuß und zwei Fuß tief umgewühlt. Es war ein reichliches Tagewerk einesbezahlten Arbeiters, was ich in einer Stunde getan hatte. Nichts, ich sah nicht das geringste.

Dann forschte ich nach, obdas Kistchen vielleicht weggeworfen worden sei. Es mußte dies auf dem Wege geschehen sein, der zu der kleinen Ausgangstür führte; aber diese neue Nachforschung war ebenso vergeblich, wie die erste, und mit gepreßtem Herzen kehrte ich zu derBaumgruppe zurück.

Oh! das war, um wahnsinnig zu werden! rief Frau Danglars.

Ich hoffte dies einen Augenblick, aber ich war nicht so glücklich, sagte Villefort. Indem ich aber meine Kräfte und damit meine Gedanken zusammenraffte, fragte ich mich: Warum sollte dieser Mensch den Leichnam mitgenommen haben?


Sie sagten ja selbst, um einenBeweis zu haben, versetzte Frau Danglars. Nein, das konnte es nicht mehr sein; manbehält einen Leichnam nicht ein Jahr lang, man zeigt ihn einemBeamten, man macht seine Anzeige; doch nichts von dem war geschehen, Nun, und also? fragte Herminie stammelnd.

Dann gibt es noch etwas Furchtbareres, Unseligeres, Schrecklicheres für uns: das Kind lebt vielleicht, und der Mörder hat es gerettet.

Frau Danglars stieß einen gräßlichen Schrei aus, ergriff Villefortbei den Händen und sagte: Mein Kind lebte! Sie haben mein Kind lebendigbegraben! Sie wußten nicht gewiß, obes tot war, undbegruben es! oh!..

Frau Danglars hatte sich aufgerichtet und stand drohend vor dem Staatsanwalt, dessen Fäuste sie mit ihren zarten Händen preßte.

Was weiß ich? Ich sage Ihnen dies, wie ich etwas anderes sagen würde, erwiderte Villefort mit einer Starrheit desBlickes, die andeutete, daß dieser kraftvolle Mann nahe daran war, die Grenzen der Verzweiflung und des Wahnsinns zu erreichen.

Oh! mein Kind, mein armes Kind! rief dieBaronin, auf ihren Stich! zurücksinkend und ihr Schluchzen in ihrem Taschentuche erstickend.

Villefort kam wieder zu sich, er fühlte, daß er, um den mütterlichen Sturm abzuwenden, der sich über seinem Haupte sammelte, bei Frau Danglars den Schrecken, den er selbst fühlte, wirken lassen mußte.

Siebegreifen, wenn sich die Sache so verhält, sagte er, ebenfalls aufstehend und sich derBaronin nähernd, um leiser mit ihr zu sprechen, Siebegreifen, dann sind wir verloren! Dieses Kind lebt, es weiß jemand, daß es lebt, es ist jemand imBesitze unseres Geheimnisses, und da Monte Christo von einem Kinde spricht, das an einer Stelle vergraben worden sein soll, wo dieses Kind nicht war, sobesitzt er dieses Geheimnis.

Gott! gerechter Gott! rächender Gott! Villefort antwortete nur durch eine Art von Röcheln.

Doch dieses Kind, mein Herr, dieses Kind? versetzte hartnäckig die Mutter.

Oh! wie habe ich es gesucht! erwiderte Villefort, die Hände ringend; wie oft habe ich es in meinen langen, schlaflosen Nächten gerufen! Wie oft habe ich mir einen königlichen Reichtum gewünscht, um einer Million Menschen eine Million Geheimnisse abzukaufen und das meinige darunter zu finden! Eines Tages endlich, als ich zum hundertsten Male den Spaten nahm, fragte ich mich auch zum hundertsten Male, was der Korse mit dem Kinde habe tun können? Ein Kind setzt einen Flüchtigen in Verlegenheit; vielleicht hatte er es, als er wahrnahm daß es noch lebte, in den Fluß geworfen.

Unmöglich! rief Frau Danglars; man ermordet einen Menschen aus Rache, aber man ertränkt nicht ein Kind mit kaltemBlute.

Vielleicht hatte er es zu den Findelkindern gebracht.

Oh! ja, ja, mein Kind ist dort.

Ich lief in das Hospiz und erfuhr, daß man in eben dieser Nacht, in der Nacht vom 20. September, ein Kind dort niedergelegt hatte; es war in die Hälfte einer absichtlich zerrissenen Serviette von feiner Leinwand eingewickelt. Diese Hälfte der Serviette zeigte die Hälfte einerBaronenkrone und denBuchstaben H.

So ist es, so ist es! rief Frau Danglars, alle meine Wäsche war so gezeichnet. Herr von Nargonne warBaron, und ich heiße Herminie. Ich danke Gott, mein Kind war nicht tot! — Nein, es war nicht tot. –

Und Sie sagen mir das! Sie sagen es, ohne zubefürchten, ich werde vor Freude sterben! Wo ist es? Wo ist mein Kind?

Villefort zuckte die Achseln und erwiderte: Weiß ich es? Glauben Sie, wenn ich es wüßte, ließe ich Sie alles dies durchmachen? Nein, ach! nein, ich weiß es nicht. Eine Frau war ungefähr sechs Monate zuvor, um das Kind zurückzufordern, mit der andern Hälfte der Serviette gekommen. Die Frau hatte alle vom Gesetze vorgeschriebenen Garantien geliefert, und man gabes ihr.

Sie hätten sich nach dieser Frau erkundigen, sie entdecken müssen.

Und glauben Sie, ich hätte das nicht getan? Ich schützte eine Kriminaluntersuchung vor und ließ durch alles, was die Polizei an geschickten Spürhunden, an gewandten Agentenbesitzt, Nachforschungen anstellen. Man fand ihre Spurbis Chalons; in Chalons hat man sie verloren.

Frau Danglars hatte jeden einzelnen Umstand dieser Erzählung mit einem Seufzer, mit einer Träne, mit einem Schreibegleitet.

Und das ist alles? sagte sie, und hierbei ließen Sie esbewenden?

Oh! nein, erwiderte Villefort, ich habe nie aufgehört, zu suchen, mich zu erkundigen, nachzuforschen. Erst seit ein paar Tagen ließ ich ein wenig nach. Heute aber will ich mit mehrBeharrlichkeit und Schärfe als je wieder anfangen, und es wird mir gelingen, denn es ist nicht das Gewissen, was mich antreibt, sondern die Furcht.

Der Graf von Monte Christo weiß nichts, entgegnete Frau Danglars, sonst würde er Sie nicht sobevorzugen und zu gewinnen suchen, wie er dies tut.

Oh! dieBosheit der Menschen ist sehr tief, denn sie ist tiefer, als die Güte Gottes. Haben Sie die Augen dieses Mannes wahrgenommen, während er mit uns sprach? — Nein.

Haben Sie ihn zuweilen genauerbetrachtet?

Er ist allerdingsbizarr, mehr nicht; nur ist mir aufgefallen, daß er von dem ganzen kostbaren Mahle, das er uns vorgesetzt hat, nicht das geringsteberührte.

Ja! ja! bestätigte Villefort. Ich habe dies ebenfallsbemerkt. Wenn ich gewußt hätte, was ich jetzt weiß, würde ich auch nichtsberührt haben; ich hätte geglaubt, er wolle uns vergiften. Und Sie hätten sich getäuscht, wie Sie sehen.

Ja wohl; doch glauben Sie mir, dieser Mensch hat andere Pläne. Deshalbwollte ich Sie sehen, deshalbbat ich Sie um eine Unterredung, deshalbwollte ich Sie vor aller Welt undbesonders vor ihm warnen. Sagen Sie mir, fuhr Villefort, seine Augen noch schärfer alsbis jetzt auf dieBaronin heftend, fort, Sie haben mit niemand von unserer Verbindung gesprochen?

Niemals mit irgend einem Menschen.

Sie verstehen mich, ich sage mit niemand? sagte Villefort liebevoll; verzeihen Sie mir diese dringende Frage, nicht wahr, mit niemand auf der ganzen Welt?

Oh! ja, ja, ich verstehe sehr gut, sagte dieBaronin errötend, niemals, ich schwöre es Ihnen.

Sie haben nicht die Gewohnheit, am Abend aufzuschreiben, was am Morgen vorgefallen ist? Sie führen kein Tagebuch?

Nein! Ach! vom Leichtsinn fortgerissen, vergesse ich selbst mein vergangenes Leben.

Sie träumen nicht laut, soviel Sie wissen?

Ich habe den Schlaf eines Kindes; erinnern Sie sich dessen nicht mehr?

Purpur stieg in das Gesicht derBaronin, undBlässe übergoß Villeforts Antlitz.

Es ist wahr, sagte er so leise, daß man es kaum hörte.

Nun? fragte dieBaronin.

Nun! ich sehe, was ich zu tun habe, versetzte Villefort; ehe acht Tage vergehen, weiß ich, wer Herr von Monte Christo ist, woher er kommt, wohin er geht, und warum er in unserer Gegenwart von Kindern spricht, die man in seinem Gartenbegräbt.

Villefort sprach diese Worte mit einem Tone, der den Grafen hätte schaudern lassen, wenn er ihn hätte hören können. Dann drückte er die Hand, die ihm dieBaronin nur mit Widerstreben gab, und geleitete sie achtungsvollbis an die Tür.

Ein Sommerball

An demselben Tage, ungefähr zu der Stunde, wo Frau Danglars die Unterredung mit dem Staatsanwalt hatte, lenkte eine Kalesche in die Rue du Helder ein, fuhr durch das Tor von Nr. 27 und hielt im Hofe an.

Nach einem Augenblick öffnete sich der Kutschenschlag, und Frau von Morcerf stieg, auf den Arm ihres Sohnes gestützt, aus. Kaum hatte Albert seine Mutter in ihre Wohnung zurückgeleitet, als er seine Pferde verlangte und sich nach den Champs‑Elisées zu dem Grafen von Monte Christo führen ließ.

Der Graf empfing ihn mit seinem gewöhnlichen Lächeln. Es war seltsam; nie schien man einen Schritt im Herzen oder Geiste dieses Mannes vorwärtszutun. Wer sich, so zu sagen, den Zugang zu seinem Vertrauen erzwingen wollte, fand eine eherne Mauer. Morcerf, der mit geöffneten Armen auf ihn zulief, ließ, als er ihn anschaute, trotz seines freundschaftlichen Lächelns, die Arme wieder sinken und wagte es kaum, ihm die Hand zu reichen.

Monte Christoberührte sie wie immer, ohne sie zu drücken.

Hierbin ich wieder, lieber Graf, sagte Albert. Ichbin erst vor einer Stunde von Treport zurückgekehrt, und mein ersterBesuch gehört Ihnen.

Das ist sehr liebenswürdig, sagte Monte Christo gleichmütig.

Nun, was gibt es Neues in Paris? Wie war Ihr Fest in Auteuil?

Oh, nichts weiter, ein einfaches Diner, Herr von Danglars und Andrea Cavalcanti…

Ihr italienischer Fürst?

Wir wollen nicht übertreiben, Herr Andrea gibt sich nur den Titel eines Grafen. — Er ist es also nicht? — Weiß ich es? Er gibt sich, ich gebe ihm, man gibt ihm diesen Titel; ist das nicht, als ober ihn hätte? — Sie sind ein seltsamer Mann! Nun, Herr Danglars hat alsobei Ihnen zu Mittag gespeist?

Ja. Mit dem Grafen Andrea Cavalcanti, dem Marquis seinem Vater, mit Frau Danglars, Herrn und Frau von Villefort, reizenden Leuten, Herrn Debray, Maximilian Morel und dann noch mit wem… warten Sie… ah! mit Herrn von Chateau‑Renaud. — Man hat von mir gesprochen?

Kein Wort. — Desto schlimmer, denn wenn man nicht von mir sprach, so dachte man viel an mich, und dannbin ich in Verzweiflung.

Was ist Ihnen daran gelegen, da Fräulein Danglars nicht unter der Zahl derer war, die hier an Sie dachten? Ah! sie konnte allerdings zu Hause an Sie denken.

Oh! was dasbetrifft, nein, dessenbin ich gewiß; oder wenn sie an mich dachte, so geschah es auf dieselbe Weise, wie ich an sie denke.

Eine rührende Sympathie! Sie hassen sich also?

Hören Sie, sagte Morcerf, wenn Fräulein Danglars geeignet wäre, Mitleid mit dem Märtyrertum zu empfinden, das ich für sie erdulde, und mich außerhalbdes von unsern Familienbeschlossenen Ehebundesbelohnen wollte, so würde mir dies vortrefflich zusagen. Kurz, ich glaube, Fräulein Danglars wäre eine entzückende Geliebte, doch als Frau, Teufel!..

Das ist also die Art und Weise, wie Sie über Ihre Zukünftige denken? sagte Monte Christo lachend.

Oh! mein Gott, ja, zwar etwas roh, aber wenigstens klar. Da man jedoch aus diesem Traume keine Wirklichkeit machen kann, da, eines gewissen Zieles wegen, Fräulein Danglars meine Frau werden, das heißt mit mir leben, bei mir denken, bei mir singen, zehn Schritte von mir Verse und Musik machen muß, und dies mein ganzes Leben hindurch, so erschrecke ich. Eine Geliebte, lieber Graf, verläßt man, aber eine Frau, zum Teufel! das ist was anderes, diebehält man, und zwar ewig, nahe oder ferne; Fräulein Danglars aber stets zubehalten, und wäre es auch nur in der Ferne, ist in der Tat schrecklich.

Sie sind schwer zubefriedigen, Vicomte.

Ja, denn häufig denke ich an etwas Unmögliches. Ich wünsche, eine Frau für mich zu finden, wie mein Vater eine gefunden hat.

Monte Christo erbleichte und schaute Albert an, während er mit prächtigen Pistolen spielte, deren Federn er knacken ließ.

Ihr Vater ist also sehr glücklich gewesen? sagte er.

Sie wissen, wie ich von meiner Mutter denke, Herr Graf: ein Engel des Himmels, immer noch schön, besser als je. Ich komme von Treport zurück. Für einen andern Sohn wäre dieBegleitung seiner Mutter eine Gefälligkeit oder ein Frondienst gewesen, ich aber habe acht Tage unter vier Augen mit ihr zufriedener, ruhiger, poetischer, sage ich Ihnen, zugebracht, als wenn ich Titania nach Treport geführt hätte.

Das ist eine erschreckliche Vollkommenheit, und Sie machen denen, die Sie hören, große Lust, Junggesellen zubleiben.

Gerade weil ich weiß, daß es auf der Welt eine vollkommene Frau gibt, getraue ich mir nicht, Fräulein Danglars zu heiraten. Haben Sie zuweilenbemerkt, wie unsere Selbstsucht alles, was uns gehört, in glänzende Farben kleidet? Der Diamant, den wir im Schaufenster des Juweliers funkeln sahen, wird viel schöner, sobald er unser Diamant ist. Doch wie schmerzlich ist es, wenn man weiß, daß es einen von reinerem Wasser gibt, während man selbst verurteilt ist, den geringeren Diamanten ewig zu tragen?

Weltmensch! murmelte der Graf.

Deshalbwerde ich vor Freude springen an dem Tage, wo Fräulein Eugenie wahrnimmt, daß ich ein dürftiges Atombin und kaum so viele 100 000 Frankenbesitze als sie Millionen hat.

Monte Christo lächelte.

Ich hatte wohl einen Gedanken, fuhr Albert fort; Franz liebt das Exzentrische, und ich wollte ihn in Fräulein Danglars verliebt machen; doch obgleich ich ihm vierBriefe lockendsten Inhalts schrieb, antwortete er mir stets und unabänderlich: Ichbin allerdings exzentrisch, aber das gehtbei mir nicht so weit, daß ich mein Wort zurücknehme, wenn ich es einmal gegeben habe.

Das nenne ich eine aufopfernde Freundschaft, einem andern eine Frau geben, die man selbst nur zur Geliebten haben möchte.

Albert lächelte.

Wissen Sie, daß dieser liebe Franz zurückkommt? sagte Morcerf; doch es ist Ihnen wenig daran gelegen, Sie lieben ihn, glaube ich, nicht?

Ich! ei mein lieber Vicomte, woher glauben Sie denn, daß ich Franz nicht liebe? Ich liebe die ganze Menschheit.

Und ichbin in dieser Menschheit mit einbegriffen… Ich danke.

Wir wollen die Sache nicht verwirren, sagte Monte Christo, ich liebe die ganze Menschheit so, wie wir nach GottesBefehl unsern Nächsten lieben sollen, das heißt auf eine christliche Weise; doch ich hasse nur gewisse Personen. Kommen wir aber auf Herrn d'Epinay zurück. Sie sagen, er kehre zurück?

Ja, von Herrn von Villefort zurückgerufen, der, wie es scheint, ebensobegierig ist, Fräulein Valentine zu verheiraten, wie Herr Danglars, Fräulein Eugenie zu verehelichen. Der Zustand eines Vaters, der erwachsene Töchterbesitzt, muß recht angreifend sein; es scheint, er verursacht ihnen Fieber, und ihr Puls schlägt neunzigmal in der Minute, bis sie die Tochter los sind.

Herr d'Epinay gleicht Ihnen nicht, er nimmt, wie ich glaube, sein Unglück in Geduld hin.

Er tut noch etwasBesseres, er nimmt die Sache ernst, zieht weiße Halsbinden an und sprichtbereits von seiner Familie. Übrigens hegt er eine große Achtung vor den Villeforts.

Nicht wahr, eine wohlverdiente? Ich glaube, Herr von Villefort galt immer für einen strengen, aber gerechten Mann.

Das lasse ich mir gefallen, sagte Monte Christo, es ist doch wenigstens einer, den Sie nicht wie den armen Herrn Danglarsbehandeln.

Dies kommt vielleicht daher, daß ich nicht genötigtbin, seine Tochter zu heiraten, entgegnete Albert lachend.

In der Tat, mein Herr, sagte Monte Christo, ich wundere mich über Sie.

Und warum?

Weil Sie sich gegen eine Heirat mit Fräulein Danglars sträuben. Mein Gort! lassen Sie die Dinge ihren Gang gehen, und Siebrauchen vielleicht gar nicht zuerst Ihr Wort zurückzunehmen.

Bah! rief Albert mit großen Augen.

Allerdings, mein lieber Vicomte, man wird Ihnen nicht mit Gewalt den Kopf zwischen Tür und Angel stecken! Sprechen Sie im Ernste, sagte Monte Christo, den Ton ändernd, haben Sie Lust zubrechen?

Ich gebe 100 000 Franken dafür.

Wohl, so seien Sie froh! Herr Danglars istbereit, das Doppelte zu geben, um zu demselben Ziele zu gelingen.

Ist dieses Glück wahr? sagte Albert, der es indessen, während er so sprach, nicht verhindern konnte, daß eine unmerkliche Wolke über seine Stirn hinzog. Doch, mein lieber Herr Graf, Herr Danglars hat also Gründe?

Ah! hier kommt die stolze, selbstsüchtige Natur zu Tage. Gut, ich finde hier wieder den Menschen, der die Eitelkeit eines andern mit der Axt totschlagen will und schreit, wenn man die seinige mit einer Nadel ansticht.

Nein! doch es scheint mir, Herr Danglars…

Sollte von Ihnen entzückt sein, nicht wahr? Ei! Herr Danglars ist entschieden ein Mann von schlechtem Geschmacke und noch mehr entzückt von einem andern… Studieren Sie, schauen Sie, ergreifen Sie die Anspielungen im Fluge, und ziehen Sie Nutzen daraus!

Gut, ichbegreife; hören Sie, meine Mutter… nein! nicht meine Mutter, mein Vater hat den Gedanken gehabt, einenBall zu geben. — EinenBall zu dieser Jahreszeit? — DieBälle sind stets in der Mode. — Wären sie es nicht, so dürfte die Gräfin nur wollen, und sie würde sie in Modebringen.

Nicht übel; Siebegreifen, es sind Vollblutbälle; die, welche im Monat Juli in Parisbleiben, sind wahre Pariser. Wollen Sie eine Einladung für die Herren Cavalcanti übernehmen? — Wann wird derBall stattfinden? — Sonnabend. — Herr Cavalcanti Vater wird abgereist sein. — Doch Herr Cavalcanti Sohnbleibt; wollen Sie es übernehmen, Herrn Cavalcanti Sohn zubringen? — Hören Sie, Vicomte, ich kenne ihn nicht. — Sie kennen ihn nicht? — Nein, ich habe ihn vor drei oder vier Tagen zum erstenmal gesehen und stehe in keinerBeziehung zu ihm. — Doch Sie empfangen ihn?

Ja, das ist etwas anderes; er ist mir durch einenbraven Abbé empfohlen worden, den man getäuscht haben kann. Laden Sie ihn immerhin selbst ein, sagen Sie mir aber nicht, ich soll ihnbei Ihnen vorstellen. Sollte er später Fräulein Danglars heiraten, so könnten Sie mich eines Schleichwegsbeschuldigen und Lustbekommen, sich auf Leben und Tod mit mir zu schlagen; überdies weiß ich nicht, obich selbst auf IhrenBall kommen werde.

Warum werden Sie nicht kommen?

Einmal, weil ich noch nicht eingeladenbin.

Ich erscheine ausdrücklich hier, um Ihnen Ihre Einladung persönlich zu überbringen.

Oh! das ist entzückend; doch ich kann verhindert sein.

Wenn ich Ihnen eines gesagt habe, sind Sie liebenswürdig genug, um uns alle Hindernisse zum Opfer zubringen.

Sprechen Sie! Meine Mutterbittet Sie.

Die Frau Gräfin von Morcerf? versetzte Monte Christobebend. In der Tat, Sie überhäufen mich mit Artigkeiten!

Sehen Sie, diesen Vorzug hat man, wenn man ein lebendiges Problem ist! Sie kommen also Sonnabend?

Da mich Frau von Morcerf darumbittet.

Sie sindbezaubernd.

Und Herr Danglars?

Oh! er hatbereits eine dreifache Einladung erhalten; mein Vater übernahm dies. Wir werden auchbemüht sein, Herrn von Villefort heranzuziehen, doch es ist zweifelhaft, ober zusagt. Tanzen Sie, Herr Graf?

Nein, ich tanze nicht, aber ich sehe gern tanzen. Tanzt Frau von Morcerf?

Niemals; Sie plaudert gern und hat große Lust, mit Ihnen zu plaudern.

Wirklich?

Bei meinem Ehrenwort! Ich erkläre Ihnen, Sie sind der erste Mann, für den meine Mutter Interesse zeigt.

Albert nahm seinen Hut und stand auf; der Graf führte ihn an die Tür.

Ich mache mir einen Vorwurf, sagte er, ihn oben an der Freitreppe zurückhaltend, ich war indiskret, ich hätte nicht von Herrn Danglars sprechen sollen.

Im Gegenteil, sprechen Sie abermals, sprechen Sie oft, sprechen Sie immer davon, doch immer auf die gleiche Weise.

Gut! Sieberuhigen mich, Sagen Sie mir, wann kommt Herr d'Epinay?

Spätestens in fünfbis sechs Tagen.

Und wann heiratet er?

Sobald Herr und Frau von Saint‑Meran eingetroffen find.

Bringen Sie ihn zu mir, wenn er in Paris ist. Obgleich Siebehaupten, ich liebe ihn nicht, erkläre ich Ihnen doch, daß ich mich freuen werde, ihn wiederzusehen.

IhreBefehle sollen vollzogen werden, Herr Graf. Auf Wiedersehen!

Der Graf grüßte Albert mit der Hand und folgte ihm mit den Augen. Als der Vicomte in seinen Phaeton gestiegen war, wandte sich Monte Christo um und fragte, da erBertuccio hinter sich fand: Nun? — Sie ist in den Justizpalast gefahren. — Ist sie lange dort geblieben? — AnderthalbStunden. — Und dann nach Hause zurückgekehrt? — Unmittelbar.

Wohl, mein lieber HerrBertuccio, wenn ich Ihnen nun einen Rat geben soll, so sehen Sie in der Normandie nach, obSie nicht das kleine Landgut finden, von dem ich mit Ihnen sprach.

HerrBertuccio verbeugte sich, und da seine Wünsche mit demBefehle, den er erhalten, vollkommen im Einklang standen, so reiste er noch an demselben Abend ab.

Nachforschungen

Herr von Villefort hielt Frau Danglars undbesonders sich selbst Wort, indem er zu erfahren suchte, wie der Graf von Monte Christo Kenntnis von der Geschichte des Hauses in Auteuil erlangt habe.

Er schrieban demselben Tage an einen gewissen Herrn vonBoville, der, nachdem er einst Inspektor der Gefängnisse gewesen war, jetzt eine höhere Stellungbei der Sicherheitspolizei einnahm, um von diesem die gewünschte Auskunft zu erhalten. Herr vonBoville verlangte zwei Tage, um in Erfahrung zubringen, bei wem man genaue Kunde einziehen könnte. Nach zwei Tagen erhielt Herr von Villefort folgende Note:

Die Person, die man den Grafen von Monte Christo nennt, istbesonders dem Lord Wilmore, einem reichen Fremden, bekannt, den man zuweilen in Paris sieht, und der sich in diesem Augenblick hierbefindet? sie ist ebenfallsbekann! dem AbbéBusoni, einem sizilianischen Priester, der im Orient viele gute Werke verrichtet hat und dort einen großen Ruf genießt.

Herr von Villefort antwortete durch einenBefehl, über diesebeiden Fremden auf das schleunigste und genaueste Erkundigungen einzuziehen; am andern Abend waren seineBefehle vollzogen, und er erhielt folgende Notizen:

Der Abbé, der nur auf einen Monat in Paris war, bewohnte hinter Saint‑Sulpice ein kleines Haus, bestehend aus einem Stocke und einem Erdgeschoß; vier Zimmer, zwei oben, zwei unten, bildeten die ganze Wohnung, deren einziger Mieter er war.

Die zwei unteren Zimmerbestanden aus einem Speisesaal mit Tischen, Stühlen undBüfett von Nußbaumholz und einem Salon mit weiß angemaltem Getäfel, ohne Zieraten, ohne Teppiche und ohne Uhr. Man sah, daß sich der Abbé für seine Person auf das Notwendigstebeschränkte. Der Abbébewohnte vorzugsweise den Salon im ersten Stocke, der ganz mit theologischenBüchern und Pergamenten, unter denen man ihn, wie sein Kammerdiener sagte, sich Monate lang vergraben sah, ausgestattet war.

Sein Dienerbetrachtete dieBesucher durch eine Art von Gitter, und wenn ihm ihr Gesicht unbekannt war oder mißfiel, so antwortete er, der Abbé sei nicht in Paris, womit sich vielebegnügten, denn man wußte, daß er häufig reiste und zuweilen lange auf der Reiseblieb. Mochte er übrigens zu Hause sein oder nicht, so gabder Abbé doch immer reichliche und ständige Almosen. Das andere Zimmer, das neben derBibliothek lag, war ein Schlafzimmer. EinBett ohne Vorhänge, vier Lehnstühle und ein Sofabildeten nebst einemBetpult seine ganze Ausstattung.

Lord Wilmore wohnte in der Rue Saint‑George, Er gehörte zu den englischen Touristen, die ihr ganzes Vermögen auf der Reise verzehren. Er mietete eine möblierte Wohnung, in der er nur zweibis drei Stunden des Tages zubrachte und sehr selten schlief. Er hatte unter andern die Manie, durchaus nicht französisch sprechen zu wollen, jedoch soll er ziemlich korrekt französisch geschrieben haben.

Am andern Tage, nachdem diese kostbare Auskunftbei dem Staatsanwalt eingetroffen war, klopfte ein Mensch, der an der Ecke der Rue Férou aus dem Wagen stieg, an eine olivengrün angemalte Tür, fragte nach dem AbbéBusoni und erhielt von einem Diener die Antwort, der Herr Abbé sei ausgegangen.

Ich kann mich mit dieser Antwort nichtbegnügen, sagte derBesuch, denn ich komme im Auftrage einer Person, für die man immer zu Hause ist. Doch wollen Sie dem Herrn AbbéBusoni…

Ich habe Ihnenbereits gesagt, er sei nicht zu Hause, wiederholte der Diener.

So geben Sie ihm, wenn er zurückkehrt, diese Karte und dieses versiegelte Papier. Wird der Herr Abbé heute abend um acht Uhr zu Hause sein?

Ohne allen Zweifel, mein Herr.

Ich werde heute abend zur genannten Stunde wiederkommen, versetzte derBesuch und entfernte sich.

Zurbestimmten Stunde kam derselbe Mensch in demselben Wagen, der, statt an der Ecke der Rue Férou anzuhalten, diesmal vor der grünen Tür anhielt. Er klopfte, man öffnete ihm, und er trat ein.

Aus den Zeichen der Ehrfurcht, die ihm der Diener erwies, ersah er, daß derBrief die gewünschte Wirkung hervorgebracht hatte.

Ist der Herr Abbé zu Hause? fragte er.

Ja, er arbeitet in seinerBibliothek; doch er erwartet den Herrn, sagte der Diener.

Der Fremde stieg eine ziemlich schlechte Treppe hinauf und erblickte an einem Tische, dessen Oberfläche mit der Helle übergossen war, die ein weiter Lichtschirm konzentrierte, während der Rest des Zimmers im Schatten lag, den Abbé in geistlicher Kleidung, den Kopf mit einer von jenen Kappenbedeckt, wie sie im Mittelalter die Gelehrten trugen. Habe ich die Ehre, mit HerrnBusoni zu sprechen? fragte der Fremde.

Ja, antwortete der Abbé, und Sie sind die Person, die Herr vonBoville, der ehemalige Intendant der Gefängnisse, im Auftrage des Herrn Polizeipräfekten zu mir schickt? — Ganz richtig, mein Herr. — Einer von den Agenten, die für die Sicherheit von Paris zu sorgen haben? — Ja, mein Herr, antwortete der Fremde mit einem gewissen Zögern und etwas errötend.

Der Abbé richtete die großeBrille zurecht, die nicht nur seine Augen, sondern auch, seine Schläfebedeckte, setzte sich wieder undbedeutete dem Fremden durch ein Zeichen, er möge sich ebenfalls setzen.

Ich höre Sie, mein Herr, sagte der Abbé mit scharf italienischem Akzente.

Die Sendung, die ich übernommen habe, mein Herr, sagte derBesuch, jedes seiner Worte so langsam aussprechend, als hätten sie Mühe aus dem Munde zu gehen, gereicht sowohl dem zum Vertrauen, der sie vollzieht, wie dem, bei dem sie vollzogen wird.

Der Abbé verbeugte sich.

Ja, mein Herr, fuhr der Fremde fort, Ihre Redlichkeit ist dem Herrn Polizeipräfekten so wohlbekannt, daß er alsBeamter von Ihnen eine Sache erfahren will, bei der die öffentliche Sicherheitbeteiligt ist, in deren Namen ichbei Ihnen erscheine. Wir hoffen, Herr Abbé, daß wederBande der Freundschaft, noch menschliche Rücksichten Sie veranlassen werden, der Justiz die Wahrheit zu verbergen.

Vorausgesetzt, daß die Dinge, die Sie zu erfahren wünschen, in keinerBeziehung dieBedenklichkeiten meines Gewissensberühren. Ichbin Priester, und die Geheimnisse derBeichte, zumBeispiel, müssen mir und der Gerechtigkeit Gottes und nicht mir und der menschlichen Gerechtigkeit vorbehaltenbleiben. Oh, seien Sie unbesorgt, Herr Abbé, sagte der Fremde, jedenfalls werden wir Ihr Gewissen nichtbelasten.

Bei diesen Worten drückte der Abbé auf seiner Seite auf den Lichtschirm nieder und hobihn auf der andern Seite, so daß das Gesicht des Fremden völligbeleuchtet wurde, das seinige aber ganz im Schattenblieb.

Verzeihen Sie, Herr Abbé, sagte der Abgeordnete des Polizeipräfekten, dieses Licht ist höchst schmerzhaft für meine Augen.

Der Abbé drückte den grünen Pappendeckel nieder.

Sprechen Sie nun!

Ich komme zur Sache. Sie kennen ohne Zweifel den Grafen von Monte Christo?

Sie meinen Herrn Zaccone?

Zaccone… heißt er denn nicht Monte Christo?

Monte Christo ist der Name eines Gutes, oder vielmehr eines Felsens und kein Familienname.

Wohl, es mag sein; streiten wir nicht über Worte, und da Herr von Monte Christo und Herr Zaccone derselbe Mensch ist, so wollen wir von Herrn Zaccone sprechen; kennen Sie ihn? — Genau. — Wer ist er? — Er ist der Sohn eines reichen Reeders in Malta. — Ja, ich weiß, das sagt man; doch Siebegreifen, die Polizei kann sich nicht mit einem ›man sagt‹begnügen!

Wenn aber, versetzte der Abbé mit sehr freundlichem Lächeln, dieses man sagt die Wahrheit ist, so muß sich die ganze Welt damitbegnügen, und die Polizei ebenfalls.

Sind Sie dessen, was Sie sagen, gewiß?

Obich dessen gewißbin!

Bemerken Sie wohl, mein Herr, ich, setze durchaus keinen Zweifel in Ihre Glaubwürdigkeit. Ich frage Sie: Sind Sie Ihrer Sache gewiß?

Hören Sie, ich habe Herrn Zaccone, den Vater, gekannt und habe mit dem Sohne, als er noch ein Kind war, wohl zehnmal auf den Werften gespielt.

Doch dieser Grafentitel?…

Sie wissen, so was läßt sich kaufen.

Doch diese Reichtümer, welche, wie man sagt, ungeheuer sind…

Oh! was dasbetrifft, erwiderte der Abbé, ungeheuer, das ist das richtige Wort.

Wieviel glauben Sie, daß erbesitzt?

Oh! er hat gewiß 200 000 Franken Rente.

Ah! das läßt sich hören, versetzte der Fremde, aber man sprach von drei, von vier Millionen Rente!

Oh, das ist nicht glaublich!

Und Sie kennen seine Insel Monte Christo?

Gewiß: jeder, der von Palermo, von Neapel oder Rom nach Frankreich reist, kennt diese Felseninsel, weil er sie im Vorüberfahren sehen muß.

Und warum hat der Graf diese Felsen gekauft?

Gerade, um Graf zu sein. Um in Italien Graf zu werden, bedarf man auch einer Grafschaft.

Sie haben ohne Zweifel von den Jugendabenteuern des Herrn Zaccone sprechen hören?

Ah! hier fängt die Ungewißheitbei mir an, denn hier habe ich meinen Kameraden aus dem Gesichte verloren.

Sie sind nicht seinBeichtvater?

Nein, mein Herr? ich glaube, er ist Lutheraner.

Wie? Lutheraner?

Ich sage, ich glaube; ich weiß es nicht genau. Übrigens war ich der Ansicht, in Frankreichbestehe Freiheit des Kultus.

Allerdings, auchbeschäftigen wir uns in diesem Augenblick nicht mit seinem Glauben, sondern mit seinen Handlungen; im Namen des Herrn Polizeipräfekten fordere ich Sie auf, zu sagen, was Sie davon wissen.

Er gilt für einen sehr wohltätigen und menschenfreundlichen Mann. Unser heiliger Vater, der Papst, hat ihn, eine Gunst, die er kaum Fürstenbewilligt, zum Ritter des Christusordens für die großen Dienste ernannt, die er den Christen im Orient geleistet; er hat so fünfbis sechs Großkreuze für Dienste erhalten, die von ihm den Fürsten oder den Staaten erwiesen worden sind.

Und er trägt sie? — Nein, doch er ist stolz darauf; er sagt, er liebe mehr die den Wohltätern der Menschheit geltendenBelohnungen, als die, welche man den Zerstörern der Menschen zubilligt. — Weiß man, daß er Freunde hat? — Ja, denn es sind alle die seine Freunde, die ihn kennen. — Doch hat er gar keinen Feind? — Einen einzigen. — Wie heißt er? — Lord Wilmore. — Wo ist er? Kann er mir Auskunft geben? — Kostbare. Er war zu gleicher Zeit mit Zaccone in Indien und wohnt, glaube ich, jetzt irgendwo in der Chaussée d'Antin.

Sie stehen schlecht mit diesem Engländer?

Ich liebe Zaccone, und er haßt ihn; unser Verhältnis ist darum nicht dasbeste.

Mein Herr Abbé, glauben Sie, der Graf von Monte Christo sei je in Frankreich gewesen, vor der Reise, die er jetzt nach Paris gemacht hat?

Nein, mein Herr, er ist nie hier gewesen, denn er hat sich vor sechs Monaten an mich gewendet, um die erforderliche Auskunft zu erhalten. Da ich meinerseits nicht wußte, wann ich in Paris sein würde, so wies ich ihn an HerrnBartolomeo Cavalcanti.

Sehr gut, mein Herr; ich habe Sie nur noch eines zu fragen und fordere Sie im Namen der Menschheit, der Ehre und der Religion auf, mir ohne Umschweife zu antworten.

Sprechen Sie, mein Herr!

Wissen Sie, in welcher Absicht Herr von Monte Christo ein Haus in Auteuil kaufte?

Gewiß, denn er hat es mir gesagt. Um daraus ein Hospiz für Geisteskranke nach Art dessen zu machen, das derBaron von Pisari in Palermo gegründet hat.

Kennen Sie dieses Hospiz?

Ich habe davon gehört; es soll eine herrliche Anstalt sein. Hierauf grüßte der Abbé den Fremden, wie ein Mensch, der zu verstehen geben will, es sei ihm nicht unangenehm, eine unterbrochene Arbeit wiederaufnehmen zu können.

Begriff derBesuch das Verlangen des Abbés, oder war er mit seinen Fragen zu Ende… er stand ebenfalls auf. Der Abbébegleitete ihnbis zur Tür, und der Fremde entfernte sich.

Der Wagen führte ihn geradeswegs zu Herrn von Villefort.

Eine Stunde nachher kam der Wagen abermals heraus, und diesmal wandte er sich nach der Rue Fontaine‑Saint‑George, bei Nr. 5 hielt er an. Hier wohnte Lord Wilmore. Der Fremde hatte Lord Wilmore schriftlich um eine Zusammenkunft gebeten, die dieser auf zehn Uhrbestimmte. Als der Abgesandte des Polizeipräfekten zehn Minuten vor zehn Uhr ankam, antwortete man ihm, Lord Wilmore, die Pünktlichkeit und Genauigkeit in Person, sei noch nicht zurückgekehrt, aber er werde sicher Punkt zehn Uhr erscheinen.

Der Besuch wartete im Salon. Dieser Salon hatte nichts Merkwürdiges und war wie alle Salons in einem Hotel garni. Ein Kamin mit zwei schönen Porzellanvasen, eine Pendeluhr mit einem Amor, der seinenBogen spannt; ein Spiegel, auf jeder Seite dieses Spiegels ein Kupferstich, eine Tapete in Grau: das war der Salon des Lord Wilmore.

Er wurde durch Kugeln von geschliffenem Glasebeleuchtet, die nur ein mattes Licht verbreiteten, das ausdrücklich für die schwachen Augen des Abgeordneten des Herrn Polizeipräfektenberechnet zu sein schien.

Nachdem dieser zehn Minuten gewartet hatte, schlug es zehn Uhr; beim fünften Schlage öffneten sich die Türen, und Lord Wilmore erschien.

Lord Wilmore war ein Mann, mehr groß als klein, mit dünnem, rotemBackenbarte, weißer Gesichtsfarbe undblonden, gräulich werdenden Haaren. Er war auf echt englisch‑bizarre Weise gekleidet, das heißt, er trug einenblauen Frack mit goldenen Knöpfen und einem hohen, gesteppten Kragen, wie sie 1811 Mode waren, eine weiße Weste und Hosen von Nankin, die drei Zoll zu kurz waren, aber durch Stege von demselben Stoffe verhindert wurden, bis an die Knie zurückzuweichen. Sein erstes Wortbeim Eintritt war: Sie wissen mein Herr, daß ich nicht Französisch spreche?

Ich weiß wenigstens, daß Sie es nicht gern sprechen, antwortete derBote des Herrn Polizeipräfekten.

Doch Sie können es sprechen, versetzte Lord Wilmore, denn wenn ich es auch nicht spreche, so verstehe ich es doch.

Und ich, sagte derBesuch, das Idiom wechselnd, spreche leicht genug Englisch, um eine Unterredung in dieser Sprache führen zu können. Tun Sie sich also keinen Zwang an, mein Herr.

Oh! rief Lord Wilmore mit jenem Tone, der nur den reinsten Eingeborenen Großbritanniens angehört.

Der Abgeordnete des Polizeipräfekten übergabLord Wilmore seinBeglaubigungsschreiben. Dieser las es mit englischem Phlegma… Als er damit zu Ende war, sagte er englisch: Ichbegreife, ichbegreife sehr gut.

Nunbegannen die Fragen.

Es waren ungefähr dieselben, die man dem AbbéBusoni vorgelegt hatte. Da jedoch Lord Wilmore als Feind des Grafen von Monte Christo nicht mit derselben Zurückhaltung antwortete, wie der AbbéBusoni, so wurden sie vervielfacht. Er erzählte von der Jugend Monte Christos, der, seinerBehauptung nach, in einem Alter von zehn Jahren in den Dienst eines der kleinen indischen Fürsten getreten war, die mit Englandbeständig im Streite liegen; hier traf ihn Wilmore seiner Aussage nach zum ersten Male, und sie kämpften gegeneinander. Und in eben diesem Kriege wurde Zaccone zum Gefangenen gemacht, nach England geschickt und auf die Pontons gebracht, von wo er schwimmend entfloh. Hierauf folgten seine Reisen, seine Zweikämpfe, seine Leidenschaften; es kam der Aufstand in Griechenland, und er diente in den Reihen der Hellenen. Während er in ihren Diensten war, entdeckte er eine Silbermine in den Gebirgen Thessaliens; doch er hütete sich, mit irgend jemand davon zu sprechen. Nach der Schlachtbei Navarin, und nachdem sich die griechische Regierungbefestigt hatte, verlangte er von König Otto ein Privilegium zur Ausbeutung dieser Miene, das ihmbewilligt wurde. Daher rührte sein Vermögen, das sich nach der Ansicht Lord Wilmores auf einebis zwei Millionen Einkünftebelaufen mochte, ein Vermögen, das nichtsdestoweniger versiegen konnte, wenn seinBergwerk versiegte.

Doch wissen Sie, warum er nach Frankreich gekommen ist?

Er will in Eisenbahnen spekulieren, sagte Lord Wilmore; und als geschickter Chemiker und nicht minder ausgezeichneter Physiker hat er einen Telegraphen erfunden, dessen praktische Ausbeutung er im Auge hat.

Wieviel gibt er ungefähr jährlich aus? fragte der Abgeordnete des Polizeipräfekten.

Oh! höchstens 5bis 600 000 Franken, er ist geizig. Offenbar ließ der Haß den Engländer so sprechen; er wußte nicht, was er dem Grafen zum Vorwurf machen sollte, und warf ihm Geiz vor.

Wissen Sie etwas von seinem Hause in Auteuil?

Sie fragen, warum er es gekauft hat? — Ja.

Der Graf ist ein Spekulant, der sich in Versuchen und Utopien zu Grunde richten wird. Erbehauptet, es gebe in Auteuil, in der Gegend des von ihm erkauften Hauses, eine Mineralquelle, die den ersten französischen Wassern gleich komme. Er will aus seiner Erwerbung einBadehaus machen. Bereits hat er zweibis dreimal seinen ganzen Garten umgewühlt, und weil er dieberühmte Quelle nicht finden konnte, so werden Sie sehen, daß erbinnen kurzem alle Häuser kauft, die an das seinige grenzen. Da ich ihm grolle und hoffe, daß er sich mit seiner Eisenbahn, mit seinem elektrischen Telegraphen oder seinerBäderspekulation zu Grunde richten wird, so folge ich ihm, um mich an seiner Niederlage zu weiden, die früher oder später eintreten muß.

Und warum grollen Sie ihm? fragte derBesuch.

Ich grolle ihm, antwortete Lord Wilmore, weil erbei einem Aufenthalte in England die Frau eines meiner Freunde verführt hat.

Doch wenn Sie feindselig gegen ihn gesinnt sind, warum suchen Sie sich nicht an ihm zu rächen?

Ich habe michbereits dreimal mit ihm geschlagen, das erste Mal auf Pistolen, das zweite Mal mit dem Degen, das dritte Mal auf Säbel.

Und was war der Erfolg dieser Duelle?

Das erste Mal zerschmetterte er mir den Arm, das zweite Mal durchstieß er mir die Lunge, und das dritte Malbrachte er mir diese Wundebei. Der Engländer schlug einen Hemdkragen zurück, der ihmbis an die Ohren ging, und zeigte eine anscheinend ziemlich frische Narbe.

Deshalbbin ich sein Feind, wiederholte der Engländer, und er wird sicherlich nur von meiner Hand sterben.

Doch es scheint mir, Sie schlagen nicht den rechten Weg ein, um ihn zu töten, bemerkte der Fremde.

Ao! rief der Engländer, ich gehe jeden Tag zum Schießen, und Grisier kommt alle zwei Tage zu mir.

Das war alles, was der Fremde wissen wollte, oder es war vielmehr alles, was der Engländer zu wissen schien. Der Agent stand auf und entfernte sich, nachdem er Lord Wilmore gegrüßt hatte, der ihm mit englischer Steifheit und Höflichkeit vergalt.

Als Lord Wilmore hörte, daß sich die Tür nach der Straße wieder hinter dem Fremden schloß, kehrte er in sein Schlafzimmer zurück, wo er in einer Sekunde seineblonden Haare, seinen rotenBackenbart, seine falsche Kinnlade und seine Narbe verlor, um die schwarzen Haare und die matte Gesichtsfarbe des Grafen von Monte Christo wieder anzunehmen.

Allerdings war es Herr von Villefort und keinBote des Polizeipräfekten, der in die Wohnung des Staatsanwaltes zurückkehrte. Dieser fühlte sich durch diesen doppeltenBesuch, der ihm wenigstens nichtsBeunruhigendes eröffnet hatte, ein wenigbeschwichtigt. Die Folge davon war, daß er zum erstenmal seit dem Fest in Auteuil in der nächsten Nacht sich eines friedlichen Schlafes erfreute.

Der Ball

Es waren die heißesten Julitage angebrochen, als der Sonnabend erschien, an dem derBall des Herrn von Morcerf stattfinden sollte. Es schlug zehn Uhr abends. In den unteren Sälen des Hotels hörte man die Musik rauschen, währendblendende, scharfe Lichtstreifen durch die Öffnungen der Läden drangen.

Der Garten war in diesem Augenblick einem DutzendBedienten überlassen, denen die Gebieterin des Hauses denBefehl gegeben hatte, hier das Abendessen herzurichten. Manbeleuchtete die Alleen des Gartens mit farbigen Lampen und stellte mit feinem Verständnis Kerzen undBlumen in großer Zahl auf die Tafel.

In dem Augenblick, als die Gräfin von Morcerf, nachdem sie ihre letztenBefehle gegeben hatte, zurückkehrte, begannen sich ihre Salons, mit Gästen zu füllen, die sowohl diebezaubernde Gastfreundschaft der Gräfin, als die ausgezeichnete Stellung des Grafen anlockte; denn man war zum voraus gewiß, dieses Fest würdebei Mercedes' gutem Geschmacke manches Neue und Schönebringen.

Frau Danglars, die infolge derbekannten Ereignisse eine tiefe Unruhe empfand, wollte nicht zu Frau von Morcerf gehen, doch am Morgenbegegnete siebei ihrer Ausfahrt Herrn von Villefort, der ihr zurief: Nicht wahr, Sie gehen zu Frau von Morcerf?

Nein, antwortete Frau Danglars, ichbin zu leidend.

Sie haben unrecht, entgegnete Villefort mit einembezeichnendenBlicke. Es wäre gut, man sähe sie dort.

Ah! Sie glauben? fragte dieBaronin. Dann gehe ich.

Und ihr Wagen fuhr in entgegengesetzter Richtung weiter. Frau Danglars strahlte, als sie erschien, nicht nur durch ihre eigene Schönheit, sondernblendete auch durch Luxus. Sie trat durch eine Tür in dem Augenblick ein, wo Mercedes durch die andere eintrat.

Die Gräfin schickte Albert der Dame entgegen. Albert ging auf dieBaronin zu, machte ihr die wohlverdienten Komplimente über ihre Toilette undbot ihr den Arm, um sie nach dem Platze zu führen, den sie nach ihremBelieben wählen sollte. Albert schaute umher. Sie suchen meine Tochter? sagte lächelnd dieBaronin.

Ich gestehe es, sprach Albert, sollten Sie die Grausamkeit gehabt haben, Sie nicht mitzubringen?

Beruhigen Sie sich, sie hat Fräulein von Villefort getroffen und ihren Arm genommen; sehen Sie, sie folgen unsbeide in weißen Kleidern, die eine mit einem Strauße von Kamelien, die andere mit einem Strauße von Vergißmeinnicht. Aber sagen Sie mir doch, werden Sie heute abend den Grafen von Monte Christo nicht hier haben?

Siebenzehn; antwortete Albert.

Was wollen Sie damit sagen?

Ich will sagen, versetzte der Vicomte lachend, daß Sie die siebenzehnte Person sind, welche diese Frage an mich richtet; der Graf hat Glück… ich mache ihm mein Kompliment.

Und antworten Sie jedem wie mir?

Ah! es ist wahr, ich habe Ihnen noch nicht geantwortet; beruhigen Sie sich, gnädige Frau, wir werden den Mann der Mode haben, wir gehören zu seinenBevorzugten.

Lassen Sie mich hier, undbegrüßen Sie Frau von Villefort, sagte dieBaronin, ich sehe, sie stirbt vor Verlangen, Sie zu sprechen. Albert verbeugte sich vor Frau Danglars und ging auf Frau von Villefort zu, die den Mund öffnete, während er sich ihr näherte.

Ich wette, sagte Albert, sie unterbrechend, ich wette, ich weiß, was Sie sagen wollen.

Ah! lassen Sie doch hören! rief Frau von Villefort.

Sie wollen mich fragen, obder Graf von Monte Christo gekommen sei oder kommen werde?

Ichbeschäftige mich in diesem Augenblick nicht mit ihm. Ich wollte Sie fragen, obSie Nachricht von Herrn Franz erhalten hätten?

Ja, gestern; er schriebmir, er werde zu gleicher Zeit mit seinemBriefe abreisen.

Gut… Nun der Graf?…

Seien Sie unbesorgt, der Graf wird kommen.

Sie wissen, daß er einen andern Namen hat, als Monte Christo?

Nein, ich wußte es nicht.

Monte Christo ist der Name einer Insel; er ist Malteser.

Das ist möglich.

Er ist der Sohn eines Reeders.

In der Tat, Sie sollten dies laut erzählen, Sie würden das größte Aufsehen damit machen.

Er hat in Indien gedient, beutet ein Silberbergwerk in Thessalien aus und kommt nach Paris, um in Auteuil eine Anstalt für Mineralbäder zu gründen.

Ah! das lasse ich mir gefallen, das sind Neuigkeiten! Erlauben Sie mir, sie zu wiederholen?

Ja, doch allmählich, eine nach der andern, und ohne zu sagen, daß sie von mir kommen.

Warum?

Weil es ein der Polizei abgelauschtes Geheimnis ist.

Also kommen diese Neuigkeiten?…

Vom Präfekten. Paris ist, wie Sie leichtbegreifen können, durch den Anblick dieses Luxus in Aufregung geraten, und die Polizei hat Erkundigungen eingezogen.

Es fehlte nur noch, daß man den Grafen wie einen Vagabunden unter dem Vorwande, er sei zu reich, verhaftete.

Meiner Treu, das hätte ihm wohlbegegnen können, wenn die Nachrichten nicht so günstig gewesen wären.

Armer Graf! Und er vermutet die Gefahr nicht, der er preisgegeben ist!

Ich glaube nicht.

Dann ist es Pflicht der Nächstenliebe, ihn darauf aufmerksam zu machen. Ich werdebei seiner Ankunft nicht verfehlen, dies zu tun.

In dieser Sekunde verbeugte sich ein schöner junger Mann mit lebhaften Augen, schwarzen Haaren und glänzendem Schnurrbart vor Frau von Villefort. Albert reichte ihm die Hand und sagte: Gnädige Frau, ich habe die Ehre, Ihnen Herrn Maximilian Morel, Kapitänbei den Spahis, einen unserer guten undbesonders unsererbraven Offiziere, vorzustellen.

Ich habebereits das Vergnügen gehabt, den Herrn in Auteuilbei dem Herrn Grafen von Monte Christo zu treffen, antwortete Frau von Villefort, sich mit auffallender Kälte abwendend. Diese Antwort undbesonders der Ton, in dem sie gegeben wurde, schnürten dem armen Morel das Herz zusammen; doch es war ihm eine Entschädigung vorbehalten. Als er sich umdrehte, sah er unweit der Tür ein schönes, ernstes Gesicht, dessenblaue, große und scheinbar ausdruckslose Augen sich auf ihn hefteten, während der Vergißmeinnichtstrauß, den die Person hielt, langsam an die Lippen emporstieg.

Dieser Gruß wurde so gut verstanden, daß Morel mit derselben Miene sein Taschentuch seinem Mund näherte; und, durch die ganzeBreite des Saales voneinander getrennt, vergaßen sich diese zu lebendigenBildsäulen gewordenenbeiden Menschen, deren Herz so rasch unter dem scheinbaren Marmor ihres Gesichtes schlug, einen Augenblick, oder sie vergaßen vielmehr die Welt in dieser stummenBetrachtung.

Sie hätten lange so ineinander verlorenbleiben können, ohne daß es jemandbemerkt hätte; doch der Graf von Monte Christo trat eben ein.

Der Graf zog, wie gesagt, überall, wo er sich zeigte, die Aufmerksamkeit auf sich. Es war nicht sein allerdings dem Schnitte nach tadelloser, aber einfacher schwarzer Frack; es war nicht seine weiße Weste, nicht seinBeinkleid, das einen Fuß von der zartesten Form umhüllte, was die Aufmerksamkeit rege machte, nein, es waren seine schwarzen, wellenförmigen Haare, seine matte Gesichtsfarbe, sein ruhiges, reines Antlitz, sein tiefes, schwermütiges Auge, endlich sein mit wunderbarer Feinheit gezeichneter Mund, der so leicht den Ausdruck stolzer Verachtung annahm, was allerBlicke auf ihn zog.

Es mochten schönere Männer da sein, aber es war kein eigenartigerer da. Alles an dem Grafen wollte etwas sagen und hatte seinen Wert, denn die Gewohnheit guter Gedanken hatte seinen Zügen, dem Ausdrucke seines Gesichtes und seiner unbedeutendsten Gebärde eine unvergleichliche Feinheit und Festigkeit verliehen.

Die Zielscheibe allerBlicke und Grüße, schritt er auf Frau von Morcerf zu, die, vor dem mitBlumen geschmückten Kamine stehend, ihn in einem der Tür gegenüber angebrachten Spiegel erscheinen sah und sich zu seinem Empfang vorbereitete. Sie wandte sich mit einembereit gehaltenen Lächeln in dem Augenblick gegen ihn um, wo er sich vor ihr verbeugte. Ohne Zweifel glaubte sie, der Graf würde mit ihr sprechen; ohne Zweifel glaubte er, sie würde das Wort an ihn richten. Doch sieblieben aufbeiden Seiten stumm, so sehr kambeiden wahrscheinlich eine alltägliche Redensart unwürdig vor, und nach einer gegenseitigenBegrüßung wandte sich Monte Christo zu Albert, der mit offener Hand auf ihn zukam.

Sie haben meine Mutter gesehen? fragte Albert.

Soeben hatte ich die Ehre, sie zubegrüßen, sagte der Graf, doch Ihren Vater habe ich noch nicht wahrgenommen.

Er steht dort in jener kleinen Gruppe von großen Politikern.

In der Tat, sagte Monte Christo, die Herren, die ich dort sehe, sind große Politiker? Ich hätte es nicht vermutet.

In diesem Augenblick fühlte Morcerf, daß man eine Hand auf seinen Arm legte.

Ah, Sie sind es, Baron! sagte er.

Warum nennen Sie michBaron? entgegnete Danglars; Sie wissen wohl, daß ich nichts auf meinen Titel halte. Es ist nicht wiebei Ihnen, Vicomte, nicht wahr, Sie halten darauf?

Allerdings, antwortete Albert, da ich, wenn ich nicht Vicomte wäre, gar nichts wäre, indes Sie IhrenBaronentitel opfern können und immer noch Millionärbleiben.

Was mir der schönste Titel unter dem Julikönigtum zu sein scheint, versetzte Danglars.

Leider, sagte Monte Christo, leider ist man nicht Millionär auf Lebenszeit, wie manBaron, Pair von Frankreich oder Akademiker ist? alsBeweis hierfür dienen die Millionäre Frank und Pullmann in Frankfurt, die soebenBankerott gemacht haben.

Wirklich? fragte Danglars erbleichend.

Meiner Treu, die Nachricht ist mir heute durch einen Kurier zugekommen; ich hatte so etwa eine Millionbei ihnen; zu rechter Zeitbenachrichtigt, forderte ich vor einem Monat Rückzahlung.

Mein Gott! versetzte Danglars, sie haben für 200 000 Franken auf mich gezogen.

Nun wissen Sie's, ihre Unterschrift ist nicht mehr als fünf Prozent wert.

Ja, aber ich erfahre es zu spät, denn ich habe ihre Unterschrift honoriert.

Gut, sagte Monte Christo, das sind 200 000 Franken, die den anderen nach…

Still! flüsterte Danglars. Sprechen Sie davon nicht, am wenigsten in Gegenwart von Herrn Cavalcanti Sohn, fügte derBankier hinzu, derbei diesen Worten sich lächelnd gegen den jungen Mann umwandte.

Morcerf hatte den Grafen verlassen, um mit seiner Mutter zu sprechen. Danglars verließ ihn, um Cavalcanti Sohn zubegrüßen. Monte Christo fand sich einen Augenblick allein.

Die Hitze sing indessen an, fürchterlich zu werden. DieBedienten gingen in den Salons mit Platten umher, die mit Früchten und verschiedenem Eisbedeckt waren. Monte Christo trocknete sich mit dem Taschentuch sein von Schweiß übergossenes Gesicht; doch er wich zurück, als die Platten an ihm vorübergetragen wurden, und nahm nichts von den Erfrischungen.

Frau von Morcerf ließ mit ihrenBlicken nicht von Monte Christo ab. Sie sah die Platte an ihm vorübergehen, ohne daß er sieberührte; sie faßte sogar dieBewegung auf, mit der er sich entfernte.

Albert, sagte sie, hast dubemerkt, daß der Graf nie etwasbei Herrn von Morcerf genießen wollte?

Ja, doch er hat an einem Frühstückbei mir teilgenommen.

Bei dir ist nichtbei dem Grafen, versetzte Mercedes, und ichbeobachte ihn, seitdem er hier ist. — Nun? — Er hat noch nichts angenommen. — Der Graf ist sehr nüchtern. — Mercedes lächelte traurig. — Nähere dich ihm, sagte sie, undbei der ersten Platte, die herumgereicht wird, dringe in ihn. — Warum das, meine Mutter? — Mache mir das Vergnügen, Albert.

Albert küßte seiner Mutter die Hand und stellte sich zu dein Grafen. Es kam eine neue Platte mit den gleichen Erfrischungen wie die vorhergehende; sie sah Albert in den Grafen dringen, selbst Eis nehmen und es ihm anbieten; doch er weigerte sich hartnäckig. Albert kehrte zu seiner Mutter zurück; die Gräfin war sehrbleich.

Nun, du siehst es, er hat sich geweigert, sagte sie.

Ja, doch wie kann Sie diesbeunruhigen?

Du weißt, Albert, die Frauen sind sonderbar. Ich hätte den Grafen mit Vergnügen irgend etwasbei mir nehmen sehen und wäre es nur ein Granatkern gewesen. Übrigens ist er vielleicht die französische Kost nicht gewöhnt und hat eine Vorliebe für irgend etwas?

Mein Gott, nein! ich sah ihn in Italien von allem nehmen; ohne Zweifel ist ihm heute abend nicht recht wohl.

Da er stets in heißen Klimaten gewohnt hat, ist er vielleicht auch minder empfindlich für die Hitze, als ein anderer, sagte die Gräfin.

Ich glaube nicht, denn erbeklagte sich, daß es zum Ersticken heiß sei, und fragte mich, warum man, da manbereits die Fenster geöffnet, nicht auch die Läden öffne.

In der Tat, das ist ein Mittel, um mir Gewißheit zu verschaffen, obdiese Enthaltsamkeit auf einembestimmten Entschlüsseberuht, sagte Mercedes und verließ den Salon.

Einen Augenblick nachher öffneten sich die Läden, man sah den ganzen Garten mit Lampenbeleuchtet und das Abendessen unter dem Zelte aufgetragen.

Tänzer und Tänzerinnen, Spieler und Plaudernde, stießen einen Freudenschrei aus, die gepreßten Lungen atmeten mit Wollust die Luft ein, die in Wellen in die Säle strömte. In diesem Augenblick erschien Mercedes wieder, bleicher als sie weggegangen war, aber mit jener, bei ihr unter gewissen Umständen merkwürdigen Energie des Gesichtsausdrucks. Sie ging gerade auf die Gruppe zu, deren Mittelpunkt ihr Gattebildete, und sagte: Herr Graf, fesseln Sie diese Herren nicht hier! Wenn sie nicht spielen, werden sie lieber die Lust im Garten einatmen, als hier ersticken.

Ah! gnädige Fran, sagte ein alter, sehr artiger General, der im Jahre 1809»Partant pour la Syrie«(Auf nach Syrien) gesungen hatte, wir gehen nicht allein in den Garten.

Gut, ich werde dasBeispiel geben, versetzte Mercedes.

Und sich zu Monte Christo wendend, sagte sie: Herr Graf, haben Sie die Güte, mir Ihren Arm zubieten. Der Graf wanktebei diesen einfachen Worten; dann schaute er Mercedes einen Moment an. Dieser Moment hatte die Geschwindigkeit einesBlitzes, und dennoch kam es der Gräfin vor, als hätte er ein Jahrhundert gedauert, so viele Gedanken hatte Monte Christo in diesen einzigenBlick gelegt.

Erbot der Gräfin seinen Arm; sie stützte sich darauf, oder sieberührte ihn vielmehr nur mit ihrer kleinen Hand, undbeide stiegen die Stufen der mit Kamelien und Rhododendren eingefaßten Freitreppe hinab.

Brot und Salz

Frau von Morcerf trat mit ihremBegleiter unter eine Lindenallee, die nach einem Treibhause führte. Nicht wahr, es war heiß im Salon, Herr Graf? sagte sie.

Ja, gnädige Frau, und Ihr Gedanke, die Türen und Läden öffnen zu lassen, war vortrefflich.

Als der Gras diese Worte sprach, bemerkte er, daß Mercedes' Hand zitterte.

Doch Sie, sagte er, mit diesem leichten Kleide und ohne ein anderes Schutzmittel um den Hals, als diesen Schal von Gaze, Ihnen ist wohl kalt?

Wissen Sie, wohin ich sie führe? sagte die Gräfin, ohne auf Monte Christos Frage zu antworten.

Nein, gnädige Frau, antwortete dieser, doch Sie sehen, ich leiste keinen Widerstand.

In das Treibhaus, das Sie dort am Ende der Allee erblicken. Der Graf schaute Mercedes an, als wollte er siebefragen; doch sie setzte ihren Weg fort, ohne etwas zu sagen, und Monte Christobliebstumm.

Sie traten in das Gebäude, das ganz mit herrlichen Früchten geschmückt war, die schon Anfang Juli in dieser künstlichen Temperatur reiften.

Mercedes verließ den Arm des Grafen und pflückte an einem Weinstock eine Muskattraube.

Nehmen Sie, Herr Graf, sagte sie mit einem so traurigen Lächeln, daß man die Tränen am Rande ihrer Augen hätte können hervorbrechen sehen, ich weiß wohl, unsere französischen Trauben sind nicht mit denen von Sizilien und Cypern zu vergleichen, doch Sie werden gegen unsere nördliche Sonne nachsichtig sein.

Der Graf verbeugte sich und machte einen Schritt rückwärts.

Sie schlagen es mir ab? fragte Mercedes mit zitternder Stimme.

Gnädige Frau, antwortete Monte Christo, ichbitte Sie demütigst um Entschuldigung, aber ich esse nie Trauben.

Ein herrlicher Pfirsich hing, wie die Weinrebe, an einem durch die künstliche Hitze des Treibhauses erwärmten Spaliere. Mercedes näherte sich der samtartigen Frucht und pflückte sie.

Nehmen Sie diesen Pfirsich, sagte sie.

Doch der Graf machte dieselbe Gebärde der Weigerung.

Abermals! sagte sie mit einem schmerzlichen Tone, daß man fühlen konnte, wie dieser Ton ein Schluchzen unterdrückte, in der Tat, ich habe Unglück.

Einbanges Schweigen folgte auf diese Szene, der Pfirsich war wie die Traube auf den Sand gefallen.

Herr Graf, sagte Mercedes, Monte Christo mit flehendem Auge anschauend, es gibt eine rührende arabische Sitte, die auf ewig die zu Freunden macht, dieBrot und Salz unter demselben Dache geteilt haben.

Ich kenne sie, gnädige Frau, antwortete der Graf, doch wir sind in Frankreich und nicht in Arabien, und in Frankreich gibt es ebensowenig ewige Freundschaften, wie eine Teilung von Salz undBrot.

Doch sprechen Sie, sagte die Gräfin, stammelnd und ihre Augen auf Monte Christos Augen heftend, den sie mit ihrenbeiden Händen am Arme faßte, nicht wahr, wir sind Freunde?

DasBlut floß zu dem Herzen des Grafen zurück, und er wurdebleich wie der Tod, dann stieg es vom Herzen aufwärts, überströmte seine Wangen, und seine Augen schwammen ein paar Sekunden lang im weiten Raume, wie die eines von einemBlendwerk getroffenen Menschen.

Gewiß sind wir Freunde, gnädige Frau, erwiderte er, warum sollten wir es auch nicht sein?

Dieser Ton war so weit von dem entfernt, den Frau von Morcerf zu hören wünschte, daß sie sich umwandte, um einen Seufzer entschlüpfen zu lassen, der einem Stöhnen glich.

Ich danke, sagte sie und schritt vorwärts.

So machten sie einen Gang durch den Garten, ohne ein einziges Wort zu sprechen.

Mein Herr, sagte plötzlich die Gräfin nach zehn Minuten einer schweigsamen Wanderung, ist es wahr, daß Sie so viel gesehen, so viele Reisen gemacht, so viel gelitten haben?

Ja, gnädige Frau, ich habe viel gelitten, antwortete er.

Aber nun sind Sie glücklich?

Allerdings, denn niemand hört mich klagen.

Und Ihr gegenwärtiges Glück hat Ihre Seelebesänftigt?

Mein gegenwärtiges Glück kommt meinem vergangenen Unglück gleich.

Sind Sie nicht verheiratet? fragte die Gräfin.

Ich verheiratet? entgegnete Monte Christobebend, wer konnte Ihnen dies sagen?

Man hat es mir nicht gesagt, aber man hat Sie wiederholt eine junge hübsche Person in die Oper führen sehen.

Es ist eine Sklavin, die ich in Konstantinopel gekauft habe; es ist die Tochter eines Fürsten, aus der ich meine Tochter mache, da ich keine andere Zuneigung auf Erden habe.

Sie leben also allein?

Ich lebe allein.

Sie haben keine Schwester… keinen Sohn… keinen Vater?

Ich habe niemand.

Wie können Sie so leben, ohne daß Sie etwas an das Daseinbindet?

Das ist nicht mein Fehler, gnädige Frau. In Malta hatte ich eine Geliebte, ich wollte sie heiraten, als der Krieg kam und mich wie ein Sturmwind von ihr fortführte. Ich hatte geglaubt, sie liebe mich hinreichend, um mich zu erwarten und sogar meinem Grabe treu zubleiben. Bei meiner Rückkehr war sie verheiratet. Das ist die traurige Geschichte des damals zwanzigjährigen Mannes. Ich hatte vielleicht ein schwächeres Herz als die andern und litt mehr, als andere an meiner Stelle gelitten haben würden.

Die Gräfinbliebeinen Augenblick stehen, alsbedürfe sie eines Haltes, um Atem zu schöpfen.

Ja, sagte sie, und diese Liebe ist Ihnen im Herzen geblieben… Man liebt nur einmal wirklich… Und Sie haben diese Frau nie wiedergesehen?

Nie, ichbin nicht nach Malta, wo sie war, zurückgekehrt. — Sie ist also in Malta? — Ich glaube. — Und haben Sie ihr die Leiden vergeben, die sie Ihnenbereitete? — Ihr, ja, — Doch nur ihr; Sie hassen immer noch die, welche Sie von ihr getrennt haben? — Ich, keineswegs; warum sollte ich sie hassen?

Die Gräfin stellte sich Monte Christo gegenüber; sie hielt noch ein Stück von der duftenden Traube in der Hand.

Nehmen Sie, sagte Mercedes.

Ich esse nie Trauben, erwiderte Monte Christo noch einmal.

Die Gräfin schleuderte die Traube mit einer Gebärde der Verzweiflung in das nächste Gebüsch.

Unbeugsam! murmelte sie.

Monte Christobliebso unempfindlich, als gälte der Vorwurf gar nicht ihm.

Albert lief in diesem Augenblick herbei und rief: Oh! meine Mutter, ein großes Unglück!

Was ist geschehen? fragte die Gräfin, und richtete sich, wie nach einem Traume zur Wirklichkeit erwachend, hoch auf; ein Unglück sagst du? In der Tat, es muß Unglück geschehen!

Herr von Villefort ist hier. — Nun? — Er kommt, um seine Frau und seine Tochter zu holen. — Warum?

Die Frau Marquise von Saint‑Meran ist mit der Nachricht in Paris angelangt, Herr von Saint‑Meran seibei seiner Abreise von Marseille auf der ersten Station gestorben. Frau von Villefort, die sehr heiter war, wollte dieses Unglück wederbegreifen, noch glauben, doch Fräulein von Villefort erriet, so vorsichtig ihr Vater auch zu Werke ging, bei den ersten Worten alles. Der Schlag traf sie wie der Donner, und sie sank ohnmächtig nieder.

Was ist denn Herr von Saint‑Meran für Fräulein von Villefort? fragte der Graf.

Ihr Großvater mütterlicherseits. Er wollte hierherkommen, um die Heirat seiner Enkelin mit Franz zubeschleunigen.

Ah! wirklich?

Franz hat nun Aufschub, fiel Albert ein. Warum ist Herr von Saint‑Meran nicht ebenso auch Fräulein Danglars' Großvater?

Albert! Albert! versetzte Frau von Morcerf im Tone zarten Vorwurfs, was sagst du da? Ah! Herr Graf, Sie, für den er so große Achtung hegt, sagen Sie ihm, daß er übel gesprochen habe!

Und sie machte einige Schritte vorwärts.

Monte Christo schaute sie so seltsam und mit einem zugleich so träumerischen und von liebevollerBewunderung erfüllten Ausdruck an, daß sie zurückkehrte.

Dann nahm sie seine Hand, drückte zugleich die ihres Sohnes und sagte, beide aneinander pressend: Nicht wahr, wir sind Freunde?

Oh! Ihr Freund, gnädige Frau? erwiderte Monte Christo, ich habe nicht diese Anmaßung, doch jedenfallsbin ich Ihr ehrerbietiger Diener.

Die Gräfin entfernte sich mit unaussprechlich gepreßtem Herzen, und ehe sie zehn Schritte gemacht hatte, sah sie der Graf ihr Taschentuch an die Augen drücken.

Sind Sie uneins, meine Mutter und Sie? fragte Albert erstaunt.

Im Gegenteil, da sie mir in Ihrer Gegenwart gesagt hat, wir seien Freunde, antwortete der Graf. Und sie kehrten in den Salon zurück, den Valentine und Herr und Frau von Villefort soeben verlassen hatten.

Es versteht sich von selbst, daß Morel gleich nach ihnen weggegangen war.

Frau von Saint‑Meran

Es war wirklich eine düstere Szene im Hause des Herrn von Villefort vorgefallen.

Nachdem die drei Damen auf denBall gegangen waren, wohin trotz allerBitten der Frau von Villefort ihr Gatte sie nichtbegleiten wollte, schloß sich der Staatsanwalt, seiner Gewohnheit gemäß, in sein Kabinett mit einem Haufen von Akten ein, der jeden andern erschreckt, der jedoch im gewöhnlichen Laufe der Dinge seinen kräftigen Arbeitshunger kaumbefriedigt hätte.

Doch diesmal waren die Aktenstöße nur Sache der Form, Villefort schloß sich nicht ein, um zu arbeiten, sondern um nachzudenken. Nachdem derBefehl gegeben war, ihn nurbei Vorfällen von großer Wichtigkeit zu stören, setzte er sich in seinen Lehnstuhl und fing noch einmal an, alles zu erwägen, was seit siebenbis acht Tagen denBecher seines finstern Kummers und seinerbittern Erinnerungen überströmen ließ.

Sodann öffnete er eine Schublade seines Schreibtisches und zog dasBündel mit seinen persönlichen Noten hervor,… wertvolle Manuskripte, auf denen er auch mit Ziffern, die nur ihmbekannt waren, die Namen aller derer verzeichnet hatte, die auf seiner politischen Laufbahn, bei seinen Finanzoperationen, bei seiner Tätigkeit als Staatsanwalt oderbei seinen geheimen Liebschaften seine Feinde geworden waren.

Ihre Zahl schien ihm heute, wo er zu zittern anfing, furchtbar, und doch hatten ihn alle diese Namen, so mächtig ihre Träger auch waren, oft lächeln lassen, wie der Reisende lächelt, der von dem höchsten Gipfel des Gebirges herabzu seinen Füßen die spitzigen Felsen, die rauhen, beschwerlichen Wege und die Ränder der Abgründe erblickt, an denen er, um auf die Höhe zu gelangen, so lange und so mühsam hatte umherklettern müssen.

Als er alle diese Namen durchgegangen, als er sie wiedergelesen, wohlerwogen und in seinen Listen mitBemerkungen versehen hatte, schüttelte er den Kopf und murmelte: Nein, keiner dieser Feinde hätte geduldig und in der Stille arbeitendbis zu dem Tage gewartet, zu dem wir nun gelangt sind, um mich jetzt erst mit diesem Geheimnis niederzuschmettern. Zuweilen, wie Hamlet sagt, dringt das Geräusch der am tiefsten verborgenen Dinge aus der Erde hervor und tanzt wie das Feuer des Phosphors, toll in der Luft umher; doch dies sind Flammen, die nur einen Augenblick leuchten, um irrezuleiten. Die Geschichte wird von dem Korsen irgend einem Priester erzählt worden sein, der sie seinerseits weiter erzählt hat. Herr von Monte Christo wird sie erfahren haben, und um sich aufzuklären…

Doch wozu sich aufklären? fuhr Herr von Villefort nach kurzem Nachdenken fort; welches Interesse kann Herr von Monte Christo, Herr Zaccone, der Sohn eines maltesischen Reeders, derBesitzer eines thessalischen Silberbergwerks, der zum erstenmal nach Frankreich kommt, welches Interesse kann er haben, sich über eine geheime Tat, wie diese, aufzuklären? Aus all den unzulänglichen Nachrichten, die mir von diesem AbbéBusoni und von diesem Lord Wilmore, von dem Freunde und dem Feinde, gegeben worden sind, ergibt sich eines klar und zweifellos: In keiner Zeit, in keinem Fall, unter keinen Umständen kann die geringsteBerührung zwischen ihm und mir stattgefunden haben.

Doch Herr von Villefort sagte dies, ohne selbst daran zu glauben. Das Schrecklichste für ihn war nicht die Enthüllung, denn er konnte leugnen oder sich sogar verantworten. Wenig kümmerte ihn das» Mene, tekel, upharsin«, das plötzlich inblutigenBuchstaben an der Wand erschien; aber esbekümmerte ihn, daß er den Körper nicht kannte, dem die schreibende Hand angehörte.

In dem Augenblick, wo er sich selbst zuberuhigen suchte und sich, statt der politischen Zukunft, die er in seinen ehrgeizigen Träumen zuweilen in der Ferne erblickt hatte, aus Furcht, diesen seit langer Zeit schlummernden Feind zu wecken, eine auf die Freuden des häuslichen Herdesbeschränkte Zukunft ausmalte, erscholl das Geräusch eines Wagens im Hofe. Dann hörte er auf seiner Treppe den Gang einerbetagten Person und Schluchzen und Wehklagen.

Er stieß schnell den Riegel seiner Tür zurück, undbald trat eine alte Dame ein, ohne angemeldet zu sein, ihren Schal auf dem Arm und ihren Hut in der Hand haltend. Unter ihren weißen Haaren trat eine Stirn, matt wie vergilbtes Elfenbein, hervor, und ihre Augen, in deren Ecken das Alter tiefe Runzeln gegraben hatte, verschwandenbeinahe unter der Anschwellung vom Weinen.

Oh! mein Herr, sagte sie, oh! mein Herr, welch ein Unglück, ich werde auch sterben; oh! ja, ich sterbe sicherlich ebenfalls.

Und sie sank in den Lehnstuhl, welcher der Tür zunächst stand, undbrach in ein Schluchzen aus.

DieBedienten, die auf der Schwelle standen und nicht weiter zu gehen wagten, schauten Noirtiers alten Diener an, der, als er das Geräusch vernahm, aus den Zimmern seines Herrn herbeilief. Villefort stand auf und ging auf seine Schwiegermutter zu, denn sie war es.

Mein Gott! was ist denn vorgefallen? fragte er, wasbeugt Sie so sehr nieder? Begleitet Sie Herr von Saint‑Meran nicht?

Herr von Saint‑Meran ist tot, sagte die alte Marquise, ohne Einleitung, ohne Ausdruck und mit einer Art von Stumpfsinn.

Villefort wich einen Schritt zurück, schlug seine Hände aneinander und stammelte: Tot?… So gestorben, so plötzlich gestorben?

Vor acht Tagen, sagte Fran von Saint‑Meran, stiegen wir nach Tische miteinander in den Wagen. Herr von Saint‑Meran war seit einiger Zeit leidend; doch der Gedanke, unsere liebe Valentine wiederzusehen, machte ihn mutig, und er wollte, trotz seiner Schmerzen, abreisen. Sechs Stunden von Marseille wurde er aber, nachdem er seine gewöhnlichen Pillen verschluckt hatte, von einem so tiefen Schlafe ergriffen, daß es mir ganz unnatürlich vorkam. Plötzlich schien sich sein Gesicht zu röten und die Adern seiner Schläfe heftiger als gewöhnlich zu schlagen. Da jedoch die Nacht eingebrochen war und ich nichts mehr sah, so ließ ich ihn schlafen; bald stieß er einen dumpfen, schmerzhaften Schrei aus, wie ein Mensch, der im Traume leidet, und warf mit einer ungestümenBewegung seinen Kopf zurück. Ich ließ den Postillon halten, rief laut den Namen meines Gatten, wollte ihn an meinem Flacon mit flüchtigen Salzen riechen lassen, aber alles war vorbei, er war tot, und ich kam mit seinem Leichnam in Aix an.

Villefort stand ganz verwundert und mit offenem Munde vor der alten Dame.

Sie ließen ohne Zweifel einen Arzt rufen?

Auf der Stelle; doch es war, wie gesagt, zu spät.

Allerdings; aber er vermochte doch wenigstens zu erkennen, an welcher Krankheit der arme Marquis gestorben war?

Mein Gott, ja! Er sagte mir, es scheine ein Schlagfluß gewesen zu sein.

Und was taten Sie sodann?

Herr von Saint‑Meran äußerte stets, wenn er fern von Paris sterben sollte, so wünsche er, daß man seinen Körper in die Familiengruftbringe. Ich ließ ihn in einenbleiernen Sarg legen und reiste ihm um ein paar Tage voran.

Oh Gott! arme Mutter! sagte Villefort, solche Sorgen, nach einem solchen Schlage und in Ihrem Alter!

Gott hat mirbis zum Ende Kraft verliehen; überdies hätte er sicherlich für mich getan, was ich für ihn getan habe. Es ist wahr, seitdem ich ihn dort verließ, komme ich mir wie wahnsinnig vor. Ich kann nicht mehr weinen: wohl sagt man, in meinem Alter habe man keine Tränen mehr; es scheint mir jedoch, solange man leidet, sollte man weinen können. Wo ist Valentine, mein Herr? Ihr zu Liebe kehrten wir zurück; ich will meine Valentine sehen.

Villefort mochte nicht antworten, Valentine sei auf einemBall, und sagte der Marquise mir, ihre Enkelin sei mit ihrer Stiefmutter ausgefahren, und man werde siebenachrichtigen. Auf der Stelle, mein Herr, auf der Stelle, ichbitte Sie, sagte die alte Dame.

Villefort nahm den Arm der Frau von Saint‑Meran unter den seinen und führte sie in ihre Wohnung.

Ruhen Sie aus, meine Mutter, sagte er.

Die Marquise schautebei diesen Worten empor, und als sie den Mann sah, der sie an ihre so sehrbeklagte Tochter erinnerte, die für sie in Valentine wieder auflebte, fühlte sie sich durch den Namen Mutter erschüttert, brach in Tränen aus und sank auf die Knie vor einem Polsterstuhl, in dem sie ihr ehrwürdiges Hauptbegrub.

Villefort empfahl sie der Sorge der Frauen, während der alteBarrois ganz erschrocken wieder zu seinem Herrn hinausstieg; denn nichts erschreckt die Greise so sehr, als wenn der Tod einen Augenblick ihre Seite verläßt, um einen andern Greis zu treffen.

Während Frau von Saint‑Meran immer noch knieend aus der Tiefe ihres Herzensbetete, ließ Villefort einen Wagen kommen und suchtebei Frau von Morcerf seine Frau und seine Tochter selbst auf, um sie nach Hanse zu führen.

Er war sobleich, als er auf der Schwelle des Salons erschien, daß ihm Valentine mit dem Ausruf entgegenlief: Oh, mein Vater! es ist irgend ein Unglück geschehen!

Deine gute Mama ist soeben angekommen, Valentine, sagte Herr von Villefort.

Und mein Großvater? fragte das Mädchen zitternd. Herr von Villefort antwortete nur, indem er seiner Tochter den Armbot.

Es war Zeit; Valentine wankte, vom Schwindel ergriffen; Frau von Villefortbeeilte sich, sie zu unterstützen, und half ihrem Manne sie nach dem Wagenbringen.

Das ist doch seltsam, sagte Frau von Villefort, wer hätte das vermuten können? Oh! das ist seltsam.

Und die ganze Familie entfernte sich so und warf einen traurigen Schatten wie einen schwarzen Mantel auf den übrigen Abend.

Unten an der Treppe fand ValentineBarrois, der auf sie wartete. — Herr Noirtier wünscht Sie heute abend zu sehen, flüsterte er ihr zu.

Sagen Sie ihm, ich werde zu ihm kommen, sobald ich meine gute Großmutter verlasse, sprach Valentine.

In seinem Zartgefühle hatte das Mädchenbegriffen, daß zu dieser Stunde Frau von Saint‑Meran am meisten seinerbedürfe. Valentine traf ihre Großmutter imBett; stumme Liebkosungen, schmerzhafte Herzenswallungen, unterbrochene Seufzer, brennende Tränenbegleiteten dieses Wiedersehen, dem am Arme ihres Gatten Frau von Villefortbeiwohnte, anscheinend voll Achtung für die unglückliche Witwe.

Nach einem Augenblick neigte sie sich an das Ohr ihres Gatten und sagte: Ich will mich mit Ihrer Erlaubnis entfernen, denn mein Anblick scheint Ihre Schwiegermutter noch mehr zubetrüben.

Frau von Saint‑Meran hörte dies und flüsterte Valentine zu: Ja, ja, sie mag gehen, aber dubleibst. Frau von Villefort entfernte sich, und Valentineblieballein amBette ihrer Großmutter; denn, bestürzt über diesen unvorhergesehenen Tod, folgte der Staatsanwalt seiner Frau.

Barrois war indessen wieder zu dem alten Noirtier hinausgegangen; dieser hatte den ganzen Lärm gehört und, wie gesagt, seinen Diener abgeschickt, um sich erkundigen zu lassen.

Bei seiner Rückkehrbefragte das lebendige und gescheite Auge denBoten. Ach! Herr, sagteBarrois, ein großes Unglück ist geschehen, Frau von Saint‑Meran ist angekommen, und ihr Gemahl ist tot.

Herr von Saint‑Meran und Noirtier waren nie durch enge Freundschaft verbunden gewesen; man weiß aber, welche Wirkung die Kunde vom Tode eines Altersgenossen stets auf einen Greis hervorbringt. Noirtier ließ das Haupt auf dieBrust sinken, dann schloß er das linke Auge.

Fräulein Valentine? sagteBarrois.

Noirtier machte einbejahendes Zeichen.

Sie ist auf demBall, wie der gnädige Herr wohl weiß, denn sie kam in großer Toilette hierher, um Abschied zu nehmen.

Noirtier schloß abermals das linke Auge.

Ja, Sie wollen sie sehen.

Der Greisbedeutete durch ein Zeichen, daß er es wünsche.

Nun, man wird sie ohne Zweifelbei Frau von Morcerf holen; ich erwarte ihre Rückkehr und sage ihr, sie möge heraufkommen. Ist es so recht?

Ja, antwortete der Gelähmte.

Barrois wartete, wie wir gesehen, auf Valentines Rückkehr und teilte ihr den Wunsch ihres Großvaters mit, und so ging sie auch zu Noirtier hinauf, als sie Frau von Saint‑Meran verließ, die, so aufgeregt sie auch war, endlich der Müdigkeit unterlag und in einen fieberhaften Schlaf verfiel. Man hatte in denBereich ihrer Hand einen Tisch gestellt, auf dem eine Flasche mit Orangeade, ihrem gewöhnlichen Getränk, und ein Glas standen.

Valentine umarmte den Greis, der sie so zärtlich anschaute, daß das Mädchen abermals Tränen, deren Quelle es versiegt glaubte, seinen Augen entstürzen fühlte.

Der Greis verharrtebei seinemBlicke.

Ja, ja, sagte Valentine, du willst mir sagen, ich habe immer noch einen guten Großvater?

Der Greisbedeutete durch ein Zeichen, daß er wirklich dies habe durch seinenBlick sagen wollen.

Ach! zum Glücke, versetzte Valentine. Mein Gott, was würde sonst aus mir werden?

Es war ein Uhr morgens. Barrois hatte Lust, sich niederzulegen, undbemerkte daher, nach einem so schmerzhaften Abendbedürfe jedermann der Ruhe. Der Greis wollte nicht sagen, seine Ruhe sei es, sein Kind anzuschauen. Er verabschiedete Valentine, der die Ermattung und der Schmerz in der Tat ein leidendes Aussehen verliehen.

Als sie am andern Morgenbei ihrer Großmutter eintrat, fand sie diese imBette; das Fieber hatte sich nicht gelegt, esbrannte im Gegenteil ein düsteres Feuer in den Augen der Marquise, und sie schien das Opfer einer heftigen Nervenaufregung zu sein.

Oh! mein Gott! gute Mama, leiden Sie mehr? rief Valentine, als sie diese Zeichen der Aufregung wahrnahm.

Nein, meine Tochter, nein, sagte Frau von Saint‑Meran; aber ich erwartete mit Ungeduld dein Erscheinen, um deinen Vater holen zu lassen.

Meinen Vater? fragte Valentine unruhig.

Ja, ich will ihn sprechen.

Valentine wagte es nicht, sich dem Wunsche ihrer Großmutter, dessen Ursache sie überdies nicht kannte, zu widersetzen, und einen Augenblick nachher trat Villefort ein.

Mein Herr, sagte Frau von Saint‑Meran, ohne irgend einen Eingang und alsbefürchtete sie, es könnte ihr an Zeit gebrechen, Sie haben mir geschrieben, es handle sich um die Verheiratung dieses Kindes?

Ja, gnädige Frau, antwortete Villefort, und es ist sogar mehr als ein Plan, es ist ein Abkommen.

Ihr Schwiegersohn heißt Franz d'Epinay?

Ja, gnädige Frau.

Er ist der Sohn des Generals d'Epinay, der zu den Unseren gehörte, und einige Tage, ehe der Usurpator von der Insel Elba zurückkehrte, ermordet wurde?

So ist es.

Diese Verbindung mit einer Enkelin des Jakobiners widerstrebt ihm nicht?

UnsereBürgerkämpfe sind glücklicherweise vorüber, meine Mutter, sagte Villefort; Herr d'Epinay warbei dem Tode seines Vatersbeinahe ein Kind; er kennt Herrn Noirtier sehr wenig, und wird ihn, wenn nicht mit Vergnügen, doch wenigstens mit Gleichgültigkeit sehen.

Ist er eine schickliche Partie?

In jederBeziehung, der junge Mann erfreut sich allgemeiner Achtung.

Während dieser ganzen Unterredung war Valentine stumm geblieben.

Wohl, mein Herr, sagte Frau von Saint‑Meran nach kurzem Nachdenken, Sie müssen sichbeeilen, denn ich habe wenig Zeit mehr zu leben.

Sie, gnädige Frau! Sie, gute Mutter! riefen gleichzeitig Herr von Villefort und Valentine.

Ich weiß, was ich sage, versetzte die Marquise; Sie müssen sich alsobeeilen, damit, da es die Mutter nicht vermag, wenigstens die Großmutter ihre Ehe segnen kann. Ichbin die einzige, die ihr noch von seiten meiner armen Renéebleibt, die Sie so schnell vergessen haben, mein Herr.

Ah! Siebedenken nicht, daß ich diesem armen Kinde eine Mutter geben mußte.

Eine Stiefmutter ist nie eine Mutter, mein Herr. Doch es handelt sich nicht darum, sondern um Valentine; lassen wir die Toten ruhen.

Alles dies wurde mit einer solchen Geschwindigkeit und mit einem Ausdrucke gesprochen, daß es schien, die Aufregung der Kranken gehe in ein Delirium über.

Es soll nach Ihrem Wunsche gehen, sagte Villefort, und dies um so mehr, als Ihr Wunsch mit dem meinigen im Einklang steht. Sobald Herr d'Epinay nach Paris zurückgekehrt ist…

Meine gute Mutter, unterbrach ihn Valentine, die Schicklichkeit, die neue Trauer… würden Sie eine Ehe unter so trüben Umständen schließen wollen?

Meine Tochter, versetzte rasch die Großmutter, keine solchen Alltagsreden, die schwache Geister hindern, auf solide Weise ihre Zukunft zu gründen. Ich habe auch am Sterbebette meiner Mutter geheiratet undbin darum nicht unglücklich gewesen.

Abermals dieser Todesgedanke! rief Villefort.

Abermals! immer… ich sage Ihnen, daß ich sterben werde, hören Sie? Nun wohl! ehe ich sterbe, will ich meinen Eidam sehen; ich will ihmbefehlen, meine Enkelin glücklich zu machen, ich will in seinen Augen lesen, ober mir gehorchen will; kurz, ich will ihn kennen lernen, um ihn aus der Tiefe meines Grabes aufzusuchen, wenn er nicht wäre, was er sein soll, wenn er nicht wäre, was er sein muß, fügte die alte Frau mit einem furchtbaren Ausdrucke hinzu.

Gnädige Frau, sagte Villefort, Sie müssen die aufgeregten Gedanken, die fast an Wahnsinn grenzen, von sich entfernen. Liegen die Toten einmal in ihren Gräbern, so schlafen sie darin, um sich nie mehr zu erheben.

Oh ja, ja, gute Mutter! beruhige dich, rief Valentine.

Und ich, mein Herr, sage Ihnen, daß es nicht so ist, wie Sie glauben. Diese Nacht lag ich in furchtbarem Schlafe; denn ich sah mich gleichsam schlummern, als obmeine Seelebereits über meinem Leibe schwebte. Meine Augen, die ich gewaltsam offen halten wollte, schlossen sich unwillkürlich, und dennoch, ich weiß wohl, daß Ihnen dies unmöglich vorkommen wird, Ihnen, mein Herr,… ich sah mit geschlossenen Augen, auf derselben Stelle, wo Sie sind, aus jener Ecke kommend, in der eine Tür ist, die nach dem Ankleidezimmer von Frau von Villefort geht, geräuschlos eine weiße Gestalt hervortreten.

Valentine stieß einen Schrei aus.

Das Fieber hat Sie aufgeregt, sagte Villefort.

Zweifeln Sie, wenn Sie wollen, doch ichbin dessen, was ich sage, gewiß. Ich sah eine weiße Gestalt; und als sollte ich durch das Zeugnis eines andern Sinnes nochbestärkt werden, hörte ich das Glas rücken, das hier auf dem Tische steht.

Oh! gute Mutter, das war ein Traum.

Es war so wenig ein Traum, daß ich die Hand nach der Glocke ausstreckte und daß der Schattenbei dieser Gebärde verschwand. Die Kammerfrau trat mit einem Lichte ein.

Doch sie hat niemand gesehen?

Die Geister zeigen sich nur denen, die sie sehen sollen, es war die Seele meines Mannes.

Oh, sagte Villefort, unwillkürlich in der innersten Tiefe erschüttert, gestatten Sie diesen finstern Gedanken keinen Einfluß; Sie werden mit uns leben, Sie werden lange Zeit glücklich, geliebt, geehrt leben, und wir werden machen, daß Sie vergessen…

Nie, nie, nie! rief die Marquise. Wann kommt Herr d'Epinay zurück?

Wir erwarten ihn jeden Augenblick.

Es ist gut; sobald er angekommen ist, benachrichtigen Sie mich. Eilen wir, eilen wir. Dann möchte ich auch gern einen Notar sehen, um mich zu vergewissern, daß unsere ganze Habe Valentine zukommt.

Oh! meine Mutter, murmelte Valentine, ihre Lippen auf die glühende Stirn der alten Frau drückend; Sie wollen mich also töten? Mein Gott! Sie haben Fieber, nicht einen Notar muß man rufen, sondern einen Arzt!

Einen Arzt! sagte sie, die Achseln zuckend, ich leide nicht, ich habe nur Durst.

Was trinken Sie denn, gute Mama?

Du weißt, wie immer meine Orangeade. Mein Glas steht dort, dort auf dem Tische, gibes mir, Valentine.

Valentine goß die Orangeade aus der Flasche in ein Glas, nahm dieses mit unwillkürlichem Schrecken und gabes ihrer Großmutter, denn es war dasselbe Glas, das, wie siebehauptete, der Schattenberührt hatte.

Die Marquise leerte das Glas auf einen Zug. Dann drehte sie sich auf ihrem Kopfkissen um und wiederholte: Den Notar! den Notar!

Herr von Villefort ging weg, Valentine setzte sich an dasBett ihrer Großmutter. Die Arme schien selbst sehr des Arztes zubedürfen, den sie der alten Frau empfohlen hatte. Eine flammenartige Rötebrannte auf ihren Wangen, ihr Atem war kurz und keuchend, und ihr Puls schlug, als obsie Fieber hätte. Der Grund war, daß sie an Maximilians Verzweiflung dachte, wenn er erfahren würde, daß Frau von Saint‑Meran, statt eine Verbündete zu sein, ohne ihn zu kennen, handelte, als obsie seine Feindin wäre.

Mehr als einmal dachte Valentine daran, ihrer Großmutter alles zu sagen, und sie würde keinen Augenblick gezögert haben, hätte Maximilian Morel Albert von Morcerf oder Raoul von Chateau‑Renaud geheißen. Aber Morel war von plebejischer Abkunft, und Valentine kannte die Verachtung, welche die stolze Marquise von Saint‑Meran gegen alles hegte, was nicht von Adel war. Ihr Geheimnis war also stets in dem Augenblick, wo es zu Tage treten wollte, durch die traurige Gewißheit zurückgedrängt worden, daß sie es unnötig preisgeben würde, und daß alles verloren wäre, wenn das Geheimnis einmal zur Kenntnis ihres Vaters oder ihrer Stiefmutter gelangt sei.

So vergingen etwa zwei Stunden, während deren Frau von Saint‑Meran in heißem, unruhigem Schlafe lag. Man meldete den Notar.

Obgleich diese Meldung sehr leise gemacht wurde, erhobsich doch Frau von Saint‑Meran aus ihrem Kopfkissen. Der Notar war an der Tür, er trat ein.

Geh, Valentine, sagte Frau von Saint‑Meran, und laß mich mit diesem Herrn allein.

Aber, meine Mutter…

Geh, geh.

Das Mädchen küßte ihre Großmutter auf die Stirn und entfernte sich, ihr Taschentuch vor den Augen. An der Tür fand Valentine den Kammerdiener, der ihr sagte, der Arzt warte im Salon.

Valentine ging rasch hinab. Der Arzt war ein Freund der Familie und zugleich einer der geschicktesten Männer der Zeit; er liebte Valentine, die er zur Welt hatte kommen sehen, ungemein. Erbesaß eine Tochter, ungefähr von dem Alter Valentines; doch diese Tochter war von einerbrustkranken Mutter geboren, und der Arzt lebte inbeständiger Angst um sein Kind.

Ah, sagte Valentine, mein lieber Herr d'Avrigny, wir erwarteten Sie mit Ungeduld. Doch vor allem, wiebefinden sich Madeleine und Antoinette?

Madeleine war Herrn d'Avrignys Tochter und Antoinette seine Nichte.

Herr d'Avrigny antwortete traurig lächelnd: Antoinette sehr gut, Madeleine ziemlich gut. Sie haben mich holen lassen, liebes Kind. Es ist weder Ihr Vater, noch Frau von Villefort krank? Was Sie selbstbetrifft, so sehe ich zwar, daß Sie sich von Ihren Nerven nicht freimachen können, glaube aber doch, daß Sie meiner sonst nichtbedürfen, als meines Rates, Ihre Einbildungskraft nicht so auf weitem Felde umherschweifen zu lassen.

Valentine errötete; Herr d'Avrigny triebdie Wissenschaft der Divinationbis zum Wunderbaren, denn er war einer von den Ärzten, welche das Körperliche stets auf geistigem Wegebehandeln.

Nein, sagte sie, man hat Sie meiner armen Großmutter wegen gerufen. Nicht wahr, Sie wissen, welch ein Unglück uns widerfahren ist?

Ich weiß es nicht.

Ach! sagte Valentine, ein Schluchzen unterdrückend, mein Großvater ist gestorben.

So plötzlich?

An einem Schlagfluß.

An einem Schlagfluß? wiederholte der Arzt.

Ja. Und meine arme Großmutter hat nun der Gedanke erfaßt, ihr Gatte, den sie nie verlassen, rufe sie, und sie werdebald mit ihm vereinigt sein. Oh! Herr d'Avrigny, gehen Sie zu meiner armen Großmutter, sie ist in ihrem Zimmer, mit dem Notar.

Gut, ich eile, und Herr Noirtier?

Immer derselbe, vollkommene Klarheit und Schärfe des Geistes, aber auch dieselbe Unbeweglichkeit, dieselbe Stummheit.

Und dieselbe Liebe für Sie, nicht wahr, mein gutes Kind?

Ja, erwiderte Valentine mit einem Seufzer, er liebt mich sehr.

Wer sollte Sie nicht lieben?

Valentine lächelte traurig.

Und woran leidet Ihre Großmutter?

An einer sonderbaren Nervenaufregung; ihr Schlaf ist unruhig und seltsam. Siebehauptete heute morgen, während ihres Schlummers schwebe ihre Seele über dem Körper, und das ist doch Delirium; sie versichert mir, sie habe einen Geist in ihr Zimmer treten sehen und das Geräusch gehört, das der Geist, als er ihr Glasberührte, gemacht habe.

Das ist sonderbar, äußerte der Doktor, ich wußte nicht, daß Frau von Saint‑Meran solchen Sinnestäuschungen unterworfen ist.

Es ist das erste Mal, daß ich sie so gesehen habe, entgegnete Valentine, und es wurde mir sehr angst um sie, denn ich hielt sie für wahnwitzig, und mein Vater, — Sie kennen meinen Vater gewiß als einen ernsten Mann, — nun selbst auf meinen Vater schien die Sache einen starken Eindruck hervorzubringen.

Wir werden sehen, versetzte Herr d'Avrigny; was Sie mir da sagen, kommt mir ganz eigentümlich vor.

Der Notar entfernte sich, und manbenachrichtigte Valentine, ihre Großmutter sei allein.

Gehen Sie mit hinauf? fragte der Doktor.

Oh! ich wage es nicht, sie hat mir verboten, Sie holen zu lassen! Dannbin ich, wie Sie sagen, selbst aufgeregt, fieberhaft, mißgestimmt; ich will einen Gang in den Garten machen, um mich zu erholen.

Der Doktor drückte Valentine die Hand, und während er zu ihrer Großmutter hinaufging, stieg sie die Freitreppe hinab.

Wirbrauchen nicht zu sagen, welcher Teil des Gartens Valentines Lieblingsspaziergang war. Nachdem sie zwei oder dreimal an demBlumenbeete hin und her gewandert, welches das Haus umgab, nachdem sie eine Rose gepflückt, um sie in ihren Gürtel oder in ihre Haare zu stecken, wandelte sie gewöhnlich unter der düsteren Allee fort, die zu derBank führte, und von derBankbegabsie sich zu dem Gitter.

Diesmal machte Valentine, ihrer Gewohnheit gemäß, mehrere Gänge unter denBlumen, doch ohne eine zu pflücken, ihr Herz war zu traurig; dann wandte sie sich der Allee zu. Während sie weiter schritt, kam es ihr vor, als hörte sie ihren Namen rufen. Siebliebstehen.

Da gelangte der Ton deutlicher au ihr Ohr, und sie erkannte Maximilians Stimme.

Das Versprechen

Es war wirklich Morel, der seit dem Tage vorher entsetzlich litt; mit dem gesteigerten Ahnungsvermögen des Liebenden hatte er sich gesagt, daß infolge dieser Rückkehr der Frau von Saint‑Meran und des Todes ihres Gemahlsbei Villefort etwas vorgehe, was für seine Liebe für Valentine vonBedeutung sei.

Als sie erschien, rief ihr Morel, und sie lief an das Gitter.

Sie zu dieser Stunde hier? fragte sie.

Ja, arme Freundin, antwortete Morel. Ich komme, um schlimme Nachrichten zu holen und zubringen.

Es ist also ein Unglückshaus! sagte Valentine; sprechen Sie, Maximilian; doch in der Tat, die Summe der Schmerzen ist schon groß genug.

Liebe Valentine, erwiderte Morel, der sich von seiner eigenen Aufregung zu erholen suchte, um auf die rechte Weise sprechen zu können, hören Sie mich wohl, ichbitte Sie; denn alles, was ich Ihnen sagen werde, ist ernst undbedeutungsvoll. Um welche Zeit gedenkt man Sie zu verheiraten?

Glauben Sie mir, ich will Ihnen nichts verbergen, Maximilian, sagte Valentine. Heute morgen sprach man von meiner Heirat, und meine Großmutter, auf die ich als sichere Stütze rechnete, hat sich nicht nur für diese Heirat erklärt, sondern wünscht sie sobeschleunigt, daß nur auf die Rückkehr des Herrn d'Epinay gewartet wird, um den Vertrag zu unterzeichnen.

Ein schmerzlicher Seufzer öffnete dieBrust des jungen Mannes; er schaute das Mädchen lange und traurig an und entgegnete sodann: Ah! es ist schrecklich, die Frau, die man liebt, ruhig sagen zu hören: Der Augenblick deiner Hinrichtung istbestimmt; sie wird in einigen Stunden stattfinden. Doch gleichviel, es muß so sein, und ich werde keinen Widerstand leisten. Gut also! da man, wie Sie sagen, nur Herrn d'Epinay erwartet, um den Vertrag zu unterzeichnen, da Sie den Tag nach seiner Ankunft ihm gehören sollen, so sind Sie morgen mit Herrn d'Epinay verbunden, denn er ist heute in Paris angekommen.

Valentine stieß einen Schrei aus.

Ich war vor einer Stundebei dem Grafen von Monte Christo, fuhr Morel fort, wir sprachen, er vom Schmerze Ihres Hauses, ich von Ihrem Schmerze, als plötzlich ein Wagen in den Hof rollte. Hören Sie, bis dahin glaubte ich nicht an Ahnungen, Valentine, aber nun muß ich wohl daran glauben: bei dem Geräusche dieses Wagens erfaßte mich ein Schauer; bald hörte ich Tritte auf der Treppe; der schallende Gang des Gouverneurs hatte Don Juan nicht so erschreckt, wie diese Tritte mich erschreckten. Endlich öffnete sich die Tür, Albert von Morcerf erschien zuerst, ich zweifelte an mir selbst, ich glaubte, ich hätte mich getäuscht, als hinter ihm ein anderer junger Mann kam, und der Graf ausrief: Ah! der HerrBaron von Epinay!

Alles, was ich an Kraft und Mut im Herzen habe, rief ich zu Hilfe, um mich zu fassen. Vielleicht erbleichte ich, vielleicht zitterte ich, aber sicherlichbliebein Lächeln auf meinen Lippen; doch fünf Minuten nachher ging ich weg, ohne ein Wort von dem gehört zu haben, was während dieser fünf Minuten gesprochen wurde; ich war vernichtet.

Armer Maximilian! murmelte Valentine.

Und hierbin ich nun, Valentine. Antworten Sie mir, wie einem Manne, dem Ihre Antwort das Leben oder den Tod geben wird: Was gedenken Sie zu tun?

Valentine neigte das Haupt; sie warbetäubt.

Hören Sie, sagte Morel, es ist nicht das erste Mal, daß Sie an die Lage denken, in die wir nun gekommen sind; sie ist ernst, sie ist dringend, sieberührt die äußerste Grenze. Ich glaube nicht, daß dies der Augenblick ist, um sich einem unfruchtbaren Schmerze hinzugeben; das mag gut für die sein, die inBequemlichkeit leiden und ihre Zähren mit Muße trinken wollen. Es gibt solche Menschen, und Gott wird ihnen im Himmel ohne Zweifel ihre Resignation hienieden anrechnen; aber wer den Willen in sich fühlt, zu kämpfen, verliert keine kostbare Zeit und gibt dem Schicksal den Schlag, den er von ihm empfangen hat, unmittelbar zurück. Sagen Sie, Valentine, ich komme, um Sie zu fragen: Ist es Ihr Wille, gegen das üble Geschick anzukämpfen?

Valentinebebte und schaute Morel mit großen, starren Augen an. Der Gedanke, ihrem Vater, ihrer Großmutter, ihrer ganzen Familie zu widerstehen, war ihr nicht einmal in den Kopf gekommen.

Was sagen Sie, Maximilian? Und was nennen Sie einen Kampf? Nennen Sie es lieber eine Ruchlosigkeit! Wie, ich sollte demBefehl meines Vaters, dem Wunsch meiner sterbenden Großmutter widerstehen? Das ist unmöglich.

Morel machte eineBewegung.

Sie sind ein zu edles Herz, um mich nicht zu verstehen, und Sie verstehen mich so gut, lieber Maximilian, daß ich sehe, Sie erwidern mir nichts. Ich kämpfen? Gott soll michbehüten! Nein, nein, ichbewahre meine ganze Kraft, um gegen mich selbst zu kämpfen und meine Zähren zu trinken, wie Sie sagen; meinen Vaterbekümmern, die letzten Augenblicke meiner Großmutter trüben… niemals!

Sie haben ganz recht, sagte Morel gelassen.

Mein Gott! wie Sie mir das sagen! rief Valentine verletzt.

Ich sage Ihnen das, wie ein Mann, der Siebewundert, mein Fräulein, erwiderte Maximilian.

Mein Fräulein! rief Valentine, mein Fräulein, oh der Selbstsüchtige! Er sieht mich in Verzweiflung und stellt sich, als ober mich nicht verstehe.

Sie täuschen sich, ich verstehe Sie im Gegenteil vollkommen. Sie wollen Herrn von Villefort nicht ärgern, Sie wollen der Marquise nicht ungehorsam sein und unterzeichnen daher morgen den Vertrag, der Sie mit Ihrem Gatten verbindet.

Mein Gott, kann ich denn etwas anderes tun?

Sie dürfen nicht an mich appellieren, mein Fräulein, denn ichbin ein schlechter Richter in dieser Sache, und meine Selbstsucht wird mich verblenden, antwortete Morel, dessen dumpfe Stimme, dessen geballte Fäuste eine wachsende Verzweiflung andeuteten.

Was hätten Sie mir denn vorzuschlagen? Vielleicht würden Sie mich geneigt finden, Ihren Vorschlag anzunehmen. Lassen Sie hören, antworten Sie! Es genügt nicht, zu sagen: Sie machen die Sache schlecht; man muß auch einen Rat geben.

Sprechen Sie im Ernst, Valentine, soll ich Ihnen diesen Rat geben?

Gewiß, lieber Max, denn wenn er gut ist, werde ich ihnbefolgen; Sie wissen, ichbin treu in meiner Zuneigung.

Valentine, sagte Morel, indem er ein etwas abgelöstesBrett vollendsbeiseite schob, geben Sie mir Ihre Hand alsBeweis, daß Sie mir meinen Grimm verzeihen; sehen Sie, mein Kopf ist ganz verstört, und seit einer Stunde haben die wahnsinnigsten Gedanken meinen Geist durchkreuzt. Oh! wenn Sie meinen Rat zurückweisen…

Das Mädchen schlug die Augen zum Himmel auf und stieß einen Seufzer aus.

Ichbin frei, fuhr Morel fort, ichbin reich genug für unsbeide; ich schwöre Ihnen vor Gott, daß Sie meine Frau sein werden, ehe meine Lippen Ihre Stirnberührt haben.

Sie lassen mich zittern! rief das Mädchen.

Folgen Sie mir, sagte Morel; ich führe Sie zu meiner Schwester, die würdig ist, Ihre Schwester zu sein. Wir schiffen uns nach Algier, nach England oder nach Amerika ein, wenn Sie nicht lieber wollen, daß wir uns in irgend eine Provinz zurückziehen, von wo wir erst nach Paris zurückkehren, wenn unsere Freunde den Widerstand Ihrer Familiebesiegt haben.

Valentine schüttelte den Kopf und erwiderte: Ich sah das voraus; es ist der Rat eines Wahnsinnigen, und ich wäre noch viel wahnsinniger, als Sie, wenn ich Sie nicht auf der Stelle durch das einzige Wort: Unmöglich, Morel, unmöglich, zurückwiese.

Sie werden also Ihrem Schicksale folgen, ohne auch nur einen Versuch des Widerstandes zu machen? sagte Morel düster.

Ja, und sollte ich darüber sterben.

Wohl! Valentine, versetzte Maximilian, ich wiederhole Ihnen noch einmal, Sie haben recht. In der Tat, ichbin ein Narr, und Siebeweisen mir, daß die Leidenschaft den Geist verblendet. Ich danke Ihnen, die Sie ohne Leidenschaft urteilen. Es ist also abgemacht; morgen sind Sie unwiderruflich mit Herrn Franz d'Epinay verlobt, und zwar durch Ihren eigenen Willen.

Noch einmal sage ich Ihnen, Maximilian, Siebringen mich in Verzweiflung, noch einmal drehen Sie den Dolch in der Wunde um. Was würden Sie tun, wenn Ihre Schwester auf einen Rat hörte, wie der ist, den Sie mir geben?

Mein Fräulein, erwiderte Morel mitbitterm Lächeln, ichbin ein Selbstsüchtiger, wie Sie gesagt haben, und in meiner Eigenschaft als Selbstsüchtiger denke ich nicht an das, was andere in meiner Lage tun würden, sondern an das, was ich zu tun habe. Ich denke, daß ich Sie seit einem Jahre kenne, daß ich von dem Tage an, wo ich Sie kennen gelernt habe, all mein Glück auf Ihre Liebe gesetzt habe; daß ein Tag gekommen ist, wo Sie mir sagten, Sie lieben mich; daß ich von diesem Tage an meine Zukunft nur in IhremBesitz gesehen habe, denn IhrBesitz war mein Leben. Nun denke ich nichts mehr; ich sage mir nur, ich hatte den Himmel zu gewinnen geglaubt und habe ihn verloren. Es kommt ja alle Tage vor, daß ein Spieler nicht nur das verliert, was er hat, sondern auch das, was er nicht hat.

Morel sprach diese Worte mit vollkommener Ruhe. Valentine schaute ihn einige Sekunden lang mit ihren großen, forschenden Augen an und suchte ihre Unruhe zu verbergen.

Aber was wollen Sie denn tun? fragte sie.

Ich werde die Ehre haben, Ihnen Lebewohl zu sagen, mein Fräulein, und wünsche Ihnen ein so ruhiges, so glückliches Leben, daß nicht einmal Platz darin ist für das Andenken an mich.

Oh! murmelte Valentine.

Gottbefohlen, Valentine, leben Sie wohl! sagte Morel, sich verbeugend.

Wohin gehen Sie? rief Valentine, ihre Hand durch das Gitter ausstreckend und Maximilian am Rock fassend, indem sie aus ihrer eigenen inneren Aufregung schloß, daß die Ruhe ihres Geliebten nicht wahr sein konnte; wohin gehen Sie?

Ich will michbemühen, keine neue Störung in Ihre Familie zubringen und einBeispiel geben für alle ehrlichen und ergebenen Menschen in meiner Lage.

Ehe Sie mich verlassen, sagen Sie mir, was Sie zu tun gedenken, Maximilian.

Der junge Mann lächelte traurig.

Oh! sprechen Sie, sprechen Sie, ichbitte Sie!

Hat sich Ihr Entschluß geändert, Valentine?

Er kann sich leider nicht ändern! Sie wissen das wohl? rief das junge Mädchen.

Also Gottbefohlen, Valentine.

Valentine rüttelte am Gitter mit einer Kraft, deren man sie nicht hätte fähig halten sollen, und als Morel sich entfernte, streckte sie ihre Hände hindurch, rang sie und rief: Was werden Sie tun? Ich will es wissen, wohin gehen Sie?

Oh! seien Sie unbesorgt, sagte Maximilian, drei Schritte von der Türe still stehend, es ist nicht meine Absicht, einen andern Menschen für die Strenge verantwortlich zu machen, die das Schicksal gegen mich übt. Ein anderer würde Ihnen drohen, er werde Herrn Franz aufsuchen, ihn herausfordern, um sich mit ihm zu schlagen. Das alles wäre wahnsinnig. Was hat Franz mit dieser ganzen Geschichte zu tun? Er hat mich heute morgen zum ersten Male gesehen, er hatbereits vergessen, daß er mich gesehen; er wußte nicht einmal, daß ich lebte, als Ihrebeiden Familien übereinkamen, daß Sie einander gehören sollten. Ich habe es also nicht mit ihm zu tun und schwöre Ihnen, daß ich mich durchaus nicht an ihn halten werde.

An wen wollen Sie sich dann halten? An mich?

An Sie, Valentine! Oh, Gott soll michbewahren! Die Frau ist geheiligt, die Frau, die man liebt, ist heilig.

Also an Ihre eigene Person, Unglücklicher!

Nicht wahr, ichbin der Schuldige?

Maximilian, Maximilian, kommen Sie hierher, ich will es haben! rief Valentine.

Maximilian näherte sich mit sanftem Lächeln, und, abgesehen von seinerBlässe, hätte man glauben können, erbefinde sich in seinem gewöhnlichen Zustande.

Hören Sie mich, meine liebe, meine angebetete Valentine, sagte er mit seiner wohlklingenden, ernsten Stimme, Leute wie wir, die nie einen Gedanken gehegt haben, worüber sie hätten vor der Welt, vor ihren Eltern, oder vor Gott erröten müssen; Leute wie wir können einander im Herzen lesen, wie in einem offenenBuche. Ich habe nie einen Roman gespielt, ichbin nie ein schwermütiger Held gewesen, ich trete nicht als Manfred oder als Antonius auf; doch ohne Worte, ohneBeteuerungen, ohne Schwüre hatte ich mein Leben auf Sie gesetzt; Sie tun nicht das gleiche; und Sie haben recht, so zu handeln, das habe ich Ihnen gesagt und wiederhole es. Aber Sie gänzlich verlieren, kostet mich das Leben. Sobald Sie sich von mir entfernen, Valentine, bleibe ich allein auf der Welt. Meine Schwester ist glücklichbei ihrem Gatten; niemandbedarf also auf Erden meines unnütz gewordenen Daseins. Hören Sie, was ich tun werde: ich wartebis zur letzten Sekunde Ihrer Verheiratung, denn ich will keinen Schatten von Hoffnung verlieren, den mir ein unerwarteter Zwischenfallbringen könnte… Herr Franz d'Epinay kannbis dahin sterben, in dem Augenblick, wo Sie sich dem Altar nähern, kann derBlitz ihn treffen… Alles scheint dem zum Tode Verurteilten glaublich, und die Wunder kehren für ihn in denBereich des Möglichen zurück, sobald es sich um die Rettung seines Lebens handelt. Ich werde alsobis zum letzten Augenblick warten, sage ich, und erst, wenn mein Unglück gewiß, unwiderruflich, ohne Hoffnung ist, schreibe ich einen vertraulichenBrief an meinen Schwager, einen andern an den Polizeipräfekten, um ihnen von meinem Vorhaben Nachricht zu geben, und zerschmettere mir in irgend einem versteckten Winkel die Hirnschale, so wahr ich der Sohn des ehrlichsten Mannesbin, der je in Frankreich gelebt hat!

Ein krampfhaftes Zittern schüttelte Valentines Glieder. Sie ließ das Gitter los, das sie mitbeiden Händen hielt, ihre Arme fielen an ihrer Seite herab, und zwei schwere Tränen rollten über ihre Wangen. Der junge Mannbliebdüster und entschlossen vor ihr stehen.

Oh, Mitleid, Mitleid! Nicht wahr, Sie werden leben? rief Valentine.

Nein, bei meiner Ehre! entgegnete Maximilian; doch was ist Ihnen daran gelegen? Sie haben Ihre Pflicht getan, und esbleibt Ihnen Ihr Gewissen.

Valentine fiel, ihrbrechendes Herz zusammenpressend, auf die Knie und rief: Maximilian, Maximilian, mein Freund, meinBruder auf Erden, mein wahrer Gatte im Himmel, mache es wie ich, ichbitte dich, lebe mit den Leiden, wir werden eines Tages vereinigt sein.

Leben Sie wohl, Valentine! wiederholte Morel.

Mein Gott! sagte Valentine, ihre Hände mit einem erhabenen Ausdruck zum Himmel erhebend, du siehst, ich habe alles getan, was ich konnte, um eine gehorsame Tochter zubleiben; ich habe gebetet, ich habe gefleht, ich habe geweint, er hörte weder auf meineBitten, noch auf mein Flehen, noch auf meine Tränen. Wohl! fuhr sie fort, indem sie ihre Tränen trocknete und ihre Festigkeit wiedergewann, wohl! ich will nicht vor Gewissensbissen sterben, ich will lieber vor Scham sterben. Sie werden leben, Maximilian, und ich werde niemand angehören, als Ihnen. Zu welcher Stunde? In welchem Augenblick? Auf der Stelle? Sprechen Sie, befehlen Sie, ichbinbereit.

Morel, der abermals einige Schritte gemacht hatte, um sich zu entfernen, kehrte wieder zurück, streckte, bleich vor Freude, mit überwallendem Herzen, seine Hände Valentine entgegen und rief: Valentine, teure Freundin, Sie müssen nicht so mit mir sprechen, oder Sie geben mir den Tod. Warum sollte ich Sie der Gewalt verdanken, wenn Sie mich lieben, wie ich Sie liebe? Zwingen Sie mich nur aus Menschlichkeit, zu leben? Dann will ich lieber sterben.

Schließlich, wer liebt mich auf der Welt? murmelte Valentine. Er. Wer hat mich in allen meinen Schmerzen getröstet? Er. Auf wem ruhen alle meine Hoffnungen? Auf wem haftet mein irrerBlick? Auf wem rastet meinblutendes Herz? Auf ihm, auf ihm, immer auf ihm. Wohl! du hast recht, Maximilian, ich werde dir folgen, ich werde das väterliche Haus, ich werde alles verlassen. Oh! ich Undankbare, rief Valentine schluchzend, alles, sogar meinen guten Großvater, den ich völlig vergaß.

Nein, entgegnete Maximilian, du wirst ihn nicht verlassen. Herr Noirtier schien, wie du sagst, Sympathie für mich zu fühlen; Wohl, ehe du fliehst, teilst du ihm alles mit; du machst dir vor Gott aus seiner Einwilligung einen Schild. Sobald wir dann verheiratet sind, kommt er zu uns und hat statt eines Kindes zwei. Du hast mir erzählt, wie du mit ihm sprichst, und wie er antwortet; ich werde rasch diese rührende Zeichensprache lernen; oh! Valentine, ich schwöre dir, statt der Verzweiflung, die uns sonst erwartete, verspreche ich dir das Glück.

Oh! sieh, Maximilian, sieh, wie groß die Gewalt ist, die du über mich ausübst; du läßt michbeinahe an das glauben, was du sagst, und dennoch ist das, was du sagst, wahnsinnig; denn mein Vater wird mich verfluchen, ich kenne ihn, mit seinem unbeugsamen Herzen wird er mir nie vergeben. Höre mich, Maximilian, wenn ich durch List, durchBitten, durch einen Zufall, was weiß ich? kurz, durch irgend ein Mittel die Heirat verzögern kann, nicht wahr, dann wartest du?

Ja, ich schwöre es dir, sobald du mir schwörst, daß diese verhaßte Heirat nie stattfinden wird, daß du, schleppt man dich vor den öffentlichenBeamten, vor den Priester, stets nein sagen wirst.

Ich schwöre es dir, Maximilian, bei dem, was ich Heiligstes auf Erden hatte, bei meiner Mutter.

Warten wir also, sagte Morel.

Ja, warten wir, versetzte Valentine, welche dieses Wort kaum atmete; es gibt so viele Dinge, welche Unglückliche, wie wir sind, retten können.

Ichbaue auf dich, Valentine, sagte Morel, alles, was du tun wirst, ist wohlgetan; wenn man jedoch deinenBitten kein Gehör schenkt, wenn dein Vater, wenn Frau von Saint‑Meran verlangen, daß man Herrn d'Epinay rufe, um den Vertrag zu unterzeichnen…

So hast du mein Wort, Maximilian.

Statt zu unterzeichnen…

Komme ich zu dir, und wir fliehen; aberbis dahin wollen wir Gott nicht mehr versuchen, Morel, wir wollen uns nicht sehen, denn es ist ein Wunder, eine Gnade der Vorsehung, daß wir noch nicht überrascht worden sind. Würde man uns aber entdecken, wüßte man, wie wir uns sehen, so hätten wir kein Mittel mehr.

Du hast recht, Valentine, aber wie erfahren…

Durch den Notar, Herrn Deschamps.

Ich kenne ihn.

Und durch mich selbst. Glaube mir, ich werde dir schreiben. Mein Gott! Maximilian, diese Heirat ist mir so verhaßt, wie dir.

Gut! Gut! ich danke, meine angebetete Valentine. Nun ist alles abgemacht. Sobald ich die Stunde weiß, eile ich hierher, du springst über diese Mauer in meine Arme, es wird dir und mir nicht schwer fallen; ein Wagen erwartet uns an der Tür des Geheges, du steigst mit mir ein, ich führe dich zu meiner Schwester. Dortbleiben wir still oder schlagen Lärm, wie du es wünschest, und werden dasBewußtsein unserer Kraft und unseres Willens haben und uns nicht erwürgen lassen wie das Lamm, das sich nur durch einen Seufzer verteidigt.

Es sei so, ich sage dir ebenfalls: Was du tust, das ist wohl getan. Bist du zufrieden mit deiner Frau? sagte das junge Mädchen traurig.

Meine angebetete Valentine, ja sagen, heißt sehr wenig sagen.

Sage es immerhin!

Valentine hatte sich, oder vielmehr ihre Lippen dem Gitter genähert, und ihre Worte schlüpften mit ihrem duftenden Hauch auf Morels Lippen, der seinen Mund fest auf die andere Seite der kalten, unerbittlichen Scheidewand drückte.

Auf Wiedersehen, flüsterte Valentine, sich diesem Glücke entreißend, auf Wiedersehen.

Ichbekomme einenBrief von dir?

Ja.

Ich danke dir, Teure, auf Wiedersehen.

Das Geräusch eines unschuldigen und verlorenen Kusses erscholl, und Valentine entfloh unter die Linden. Morel horchte auf die letzten Töne ihres an den Hecken streifenden Kleides und ihrer Füße, die den Sand knirschen ließen, schlug dann die Augen mit einem unaussprechlichen Lächeln zum Himmel auf, der es gestattete, daß er so geliebt wurde, und verschwand ebenfalls.

Der junge Mann kehrte nach Hause zurück und wartete den ganzen Tag hindurch und den nächsten Tag, ohne etwas zu erhalten. Erst am zweiten Tage, gegen zehn Uhr morgens, als er eben zu Herrn Deschamps, dem Notar, gehen wollte, empfing er durch die Post einBriefchen, das er sogleich als von Valentine herrührend, erkannte, obgleich er ihre Handschrift nie gesehen hatte.

Es lautete folgendermaßen:

Tränen, Bitten und Flehen, nichts hat gefruchtet. Gesternbin ich zwei Stunden lang in der Kirche Saint‑Philippe du Roule gewesen und habe zwei Stunden aus dem Grunde meiner Seele zu Gott gebetet? Gott scheint mich nicht erhören zu wollen; die Unterzeichnung des Vertrags ist auf neun Uhr heute abend festgesetzt.

Ich habe nur ein Wort, Morel, wie ich nur ein Herz habe, und dieses Wort ist dir verpfändet, dieses Herz gehört dir. Heute abend also, um drei Viertel auf neun Uhr, am Gitter.

DeineBraut Valentine von Villefort.

P. S.

Mit meiner Großmutter geht es immer schlechter, gestern ist ihr gereizter Zustand in Delirium übergegangen, heute ist das Deliriumbeinahe Wahnsinn.

Nicht wahr, du wirst mich sehr liebhaben, Morel, damit ich vergessen kann, daß ich sie in diesem Zustande verlassen habe?

Ich glaube, man verhehlt vor Großpapa, daß die Unterzeichnung des Vertrags heute stattfinden soll.

Morelbegnügte sich nicht mit den Nachrichten von Valentine, er ging zum Notar, und dieserbestätigte ihm, die Unterzeichnung des Vertrags sei auf neun Uhr abendsbestimmt. Dannbegaber sich zu Monte Christo. Hier erfuhr er wieder am meisten. Franz warbei dem Grafen gewesen, um ihm die Feierlichkeit anzukündigen; Frau von Villefort hatte ihn in einemBriefe um Entschuldigung gebeten, daß sie ihn nicht einlade; doch es werde durch den Tod des Herrn von Saint‑Meran und durch den Zustand, in dem sich seine Witwebefinde, über ihr Haus ein Schleier der Traurigkeit geworfen, der die Stirn des Grafen, dem sie jegliches Glück wünsche, nicht verdüstern solle. Am Abend war Franz der Frau von Saint‑Meran vorgestellt worden, die aus Anlaß dieser Vorstellung dasBett verließ, sich dann aber sogleich wieder niederlegte.

Morelbefand sich, wie sich dies leichtbegreifen läßt, in einem so aufgeregten Zustande, daß es dem durchdringenden Auge des Grafen nicht entgehen konnte; Monte Christo war auch freundlicher und liebevoller gegen ihn, als je, so liebevoll, daß Maximilian wiederholt auf dem Punkte war, ihm alles zu sagen. Doch er erinnerte sich des förmlichen Versprechens, das er Valentine gegeben hatte, und sein Geheimnisbliebim Grunde seines Herzens.

Der junge Mann las an diesem Tag zwanzigmal ValentinesBrief. Es war das erste Mal, daß sie ihm schrieb, und aus welcher Veranlassung! So oft er ihre Worte wieder las, erneuerte erbei sich den Schwur, Valentine glücklich zu machen. Welche Macht erlangt nicht ein junges Mädchen, das einen so mutigen Entschluß faßt, und welche Ergebenheit verdient es nichtbei dem, welchem es alles geopfert hat! Muß es nicht in der Tat für seinen Geliebten der erste und würdigste Gegenstand seiner Verehrung sein! Denn es ist zugleich die Königin und die Frau, und man hat nicht genug an einer Seele, um einem solchen Mädchen zu danken und es zu lieben.

Morel dachte mit unaussprechlicher Unruhe an den Augenblick, wo Valentine zu ihm kommen und sagen würde: Hierbin ich, Maximilian, nimm mich! Er hatte den ganzen Fluchtplan entworfen und alles vorbereitet. Zwei Leitern waren im Verschlag des Geheges verborgen; ein Wagen, den er selbst fahren wollte, standbereit; kein Diener, kein Licht sollte Verratbringen können; erst an der Mündung der ersten Straße sollten die Laternen angezündet werden.

Von Zeit zu Zeit durchlief ein Schauer Morels Leib; er dachte an den Augenblick, wo er Valentinebeim Herabsteigen von der Mauerbeschützen, wo er zitternd in seinen Armen die fühlen würde, der erbisher nur die Hand gedrückt und die Fingerspitzen geküßt hatte.

Als aber der Nachmittag kam, als die Stunde immer näher herannahte, fühlte Morel dasBedürfnis, allein zu sein; seinBlut kochte, die einfachsten Fragen, schon die Stimme eines Freundes, hätten ihn gereizt, er schloß sich in seiner Wohnung ein und suchte zu lesen. Doch seinBlick schlüpfte über dieBlätter hin, ohne etwas davon zu verstehen, und er warf am Ende dasBuch weg, um zum zweiten Male seinen Plan durchzugehen und die Flucht sich in allen Einzelheiten vorzustellen. — Endlich nahte die Stunde.

Noch nie hat ein Verliebter die Uhren friedlich ihren Weg gehen lassen; Morel plagte die seinigen so sehr, daß eine schließlich um sieben Uhr halbneun Uhr zeigte. Dann sagte er sich, es sei Zeit aufzubrechen, da neun Uhr ja wirklich die für die Unterzeichnung des Vertragsbestimmte Stunde sei, doch aller Wahrscheinlichkeit nach würde Valentine diese Stunde gar nicht abwarten. Morel trat folglich, nachdem er nach seiner Pendeluhr um halbneun Uhr aufgebrochen war, in das Gehege, als es vom nahen Kirchturm acht Uhr schlug.

Pferd und Wagen verbarg er hinter dem in Trümmern liegenden Mauerwerk, in dem er sich selbst zu verstecken pflegte. Allmählich neigte sich der Tag, und dasBlätterwerk des Gartens drängte sich in dichteBüschel von undurchsichtigem Schwarz zusammen. Morel trat aus seinem Versteck hervor und schaute durch das Loch im Gitter; es war noch niemand anwesend.

Es schlug halbneun Uhr. Abermals verging darauf eine halbe Stunde mit Warten. Morel schritt auf und abund hielt in immer schneller sich folgenden Zwischenräumen sein Auge an dieBretter. Der Garten wurde immer finsterer, doch vergebens suchte er in der Dunkelheit das weiße Kleid, umsonst horchte er in der Stille auf das Geräusch der Tritte.

Das Haus des Staatsanwalts, das man durch das Laubwerk erblickte, bliebdüster, und nichts deutete an, daß sich dort ein so wichtiges Ereignis, wie die Unterzeichnung eines Heiratsvertrages abspielen sollte.

Morel sah auf seine Taschenuhr, sie zeigte drei Viertel auf zehn Uhr; doch fast in demselben Augenblick schlug die schon öfters gehörte Kirchenuhr halbzehn Uhr. Bereits eine halbe Stunde war über die von Valentine selbst festgesetzte Zeit hinaus verflossen. Sie hatte auf neun Uhr zugesagt, eher früher, als später. Es waren furchtbare Augenblicke für das Herz des jungen Mannes, auf das jede Sekunde wie einbleierner Hammer fiel.

Das leiseste Geräusch derBlätter, das schwächste Wehen des Windes spannte sein Ohr und ließ den Schweiß auf seine Stirn treten; bebend rückte er seine Leiter zurecht und setzte, um keine Zeit zu verlieren, den Fuß auf die erste Sprosse. Mitten unter diesem Wechsel von Furcht und Hoffnung, mitten unter diesen angstvollen Schlägen seines Herzens verkündete die Kirchenuhr die zehnte Stunde.

Oh! es ist unmöglich daß die Unterzeichnung eines Vertrages so lange dauert, wenn nicht unvorhergesehene Ereignisse eingetreten sind, murmelte Maximilian voll Schrecken; ich habe alles erwogen, ich habe die Zeit genauberechnet, welche diese Förmlichkeitenbeanspruchen… es muß etwas vorgefallen sein.

Dann ging erbald in größter Aufregung an dem Gitter auf und ab, bald kehrte er zurück und stützte seine glühende Stirn an das kalte Eisen. War Valentine nach dem Vertrage ohnmächtig geworden, oder hatte man sie in ihrer Flucht aufgehalten? Dies waren diebeiden einzigen, gleich verzweiflungsvollen Möglichkeiten, die er sich vorstellen konnte.

Vielleicht hatte sie mitten auf der Flucht die Kraft verlassen, und sie war in irgend einer Allee in Ohnmacht gefallen.

Oh! wenn dem so ist, rief er, von seiner Leiter herabspringend, so verliere ich sie durch meine eigene Schuld!

Dieser Gedanke ließ ihn nicht mehr los und haftete in seinem Geiste mit einerBeharrlichkeit, die schließlich den Zweifel zur Gewißheit werden ließ. Seine Augen, welche die zunehmende Dunkelheit zu durchdringen suchten, glaubten im Schatten einer Allee einen liegenden Gegenstand zubemerken; er rief endlich laut, und es kam ihm vor, als obeine unartikulierte Klage zu ihm dringe.

Endlich hörte er halbelf schlagen, er konnte sich unmöglich durch die Hoffnung länger hinhalten lassen, seine Schläfen schlugen mit aller Gewalt, Wolken zogen vor seinen Augen vorüber. Da erkletterte er die Mauer und sprang auf der anderen Seite hinab.

Maximilian war durch Einsteigen in fremdes Gebiet gedrungen; erbedachte die Folgen, die eine solche Handlung haben könnte; doch er war nicht so weit gegangen, um zurückzuweichen. Er strich zuerst an der Mauer hin, kam dann mit einem Sprunge durch die Allee und drang in ein Gebüsch. In einem Augenblick war er am Ende des Gebüsches. Von hier aus konnte er das Haus überschauen. Er sah nunbestätigt, was erbereits vermutet hatte; statt der Lichter, die, wie es an feierlichen Tagen üblich ist, an allen Fenstern hätten erglänzen sollen, sah er nichts als eine graue Masse, die noch durch einen großen Schatten verschleiert war, den eine ungeheure, den Mond verhüllende Wolke herabwarf.

Ein Licht lief gleichsam wiebestürzt an drei Fenstern des ersten Stockes hin. Diese drei Fenster gehörten zur Wohnung der Frau von Saint‑Meran. Ein anderes Lichtbliebunbeweglich hinter roten Vorhängen. Diese roten Vorhänge verhüllten das Fenster des Schlafzimmers der Frau von Villefort.

Morel erriet alles. So oft hatte er, um Valentine in Gedanken zu jeder Stunde zu folgen, sich den Plan dieses Hauses vorgestellt, daß er es, ohne darin gewesen zu sein, genau kannte. Der junge Mann war noch mehr erschrocken über diese Dunkelheit und dieses Schweigen, als vorher über die Abwesenheit Valentines. Ganzbestürzt, beinahe wahnsinnig vor Schmerz, entschlossen, allem zu trotzen, um Valentine wiederzusehen und sich Gewißheit über das Unglück, das er ahnte, zu verschaffen, trat erbis an den Saum des Gebüsches und schickte sich an, so rasch als möglich den ganz freiliegendenBlumengarten zu durchschreiten, als ein zwar noch entfernter, aber doch vom Winde zu ihm getragener Stimmenton an sein Ohr drang. Bei diesem Geräusch machte er einen Schritt rückwärts in dasBlätterwerk hinein, versteckte sich darin völlig undbliebstumm und unbeweglich. Sein Entschluß war gefaßt; war es nur Valentine, so wollte er ihr zurufen; kam sie inBegleitung einer anderen Person, so konnte er sie wenigstens sehen und sich versichern, daß ihr kein Unglückbegegnet sei; waren es aber fremde Personen, so konnte er vielleicht ein paar Worte von ihrem Gespräche auffangen und sich das unbegreifliche Rätsel erklären.

Der Mond trat nun aus der Wolke hervor, die ihn verbarg, und Morel sah an der Tür Herrn von Villefort, begleitet von einem Manne in schwarzem Anzuge, erscheinen. Sie gingen die Stufen herabund auf das Gebüsch zu; kaum hatten sie vier Schritte gemacht, als Morel den Doktor d'Avrigny erkannte.

Sobald der junge Mann diesebeiden kommen sah, wich er unwillkürlich noch weiter zurück, bis er an den Stamm eines Ahornbaumes stieß, der den Mittelpunkt einerBaumgruppebildete; hier war er genötigt, stehen zubleiben. Bald hörte der Sand auf, unter den Tritten derbeiden Männer zu knirschen. Ach, sagte der Staatsanwalt, der Himmel erklärt sich offen gegen unser Haus. Welch ein furchtbarer Tod! welch ein Donnerschlag! Versuchen Sie es nicht, mich zu trösten! Ach! es gibt keinen Trost für ein solches Unglück; die Wunde ist zu heftig und zu tief! Tot! Tot!

Ein kalter Schweiß ließ die Stirn des jungen Mannes eisig werden und seine Zähne klappern. Wer war in dem Hause gestorben, das Villefort selbst ein verfluchtes nannte?

Mein lieber Herr von Villefort, antwortete der Arzt mit einem Tone, der den Schrecken des jungen Mannes verdoppelte, ich habe Sie durchaus nicht hierher geführt, um Sie zu trösten, ganz im Gegenteil.

Was wollen Sie mir sagen? fragte der Staatsanwaltbestürzt.

Ich will Ihnen sagen, daß hinter dem Unglück, das Siebetroffen hat, sich ein anderes, vielleicht noch größeres verbirgt.

Oh! mein Gott! murmelte Villefort, die Hände faltend, was werde ich hören?

Sind wir ganz allein, mein Freund?

Ja, ganz allein. Doch was sollen diese Vorsichtsmaßregelnbedeuten?

Siebedeuten, daß ich Ihnen eine furchtbare Mitteilung zu machen habe, sagte der Doktor; setzen wir uns!

Villefort fiel mehr auf eineBank, als er sich darauf setzte. Der Doktorblieb, eine Hand auf seine Schulter legend, vor ihm stehen.

Vor Schrecken außer sich, hielt Morel mit einer Hand seine Stirn, während er mit der andern sein Herz preßte, daß man es nicht schlagen höre.

Reden Sie, Doktor, ich höre, sagte Villefort; schlagen Sie, ichbin auf alles gefaßt.

Frau von Saint‑Meran war allerdings sehr alt, aber sie erfreute sich einer vortrefflichen Gesundheit.

Morel atmete zum ersten Male seit zehn Minuten.

Der Kummer hat sie getötet, sagte Villefort; ja, der Kummer, Doktor! Die Gewohnheit, seit vierzig Jahren mit dem Marquis zu leben…

Es ist nicht der Kummer, mein lieber Villefort, entgegnete der Doktor; der Kummer kann töten, obgleich die Fälle selten sind, aber er tötet nicht in einem Tage, er tötet nicht in einer Stunde, er tötet nicht in zehn Minuten. Villefort antwortete nicht; er hobdas Haupt empor und schaute den Doktor mit erschrockenen Augen an. Sie sind während des Todeskampfes da geblieben? fragte Herr d'Avrigny.

Gewiß; Sie sagten mir leise, ich sollte mich nicht entfernen.

Haben Sie die Symptome des Übels wahrgenommen, dem Frau von Saint‑Meran erlegen ist?

Sicher. Frau von Saint‑Meran hat in Zwischenräumen von einigen Minuten drei aufeinander folgende schwere Anfälle gehabt. Als Sie ankamen, keuchte siebereits seit mehreren Minuten; sie hatte sodann eine Krise, die ich für einen Nervenanfall hielt; doch ich fing an, wirklich zu erschrecken, als ich gewahrte, wie sie sich auf ihremBette mit starren Gliedern und steifem Halse erhob. Da erkannte ich an ihrem Gesichte, daß die Sache ernster sein mußte, als ich glaubte. Als die Krise vorüber war, suchte ich in Ihren Augen zu lesen, aber vergebens. Sie hielten den Puls, Sie zählten die Schläge, und die zweite Krise trat ein, ehe Sie mich wieder anblickten. Diese zweite Krise war furchtbarer als die erste, die Nervenzuckungen wiederholten sich, der Mund zog sich zusammen und wurde ganzblau. Bei der dritten verschied sie. Ich hattebereitsbei der ersten den Starrkrampf erkannt; Siebestätigten mich in dieser Meinung.

Ja, vor allen Anwesenden, versetzte der Doktor; doch nun sind wir allein…

Mein Gott, was wollen Sie mir sagen?

Daß die Symptome des Starrkrampfes und der Vergiftung durch vegetabilische Stoffe ganz dieselben sind.

Herr von Villefort sprang auf, doch nach einem Augenblick der Unbeweglichkeit und des Stillschweigens fiel er wieder auf seineBank und sagte: Oh! mein Gott, Doktor, bedenken Sie auch, was Sie sagen?

Morel wußte nicht, ober träumte oder wachte.

Hören Sie, sagte der Doktor, ichbin mir des Gewichtes meiner Erklärung und des Charakters des Mannes, dem gegenüber ich sie abgebe, völligbewußt.

Sprechen Sie mit demBeamten oder mit dem Freunde? fragte Villefort.

Mit dem Freunde, mit dem Freunde allein in diesem Augenblick; die Ähnlichkeit zwischen den Symptomen des Starrkrampfes und denen der Vergiftung durch vegetabilische Substanzen ist so groß, daß ich nur zögernd unterzeichnen würde, was ich da sage. Ich wiederhole Ihnen auch, daß ich mich nicht an denBeamten, sondern an den Freund wende. Dem Freunde also sage ich: Während der drei Viertelstunden der Krisis studierte ich den Todeskampf, die Krämpfe, den Tod der Frau von Saint‑Meran; nach meiner Überzeugung ist sie nun nicht nur vergiftet gestorben, sondern ich vermöchte auch zu sagen, welches Gift sie getötet hat.

Mein Herr!

Alles hat sich gezeigt, Schlafsucht, unterbrochen durch Nervenkrisen, Überreizung des Gehirns, Starre der Zentralteile des Nervensystems: Frau von Saint‑Merau ist einer starken Dosis Strychnin oderBrucin unterlegen, die man ihr, nehme ich an, auf Zufall, vielleicht aus Irrtum, beigebracht hat.

Oh! das ist unmöglich! rief Villefort, die Hand des Doktors ergreifend; mein Gott, ich träume, es ist furchtbar, solche Dinge von einem Manne, wie Sie sind, zu hören! Im Namen des Himmels flehe ich Sie an, lieber Doktor, gestehen Sie mir, daß Sie sich täuschen können.

Allerdings kann ich dies, doch ich glaube es nicht.

Doktor, haben Sie Mitleid mit mir, seit einigen Tagenbegegnen mir so unerhörte Dinge, daß es mir vorkommt, als müßte ich ein Narr werden.

Hat noch jemand außer mir Frau von Saint‑Meran gesehen?

Niemand.

Hat manbei dem Apotheker eine Arznei holen lassen, die nicht von mir verordnet worden ist?

Nein.

Hatte Frau von Saint‑Meran Feinde?

Ich kenne keine.

Hatte jemand ein Interesse an ihrem Tode?

Mein Gott! Nein; meine Tochter ist ihre einzige Erbin, Valentine allein… Oh! wenn mir ein solcher Gedanke käme,… ich würde mich erdolchen, um mein Herz zubestrafen, daß es einen solchen Gedanken hatte hegen können.

Oh, teurer Freund! rief Herr d'Avrigny, Gott verhüte, daß ich irgend jemand anklage; verstehen Sie wohl, ich spreche nur von einem Zufall, von einem Irrtum. Doch Zufall oder Irrtum, es ist eine Tatsache, die ganz leise zu meinem Gewissen spricht und verlangt, daß mein Gewissen ganz laut mit Ihnen spreche. Forschen Sie nach!

Bei wem? wie? worüber?

Hören Sie! Sollte sich nichtBarrois, der alte Diener, getäuscht und der Frau von Saint‑Meran irgend einen Trank gegeben haben, der für seinen Herrnbestimmt war?

Wie könnte denn ein für Herrn Noirtierbereiteter Trank Frau von Saint‑Meran vergiften?

Das ist ganz einfach; Sie wissen, daßbei einzelnen Krankheiten die Gifte als Heilmittel dienen; die Lähmung ist eine dieser Krankheiten. Vor ungefähr drei Monaten entschloß ich mich, nachdem ich alles angewendet hatte, um Herrn Noirtier Stimme undBewegung wiederzugeben, ein letztes Mittel zu versuchen; seit drei Monatenbehandle ich ihn mitBrucin; so waren in dem letzten Tranke, den ich ihm verschrieb, sechs Zentigramm enthalten. Sechs Zentigramm ohne Wirkung auf die gelähmten Organe des Herrn Noirtier, an die er sich überdies durch stufenweise Dosen gewöhnt hatte, sechs Zentigramm genügen, um jede andere Person zu töten.

Mein lieber Doktor, esbesteht keine Verbindung zwischen der Wohnung des Herrn Noirtier und der der Frau von Saint‑Meran, und nie istBarrois in das Zimmer meiner Schwiegermutter gekommen. Schließlich muß ich Ihnen auch sagen, Doktor, obgleich ich weiß, daß Sie der geschickteste undbesonders der gewissenhafteste Mann von der Welt sind, obgleich unter allen Umständen Ihr Wort für mich eine Fackel ist, die mich leitet, wie das Licht der Sonne, — so ist es doch, trotz dieser Überzeugung, für mich einBedürfnis, mich auf den Satz: Irren ist menschlich, zu stützen.

Hören Sie, Villefort, sagte der Doktor, gibt es einen von meinen Kollegen, zu dem Sie so viel Zutrauen haben, wie zu mir?

Warum? Was wollen Sie damit sagen?

Rufen Sie ihn, ich teile ihm mit, was ich gesehen, was ich wahrgenommen habe, und wir nehmen die Öffnung der Leiche vor.

Und Sie werden die Spuren des Giftes finden?

Nein, nicht des Giftes, ich habe das nicht gesagt, sondern wir werden die Reizung des Systemsbestätigt finden, die unleugbare Asphyxie erkennen und Ihnen sagen, lieber Villefort: Liegt Nachlässigkeit zu Grunde, sobewachen Sie Ihre Dienerschaft, — geschah die Tat aus Haß, sobewachen Sie Ihre Feinde.

Oh, mein Gott! was schlagen Sie mir da vor, d'Avrigny? entgegnete Villefort ganz niedergebeugt. Sobald ein anderer in das Geheimnis gezogen ist, wird eine Untersuchung notwendig, und eine Untersuchungbei mir, unmöglich! Dennoch, fuhr der Staatsanwalt, den Arzt unruhig anschauend, fort, dennoch, wenn Sie es durchaus verlangen, werde ich es tun. Ich muß in der Tat wohl der Sache auf den Grund gehen, mein Charakter heischt es. Doch Sie sehen mich zum voraus von Traurigkeit erfüllt, Doktor, auf mein Haus nach so vielen Schmerzen diesen Flecken zu werfen! Oh! für meine Frau und meine Tochter ist das der Tod; und ich, Doktor, Sie wissen, ein Mann gelangt nicht dahin, wo ichbin, ein Mann ist nicht fünfundzwanzig Jahre Staatsanwalt gewesen, ohne sich viele Feinde zuzuziehen; die Zahl der meinigen ist groß.. Wird diese Geschichte ruchbar, so ist das ein Triumph für diese Feinde, der sie vor Freuden jubeln läßt und mich mit Schmachbedeckt. Doktor, verzeihen Sie mir diese weltlichen Gedanken. Wenn Sie Priester wären, würde ich, es nicht wagen, Ihnen dies zu sagen; aber Sie sind ein Mensch, Sie kennen die anderen Menschen; Doktor, nicht wahr, Sie haben mir nichts gesagt?

Mein lieber Herr von Villefort, antwortete der Doktor erschüttert, meine erste Pflicht ist Menschlichkeit. Ich hätte Frau von Saint‑Meran gerettet, wenn es in der Macht der Wissenschaft gelegen hätte, dies zu tun; aber sie ist tot, und ich schulde alle meine Kunst den Lebenden. Begraben wir in die tiefste Tiefe unserer Herzen dieses furchtbare Geheimnis! Sollte aber jemand den Schleier lüften, so mag man immerhin mein Schweigen meiner Unwissenheit zur Last legen. Suchen Sie jedoch trotzdem, suchen Sie eifrig, mein Freund, denn esbleibt vielleicht nicht hierbei… Und wenn Sie den Schuldigen gefunden haben, so werde ich Ihnen sagen: Sie sindBeamter, tun Sie, was Sie wollen.

Oh! Dank, Dank, Doktor! sagte Villefort mit unsäglicher Freude, ich habe nie einenbesseren Freund gehabt, als Sie.

Und er erhobsich, alsbefürchte er, der Doktor könnte von seinem Zugeständnis zurücktreten, und zog ihn nach den Hause fort. — Sie verschwanden.

Morel streckte, als müßte er Atem schöpfen, den Kopf aus dem Gebüsche hervor, und der Mondbeleuchtete sein Gesicht, das sobleich war, daß man es für ein Gespenst hätte halten können.

Gottbeschützt mich offenbar, aber auf eine furchtbare Weise! sagte er. Doch Valentine! Valentine! arme Freundin! wird sie so vielen Schmerzen widerstehen? Während er diese Worte sprach, schaute er abwechselnd das Fenster mit den roten Vorhängen an. Das Licht war fast völlig von dem Fenster mit den roten Vorhängen verschwunden. Ohne Zweifel hatte Frau von Villefort die Kerzen ausgelöscht, und die Nachtlampe allein sandte ihren Schein an die Scheiben.

Am Ende des Gebäudes sah er dagegen eines von den drei Fenstern mit den weißen Vorhängen sich öffnen. Die auf dem Kamin stehende Kerze warf nach außen einige Strahlen ihresbleichen Lichtes, und es lehnte sich einen Augenblick jemand mit dem Ellenbogen auf denBalkon.

Morelbebte; es kam ihm vor, als hätte er ein Schluchzen gehört.

Man darf sich nicht darüber wundern, daß die sonst so mutige und kräftige, nun aber durch diebeiden stärksten menschlichen Leidenschaften, die Liebe und die Furcht, erschütterte und überspannte Seele dergestalt geschwächt war, daß sie abergläubischen Sinnestäuschungen unterlag.

Obgleich Maximilian unmöglich von Valentine wahrgenommen werden konnte, kam es ihm vor, als würde er von dem Schatten am Fenster gerufen; sein gestörter Geist sagte es ihm, sein glühendes Herz wiederholte es. Dieser doppelte Irrtum wurde unwiderstehlich; er trat aus seinem Versteck hervor und setzte, auf die Gefahr hin, gesehen zu werden, oder Valentine zu erschrecken, mit zwei Sprüngen über dasBlumenbeet, erreichte die Reihe von Orangenbäumen, die sich vor dem Hanse ausdehnte, gelangte auf die Stufen der Freitreppe, stieg diese rasch hinauf und stieß an eine Tür, die sich ohne Widerstand vor ihm öffnete.

Valentine hatte ihn nicht gesehen; ihre zum Himmel aufgeschlagenen Augen folgten einer silbernen Wolke, die, einem aufsteigenden Schatten ähnlich, an dem Azur hinglitt; ihr poetischer, überwallender Geist sagte ihr, es sei die Seele ihrer Großmutter.

Morel durchschritt das Vorhaus und fand das Treppengeländer. Auf den Stufen ausgebreitete Teppiche dämpften seinen Tritt; übrigens war er zu jenem Grade von Überspannung gelangt, wo ihn selbst das Erscheinen des Herrn von Villefort nicht erschreckt hätte. Sollte sich dieser zeigen, so war Morel entschlossen, sich ihm zu nähern, seine Liebe zu gestehen und um die Einwilligung des Staatsanwalts zubitten. Morel war verrückt.

Zum Glück sah er niemand.

Jetzt kam ihm die Kenntnis, die er durch Valentine vom Innern des Hauses gewonnen hatte, zu statten. Er gelangte ohne Unfall oben auf die Treppe, und hier deutete ihm ein Schluchzen, über dessen Quelle er keinen Zweifel hegte, den Weg an, dem er zu folgen hatte. Er wandte sich um; eine etwas geöffnete Tür ließ den Schein des Lichtes und den Ton einer seufzenden Stimme zu ihm dringen. Im Hintergrunde eines Alkovens, unter dem weißen Tuche, das ihren Kopfbedeckte und ihre Form hervorhob, lag die Tote, schrecklicher noch in Morels Augen seit der Enthüllung des Geheimnisses, die ihm durch Zufall zuteil geworden war.

Neben demBette kniete Valentine, den Kopf in die Kissen eines Polsterstuhls vergraben. Man sah, wie sich ihr Körper von Zeit zu Zeit durch das Schluchzen emporhob; ihre starren Hände hielt sie gefaltet.


Valentine war vom offengebliebenen Fenster weggegangen undbetete ganz laut in Tönen, die auch das unempfindlichste Herz gerührt haben müßten; die Worte entschlüpften ihren Lippen, rasch, unzusammenhängend, unverständlich, so sehr preßte ihr derbrennende Schmerz die Kehle zusammen. Der Mond, der durch die Öffnung der Vorhänge glitt, ließ den Schein der Kerze erbleichen und übergoß mit seiner fahlen Farbe dieses trostloseBild.

Morel konnte dem Schauspiel nicht widerstehen, er war von keiner musterhaften Frömmigkeit und auch nicht so leicht empfänglich für gewöhnliche Eindrücke, aber Valentine weinend, leidend, vor seinen Augen die Hände ringend… das vermochte er nicht still zu ertragen. Er stieß einen Seufzer aus, flüsterte einen Namen, und der in Tränen gebadete, marmorbleiche Kopf hobsich empor und wandte sich ihm zu.

Valentine erblickte ihn und zeigte kein Erstaunen. In einem von der höchsten Verzweiflung erfüllten Gemüte ist kein Raum für geringere Regungen. Morel reichte seiner Freundin die Hand. Statt jeder Entschuldigung, warum sie ihn nicht aufgesucht, deutete sie auf den unter dem weißen Tuche liegenden Leichnam und fing wieder an zu schluchzen.

Keines von ihnen wagte im ersten Augenblick, in diesem Zimmer zu reden. Jedes zögerte, das Stillschweigen zubrechen, das der Tod, der mit dem Finger auf den Lippen irgendwo im Winkel stand, aufzuerlegen schien.

Valentine wagte es zuerst und sagte: Freund, wiebist du hierher gekommen? Ach! ich würde dir sagen: Sei willkommen, wenn dir nicht der Tod die Tür dieses Hauses geöffnet hätte.

Valentine, erwiderte Morel mit zitternder Stimme und gefalteten Händen, ich war seit halbneun Uhr da; ich sah dich nicht kommen; die Unruhe erfaßte mich, ich sprang über die Mauer, drang in den Garten und hörte Stimmen, die über das unselige Ereignis sprachen.

Was für Stimmen? fragte Valentine.

Morelbebte, denn die Unterredung des Herrn d'Avrigny mit Herrn von Villefort trat vor seinen Geist, und er glaubte durch das Leichentuch die gekrümmten Arme, den steifen Hals, dieblauen Lippen der Vergifteten zu sehen.

Die Stimmen IhrerBedienten haben mich von allem unterrichtet, sagte er.

Doch hier erscheinen, heißt uns zu Grunde richten, mein Freund, versetzte Valentine ohne Schreck und ohne Zorn.

Vergibmir, sagte Morel mit demselben Tone, ich will mich entfernen.

Nein, man würde dirbegegnen, bleibe.

Doch wenn man käme?…

Das Mädchen schüttelte den Kopf und entgegnete: Es wird niemand kommen, sei unbesorgt, hier ist unsere Schutzwache. Und sie deutete auf die durch das Tuch sich abdrückende Form des Leichnams.

Doch, ichbitte dich, sage mir, was ist mit Herrn d'Epinay geschehen? fragte Morel.

Herr Franz kam, um den Vertrag zu unterzeichnen, gerade in dem Augenblick, wo meine gute Großmutter den letzten Seufzer aushauchte.

Ach! rief Morel mit einem Gefühle selbstsüchtiger Freude, denn erbedachte, daß dieser Tod Valentines Verheiratung auf unbestimmte Zeit verzögerte.

Doch was meinen Schmerz verdoppelt, fuhr das Mädchen fort, als sollte dieses Gefühl auf der Stelle seine Strafe erhalten, ist der Umstand, daß meine gute Großmutter sterbendbefohlen hat, diese Heirat sobald als möglich zu vollziehen. Mein Gott! im Glauben, mich zubeschützen, handelte auch sie gegen mich.

Hörst du! sagte Morel.

Die jungen Leute schwiegen.

Man hörte, wie eine Tür sich öffnete und Tritte denBoden des Ganges und die Stufen der Treppe krachen ließen.

Es ist mein Vater, der sein Kabinett verläßt, sagte Valentine.

Und den Doktor zurückbegleitet, fügte Morelbei.

Woher weißt du, daß es der Doktor ist? fragte Valentine erstaunt.

Ich setze es voraus, sprach Morel.

Valentine schaute den jungen Mann an.

Man hörte indessen, daß die Tür, die auf die Straße führte, wieder zugeschlossen wurde. Herr von Villefort drehte den Schlüssel auch in der Tür zum Garten um und stieg dann die Treppe hinauf.

Im Vorzimmerblieber einen Augenblick stehen, ohne Zweifel überlegend, ober in seine Wohnung oder in das Zimmer der Frau von Saint‑Meran gehen sollte; Morel warf sich hinter einen Türvorhang. Valentine machte keineBewegung; es schien, als sei der höchste Schmerz über gewöhnlicheBefürchtungen erhaben.

Herr von Villefort kehrte in sein Zimmer zurück.

Nun kannst du weder mehr in den Garten, noch nach der Straße hinaus.

Morel schaute das Mädchen voll Erstaunen an.

Es gibt nur noch einen erlaubten und sichern Ausgang, nämlich durch die Wohnung meines Großvaters. Komm, komm, sagte sie aufstehend.

Wohin? fragte Maximilian.

Zu meinem Großvater.

Ich, zu Herrn Noirtier?

Ja.

Bedenkst du auch, Valentine?

Ichbedenke. Und zwar seit langer Zeit. Ich habe, nur noch diesen Freund auf der Welt, und wirbedürfen seinerbeide…

Nimm dich in acht, Valentine, sagte Morel, ungewiß, ober tun sollte, was ihn Valentine tun hieß, nimm dich in acht, dieBinde ist von meinen Augen gefallen. Als ich hierher kam, beging ich eine Handlung des Wahnsinns. Bist du wohl auch imBesitz deiner ganzen Vernunft, teure Freundin?

Ja, und ich habe nur eineBedenklichkeit in der Welt, nämlich, daß ich die Überreste meiner armen Großmutter, die ich mir zubewachen gelobt, allein lassen soll.

Valentine, der Tod ist durch sich selbst heilig.

Ja, so ist es, und überdies wird es nicht lange währen.

Valentine durchschritt den Gang und stieg eine kleine Treppe hinab, die zu Noirtiers Wohnung führte. Morel folgte ihr auf den Fußspitzen. Im Vorzimmer fanden sie den alten Diener.

Barrois, sagte Valentine, schließe die Tür und lasse niemand herein. Sie ging voran. Noch in seinem Lehnstuhle sitzend, auf das geringste Geräusch achtend, durch seinen alten Diener von allem, was vorfiel, unterrichtet, heftete Noirtier seineBlicke auf den Eingang des Zimmers; er sah Valentine, und sein Auge glänzte.

Es lag in dem Gange und in der Haltung des Mädchens etwas Ernstes, Feierliches, was dem Greise auffiel. So glänzend auch sein Auge war, so wurde es doch forschend. Lieber Vater, sagte sie, höre mich wohl! Du weißt, daß die gute Mama vor einer Stunde gestorben ist, und daß ich nun, dich ausgenommen, auf der Welt niemand mehr habe, der mich liebt?

Ein Ausdruck unbeschreiblicher Zärtlichkeit leuchtete aus den Augen des Greises. Nicht wahr, dir allein muß ich meinen Kummer oder meine Hoffnungen anvertrauen?

Der Gelähmte machte einbejahendes Zeichen.

Valentine nahm Maximilianbei der Hand und sagte: So sieh diesen Herrn an! Der Greis heftete sein Auge forschend, zugleich aber etwas erstaunt auf Morel.

Es ist Herr Maximilian Morel, der Sohn des ehrlichen Kaufmanns in Marseille, von dem du ohne Zweifel hast sprechen hören.

Ja, machte der Greis.

Ein tadelloser Name, den Maximilian glorreich machen wird, denn mit dreißig Jahren ist er Kapitän der Spahis und Offizier der Ehrenlegion. Der Greis machte ein Zeichen, daß er sich dessen erinnere.

Wohl, guter Papa, sagte Valentine, vor dem Greise niederkniend und mit der Hand auf Maximilian deutend, ich liebe ihn und werde nur ihm gehören! Zwingt man mich, einen andern zu heiraten, so sterbe ich, und mußte ich mir selbst das Leben nehmen. Die Augen des Gelähmten drückten eine ganze Welt stürmischer Gedanken aus.

Nicht wahr, guter Papa, du liebst Herrn Maximilian Morel? sagte das Mädchen.

Ja, machte der Greis.

Und du willst uns, die wir deine Kinder sind, gegen den Willen meines Vatersbeschützen?

Noirtier heftete seinen gescheitenBlick auf Morel, als wollte er ihm sagen: Je nachdem.

Maximilian verstand ihn und sagte: Mein Fräulein, Sie haben eine heilige Pflicht in dem Zimmer Ihrer Großmutter zu erfüllen; wollen Sie mir erlauben, daß ich die Ehre habe, einen Augenblick mit Herrn Noirtier zu sprechen?

Ja, ja, das ist es, sagte das Auge des Greises; dann schaute er Valentine unruhig an.

Wie er es machen werde, um dich zu verstehen, willst du sagen, guter Vater?

Ja.

Oh! sei unbesorgt, wir haben so oft von dir gesprochen, daß er wohl weiß, wie ich mit dir rede.

Dann fügte sie mit einem anbetungswürdigen Lächeln, das freilich durch eine tiefe Traurigkeit verschleiert war, zu Maximilian gewendet, hinzu: Er weiß alles, was ich weiß.

Valentine erhobsich, rückte für Morel einen Stuhl vor, empfahlBarrois, niemand eintreten zu lassen, umarmte zärtlich ihren Großvater, drückte ihrem Verlobten traurig die Hand und entfernte sich.

Um Noirtier zubeweisen, daß er Valentines Vertrauenbesitze und alle ihre Geheimnisse kenne, nahm er das Wörterbuch, die Feder und das Papier und legte alles auf einen Tisch, auf dem eine Lampe stand. Vor allem, sagte Morel, vor allem erlauben Sie mir, Ihnen zu erzählen, mein Herr, wer ichbin, wie ich Fräulein Valentine liebe, und was meine Absichten inBezug auf Ihre Enkelin sind.

Ich höre, machte Noirtier.

Erbot ein eindrucksvolles Schauspiel, dieser Greis, scheinbar so kraftlos und unnütz, der aber doch der einzigeBeschützer und die einzige Stütze, der einzigeBerater zweier junger, schöner, starker Liebenden geworden war. Sein Antlitz, in dem sich Adel und ungewöhnliche Energie paarten, brachte eine mächtige Wirkung auf Morel hervor, der seine Erzählung zitterndbegann.

Er teilte dem Greise mit, wie er Valentine kennen gelernt habe, wie er sie geliebt, und wie sie, vereinsamt und unglücklich, wie sie war, seine Ergebenheit aufgenommen habe. Er sprach von seiner Geburt, von seiner Stellung, von seinem Vermögen; und mehr als einmal, wenn er denBlick des Gelähmtenbefragte, antwortete ihm dieserBlick: Es ist gut: fahren Sie fort!

Als Morel diesen ersten Teil seiner Erzählungbeendigt hatte, sagte er: Mein Herr, soll ich nun, da ich Ihnen meine Liebe und meine Hoffnungen geschildert, auch meine Pläne schildern?

Ja, machte der Greis.

Wohl, so hören Sie, was wirbeschlossen haben.

Er setzte hierauf Noirtier alles auseinander, wie ein Wagen in dem Gehege warte, wie erbeabsichtige, Valentine zu entführen, zu seiner Schwester zubringen, zu heiraten und mit ergebenem Warten auf die Verzeihung des Herrn von Villefort zu hoffen.

Nein, machte der Greis.

Nein, versetzte Morel, wir sollen nicht so handeln?

Nein.

Dieser Plan findet also nicht IhreBeistimmung?

Nein.

Gut, es gibt noch ein anderes Mittel, sagte Morel.

DerBlick des Greises fragte: Welches?

Ich werde Franz d'Epinay aufsuchen, fuhr Maximilian fort, ichbin glücklich, Ihnen dies in Abwesenheit des Fräulein von Villefort sagen zu können, und mich gegen ihn sobenehmen, daß er sich als ein mutiger Mann zu handeln gezwungen sieht.

NoirtiersBlick fragte fortwährend: Was werden Sie tun?

Hören Sie, antwortete Morci. Ich werde Franz, wie ich Ihnen sagte, aufsuchen und ihm erzählen, welcheBande mich mit Fräulein Valentine vereinigen. Ist es ein Mann von Zartgefühl, so wird er es dadurchbeweisen, daß er von selbst auf die Hand seinerBraut Verzicht leistet, und von dieser Stunde anbis zum Tode kann er auf meine Freundschaft und Ergebenheit rechnen. Weigert er sich, sei es aus Interesse, sei es aus lächerlichem Stolz, so werde ich mich, nachdem ich ihm auseinandergesetzt, daß er Valentine Zwang antue, daß sie mich liebe und keinen andern lieben könne, mit ihm schlagen und ihn töten, oder mich von ihm töten lassen. Töte ich ihn, so wird er Valentine nicht heiraten; tötet er mich, sobin ich sicher, daß Valentine ihn nicht heiratet.

Mit unsäglichem Vergnügenbetrachtete Noirtrer dieses edle, aufrichtige Antlitz, auf dem sich alle Gefühle ausprägten, die seine Zunge sprach, denn der sprechende Ausdruck seines schönen Gesichtes verlieh Morels Worten das, was die Farbe einer genauen und wahren Zeichnung verleiht. Als jedoch Morel zu sprechen aufgehört hatte, schloß Noirtier wiederholt die Augen, was, wie man sich erinnert, neinbedeutete.

Nein? versetzte Morel. Also mißbilligen Sie diesen zweiten Plan wie den ersten?

Ja, ich mißbillige ihn, machte der Greis.

Aber was soll ich tun, mein Herr? fragte Morel. Nach den letzten Worten der Frau von Saint‑Meran wird die Heirat Ihrer Enkelinbald vollzogen werden; soll ich die Dinge ihren Weg gehen lassen?

Noirtierbliebunbeweglich.

Ja, ichbegreife, sagte Morel, ich soll warten. — Ja.

Aber mein Gott, wenn Sie diebeiden einzigen Wege verwerfen, die mir möglich scheinen, von wem soll uns die Hilfe kommen, die wir vom Himmel erwarten?

Der Greis lächelte mit den Augen, wie er zu lächeln pflegte, wenn man zu ihm vom Himmel sprach. Er war immer noch der alte Atheist und Jakobiner.

Vom Zufall? fragte Morel. — Nein. — Von Ihnen? — Ja. — Von Ihnen? — Ja, wiederholte der Greis.

Begreifen Sie wohl, was ich Sie frage, mein Herr? Entschuldigen Sie mich, doch mein Leben hängt von Ihrer Antwort ab; wird unser Heil von Ihnen kommen? — Ja. — Sind Sie dessen sicher? — Ja.

Es lag eine solche Festigkeit in demBlicke, der diese Versicherung gab, daß man unmöglich an dem Willen, wenn vielleicht auch an der Macht, zweifeln konnte.

Oh, ich danke, mein Herr, ich danke tausendmal. Doch wenn nicht ein Wunder des Herrn Ihnen die Sprache, die Gebärde, dieBewegung zurückgibt, wie können Sie, an diesen Stuhl gefesselt, sich dieser Heirat widersetzen?

Ein Lächeln erleuchtete das Antlitz des Greises, ein seltsames Lächeln, das Lächeln der Augen auf einem unbeweglichen Gesichte.

Ich soll also warten? fragte der junge Mann. Doch der Vertrag?

Es erschien dasselbe Lächeln.

Wollen Sie mir sagen, er werde nicht unterzeichnet?

Ja, machte Noirtier.

Also wird der Vertrag nicht unterzeichnet werden! rief Morel. Oh! verzeihen Sie mir, mein Herr, bei der Ankündigung eines großen Glückes ist man zu zweifelnberechtigt; der Vertrag wird also nicht unterzeichnet werden?

Nein, machte der Gelähmte.

Trotz dieser Versicherung wollte Morel nicht an sein Glück glauben. Das Versprechen eines ohnmächtigen Greises war so seltsam, daß es, statt der Willenskraft zu entspringen, ebensogut in einer Schwäche der Organe seinen Ursprung haben konnte. Ist es nicht natürlich, daß der Wahnsinnige, der nichts von der Störung seines Geistes weiß, für sein Vermögen Unüberwindliches ausführen zu können glaubt? Der Schwache spricht von Lasten, die er aufhebt, der Schüchterne von Riesen, denen er Trotzbietet, der Arme von Schätzen, über die er zu gebieten hat, der Niedriggeborene nennt sich in seinem Stolze Jupiter.

Obnun Noirtier die Unentschiedenheit des jungen Mannesbegriffen hatte, ober der Gelehrigkeit, die er gezeigt, keinen vollen Glauben schenkte, er schaute Maximilian fest an. Was wollen Sie, mein Herr? fragte Morel, soll ich Ihnen mein Versprechen, nichts zu tun, wiederholen?

NoirtiersBlickbliebfest und starr, als wollte er sagen, ein Versprechen genüge nicht; dann schaute er auf Morels Hand.

Soll ich schwören, mein Herr? fragte Maximilian.

Ja, machte der Lahme mit derselben Feierlichkeit.

Morelbegriff, daß dem Greise an diesem Eide viel gelegen sei.

Er streckte die Hand aus und sagte: Ich schwöre Ihnenbei meiner Ehre, abzuwarten, was Sie gegen die Ansprüche des Herrn d'Epinay zu unternehmen gedenken.

Gut, machten die Augen des Greises.

Nunbefehlen Sie, mein Herr, daß ich mich zurückziehe?

Ja.

Morelbedeutete durch ein Zeichen, er seibereit, zu gehorchen.

Erlauben Sie, mein Herr, fuhr Morel fort, daß Ihr Sohn Sie umarmt, wie es soeben Ihre Tochter getan hat?

Man konnte sich in dem Ausdrucke der Augen des Greises nicht täuschen. Der junge Mann drückte auf Noirtiers Stirn seine Lippen an dieselbe Stelle, an die Valentine die ihrigen gedrückt hatte.

Dann verbeugte er sich zum zweiten Male vor dem Greise und ging hinaus. Außen fand er den alten Diener, den Valentine in Kenntnis gesetzt hatte; er erwartete Morel und geleitete ihn durch die Krümmungen eines düsteren Ganges, der zu einer nach dem Garten gehenden kleinen Tür führte. Bald hatte Morel das Gitter erreicht; durch die Hagenbuchenhecke war er in einem Augenblick oben auf der Mauer und durch seine Leiter in einer Sekunde in dem Luzernengehege, wo sein Wagen immer noch seiner harrte. Er stieg ein, kehrte müde und matt, aber mit freierem Herzen in die Rue Meslay zurück, warf sich auf seinBett und schlief, als läge er in denBanden tiefer Trunkenheit.

Die Gruft der Familie Villefort

Zwei Tage nachher versammelte sich einebeträchtliche Menge Menschen gegen zehn Uhr morgens vor der Tür des Herrn von Villefort, und man sah eine Reihe von Trauerwagen und Privatgefährten den Faubourg Saint‑Honors und die Rue de la Pépinière entlang ziehen.

Unter diesen Wagen hatte einer eine sonderbare Form. Es war eine Art von schwarz angemaltem Packwagen. Auf ihre Erkundigung erfuhren die Leidtragenden, daß dieser Wagen den Körper des Marquis von Saint‑Mecan enthalte. Die Zahl der Anwesenden war sehr groß. Der Marquis von Saint‑Meran, einer der eifrigsten und getreuesten Würdenträger König Ludwigs XVIII. und König Karls X., besaß eine große Zahl von Freunden, zu denen noch die vielen Personen kamen, die durch gesellschaftlicheBande an Herrn von Villefort geknüpft waren.

Ein zweiter Wagen, mit derselben Pracht geschmückt, fuhr vor der Tür des Herrn von Villefort vor, und der Sarg wurde von dem erwähnten Transportwagen auf den Leichenwagen gebracht.

Diebeiden Toten sollten in dem Friedhofe des Père la Chaisebestattet werden, wo seit langer Zeit Herr von Villefort das für dasBegräbnis seiner ganzen Familiebestimmte Gewölbe hatte errichten lassen. In diesem Gewölbe ruhtebereits der Leichnam der armen Renée, mit der sich ihr Vater und ihre Mutter nach zehnjähriger Trennung wieder vereinigen sollten.

Miteinander in demselben Trauerwagen unterhielten sichBeauchamp, Debray und Chateau‑Renaud über den plötzlichen Todesfall.

Ich habe Frau von Saint‑Meranbei meiner Rückkehr von Algerien im vorigen Jahre in Marseille gesehen, sagte Chateau‑Renaud; mit ihrer vollkommenen Gesundheit, mit ihrer Geistesgegenwart und ihrer wunderbaren Rüstigkeit schien sie zu einem Leben von hundert Jahrenbestimmt. Wie alt war die Marquise?

Sechsundsechzig Jahre, wenigstens wie mir Franz versicherte, antwortete Albert. Doch das Alter ist es nicht, was sie getötet hat, sondern der Kummer über den Tod des Marquis; es scheint, daß sie seit diesem Tode, der sie aufs heftigste erschütterte, nicht mehr völlig zur Vernunft gekommen ist.

Doch, woran ist sie denn gestorben? fragte Debray.

An einer Hirnkongestion, wie es scheint, oder an einem Schlagflusse.

Schlagfluß, versetzteBeauchamp, das ist schwer zu glauben. Frau von Saint‑Meran, die ich ebenfalls ein- oder zweimal in meinem Leben gesehen habe, war klein, von schwächlicher Gestalt und von mehr nervöser als sanguinischer Konstitution. Daß ein solcher Körper einem Schlagfluß erliegt, ist sehr selten.

Wie dem auch sein mag, sagte Albert, mag sie der Arzt oder die Krankheit getötet haben, Herr von Villefort oder Fräulein Valentine oder vielmehr unser Freund Franz ist nun imBesitze einer herrlichen Erbschaft, achtzigtausend Franken Rente, glaube ich.

Eine Erbschaft, die sichbeim Tode des alten Jakobiners Noirtierbeinahe verdoppelt.

Das nenne ich einen hartnäckigen Großvater, versetzteBeauchamp. Tenacem propositi virum. Er hat, glaube ich, gegen den Tod gewettet, er würde alle seine Erbenbeerdigen, und es wird ihm, meiner Treu, gelingen. Er ist das alte Konventsmitglied von 93, das im Jahr 1814 zu Napoleon sagte: Sie sinken, weil Ihr Kaiserreich ein junger, durch zu schnelles Wachsen saftlos gewordener Stamm ist. Nehmen Sie die Republik zum Vormund! Lassen Sie uns mit einer guten Konstitution auf die Schlachtfelder zurückkehren! Und ich verspreche Ihnen 500 000 Soldaten, ein neues Marengo und ein zweites Austerlitz. Die Ideen sterben nicht, Sire, sie schlummern zuweilen, aber sie erwachen stärker, als sie vor dem Einschlafen gewesen sind.

Es scheint, für ihn sind die Menschen, wie die Ideen; nur einesbeunruhigt mich, ich möchte wissen, wie sich Franz d'Epinay in einen Großschwiegervater fügen wird, der seine Frau nicht entbehren kann. Doch wo ist Franz?

Im ersten Wagen mit Herrn von Villefort, der ihnbereits als zur Familie gehörigbetrachtet.

In jedem von den Wagen, die dem Leichenbegängnis folgten, fand ungefähr dasselbe Gespräch statt; man staunte über diebeiden so plötzlich und so rasch hintereinander eingetretenen Todesfälle; doch in keinem ahnte man das furchtbare Geheimnis, das Herr d'Avrignybei seinem nächtlichen Spaziergang Herrn von Villefort mitgeteilt hatte.

Nach ungefähr einer Stunde gelangte man an das Tor des Friedhofes; es herrschte eine ruhige, aber düstere Witterung, die mit der eben stattfindenden Trauerfeierlichkeit im Einklange stand. Unter den Gruppen, die sich nach dem Familiengrabgewölbe wandten, erkannte Chateau‑Renaud Morel, der ganz allein und im Kabriolett gekommen war; er ging, sehrbleich und schweigsam, auf dem schmalen, mit Eibenbäumen eingefaßten Pfade.

Sie hier? sagte Chateau‑Renaud, seinen Arm unter den des jungen Kapitäns legend; Sie kennen also Herrn von Villefort? Wie kommt es denn, daß ich Sie niebei ihm gesehen habe?

Ich kenne Herrn von Villefort nicht, entgegnete Morel, aber ich kannte Frau von Saint‑Meran.

In diesem Augenblick trat Albert mit Franz zu ihnen.

Der Ort ist für eine Vorstellung schlecht gewählt, sagte Albert; doch gleichviel, wir sind nicht abergläubisch. Herr Morel, erlauben Sie mir, Ihnen Herrn Franz d'Epinay, einen vortrefflichen Reisegesellschafter, vorzustellen, mit dem ich Italien durchwandert habe. Mein lieber Franz, Herr Maximilian Morel, ein vortrefflicher Freund, den ich mir in deiner Abwesenheit erworben, und dessen Namen du in meiner Unterhaltung so oft hören wirst, als ich von Geist, Herz und Liebenswürdigkeit zu sprechen habe.

Morel war einen Augenblick unentschieden. Er fragte sich, obnicht die freundlicheBegrüßung eines Mannes, den er insgeheimbekämpfte, eine verdammenswerte Heuchelei sei; doch im Gedanken an seinen Schwurbemühte er sich, nichts auf seinem Gesichte durchblicken zu lassen, und grüßte ruhig.

Fräulein von Villefort ist wohl sehr traurig? sagte Debray zu Franz.

Oh! mein Herr, sie ist unaussprechlich traurig; heute morgen war sie so entstellt, daß ich sie kaum erkannte.

Die scheinbar so wenigbesagenden Wortebrachen Morel das Herz. Dieser Mensch hatte also Valentine gesehen, er hatte mit ihr gesprochen!

Der junge aufbrausende Offizierbedurfte seiner ganzen Kraft, um dem Verlangen, seinen Schwur zubrechen, zu widerstehen. Er nahm Chateau‑Renaud am Arm und zog ihn rasch nach dem Grabgewölbe fort, vor dem die mit den Zeremonien des LeichenbegängnissesBeauftragten diebeiden Särge niedergesetzt hatten.

Villeforts Familienbegräbnisbildete ein Geviert von weißen Steinen und war etwa zwanzig Fuß hoch. Durch dieBronzetür sah man nur ein Vorgemach, das durch eine Mauer von dem eigentlichen Grabgemach getrennt war. Mitten in dieser Mauer öffneten sich zwei Türen, die zu den Grabstätten der Villefort und Saint‑Meran führten.

Diebeiden Särge kamen in das Grabgewölbe rechts, das der Familie Saint‑Meran, und wurden dort auf dazubestimmte Gestelle gesetzt. Villefort, Franz und einige nahe Verwandte traten allein in das Allerheiligste.

Da die religiösen Zeremonien sich vor der Tür vollzogen und keine Rede gehalten wurde, so trennten sich die Anwesendenbald; Chateau‑Renaud, Albert und Morel entfernten sich nach der einen Seite, Debray undBeauchamp nach der andern. Franzbliebmit Herrn von Villefort zurück. Am Tore des Friedhofes stand Morel unter irgend einem Vorwand still; er sah Franz in einem Trauerwagen mit Herrn von Villefort herausfahren, und es erfaßte ihn eine schlimme Ahnung, als er dieses Zusammensein unter vier Augen wahrnahm. Er kehrte daher nach Paris zurück, und obgleich er in demselben Wagen mit Chateau‑Renaud und Albert fuhr, hörte er doch kein Wort von dem, was diebeiden sprachen.

Als Franz Herrn von Villefort verlassen wollte, hatte dieser gesagt: HerrBaron, wann werde ich Sie wiedersehen?

Wann Sie wollen, hatte Franz erwidert.

Sobald als möglich.

Ich stehe zu IhrenBefehlen, mein Herr; ist es Ihnen genehm, daß wir zusammen zurückkehren?

Wenn es Ihnen nicht unangenehm ist.

Keineswegs.

So stiegen der zukünftige Schwiegervater und der zukünftige Schwiegersohn in einen Wagen, und Morel wurde, als er sie vorüberfahren sah, wie gesagt, von Unruhe erfaßt.

Villefort und Franz kehrten nach dem Faubourg‑Saint‑Honoré zurück. Ohnebei jemand einzutreten, ohne mit seiner Frau oder seiner Tochter zu sprechen, ließ der Staatsanwalt den jungen Mann in sein Kabinett gehen, bezeichnete ihm einen Stuhl und sagte: Herr d'Epinay, ich muß Sie daran erinnern, und der Augenblick ist nicht so schlecht gewählt, als es den Anschein hat, denn der Gehorsam gegen die Toten ist das erste Opfer, das man auf ihren Sarg zu legen hat, ich muß Sie also daran erinnern, daß nach dem von Frau von Saint‑Meran auf ihrem Sterbebette vorgestern ausgedrückten Wunsche Valentines Heirat keinen Aufschubduldet. Sie wissen, daß die Angelegenheiten der Hingeschiedenen vollkommen in Ordnung sind, daß ihr Testament Valentine das ganze Vermögen der Saint‑Meran sichert? der Notar hat mir gestern die Akten gezeigt, auf denen die Fassung des Ehevertragesberuht. Sie können den Notarbesuchen und sich in meinem Auftrage die Akten mitteilen lassen. Es ist Herr Deschamps, PlaceBeauveau, Faubourg Saint‑Honoré.

Mein Herr, entgegnete d'Epinay, es ist vielleicht für Fräulein Valentinebei ihrem heftigen Schmerze nicht der geeignete Augenblick, sie an die Heirat zu erinnern; ich würde in der Tatbefürchten…

Valentine, unterbrach ihn Herr von Villefort, wird kein lebhafteres Verlangen haben, als das, den letzten Willen ihrer Großmutter zu erfüllen; die Hindernisse werden somit, dafür stehe ich Ihnen, nicht von ihrer Seite kommen.

Da sie in diesem Fall auch nicht von meiner Seite kommen, erwiderte Franz, so handeln Sie nach Ihrem Gutdünken! Mein Wort ist gegeben, und es gereicht mir nicht nur zum Vergnügen, sondern auch zum Glück, es zu halten.

Es steht also nichts im Wege, versetzte Villefort; der Vertrag sollte vor drei Tagen unterzeichnet werden, er ist völligbereit, und wir können ihn heute unterzeichnen.

Doch die Trauer? sagte Franz zögernd.

Seien Sie unbesorgt, mein Herr; der Anstand wird in meinem Hause nicht verletzt werden. Fräulein von Villefort kann sich für die drei vorgeschriebenen Monate auf ihr Gut Saint‑Meran zurückziehen; ich sage ihr Gut, denn heute ist es ihr Eigentum. Dort wird in acht Tagen, wenn Sie wollen ohne Geräusch, ohne Gepränge, die Heirat vollzogen. Es war ein Wunsch der Frau von Saint‑Meran, daß ihre Enkelin sich auf diesem Gute verheiraten möchte. Ist der Ehebund geschlossen, so können Sie nach Paris zurückkehren, während Ihre Frau die Trauerzeitbei ihrer Stiefmutter zubringt.

Ganz nach IhremBelieben, sagte Franz.

So haben Sie die Güte, eine halbe Stunde zu warten; Valentine wird in den Salon kommen. Ich lasse Herrn Deschamps rufen, wir lesen und unterzeichnen den Vertrag auf der Stelle, und noch heute abendbringt Frau von Villefort Valentine auf ihr Gut, wohin wir Ihnen in acht Tagen nachfolgen.

Mein Herr, ich habe Sie nur um eins zubitten, sagte Franz, ich wünschte, daß Albert von Morcerf und Raoul von Chateau‑Renaudbei der Unterzeichnung zugegen sind; Sie wissen, sie sind meine Zeugen.

Eine halbe Stunde genügt, um sie in Kenntnis zu setzen; soll ich sie holen lassen, oder wollen Sie diese Herren selbst holen?

Ich ziehe es vor, sie selbst zu holen.

Ich erwarte Sie in einer halben Stunde, und in einer halben Stunde wird auch Valentinebereit sein.

Franz verbeugte sich und verließ das Zimmer.

Kaum hatte sich die Tür des Hauses hinter dem jungen Manne geschlossen, als Villefort Valentine sagen ließ, sie sollte in einer halben Stunde in den Salon kommen, weil der Notar und die Zeugen des Herrn d'Epinay erscheinen würden. Diese unerwartete Kundebrachte einen mächtigen Eindruck in dem Hause hervor. Frau von Villefort wollte nicht daran glauben, und Valentine war wie von einem Donnerschlage niedergeschmettert. Sie schaute umher, als obsie suchen wollte, von wem sie Hilfe verlangen könnte. Sie wollte zu ihrem Großvater hinabgehen; doch auf der Treppebegegnete sie ihrem Vater, der sie am Arme nahm und in den Salon führte. Hier traf sieBarrois, dem sie einen verzweifeltenBlick zuwarf. Einen Augenblick nach Valentine trat Frau von Villefort mit dem kleinen Eduard in den Salon. Die junge Frau hatte sichtlich ihren Teil an dem Kummer der Familie gehabt; sie warbleich und schien furchtbar ermattet.

Frau von Villefort nahm Eduard auf ihren Schoß und drückte von Zeit zu Zeit mitbeinahe krampfhaftenBewegungen den Knaben, in dem sich ihr ganzes Leben zu verdichten schien, an ihreBrust.

Bald hörte man das Geräusch zweier Wagen, die in den Hof fuhren. Der eine war der des Notars, der andere der von Franz, In einem Augenblick hatten sich alle im Salon versammelt.

Valentine war sobleich, daß man dieblauen Adern ihrer Schläfe um ihre Augen sich abzeichnen und ihre Wangen entlang laufen sah. Chateau‑Renaud und Albert schauten sich erstaunt an; die soeben vollzogene Zeremonie kam ihnen nicht trauriger vor, als die, welche nunbeginnen sollte. Frau von Villefort hatte sich hinter einem Samtvorhang in den Schatten gesetzt, und da sie sichbeständig über ihren Sohn neigte, so konnte man nur schwer auf ihrem Gesichte lesen, was in ihrem Herzen vorging.

Herr von Villefort schien, wie immer, unempfindlich.

Nachdem der Notar seine Papiere auf dem Tische geordnet, in einem Lehnstuhle Platz genommen und seineBrille etwas in die Höhe gehoben hatte, wandte er sich gegen Franz und fragte ihn, obgleich es ihm sehr wohlbekannt war: Sie sind Herr Franz von Quesnel, Baron d'Epinay?

Ja, mein Herr, antwortete Franz.

Der Notar verbeugte sich und fuhr fort: Ich muß Sie davon in Kenntnis setzen, mein Herr, und zwar im Auftrage des Herrn von Villefort, daß sich infolge derbeabsichtigten Heirat Herrn von Noirtiers Gesinnung gegen seine Enkelin völlig verändert hat, und daß er auf andere das Vermögen übergehen läßt, das er ihr vermachen wollte. Ich muß indes sogleichbemerken, daß, insofern der Erblasser nurberechtigt ist, ihr einen Teil seines Vermögens zu entziehen, während er ihr das ganze entzogen hat, daß, sage ich, das Testament einem Angriff nicht widerstehen und für null und nichtig erklärt werden wird.

Allerdings, sagte Villefort; nur setze ich Herrn d'Epinay zum voraus davon in Kenntnis, daß zu meinen Lebzeiten das Testament meines Vaters nie angegriffen werden wird, da ichbei meiner Stellung auch den Schatten eines Skandals zu vermeiden habe.

Mein Herr, sagte Franz, es tut mir leid, daß eine solche Frage in Fräulein Valentines Gegenwart erhoben worden ist. Ich habe mich nie nach demBetrage ihres Vermögens erkundigt, das unter allen Umständen noch ansehnlicher sein wird, als das meinige. Meine Familie suchte in der Verbindung mit Herrn von Villefort das Ansehen, ich suche darin das Glück.

Valentine machte ein unmerkliches Zeichen des Dankes, während zwei stille Tränen über ihre Wangen floßen.

Abgesehen jedoch, sagte Villefort, sich an seinen zukünftigen Schwiegersohn wendend, abgesehen von einem teilweisen Verluste Ihrer Hoffnungen hat dieses unerwartete Testament nichts, was Sie persönlich verletzen dürfte. Es erklärt sich durch Herrn Noirtiers Geistesschwäche. Meinem Vater mißfällt es nicht, daß Fräulein von Villefort sich mit Ihnen verbindet, sondern daß Valentine überhaupt heiratet. Ein Ehebund mit jedem andern hätte ihm denselben Kummerbereitet. Das Alter ist selbstsüchtig, mein Herr, und Fräulein von Villefort war für Herrn Noirtier eine treue Gesellschafterin, was dieBaronin d'Epinay nicht mehr wird sein können. Der unglückliche Zustand meines Vaters macht, daß man selten mit ihm über ernste Gegenstände sprechen kann, denen er gar nicht zu folgen vermag, und ichbin fest überzeugt, daß Herr Noirtier vielleicht sich noch erinnert, daß seine Enkelin verheiratet werden soll, aber den Namen des ihrbestimmten Gatten völlig vergessen hat.

Kaum hatte Villefort diese Worte gesprochen, die Franz mit einer Verbeugung erwiderte, als die Tür des Salons sich öffnete undBarrois erschien.

Meine Herren, sagte er mit einer für einen Diener, der unter so feierlichen Umständen mit dem Sohn seines Gebieters spricht, seltsam festen Stimme, meine Herren, Herr Noirtier von Villefort wünscht auf der Stelle Herrn Franz von Quesnel, Baron d'Epinay, zu sprechen.

Villefortbebte, Frau von Villefort ließ ihren Sohn von ihrem Schoß heruntergleiten, Valentine erhobsichbleich und stumm wie eineBildsäule. Albert und Chateau‑Renaud schauten sich abermals und noch mehr erstaunt als das erstemal an.

Der Notar heftete seineBlicke auf Villefort.

Es ist unmöglich, sagte der Staatsanwalt; Herr d'Epinay kann den Salon in diesem Augenblick nicht verlassen.

Gerade in diesem Augenblick wünscht Herr Noirtier, mein Gebieter, Herrn Franz d'Epinay in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen, versetzteBarrois mit derselben Festigkeit.

Antworten Sie Herrn Noirtier, daß das, was er verlangt, nicht sein könne, sagte Villefort.

Dann läßt Herr Noirtier die Herrenbenachrichtigen, daß er sich werde in den Salon tragen lassen, sagteBarrois.

Das Erstaunen erreichte den höchsten Grad. Ein leichtes Lächeln erschien auf Frau von Villeforts Antlitz. Valentine schlug unwillkürlich die Augen zur Decke empor, um dem Himmel zu danken.

Valentine, sagte Herr von Villefort, ichbitte dich, erkundige dich doch, was diese neue Phantasie deines Großvatersbedeuten soll. Valentine machte rasch einige Schritte, um sich zu entfernen, doch Herr von Villefortbesann sich eines anderen und rief: Warte, ichbegleite dich.

Verzeihen Sie, mein Herr, sagte Franz, da Herr Noirtier nach mir verlangt, so habe ich mich, wie es scheint, vor allem seinen Wünschen zu fügen. Überdies werde ich mich glücklich fühlen, ihm meine Achtung zubezeigen, da ich noch nicht Gelegenheit gehabt habe, mir diese Ehre zu erbitten.

Oh, mein Gott! bemühen Sie sich nicht, rief Villefort mit sichtbarer Unruhe.

Entschuldigen Sie mich, mein Herr, entgegnete Franz mit dem Tone eines Mannes, der seinen Entschluß gefaßt hat. Ich wünsche diese Gelegenheit nicht zu versäumen, um Herrn Noirtier zubeweisen, wie sehr er unrecht hätte, einen Widerwillen gegen mich zu hegen, den durch meine tiefe Ergebenheit zubesiegen mein inniges Verlangen ist.

Und ohne sich länger durch Villefort zurückhalten zu lassen, stand Franz ebenfalls auf und folgte Valentine, diebereits mit der Freude eines Schiffbrüchigen, der die Hand an einen Felsen legt, die Treppe hinabstieg.

Herr von Villefort folgtebeiden.

Das Protokoll

Noirtier wartete, schwarz gekleidet, in seinem Lehnstuhle. Als die drei Personen, die er kommen zu sehen hoffte, eingetreten waren, schloß sein Kammerdiener sogleich wieder die Tür.

Merke Wohl auf, sagte leise Villefort zu Valentine, die ihre Freude nicht verbergen konnte, wenn Herr Noirtier Dinge mitteilen will, welche deine Heirat verhindern, so verbiete ich dir, ihn zu verstehen.

Valentine errötete, antwortete aber nicht.

Villefort näherte sich Noirtier und sagte zu ihm: Hier ist Herr Franz d'Epinay; Sie haben nach ihm verlangt, mein Herr, und er fügt sich Ihrem Verlangen. Allerdings wünschten wir diese Zusammenkunst seit geraumer Zeit, und ich werde entzückt sein, wenn sie Ihnenbeweist, wie wenig Ihr Widerstreben gegen Valentines Heiratbegründet war.

Noirtier antwortete nur durch einenBlick, bei dem Villeforts Adern ein Schauer durchlief. Erbedeutete Valentine durch ein Zeichen mit dem Auge, sie möge sich nähern.

Durch die Mittel, deren sie sich in ihren Unterhaltungen mit ihrem Großvater zubedienen pflegte, hatte sie in einem Augenblick das von ihm gewünschte Wort Schlüssel gefunden. Dannbefragte sie denBlick des Gelähmten, der sich auf die Schublade eines kleinen, zwischen zwei Fenstern stehenden Schrankes heftete. Als sie diesen Schlüssel herausgenommen, wandten sich die Augen des Gelähmten nach einem alten, seit Jahren vergessenen Sekretär.

Soll ich den Sekretär öffnen? fragte Valentine. Ja, machte der Greis.

Soll ich die Schubladen öffnen? — Ja.

Die mittlere? — Ja.

Valentine öffnete und zog einBündel Papiere heraus.

Ist das, was Sie wünschen, guter Vater? fragte sie.

Der Greis schüttelte den Kopf, und sie zog nach und nach alle anderen Papiere heraus.

Aber die Schublade ist nun leer, sagte sie.

Noirtiers Augen hefteten sich auf das Wörterbuch.

Ja, guter Vater, ichbegreife Sie, sagte das Mädchen.

Und sie fing an dieBuchstaben des Alphabets nacheinander herzusagen; bei demBuchstaben G hielt sie Noirtier an.

Ah! Ein geheimes Fach? — Ja, machte Noirtier.

Und wer kennt es?

Noirtier schaute nach der Tür, durch welche derBediente weggegangen war.

Barrois? sagte sie. — Ja, machte Noirtier.

Valentine ging an die Tür und riefBarrois. Während dieser Zeit floß der Schweiß der Ungeduld von Villeforts Stirn, während Franz im höchsten Maße erstaunt zu sein schien. Der alte Diener trat ein.

Barrois, sagte Valentine, mein Großvater hat mirbefohlen, diesen Sekretär zu öffnen und dieses Schubfach herauszuziehen; nun istbei diesem Schubfach ein Geheimnis, das Sie, wie es scheint, kennen; öffnen Sie!

Barrois gehorchte; ein doppelterBoden öffnete sich, und es wurden mehrere mit schwarzemBand umwickelte Papiere sichtbar.

Wünschen Sie das, mein Herr? fragteBarrois. — Ja.

Wem soll ich diese Papiere übergeben, Herrn von Villefort? — Nein.

Fräulein Valentine? — Nein.

Herrn Franz d'Epinay? — Ja.

Franz machte erstaunt einen Schritt vorwärts und sagte:

Mir, mein Herr? — Ja.

Franz empfing die Papiere ausBarrois' Händen und las die Aufschrift: Nach meinem Todebei meinem Freunde, dem General Durand, zu hinterlegen, der sterbend dieses Paket seinem Sohne mit der Einschärfung vermachen wird, dasselbe, da es ein Papier von der größten Wichtigkeit enthält, aufzubewahren.

Nun, mein Herr? fragte Franz, was soll ich mit diesem Papier machen?

Sie sollen es ohne Zweifel versiegelt, wie es ist, behalten, sagte der Staatsanwalt.

Nein, nein, erwiderte der Greis lebhaft.

Sie wünschen vielleicht, daß es der Herr lesen möge? fragte Valentine.

Ja, antwortete der Greis.

Sie hören, HerrBaron? Mein Großvaterbittet Sie, dieses Papier zu lesen, sagte Valentine.

So setzen wir uns, sagte Villefort voll Ungeduld, denn das wird lange dauern.

Villefort setzte sich, aber Valentinebliebneben ihrem Großvater, auf seinen Lehnstuhl gestützt, stehen, und Franz stand vor ihr und hielt das geheimnisvolle Papier in der Hand.

Lesen Sie! sagten die Augen des Greises.

Franz machte den Umschlag los, und es trat eine tiefe Stille in dem Zimmer ein. Inmitten dieser Stelle las er:

Auszug aus den Protokollen einer Sitzung desbonapartistischen Klubs der Rue Saint‑Jacques, gehalten im 5. Febr. 1815.

Franz hielt inne.

Am 5. Februar 1815, sagte er, das ist der Tag, an dem mein Vater ermordet wurde!

Valentine und Villefortblieben stumm; nur das Auge des Greises sprach klar: Fahren Sie fort! Franz las weiter:

Die Unterzeichneten, LouisBeauregard, Generalleutnant der Artillerie, Etienne Duchampy, Brigadegeneral, und Claude Lecharpale, Direktor der Forsten, erklären, daß am 4. Februar 1815 einBrief von der Insel Elba ankam, der dem Wohlwollen und dem Vertrauen der Mitglieder desbonapartistischen Klubs den General Flavier von Quesnel empfahl, der dem Kaiser von 1805bis 1814 gedient hatte und der Napoleonischen Dynastie trotz desBaronentitels, den ihm Ludwig XVIII. soeben unterBenutzung des Namens seines Landgutes Epinay verliehen hatte, völlig ergeben sein mußte. Demzufolge wurde ein Schreiben an den General von Quesnel gerichtet, worin man ihnbat, der Sitzung am fünftenbeizuwohnen. Das Schreiben gabweder die Straße noch die Hausnummer an, wo die Versammlung stattfinden sollte: es hatte seine Unterschrift und teilte dem General nur mit, wenn er sichbereit halten wolle, so werde man ihn um neun Uhr abends abholen. Um neun Uhr abends erschien der Präsident des Klubsbei dem General: der General warbereit. Der Präsidentbemerkte ihm, es sei eine derBedingungen seiner Einführung, daß er nie den Ort der Zusammenkunft wüßte, daß er sich die Augen verbinden ließe und schwüre, er werde dieBinde nicht abzunehmen suchen. Der General von Quesnel nahm dieBedingung an und machte sichbei seinem Ehrenwort anheischig, nicht sehen zu wollen, wohin man ihn führte. Der General hatte seinen Wagen anspannen lassen, aber der Präsident erklärte ihm, man könnte sich seiner unmöglichbedienen, da es sich nicht der Mühe lohne, die Augen des Herrn zu verbinden, wenn dem Kutscher die Augen offenblieben, und er zu erkennen vermöchte, durch welche Straßen man käme.

Was ist dann zu tun? fragte der General. –

Ich habe meinen Wagenbei mir, sagte der Präsident. –

Sind Sie Ihres Kutschers so sicher, daß Sie ihm ein Geheimnis anvertrauen, das Sie dem meinigen anzuvertrauen für unklug halten?

Unser Kutscher ist ein Mitglied des Klubs, erwiderte der Präsident, wir werden von einem Staatsrate gefahren.

Dann sind wir einer andern Gefahr ausgesetzt, nämlich der, umgeworfen zu werden, sagte der General lachend.

Wirbezeichnen diesen Scherz als einenBeweis dafür, daß der General nicht entfernt gezwungen war, der Sitzungbeizuwohnen, und daß er sie durchaus freiwilligbesuchte. Sobald man in den Wagen gestiegen war, erinnerte der Präsident den General an sein Versprechen, sich die Augen verbinden zu lassen. Der General machte keine Einwendung gegen diese Förmlichkeit. Der Wagen hielt vor einem Hause der Rue Saint‑Jacques. Der General stieg aus und stützte sich dabei auf den Arm des Präsidenten, ohne dessen Würde zu kennen; man durchschritt den Gang, stieg einen Stock hinauf und trat in dasBeratungszimmer.

Die Sitzung hattebegonnen. Von der Einladung desBaronsbenachrichtigt, waren die Mitglieder des Klubs vollzählig versammelt. Als der General die Mitte des Saales erreicht hatte, wurde er aufgefordert, seineBinde abzunehmen. Er entsprach sogleich dieser Ausforderung und schien sehr erstaunt, eine so große Anzahl vonbekannten Gesichtern in einer Gesellschaft zu finden, von deren Dasein erbis dahin nicht einmal eine Ahnung gehabt hatte. Manbefragte ihn über seine Gesinnung, doch erbegnügte sich zu antworten, derBrief von der Insel Elba habe dieselbebekannt machen müssen…

Franz unterbrach sich mit den Worten: Mein Vater war Royalist, man hatte nicht nötig, ihn um seine Gesinnung zubefragen, sie warbekannt.

Und daher rührte meine Verbindung mit Ihrem Vater, mein lieber Herr Franz, sagte Villefort; man verbindet sich leicht, wenn man gleicher Meinung ist.

Lesen Sie, sprach abermals das Auge des Greises. Franz fuhr fort:

Der Präsident nahm nun das Wort und forderte den General auf, sich deutlicher zu erklären; doch Herr von Quesnel antwortete, er wünschte vor allem zu wissen, was man von ihm verlange. Es wurde nun dem General eben dieserBrief von der Insel Elba mitgeteilt, der ihn dem Klubals einen Mann empfahl, auf dessen Mitwirkung man zählen könne. Es war sodann von derbeabsichtigten Rückkehr von der Insel Elba die Rede, worauf ein neuerBrief mit umfassenderen Einzelheiten angekündigt wurde, den der Pharao, ein dem Reeder Morel in Marseille gehörendes Schiff mit einem dem Kaiser ganz und gar ergebenen Kapitän, überbringen würde. Während der Vorlesung desBriefes gabder General, auf den man wie auf einenBruder zählen zu können glaubte, im Gegenteil Zeichen der Unzufriedenheit und des sichtbaren Widerstrebens von sich.

Als derBrief zu Ende war, verharrte er schweigend und mit gerunzelter Stirn.

Nun! fragte der Präsident, was sagen Sie zu diesemBriefe, Herr General?

Ich sage, soeben hat man erst dem König Ludwig XVIII. einen Eid geleistet und will ihn nun schon wieder um des Exkaisers willenbrechen.

Diese Antwort war zu klar, als daß man sich über seine Gesinnung täuschen konnte.

General, sagte der Präsident, es gibt für uns ebensowenig einen König Ludwig XVIII. wie einen Exkaiser; es gibt nur Seine Majestät den Kaiser und König, der seit zehn Monaten aus Frankreich, seinem Staate, durch Gewalt und Verrat entfernt worden ist.

Verzeihen Sie, meine Herren, sagte der General, es ist möglich, daß es für Sie keinen Ludwig XVIII. gibt, aber es gibt einen für mich, da er mich zumBaron und zum Feldmarschall gemacht hat, und da ich nie vergessen werde, daß ich diese Titel seiner glücklichen Rückkehr nach Frankreich zu danken habe.

Mein Herr, sagte der Präsident mit äußerst strengem Tone, während er sich erhob, geben Sie wohl acht auf das, was Sie reden; Ihre Worte sagen uns deutlich, daß man sich auf der Insel Elba in Ihnen getäuscht, und daß man uns getäuscht hat! Die Mitteilung, die man Ihnen gemacht, ist Folge des Vertrauens, das man in Sie setzte, und somit eines Gefühles, das Sie ehrt. Wir waren im Irrtum; ein Titel und ein Amt haben Sie mit der neuen Regierung ausgesöhnt, die wir umstürzen wollen. Wir werden Sie nicht zwingen, uns IhrenBeistand zu leihen, wir reihen niemand wider sein Gewissen und wider seinen Willen ein; doch wir werden Sie zwingen, als ein ehrenhafter Mann zu handeln, selbst wenn Sie nicht dazu geneigt sein sollen.

Sie nennen als ein ehrenwerter Mann handeln Ihre Verschwörung kennen und sie nicht enthüllen! Ich nenne das Ihr Mitschuldiger sein. Sie sehen, daß ich noch offenherzigerbin, als Sie…

Ah! mein Vater, sagte Franz, sich unterbrechend, ichbegreife nun, warum Sie dich ermordet haben.

Valentine konnte sich nicht enthalten, einenBlick auf Franz zu werfen; der junge Mann war wirklich schön in derBegeisterung des Sohnes. Villefort ging im Zimmer auf und ab.

Noirtier verfolgte mit den Augen den Ausdruck jedes Anwesenden undbeobachtete seine würdige, starre Haltung. Franz fuhr fort:

Mein Herr, sagte der Präsident, man hat Sie gebeten, sich in den Schoß der Versammlung zubegeben, und schleppte Sie durchaus nicht mit Gewalt hierher; man forderte von Ihnen, Sie sollten Ihre Augen verbinden, und Sie willigten ein. Als Sie diesem doppelten Verlangen entsprachen, wußten Sie vollkommen, daß wir uns nicht damitbeschäftigten, Ludwig XVIII. den Thron zu sicher, sonst wären wir nicht sobemüht gewesen, uns vor der Polizei zu verbergen. Siebegreifen, es wäre nur zubequem, eine Maske vorzunehmen, mit deren Hilfe man die Geheimnisse der Leute erforscht, und dann ganz einfach die Maske abzulegen, um die zu Grunde zu richten, deren Vertrauen man genossen hat. Nein, nein, Sie werden uns vor allem offenherzig sagen, obSie für den Zufallskönig sind, der in diesem Augenblick regiert, oder für Seine Majestät den Kaiser?

Ichbin Royalist, antwortete der General, ich habe Ludwig XVIII. einen Eid geschworen und werde ihn halten. Auf diese Worte erfolgte ein allgemeines Gemurmel, und man konnte aus denBlicken einer großen Anzahl von Mitgliedern des Clubs ersehen, daß sie in ihrem Innern die Frage verhandelten, obsie nicht Herrn d'Epinay diese unklugen Wortebereuen lassen sollten. Der Präsident stand abermals auf und gebot Stillschweigen.

Mein Herr, sagte er, Sie sind ein zu ernster und zu verständiger Mann, um nicht die Folgen der Lage zubegreifen, in der wir uns gegenseitigbefinden, und Ihre Offenherzigkeit gerade diktiert uns dieBedingungen, die wir stellen müssen: Sie werden uns schwören, nichts von dem zu enthüllen, was Sie gehört haben.

Der General fuhr mit der Hand nach seinem Degen und rief: Wenn Sie von Ehre sprechen, so fangen Sie damit an, daß Sie die Gesetze nicht mißachten und nicht Gewalt anwenden.

Und Sie, mein Herr, fuhr der Präsident mit einer Ruhe fort, die vielleicht furchtbarer war, als der Zorn des Generals, berühren Sie Ihren Degen nicht, das rate ich Ihnen. Der General warfBlicke umher, die einige Unruhe verrieten. Erbeugte sich jedoch noch nicht, sondern sagte, seine ganze Kraft sammelnd: Ich schwöre nicht.

Dann müssen Sic sterben, erwiderte ruhig der Präsident. Herr d'Epinay wurde sehrbleich; er schaute einen Augenblick umher; mehrere Mitglieder des Klubs wisperten und suchten Waffen unter ihren Mänteln.

General, sagte der Präsident, seien Sie unbesorgt, Sie sind unter Männern von Ehre, die jedes Mittel versuchen werden, um Sie zu überzeugen, ehe sie zum Äußersten schreiten; doch Sie sind auch unter Verschworenen; Siebesitzen unser Geheimnis und müssen es uns zurückgeben.

Einbedeutungsvolles Schweigen folgte auf diese Worte, und als der General nicht antwortete, sagte der Präsident zu den Dienern: Schließt die Türen.

Abermals trat eine Totenstille ein. Da schritt der General vor und sagte heftig: Ich habe einen Sohn und muß, da ich mich unter Mördernbefinde, an ihn denken.

General, sagte voll Adel das Haupt der Versammlung, ein einziger Mensch hat immer das Recht fünfzig zubeleidigen; es ist das Recht des Schwachen. Nur hat er unrecht, von diesem Rechte Gebrauch zu machen. Glauben Sie mir, General, schwören Sie undbeleidigen Sie nicht. Abermals von der Hoheit des Vorsitzenden überwältigt, zögerte der General einen Augenblick; doch endlich schritt er zum Tische des Präsidenten und fragte: Wie lautet die Formel? Hören Sie: Ich schwörebei meiner Ehre, nie irgend einem Menschen auf der Welt zu enthüllen, was ich am 5. Februar 1815 abends zwischen neun und zehn Uhr gesehen und gehört habe, und ich erkläre, daß ich den Tod verdiene, wenn ich meinen Schwur verletze.

Der General schien von einem nervösen Zittern ergriffen zu werden, das ihn einige Sekunden lang verhinderte zu antworten; endlich aber sprach er, ein sichtbares Widerstreben überwindend, den verlangten Eid, doch so leise, daß man es kaum hörte; esbegehrten auch mehrere Mitglieder, daß er ihn mit lauterer Stimme und deutlicher wiederhole, was geschah.

Nun wünsche ich, mich entfernen zu dürfen, sagte der General, bin ich endlich frei? Der Präsident stand auf, bezeichnete drei Mitglieder der Versammlung, die ihnbegleiten sollten, und stieg mit dem General in den Wagen, nachdem er ihm die Augen verbunden hatte. Unter den drei Mitgliedern war der Kutscher, der sie gebracht hatte. Die andern Mitglieder des Klubs trennten sich in der Stille.

Wohin sollen wir Sie führen? fragte der Präsident.

Überallhin, wo ich von Ihrer Gegenwartbefreit werde, antwortete d'Epinay.

Mein Herr, versetzte der Präsident, nehmen Sie sich in acht, Sie sind hier nicht mehr in der Versammlung, Sie haben es mit einzelnen Menschen zu tun; beleidigen Sie sie nicht, wenn Sie nicht für dieBeleidigung verantwortlich gemacht werden wollen.

Doch statt diese Sprache zu verstehen, erwiderte d'Epinay: Sie sind immer noch so mutig in Ihrem Wagen, wie in Ihrem Klub, aus dem einfachen Grunde, mein Herr, weil vier Männer stets stärker sind als ein einziger.

Der Präsident ließ den Wagen halten.

Man war gerade an der Ecke des Quai des Ormes, wo sich die Treppe findet, die zu dem Flusse hinabführt. Warum lassen Sie hier halten? fragte der General d'Epinay.

Weil Sie einen Mannbeleidigt haben, mein Herr, antwortete der Präsident, und weil dieser Mann keinen Schritt mehr tun will, ohne auf loyale Weise Genugtuung von Ihnen zu verlangen.

Abermals eine Art zu morden, sagte der General, die Achseln zuckend.

Keinen Lärm, mein Herr, entgegnete der Präsident, wenn ich Sie nicht als einen von den Menschenbetrachten soll, die Sie soebenbezeichneten, nämlich für einen Feigen, der seine Schwäche zum Schild nimmt. Sie sind allein, ein einziger wird Ihnen antworten; Sie haben einen Degen an der Seite, ich habe einen in meinem Stocke; Sie haben keinen Zeugen, einer von diesen Herren wird Ihnen als solcher dienen. Nun mögen Sie dieBinde abnehmen, wenn es Ihnenbeliebt. Der General riß sich auf der Stelle das Taschentuch von den Augen.

Endlich, sagte er, endlich werde ich erfahren, mit wem ich es zu tun habe.

Man öffnete den Wagen, und die vier Männer stiegen aus.

Franz unterbrach sich abermals und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn; es war furchtbar anzuschauen, wie er, bleich und zitternd, mit lauter Stimme diebis dahin unbekannten Umstände von dem Tode seines Vaters las. Valentine faltete die Hände, als obsiebetete. Noirtier schaute Villefort mit einem erhabenen Ausdruck der Verachtung und des Stolzes an.

Franz fuhr fort:

Es geschah dies, wie gesagt, am 5. Februar; es war eine finstere Nacht, derBoden der Treppe warbis zum Fluß feucht von Schnee und Rauhreif; man sah das Wasser schwarz und von Eisschollenbedeckt dahinfließen. Einer von den Zeugen suchte eine Laterne in einem Kohlenschiffe, undbeim Scheine dieser Laterne prüfte man die Waffen. Der Degen des Präsidenten, ein einfacher Stockdegen, war fünf Zoll kürzer als der seines Gegners und hatte kein Stichblatt. Der General d'Epinay machte den Vorschlag, die Degen auszulosen; doch der Präsident erwiderte, von ihm gehe die Herausforderung aus, und er habe von vornherein in der Absicht gefordert, daß jeder sich seiner Waffebediene. Die Zeugen wollten Einsprache tun, doch der Präsident gebot Ihnen Schweigen. Man setzte die Laterne auf denBoden; die Gegner stellten sich einander gegenüber; der Kampfbegann. Das Licht machte aus den Degen zweiBlitze; die Männer gewahrte man kaum, so dicht war der Schatten. Der General d'Epinay galt für eine derbesten Klingen der Armee. Aber er wurdebei den ersten Stößen so lebhaftbedrängt, daß er zurückwich, wobei er zu Falle kam.

Die Zeugen hielten ihn für tot, doch sein Gegner wußte, daß er ihn nichtberührt hatte, undbot ihm die Hand, um ihm ausstehen zu helfen. Statt ihn zubeschwichtigen, brachte dies den General so auf, daß er ebenfalls auf seinen Gegner eindrang. Doch sein Gegner wich nicht eine Linie. Dreimal zog sich der General vor der Degenspitze seines Gegners zurück und griff dann immer wieder an. Beim dritten Male fiel er abermals. Man glaubte, er sei ausgeglitten, wie das erste Mal; da ihn jedoch die Zeugen nicht wieder aufstehen sahen, näherten sie sich ihm und versuchten, ihn auf dieBeine zubringen; doch als man ihn um den Leibfaßte, fühlte manBlut.

Der General, der halbohnmächtig war, kam wieder zu sich und rief: Oh! einen Raufer, einen Fechtmeister hat man mir hinterlistig gegenüber gestellt. Ohne zu antworten, näherte sich der Präsident der Laterne, schlug seinen Ärmel zurück und zeigte seinen von zwei Degenstichen durchbohrten Arm; dann öffnete er seinen Rock, knöpfte seine Weste auf und ließ an seiner Seite eine dritte Wunde sehen. Er hatte keinen Seufzer ausgestoßen. Bei dem General d'Epinay trat der Todeskampf ein, und fünf Minuten nachher war er verschieden.

Franz las diese letzten Worte mit so gepreßter Stimme, daß man sie kaum hören konnte, und als er sie gelesen, fuhr er sich mit der Hand über die Augen, als wollte er eine Wolke vertreiben. Nach kurzem Schweigen las er fort:

Der Präsident stieg wieder die Treppe hinauf, nachdem er zuvor seinen Degen in den Stock gestoßen hatte; eineBlutspurbezeichnete seinen Weg auf dem Schnee. Er hatte noch nicht die oberste Stufe der Treppe erreicht, als er ein dumpfes Platschen hörte, es war der Körper des Generals, den die Zeugen, nachdem sie seines Todes gewiß waren, in den Fluß gestürzt hatten.

Der General ist folglich in einem ehrlichen Duell gefallen und nicht etwa meuchlings getötet worden.

ZurBeglaubigung dessen haben wir Gegenwärtiges unterzeichnet, um den wahren Tatbestand festzustellen, in derBefürchtung, es könnte ein Augenblick kommen, wo eine von den handelnden Personen dieser furchtbaren Szene des Mordes mit Vorbedacht oder der Verletzung der Gesetze der Ehrebeschuldigt würde. Unterzeichnet

Beauregard, Duchampy und Lecharpale.

Als Franz die für ihn als Sohn so schreckliche Schrift gelesen, als Valentine, bleich vor Erschütterung, eine Träne getrocknet, als Villefort, zitternd und in einen Winkel gedrückt, durch flehende dem unversöhnlichen Greise zugesandteBlicke den Sturm zubeschwören versucht hatte, sagte d'Epinay zu Noirtier: Da Sie diese furchtbare Geschichte in allen ihren Einzelheiten kennen, da Sie sie durch ehrenwerte Unterschriften habenbezeugen lassen, da Sie sich für mich zu interessieren scheinen, obgleich sich Ihr Interessebis jetzt nur durch den Schmerz kundgegeben hat, so verweigern Sie mir nicht eine letzte Genugtuung, nennen Sie mir den Namen des Präsidenten, damit ich endlich den kenne, der meinen armen Vater getötet hat.

Villefort suchte wie verwirrt die Türklinke; Valentine, welche die Antwort des Greises vorausahnte, da sie oft auf seinem Vorderarme die Spur von zwei Degenstichen wahrgenommen hatte, wich einen Schritt zurück.

Ichbeschwöre Sie, mein Fräulein, sagte Franz, sich an seineBraut wendend, verbinden Sie IhreBitten mit den meinen, daß ich den Namen des Mannes erfahre, der mich im Alter von zwei Jahren zur Waise gemacht hat, Valentinebliebstumm und unbeweglich.

Ichbitte Sie, mein Herr, sagte Villefort, verlängern Sic diese Szene nicht; die Namen sind überdies absichtlich niebekannt gegeben worden. Mein Vater kennt selbst den Präsidenten nicht, und wenn er ihn auch kennt, so vermag er ihn nicht zu nennen, da sich die Eigennamen nicht im Wörterbuch finden.

Oh weh! Die einzige Hoffnung, die michbeim Lesen dieser Schrift aufrecht erhalten und mir die Kraft gegeben hat, bis zum Ende auszuharren, war die, wenigstens den Namen dessen, der meinen Vater getötet, kennen zu lernen! Mein Herr! rief er, sich zu dem Greise umwendend, im Namen des Himmels! Tun Sie, was Sie können, bemühen Sie sich, ich flehe Sie an, mirbegreiflich zu machen…

Ja, antwortete Noirtier.

Oh, mein Fräulein, rief Franz, Ihr Großvaterbedeutet mir durch ein Zeichen, er könne mir diesen Namen angeben… helfen Sie mir… Sie verstehen ihn… leihen Sie mir IhrenBeistand!

Noirtier schaute das Wörterbuch an. Franz nahm es zitternd und sprach hintereinander dieBuchstaben des Alphabetsbis zum I aus.

Bei diesemBuchstaben machte der Greis einbejahendes Zeichen.

I? wiederholte Franz.

Der Finger des jungen Mannes glitt über die Wörter hin, während Noirtier von Zeit zu Zeit ein verneinendes Zeichen machte und Valentine ihren Kopf in ihren Händen verbarg.

Bald gelangte Franz zu dem Worte: Ich.

Ja! machte der Greis.

Sie? rief Franz, dessen Haare sich auf seinem Haupte sträubten; Sie, Herr Noirtier, Sie haben meinen Vater getötet?

Ja, antwortete Noirtier, einen majestätischenBlick auf den jungen Mann heftend.

Franz fiel wie gelähmt auf einen Stuhl, Villefort aber öffnete die Tür und entfloh.

Die Fortschritte des Herrn Cavalranti Sohn

Herr Cavalcanti Vater war abgereist, um seinen Dienst wieder anzutreten, nicht in der Armee Seiner Majestät des Kaisers von Österreich, sondern an der Roulette derBäder von Lucca, zu deren eifrigsten Kunden er gehörte. Es versteht sich von selbst, daß er gewissenhaftbis auf den letzten Heller die Summe mitgenommen hatte, die ihm für seine Reise und alsBelohnung für die majestätische Art und Weise, wie er seine Vaterrolle gespielt, angewiesen worden war.

Andrea erbtebei dieser Abreise alle Papiere, diebestätigten, daß er wirklich die Ehre hatte, der Sohn des MarcheseBartolomeo und der Marchesa Oliva Corsinari zu sein.

Er hatte inzwischen gleichsam Anker geworfen in der Pariser Gesellschaft, die so leicht und nachsichtig die Fremden aufnimmt und sie nicht nach dembehandelt, was sie sind, sondern nach dem, was sie sein wollen. So nahm Andrea schon nach vierzehn Tagen eine recht hübsche Stellung ein; man nannte ihn Herr Graf, man sagte, er habe fünfzigtausend Franken Rente, und sprach von den ungeheuren Schätzen seines Vaters, die in den Steinbrüchen von Saravezza vergraben seien.

In dieser Zeit machte Monte Christo eines Abends einenBesuchbei Herrn Danglars. Dieser war ausgegangen; aber man schlug dem Grafen vor, ihnbei derBaronin anzumelden, was er auch annahm.

Seit dem Mittagsmahle in Auteuil und den Ereignissen, die darauf folgten, hörte Frau Danglars den Namen Monte Christo nie ohne nervöse Erregung aussprechen. Bliebdann der Graf in Person aus, so steigerte sich die schmerzliche Empfindung noch; erschien er dagegen, so zerstreuten sein offenes Gesicht, seine glänzenden Augen, seine Liebenswürdigkeit und Höflichkeit garbald den letzten Eindruck von Furchtbei der Dame.

Als Monte Christo in dasBoudoir trat, betrachtete dieBaronin eben Zeichnungen, die ihr ihre Tochter hinreichte, nachdem diese sie mit Herrn Cavalcanti Sohnbesehen hatte. Der Graf, von derBaronin nach Überwindung des ersten Schrecksbei Nennung seines Namens mit einem Lächelnbegrüßt, übersah die ganze Szene mit einemBlicke. Neben derBaronin saß Eugenie in halbliegender Stellung auf einem Lehnsessel, und Cavalcanti stand vor ihr. Schwarz gekleidet mit lackierten Schuhen und durchbrochenen seidenen Strümpfen, fuhr sich der junge Mann mit einer ziemlich weißen und gepflegten Hand in seineblonden Haare, wobei ein Diamant an seiner Hand funkelte.

DieseBewegung war von mörderisch verliebtenBlicken auf Fräulein Danglarsbegleitet und von Seufzern, die sich an dieselbe Adresse richteten. Fräulein Danglars war immer dieselbe, das heißt schön, kalt und spöttisch. KeinBlick, kein Seufzer entging ihr, doch es war, als glitten sie am Panzer der Minerva ab.

Eugeniebegrüßte den Grafen kalt, und sobald die Unterhaltung allgemein und etwas lauter wurde, benutzte sie dies, um sich in ihr Studierzimmer zurückzuziehen, wobald zwei lachende Stimmen, vermischt mit den Akkorden eines Pianos, dem Grafenbewiesen, daß Fräulein Danglars seiner Gesellschaft und der des Herrn Cavalcanti die von Fräulein Luise d'Armilly, ihrer Gesanglehrerin, vorzog. Während der Graf mit Frau Danglars plauderte und sich ganz dem Reiz der Unterhaltung hinzugeben schien, bemerkte er doch die Unruhe des Herrn Andrea Cavalcanti, der, um zu horchen, bis an die Tür des Zimmers von Fräulein Eugenie ging, aber die Schwelle nicht zu überschreiten wagte.

Bald kehrte derBankier zurück. Sein ersterBlick galt Monte Christo, sein zweiter Andrea.

Haben Sie die Fräulein nicht eingeladen, mit Ihnen zu musizieren? fragte Danglars Andrea.

Nein, mein Herr, antwortete Andrea mit einem Seufzer, der noch auffälliger war als die früheren. Danglars ging sogleich zur Tür und öffnete sie, so daß man diebeiden Mädchen auf demselben Sitze nebeneinander vor dem Piano sitzen sah. Fräulein d'Armillybesaß eine interessante Schönheit, oder vielmehr eine ausgesuchte Zierlichkeit. Es war eine kleine, feenartig schlanke undblonde Dame mit langen, gelockten Haaren, welche auf einen etwas zu gestreckten Hals fielen, und mit einem etwas matten, verschleiertenBlick. Man sagte, sie habe eine schwacheBrust und würde wie Antonia in der ›Cremoneser Geige‹ eines Tagesbeim Singen sterben.

Monte Christo warf einen raschen, neugierigenBlick in dieses Frauengemach; er sah zum ersten Male Fräulein d'Armilly, von der er so oft im Hause hatte sprechen hören.

Nun! fragte derBankier seine Tochter, sind wir ausgeschlossen?

Dann führte er den jungen Mann in den kleinen Salon, und — war es nun Zufall, war es Absicht — hinter Andrea wurde die Tür so zugestoßen, daß Monte Christo und dieBaronin von dem Orte, wo sie saßen, nichts mehr sehen konnten.

Bald darauf hörte der Graf Andreas Stimme zu den Akkorden des Klaviers ein korsisches Lied singen. Während der Graf lächelnd auf dieses Lied horchte, das ihn Andrea vergessen ließ und anBenedetto erinnerte, rühmte Frau Danglars die Seelenstärke ihres Mannes, der an demselben Morgenbei einemBankerott in Mailand abermals 3–400 000 Franken verloren hatte. Und dieses Lobwar in der Tat verdient; denn wenn es der Graf nicht durch dieBaronin oder durch ein anderes ihm zu Gebot stehendes Mittel erfahren hätte, das Gesicht desBarons würde ihm kein Wort davon gesagt haben.

Gut! dachte Monte Christo, er istbereits so weit, daß er verbirgt, was er verliert, während er sich vor einem Monat noch seiner Verluste rühmte.

Dann sagte der Graf laut: Oh! gnädige Frau, Herr Danglars kennt dieBörse so gut, daß er dort stets wieder gewinnen wird, was er anderswo verlieren mag.

Ich sehe, daß Sie den allgemeinen Irrtum, Herr Danglars spiele, teilen. Das ist nicht der Fall.

Ach ja! das ist wahr. Gnädige Frau, ich erinnere mich dessen, was mir Herr Debray gesagt hat… Doch was ist eigentlich aus Herrn Debray geworden? Ich. habe ihn seit drei oder vier Tagen mit keinem Auge gesehen.

Ich auch nicht, sagte Frau Danglars mit der gelassensten Miene. Was haben Sie von Herrn Debray gehört?

Er hat mir gesagt, Sie selbst opferten dem Dämon des Spieles.

Ich gestehe, dasBörsenspiel lockte mich eine Zeitlang; aber ich habe den Geschmack daran verloren.

Darin haben Sie unrecht, gnädige Frau. Mein Gott, die Wechselfälle des Glücks sind unberechenbar, und wäre ich ein Weibund zufällig Frau einesBankiers geworden, so würde ich trotz allen Vertrauens zu meinem Manne mir doch ein unabhängiges Vermögen zu sichern suchen.

Frau Danglars errötete unwillkürlich.

Hören Sie, fuhr Monte Christo fort, als ober nichts gesehen hätte, haben Sie gehört, wie gestern die Neapolitaner gestiegen sind?

Ich habe keine und habe nie welche gehabt, sagte rasch dieBaronin; doch nun ist genug von derBörse gesprochen, Herr Graf, wir gleichen zwei Wechselagenten; reden wir lieber von den armen Villeforts, die in diesem Augenblick so sehr vom Unglück heimgesucht werden.

Was ist ihnen denn widerfahren? fragte Monte Christo mit gutgespielter Unwissenheit.

Sie wissen doch, daß sie nach dem plötzlichen Tode des Herrn von Saint‑Meran auch die Marquise drei Tage nach ihrer Ankunft verloren haben.

Ah! es ist wahr, versetzte Monte Christo, ich habe davon gehört; doch das ist, wie Claudius zu Hamlet sagt, das Gesetz der Natur: ihre Väter sind vor ihnen gestorben, und sie haben siebeweint; sie werden vor ihren Söhnen sterben, und ihre Söhne werden siebeweinen.

Doch das ist noch nicht alles. Sie wissen doch, daß sie ihre Tochter verheiraten wollten? An Herrn Franz d'Epinay… Hat die Heirat nicht stattgefunden? — Gestern morgen hat ihnen Franz, scheint es, ihr Wort zurückgegeben. — Ah! wirklich… Kennt man die Ursache diesesBruches? — Nein. — Und wie nimmt Herr von Villefort alle diese Unglücksfälle auf? — Wie immer, als Philosoph.

In diesem Augenblick kehrte Danglars zurück.

Wie! rief dieBaronin, Sie lassen Herrn Cavalcanti mit Ihrer Tochter allein?

Und als was sehen Sie denn Fräulein d'Armilly an? erwiderte derBankier undbemerkte sodann, sich an Monte Christo wendend: Ein reizender junger Mann, nicht wahr, Herr Graf, dieser Prinz Cavalcanti? Nur fragt es sich, ober wirklich Prinz ist?

Ich stehe nicht dafür. Man hat mir seinen Vater als Marquis vorgestellt; demnach wäre er Graf. Doch ich glaube nicht, daß er sich viel auf seinen Titel einbildet.

Warum? Wenn er Prinz ist, so hat er unrecht, sich dessen nicht zu rühmen. Jedem sein Recht! Ich liebe es nicht, daß man seinen Ursprung verleugnet.

Aber sehen Sie, welcher Unannehmlichkeit Sie sich aussetzen, sagte dieBaronin. Wenn Herr von Morcerf zufällig käme, so würde er Herrn Cavalcanti in einem Zimmer finden, in das er, derBräutigam, nie eintreten durfte.

Sie tun recht, zufällig zu sagen, erwiderte derBankier, denn man sieht ihn so selten, daß es in der Tat nur der Zufall zu sein scheint, der ihn zu uns führt.

Wenn er aber käme und diesen jungen Mannbei Ihrer Tochter träfe, so würde er mit Recht darüber aufgebracht sein.

Er! mein Gott, Sie täuschen sich; Herr Albert tut uns nicht die Ehre an, eifersüchtig auf seine künftige Frau zu sein, dazu liebt er sie nicht genug. Was liegt mir auch daran, ober aufgebracht ist oder nicht.

Dochbei dem Verhältnis, in dem wir zu einander stehen…

Wollen Sie wissen, in welchem Verhältnis wir stehen? Auf demBalle seiner Mutter tanzte er ein einziges Mal mit meiner Tochter, während Herr Cavalcanti dreimal mit ihr tanzte, und er hat es gar nichtbemerkt.

Der Herr Vicomte Albert von Morcerf, meldete der Kammerdiener.

DieBaronin stand rasch auf. Sie wollte ihre Tochter schnellbenachrichtigen, aber Danglars hielt sie am Arme zurück und sagte:

Lassen Sie das!

Sie schaute ihn erstaunt an. Monte Christo stellte sich, als hätte er dieses Zwischenspiel nichtbemerkt.

Albert trat ein; er war sehr schön und sehr heiter, grüßte dieBaronin mit Leichtigkeit, Danglars mit Vertraulichkeit, Monte Christo mit Liebe und sagte sodann, sich wieder zurBaronin wendend: Wollen Sie mir erlauben, michbei Ihnen nach demBefinden von Fräulein Danglars zu erkundigen?

Siebefindet sich sehr wohl, antwortete rasch Danglars, sie musiziert soeben in ihrem kleinen Salon mit Herrn Cavalcanti.

Albertbehielt seine ruhige, gleichgültige Miene; er empfand vielleicht einen inneren Ärger, aber er fühlte Monte ChristosBlick auf sich geheftet undbezwang sich.

Herr Cavalcanti hat eine sehr schöne Tenorstimme, sagte er, und Fräulein Danglars einen prachtvollen Sopran. Es muß ein entzückendes Konzert sein.

Sie stimmen allerdings vortrefflich zusammen, sagte Danglars.

Ichbin auch musikalisch, wenigstens wie meine Lehrer sagten, fuhr der junge Mann fort; doch seltsamerweise konnte ich meine Stimme nie mit einer andern Stimme in Einklangbringen.

Danglars lächelte auf eine Weise, die wohlbedeuten sollte: Ärgere dich doch! Dann sagte er laut: Der Prinz und meine Tochter haben auch gestern die allgemeineBewunderung erregt. Waren Sie gestern nicht hier, Herr von Morcerf?

Welcher Prinz? fragte Albert.

Der Prinz Cavalcanti, erwiderte Danglars, der dem jungen Italiener hartnäckig diesen Titel gab.

Verzeihen Sie, ich wußte nicht, daß er Prinz ist. Also der Prinz Cavalcanti hat gestern mit Fräulein Eugenie gesungen! Das muß in Wahrheit entzückend gewesen sein, und ichbedaure lebhaft, es nicht gehört zu haben. Doch ich konnte Ihrer Einladung nicht entsprechen, da ich Frau von Morcerf zurBaronin Chateau‑Renaud, wo die Deutschen sangen, begleiten mußte.

Dann wiederholte er nach einem Stillschweigen: Wird es mir erlaubt sein, Fräulein Danglars meine Achtung zubezeigen?

Oh! warten Sie, warten Sie, ichbitte Sie, erwiderte derBankier, den jungen Mann zurückhaltend, hören Sie die köstliche Cavatine: Ta, ta, ta, ti, ta, ti, ta, ta; es ist entzückend, sie sind sogleich fertig… nur eine Sekunde, vortrefflich! Bravo! bravo! bravi!

Und derBankier fing an, wie wütendBeifall zu klatschen.

In der Tat, rief Albert, das ist vortrefflich, und man kann unmöglich die italienische Musik charakteristischer wiedergeben als der Prinz Cavalcanti. Nicht wahr, Sie sagten Prinz? Wenn er übrigens nicht Prinz ist, so wird man ihn schon noch dazu machen, denn das hält in Italien nicht schwer. Doch um auf unsere anbetungswürdigen Sänger zurückzukommen… Sie sollten uns das Vergnügen machen, Herr Danglars, Fräulein Danglars und Herrn Cavalcanti, ohne etwas von der Anwesenheit eines Fremden zu sagen, zubitten, ein anderes Stück anzufangen. Es ist so köstlich, die Musik zu genießen, ohne daß man sieht, oder gesehen wird, und folglich, ohne den Musiker zubeengen, der sich ganz dem Instinkt seines Genies oder dem Ergusse seines Herzens überlassen kann.

Diesmal wurde Danglars durch das Phlegma des jungen Mannes aus dem Sattel gehoben. Er nahm Monte Christobeiseite und sagte zu ihm: Nun, was denken Sie von unserem Verliebten?

Verdammt, er kommt, mir ziemlich kalt vor; doch, was wollen Sie? Sie haben sich nun einmal verbindlich gemacht!

Allerdings habe ich mich verbindlich gemacht, aber nur, meine Tochter einem Manne zu geben, der sie liebt, und nicht einem Manne, der sie nicht liebt. Sehen Sie ihn an, er ist kalt wie Marmor, stolz wie sein Vater. — Wenn er noch reich wäre, wenn er das Vermögen der Cavalcantibesäße, könnte man darüber hinwegsehen! Meiner Treu, wenn meine Tochter jedoch einen guten Geschmack hätte…

Ich weiß nicht, obmeine Freundschaft für ihn mich verblendet, erwiderte Monte Christo, doch ich versichere Ihnen, Herr von Morcerf ist ein liebenswürdiger junger Mann, der Ihre Tochter glücklich machen und früher oder später etwas erreichen wird; denn die Stellung seines Vaters ist im ganzen ausgezeichnet.

Hm! machte Dauglars.

Warum dieser Zweifel?

Es ist da immer noch die Vergangenheit… die dunkle Vergangenheit.

Doch die Vergangenheit des Vaters geht den Sohn nichts an. — Warum nicht?

Seien Sie nicht eigensinnig! Vor einem Monat fanden Sie diese Verbindung vortrefflich. Siebegreifen, ichbin in Verzweiflung, dennbei mir haben Sie diesen Cavalcanti gesehen, den ich, ich wiederhole es, nicht kenne.

Ich kenne ihn, das genügt.

Sic kennen ihn? Haben Sie Erkundigungen über ihn eingezogen?

Bedarf es deren? Weiß man nichtbeim erstenBlicke, mit wem man es zu tun hat?… Einmal ist er reich. — Ich kann keine Versicherung hierüber geben.

Sie haften doch für ihn? — Bis fünfzigtausend Franken, eine Lappalie.

Er hat eine ausgezeichnete Erziehung. — Hm!

Er ist musikalisch. — Alle Italiener sind das.

Hören Sie, Graf, Sie sind nicht gerecht gegen diesen jungen Mann.

Ja, ich gestehe es; da ich Ihre Verbindlichkeit Herrn Morcerf gegenüber kenne, sehe ich zu meinem Schmerze, daß er so dazwischentritt und sein Vermögen mißbraucht!

Danglars schlug ein Gelächter aus und rief: Was für ein Puritaner Sie sind! Das kommt täglich vor.

Sie können aber doch so nichtbrechen, lieber Danglars; die Morcerf rechnen auf diese Heirat.

Sie rechnen darauf? — Bestimmt.

Dann mögen sie sich erklären. Sie, Herr Graf, sollten ein paar Worte hierüberbei dem Vater fallen lassen, da Sie im Hause so gut angeschrieben sind.

Ich? zum Teufel, wo haben Sie das gesehen?

Auf ihremBalle, mir scheint. Wie! die Gräfin, die stolze Mercedes, die hochmütige Katalonierin, die sich kaum herabläßt, den Mund für ihre ältestenBekannten zu öffnen, hat Sie am Arme genommen, ist mit Ihnen in den Garten und in die kleinen Alleen gegangen und erst nach einer halben Stunde zurückgekommen!

Ah! Baron, Baron, unterbrach Albert das leise geführte Gespräch, Sie hindern uns, zu hören; wie kann ein Musikfreund wie Sie sobarbarisch sein!

Gut, gut, Herr Spötter, rief Danglars und fügte leise, zu Monte Christo gewandt, hinzu: Sie übernehmen es, dies dem Vater zu sagen?

Gern, wenn Sie wünschen.

Doch es mußbestimmt und unumwunden geschehen; er soll meine Tochter von mir verlangen, eine Zeit festsetzen, seine pekuniärenBedingungen nennen, damit man sich verständigt oder nicht verständigt, aber Siebegreifen, Aufschubgibt es nicht mehr!

Gut, ich werde den Schritt tun.


Ich sage nicht, daß ich ihn mit Vergnügen erwarte, aber ich erwarte ihn. Sie wissen, einBankier muß der Sklave seines Wortes sein. Hier stieß Danglars einen Seufzer aus.

Bravo! bravo! bravo! rief Morcerf, denBankier parodierend und am Schlusse des StückesBeifall klatschend.

Danglars schaute Albert erstaunt von der Seite an, als ein Diener eintrat und ihm ein paar Worte zuflüsterte.

Ich komme zurück, sagte derBankier zu Monte Christo, erwarten Sie mich, ich habe Ihnen vielleicht sogleich etwas zu sagen. Und er ging hinaus.

DieBaroninbenutzte die Abwesenheit ihres Mannes, um die Tür des Zimmers ihrer Tochter wieder auszustoßen, worauf man Andrea, der mit Fräulein Danglars vor dem Klavier saß, wie eine Feder ausspringen sah.

Albert verbeugte sich lächelnd vor Fräulein Danglars, die ihm ohne jede Verlegenheit, wie gewöhnlich, einen kalten Gruß zurückgab.

Cavalcanti war sichtbar verlegen; er grüßte Morcerf, der seineBegrüßung mit geringschätzender Miene erwiderte und sich sodann in den ausgesuchtesten Lobeserhebungen über Fräulein Danglars' Stimme erging.

Nun haben wir genug Musik und Komplimente gehabt, sagte Frau Danglars; wir wollen den Tee nehmen.

Komm, Luise, sagte Fräulein Danglars zu ihrer Freundin, worauf alle in den anstoßenden Salon gingen, in dem schon der Teebereit stand.

In dem Augenblick, als man sich niedersetzte, öffnete sich die Tür wieder, und Danglars erschien sichtlichbewegt.

Auf einen fragendenBlick des Grafen erwiderte derBankier: Ich habe einen Kurier von Griechenlandbekommen.

Ah! ah! deshalbhat man Sie gerufen!

Wie geht es König Otto? fragte Albert munter.

Danglars schaute ihn von der Seite an, ohne ihm zu antworten, und Monte Christo wandte sich ab, um den Ausdruck des Mitleids zu verbergen, der auf seinem Gesichte hervortrat, bald aber wieder verschwand.

Nicht wahr, wir gehen miteinander? fragte Albert den Grafen.

Ja, wenn Sie wollen, antwortete dieser.

Albert verstand denBlick desBankiers nicht und sagte erstaunt zu Monte Christo, der ihn vollkommen verstanden hatte: Haben Sie gesehen, wie er mich anschaute, und was will er mit seinen Nachrichten aus Griechenland sagen?

Wie soll ich das wissen?

Ich setze voraus, Sie stehen in einer gewissenBeziehung zu diesem Lande.

Monte Christo lächelte, wie man lächelt, wenn man sich einer Antwort überheben will.

Sehen Sie, er nähert sich Ihnen, sagte Albert; ich will Fräulein Danglars ein Kompliment über ihre Kamee machen, inzwischen hat der Vater Zeit, mit Ihnen zu sprechen.

Wollen Sie ihr ein Kompliment machen, so tun Sie es wenigstens über ihre Stimme, versetzte Monte Christo.

Nein, das tut jeder.

Mein lieber Vicomte, erwiderte Monte Christo, IhrBenehmen kommt mir etwas sonderbar vor.

Albert trat mit lächelnden Lippen auf Eugenie zu.

Inzwischen neigte sich Danglars dem Grafen zu und flüsterte: Sie haben mir einen guten Rat gegeben, es liegt eine ganz furchtbare Geschichte in den Worten: Fernand und Janina, — Ah! bah!

Ja, ich werde es Ihnen erzählen; doch nehmen Sie den jungen Mann mit! Es wäre mir unangenehm, mit ihm zusammen zubleiben.

Erbegleitet mich; muß ich Ihnen immer noch den Vater schicken?… Mehr als je.

Gut.

Der Graf machte Albert ein Zeichen.

Beide verbeugten sich vor den Damen und gingen weg, wobei Albert sich Fräulein Danglars' geringschätzender Art gegenüber völlig gleichgültig verhielt, während Monte Christo Frau Danglars seine Ratschläge wiederholte, wie sich die Frau einesBankiers klüglich ihre Zukunft sichern müßte.

Andrea CavalcantibliebHerr des Schlachtfeldes.

Haydee

Kaum lenkte der Wagen um die Ecke, als sich Albert mit einem Gelächter, das zu lärmend war, um natürlich zu sein, an den Grafen wandte und sagte: Ich frage Sie, wie Karl IX. nach derBartholomäus‑Nacht Katharina von Medici fragte: Wie habe ich meine Rolle gespielt?

In welcher Hinsicht?

Hinsichtlich der Einsetzung meines Nebenbuhlersbei Herrn Danglars…

Welches Nebenbuhlers?

Bei Gott! Ihres Schützlings, des Herrn Cavalcanti.

Oh! keine schlechten Späße, Vicomte, Andrea ist nicht mein Schützling, am wenigstenbei Herrn Danglars.

Und das würde ich Ihnen zum Vorwurf machen, wenn der junge Mann eines Schutzesbedürfte; doch zu meinem Glücke kann er dessen entbehren.

Wie, Sie glauben, er mache den Hof?

Ich stehe Ihnen dafür; er seufzt, wälzt die Augen im Kopfe umher und gibt verliebte Töne von sich, kurz, er strebt mit allen Mitteln nach der Hand der stolzen Eugenie.

Was tut's, wenn man nur an Sie denkt!

Sagen Sie das nicht, lieber Graf, man stößt mich von zwei Seiten zurück.

Wie, von zwei Seiten?

Fräulein Eugenie hat mir kaum geantwortet, und Fräulein d'Armilly, ihre Vertraute, gar nicht.

Ja… aber der Vaterbetet Sie an…

Er? im Gegenteil, er hat mir tausend Dolche ins Herz gestoßen; Dolche, die in das Heft zurückfuhren, Theaterdolche, die er aber für wahr und wirklich hielt.

Die Eifersucht deutet Zuneigung an.

Ja, doch ichbin nicht eifersüchtig.

Er ist es!

Auf wen, auf Debray?

Nein, auf Sie.

Auf mich? Ich wette, daß er mir, ehe acht Tage vergehen, die Tür vor der Nase zumacht.

Sie täuschen sich, lieber Vicomte.

Haben Sie einenBeweis?

Wollen Sie ihn?

Ja.

Ichbinbeauftragt, den Herrn Grafen von Morcerf zubitten, einen entscheidenden Schrittbei demBaron zu tun.

Nicht wahr, das werden Sie nicht tun, lieber Graf?

Sie täuschen sich, Albert, ich werde es tun, da ich es versprochen habe.

Es scheint, es ist Ihnen alles daran gelegen, mich zu verheiraten, versetzte Albert mit einem Seufzer.

Es liegt mir daran, mit jedermann gut zu stehen. Aber, sagen Sie mir, was ist das eigentlich mit Debray? Ich sehe ihn nicht mehrbei derBaronin.

Es hat Streit gegeben.

Mit ihr?

Nein, mit demBaron.

Er hat also etwasbemerkt?

Sie scherzen!

Glauben Sie, er habe es vermutet? versetzte Monte Christo naiv.

Ei, woher kommen Sie denn, lieber Graf?

Vom Kongo, wenn Sie wollen.

Das ist noch nicht fern genug.

Kenne ich die Pariser Ehemänner?

Die Ehemänner sind überall dieselben. Wenn Sie sie in irgend einem Lande studiert haben, kennen Sie das ganze Geschlecht.

Doch was konnte denn Danglars und Debray entzweien? Sie schienen sich so gut zu verstehen, sagte Monte Christo mit gleicher Naivität.

Ah! wir kommen zu den Geheimnissen der Isis, und ichbin nicht eingeweiht. Wenn Herr Cavalcanti Sohn zur Familie gehört, so fragen Sie ihn danach.

Der Wagen hielt an.

Wir sind an Ort und Stelle, sagte Monte Christo, es ist erst halbelf Uhr, kommen Sie mit herauf, mein Wagen wird Sie zurückfahren.

Ich danke, mein Coupé muß uns gefolgt sein.

In der Tat, hier ist es, sagte Monte Christo und sprang zuBoden.

Beide traten in das Haus. Lassen Sie uns Tee machen, Baptistin, sagte Monte Christo, sobald sie im hellbeleuchteten Salon waren.

Baptistin entfernte sich, ohne ein Wort zu sagen. Wenige Sekunden nachher erschien er wieder mit Tee und allem erdenklichem Zubehör.

In der Tat, mein lieber Graf, was ich an Ihnenbewundere, ist nicht Ihr Reichtum, es gibt vielleicht reichere Leute als Sie; es ist nicht Ihr Geist, Beaumarchais hatte nicht mehr, aber ebensoviel. Es ist die Art und Weise, wie Sie auf die Sekundebedient werden, als obman schon an Ihrem Läuten erriete, was Sie zu haben wünschen, und als obdas, was Sie haben wollen, stetsbereit wäre.

An dem, was Sie sagen, ist etwas Wahres. Man kennt meine Gewohnheiten. Passen Sie auf! Wünschen Sie nicht irgend etwas zu tun, während Sie Tee trinken?

Bei Gott! ich wünsche zu rauchen.

Monte Christo näherte sich dem Glöckchen und tat einen Schlag.

Nach einer Sekunde öffnete sich einebesondere Tür, und Ali erschien mit zwei mit vortrefflichem Latakie gestopften Tschibuks.

Das ist wunderbar, sagte Morcerf.

Nein, das ist ganz einfach, versetzte Monte Christo. Ali weiß, daß ich gewöhnlich rauche, wenn ich Kaffee oder Tee trinke; er weiß, daß ich Tee verlangt habe; er weiß, daß ich mit Ihnen nach Hause gekommenbin, er hört, daß ich rufe, er vermutet die Ursache, und da er aus einem Lande stammt, wo die Gastfreundschaftbesonders mittels der Pfeife geübt wird, sobringt er statt eines Tschibuks zwei.

Das ist allerdings eine gute Erklärung; darum scheint es mir aber nicht minder wahr, daß nur Sie… Doch was höre ich?

Morcerf neigte sich nach der Tür, durch welche Töne wie von einer Guitarre drangen.

Meiner Treu, lieber Vicomte, Sie sind heute ein Opfer der Musik; Sie entgehen dem Piano Fräulein Danglars' nur, um in Haydees Guzla zu fallen.

Haydee! welchbewunderungswürdiger Name! Es gibt also wirklich auch außer in LordByrons Gedichten Frauen, die Haydee heißen?

Gewiß; Haydee ist ein in Frankreich sehr seltener, doch in Albanien und Epirus sehr gewöhnlicher Vorname, es ist, wie wenn man zumBeispiel sagte: Keuschheit, Schamhaftigkeit, Unschuld.

Oh! wie reizend! rief Albert; wie gern hörte ich unsere Französinnen sich Fräulein Güte, Fräulein Schweigen, Fräulein Nächstenliebe nennen! Wie wirkungsvoll müßte es sein, wenn esbei einem Heiratsaufgebot, statt Claire Marie Eugenie, Fräulein Keuschheit‑Schamhaftigkeit‑Unschuld Danglars heißen würde!

Sie sind verrückt! sagte der Graf; reden Sie nicht so laut! Haydee könnte es hören.

Und sie würde sich darüber ärgern?

Nein, sagte der Graf kalt.

Sie ist gut?

Es ist nicht Güte, es ist Pflicht; eine Sklavin ärgert sich nicht über ihren Herrn.

Scherzen Sie nicht! Es gibt keine Sklavinnen mehr!

Sicher, da Haydee die meinige ist.

In der Tat, Sie tun nichts und haben nichts, wie andere Menschen. Sklavin des Grafen Monte Christo! Das ist auch eine Stellung. Nach der Art und Weise, wie Sie das Geld inBewegung setzen, muß es ein Platz sein, der hunderttausend Taler jährlich einträgt.

Hunderttausend Taler! Die Arme hat mehr als diesbesessen. Die Schätze ihres Vaters konnten den Vergleich mit denen aus Tausendundeiner Nacht aushalten.

Sie ist also wirklich von Geburt eine Prinzessin?

Gewiß, und zwar eine der reichsten ihres Landes.

Ich vermutete es. Doch wie ist aus der vornehmen Prinzessin eine Sklavin geworden?

Wie ist Dionys, der Tyrann von Syrakus, Schulmeister geworden? Der Zufall des Krieges, lieber Vicomte, die Laune des Schicksals.

Und ihr Name ist ein Geheimnis?

Ja, für alle, aber nicht für Sie, lieber Vicomte, der Sie zu meinen Freunden gehören, und der Sie schweigen, nicht wahr, wenn Sie mir zu schweigen versprechen?

Bei meinem Ehrenwort.

Sie kennen die Geschichte des Paschas von Janina?

Von Ali Tependelini? Ganz gewiß, denn mein Vater hat in seinen Diensten sein Glück gemacht.

Es ist wahr, ich hatte es vergessen.

Nun, in welcherBeziehung steht Haydee zu Ali Tependelini?

Sie ist ganz einfach seine Tochter.

Wie, die Tochter von Ali Pascha?

Ja, von der schönen Wasiliki.

Und sie ist Ihre Sklavin?

Mein Gott, ja!

Wie ist dies zugegangen?

Als ich eines Tages über den Markt von Konstantinopel ging, kaufte ich sie.

Das ist herrlich! Bei Ihnen, lieber Graf, lebt man nicht, sondern träumt. Doch hören Sie, was ich Sie nun fragen werde, ist sehr unbescheiden.

Sprechen Sie immerhin.

Da Sie mit ihr ausgehen, da Sie Haydee in die Oper führen, so kann ich mich wohl erdreisten…

Sie können sich erdreisten, alles von mir zu verlangen.

Wohl, lieber Graf, stellen Sie mich Ihrer Prinzessin vor.

Gern; doch unter zweiBedingungen.

Ich nehme sie zum voraus an.

Einmal dürfen Sie diese Vorstellung niemand mitteilen.

Sehr gut. Ich schwöre.

Und sodann dürfen Sie ihr nicht sagen, Ihr Vater habe dem ihrigen gedient.

Ich schwöre abermals.

Vortrefflich. Vicomte, nicht wahr, Sie werden sich dieserbeiden Schwüre erinnern?

Oh! gewiß.

Gut, ich weiß, daß Sie ein Mann von Ehre sind.

Der Graf schlug abermals auf das Glöckchen; Ali erschien.

Melde Haydee, sagte er zu ihm, daß ich den Kaffeebei ihr trinken will, und mache ihrbegreiflich, daß ich sie um Erlaubnisbitte, ihr einen von meinen Freunden vorzustellen.

Ali verbeugte sich und trat ab.

Es ist also abgemacht, wandte er sich wieder an Albert, keine unmittelbare Frage, lieber Vicomte. Wenn Sie etwas wissen wollen, so fragen Sie mich, und ich werde Haydee fragen.

Abgemacht!

Ali erschien zum dritten Male und hielt den Türvorhang aufgehoben, um seinem Herrn und Albert anzudeuten, daß sie kommen könnten.

Treten wir ein! sagte Monte Christo.

Albert fuhr mit der Hand in seine Haare und kräuselte seinen Schnurrbart. Der Graf nahm seinen Hut, zog seine Handschuhe an und ging Albert in die Wohnung voran, die von Ali wie von einem Vorpostenbewacht und von den drei Myrtho untergebenen französischen Kammerfrauen verteidigt wurde.

Haydee wartete im ersten Zimmer, dem Salon, mit großen Augen, in denen sich das Erstaunen deutlich ausprägte, denn es geschah zum erstenmal, daß ein anderer Mann als Monte Christo zu ihr drang. Sie saß mit gekreuztenBeinen in der Ecke eines Sofas wie in einem Nest aus den reichsten gestickten und gestreiften orientalischen Seidenstoffen; neben ihr lag das Instrument, dessen Töne sie verraten hatten. Sie war reizend anzuschauen.

Als sie Monte Christo erblickte, stand sie auf, mit dem doppelten Lächeln der Tochter und der Liebenden, das nur ihr eigen war; Monte Christo ging auf sie zu und reichte ihr seine Hand, auf die sie, wie gewöhnlich, ihre Lippen drückte.

Albert warbeim Anblick dieser seltsamen Schönheit, die er zum erstenmal sah, und von der sich ein Franzose keinenBegriff machen konnte, bei der Tür stehen geblieben.

Wenbringst du? fragte das Mädchen in neugriechischer Sprache, einenBruder, einen Freund, einenBekannten oder einen Feind?

Einen Freund, antwortete Monte Christo in derselben Sprache.

Wie heißt er?

Graf Albert, derselbe, den ich in Rom den Händen derBanditen entrissen habe.

In welcher Sprache soll ich mit ihm reden?

Monte Christo wandte sich zu Albert und fragte den jungen Mann:

Kennen Sie das Neugriechische?

Ach, nicht einmal das Altgriechische, versetzte Albert; Homer und Plato haben einen erbärmlichen Schüler an mir gehabt.

Nun wohl, sagte Haydee undbewies durch ihre Worte, daß sie Monte Christos Frage und Alberts Antwort gehört und verstanden hatte, ich werde Französisch oder Italienisch sprechen, wenn es überhaupt meines Herrn Wille ist, daß ich spreche.

Monte Christo dachte einen Augenblick nach und erwiderte: Du wirst Italienisch sprechen. Dann sagte er zu Albert: Es ist ärgerlich, daß Sie weder das Neugriechische, noch das Altgriechische verstehen, denn Haydee sprichtbeides vortrefflich; die Arme ist genötigt, Italienisch mit Ihnen zu reden, was Ihnen vielleicht einen falschenBegriff von ihr geben wird.

Er machte Haydee ein Zeichen.

Sei willkommen, Freund, der du mit meinem Herrn und Gebieter erscheinst, sagte das Mädchen in vortrefflichem Toskanisch und mit weichem, römischem Akzent. Ali, Kaffee und Pfeifen!

Monte Christo zeigte Albert zwei Stühle, die sie an ein mit natürlichenBlumen, Zeichnungen und Musikalienbedecktes Tischchen rückten.

Ali kehrtebald mit dem Kaffee und den Tschibuks zurück; Baptistin war dasBetreten dieses Teils der Wohnung verboten.

Albert wies die Pfeife zurück, die ihm der Nubierbot.

Oh! nehmen Sie, nehmen Sie, sagte Monte Christo; Haydee istbeinahe ebenso zivilisiert wie eine Pariserin; eine Havanna ist ihr unangenehm, weil sie die schlechten Gerüche nicht liebt, doch der orientalische Tabak gibt einen Wohlgeruch, wie Sie wissen.

Ali verließ das Zimmer.

Der Kaffee war zum Genusse völligbereitet, nur hatte man für Albert eine Zuckerdose zur Verfügung gestellt. Monte Christo und Haydee nahmen den arabischen Trank nach Art der Araber, nämlich ohne Zucker.


Haydee streckte ihre Hand aus und faßte mit der Spitze ihrer zarten, rosigen Finger die Tasse von japanischem Porzellan, die sie mit dem naiven Vergnügen eines Kindes, das Angenehmes ißt oder trinkt, an ihre Lippen führte.

Zu gleicher Zeit traten zwei Frauen ein undbrachten zwei andere Platten, beladen mit Eis und Sorbet, die sie auf kleine, eigens dafürbestimmte Tische setzten.

Mein lieber Wirt und Sie, Signora, sagte Albert Italienisch, entschuldigen Sie mein Erstaunen. Ichbin ganz verwirrt, und das ist natürlich; ich finde hier den Orient, den wahren Orient, nicht wie ich ihn gesehen, sondern wie ich ihn geträumt, im Schoße von Paris geträumt habe. Oh! Signora, daß ich nicht Griechisch sprechen kann, Ihre Rede, verbunden mit dieser feenhaften Umgebung, wurde für mich einen Abendbilden, dessen ich mich stets erinnern müßte.

Ich spreche gut genug Italienisch, um mich mit Ihnen zu unterhalten, mein Herr, sagte Haydee gelassen, und ich werde nach Kräften dafür sorgen, daß Sie den Orient hier wiederfinden, wenn Sie ihn lieben.

Wovon kann ich mit ihr sprechen? fragte Albert ganz leise Monte Christo.

Wovon Sie wollen, von ihrem Vaterland, von ihrer Jugend, von ihren Erinnerungen, oder wenn Sie lieber wollen, von Rom, von Neapel, von Florenz.

Oh! es wäre nicht der Mühe wert, eine Griechin vor sich zu haben, um mit ihr von dem zu reden, wovon man mit einer Pariserin reden würde; lassen Sie mich mit ihr vom Orient sprechen.

Tun Sie das, mein lieber Albert, es ist für sie die angenehmste Unterhaltung.

Albert wandte sich an Haydee und fragte: In welchem Alter hat Signora Griechenland verlassen?

Mit fünf Jahren.

Und Sie erinnern sich Ihres Vaterlandes?

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich alles wieder, was ich gesehen habe.

Und was ist die fernste Zeit, deren Sie sich erinnern?

Ich konnte kaum gehen; meine Mutter, die Wasiliki hieß — was königlichbedeutet, fügte das Mädchen stolz hinzu — meine Mutter nahm michbei der Hand, und wir gingenbeide, nachdem wir in unsereBörse alles Gold getan hatten, das wirbesaßen, mit Schleiernbedeckt umher und forderten mit den Worten: Wer den Armen gibt, leiht dem Ewigen, Almosen für die Gefangenen. Wenn dann unsereBörse voll war, kehrten wir in den Palast zurück und schickten, ohne meinem Vater ein Wort zu sagen, alles Gold, das man uns, im Glauben, wir seien arme Frauen, gegeben hatte, dem Hegumenos des Klosters, der es unter die Gefangenen austeilte.

Wie alt waren Sie damals?

Drei Jahre, sagte Haydee.

Sie erinnern sich also alles dessen, was seit Ihrem dritten Lebensjahre um sie her sich zugetragen hat?

Gewiß.

Graf, sagte leise Morcerf zu Monte Christo, Sie sollten ihr erlauben, uns etwas von ihrer Geschichte zu erzählen. Sie haben mir verboten, von meinem Vater mit ihr zu sprechen, doch vielleicht spricht sie von ihm, und Sie können sich gar nicht denken, wie glücklich ich wäre, seinen Namen aus einem so schönen Munde nennen zu hören.

Monte Christo wandte sich an Haydee und sagte zu ihr mit scharferBetonung auf griechisch: Erzähle uns das Schicksal deines Vaters, aber nenne nicht den Namen des Verräters. Haydee stieß einen langen Seufzer aus, und eine düstere Wolke zog über ihre reine Stirn hin.

Was sagen Sie ihr? fragte ganz leise Morcerf.

Ich wiederhole ihr, daß Sie ein Freund von mir sind, und daß sie Ihnen gegenüber nichts zu verbergen habe.

Das ist also Ihre erste Erinnerung? sagte Albert, was schwebt Ihnen sonst noch vor?

Ich sehe mich unter dem Schatten von Ahornbäumen, in der Nähe eines Sees, dessen zitternden Spiegel ich noch durch dasBlätterwerk erblicke. An dem ältesten undbuschreichstenBaume saß mein Vater auf Kissen, und während meine Mutter zu seinen Füßen lag, spielte ich mit seinem weißenBarte, derbis auf seineBrust herabhing, und mit dem in seinem Gürtel steckenden Kandschar mit dem Diamantgriffe. Von Zeit zu Zeit kam ein Albanese zu ihm und sagte ein Paar Worte, auf die mein Vater gleichmütige Tötet! oderbegnadigt! antwortete.

Ich war vier Jahre alt, als ich eines Abends von meiner Mutter aufgeweckt wurde. Wirbefanden uns in dem Palaste von Janina; sie nahm mich von den Kissen, auf denen ich ruhte, und als ich die Augen öffnete, sah ich die ihrigen voll schwerer Tränen. Sie trug mich fort, ohne etwas zu sagen. Als ich wahrnahm, daß sie weinte, fing ich ebenfalls an zu weinen. Still, Kind! sagte sie. Trotz der mütterlichen Tröstungen oder Drohungen fuhr ich, launenhaft wie alle Kinder, fort zu weinen; doch schließlich lag in der Stimme meiner armen Mutter ein solcher Ausdruck von Schrecken, daß ich schwieg.

Sie trug mich rasch weiter. Wir stiegen einebreite Treppe hinab; alle Frauen meiner Mutter stiegen oder stürzten vielmehr, Kisten, Sacke, Putzsachen, Juwelen, Goldbörsen tragend, dieselbe Treppe hinab. Hinter den Frauen kam eine Wache von zwanzig Mann, bewaffnet mit langen Flinten und Pistolen.

Glauben Sie, sagte Haydee, den Kopf schüttelnd und schonbei dieser Erinnerung erbleichend, es lag etwas Unseliges in der langen Reihe von Sklaven und Frauen, die halbschlaftrunken waren, — wenigstensbildete ich es mir ein, denn ich hielt vielleicht die andern für schläfrig, weil ich selbst nur halbwach war. Auf der Treppe liefen riesige Schatten, welche der Schein der tannenen Fackeln an den Gewölben zittern ließ. Eilt! rief eine Stimme im Hintergrunde der Galerie. Bei dieser Stimmebeugte sich alles, wie der Wind, der über die Ebene hinstreicht, das Ährenfeld sichbeugen läßt.

Ich aber zitterte.

Die Stimme war die meines Vaters. Er kam zuletzt in seinen glänzenden Gewändern und den Karabiner in der Hand haltend, den Ihr Kaiser ihm geschenkt hatte. Auf seinen Liebling Selim gestützt, trieber uns vor sich her, wie ein Hirt seine verirrte Herde.

Mein Vater, fuhr Haydee, das Haupt erhebend, fort, mein Vater war derberühmte Mann, den Europa unter dem Namen Ali Tependelini, Pascha von Janina, gekannt hat, und vor dem die Türken zitterten.

Ohne zu wissen warum, bebte Albert, als er diese Worte mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Hoheit und Würde aussprechen hörte. Es kam ihm vor, als strahlte etwas Düsteres, Furchtbares in den Augen des griechischen Mädchens; einer Zauberin ähnlich, die ein Gespenst heraufbeschwört, erweckte Haydee die Erinnerung an dieblutige Gestalt, deren gräßlicher Tod sie in den Augen des damaligen Europa riesenhaft erscheinen ließ.

Bald hielt man an, fuhr Haydee fort, wir waren unten an der Treppe und am Rande eines Sees. Meine Mutter drückte mich an ihre pochendeBrust, und ich sah zwei Schritte hinter uns meinen Vater, der unruhig nach allen Seiten umherschaute. Vor uns lagen vier Marmorstufen, und unten an der letzten Stufe schaukelte eineBarke. Von dem Orte aus, wo wir waren, sah man mitten im See eine schwarze Masse sich erheben; es war der Kiosk, nach dem wir unsbegaben. Dieser Kiosk schien mir sehr weit entfernt zu sein, vielleicht wegen der Dunkelheit. Wir stiegen in dieBirke hinab. Außer den Ruderern waren in derBarke nur die Frauen, mein Vater, meine Mutter, Selim und ich. Die Palikaren waren, bereit, den Rückzug zu decken, am Rande des Sees geblieben; sie knieten auf der untersten Stufe und machten sich so für den Fall, daß sie verfolgt würden, einen Wall aus den drei andern. UnsereBarke ging wie der Wind.

Warum geht dieBarke so geschwind? fragte ich meine Mutter.

Still, mein Kind! sagte sie, wir fliehen.

Ichbegriff das nicht. Warum floh mein Vater? Er, der Allmächtige, vor dem gewöhnlich die andern flohen, er, dessen Wahlspruch es war: Sie mögen mich hassen, wenn sie mich nur fürchten!

Es war aber in der Tat eine Flucht. Man sagte mir seitdem, eines langen Dienstes müde, habe die Garnison von Janina…

Hier heftete Haydee ihren ausdrucksvollenBlick auf Monte Christo, dessen Augen die ihrigen nicht mehr verließen. Das Mädchen fuhr langsam fort, wie jemand, der erfindet oder unterdrückt.

Sie sagten, Signora, erinnerte Albert, der mit der größten Aufmerksamkeit dieser Erzählung zuhörte, des langen Dienstes müde, habe die Garnison von Janina…

Mit dem Seraskier Kurschid unterhandelt, der von dem Sultan abgeschickt war, meinen Vater festzunehmen. Damals faßte mein Vater den Entschluß, nachdem er an den Sultan einen fränkischen Offizier, dem er sein ganzes Zutrauen schenkte, abgeschickt hatte, sich nach dem Asile zurückzuziehen, das er sich seit langer Zeitbereitet hatte.

Und Sie erinnern sich des Namens dieses Offiziers?

Nein, ich entsinne mich dessen nicht, antwortete Haydee, durch einenBlick des Grafen gewarnt, doch er wird mir vielleicht später einfallen, und ich werde ihn dann nennen. Albert wollte den Namen seines Vaters aussprechen, als Monte Christo langsam den Finger aufhob; der junge Mann erinnerte sich seines Schwures und schwieg.

Wir segelten auf den Kiosk zu. Ein mit Arabesken verziertes Erdgeschoßbadete seine Terrassen im Wasser; dieses Erdgeschoß und ein Stockwerk darüber war alles, was der Palast den Augen Sichtbaresbot. Aber unter dem Erdgeschosse war, sich nach der Insel ausdehnend, ein Gewölbe, eine weite Höhle, in die man uns, meine Mutter, mich und unsere Frauen, führte und wo auf einem einzigen Haufen sechzigtausendBeutel und zweihundert Fässer lagen. In diesenBeuteln waren fünfundzwanzig Millionen in Gold, in den Fässern dreißiglausend Pfund Pulver enthalten. Bei den Fässern stand Selim, der von mir erwähnte Liebling meines Vaters. Er wachte Tag und Nacht, mit einem Spieße in der Hand, an dessen Ende eine Luntebrannte, und hatteBefehl, auf das erste Zeichen meines Vaters alles, Kiosk, Waffen, Pascha, Frauen und Gold, in die Luft zu sprengen.

Ich kann nicht sagen, wie lange wir soblieben; zuweilen, jedoch selten, ließ mein Vater mich und meine Mutter auf die Terrasse des Palastes rufen; das waren die festlichsten Stunden für mich. Mein Vater heftetebeständig seinen düsterenBlick in den Umkreis des Horizontes undbefragte jeden schwarzen Punkt, der auf dem See erschien, während meine Mutter in halbliegender Stellung ihren Kopf auf seine Schulter stützte und ich, zu seinen Füßen spielend, mit erstaunten Kinderaugen, welche die Gegenstände noch vergrößern, die Abdachungen des am Horizont sich erhebenden Pindusbetrachtete. Aus demblauen Wasser des Sees traten weiß und eckig die Schlösser von Janina und die ungeheuren, schwarzgrünenBaumgruppen, die wie Schlingpflanzen am Gebirge hingen und aus der Ferne wie Moose aussahen.

Eines Morgens ließ uns mein Vater holen; meine Mutter hatte die ganze Nacht geweint; wir fanden ihn ziemlich ruhig, aberbleicher als gewöhnlich.

Fasse Geduld, Wasiliki, sagte er, heute wird alles vorüber sein; heute kommt der Ferman des Herrn, und mein Schicksal entscheidet sich. Bin ich völligbegnadigt, so kehren wir nach Janina zurück, ist die Nachricht schlimm, so fliehen wir in dieser Nacht.

Aber wenn sie uns nicht fliehen lassen? entgegnete meine Mutter.

Oh, sei unbesorgt! sagte Ali lächelnd; Selim und seine Lunte haften mir dafür. Es wäre ihnen lieb, wenn ich sterben müßte, doch nicht, wenn sie mit mir sterben müssen.

Meine Mutter antwortete auf diese Tröstungen, die nicht aus dem Herzen meines Vaters kamen, nur durch Seufzer. Siebereitete ihm das Eiswasser, das er jeden Augenblick trank, denn seit dem Rückzuge nach dem Kiosk verzehrte ihn ein glühendes Fieber; sie zündete den Tschibuk an, dessen in der Luft verfliegendem Rauche seine zerstreutenBlicke zuweilen ganze Stunden lang folgten.

Plötzlich machte er eine so ungestümeBewegung, daß mirbange wurde. Dann verlangte er, ohne die Augen von dem Gegenstand abzuwenden, der seine Aufmerksamkeit fesselte, ein Fernglas.

Meine Mutter, bleicher als die Wand, an die sie sich lehnte, gabes ihm.

Ich sah die Hand meines Vaters zittern. EineBarke!.. zwei… drei… murmelte mein Vater; vier!.. und er stand auf und ergriff seine Waffen und schüttete, wie ich mich genau erinnere, Pulver auf die Pfannen seiner Pistolen.

Wasiliki, sagte erbebend zu meiner Mutter, der entscheidende Augenblick ist gekommen; in einer halben Stunde wissen wir die Antwort des Großherrn; begibdich mit Haydee in das unterirdische Gewölbe.

Ich will Euch nicht verlassen, entgegnete Wasiliki, sterbt Ihr, Herr, so will ich mit Euch sterben.

Geht zu Selim, rief mein Vater.

Gottbefohlen, Herr! murmelte meine Mutter, gehorchend und wie gelähmt, als nahte ihr der Tod.

Ich aber lief auf meinen Vater zu und streckte meine Arme nach ihm aus; er sah mich, neigte sich auf mich herabund drückte meine Stirn an seine Lippen. Oh! dieser Kuß war der letzte, und ich fühle ihn noch hier auf meiner Stirn.

Beim Hinabsteigen erblickten wir durch die Gitter der Terrasse dieBarken, die auf dem See immer größer wurden, und kaum erst schwarzen Punkten ähnlich, nunbereits die Oberfläche der Wellen streifenden Vögeln glichen. Zu den Füßen meines Vaters sitzend und durch das Geräusch verborgen, beobachteten mittlerweile zwanzig Palikaren mitblutigem Auge die Ankunft der Schiffe und hielten ihre langen, mit Perlmutter und Silber eingelegten Flintenbereit. Patronen lagen in großer Anzahl auf demBoden zerstreut; mein Vater schaute auf seine Uhr und ging ängstlich hin und her. Meine Mutter und ich gingen durch das unterirdische Gewölbe. Selim war immer noch an seinem Posten; er lächelte uns traurig zu, und obgleich noch Kind, fühlte ich doch, daß eine große Gefahr über unsern Häuptern schwebte.

Albert hatte oft, nicht von seinem Vater, der nie darüber sprach, sondern von Fremden die letzten Augenblicke des Wesirs von Janina erzählen hören; doch diese durch die Person und die Stimme des Mädchens zu neuem Leben erweckte Geschichte, der gefühlvolle Ausdruck, die klagende Elegie durchdrangen ihn zugleich mit einem unbeschreiblichen Zauber und mit einem unaussprechlichen Schmerz.

Ganz ihren furchtbaren Erinnerungen hingegeben, hatte Haydee einen Augenblick zu sprechen ausgehört; wie eineBlume, die sich vor dem Sturme neigt, beugte sich ihre Stirn auf die Hand, und ihre im weiten Räume verlorenen Augen schienen noch am Horizont den grünen Pindus und dieblauen Wasser des Sees zu schauen, der, ein magischer Spiegel, das düstere Gemälde, das sie entwarf, widerstrahlte.

Monte Christo schaute sie voll Teilnahme und Mitleid an.

Endlich erhobHaydee die Stirn und fuhr fort: Es war vier Uhr abends; aber obgleich der Tag außen rein und glänzend war, blieben wir doch in den Schatten des unterirdischen Gewölbes versenkt. Ein einziger Schein glänzte in der Höhle, ähnlich einem am Grunde eines schwarzen Himmels zitternden Stern, es war Selims Lunte. Meine Mutter war eine Christin undbetete. Selim wiederholte von Zeit zu Zeit die geheiligten Worte: Allah ist groß! Meine Mutter hatte jedoch noch einige Hoffnung. Als sie hinabstieg, hatte sie den Franken zu erkennen geglaubt, den man nach Konstantinopel geschickt, und in den mein Vater sein ganzes Vertrauen setzte, denn er wußte, daß die Soldaten des französischen Sultans gewöhnlich edel und hochherzig sind. Sie ging einige Schritte zur Treppe hin und horchte. Sie nahen, sagte sie; wenn sie nur den Frieden und das Lebenbringen! Wasbefürchtest du, Wasiliki, entgegnete Selim mit seiner zugleich weichen und stolzen Stimme; bringen sie uns nicht den Frieden, so geben wir ihnen den Krieg; bringen sie uns nicht das Leben, so geben wir ihnen den Tod. Und er fachte die Flamme seines Spießes von neuem an. Aber ich, die noch ganz Kind war, fürchtete mich vor diesem Mute, den ich wild und unsinnig fand, und erschrak vor dem furchtbaren Tode in der Luft und in den Flammen. Meine Mutter mußte wohl dasselbe empfinden, denn ich fühlte ihre Handbeben.

Mein Gott! mein Gott! Mama, rief ich, müssen wir sterben? Undbei dem Tone meiner Stimme verdoppelten sich die Tränen und die Gebete der Sklavinnen. Kind, sagte meine Mutter, Gottbehüte dich, daß du dir je den Tod wünschest, vor dem dir heutebange ist!

Selim, sagte sie, wie lautet derBefehl des Herrn?

Schickt er mir seinen Dolch, so weigert sich der Sultan, ihn in Gnade zu empfangen, und ich lege Feuer an; schickt er mir seinen Ring, so verzeiht ihm der Sultan, und ich lösche meine Flamme aus.

Freund, versetzte meine Mutter, wenn derBefehl des Herrn kommt er schickt dir den Dolch, so reichen wir dir, statt eines Todes zu sterben, der uns erschreckt, dieBrust, und du tötest uns mit diesem Dolche.

Ja, Wasiliki, antwortete Selim ruhig.

Plötzlich vernahmen wir ein Geschrei; wir horchten: es war ein Freudengeschrei; der Name des Franken, den man nach Konstantinopel, geschickt, erscholl wiederholt aus dem Munde unserer Palikaren; offenbarbrachte er die Antwort des Großherrn, und die Antwort lautete günstig.

Und Sie erinnern sich dieses Namens nicht? fragte Morcerf.

Monte Christo machte ihr ein Zeichen.

Ich erinnere mich seiner nicht, sagte Haydee.

Der Lärm vermehrte sich, es erschollen immer näher kommende Tritte; man stieg die Stufen des unterirdischen Gewölbes hinab. Selim hielt seinen Spießbereit. Bald erschien ein Schatten in derbläulichen Dämmerung, mit welcher die durch den Eingang des unterirdischen Gewölbes eindringenden Strahlen den Raum erfüllten. Werbist du? rief Selim. Wer du auch sein magst, tue keinen Schritt weiter.

Ehre dem Sultan! sagte der Schatten. Dem Wesir Ali ist volleBegnadigung zugestanden, und man hat ihm nicht nur das Leben gesichert, sondern man gibt ihm auch sein Vermögen und seine Güter zurück. Meine Mutter stieß einen Freudenschrei aus und drückte mich an ihr Herz. Halt! sagte Selim, als er sah, daß sie forteilen wollte, du weißt, daß ich den Ring haben muß.

Es ist richtig, sagte meine Mutter, und fiel auf die Knie und hobmichbetend zum Himmel empor.

Wieder schwieg Haydee, von einer so furchtbaren Erschütterung überwältigt, daß ihr der Schweiß von derbleichen Stirn floß und ihre zusammengepreßte Stimme nicht mehr durch die Kehle dringen zu können schien. Monte Christo goß ein wenig Eiswasser in ein Glas, bot es ihr und sprach mit weichem, aber doch auch ein wenig gebieterischem Tone: Mut gefaßt, meine Tochter!

Haydee trocknete ihre Augen und fuhr fort: An die Dunkelheit gewöhnt, hatten mittlerweile unsere Augen den Abgesandten des Paschas erkannt; es war ein Freund. Selim hatte ihn ebenfalls wahrgenommen, doch derbrave junge Mann kannte nur eines: Gehorsam.

In wessen Namen kommst du? fragte er.

Ich komme im Namen deines Herrn, Ali Tependelini, Wenn du im Namen Alis kommst, so weißt du, was du mir zu übergeben hast.

Ja, sagte der Abgeordnete, ichbringe dir seinen Ring, Gleichzeitig hober seine Hand empor, aber er stand zu weit entfernt, und es war nicht hell genug, als daß Selim den Gegenstand, den er ihm zeigte, zu unterscheiden vermochte. Ich weiß nicht, was du in der Hand hältst, sagte Selim.

Nähere dich! sagte derBote, oder ich werde mich dir nähern.

Weder das eine noch das andere, entgegnete der junge Soldat, lege auf die Stelle, wo dubist, und unter den Lichtstrahl den Gegenstand, den du mir zeigst, und ziehe dich zurück, bis ich ihn gesehen habe.

Es sei, sagte derBote.

Und er zog sich zurück, nachdem er das Erkennungszeichen niedergelegt hatte. Unser Herz schlug gewaltig, denn es schien wirklich ein Ring zu sein. Nur fragte es sich, obes der Ring meines Vaters war. Beständig die angezündete Lunte in der Hand haltend, ging Selim an die Öffnung, bückte sich unter den Lichtstrahl und hobdas Zeichen auf. Der Ring des Herrn, sagte er, ihn küssend, es ist gut! Und die Lunte auf denBoden werfend, trat er darauf und löschte sie aus. DerBote stieß einen Freudenschrei aus und klatschte in die Hände.

Auf dieses Zeichen liefen vier Soldaten des Seraskiers Kurschid herbei, und Selim stürzte, von fünf Dolchstößen durchbohrt, nieder.

Jeder hatte ihm einen Stoß versetzt. Und trunken von ihrem Verbrechen, obgleich nochbleich vor Schrecken, stürzten sie in das Gewölbe, suchten überall, obFeuer da wäre, und wälzten sich auf den Goldsäcken.

Mittlerweile faßte mich meine Mutter in ihre Arme und gelangte zu einer Geheimtreppe des Kiosks, in dem ein furchtbarer Aufruhr herrschte. Die unteren Säle waren ganz gefüllt von den Tschodoars von Kurschid, das heißt von unseren Feinden. In dem Augenblick, wo meine Mutter die kleine Tür aufstoßen wollte, hörten wir furchtbar und drohend die Stimme des Paschas ertönen. Meine Mutter hielt ihr Auge an eine Spalte in denBrettern; auch ich fand eine undblickte hindurch.

Was wollt ihr? sagte mein Vater zu den Leuten, die ein Papier mit goldenenBuchstaben in der Hand hielten.

Was wir wollen? entgegnete einer von ihnen, dir den Willen Seiner Hoheit mitteilen. Siehst du diesen Ferman?

Ich sehe ihn.

So lies; er fordert deinen Kopf.

Mein Vaterbrach in ein Gelächter aus, das furchtbarer war, als irgend eine Drohung hätte sein können; doch er hatte noch nicht zu lachen aufgehört, alsbereits von zwei Pistolenschüssen aus seinen Händen zwei Männer tot niedergestreckt waren. Die Palikaren, die, mit dem Gesicht zur Erde, um meinen Vater lagen, erhoben sich und gaben Feuer, das Gemach füllte sich mit Geschrei, Flammen und Rauch. Aus der Stellebegann das Feuer von der andern Seite, und die Kugeln durchlöcherten dieBretter um uns her. Oh! wie schön, wie groß er war, der Wesir Ali Tependelini, mein Vater, mitten unter den Kugeln, den Säbel in der Faust, das Gesicht von Pulver geschwärzt! Wie seine Feinde flohen!

Selim! Selim! schrie er, Feuerwächter, tu deine Pflicht!

Selim ist tot, antwortete eine Stimme, die aus den Tiefen des Kiosks zu kommen schien, und du, Herr, bist verloren!

Gleichzeitig vernahm man einen dumpfen Ton, und derBoden flog um meinen Vater in Stücke. Die Tschodoars schossen durch denBoden, und drei oder vier Palikarenbrachen, schrecklich verwundet, zusammen. Mein Vaterbrüllte, streckte seine Finger durch die von den Kugeln gemachten Löcher und riß ein ganzesBrett aus. In demselben Augenblicke aber krachten durch diese Öffnung zwanzig Flintenschüsse, und wie aus dem Krater eines Vulkans hervorströmend, ergriff die Flamme die Tapeten und verzehrte sie.

Mitten unter diesem furchtbaren Aufruhr, mitten unter diesem gräßlichen Geschrei, ließen mich zweibesondere Schüsse, denen zwei herzzerreißende, alles andere übertönende Schreie folgten, vor Schrecken zu Eis erstarren: die Schüsse hatten meinen Vater tödlich getroffen, und er hatte die Schreie ausgestoßen. Trotzdem war er, sich an ein Fenster klammernd, aufrecht stehen geblieben. Meine Mutter rüttelte an der Tür, um mit ihm zu sterben, aber die Tür war verschlossen. Rings um ihn her krümmten sich Palikaren, im Todeskampfe zuckend; zwei oder drei, die ohne Wunden oder nur leicht verwundet waren, sprangen durch die Fenster. Zu gleicher Zeit krachte der ganzeBoden, von unten zertrümmert. Mein Vater fiel auf ein Knie, zwanzig Arme streckten sich, mit Säbeln, Pistolen, Dolchenbewaffnet, nach ihm aus; zwanzig Streiche trafen in derselben Sekunde einen einzigen Mann, und mein Vater verschwand in einem von diesenbrüllenden Teufeln angezündeten Feuerwirbel, als obsich die Hölle unter seinen Füßen geöffnet hätte. Ich fühlte, wie ich zuBoden rollte; meine Mutter stürzte ohnmächtig nieder.

Haydee ließ, einen Seufzer ausstoßend, ihre Arme sinken und schaute den Grafen an, als wollte sie ihn fragen, ober mit ihrem Gehorsam zufrieden sei.

Der Graf stand auf, faßte siebei der Hand und sagte in neugriechischer Sprache zu ihr: Beruhige dich, liebes Kind, fasse Mut undbedenke, daß es einen Gott gibt, der die Verräterbestraft.

Das ist eine furchtbare Geschichte, Graf, sagte Albert, ganz erschrocken über HaydeesBlässe; ich mache es mir zum Vorwurf, daß ich so grausam unbescheiden gewesenbin.

Es ist nichts, erwiderte Monte Christo und fuhr, seine Hand auf den Kopf des Mädchens legend, fort: Haydee ist mutig; sie hat in der Erzählung ihrer Schmerzen eine Erleichterung gefunden.

Weil mich meine Schmerzen an deine Wohltaten erinnern, mein Herr, versetzte rasch Haydee.

Albert schaute sie neugierig an, denn sie hatte noch nicht erzählt, was er am meisten zu wissen wünschte, nämlich, wie sie Sklavin des Grafen geworden war.

Haydee sah in denBlicken des Grafen wie in denen Alberts dasselbe Verlangen ausgedrückt und fuhr fort: Als meine Mutter wieder zu sich kam, befanden wir uns vor dem Seraskier. Töte mich, sagte sie, aber schone die Ehre der Witwe Alis. — Du mußt dich nicht an mich wenden, erwiderte Kurschid. — An wen denn? — An deinen neuen Herrn. — Wer ist dies? — Hier steht er. Und Kurschid deutete auf einen von denen, die am meisten zum Tode meines Vatersbeigetragen hatten, fuhr das Mädchen mit dumpfem Zorne fort.

Ihr wurdet also das Eigentum dieses Mannes?

Nein, antwortete Haydee; er wagte nicht, uns zubehalten, und verkaufte uns an Sklavenhändler, die nach Konstantinopel zogen. Wir durchreisten Griechenland und kamen endlich sterbend an der kaiserlichen Pforte an, wo uns Neugierigebedrängten, als meine Mutter, denBlicken der Menge folgend, auf einmal einen Schrei ausstieß und, mir über der Pforte ein Haupt zeigend, niederstürzte. — Über diesem Haupte standen die Worte: Dies ist der Kopf Ali Tependelinis, Paschas von Janina. Weinend suchte ich meine Mutter aufzuheben, sie war tot. Man führte mich nach demBasar; ein reicher Armenier kaufte mich, gabmir Lehrer, ließ mich unterrichten und verlauste mich wieder an den Sultan Mahmud, als ich dreizehn Jahre alt war.

Von dem ich sie um den Smaragd erkaufte, der dem ähnlich war, in dem meine Haschischkügelchen enthalten sind, sagte Monte Christo.

Oh! dubist gut! Dubist groß, mein Herr, sagte Haydee, des Grafen Hand küssend, und ichbin sehr glücklich, daß ich dir gehöre.

Albert war ganzbetäubt von dem, was er vernommen hatte.

Leeren Sie Ihre Tasse, sagte der Graf zu ihm; die Geschichte ist zu Ende.

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