SechsterBand.

Der Vertrag.

Drei Tage nachher, gegen fünf Uhr abends, in dem Augenblick, wo Monte Christo eben ausfahren wollte, besuchte ihn Herr Andrea Cavalcanti, so vor Glück strahlend, als sei er imBegriff, eine Prinzessin zu heiraten.

Ei! guten Morgen, lieber Herr von Monte Christo! sagte er zu dem Grafen, den er auf der obersten Stufe traf.

Ah! Herr Andrea! erwiderte der Angeredete mit halbspöttischem Tone, wiebefinden Sie sich?

Vortrefflich, wie Sie sehen. Ich habe über tausenderlei Dinge mit Ihnen zu sprechen.

Nachdem Andrea aus die Aufforderung des Grafen im Salon des ersten Stockwerks Platz genommen hatte, sagte er mit lachender Miene: Sie wissen, daß die Zeremonie heute abend stattfindet?

Allerdings; ichbekam gestern einenBrief von Herrn Danglars. Sie sind nun also glücklich, Herr Cavalcanti? Sie schließen eine sehr wünschenswerte Verbindung; auch ist Fräulein Danglars sehr hübsch.

Jawohl, sagte Cavalcanti etwas kleinlaut.

Sie istbesonders sehr reich, wie ich glaube?

Sehr reich, glauben Sie? wiederholte der junge Mann.

Allerdings; man sagt, Herr Danglars verhehle wenigstens die Hälfte seines Vermögens.

Und erbekennt sich zu fünfzehnbis zwanzig Millionen! rief Andrea mit einem vor Freude funkelndenBlicke.

Abgesehen davon, daß dieses ganze Vermögen Ihnen zufließen wird, da Fräulein Danglars die einzige Tochter ist. Überdies kommt Ihr eigenes Vermögen — Ihr Vater hat mir dies wenigstens gesagt — dem IhrerBrautbeinahe gleich. Doch lassen wir die Geldsachebeiseite. Wissen Sie, Herr Andrea, daß Sie die Sache geschickt durchgeführt haben?

Nicht schlecht, sagte der junge Mann; ich war für die Diplomatie geboren.

Wohl, die diplomatische Laufbahn wird Ihnen offen stehen… Also das Herz ist auch gefangen?

In der Tat, ichbefürchte es.

Liebt man Sie ein wenig?

Es muß wohl sein, da man mich heiratet, erwiderte Andrea mit siegreichem Lächeln. Doch vergessen wir eines nicht. Es ist mirbeständig eine merkwürdige Unterstützung zuteil geworden.

Bah! Durch Zufall.

Nein, durch Sie.

Durch mich? Lassen Sie das, Prinz, sagte Monte Christo mit absichtlicherBetonung des Titels. Was konnte ich für Sie tun? Genügten nicht Ihr Name, Ihre gesellschaftliche Stellung und Ihr Verdienst?

Nein, nein; Sie mögen sagen, was Sie wollen, ichbehaupte, Herr Graf, daß die Stellung eines Mannes, wie Sie, mehr getan hat, als mein Name, meine gesellschaftliche Stellung und mein Verdienst.

Sie täuschen sich ganz und gar, mein Herr, sagte Monte Christo, der die Absicht des jungen Mannes durchschaute. Sie haben meine Protektion erst erlangt, nachdem ich von dem Einfluß und dem Vermögen Ihres Herrn Vaters Kenntnis genommen; denn wer hat im ganzen mir, der Sie nie gesehen hat und ebensowenig den erhabenen Urheber Ihrer Tage, das Glück verschafft, Sie kennen zu lernen? Zwei von meinen Freunden, Lord Wilmore und der AbbéBusoni. Wer hat mich ermutigt, nicht Ihnen alsBürgschaft zu dienen, sondern Sie zu patronisieren? Der in Italien sobekannte und geehrte Name Ihres Vaters; persönlich kenne ich Sie nicht.

Diese unerschütterliche Ruhe und Leichtigkeit ließen Andreabegreifen, daß er für den Augenblick unter dem Drucke einer stärkeren Hand als die seine war, stand und daß sich dieser Druck nicht so leichtbrechen ließ.

Sagen Sie, Herr Graf, fuhr er fort, ist das Vermögen meines Vaters wirklich groß?

Es scheint so.

Wissen Sie nicht, obdie Mitgift, die er mir versprochen hat, angekommen ist?

Ich habe die schriftliche Ankündigung erhalten, und die drei Millionen sind aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem Wege.

Ich werde sie also wirklich erhalten?

Verdammt! rief der Graf, es scheint mir, es hat Ihnenbis jetzt nicht an Geld gefehlt.

Andrea war so erstaunt, daß er einen Augenblick in Sinnen versank.

Mein Herr, sagte er, aus seiner Träumerei erwachend, ich habe nur noch eineBitte an Sie zu richten, die Sie verstehen werden, selbst wenn sie Ihnen unangenehm sein sollte.

Sprechen Sie.

Ich kam durch mein Vermögen mit vielen ausgezeichneten Leuten in Verbindung und habe, wenigstens für den Augenblick, eine Menge Freunde. Doch wenn ich mich jetzt sozusagen im Angesicht der ganzen Pariser Gesellschaft verheirate, so muß ich mich in Ermangelung der väterlichen Hand durch einen Mann mit erhabenem Namen und zweifellosem Ansehn an den Altar führen lassen; mein Vater kommt aber nicht nach Paris, nicht wahr?

Er ist alt, mit Wundenbedeckt und leidet, wie er sagt, so sehr, daß ihn jede Reise an den Rand des Grabesbringt.

Ichbegreife und komme daher, dieBitte an Sie zu wagen, ihn zu ersetzen.

Ah! mein lieber Herr, nachdem ich so lange mit Ihnen zu verkehren das Glück gehabt habe, kennen Sie mich so wenig, daß Sie eine solcheBitte an mich richten? Verlangen Sie eine halbe Million von mir, und Sie werden mich, ans mein Ehrenwort, eher dazu geneigt finden. Ich, der ein Serail in Kairo, in Smyrna und in Konstantinopel hat, soll den Vorsitzbei einer Hochzeit führen? Niemals!

Sie schlagen es also ab?

Ja; ich würde es abschlagen, selbst wenn Sie mein Sohn wären.

Ah! rief Andrea verblüfft, wie soll ich es machen?

Sie haben hundert Freunde, wie Sie soeben selbst sagten.

Gewiß; doch Sie stellten mich Herrn Danglars vor.

Keineswegs! In Wahrheit war es so: Ich habe Sie mit ihm in Auteuil speisen lassen, und Sie haben sich ihm selbst vorgestellt. Teufel! das ist ein Unterschied.

Ja, doch Sie trugen zu meiner Verheiratungbei.

Ich? Ganz und gar nicht, ichbitte Sie, mir dies zu glauben. Erinnern Sie sich doch, was ich Ihnen geantwortet habe, als Sie zu mir kamen und michbaten, Fräulein Danglars' Hand für Sie zu verlangen. Oh! ich vermittle nie Heiraten, mein Prinz, das istbei mir ein fester Grundsatz.

Andreabiß sich auf die Lippen.

Doch Sie werden wenigstens anwesend sein?

Wird ganz Paris erscheinen? — Oh! gewiß.

Gut! ich werde es machen, wie ganz Paris.

Sie werden den Vertrag unterzeichnen?

Oh! ich sehe darin nichts Unangemessenes, und meineBedenklichkeiten gehen nicht so weit.

Nun, da Sie mir nicht mehr gewähren wollen, so muß ich mich mit dembegnügen, was Sie mir geben. Doch ein letztes Wort, Herr Graf.

Was denn? Sprechen Sie.

Die Mitgift meiner Fraubeträgt 500 000 Franken?

Diese Zahl hat mir Herr Danglars selbst genannt.

Soll ich sie in Empfang nehmen, oder in den Händen des Notars lassen?

Anständigerweise verfährt man so: Ihrebeiden Notare verabredenbei Abschluß des Vertrages eine Zusammenkunft für den nächsten, oder den zweiten Tag. Dann tauschen sie die Mitgiften aus, worüber sie sich gegenseitig Scheine geben. Ist dann die Hochzeit gefeiert, so stellen sie die Millionen zu Ihrer Verfügung, da Sie das Haupt der Gemeinschaft sind.

Ich glaube, sagte Andrea mit schlecht verhehlter Unruhe, eine Äußerung meines Schwiegervaters gehört zu haben, er wolle unsere Fonds in Eisenbahnaktien anlegen.

Ah! das ist doch nach allgemeiner Ansicht ein Mittel, Ihre Kapitalien in einem Jahre wenigstens zu verdreifachen. Der HerrBaron Danglars versteht zu rechnen.

Somit geht alles vortrefflich, abgesehen von Ihrer Weigerung, die mich im höchsten Grade schmerzt.

Schreiben Sie diese einzig und allein einem unter solchen Umständen natürlichenBedenken zu.

Gut, sagte Andrea, es sei, wie Sie wollen, heute abend um neun Uhr.

Auf Wiedersehen.

Und trotz eines leichten Widerstrebens Monte Christos, der aber ein zeremoniöses Lächelnbeibehielt, ergriff Andrea die Hand des Grafen, drückte sie, sprang in seinen Wagen und verschwand.

Die vier Stunden, die ihmbis neun Uhrblieben, wandte Andrea zuBesuchen an, um die von ihm erwähnten Freunde zu veranlassen, mit allem Luxus ihrer Equipagenbei demBankier zu erscheinen.

Um halbneun Uhr abends waren der große Salon im Danglarsschen Hause, die an diesen Salon anstoßende Galerie, und die drei andern Salons des Stockes, die tausend Kerzenbestrahlten, von einer parfümierten Menge erfüllt, die viel weniger die Sympathie anzog, als das unwiderstehlicheBedürfnis, da zu sein, wo man etwas Neues zu sehen hoffen durfte.

Fräulein Eugenie war mit der zierlichsten Einfachheit angetan; ein Kleid von weißer Seide, eine halbin ihren rabenschwarzen Haaren verlorene weiße Rosebildeten ihren ganzen Schmuck.

Dreißig Schritte von ihr plauderte Frau Danglars mit Debray, Beauchamp und Chateau‑Renaud. Andrea, der am Arme eines derbekanntesten Pariser Stutzer einherschritt, entwickelte diesem seine maßlosen Pläne für sein zukünftiges Leben, und wie er durch seinen Luxus selbst die verwöhnten Pariser in Erstaunen setzen wollte.

Die Menge wanderte durch diese Salons, wie ein Strom von Türkisen, Rubinen, Smaragden und Diamanten. Wie überall konnte man auch hierbemerken, daß die ältesten Frauen am meisten geschmückt waren, und daß sich die Häßlichsten am hartnäckigsten vordrängten. Wollte man sich einer schönen weißen Lilie, einer süßen, duftenden Rose erfreuen, so mußte man sie verborgen in irgend einem Winkel hinter einer turbangeschmückten Mutter oder einer mit einem Paradiesvogel koiffierten Tante suchen.

In dem Augenblicke, wo der Zeiger der massiven Pendeluhr auf ihrem goldenen Zifferblatt neun Uhr anzeigte, erklang nach anderenberühmten Namen aus Finanz-, Offizier- oder Gelehrtenkreisen, welche der Saaldienerbeim Eintreffen derbetreffenden Personen in das allgemeine Gesumme und Gelächter hineinrief, auch der Name des Grafen von Monte Christo, und wie von einem elektrischen Schlage getroffen, wandte sich die ganze Versammlung der Tür zu.

Der Graf war schwarz und mit seiner gewöhnlichen Einfachheit gekleidet, statt jedes Schmuckes trug er nur auf seiner weißen Weste eine ganz feine, goldene Kette.

Der Graf gewahrte mit einem einzigen Umblicke Frau Danglars an einem Ende des Salons, Herrn Danglars am andern, und Eugenie vor sich.

Er näherte sich zuerst derBaronin, die mit Frau von Villefort plauderte, und ging dann geradeswegs, so sehr lichtete sich vor ihm das Gedränge, auf Eugenie zu, die er mit so ausgesuchten Wortenbegrüßte, daß die stolze Künstlerin davonbetroffen war. Neben ihr stand Fräulein Luise d'Armilly; sie dankte dem Grafen für die Empfehlungsbriefe, die er ihr so zuvorkommend für Italien gegeben habe, und von denen sie, wie sie sagte, ungesäumt Gebrauch machen werde. Als er diese Damen verließ, wandte er sich um undbefand sich Danglars gegenüber, der sich ihm genähert hatte, um ihm die Hand zu drücken.

Sobald diese drei gesellschaftlichen Pflichten erfüllt waren, bliebMonte Christo stehen und schaute gleichgültig umher.

Die Notare traten in diesem Augenblick ein und legten ihrebekritzelten Papiere auf die goldgestickte Samtdecke einesbereitstehenden Tisches. Der Vertrag wurde unter tiefem Schweigen vorgelesen. Doch gleich darauf erhobsich der Lärm in den Salons doppelt so stark wie zuvor. Diese glänzenden Summen, derberauschende Klang der Millionen vervollständigten mit ihremBlendwerk den Eindruck, den die in einembesonderen Zimmer ausgestellte Aussteuer nebst den Diamanten der jungen Frau auf die neidischen Gäste gemacht hatte.

Von seinen Freunden umringt, beglückwünscht, umschmeichelt, begann Andrea an die Wirklichkeit seines Traumes zu glauben und war imBegriff, den Kopf zu verlieren.

Der Notar nahm feierlich die Feder und sagte: Meine Herren, man unterzeichne den Vertrag.

DerBaron sollte zuerst unterzeichnen, dann derBevollmächtigte von Herrn Cavalcanti Vater, dann dieBaronin, dann die zukünftigen Ehegatten.

DerBaron nahm die Feder und unterzeichnete, dann kam derBevollmächtigte. DieBaronin näherte sich am Arme der Frau von Villefort. Mein Freund, sagte sie, die Feder ergreifend, ist es nicht zum Verzweifeln? Ein unerwarteter Zwischenfallbei der Mord- und Diebstahlsgeschichte, deren Opferbeinahe der Herr Graf von Monte Christo gewesen wäre, beraubt uns des Glückes, Herrn von Villefort hier zu sehen.

Oh, mein Gott! sagte Danglars und dachtebei sich, das ist mir ganz gleichgültig!

Mein Gott! sprach Monte Christo hinzutretend, ichbefürchte, die unwillkürliche Ursache dieser Abwesenheit zu sein.

Wie! Sie, Graf? sagte Frau Danglars, indem sie unterzeichnete; wenn dem so ist, so nehmen Sie sich in acht, ich werde es Ihnen nie mehr verzeihen.

Andrea spitzte die Ohren.

Sie erinnern sich, sagte der Graf, mitten unter dem tiefsten Stillschweigen, daßbei mir der Unglückliche gestorben ist, der michberauben wollte, dann aber anscheinend von seinem Genossen ermordet wurde?

Ja, sagte Danglars.

Nun, um ihm zu helfen, hatte man ihn entkleidet und seine Kleider in eine Ecke geworfen, worauf sie im Auftrage des Gerichtes in Verwahrung genommen wurden, wobei man aber die Weste vergaß.

Andrea erbleichte sichtbar und zog sich ganz sacht nach der Tür; er sah am Horizont eine Wolke heraufziehen, die ihm einen Sturm zu verkünden schien.

Diese Weste hat man nun heute, ganz mitBlutbedeckt und in der Herzgegend durchlöchert, gefunden.

Die Damen stießen einen Schrei aus, und zwei oder drei machten sichbereit, in Ohnmacht zu fallen.

Manbrachte sie mir, niemand konnte erraten, wem dieser traurige Fetzen gehöre; ich allein dachte, es sei wahrscheinlich die Weste des Opfers. Plötzlich fühlte mein Kammerdiener, der die traurige Reliquie untersuchte, ein Papier in der Tasche und zog es heraus; es war einBrief, an wen? An Sie, Baron.

An mich? rief Danglars.

Oh! mein Gott, ja, an Sie; es gelang mir, Ihren Namen unter demBlute zu lesen, mit dem dasBillettbefleckt war, antwortete Monte Christo, unter allgemeinen Ausrufen der Verwunderung.

Aber… fragte Frau Danglars, ihren Gatten unruhig anschauend, was hindert dies Herrn von Villefort…

Das ist ganz einfach, gnädige Frau, erwiderte Monte Christo, diese Weste und dieserBrief sindBeweisstücke; ich habe darum auchBrief und Weste zu dem Herrn Staatsanwalt geschickt. Siebegreifen, HerrBaron, der gesetzliche Weg ist der sicherste in Kriminalsachen; vielleicht war es ein hinterlistiger Streich gegen Sie.

Andrea schaute Monte Christo starr an und verschwand in den zweiten Salon.

Das ist möglich, sagte Danglars, war der Ermordete nicht ein ehemaliger Galeerensklave?

Ja, antwortete der Graf, ein ehemaliger Galeerensklave, namens Caderousse.

Danglars erbleichte leicht, Andrea verließ den zweiten Salon und erreichte das Vorzimmer.

Unterzeichnen Sie doch, sagte Monte Christo, ich sehe, daß meine Erzählung einige Aufregung verursacht hat, undbitte Sie, FrauBaronin, und Fräulein Danglars um Verzeihung.

DieBaronin übergabdie Feder dem Notar.

Herr Prinz Cavalcanti, sagte der Notar, Herr Prinz Cavaleanti, wo sind Sie?

Andrea! Andrea! wiederholten mehrere Stimmen von jungen Leuten, diebereits mit dem edlen Italiener zu einem solchen Grade von Vertraulichkeit gelangt waren, daß sie ihn mit seinem Taufnamen riefen.

Rufen Sie doch den Prinzen, sagen Sie ihm, es sei die Reihe an ihm, zu unterzeichnen! rief Danglars einem Diener zu.

Doch in demselben Augenblick strömte die Menge der Anwesenden in den Hauptsalon zurück, als obein furchtbarer Schreck über sie hereingebrochen wäre.

Es war allerdings Grund vorhanden, zurückzuweichen, denn ein Gendarmerieoffizier stellte zwei Gendarmen vor die Tür des Salons und ging inBegleitung eines mit seiner Schärpe umgürteten Polizeikommissars auf Danglars zu.

Frau Danglars stieß einen Schrei aus und fiel in Ohnmacht. Danglars, der sich selbstbedroht glaubte, zeigte seinen Gästen ein von Schrecken entstelltes Gesicht.

Was gibt es denn, mein Herr? fragte Monte Christo, dem Kommissar entgegengehend.

Wer von Ihnen, meine Herren, fragte derBeamte, heißt Andrea Cavalcanti?

Ein Schrei des Erstaunensbrach aus allen Ecken des Saales hervor. Man suchte; man fragte.

Aber was ist es denn mit diesem Andrea Cavalcanti? fragte Danglars ganz verwirrt.

Er ist ein aus demBagno in Toulon entsprungener Galeerensklave.

Und welches Verbrechen hat erbegangen?

Er ist angeklagt, sagte der Kommissar mit seiner unerschütterlichen Stimme, einen Menschen, namens Caderousse, seinen ehemaligen Kettengenossen, im Augenblick, wo dieser aus dem Hause des Herrn Grafen von Monte Christo kam, ermordet zu haben.

Monte Christo schaute rasch umher.

Andrea war verschwunden.

Die Straße nach Belgien.

Einige Augenblicke nach der Szene der Verwirrung, welche die unerwartete Erscheinung des Gendarmerieoffiziers und die Enthüllung des Polizeikommissars hervorgebracht hatten, leerte sich das große Danglarssche Hotel mit einer Geschwindigkeit, als wäre einer der Gäste von der Pest oder der Cholerabefallen worden.

In dem Hotel desBankiers waren nur Danglars, der, in sein Kabinett eingeschlossen, vor dem Gendarmerieoffizier seine Aussagen machte, Frau Danglars in ihremBoudoir und Eugenie zurückgeblieben, die sich mit ihrer unzertrennlichen Freundin, Fräulein Luise d'Armilly, in ihr Zimmer zurückgezogen hatte.

Oh! mein Gott! mein Gott! diese furchtbare Geschichte! sagte die junge Tonkünstlerin; wer konnte dies vermuten? Herr Andrea Cavalcanti… ein Mörder… aus demBagno entsprungen… ein Galeerensklave!..

Ein ironisches Lächeln zog Eugenies Lippen zusammen.

In der Tat, ich war prädestiniert, sagte sie. Ich entgehe Morcerf, um in Cavalcantis Hände zu fallen.

Oh! verwechsele den einen nicht mit dem andern, Eugenie.

Schweige, alle Männer sind Schändliche, bis jetzt verachtete ich sie, nun hasse ich sie.

Was werden wir machen?

Was wir in drei Tagen machen sollten… abreisen.

Also heiratest du nicht mehr, du willstbeständig…

Höre, Luise, ich habe einen Abscheu vor diesem Leben der Gesellschaft, das stets geordnet, abgemessen, geregelt ist, wie unser Notenpapier. Was ich immer gewünscht, gewollt, erstrebt habe, ist das Leben einer Künstlerin, das freie Leben, das unabhängige Leben, wobei man nur sich selbst Rechenschaft abzulegen hat. Hierbleiben, warum? Damit man es in einem Monat abermals versucht, mich zu verheiraten — mit wem? Mit Herrn Debray vielleicht, wie man es einen Augenblick im Sinne hatte. Nein, Luise, nein, der Vorfall heute abend wird mir zur Entschuldigung dienen; ich suchte ihn nicht, ich verlangte ihn nicht, Gott schickt ihn mir, und er ist willkommen.

Wie stark und mutig dubist, sagte dasblonde, schwächliche Mädchen zu seinerbraunen Gefährtin.

Kennst du mich noch nicht? Also, zunächst der Reisewagen?

Ist zum Glück seit drei Tagen gekauft.

Unser Paß? — Hier ist er!

Eugenie entfaltete mit ihrer gewöhnlichen Festigkeit ein Papier und las: Herr Leon d'Armilly, einundzwanzig Jahre alt; Gewerbe: Künstler; Haare: schwarz; Augen: schwarz; reist mit seiner Schwester.

Durch wen hast du dir diesen Paß verschafft?

Als ich zu Herrn von Mont: Christo ging und ihn umBriefe an die Direktoren der Theater in Rom und Neapelbat, drückte ich ihm meineBefürchtungen darüber aus, daß ich allein reisen sollte. Erbegriff mich vollkommen, bot an, mir einen Männerpaß zu verschaffen, und zwei Tage nachher erhielt ich diesen, dem ich mit meiner Hand die Worte: Reist mit seiner Schwester, beigefügt habe.

Wirbrauchen also nur noch unsern Koffer zu packen und abzureisen.

Überlege es wohl, Eugenie.

Oh! ich habe es wohl überlegt? ichbin es müde, von nichts sprechen zu hören, als vonBilanzen, Monatsabschlüssen, von Steigen und Fallen der Rente, von spanischen Fonds, von Haytischen Papieren. Statt dessen, Luise, begreifst du! die Luft, die Freiheit, der Gesang der Vögel, die Ebenen der Lombardei, die Kanäle Venedigs, die Paläste Roms, das Gestade Neapels. Wievielbesitzen wir, Luise?

Dasbefragte Mädchen zog aus einem eingelegten Sekretär ein kleines Portefeuille mit Schloß, öffnete es und zählte dreiundzwanzigBanknoten.

Dreiundzwanzigtausend Franken, sagte Luise.

Und für wenigstens ebensoviel Perlen, Diamanten und Juwelen, sagte Eugenie. Wir sind mit 45 000 Franken reich, wir können zwei Jahre lang wie Prinzessinnen, oder vier Jahre lang anständig leben. Doch ehe sechs Monate vergehen, haben wir, du mit deiner Musik, ich mit meiner Stimme, unser Kapital verdoppelt. Vorwärts! Übernimm du das Geld, ich übernehme das Kistchen mit den Edelsteinen, so daß, wenn eine von uns das Unglück hätte, ihren Schatz zu verlieren, die andere immer noch den ihrigenbesäße. Und nun den Koffer, rasch den Koffer.

Mit einer wunderbaren Geschäftigkeit fingen diebeiden an, in einem Koffer alle Gegenstände aufzuhäufen, die sie für ihre Reise nötig zu haben glaubten.

Gut, nun schließe den Koffer, während ich die Kleider wechsele, sagte Eugenie.

Sie zog eine Schublade auf, aus der sie einenblauseidenen Regenmantel für Fräulein d'Armilly nahm, mit dem diese sofort ihre Schulternbedeckte, und einen vollständigen Männeranzug, von den Stiefelchenbis zum Oberrock, nebst einem Vorrat von Wäsche. Mit einer Geschwindigkeit, diebewies, daß sie nicht zum ersten Male Männerkleider anzog, schlüpfte Eugenie in ihre Stiefelchen, in dieBeinkleider, band sich eine Krawatte um, knöpfte die Westebis zum Halse zu und legte den Oberrock an, der ihre zarte, schön gewachsene Gestalt hervorhob.

Oh! In der Tat, das ist sehr gut! sagte die Tonkünstlerin, Eugenie mitBewunderung anschauend; doch diese schönen, schwarzen Haare, wird sie ein Männerhut zusammenhalten?

Du wirst es sehen, sagte Eugenie.

Mit der linken Hand die Flechte ergreifend, die ihre langen Finger kaum umspannen konnten, faßte sie mit der rechten eine große Schere, undbald fiel das weiche, glänzende Haar zu den Füßen des Mädchens nieder. Als die obere Flechte abgeschnitten war, ging Eugenie zu denen an den Schläfen über, die sie nach und nach ebenfalls abschnitt, ohne daß ihr die geringste Klage entschlüpfte; ihre Augen, unter ihren ebenholzschwarzenBrauen, funkelten im Gegenteil freudiger als gewöhnlich.

Oh! die herrlichen Haare! sagte Luise mitBedauern.

Ei! bin ich nicht so hundertmalbesser dran? rief Eugenie, die zerstreuten Locken ihres ganz männlich gewordenen Kopfes glättend, und findest du mich nicht schöner?

Oh! Dubist schön, immer schön! rief Luise. Doch wohin gehen wir?

NachBelgien, wenn du willst, es ist die nächste Grenze. Wir erreichenBrüssel, Lüttich, Aachen; wir fahren den Rhein hinaufbis nach Straßburg, reisen durch die Schweiz und steigen über den St. Bernhard nach Italien hinab; bist du damit einverstanden?

Jawohl! — Wasbetrachtest du?

Ichbetrachte dich. In der Tat, dubist anbetungswürdig; man sollte meinen, du entführst mich.

Ei, bei Gott! man würde recht haben.

Und die Freundinnen, von denen man hätte meinen sollen, sie seien in Tränen versunken, brachen in ein Gelächter aus.

Nachdem sie ihre Lichter ausgelöscht, öffneten die Flüchtlinge, spähend und horchend, die Tür eines Ankleidezimmers, das auf eine in den Hof führende Gesindetreppe ging. Eugenie schritt voran und hielt mit einer Hand den Henkel des Koffers, den an dem entgegengesetzten Henkel Fräulein d'Armilly kaum mit ihrenbeiden Händen aufzuheben vermochte. Der Hof war leer, und nurbeim Portier war noch Licht. Auf Eugenies Verlangen, die Tür zu öffnen, ging er einige Schritte vor, um die Person zu erkennen, die hinausgehen wollte; als er aber einen jungen Mann sah, der ungeduldig seinBeinkleid mit seinem Stöckchen peitschte, öffnete er auf der Stelle. Sogleich schlüpfte Luise wie eine Eidechse durch die halboffene Tür und sprang leise hinaus. Scheinbar ruhig folgte ihr Eugenie.

Es kam ein Dienstmann vorüber, dem man den Koffer übergab. Die jungen Mädchenbezeichneten ihm als Ziel ihrer Wanderung die Rue de la Victoire No. 26 und marschierten hinter dem Mann her, dessen Gegenwart Luiseberuhigte.

Man kam an das angegebene Ziel. Eugeniebefahl, den Koffer niederzusetzen, gabdem Manne etwas Münze und schickte ihn fort, nachdem sie an den Laden geklopft hatte.

Dieser Laden war der einer zum vorausbenachrichtigten Wäscherin; sie hatte sich noch, nicht zuBette gelegt und öffnete.

Fräulein, sagte Eugenie, lassen Sie vom Portier den Wagen vorziehen und schicken Sie ihn nach der Post, um die Pferde zu holen. Hier sind fünf Franken für seine Mühe.

Die Wäscherin sah ganz erstaunt aus, doch da sie verabredetermaßen zwanzig Louisd'orbekommen sollte, so machte sie nicht die geringsteBemerkung.

In einer Viertelstunde kam der Hansmeister mit einem Postillon und mit Pferden zurück.

Hier ist der Paß, sagte der Postillon; welchen Weg schlagen wir ein, junger Herr?

Die Straße nach Fontainebleau, antwortete Eugenie mit einer fast männlich klingenden Stimme.

Was sagst du? fragte Luise.

Ich gebe einen falschen Weg an, erwiderte Eugenie; die Frau, der wir zwanzig Louisd'or geschenkt haben, kann uns für vierzig verraten; auf demBoulevard nennen wir eine andere Richtung. Und das Mädchen sprang in den vortrefflich zum Schlafen eingerichteten Wagen.

Du hast immer recht, Eugenie, sagte die Gesanglehrerin, neben ihrer Freundin Platz nehmend.

Eine Viertelstunde nachher fuhr der Postillon, auf den rechten Weg gewiesen, durch dieBarriere Saint‑Martin.

Herr Danglars hatte keine Tochter mehr.

Das Wirtshaus zur Glocke.

Jetzt lassen wir Fräulein Danglars und ihre Freundin auf der Straße nachBrüssel dahinfahren und kehren zu dem armen Andrea Cavalcanti zurück, der auf eine so unselige Weise mitten im Aufschwünge seines Glückes ausgehalten wurde. Er war trotz seines noch sehr wenig vorgerückten Alters ein äußerst gewandter und gescheiter Junge. Wir sahen ihnbei dem ersten Geräusche im Salon sich der Tür nähern, zwei Zimmer durchschreiten und endlich verschwinden. In einem von diesen Zimmern war derBrautschatz der Verlobten ausgestellt, Schmuckkästchen mit Diamanten, Kaschmirschale, Brüsseler Spitzen, englische Schleier, kurz alle jene lockenden Dinge, deren Name schon das Herz der jungen Mädchen hüpfen läßt.

Beim Durchschreiten dieses Zimmers raffte Andrea die wertvollsten Schmuckstücke an sich und fühlte sich nun, mit diesem Reisegeld versehen, um so leichter im stande, durch das Fenster zu springen und den Händen der Gendarmen zu entschlüpfen. Groß und schlank, dabei muskulös wie ein Spartaner, lief er eine Viertelstunde lang, ohne auf die Richtung zu achten, einzig und allein in der Absicht, sich von dem gefährlichen Orte zu entfernen, wo man ihn hatte festnehmen wollen.

Bin ich verloren? fragte er sich. Nein, wenn ich mehr hinter mich zubringen vermag als meine Feinde. Meine Rettung ist folglich eine einfache Meilenfrage geworden.

In diesem Augenblick sah er einen Mietswagen vor sich, dessen schweigsamer Kutscher eine Pfeife rauchte.

He! Freund, riefBenedetto, ist Ihr Pferd müde?

Müde! Jawohl! es hat den ganzen lieben langen Tag nichts getan. Vier elende Fahrten machen mit Trinkgeld sieben Franken, und ich muß demBesitzer zehn geben!

Wollen Sie zu den sieben Franken noch zwanzig verdienen?

Mit Vergnügen. Was muß ich tun?

Etwas sehr Leichtes, wenn Ihr Pferd nicht zu müde ist.

Ich sage Ihnen, es wird gehen, wie ein Zephir, ichbrauche nur zu wissen, in welcher Richtung.

In der Richtung von Louvres. Es handelt sich einfach darum, einen von meinen Freunden wieder einzuholen, mit dem ich morgenbei Chapelle‑en‑Serval jagen soll. Wollen Sie es versuchen?

Mit größtem Vergnügen.

Wenn wir ihn nicht von hierbisBourget einholen, sobekommen Sie zwanzig Franken, wenn wir ihnbis Louvres nicht einholen, dreißig.

Und wenn wir ihn einholen?

Vierzig! sagte Andrea, der einen Augenblick gezögert hatte, dann aberbedachte, daß er dabei nichts wage.

Gut! rief der Kutscher. Also vorwärts!

Andrea stieg ein, und der Kutscher fuhr schnell darauf los. Bald wurde sein Wagen von einer Kalesche überholt, die zwei Postpferde im Galopp fortzogen.

Ah! sagte Cavalcanti seufzend zu sich selbst, wenn ich diese Kalesche, diese guten Pferde undbesonders den Paß hätte, dessen manbedurfte, um sie zubekommen!

Diese Kalesche war aber die, welche Fräulein Danglars und Fräulein d'Armilly fortführte.

Als sie endlich in Louvres ankamen, sagte Andrea: Ich sehe jetzt offenbar, daß ich meinen Freund nicht einhole. Hier sind dreißig Franken, ichbleibe im Roten Rosse über Nacht und nehme in dem ersten Wagen, den ich finde, einen Platz.

Andrea legte dem Kutscher sechs Fünffrankenstücke in die Hand und sprang leicht auf das Straßenpflaster.

Der Kutscher steckte freudig die Summe in die Tasche und fuhr im Schritt wieder nach Paris zurück. Andrea stellte sich, als ober nach dem Gasthofe zum Roten Rosse ginge, nachdem er aber einen Augenblick an der Tür stehen geblieben war und das Geräusch des Wagens in der Ferne sich hatte verlieren hören, setzte er seinen Weg fort, und machte mit gymnastischen Schritten einen Lauf von zwei Meilen. Hier — er mußte ganz nahebei Chapelle‑en‑Serval sein — ruhte er aus, um einen Entschluß zu fassen und einen Plan zu entwerfen.

Ohne Paß die Eilpost oder die gewöhnliche Post zu nehmen, war unmöglich. Daß er in dem Departement der Oise, einem derbestbewachten Frankreichs, nichtbleiben konnte, war einem in Kriminalsachen so erfahrenen Menschen wie Andrea ebenfalls klar. Er setzte sich daher an den Rand eines Grabens, ließ seinen Kopf in die Hände fallen und dachte nach. Zehn Minuten nachher hober den Kopf wieder empor; sein Entschluß war gefaßt.

Erbedeckte eine ganze Seite des Paletots, den er im Vorzimmer vom Haken zu nehmen und über seinenBallstaat zu knöpfen Zeit gehabt hatte, mit Staub, ging nach Chapelle‑en‑Serval und klopfte kühn an die Tür des einzigen Wirtshauses der Gegend. Der Wirt öffnete.

Mein Freund, sagte Andrea, ich wollte von Mortefontaine nach Senlis reiten, als mein Pferd einen Seitensprung machte und mich abschleuderte. Ich muß notwendig noch heute nacht nach Compiegne, wenn ich nicht meiner Familie die größte Unruhe verursachen soll. Können Sie mir nicht ein Pferd leihen?

Wohl oder übel hat ein Wirt immer ein Pferd. Der Wirt rief den Hausknecht, befahl, den Schimmel zu satteln, und weckte seinen siebenjährigen Sohn, der hinter dem Herrn aufsitzen sollte.

Andrea gabdem Wirt 20 Franken und ließ, während er sie aus der Tasche zog, absichtlich eine Visitenkarte mit dem Namen eines vornehmenBekannten auf denBoden fallen, um den Wirt zu dem Glauben zubringen, er habe sein Pferd an diesen Herrn vermietet.

Der Schimmel ging nicht schnell, doch einen gleichmäßigen Schritt; in drei und einer halben Stunde war Andrea in Compiegne, es schlug vier, als er auf den Marktplatz kam. Hier entließ er das Kind und wandte sich zu dem Wirtshaus zur Glocke, wo er schon früherbei Jagdausflügen eingekehrt war; denn erbedachte ganz richtig, daß er dreibis vier Stunden vor sich habe, und daß es dasbeste sei, sich durch einen guten Schlaf und ein gutes Mahl gegen die künftigen Anstrengungen zu wappnen.

Mein Freund, sagte Andrea zu dem Kellner, der öffnete, ich komme von Saint‑Jean‑au‑Bois, wo ich zu Mittag gespeist habe, ich wollte den Wagen nehmen, der um Mitternacht durchfährt, verirrte mich aber und laufe seit vier Stunden im Walde umher. Geben Sie mir eines von den hübschen Zimmern, die nach dem Hofe gehen, undbringen Sie mir ein kaltes Huhn nebst einer FlascheBordeaux.

Andrea sprach mit der vollkommensten Ruhe; er hatte die Zigarre im Mund und die Hände in den Taschen seines Paletots, seine Kleider waren elegant, seinBart frisch rasiert; er sah in der Tat aus wie ein verspäteter Edelmann aus der Nachbarschaft.

Während der ahnungslose Kellner sein Zimmerbereitete, stand die Wirtin auf. Andrea empfing sie mit dem reizendsten Lächeln; er fragte sie, ober nicht Nr. 3 haben könnte, das erbei seinem letzten Aufenthalte in Compiegne gehabt habe. Leider war Nr. 3 von einem jungen Mannebesetzt, der mit seiner Schwester reiste.

Andrea schien in Verzweiflung, er tröstete sich nur, als ihm die Wirtin versicherte, Nr. 7 habe ganz dieselbe Lage, wie Nr. 3. In seinem inzwischen vorbereiteten Zimmer fand Andrea ein zartes Huhn, eine Flasche alten Wein und ein helles knisterndes Feuer. Er speiste mit so gutem Appetit, als obnichts vorgefallen wäre. Dann legte er sich nieder und versankbald in einen vortrefflichen Schlaf.

Andreas Plan war folgender: Mit Tagesanbruch stand er auf, verließ das Wirtshaus, erreichte den Wald, erkaufte, unter dem Vorwand, Malerstudien zu machen, die Gastfreundschaft einesBauern und verschaffte sich den Anzug eines Holzhauers und eine Axt. Mit künstlich gebräunten Händen und Gesichtszügen wollte er, nurbei Nacht marschierend und tagsüber sich verbergend, von Wald zu Wald zur nächsten Grenze gelangen und sich dabeibewohnten Orten nur nähern, um von Zeit zu Zeit ein StückBrot zu kaufen.

War die Grenze überschritten, so machte Andrea seine Diamanten zu Geld und war mit Einschluß von zehnBanknoten, die er für den Fall der Not immerbei sich trug, abermals imBesitze von 50 000 Franken. Dabei rechnete er darauf, die Familie Danglars werde alles aufbieten, den Lärm über die ihr peinliche Geschichte zu ersticken.

Um früher aufzuwachen hatte Andrea die Läden nicht geschlossen; erbegnügte sich, den Riegel an der Tür vorzuschieben und auf seinem Nachttische ein gewisses sehr scharfes und spitziges Messer von vortrefflich gehärtetem Stahlbereit zu legen.

Als er nach langem, erquickendem Schlafe erwachte, war sein erster Gedanke, er habe zu lange geruht. Er sprang aus demBette, lief ans Fenster und sah einen Gendarm durch den Hof gehen.

Ein Gendarm ist schon für einen harmlosen Menschen einebemerkenswerte Erscheinung, für jedes furchtsame Gewissen ist seine Uniform aber ein entsetzliches Schreckbild.

Warum ein Gendarm? fragte sich Andrea.

Dann sagte er sich plötzlich: Ein Gendarm in einem Gasthof ist nichts Auffälliges; ich will mich also nicht wundern, sondern rasch ankleiden; ich warte, bis er weggegangen ist, und mache mich sodann aus dem Staube. Bald darauf trat er abermals ans Fenster und hobzum zweiten Male den Musselinvorhang auf.

Der erste Gendarm war nicht nur nicht weggegangen, sondern der junge Mann erblickte eine zweite Uniform, unten an der Treppe, der einzigen, auf der er hinabgehen konnte, während ein dritter Gendarm, zu Pferde und den Karabiner in der Faust, als Schildwache am Hoftore hielt.

Teufel! Man sucht mich, war Andreas erster Gedanke.

Blässe überströmte seine Stirn, und er schaute ängstlich umher. Sein Zimmer hatte nur einen Ausgang nach der allenBlicken ausgesetzten äußeren Galerie.

Ichbin verloren! war sein zweiter Gedanke.

Für einen Menschen in Andreas Lagebedeutete Verhaftung: Schwurgericht, Verurteilung, Tod, ohneBarmherzigkeit.

Einen Augenblick preßte er krampfhaft seinen Kopf zwischen seine Hände. Während dieses Augenblicks wäre er vor Angstbeinahe verrückt geworden. Dochbald sprang aus der Welt der seinen Kopf durchkreuzenden Gedanken ein Hoffnungsstrahl hervor; einbleiches Lächeln trat auf seine entfärbten Lippen und auf seine zusammengezogenen Wangen. Er schaute umher: die Gegenstände, die er suchte, fanden sich auf dem Marmor eines Sekretärs, nämlich Feder, Tinte und Papier. Er tauchte die Feder in die Tinte und schriebmit fester Hand folgende Zeilen aus einBlatt Papier:

Ich habe kein Geld, um zubezahlen, bin aber kein unehrlicher Mensch; ich lasse als Unterpfand diese Nadel zurück, die zehnmal mehr wert ist, als meine Zeche. Aus Scham habe ich mich schon mit Tagesanbruch davongemacht.

Er nahm seine Nadel aus seiner Halsbinde und legte sie auf das Papier. Hernach zog er den Riegel zurück, öffnete die Tür ein wenig, als ober siebeim Weggehen offen gelassen hätte, schlüpfte in den Kamin wie ein Mensch, der an solche gymnastische Übungen gewöhnt ist, verwischte mit seinen Füßen die Spur seiner Tritte in der Asche und fing an, in der gebogenen Röhre, die ihm noch den einzigen Weg der Rettungbot, hinaufzuklettern.

In diesem Augenblick kam der erste Gendarm, der Andrea aufgefallen war, die Treppe herauf; der Polizeikommissar ging ihm voran, und unten an der Treppebliebder zweite Gendarm stehen.

Welchem Umstände hatte Andrea diesen frühen Polizeibesuch zu verdanken? Mit Tagesanbruch spielten die Telegraphen in allen Richtungen und mahnten die Polizei, eifrig nach Caderousses Mörder zu forschen.

Compiegne ist eine königliche Residenz, eine Jagdstadt, eine Garnisonstadt und im Überfluß mitBehörden, Gendarmen und Polizeikommissaren versehen; die Nachsuchungenbegannen also sogleich nach Ankunft des telegraphischenBefehls, und da das Gasthaus zur Glocke das erste Gasthaus der Stadt ist, so machte man natürlich hier den Anfang. Die Schildwache, die dem Gasthofe gegenüber vor dem Rathause stand, erinnerte sich, einige Minuten nach vier Uhr einen jungen Mann auf einem Schimmel mit einemBauernknaben gesehen zu haben, der Mann sei auf dem Platze abgestiegen, habe denBauernknaben und das Pferd entlassen, an den Gasthof geklopft und dort Einlaß gefunden.

Auf Grund dieser Angaben gingen der Polizeikommissar, der Gendarm und einBrigadier auf Andreas Tür zu.

Oh! oh! rief derBrigadier, ein in Gaunerstreichen wohl erfahrener alter Fuchs, eine offene Tür ist ein schlechtes Zeichen! Ich wollte lieber, sie wäre dreifach verriegelt. Der Vogel ist ausgeflogen.

Der Zettel auf dem Tische und die wertvolle Nadel schienen die Annahme der Flucht zubestätigen.

DerBrigadier schaute umher, senkte seinenBlick unter dasBett, öffnete die Vorhänge, die Schränke und stand endlich vor dem Kamin still.

Hier war die Möglichkeit eines Ausgangs gegeben und darum, obwohl Andreas Vorsicht jede Spur verwischt hatte, doch sorgfältige Nachforschung geboten.

DerBrigadier ließ sich ein Reisbündel und Strohbringen und legte Feuer daran.

Das Feuer ließ dieBacksteine krachen; eine undurchsichtige Rauchsäule drängte sich durch die Röhren und stieg zum Himmel empor, aber einen Erfolg hatte das Manöver nicht.

Seit seiner Jugend im Kampfe mit der Gesellschaft, stand Andrea einem Gendarmen an List nicht nach. Er hatte denBrand vorhergesehen, war auf das Dach geklettert und kauerte sich hinter den Schornstein.

Einen Augenblick hoffte er, gerettet zu sein, denn er hörte denBrigadier den Gendarmen zurufen: Er ist nicht mehr da! Doch als erbehutsam den Hals ausstreckte, sah er, daß die Gendarmen, statt sich zurückzuziehen, wie esbei einer solchen Ankündigung natürlich gewesen wäre, im Gegenteil ihre Aufmerksamkeit verdoppelten.

Er schaute sich nun ebenfalls um: das Rathaus, ein kolossales Gebäude aus dem sechzehnten Jahrhundert, erhobsich wie ein düsterer Wall zu seiner Rechten, und durch die Öffnungen desBaudenkmals konnte man in alle Winkel und Ecken des Daches schauen, wie man von einemBerge herabins Tal schaut.

Andrea sagte sich, er werde auf der Stelle den Kopf desBrigadiers an einer von den Öffnungen erscheinen sehen. War er einmal entdeckt, so war er auch verloren — eine Jagd auf den Dächernbot ihm keine Hoffnung auf Entkommen. Erbeschloß also, nicht durch denselben Kamin, sondern durch einen ähnlichen hinabzusteigen.

Er suchte mit den Augen einen Kamin, aus dem er keinen Rauch hervorkommen sah, erreichte ihn, über das Dach hinkriechend, und verschwand durch seine Öffnung, ohne wahrgenommen worden zu sein.

In derselben Sekunde öffnete sich ein kleines Fenster des Rathauses und ließ den Kopf des Gendarmerie‑Brigadiers erscheinen. Einen Augenblickbliebdieser Kopf unbeweglich, wie eines von den steinernen Reliefs, welche das Gebäude zieren; dann verschwand er wieder.

Kalt und ruhig wie das Gesetz, dessen Vertreter er war, ging derBrigadier, ohne auf die tausend Fragen der versammelten Menge zu antworten, über den Platz und kehrte in den Gasthof zurück.

Nun, wie steht es? fragten die Gendarmen.

Meine Söhne, antwortete derBrigadier, der Räuber muß sich wirklich sehr frühzeitig heute morgen aus dem Staube gemacht haben; doch wir schicken Leute auf die Straße von Villers‑Cotterets und Noyon und durchstreifen den Wald, wo wir ihn zweifellos finden werden.

Der ehrenwerte Mann hatte kaum dieses Wort gesprochen, als ein langer Schreckensruf, begleitet von einem heftigen Klingeln einer Glocke, durch das Haus erscholl.

Oh! oh! was ist das? rief derBrigadier. Das ist ein Reisender, der große Eile zu haben scheint, sprach der Wirt. Wo läutet man? — In Nummer 3.

Laufe dahin, Kellner!

In diesem Augenblick verdoppelten sich das Geschrei und der Lärm der Glocke. Der Kellner wollte hinlaufen.

Nein, nein! sagte derBrigadier, den dienstbaren Geist zurückhaltend; es kommt mir vor, als wollte der, welcher läutet, etwas anderes, als einen Kellner; wir wollen ihm einen Gendarmen schicken. Wer wohnt in Nummer 3?

Der kleine junge Mann, der gestern abend mit seiner Schwester angekommen ist und ein Zimmer mit zweiBetten verlangt hat.

Die Glocke erscholl zum dritten Male mit angstvollen Tönen.

Herbei! Herr Kommissar! rief derBrigadier, folgen Sie mir undbeschleunigen Sie Ihre Schritte.

Warten Sie einen Augenblick, sagte der Wirt; zu Nr. 3 führen zwei Treppen, eine äußere und eine innere.

Gut! sagte derBrigadier, ich wähle die innere, das ist mein Departement. Sind die Karabiner geladen?

Ja, Brigadier.

Gut! so wachen Sie an der äußern Treppe, und, wenn er fliehen will, geben Sie Feuer auf ihn! Es ist ein großer Verbrecher, wie der Telegraph sagt.

Mit dem Polizeikommissar verschwand derBrigadier auf der innern Treppe.

Andrea war sehr geschicktbis auf zwei Drittel des Kamines hinabgestiegen; doch hier war sein Fuß ausgeglitten, und er war mit größerer Schnelligkeit undbesonders mit mehr Geräusch, als ihm liebwar, hinabgerutscht. Wäre das Zimmer verlassen gewesen, so hätte dies nichts zubedeuten gehabt, doch zum Unglück war esbewohnt.


Zwei Frauen, die in einemBett schliefen, wurdenbei dem Geräusch wach. IhreBlicke richteten sich nach dem Punkte, von wo der Lärm kam, und sie sahen durch die Öffnung des Kamins einen Menschen erscheinen.

Eine von denbeiden Frauen, eineBlonde, war es gewesen, die den furchtbaren Schrei ausstieß, von dem das ganze Haus widerhallte, während die andere nach der Klingelschnur stürzte und mit aller Gewalt daran zog.

Andrea hatte, wie man sieht, Unglück.

Barmherzigkeit! rief er, bleich, verwirrt, ohne die Personen anzuschauen, an die er sich wandte, rufen Sie nicht, retten Sie mich! Ich will Ihnen nichtsBöses tun.

Andrea, der Mörder! rief eine von den jungen Frauen.

Eugenie, Fräulein Danglars! murmelte Cavalcanti, vom Schrecken zum höchsten Erstaunen übergehend.

Zu Hilfe! zu Hilfe! schrie Fräulein d'Armilly, die Glocke aus Eugenies Händen nehmend und noch kräftiger läutend, als ihre Gefährtin.

Retten Sie mich, man verfolgt mich! sagte Andrea, die Hände faltend; Barmherzigkeit, Gnade, liefern Sie mich nicht aus!

Es ist zu spät, man kommt herauf, erwiderte Eugenie.

So verbergen Sie mich irgendwo! Sie sagen, Sie haben ohne Grund Furcht gehabt; Sie wenden den Verdacht abund retten mir das Leben.

Gut! es sei, sagte Eugenie; kehren Sie in den Kamin zurück, durch den Sie gekommen sind, Unglücklicher; gehen Sie und wir werden nichts sagen.

Da ist er! Da ist er! rief eine Stimme auf dem Vorplatz, ich sehe ihn!

DerBrigadier hatte wirklich sein Auge an das Schlüsselloch gedrückt und gesehen, wie Andrea flehend vor den Frauen stand.

Ein heftiger Kolbenschlag sprengte das Schloß, zwei weitere Schläge sprengten die Riegel; die Tür fiel zerschmettert nach innen.

Andrea lief an die andere Tür, die nach der Galerie des Hofes ging, und öffnete sie, um hinauszustürzen.

Diebeiden Gendarmen standen mit ihren Karabinern da und schlugen auf ihn an.

Andreabliebstehen; bleich, mit etwas zurückgeneigtem Körper hielt er sein unnützes Messer in der krampfhaft zusammengepreßten Hand.

Fliehen Sie doch! rief Fräulein d'Armilly, in deren Herzen das Mitleid in demselben Maße zunahm, in dem der Schreck daraus verschwand, fliehen Sie doch!

Oder töten Sie sich! sagte Eugenie mit dem Tone und der Gebärde einer jener Vestalinnen, die im Zirkus dem siegreichen Gladiator mit dem Daumenbefahlen, seinem niedergeworfenen Gegner das Lebenslicht vollends auszublasen.

Andreabebte und schaute das Mädchen mit einem verächtlichen Lächeln an, welchesbewies, daß sein verdorbenes Wesen diesen Appell an die Ehre nicht verstand.

Der Brigadier trat mit dem Säbel in der Faust auf ihn zu.

Vorwärts, sagte Cavalcanti, stecken Sie wieder ein, meinbraver Mann! Es ist nicht der Mühe wert, so viel Lärm zu machen, da ich mich selbst ergebe.

Dabei streckte er seine Hände aus, um Schellen daran legen zu lassen.

Die jungen Mädchen schauten voll Schrecken die häßliche Metamorphose an, die vor ihren Augen vorging: der Mann aus der vornehmen Welt legte seine Hülle abund wurde wieder derBagnoflüchtling.

Andrea wandte sich gegen sie um und fragte mit unverschämtem Lächeln: Haben Sie keinen Auftrag an Ihren Herrn Vater, Fräulein Eugenie, denn aller Wahrscheinlichkeit kehre ich nach Paris zurück.

Eugenie verbarg ihren Kopf in ihrenbeiden Händen.

Oh! oh! sagte Andrea, Sicbrauchen sich nicht zu schämen; ichbin Ihnen nichtböse, daß Sie mir mit der Post nachgeeilt sind; war ich nicht so gut wie Ihr Gatte?

Hierauf ging Andrea hinaus und ließ die Flüchtlinge der Scham und dem Spott der Menge preisgegeben zurück.

Eine Stunde nachher stiegenbeide in ihren Frauenkleidern in die Reisekalesche. Man hatte das Tor des Gasthofes geschlossen, um sie denBlicken der Leute möglichst zu entziehen; doch sie mußten nichtsdestoweniger durch eine doppelte Hecke von Neugierigen mit flammenden Augen und murmelnden Lippen fahren. Eugenie ließ die Vorhänge herab, aber wenn sie nichts sah, so hörte sie doch, und das laute Hohngelächter drangbis zu ihr.

Oh! warum ist die Welt nicht eine Wüste? rief sie, sich an dieBrust des Fräuleins d'Armilly werfend, während ihre Augen von Wut funkelten.

Am andern Tage stiegen sie im Hotel de Flandres inBrüssel ab. — Andrea war am Abend vorher in die Liste der Gefangenen der Conciergerie eingetragen worden.

Das Gesetz.

Während Danglars mit schweißbedeckter Stirnbeim Anschauen der vor ihm liegenden ungeheuren Kolonnen seiner Passiva dem Gespenste desBankerotts entgegenstarrte, wollte dieBaronin, nachdem sie sich von der ersten heftigsten Erschütterung des niederschmetternden Schlages, der sie getroffen, erholt hatte, bei Lucien Debray Rat holen, fand ihn aber nicht daheim.

Wieder in ihrem Zimmer angelangt, pochte sie an Eugenies Tür. Als sie keine Antwort erhielt, versuchte sie hineinzugehen; aber die Riegel waren vorgeschoben. Frau Danglars glaubte, von der furchtbaren Aufregung des Abends ermüdet, habe sich Eugenie zuBette gelegt und sei eingeschlafen.

Fräulein Eugenie, antwortete die Kammerfrau auf ihre Frage, ist mit Fräulein d'Armilly in ihr Zimmer zurückgekehrt; dann tranken sie miteinander Tee, und hierauf verabschiedeten sie mich mit derBemerkung, siebedürften meiner nicht mehr.

Frau Danglars legte sich hierauf ohne einen Schatten von Verdacht nieder, konnte aber in Erinnerung an die Vorgänge des Tages nicht einschlafen. Der Vorfall erschien ihr in immer trüberem Lichte, je mehr sie darüber nachdachte. Eugenie, sagte sie sich, ist verloren, und wir sind es ebenfalls. Die Geschichte, so wie sie dargestellt werden wird, bedeckt uns mit Schmach, denn in einer Gesellschaft, wie die unsere, sind gewisse Lächerlichkeiten einfach unerträglich und nicht wieder gutzumachen. Welch ein Glück, murmelte sie, daß Gott Eugenie den seltsamen Charakter gegeben hat, der mir oft solche Sorgebereitete.

Dann dachte sie wieder an Cavalcanti. Dieser Andrea war ein Elender, ein Dieb, ein Mörder, und dennochbesaß er Manieren, die auf eine gute Erziehung hindeuteten. Erbesaß anscheinend ein großes Vermögen; ehrenhafte Leute liehen ihm ihre Unterstützung.

Wie soll man klar in diesem Irrsale sehen? An wen sich wenden, um aus dieser grausamen Lage zu kommen? Da fiel ihr Herr von Villefort ein. An diesenbeschloß sie sich zu wenden. Er würde ihr, in Erinnerung an die Vergangenheit, sicherbeistehen, und er würde dann die Sache allmählich sich im Sande verlaufen oder wenigstens Cavalcanti fliehen lassen. Erstbei diesem Gedanken schlief sie ruhig ein.

Am andern Morgen um 9 Uhr stand sie auf und kleidete sich an, verließ heimlich das Hotel, stieg in einen Fiaker und ließ sich nach dem Hause des Herrn von Villefort fahren.

Seit einem Monatbot dieses Haus den finstern Anblick eines Lazaretts, in dem die Pest ausgebrochen ist. Ein Teil der Zimmer war von außen und von innen geschlossen, die Läden öffneten sich nur von Zeit zu Zeit einen Augenblick, um etwas Luft einzulassen; dann sah man am Fenster den verstörten Kopf einesBedienten erscheinen; das Fenster schloß sich wieder, und die Nachbarn fragten sich ganz leise: Werden wir heute abermals einen Sarg aus dem Hause des Staatsanwalts kommen sehen?

Frau Danglars wurdebei dem Anblicke dieses verödeten Hauses von einem Schauerbefallen; sie stieg aus, näherte sich mit zitternden Knien der geschlossenen Tür und läutete. Erst als zum dritten Male die Glocke ertönte, kam ein Portier und öffnete die Tür nur einen Zoll weit.

Öffnen Sie doch! sprach dieBaronin.

Sagen Sie mir zuerst, gnädige Frau, wer sind Sie? fragte der Portier.

Wer ichbin? Sie kennen mich ja.

Wir kennen niemand mehr, gnädige Frau.

Sie sind ein Narr, rief dieBaronin.

Gnädige Frau, es istBefehl. Entschuldigen Sie mich! Sagen Sie Ihren Namen und was Sie wollen.

Oh, was soll das heißen? Ich werde michbei Herrn von Villefort über die Unverschämtheit seiner Leutebeklagen.

Gnädige Frau, das ist keine Unverschämtheit, es ist Vorsicht; niemand darf hier herein ohne Erlaubnis des Herrn Doktor d'Avrigny, oder ohne mit dem Herrn Staatsanwalt gesprochen zu haben.

Wohl! Gerade mit dem Herrn Staatsanwalt habe ich zu tun. Vorwärts! Hier ist meine Karte, bringen Sie sie Ihrem Herrn.

Der Portier schloß die Tür und ließ Frau Danglars auf der Straße. Einen Augenblick nachher öffnete sich die Tür abermals, diesmal hinreichend, um derBaronin Durchgang zu gewähren; sie ging hinein, und die Tür schloß sich hinter ihr.

So sehr Frau Danglars von ihrem eigenen Ungemach, das sie hergeführt hatte, beunruhigt war, so kam ihr doch der Empfang, der ihr hier zuteil geworden war, so unwürdig vor, daß sie sich vor allem hierüberbeklagte.

Doch Villefort hobsein vom Schmerz gebeugtes Haupt empor und schaute sie mit einem so traurigen Lächeln an, daß die Klagen auf ihren Lippen erstarben.

Entschuldigen Sie meine Diener wegen eines Schreckens, aus dem ich ihnen keinen Vorwurf machen kann.

Sie sind also auch unglücklich? sagte dieBaronin.

Ja, gnädige Frau. Und Siebegreifen, was mich hierher führt?

Sie wollen von dem sprechen, was vorgefallen ist, nicht wahr?

Ja, mein Herr, ein furchtbares Unglück.

Das heißt ein Unfall.

Ein Unfall!

Ach! gnädige Frau, entgegnete der Staatsanwalt mit unzerstörbarer Ruhe, ichbin dahin gekommen, daß ich nur unwiederbringliche Dinge ein Unglück nenne.

Glauben Sie, daß man es vergessen wird?

Alles vergißt sich. Ihre Tochter wird sich morgen verheiraten, wo nicht heute; in acht Tagen, wenn nicht morgen. Was aber den Verlust desBräutigamsbetrifft, so glaube ich nicht, daß Sie diesen sehr zubeklagen haben.

Frau Danglars schaute Villefort an, denn sie war über diesebeinahe spöttische Ruhe ganz, erstaunt.

Bin ich zu einem Freunde gekommen? fragte sie mit einem Tone voll schmerzlicher Würde.

Sie wissen, daß dies der Fall ist, antwortete Villefort, dessenbleiche Wangen sichbei dieser Versicherung mit einer leichten Rötebedeckten.

So seien Sie liebevoller, mein teurer Villefort, sagte dieBaronin, sprechen Sie mit mir als Freund und nicht als Staatsbeamter, und wenn ich unendlich unglücklichbin, so sagen Sie mir nicht, ich solle heiter sein.

Villefort verbeugte sich und erwiderte: Gnädige Frau, ich habe seit drei Monaten, wenn ich von Unglück sprechen höre, die ärgerliche Gewohnheit, an das meinige zu denken, und unwillkürlich nimmt mein Geist eine selbstsüchtige Vergleichung vor. Darum kam mir Ihr Unglück gegen das meinige nur wie ein Unfall vor; darum erschien mir neben meiner traurigen Lage die Ihrige alsbeneidenswert; doch das verdrießt Sie, und wir wollen darüber weggehen. Sie sagten, gnädige Frau? Ich wollte von Ihnen erfahren, mein Freund, wie es mit demBetrüger jetzt steht?

Betrüger! wiederholte Villefort; Sie wollen offenbar gewisse Dinge mildern und andere übertreiben; Herr Andrea Cavalcanti oder vielmehr HerrBenedetto einBetrüger! Sie täuschen sich, gnädige Frau, Benedetto ist ein Mörder.

Mein Herr, ich leugne die Richtigkeit IhrerBemerkung nicht, doch je mehr Sie sich mit Strenge gegen diesen Unglücklichen waffnen, desto härter treffen Sie unsere Familie. Vergessen Sie ihn einen Augenblick, statt ihn zu verfolgen; lassen Sie ihn fliehen!

Sie kommen zu spät, dieBefehle sindbereits gegeben.

Nun! wenn man ihn verhaftet… Glauben Sie, man werde ihn verhaften? — Ich hoffe es.

Wenn man ihn verhaftet; nun so lassen Sie ihn im Gefängnis!

Der Staatsanwalt machte ein verneinendes Zeichen.

Wenigstensbis meine Tochter verheiratet ist.

Unmöglich, gnädige Frau, die Justiz hat ihre strengen Formen.

Selbst für mich? versetzte dieBaronin, halbernst, halblächelnd.

Für alle, und für mich, wie für die andern.

Ah! rief dieBaronin, ohne in Worte umzusetzen, was siebei diesem Ausruf dachte.

Ja, ich weiß, was Sie sagen wollen, versetzte Villefort, Sie spielen auf die in der Welt verbreiteten furchtbaren Gerüchte an, alle die Todesfälle, die mich seit drei Monaten in Trauer kleiden, auch Valentines schwere Erkrankung seien nicht natürlich?

Ich dachte nicht daran, erwiderte lebhaft Frau Danglars.

Doch, gnädige Frau, Sie dachten daran, und das war kein Unrecht, denn Sie mußten notwendig daran denken, und Sie sagten sich ganz leise: Du, der du das Verbrechen verfolgst, verantworte dich. Warum gibt es au deiner Seite Verbrechen, die unbestraftbleiben?

Die Baronin erbleichte.

Nicht wahr, Sie sagten sich das? — Ich gestehe es.

Ich will Ihnen antworten, und Villefort näherte seinen Stuhl dem der Frau Danglars; dann stützte er seinebeiden Hände auf seinen Schreibtisch und sprach mit einem dumpferen Tone als gewöhnlich: Es gibt Verbrechen, die unbestraftbleiben, weil man die Verbrecher nicht kennt und ein unschuldiges Haupt statt eines schuldigen zu treffenbefürchtet; doch wenn die Verbrecherbekannt sind, so sollen sie, bei dem lebendigen Gott, sterben, gnädige Frau, wer sie auch sein mögen. Nachdem Sie meinen Eid, den ich halten werde, gehört haben, wagen Sie es noch, mich um Gnade für den Elenden zubitten?

Ei! mein Herr, sind Sie sicher, daß er so schuldig ist, wie manbehauptet?

Hören Sie, hier liegen die ihnbetreffenden Akten: Benedetto wurde zuerst im Alter von sechzehn Jahren zu fünf Jahren Galeeren wegen Fälschung verurteilt; Sie sehen, der junge Mensch versprach etwas; dann ist er entwichen, dann Mörder geworden.

Und wer ist dieser Unglückliche?

Weiß man das? Ein Vagabund, ein Korse.

Er ist also von niemand reklamiert worden?

Von niemand; man kennt seine Verwandten nicht.

Doch der andere war aus Lucca?

Auch ein Gauner, wie er, vielleicht sein Genosse.

DieBaronin faltete die Hände und flüsterte mit ihrem süßesten und einschmeichelndsten Tone: Villefort!

Um Gotteswillen, gnädige Frau, entgegnete der Staatsanwalt mit einer trockenen Festigkeit, um Gotteswillen, verlangen Sie doch von mir nicht dieBegnadigung eines Schuldigen. Werbin ich denn? Das Gesetz, das Gesetz. Hat das Gesetz Augen, Ihre Traurigkeit zu sehen? Hat das Gesetz Ohren, Ihre weiche Stimme zu hören? Hat das Gesetz ein Gedächtnis für Ihre zarten Gedanken? Nein, gnädige Frau, das Gesetzbefiehlt, und wenn esbefohlen hat, schlägt es! Sie werden mir sagen, ich sei ein lebendiges Wesen und kein Kodex, ein Mensch und keinBuch. Schauen Sie mich an, gnädige Frau, schauen Sie um mich her! Haben die Menschen mich alsBruderbehandelt, haben sie mich geliebt? Haben sie mich geschont? Hat jemand Gnade für Herrn von Villefort verlangt? Nein! Nein! Nein! Geschlagen, stets geschlagen! Als Frau, das heißt als Sirene, schauen Sie michbeharrlich mit dembezaubernden, ausdrucksvollen Auge an, das mich daran erinnert, daß ich erröten muß. Wohl! es sei, ja, erröten über das, was Sie wissen, und vielleicht noch über etwas anderes! Doch, seitdem ich gefehlt habe und vielleicht ärger als die andern gefehlt habe, habe ich die Kleider der andern geschüttelt, um das Geschwür darunter zu finden, und ich habe es immer gefunden; ich sage noch mehr, ich habe es mit Glück, mit Freude gefunden, dieses Siegel der Schwäche oder der menschlichen Verkehrtheit! Denn jeder Mensch, den ich als schuldig erkannte, und jeder Schuldige, den ich schlug, erschien mir als ein neuerBeweis dafür, daß ich selbst keine häßliche Ausnahme war! Ah! die ganze Welt istböse, beweisen wir dies, und schlagen wir denBösen!

Villefort sprach diese Worte mit einer fieberhaften Wut, die ihm eine wildeBeredsamkeit verlieh.

Oh, mein Herr! rief dieBaronin, Sie sind unbarmherzig gegen die andern! Wohl, so sage ich Ihnen, man wird unbarmherzig gegen Sie sein!

Es sei! sagte Villefort, seine Arme mit drohender Gebärde zum Himmel emporstreckend.

Verschieben Sie wenigstens den Prozeß des Unglücklichen, wenn er verhaftet wird, bis zur nächsten Schwurgerichtstagung; das gibt doch sechs Monate zum Vergessen.

Nein, ich habe noch fünf Tage, und die Voruntersuchung ist fertig. Bedenken Sie auch, daß ich ebenfalls vergessen muß! Wenn ich arbeite, wie ich es Tag und Nacht tue, dann gibt es Augenblicke, wo ich mich nicht mehr erinnere, und dannbin ich glücklich nach Art der Toten, und das ist immer nochbesser als leiden.

Er ist entflohen; so lassen Sie ihn entfliehen! Die Saumseligkeit ist eine geringe Nachsicht.

Aber ich sagte Ihnenbereits, daß es zu spät ist; mit Tagesanbruch hat der Telegraph gespielt, und zu dieser Stunde…

Herr Staatsanwalt, sagte der eintretende Kammerdiener, hier eine Depesche aus dem Ministerium.

Villefort nahm denBrief und entsiegelte ihn rasch.

Frau Danglarsbebte vor Schrecken, Villefort vor Freude.

Verhaftet! rief Villefort; man hat ihn in Compiegne verhaftet, es ist vorbei.

Frau Danglars erhobsich kalt undbleich.

Leben Sie wohl, mein Herr! sagte sie.

Leben Sie wohl, gnädige Frau! erwiderte der Staatsanwalt fast freudig und führte siebis zur Tür zurück.

Dann trat er an einen Schreibtisch, schlug mit dem Rücken seiner rechten Hand auf denBrief und sagte: Gut, ich hatte eine Fälschung, drei Diebstähle und zweiBrandstiftungen, es fehlte mir nur ein Mord — hier ist er; die Tagung wird hübsch sein.

Die Erscheinung.

Valentine war noch nicht völlig wiederhergestellt; von unwiderstehlicher Müdigkeitbezwungen, hütete sie dasBett. Den Tag hindurch wurde sie noch etwas frisch erhalten durch Noirtiers Gegenwart, der sich zu seiner Enkelin tragen ließ und, sie mit seinem väterlichenBlickebewachend, bei ihrblieb; wenn sodann Villefort aus dem Justizpalaste zurückkam, verweilte er ebenfalls ein paar Stundenbei ihr. Um sechs Uhr zog sich Villefort in sein Kabinett zurück; um 8 Uhr erschien Herr d'Avrigny, der selbst den für die Krankebereiteten Trankbrachte; dann trug man Noirtier weg. Eine vom Arztbestellte Wärterinbliebzurück und entfernte sich erst gegen elf Uhr, wenn Valentine entschlummert war. Sie übergabhierauf die Schlüssel von Valentines Zimmer Herrn von Villefort, so daß man nur durch Frau von Villeforts Wohnung oder durch das Zimmer des kleinen Eduard zu der Kranken gelangen konnte.

Jeden Morgen kam Morel zu Noirtier, um Erkundigungen einzuziehen; doch erschien er sonderbarerweise von Tag zu Tag weniger unruhig zu sein. Einmal ging es von Tag zu Tagbei Valentinebesser, obgleich sie noch einer heftigen Aufregung preisgegeben war; sodann hatte ihm auch Monte Christo damals gesagt, wenn Valentine in zwei Stunden nicht tot wäre, so würde sie gerettet werden. Valentine lebte aber noch, und es warenbereits vier Tage vorüber. Die nervöse Aufregung verfolgte Valentinebis in ihren Schlaf oder vielmehrbis in den schlafsüchtigen Zustand, der auf ihr Wachsein folgte. Dann geschah es, daß sie in der Stille der Nacht und in dem Halbdunkel, das im Räume um sie her herrschte, jene Schatten erblickte, die das Zimmer der Krankenbevölkern, und die auf den Schwingen des Fiebers schweben. Dann kam es ihrbald vor, als obsie das drohende Antlitz ihrer Stiefmutter erblickte, bald als obMorel seine Arme nach ihr ausstreckte, bald als obsie ihr sonst fernstehende Wesen, wie den Grafen von Monte Christo, gewahrte! Alles schien ihr in diesen fieberhaften Augenblickenbeweglich und schwankend, und dies dauertebis um drei oder vier Uhr morgens, wo einbleierner Schlaf sich ihrerbemächtigte und siebis zum Tage gefesselt hielt.

Am Abend des Tages, als Valentine Eugenies Flucht und die VerhaftungBenedettos erfahren hatte, ereignete sich eine seltsame Szene in dem so sorgfältig geschlossenen Gemach. Die Wärterin hatte sich ungefähr seit zehn Minuten entfernt. Seit einer Stunde etwa von dem jede Nacht wiederkehrenden Fieber heimgesucht, ließ Valentine den gegen ihren Willen unbotmäßigen Kopf die rastlose Arbeit des Gehirnes fortsetzen, das sich in unablässiger Wiederholung derselben Gedanken oder in Erzeugung derselbenBilder erschöpfte. Von dem Dochte der Nachtlampe gingen tausend und abertausend Strahlen mit seltsamen Zeichen aus, als es Valentine plötzlich. schien, als schiebe sich ihreBibliothek, die neben dem Kamine in einer Mauervertiefung stand, beiseite, ohne daß die Angeln, auf denen sich eine Tür zu drehen schien, das geringste Geräusch hervorbrachten.

In jedem andern Augenblick hätte Valentine die Glocke genommen und um Hilfe gerufen; doch in der Lage, in der sie sichbefand, erschreckte sie nichts mehr. Sie hatte dasBewußtsein, alles, was ihren Sinnen sich vorstellte, sei eine Ausgeburt ihres Deliriums.

Hinter der Tür erschien eine menschliche Gestalt.

Valentine war infolge ihres Fiebers zu sehr vertraut mit solchen Erscheinungen, um darüber zu erschrecken; sie riß nur die Augen weit auf, in der Hoffnung, Morel zu erkennen.

Die Gestalt schritt auf ihrBett zu, dannbliebsie stehen und schien mit tiefer Aufmerksamkeit zu horchen.

In diesem Augenblick fiel ein Strahl der Lampe auf das Gesicht des nächtlichenBesuchers.

Valentine wartete regungslos, überzeugt, es sei nur ein Traum, und dieser Mensch werde, wie es in den Träumen geschieht, verschwinden oder sich in irgend eine andere Person verwandeln.

Sieberührte nur ihren Puls, und als sie ihn heftig schlagen fühlte, erinnerte sie sich, dasbeste Mittel, diese lästigen Erscheinungen verschwinden zu lassen, sei, zu trinken. Die Frische des Getränkes, das in der Absichtbereitet war, die Aufregung, über die sich Valentinebei dem Doktorbeklagte, zubeseitigen, linderte das Fieber und schärfte die Geisteskräfte.

Valentine streckte also die Hand aus, um ihr Glas von der kristallenen Trinkschale zu nehmen; doch während sie ihren zitternden Arm ausstreckte, machte die Erscheinung abermals, und noch lebhafter als zuvor zwei Schritte auf dasBett zu und gelangte so nahe zu Valentine, daß sie ihren Hauch hörte und den Druck ihrer Hand zu fühlen glaubte. Diesmal überstieg der Anschein der Wirklichkeit alles, was Valentinebis dahin erfahren hatte; sie fing an, sich für völlig wach zu halten; sie hatte dasBewußtsein, bei voller Vernunft zu sein, undbebte.

Der Druck, den Valentine gefühlt, hatte ihren Arm zurückhalten wollen.

Dann nahm diese Gestalt, von der sich ihrBlick nicht losmachen konnte, und die übrigens mehr einenbeschützenden alsbedrohlichen Eindruck machte, das Glas, hielt es an die Nachtlampe undbeschaute prüfend den Trank. Offenbar genügte die Augenprüfung nicht, denn dieser Mensch, oder vielmehr dieses Gespenst, schöpfte einen Löffelvoll aus dem Glase und verschluckte ihn.

Valentine schaute das, was vor ihren Augen vorging, mit größtem Erstaunen an. Sie glaubte wohl, alles werdebald verschwinden, um einem andern Gemälde Platz zu machen; doch, statt wie ein Schatten zu entweichen, trat der Mensch näher zu ihr und sagte, Valentine das Glas reichend, mit erschütterter Stimme: Nun, trinken Sie!

Valentinebebte. Es war das erstemal, daß eine von ihren Erscheinungen in so lebendigen Tönen zu ihr sprach. Sie öffnete den Mund, um einen Schrei auszustoßen.

Der Mensch legte einen Finger auf seine Lippen.

Der Graf von Monte Christo! murmelte sie.

An dem Schrecken, der sich in Valentines Augen ausprägte, an dem Zittern ihrer Hände, an der raschen Gebärde, mit der sie sich unter ihre Tücher steckte, konnte man den letzten Kampf des Zweifels gegen die Überzeugung erkennen; doch die Gegenwart Monte Christos zu einer solchen Stunde, sein phantastischer, geheimnisvoller, unerklärlicher Eintritt durch eine Wand erschienen Valentines erschüttertem Gehirn als etwas Unmögliches.

Rufen Sie nicht, erschrecken Sie nicht, sagte der Graf; hegen Sie keinen Schimmer von Verdacht, keine Spur von Unruhe; der, den Sie vor sich sehen, ist der ehrfurchtsvollste Freund, von dem Sie nur immer träumen konnten.

Valentine fand keine Antwort; sie hatte eine solche Furcht vor dieser Stimme, die ihr die wirkliche Gegenwart des Sprechendenbewies, daß sie ihre Stimme nicht damit zu verbinden wagte; doch ihr erschrockenerBlick sagte: Wenn Ihre Absichten rein sind, warumbefinden Sie sich hier?

Hören Sie mich, sagte der Graf, der ihre Herzensregung verstand, oder vielmehr schauen Sie mich an! Sie sehen meine geröteten Augen und mein ungewöhnlichbleiches Gesicht; seit vier Nächten wache ich über Sie, beschütze Sie, erhalte ich Sie für unseren Freund Maximilian.

EineBlutwoge der Freude stieg rasch in die Wangen der Kranken; denn der von dem Grafen ausgesprochene Name erstickte den Rest des Mißtrauens, den er ihr eingeflößt.

Maximilian!.. wiederholte Valentine, so süß kam es ihr vor, diesen Namen auszusprechen; Maximilian! er hat Ihnen also alles gestanden?

Alles. Er hat mir gesagt, Ihr Leben sei das seinige, und ich versprach ihm, Sie würden leben.

Sie versprachen ihm, ich würde leben? — Ja.

In der Tat, mein Herr, Sie sagten vorhin etwas von Wachen und Schutz. Sind Sie denn Arzt?

Ja, derbeste, den Ihnen der Himmel in diesem Augenblick schicken kann, das mögen Sie mir glauben.


Sie sagten, Sie hätten gewacht? fragte Valentine unruhig; wo denn? Ich habe Sie nicht gesehen. Der Graf streckte die Hand in der Richtung derBibliothek aus.

Ich war hinter jener Tür verborgen, sagte er; jene Tür führt in das anstoßende Haus, das ich gemietet habe.

Valentine wandte mit einerBewegung schamhaften Stolzes die Augen abund sagte voll Schrecken: Mein Herr, was Sie getan haben, istbeispiellos wahnsinnig, und der Schutz, den Sie mir gewähren, sieht einerBeleidigung sehr ähnlich.

Valentine, sagte der Graf, während der langen Nachtwachen sah ich nur, welche Leute zu Ihnen kamen, welche Nahrungsmittel man Ihnenbereitete, welche Getränke man Ihnen vorsetzte. Erschienen mir diese Getränke gefährlich, so trat ich ein, wie ich soeben eingetretenbin, leerte Ihr Glas und setzte an die Stelle des Giftes ein wohltätiges Getränk, das statt des Todes, den man Ihnenbereitet hatte, das Leben in Ihren Adern kreisen ließ.

Gift! Tod! rief Valentine, die abermals unter der Herrschaft einer fieberhaften Sinnestäuschung zu stehen glaubte; was sagen Sie da, mein Herr?

Still, mein Kind, erwiderte Monte Christo, einen Finger auf seine Lippen legend, ich habe gesagt Gift und Tod; doch trinken Sie zuerst hiervon — der Graf zog aus seiner Tasche ein Fläschchen, das einen roten Saft enthielt, und goß ein paar Tropfen davon in ein Glas — und wenn Sie getrunken haben werden, nehmen Sie diese Nacht nichts mehr.

Valentine streckte die Hand aus; doch kaum hatte diese das Glasberührt, als sie sie voll Schrecken wieder zurückzog.

Monte Christo nahm das Glas, trank die Hälfte davon, reichte es Valentine, und diese verschluckte lächelnd den Rest.

Oh! ja, sagte sie, ich erkenne den Geschmack meiner nächtlichen Getränke, den Geschmack dieses Wassers, das meinerBrust ein wenig Frische, meinem Gehirn ein wenig Ruhe verlieh. Ich danke, mein Herr, ich danke.

So haben Sie seit vier Nächten gelebt, Valentine, sagte der Graf. Doch wie lebte ich? Oh, welche grausamen Stunden ließen Sic mich durchmachen? Oh! welche furchtbaren Qualen ließen Sie mich ausstehen, wenn ich in Ihr Glas das tödliche Gift gießen sah, wenn ich fürchtete, Sie hätten Zeit, es zu trinken, ehe ich Zeit gehabt hätte, es in den Kamin zu schütten!

Sie sagen, mein Herr, sprach Valentine, im höchsten Maße erschrocken, Sie sagen, Sie haben tausend Qualen ausgestanden, als man in mein Glas das tödliche Gift gegossen? Doch wenn Sie Gift in mein Glas gießen sahen, so mußten Sie auch die Person sehen, die es hineingoß?

Ja.

Valentine richtete sich auf, zog über ihre schneeweißeBrust den gesticktenBattist, noch feucht von dem kalten Schweiße des Fiebers, mit dem sich der noch eisigere Schweiß des Schreckens zu vermischen anfing, und wiederholte: Sie haben sie gesehen?

Ja, sagte zum zweiten Male der Graf.

Was Sie mir da sagen, ist gräßlich, mein Herr, denn Sie wollen mich irgend etwas Höllisches glauben lassen. Wie! Im Hause meines Vaters, in meinem Zimmer, auf meinem Schmerzenslager fährt man fort, mich zu ermorden? Oh! Entfernen Sie sich, mein Herr, Sie führen mein Gewissen in Versuchung, Sie schmähen die Güte Gottes! Es ist unmöglich, es kann nicht sein.

Sind Sie denn die erste, welche diese Hand schlägt? Haben Sie nicht in Ihrer Umgebung Herrn von Saint‑Meran, Frau von Saint‑Meran, Barrois fallen sehen? Hätten Sie nicht Herrn Noirtier fallen sehen, wäre sein Körper nicht durch diebeständige Aufnahme von Gift gegen die tödliche Wirkung gefeit?

Oh! mein Gott! Deshalbalso verlangt der gute Papa seit einem Monat von mir, daß ich alle seine Getränke mit ihm teile?

Und diese Getränke, rief Monte Christo, nicht wahr, sie haben einenbitteren Geschmack, wie getrocknete Orangenschalen?

Ja, mein Gott, ja!

Oh! das erklärt mir alles, sagte Monte Christo; er weiß auch, daß man hier vergiftet, und vielleicht, wer hier vergiftet. Er hat Sie, sein vielgeliebtes Kind, gegen die tödliche Substanz schützen wollen. Deshalbleben Sie noch, was ich mir nicht erklären konnte, nachdem man Ihnen vor vier Tagen ein Giftbeigebracht, das sonst immer tödlich ist.

Aber wer ist denn der Meuchler, der Mörder?

Ich frage Sie ebenfalls: Haben Sie nie jemand in der Nacht in Ihr Zimmer eintreten sehen?

Doch wohl. Oft kam es mir vor, als sähe ich Schatten erscheinen, sich nähern, sich entfernen, verschwinden; doch ich hielt sie für Ausgeburten meines Fiebers, und soeben, als Sie selbst eintraten, glaubte ich lange, ich hätte entweder das Fieber oder ich träumte.

Also kennen Sie die Person nicht, die Ihnen das Leben nehmen will?

Nein. Warum sollte jemand meines Tod wünschen?

Sie werden sie kennen lernen, versetzte Monte Christo horchend.

Wie dies? fragte Valentine, voll Schrecken umherschauend.

Weil Sie heute abend weder das Fieber, noch das Delirium haben, weil Sie vollkommen wach sind, weil es soeben Mitternacht schlägt und dies die Stunde der Mörder ist.

Mein Gott! mein Gott! sagte Valentine, mit der Hand den Schweiß abtrocknend, der auf ihrer Stirn perlte.

Es schlug in der Tat langsam und schaurig zwölf Uhr; es war, als objeder Schlag des eisernen Hammers das Herz des Mädchens träfe.

Valentine, fuhr der Gras fort, rufen Sie alle Ihre Kräfte zu Hilfe, drängen Sie Ihr Herz in IhreBrust zurück, halten Sie Ihre Stimme in Ihrer Kehle seit, stellen Sie sich schlafend, und Sie werden sehen. Valentine faßte den Grafenbei der Hand und sagte: Es scheint mir, ich höre Geräusch, entfernen Sie sich!

Leben Sie wohl, oder vielmehr auf Wiedersehen, sagte der Graf. Dann kehrte er mit einem so traurigen und so väterlichen Lächeln, daß das Herz des Mädchens davon durchdrungen wurde, zur Tür derBibliothek zurück. Doch wandte er sich noch einmal um und flüsterte: Keine Gebärde, kein Wort; man muß Sie für eingeschlafen halten, sonst tötet man Sie vielleicht, ehe ich Zeit hätte herbeizukommen.

Lorusta.

Valentineblieballein; zwei Pendeluhren schlugen kurz nacheinander Mitternacht. Dann herrschte wieder, von ein paar Wagen abgesehen, die man in der Entfernung rollen hörte, völlige Todesstille.

Sie fing an, die Sekunden zu zählen, undbemerkte, daß sie um das Doppelte langsamer waren, als die Schläge ihres Herzens. Dennoch zweifelte sie. Die harmlose Valentine konnte sich nicht vorstellen, es wünsche irgend jemand ihren Tod. Warum? In welcher Absicht? Was hatte sieBöses getan, um jemandes Feindschaft auf sich zu ziehen?

Ein Gedanke, ein einziger, furchtbarer Gedanke hielt ihren Geist gespannt, der Gedanke, es sei eine Person auf der Welt, die sie zu ermorden versucht habe und es abermals versuchen würde. Wenn diese Person diesmal, wie es der Graf von Monte Christo gesagt, ihre Zuflucht zum Eisen nahm! Wenn der Graf nicht mehr Zeit hatte, herbeizueilen! Wenn sie ihrem letzten Augenblicke nahe stände, wenn sie Morel nicht mehr wiedersehen sollte!

Bei diesem Gedanken, der sie zugleich mit Leichenblässe und mit eisigem Schweißebedeckte, war Valentine nahe daran, nach der Glockenschnur zu greifen und um Hilfe zu rufen. Zwanzig Minuten, zwanzig Ewigkeiten verliefen so, dann noch zehn weitere Minuten; endlich schlug die Pendeluhr einmal auf das hellklingende Glöckchen.

In demselben Augenblicke sagte der Kranken ein unmerkliches Kratzen des Nagels an der Wand derBibliothek, daß der Graf wachte und ihr zu wachen empfahl.

Auf der entgegengesetzten Seite, nämlich in der Richtung von Eduards Zimmer, glaubte Valentine wirklich denBoden knacken zu hören; sie horchte, ihrenbeinahe erstickten Atem zurückhaltend; die Türklinke knirschte, und die Tür drehte sich auf ihren Angeln.

Valentine hatte sich auf ihren Ellenbogen erhoben; esbliebihr kaum Zeit, sich auf ihrBett zurückfallen zu lassen und ihre Augen unter ihrem Arm zu verbergen. Dann wartete sie, zitternd, erschüttert, mit einem von unsäglicher Angst zusammengeschnürten Herzen.

Es näherte sich jemand demBette und streifte die Vorhänge. Valentine raffte alle ihre Kräfte zusammen und ließ das regelmäßige Gemurmel des Atems vernehmen, das einen ruhigen Schlaf andeutet.

Valentine! sprach ganz leise eine Stimme.

Dasselbe Schweigen: Valentine hatte versprochen, nicht zu erwachen und nicht zu sprechen.

Dannblieballes still; Valentine hörte nur dasbeinahe unmerkliche Geräusch, wie eine Flüssigkeit in das Glas gegossen wurde, das sie geleert hatte.

Nun wagte sie es, unter dem Schirm ihres ausgestreckten Armes halbihr Augenlid zu öffnen. Sie sah eine Frau in weißem Nachtkleide, die aus einer Phiole eine Flüssigkeit in ihr Glas leerte.

Während dieses kurzen Augenblicks hielt Valentine vielleicht ihren Atem zurück, oder sie machte irgend eineBewegung, denn die Frau schaute unruhig auf und neigte sich über ihrBett, um zu sehen, obsie wirklich, schlafe: es war Frau von Villefort. Als Valentine ihre Stiefmutter erkannte, wurde sie von einem so jähen Schauer ergriffen, daß sich ihrBettbewegte.

Frau von Villefort drückte sich sogleich an die Wand undbeobachtete hier, vomBettvorhang gedeckt, ihr Opfer stumm und aufmerksam.

Valentine erinnerte sich der furchtbaren Worte Monte Christos; es war ihr vorgekommen, als hätte sie in der Hand, welche die Phiole nicht hielt, ein langes, scharfes Messer glänzen sehen, und sie rief ihre ganze Willenskraft zu Hilfe, um die Augen zu schließen.

Durch die Stille, in der sich das gleichmäßige Geräusch des Atemholens der Kranken wieder hören ließ, sicher gemacht, streckte Frau von Villefort abermals den Arm aus und goß, halbverborgen hinter dem oben amBette zusammengezogenen Vorhang, den Inhalt der Phiole vollends in Valentines Glas.

Dann entfernte sie sich, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. Es läßt sich nicht ausdrücken, was Valentine während der letzten anderthalbMinuten empfunden hatte. Ein leichtes Kratzen an derBibliothek entzog sie ihrerBetäubung. Sie hobden Kopf mit großer Anstrengung in die Höhe. Die stille Tür drehte sich abermals auf ihren Angeln, und der Graf von Monte Christo erschien wieder.

Nun! fragte er, zweifeln Sie immer noch?

Oh, mein Gott! murmelte das Mädchen.

Sie haben sie erkannt?

Valentine stieß einen Seufzer aus und erwiderte: Ja, doch ich kann nicht daran glauben.

Sie wollen also lieber sterben und Maximilian sterben lassen?

Mein Gott! mein Gott! rief das Mädchen, fast von Sinnen, kann ich denn nicht das Haus verlassen und fliehen?

Valentine, die Hand, die Sie verfolgt, wird Sie überall treffen; mit Gold verführt man Ihre Diener, und der Todbietet sich Ihnen unter allen Gestalten verkleidet: im Wasser, das Sie an der Quelle trinken, in der Frucht, die Sie vomBaume pflücken.

Wer sagten Sie denn nicht, die Vorsicht des guten Papas habe mich gegen das Giftbeschützt?

Gegen ein Gift, das nicht einmal in starker Dose angewendet wurde; man wird das Gift verändern oder die Dosis vermehren.

Er nahm das Glas undbenutzte seine Lippen.

Ah! sehen Sie, sagte er, es istbereits geschehen. Man vergiftet Sie nicht mehr mitBrucin, sondern mit einem andern Mittel. Ich erkenne den Geschmack des Alkohols, in dem man es sich hat auflösen lassen. Hätten Sie getrunken, was Ihnen Frau von Villefort in dieses Glas gegossen, Valentine, Sie wärenbereits verloren.

Mein Gott! warum verfolgt sie mich denn? Ich habe ihr nie Schlimmes zugefügt.

Doch Sie sind reich, Valentine, Sie haben 200 000 Franken Rente, und diese 200 000 Franken entziehen Sie ihrem Sohne.

Wieso? Mein Vermögen ist nicht das seinige; es kommt mir von meinen Großeltern zu.

Allerdings, und deshalbsind Herr und Frau von Saint‑Meran gestorben, die Siebeerben sollten; deshalbwar Herr Noirtier verurteilt, sobald er Sie zu seiner Erbin eingesetzt hatte; deshalbendlich sollen Sie sterben, damit Ihr Vater von Ihnen erbt und IhrBruder als einziges Kind dann von Ihrem Vater.

Eduard! Armes Kind, für ihnbegeht man alle diese Verbrechen?

Ah! Siebegreifen endlich.

Mein Gott! Wenn er nur nicht einmal hierfür leiden muß!

Sie sind ein Engel, Valentine!

Und in dem Geiste einer Frau ist eine solche Kombination geboren worden! Mein Gott! Mein Gott! Denken Sie an Perugua, an die Laube im Gasthause zur Post, an den Mann mit dembraunen Mantel, den Ihre Mutter über die Aqua Tosanabefragte! Nun, seit jener Zeit reifte der ganze höllische Plan in ihrem Gehirn.

Oh! mein Herr, rief das sanfte Mädchen, in Tränen zerfließend, ich sehe wohl, daß ich zum Sterben verurteiltbin, wenn es so ist.

Nein, Valentine, nein, denn ich habe dies alles vorhergesehen; nein, denn unsere Feindin istbesiegt, weil sie entdeckt ist: nein, Sie werden leben, Valentine, um zu lieben und geliebt zu werden, Sie werden leben, um glücklich zu sein und ein edles Herz glücklich zu machen; doch um zu leben, Valentine, müssen Sie Vertrauen zu mir haben.

Befehlen Sie, mein Herr, was soll ich tun?

Sie müssenblindlings nehmen, was ich Ihnen geben werde.

Oh! Gott ist mein Zeuge, rief Valentine, wenn ich allein wäre, so würde ich lieber sterben.

Sie werden niemand vertrauen, selbst nicht einmal Ihrem Vater?

Nicht wahr, mein Vater hat keinen Anteil an diesem furchtbaren Komplott?

Nein, und dennoch muß Ihr Vater vermuten, daß alle diese Todesfälle, die Ihr Haus treffen, nicht natürlich sind. Ihr Vater hätte über Ihnen wachen sollen, er sollte zu dieser Stunde an dem Platze sein, den ich einnehme; er solltebereits dieses Glas ausgeleert haben; er müßte sich gegen den Mörder erhoben haben. Gespenst gegen Gespenst, murmelte er, ganz leise seinen Satz vollendend.

Gut, sagte Valentine, ich werde alles tun, um zu leben, denn es gibt zwei Wesen auf der Welt, die mich so lieben, daß sie sterben würden, wenn mich der Tod träfe: mein Großvater und Maximilian.

Ich werde auch siebeschützen.

Wohl, mein Herr, verfügen Sie über mich, sprach Valentine. Dann sagte sie mit leisem Stimme: Oh, mein Gott! mein Gott! Was wird mir widerfahren?

Valentine, was Ihnen auch geschehen mag, erschrecken Sie nicht! Wenn Sie leiden, wenn Sie das Gesicht, das Gehör, das Gefühl verlieren, fürchten Sie nichts! Wenn Sie erwachen, ohne zu wissen, wo Sie sind, hegen Sie keine Furcht, und sollten Sie sich in einem Grabgewölbe oder in einem Sarge finden! Sammeln Sie sogleich Ihren Geist und sagen Sie sich: In diesem Augenblick wacht ein Freund, ein Vater, ein Mann, der mein und Maximilians Glück will, über mir.

Ach! ach! welch eine gräßliche Notwendigkeit!

Valentine, wollen Sie lieber Ihre Stiefmutter anklagen?

Ich wollte lieber hundertmal sterben! ah! ja, sterben!

Nein, Sie werden nicht sterben, und was Ihnen auch geschehen mag, Sie werden nicht klagen, sondern hoffen, das versprechen Sie mir.

Ich werde an Maximilian denken.

Sie sind meine vielgeliebte Tochter; ich allein kann Sie retten und werde Sie retten.

Valentine faltete im höchsten Schrecken die Hände, denn sie fühlte, daß der Augenblick gekommen war, Gott um Mut anzuflehen; sie richtete sich auf, um zubeten, murmelte Worte ohne Folge und vergaß dabei, daß ihre weißen Schultern keinen andern Schleier hatten, als ihr weiches Haar, und daß man ihr Herz unter der seinen Spitze ihres Nachtgewandes schlagen sah.

Der Graf legte sacht die Hand auf Valentines Arm, zog ihre Samtdeckebis zum Halse herauf und sprach mit väterlichem Lächeln: Meine Tochter, glauben Sie an meine Zuneigung, wie Sie an die Güte Gottes und an die Liebe Maximilians glauben.

Valentine heftete einenBlick voll Dankbarkeit auf ihn undbliebgelehrig wie ein Kind. Da zog der Graf aus seiner Westentasche die kleineBüchse von Smaragd, nahm ihren goldenen Deckel abund schüttelte in Valentines Hände eine runde Pastille von der Größe einer Erbse. Valentine schobdie Pastille in den Mund und verschluckte sie.

Und nun auf Wiedersehen, mein Kind, sagte der Graf, ich will versuchen, zu schlafen, denn Sie sind gerettet.

Gehen Sie, sagte Valentine, was mir auchbegegnen mag, ich verspreche Ihnen, keine Furcht zu haben.

Monte Christo hielt lange seine Augen auf das Mädchen geheftet, das, von der Macht des narkotischen Mittelsbesiegt, allmählich entschlummerte.

Nun nahm er das Glas, leerte drei Viertel in den Kamin, damit man glaube, Valentine habe das Fehlende getrunken, und stellte es wieder auf den Nachttisch; dann kehrte er zur Tür derBibliothek zurück und verschwand, nachdem er einen letztenBlick auf Valentine geworfen hatte, die mit dem Vertrauen und der Reinheit eines zu den Füßen des Herrn liegenden Engels einschlief.

Valentine.

Die Nachtlampebrannte immer noch auf dem Kamine und verzehrte die letzten Tropfen Öl; ein trauriges Licht färbte mit mattem Widerschein die weißen Vorhänge und dieBettücher. Alles Geräusch der Straße war jetzt erloschen, und im Innern herrschte eine furchtbare Stille.

Die Tür von Eduards Zimmer öffnete sich jetzt, und ein Kopf erschien in dem der Tür gegenüber angebrachten Spiegel; es war Frau von Villefort, die zurückkehrte, um die Wirkung des Trankes zubeobachten.

Siebliebauf der Schwelle stehen und ging dann sacht auf den Nachttisch zu, um zu sehen, obdas Glas leer sei.

Es war, wie gesagt, noch zum vierten Teile voll.

Frau von Villefort nahm es und leerte es in die Asche, dir sie mit dem Fuße umrührte, um die Einsaugung der Flüssigkeit zu erleichtern; dann spülte sie sorgfältig den Kristall aus, wischte ihn mit ihrem eigenen Taschentuch abund stellte ihn wieder auf den Nachttisch.

Wer in das Innere dieses Zimmers hätte schauen können, würde gesehen haben, wie Frau von Villefort zögerte, ihre Augen auf Valentine zu heften und sich ihremBett zu nähern! die Giftmischerin fürchtete sich offenbar vor ihrem Werke.

Endlich faßte sie Mut, schobden Vorhangbeiseite, stützte sich auf das Kopfkissen und neigte sich über Valentine.

Valentine atmete nicht mehr, ihre halbgeöffneten Zähne ließen kein Atom von dem Hauche durch, der das Leben verrät. Ihre weißen Lippen hatten zu zittern aufgehört; in einen violetten Dunst getaucht, der sich unter die Haut gezogen zu haben schien, bildeten ihre Augen dort, wo der Augapfel das Augenlid wölbte, einen weißen Vorsprung, und ihre langen, schwarzen Wimpern schienen dunkle Furchen über einebereits wachsartig matte Haut zu ziehen.

Frau von Villefortbeschaute dieses Gesicht mit einem sonderbar starren Ausdruck; sie hobdann rasch die Decke auf und legte ihre Hand auf das Herz des Mädchens. Es war stumm und eisig.

Was unter ihrer Hand schlug, das war die Arterie ihrer Finger; sie zog ihre Hand mit einem Schauer zurück. Valentines Arm hing über dasBett herab, und die Nägel waren an der Wurzelblau.

Für Frau von Villefort gabes keinen Zweifel mehr, alles war vorbei; das furchtbare Werk, das letzte, das sie zu vollbringen hatte, war vollbracht. Die Giftmischerin hatte nichts mehr in diesem Zimmer zu tun; sie wich langsam, den Vorhang noch immer haltend und wie gebannt durch den Anblick des Opfers, sobehutsam zurück, daß sie das Geräusch ihrer Füße auf dem Teppiche zu fürchten schien.

In diesem Augenblick verdoppelte sich das Geknister der Nachtlampe. Frau von Villefortbebtebei diesem Geräusch und ließ den Vorhang fallen. Dann erlosch die Lampe, und das Zimmer versank in eine furchtbare Dunkelheit.

In dieser Dunkelheit erwachte die Pendeluhr und schlug halbvier. Erschrocken über diese aufeinander folgenden Geräusche, erreichte die Giftmischerin tappend die Tür, und kehrte, den Angstschweiß auf der Stirn, in ihr Zimmer zurück. Die Dunkelheit dauerte noch zwei Stunden.

Allmählich drang einbleicher Tag durch die Zwischenräume der Läden, und das Licht wurde nach und nach stärker und gabden Gegenständen und Körpern Farbe und Form zurück. Jetzt hörte man das Husten der Krankenwärterin auf der Treppe, und diese Frau trat, eine Tasse in der Hand, ein. Sie hielt Valentine noch für schlafend und sagte: Gut! sie hat getrunken, das Glas ist zu zwei Dritteln leer. Dann ging sie an den Kamin, zündete Feuer an, setzte sich in ihren Lehnstuhl undbenutzte, obgleich sie erst aus ihremBette kam, Valentines Schlaf, um selbst noch einige Augenblicke zu schlummern. Die Pendeluhr erweckte, die Wärterin, als sie acht Uhr schlug. Erstaunt über den hartnäckigen Schlaf, in dem Valentine verharrte, erschrocken über den aus demBette hängenden Arm, ging sie näher undbemerkte jetzt erst die kalten Lippen und die eisigeBrust. Sie wollte den Arm zum Körper heraufziehen; doch mit jener furchtbaren Steifheit, die für eine Wärterin keinen Zweifel übrig ließ, widerstand der Arm.

Sie stieß einen furchtbaren Schrei aus, lief an die Tür und rief: Zu Hilfe! zu Hilfe!

Wie! zu Hilfe? entgegnete unten an der Treppe Herrn d'Avrignys Stimme.

Es war die Stunde, zu der der Doktor gewöhnlich kam.

Wie! zu Hilfe! rief Herr von Villefort, aus seinem Kabinett stürzend, Doktor, haben Sie nicht um Hilfe rufen hören?

Ja, ja, gehen Sie rasch hinauf, es istbei Valentine, antwortete d'Avrigny.

Doch ehe der Arzt und der Vater hinaufkamen, waren die Diener, welche sich in den Zimmern und Gängenbefanden, bei Valentine eingetreten, und als sie diesebleich und unbeweglich auf ihremBette sahen, hoben sie die Hände zum Himmel empor und wankten, wie vom Schwindel erfaßt.

Ruft Frau von Villefort! Weckt Frau von Villefort! schrie der Staatsanwalt vor der Tür des Zimmers, in das er, wie es schien, nicht einzutreten wagte.

Doch statt zu antworten, schauten die Diener Herrn d'Avrigny an, der auf Valentine zugelaufen war und sie in seinen Armen aufhob.

Auch diese… murmelte er und ließ sie zurückfallen. Oh! mein Gott! mein Gott! wann wirst du müde werden?

Villefort stürzte in das Zimmer.

Was sagen Sie? rief er, die Hände zum Himmel emporstreckend, Doktor!.. Doktor!..

Ich sage, daß Valentine tot ist, antwortete d'Avrigny mit feierlichem und in seiner Feierlichkeit schrecklichem Tone.

Herr von Villefort sank zusammen, wie wenn seineBeine gebrochen wären, und fiel mit dem Kopf auf dasBett seiner Tochter.

Bei den Worten des Doktors, bei dem Geschrei des Vaters entflohen die Diener voll Schrecken und unter dumpfen Verwünschungen. Man hörte auf den Treppen und in den Gängen hastige Tritte — dann war alles vorbei, der Lärm verklang; von dem erstenbis zum letzten hatten sie das verfluchte Haus verlassen.

In diesem Augenblick hobFrau von Villefort, den Arm halbin ihr Morgengewand gehüllt, den Türvorhang auf; einen Augenblickbliebsie auf der Schwelle, scheinbar die Anwesendenbefragend und ein paar widerwillige Tränen zu Hilfe rufend.

Plötzlich machte sie, die Arme gegen den Nachttisch ausstreckend, einen Schritt oder vielmehr einen Sprung vorwärts.

Sie hatte gesehen, wie sich d'Avrigny neugierig über diesen Tischbeugte und das Glas nahm, von dem sie gewiß wußte, daß sie den Inhalt in die Asche geschüttet hatte.

Hätte sich das Gespenst des Opfers vor der Giftmischerin erhoben, es hätte keine solche Wirkung auf sie hervorbringen können. Hat sie nicht den Rest des Trankes vorsichtig ausgeschüttet? Es muß ein Wunder sein, das Gott ohne Zweifel getan, damit eine Spur des Verbrechens zurückbleibe.

Während Frau von Villefort unbeweglich wie eineBildsäule des Schreckens dastand, während Villefort, den Kopf in den Tüchern des Sterbebettesbergend, nichts von dem sah, was um ihn her vorging, näherte sich d'Avrigny dem Fenster, um den Inhalt des Glases zu prüfen, und kostete einen Tropfen, den er mit dem Ende des Fingers nahm.

Ah! murmelte er, das ist nicht mehrBrucin; wir wollen sehen, was es ist.

Dann lief er nach einem Schranke im Zimmer, den man in eine Apotheke verwandelt hatte, zog ein Fläschchen mit Salpetersäure hervor und ließ ein paar Tropfen in das Milchweiß der Flüssigkeit fallen, die sich alsbaldblutrot färbte.

Ah! machte d'Avrigny, indem sich mit dem Schrecken des die entsetzliche Wahrheit erkennenden Richters die Genugtuung des Gelehrten, dem sich ein Problem entschleiert, mischte.

Frau von Villefort drehte sich einen Augenblick um sich selbst, ihre Augen schleuderten Flammen, dann wurden sie trübe; wankend suchte sie mit der Hand die Tür und verschwand.

Einen Augenblick nachher hörte man das Geräusch eines auf denBoden fallenden Körpers. Doch niemand achtete darauf außer Herrn d'Avrigny, der Frau von Villefort mit den Augen folgte und ihre rasche Entfernungbemerkte.

Er hobden Türvorhang des Zimmers von Valentine auf, worauf seinBlick durch Eduards Zimmer in das Gemach der Frau von Villefort dringen konnte, die er ohneBewegung auf demBoden ausgestreckt sah.

Stehen Sie Frau von Villefortbei, sagte er zu der Wärterin: Frau von Villefort ist unwohl!

Doch Fräulein Valentine? stammelte die Wärterin.

Fräulein Valentinebedarf keiner Hilfe mehr, denn sie ist tot, sprach d'Avrigny.

Tot! Tot! seufzte Villefort im Paroxysmus eines um so gräßlicheren Schmerzes, als er für dieses eherne Herz neu, unbekannt, unerhört war.

Tot sagen Sie, rief eine dritte Stimme, wer sagt, Valentine sei tot?

Diebeiden Männer wandten sich um und erblickten an der Tür Morel, bleich, verstört, furchtbar.

Morel hatte sich zur gewöhnlichen Stunde durch die kleine Tür, die zu Noirtier führte, eingefunden. Gegen die Gewohnheit fand er die Tür offen; er hatte also nicht nötig zu läuten und trat ein. Im Vorhause wartete er einen Augenblick und rief einenBedienten, der ihnbei dem alten Noirtier einführen sollte. Doch niemand antwortete auf sein Rufen. Nachdem er noch eine Weile vergeblich gewartet hatte, entschloß er sich, hinaufzugehen.

Noirtiers Tür war offen, wie die andern Türen.

Das erste, was er sah, war der Greis in seinem Lehnstuhle und an seinem gewöhnlichen Platze; doch seine weitgeöffneten Augen schienen einen inneren Schrecken auszudrücken, den auch die über seine Züge ausgebreitete seltsameBlässe verriet.

Wie geht es Ihnen, mein Herr? fragte der junge Mann mit gepreßtem Herzen.

Gut! machte der Greis mit den Augenblinzelnd, gut!

Doch seine Unruhe schien noch zuzunehmen.

Sie sind unruhig, fuhr Morel fort, Siebrauchen etwas, soll ich jemand von Ihren Leuten rufen?

Ja, machte Noirtier.

Aber Morel mochte an der Klingelschnur ziehen, soviel er wollte, es kam niemand.

Mein Gott! mein Gott! sagte er, warum kommt man denn nicht? Ist jemand krank im Hause?

Noirtiers Augen schienenbei diesen Worten nahe daran, aus ihrer Höhle hervorzuspringen.

Aber was haben Sie denn? fuhr Morel fort, Sie erschrecken mich. Valentine! Valentine!..

Ja, ja, machte der Greis.

Maximilian öffnete den Mund, um zu sprechen, doch er vermochte keinen Ton hervorzubringen; er wankte und hielt sich am Gesimse. Dann streckte er die Hand nach der Tür aus.

Ja! ja! ja! fuhr der Greis fort.

Maximilian stürzte nach der kleinen Treppe, über die er in zwei Sprüngen setzte, während Noirtier ihm mit den Augen zuzurufen schien: Schneller! schneller!

Eine Minute genügte für den jungen Mann, um durch mehrere Zimmer zu eilen, die wie das übrige Haus verlassen waren, undbis an das Krankenzimmer zu gelangen, dessen Tür weit offen stand.

Ein Schluchzen war das erste Geräusch, das er hörte. Er sah wie durch eine Wolke eine knieende und in einem verworrenen Haufen von weißen Tüchern verlorene schwarze Gestalt. Die Angst, die gräßliche Angst fesselte ihn an die Schwelle.

Da hörte er eine Stimme sagen: Valentine ist tot.

Maximilian.

Villefort stand auf, wie es schien, beschämt darüber, daß er sichbei dem Anfalle dieses Schmerzes hatte überraschen lassen. Sein anfangs irres Auge heftete sich auf Morel, und er sagte: Wer sind Sie, mein Herr, der Sie vergessen, daß man nicht so in ein Haus eintritt, das der Todbewohnt? Entfernen Sie sich!

Doch Morelbliebunbeweglich; er konnte seine Augen nicht von dem furchtbaren Schauspiel des in Unordnung gebrachtenBettes und des darauf liegendenbleichen Gesichtes losmachen.

Entfernen Sie sich, hören Sie! rief Villefort, während d'Avrigny vorschritt, um Morel weggehen zu heißen.

Morel aber schaute mit verstörter Miene den Leichnam an, schien einen Augenblick zu zögern, öffnete den Mund, fand jedoch, trotz der zahllosen unseligen Gedanken, die sein Gehirnbestürmten, keine Worte, fuhr mit den Händen in die Haare, kehrte auf der Stelle um und eilte hinaus, so daß Villefort und d'Avrigny, nachdem sie ihm nachgeschaut hatten, einenBlick austauschten, der sagen wollte: Er ist ein Narr!

Doch ehe fünf Minuten abgelaufen waren, hörte man die Treppe unter einer schweren Last seufzen und sah Morel, der, mit übermenschlicher Kraft Noirtiers Lehnstuhl in seinen Armen haltend, den Greis in den ersten Stock des Hauses trug. Oben auf der Treppe setzte Morel den Stuhl zuBoden und rollte ihn rasch in Valentines Zimmer. Dieses ganze Manöver wurde mit einer durch die wahnsinnige Aufregung des jungen Mannes verzehnfachten Kraft ausgeführt.

Eines aber warbesonders gräßlich, das Antlitz Noirtiers, als dieser, von Morel fortgeschoben, sich ValentinesBett näherte, das Antlitz, worin der Verstand alle seine Mittel entwickelte und die Augen ihre ganze Kraft anstrengten, um die anderen Sinne zu ersetzen.

Diesesbleiche Gesicht mit dem flammendenBlicke war auch für Villefort eine furchtbare Erscheinung. So oft er mit seinem Vater inBerührung gekommen war, hatte sich etwas Schreckliches ereignet.

Sehen Sie, was sie getan haben! rief Morel, eine Hand noch auf die Lehne des Stuhles gestützt, den erbis zumBette fortschob, und die andere gegen Valentine ausstreckend, sehen Sie! mein Vater, sehen Sie!

Villefort wich einen Schritt zurück und schaute mit Erstaunen den ihm kaumbekannten jungen Mann an, der Noirtier seinen Vater nannte.

In dieser Sekunde schien die ganze Seele des Greises in seine Augen überzugehen, die sich zuerst mitBlut unterliefen; dann schwollen die Halsadern an, einebläuliche Farbe, wie sie die Haut des Epileptischen überzieht, bedeckte seinen Hals, seine Wangen und seine Schläfe; diesem inneren Ausbruche seines ganzen Wesens fehlte nur ein Schrei.

D'Avrigny eilte auf den Greis zu und ließ ihn an einem Fläschchen riechen, das ein kräftiges Ableitungsmittel enthielt.

Mein Herr, rief nun Morel, die träge Hand des Gelähmten ergreifend, man fragt mich, wer ich sei, und welches Recht ich habe, hier zu sein. Oh! Sie, der Sie es wissen, sagen Sie es!

Und die Stimme des jungen Mannes erlosch in Schluchzen. Ein keuchender Atem schüttelte dieBrust des Greises. Man hätte glauben sollen, er sei einer von den heftigenBewegungen preisgegeben, die dem Todeskampfe vorhergehen.

Endlich entstürzten Tränen den Augen Noirtiers, der glücklicher war, als der junge Mann, denn dieser schluchzte, ohne zu weinen.

Sagen Sie, fuhr Morel mit gepreßter Stimme fort, sagen Sie, daß es meine Verlobte war! Sagen Sie, daß es meine edle Freundin, meine einzige Liebe auf Erden war! Sagen Sie, sagen Sie, daß dieser Leichnam mir gehört!

Und der junge Mannbot das furchtbare Schauspiel einerbrechenden Kraft und stürzte schwerfällig vor dasBett, das seine krampfhaften Finger mit aller Heftigkeit preßten.

Dieser Schmerz war so einschneidend, daß d'Avrigny sich abwandte, um seine Rührung zu verbergen, und daß Villefort, ohne eine andere Erklärung zu fordern, durch den Magnetismus angezogen, der uns zu den Menschen hintreibt, welche diejenigen geliebt haben, die wirbeweinen, dem jungen Manne die Hand reichte.

Doch Morel sah nichts; er hatte Valentines eisige Hand ergriffen, und da er nicht weinen konnte, biß erbrüllend in dieBettücher.

Eine Zeit lang hörte man in diesem Zimmer nur Schluchzen, Verwünschungen und Gebete.

Endlich nahm Villefort, der noch am meisten seiner Herr war, nachdem er eine Zeit lang Maximilian gleichsam den Platz abgetreten hatte, das Wort und sagte zu diesem: Mein Herr, Sie liebten Valentine, sagten Sie; Sie waren ihr Verlobter, ich wußte nichts von dieser Verbindung; aber dennoch vergebe ich Ihnen, ich, ihr Vater, denn ich sehe, Ihr Schmerz ist groß und wahr. Überdies istbei mir der Schmerz auch zu groß, als daß in meinem Herzen Raum für den Zornbleiben könnte. Doch Sie sehen, der Engel, auf den Sie hofften, hat die Erde verlassen. Valentine kann von den Menschen nur noch angebetet werden, sie, die zu dieser Stunde den Herrn anbetet; nehmen Sie Abschied von der traurigen Hülle, die sie unter uns gelassen hat, ergreifen Sie zum letzten Male ihre Hand, die Sie für sich haben wollten, und trennen Sie sich auf immer von ihr; Valentinebedarf jetzt nur noch des Priesters, der sie segnen soll.

Sie täuschen sich, mein Herr, rief Morel, sich auf ein Knie erhebend, das Herz durchbohrt von einem Schmerze, der schärfer war als alle Schmerzen, die erbis jetzt empfunden; Sie täuschen sich; gestorben, wie sie gestorben ist, bedarf Valentine nicht nur eines Priesters, sondern auch eines Rächers. Herr von Villefort, schicken Sie nach dem Priester, ich werde der Rächer sein.

Was wollen Sie damit sagen, mein Herr? murmelte Villefort.

Ich will damit sagen, antwortete Morel, daß in Ihnen zwei Menschen sind; der Vater hat genug geweint, der Staatsanwaltbeginne sein Amt!

Noirtiers Augen funkelten, d'Avrigny trat näher.

Mein Herr, fuhr der junge Mann fort, ich weiß, was ich sage, und Sie wissen ebensogut, wie ich, was ich sagen will: Valentine ist ermordet worden!

Villefort neigte das Haupt; d'Avrigny trat noch einen Schritt näher; Noirtier machte mit den Augen ja.

Mein Herr, fuhr Morel fort, ein Geschöpf, und wäre es auch nicht jung, wäre es auch nicht schön, wäre es auch nicht anbetungswürdig, wie Valentine, ein Geschöpf wird in unserer Zeit nicht gewaltsam aus der Welt gebracht, ohne daß man Rechenschaft über sein Verschwinden verlangt. Auf! Herr Staatsanwalt, fügte Morel mit wachsender Heftigkeit hinzu, kein Mitleid! Ich zeige Ihnen das Verbrechen an, suchen Sie den Mörder!

Und sein unversöhnliches Auge fragte Villefort, der mit demBlickebald Noirtier, bald d'Avrigny anflehte.

Doch statt Hilfebei seinem Vater undbei dem Doktor zu finden, fand er in ihren Gesichtern nur einen ebenso unbeugsamen Ausdruck, wie in dem Morels.

Ja! machte der Greis.

Gewiß! sagte d'Avrigny.

Mein Herr, versetzte Villefort, der noch gegen diesen dreifachen Willen und gegen seine eigene Erschütterung anzukämpfen suchte, mein Herr, Sie täuschen sich, es werden keine Verbrechen in meinem Hausebegangen. Das Unglück trifft mich, Gott prüft mich; das ist ein furchtbarer Gedanke — aber man ermordet niemand!

Noirtiers Augen flammten, d'Avrigny öffnete den Mund, um zu sprechen, Morel streckte, Schweigenbefehlend, den Arm aus und rief mit einer Stimme, die sich senkte, ohne etwas von ihrem furchtbaren Klange zu verlieren: Und ich sage Ihnen, daß man hier tötet. Ich sage Ihnen, daß dies das vierte Opfer ist, das seit vier Monaten getroffen wird! Ich sage Ihnen, daß man vor vier Tagenbereits einmal Valentine zu vergiften versucht hat, was nur infolge der Vorsichtsmaßregeln des Herrn Noirtier scheiterte. Ich sage Ihnen, daß man die Dose verdoppelt oder die Natur des Giftes verändert hat, und daß es diesmal gelungen ist! Ich sage Ihnen endlich, daß Sie dies alles so gut, wie ich, wissen, denn dieser Herr hat Sie als Arzt und als Freund davon in Kenntnis gesetzt.

Oh! Sie sprechen im Fieberwahn, mein Herr! sagte Villefort, der sich vergebens in dem Kreise, in dem er sich gefangen fühlte, zu sträuben suchte.

Ich im Fieberwahn! rief Morel; wohl, ichberufe mich auf Herrn d'Avrigny. Fragen Sie ihn, mein Herr, ober sich noch der Worte erinnere, die er im Garten dieses Hauses gesprochen, an dem Abend, wo Frau von Saint‑Meran starb; als Sie im Glauben, Sie seien allein, über den eigentümlichen plötzlichen Todesfall sprachen.

Villefort und d'Avrigny schauten sich an.

Ja, ja! erinnern Sie sich, rief Morel. Allerdings hätte ichbei der frevelhaften Nachsicht des Herrn von Villefort für die Seinigen schon an jenem Abende derBehörde alles entdecken sollen, und dann wäre ich in diesem Augenblick nicht mitschuldig an deinem Tode, Valentine! Meine vielgeliebte Valentine! Doch der Mitschuldige wird dein Rächer werden; dieser vierte Mord ist offenkundig und aller Augen sichtbar, und wenn dein Vater dich verläßt, Valentine, so werde ich den Mörder verfolgen, das schwöre ich dir.

Nun endlich schien die Natur Mitleid mit diesem starken Geist zu empfinden; die letzten Worte Morels verklangen in einem mächtigen Schluchzen, und Tränen entstürzten seinen Augen, er wankte, fiel auf seine Knie und weinte an ValentinesBett.

Nun war die Reihe an d'Avrigny, der mit fester Stimme erklärte:

Auch ich verbinde mich mit Herrn Morel, um Gerechtigkeit für das Verbrechen zu verlangen, denn mein Herz empört sichbei dem Gedanken, daß meine feige Nachgiebigkeit den Mörder ermutigt hat!

Oh! mein Gott! murmelte Villefort vernichtet.

Morel hobdas Haupt empor und sagte, in den Augen des Greises lesend, welche übernatürliche Flammen schleuderten:

Seht! seht! Herr Noirtier will sprechen.

Ja, machte Noirtier mit einem um so furchtbareren Ausdrucke, als alle Fähigkeiten des ohnmächtigen Greises in seinemBlicke konzentriert waren.

Sie kennen den Mörder? fragte Morel.

Ja, erwiderte Noirtier.

Und Sie wollen uns leiten? rief der junge Mann. Hören Sie, Herr d'Avrigny, hören Sie!

Noirtier wandte sich hierauf an den unglücklichen Morel mit jenem sanften Lächeln, welches Valentine so oft glücklich gemacht hatte, und fesselte dadurch seine Aufmerksamkeit. Als er Maximilians Augen gleichsam an den seinigenbefestigt hatte, wandte er diese der Tür zu.

Ich soll mich entfernen, mein Herr? rief Morel mit schmerzlichem Tone. — Ja, machte Noirtier.

Ach! ach! mein Herr, haben Sie Mitleid mit mir.

Die Augen des Greisesblieben unbarmherzig auf die Tür geheftet.

Darf ich wenigstens zurückkommen? fragte Morel.

Ja. — Soll ich allein gehen? — Nein.

Wen soll ich mitnehmen, den Herrn Staatsanwalt?

Nein. — Den Doktor? — Ja.

Sie wollen mit Herrn von Villefort alleinbleiben?

Ja. Oh! rief Villefort, beinahe freudig, daß die erste Untersuchung unter vier Augen vor sich gehen sollte.

D'Avrigny nahm Morelbeim Arm und führte ihn in das anstoßende Zimmer.

Es herrschte sodann im ganzen Hause eine Todesstille.

Nach Verlauf einer Viertelstunde hörte man wankende Schritte, und Villefort erschien auf der Schwelle des Zimmers, in dem sich Morel und d'Avrignybefanden.

Kommen Sie, sagte er und führte sie zurück.

Morel schaute nun Villefort aufmerksam an. Das Gesicht des Staatsanwaltes war leichenblaß, undbreite, rostfarbige Fleckenbedeckten seine Stirn.

Meine Herren, sagte er mit gepreßter Stimme, Ihr Ehrenwort, daß das furchtbare Geheimnis unter unsbegrabenbleibt?

Diebeiden Männer machten eineBewegung.

Ichbeschwöre Sie! fuhr Villefort fort.

Doch der Schuldige!.. rief Morel… der Mörder… der Meuchler!..

Seien Sie unbesorgt, mein Herr, es soll Gerechtigkeit geübt werden, sprach Villefort. Mein Vater hat mir den Namen des Schuldigen genannt, es dürstet ihn nach Rache, wie Sie, und dennochbeschwört Sie mein Vater, wie ich, das Geheimnis des Verbrechens zubewahren. Nicht wahr, Vater?

Ja, antwortete Noirtier energisch.

Morel machte eineBewegung des Abscheus und des Unglaubens.

Oh! rief Villefort, Maximilian am Arm zurückhaltend, oh! mein Herr, wenn mein Vater, dessen unbeugsame Natur Sie kennen, dieseBitte an Sie richtet, so tut er dies nur, imBewußtsein, daß Valentine furchtbar gerächt werden wird. Nicht wahr, mein Vater?

Der Greis machte einbejahendes Zeichen.

Villefort fuhr fort: Er kennt mich, und ich habe ihm mein Wort verpfändet. Beruhigen Sie sich also, meine Herren; drei Tage, nur drei Tage verlange ich von Ihnen, das ist weniger, als das Gericht von Ihnen verlangen würde, und in drei Tagen wird die Rache, die ich für die Ermordung meines Kindes nehme, die gleichgültigsten Menschenbis in die tiefste Tiefe des Herzens erzittern lassen. Nicht wahr, mein Vater?

Und während er diese Worte sprach, knirschte er mit den Zähnen und schüttelte die gelähmten Hände des Greises.

Wird alles, was versprochen ist, gehalten werden? fragte Morel.

Ja, machte Noirtier mit einemBlicke finsterer Freude.

Schwören Sie also, meine Herren, sagte Villefort, d'Avrignys und Morels Hände fassend, schwören Sie, daß Sie Mitleid mit der Ehre meines Hauses haben und mir die Sorge der Rache überlassen werden!

D'Avrigny wandte sich abund murmelte ein sehr schwaches Ja. Morel aber riß seine Hände weg, stürzte nach demBette, drückte seine Lippen auf Valentines eisige Lippen und entfloh mit dem langen Seufzer einer Seele, die sich in Verzweiflung versenkt.

Da die Diener sämtlich verschwunden waren, sah sich Herr von Villefort genötigt, Herrn d'Avrigny zubitten, die Schritte zu übernehmen, die ein Todesfall undbesonders unter so verdächtigen Umständen nach sich zieht.

Nach einer Viertelstunde kehrte Herr d'Avrigny mit dem Totenbeschauer zurück; man hatte die Tür nach der Straße geschlossen, und da der Portier mit den andern Dienern geflohen war, mußte Villefort selbst öffnen.

Doch erbliebauf dem Vorplatze stehen, da ihm der Mut fehlte, wieder in das Sterbezimmer zu treten.

Diebeiden Ärzte gingen allein zu Valentine.

Noirtier saß noch immer amBette, bleich wie der Tod, unbeweglich und stumm wie er.

Der Totenarzt näherte sich mit der Gleichgültigkeit eines Menschen, der die Hälfte seines Lebens mit Leichnamen zu tun hat, hobdas Tuch auf, mit dem das Mädchenbedeckt war, und öffnete nur ein wenig die Lippen.

Oh! sagte d'Avrigny seufzend, die Arme ist tot.

Ja, antwortete lakonisch der Arzt und ließ das Tuch wieder fallen; dann schrieber die Todeserklärung nieder und entfernte sich, von d'Avrigny zur Tür geleitet.

Villefort hörte sie hinabgehen und erschien wieder an der Tür seines Kabinetts. Mit einigen Worten dankte er dem Arzte und sagte sodann, sich an d'Avrigny wendend: Und nun der Priester; gehen Sie zum nächsten!

Der nächste, sagte der Arzt, ist ein italienischer Abbé, der seit kurzem im anstoßenden Hause wohnt. Soll ich ihn im Vorbeigehenbenachrichtigen?

D'Avrigny, sagte Villefort, ichbitte Sie, begleiten Sie diesen Herrn. Hier ist der Schlüssel, damit Sie nachBelieben aus- und eingehen können. Siebringen den Priester her und führen ihn in das Zimmer meines armen Kindes.

Wünschen Sie ihn zu sprechen, mein Freund?

Ich wünsche, allein zu sein. Nicht wahr, Sie werden mich entschuldigen? Ein Priester muß alle Schmerzenbegreifen, selbst den väterlichen Schmerz.

Hierauf gabHerr von Villefort Herrn d'Avrigny einen Schlüssel und kehrte in sein Kabinett zurück, wo er zu arbeiten anfing.

Als die Ärzte auf die Straße kamen, sahen sie einen Mann in einer Soutane auf der Schwelle des nächsten Hauses stehen.

D'Avrigny ging auf den Geistlichen zu und sagte: Mein Herr, wären Sie geneigt, einem unglücklichen Vater, der soeben seine Tochter verloren, dem Herrn Staatsanwalt von Villefort, einen großen Dienst zu leisten?

Ah! mein Herr, antwortete der Priester mit stark italienischem Akzent, ja, ich weiß, der Tod ist in seinem Hause.


Dannbrauche ich Ihnen nicht zu sagen, welchen Dienst er von Ihnen wünscht. Ich wollte mich soeben hierzu anbieten; es ist unsere Aufgabe, unsern Pflichten entgegenzukommen.

Es handelt sich um ein junges Mädchen.

Ja, ich weiß. DieBedienten, die aus dem Hause fortliefen, haben es mir gesagt. Ich hörte, daß sie Valentine hieß, undbetete für sie.

Ich danke, mein Herr, und da Sie schon Ihr heiliges Amt zu versehen angefangen, so haben Sie die Güte, es fortzusetzen. Nehmen Sie den Platzbei der Toten ein, und eine in Trauer versunkene Familie wird Ihnen dankbar sein.

Ich gehe, mein Herr, und glaube, daß nie ein Gebet glühender gewesen ist, als das meinige sein wird. D'Avrigny nahm den Abbébei der Hand und führte ihn in Valentines Zimmer. Als sie eintraten, traf NoirtiersBlick den des Abbés, und ohne Zweifel glaubte der Greis etwas Seltsames darin zu lesen, denn er ließ ihn nicht mehr aus den Augen.

D'Avrigny empfahl dem Priester nicht nur die Tote, sondern auch den Lebenden, und der Priester versprach, seine Gebete Valentine und seine Sorge Noirtier zu weihen, und schloß, ohne Zweifel, damit er in seinen Gebeten und Noirtier in seinem Schmerze nicht gestört würde, sobald Herr d'Avrigny das Zimmer verlassen hatte, nicht nur den Riegel der Tür, durch die der Doktor weggegangen war, sondern auch den Riegel der zu Frau von Villefort führenden.

Danglars' Unterschrift.

Der Morgen des nächsten Tagesbrach traurig und wolkig an. Man hatte während der Nacht den auf demBette liegenden Körper in das Schweißtuch genäht.

Im Verlaufe des Abends hatten zu diesemBehufe herbeigerufene Männer Noirtier aus Valentines Zimmer in das seinige getragen, und der Greis machte, gegen alle Erwartung, keine Schwierigkeiten, sich von dem Leichname seines Kindes zu trennen.

Der AbbéBusoni hattebis zum Morgen gewacht und sichbei Tagesanbruch zurückgezogen.

Gegen acht Uhr morgens kam d'Avrigny wieder. Erbegegnete Villefort, der zu Noirtier ging, undbegleitete ihn, um zu erfahren, wie der Greis die Nacht zugebracht habe. Sie fanden ihn in seinem großen Lehnstuhle, der ihm alsBett diente, in sanftem Schlummer ruhend und mitbeinahe lächelnder Miene. Beideblieben erstaunt auf der Schwelle stehen.

Sehen Sie, sagte d'Avrigny zu Villefort, der seinen entschlummerten Vaterbetrachtete, sehen Sie, die Natur weiß die heftigsten Schmerzen zu stillen; gewiß wird niemand sagen, Herr Noirtier habe seine Enkelin nicht geliebt, und dennoch schläft er.

Ja, Sie haben recht, sagte Villefort, er schläft, und das ist seltsam, denn der geringste Verdruß hält ihn sonst die ganze Nacht hindurch wach. Der Schmerz hat ihn niedergeschmettert, versetzte d'Avrigny, woraufbeide nachdenklich in das Kabinett des Staatsanwalts zurückkehrten.

Sehen Sie, ich habe nicht geschlafen, sagte Villefort, auf sein unberührtesBett deutend; der Schmerz schmettert mich nicht nieder; ich habe zwei Nächte nicht geschlafen; dagegen schauen Sie meinBüro an; mein Gott! Wie habe ich diese zwei Tage und diese zwei Nächte hindurch geschrieben! Wie habe ich diese Papiere durchwühlt und die Anklageschrift des MördersBenedetto mit Noten versehen!.. Oh, Arbeit, Arbeit! meine Leidenschaft, meine Freude, meine Wut, du mußt mir alle meine Schmerzen niederschlagen!

Und er drückte d'Avrigny krampfhaft die Hand.

Bedürfen Sie meiner? fragte der Doktor.

Nein, sagte Villefort, ichbitte Sie nur, um elf Uhr zurückzukommen; zur Mittagsstunde findet die Abfahrt statt. Mein Gott! mein armes Kind, mein armes Kind!

Und wieder Mensch werdend, schlug der Staatsanwalt die Augen zum Himmel auf und stieß einen Seufzer aus.

Sie werden dann also im Empfangszimmer sein?

Nein, ich habe einen Vetter, der diese traurige Ehre übernimmt. Ich gedenke zu arbeiten, Doktor; wenn ich arbeite, verschwindet alles.

Der Doktor war in der Tat noch nicht vor der Tür, als sich der Staatsanwaltbereits wieder zur Arbeit gesetzt hatte.

Um elf Uhr rollten die Wagen über das Pflaster des Hofes, und die Rue du Faubourg Saint‑Honoré ertönte von dem Gemurmel der auf die Freude wie auf die Trauer der Reichen gleichbegierigen Menge.

Allmählich füllte sich der Trauersaal, und man sah zuerst einige von unseren Freunden, nämlich Debray, Chateau‑Renaud, Beauchamp, sodann hervorragende Vertreter der Gesellschaft, der Anwaltschaft, der Literatur und der Armee. Die, welche sich kannten, winkten sich mit demBlicke und versammelten sich in Gruppen. Eine von diesen Gruppenbestand aus Debray, Chateau‑Renaud undBeauchamp.

Armes Mädchen! sagte Debray. So reich, so schön! Hätten Sie das gedacht, Chateau‑Renaud, als wir vor drei Wochen meine ich, zusammenkamen, um jenen Vertrag zu unterzeichnen, der nicht unterzeichnet wurde?

Meiner Treu! nein, erwiderte Chateau‑Renaud.

Kannten Sie Fräulein von Villefort?

Ich habe einige Male mit ihr gesprochen, sie kam mir reizend vor, obgleich etwas schwermütig. Wo ist die Stiefmutter?

Haben Sie über diesen Tod in Ihrer Zeitung geschrieben?

Der Artikel ist nicht von mir, erwiderteBeauchamp; ich zweifle auch, ober Herrn von Villefort angenehm sein wird. Es ist, glaube ich, darin gesagt, wenn vier aufeinander folgende Todesfälle anderswo als im Hause des Staatsanwalts stattgefunden hätten, so würde der Staatsanwalt sicherlich mehr dadurch inBewegung gesetzt worden sein.

Der Doktor d'Avrigny, der Arzt meiner Mutter, behauptet übrigens, er sei sehr in Verzweiflung, sagte Chateau‑Renaud. Doch was suchen Sie, Debray?

Ich suche Herrn von Monte Christo.

Ich habe ihn unterwegs auf demBoulevard getroffen; ich glaube, er will abreisen, denn er ging zu seinemBankier.

Zu seinemBankier? Ist seinBankier nicht Danglars? fragte Chateau‑Renaud.

Ich glaube, ja, erwiderte der Geheimsekretär mit einer leichten Unruhe. Doch Monte Christo ist nicht der einzige, der hier fehlt, ich sehe auch Morel nicht.

Morel! Kannte er sie? fragte Chateau‑Renaud.

Ich glaube, er ist ihr einmal vorgestellt worden.

Gleichviel, er hätte kommen müssen, sagte Debray; dieseBeerdigung ist das Ereignis des Tages.

Beauchamp hatte wahr gesprochen; als er sich zu der Trauerfeierlichkeitbegab, begegnete er Monte Christo, der auf dem Wege zu Danglars war.

DerBankier sah von seinem Fenster aus den Grafen im Hofe erscheinen und ging ihm rasch entgegen.

Nun, Graf, sagte er, Monte Christo mit einem halbtrübseligen, halbhöflichen Gesichte die Hand reichend, Sie kommen, mir IhrBeileid zubezeigen. In der Tat, das Unglück ist in meinem Hause. Es scheint überhaupt ein unglückliches Jahr zu sein. Nehmen Sie unsern Puritaner von einem Staatsanwalt, den heiligen Villefort, der nun auch seine Tochter verloren hat, nachdem auf seltsam plötzliche Weise drei andere Todesfälle in seinem Hause vorgekommen sind; Morcerf ist entehrt und getötet, und ichbin lächerlich gemacht durch die Verworfenheit diesesBenedetto, und dann…

Was dann?… fragte der Graf.

Ach! Sie wissen nicht, daß uns Eugenie verlassen hat?

Mein Gott, was Sie mir da sagen!

Sie konnte die Schmach nicht ertragen, die ihr dieser Elende angetan, undbat mich, abreisen zu dürfen.

Und sie ist mit Frau Danglars abgereist?

Nein, mit einer Verwandten… Doch wir werden nichtsdestoweniger die liebe Eugenie verlieren; denn ich zweifle, obsiebei ihrem Charakter je wieder einwilligt, nach Frankreich zurückzukehren!

Was wollen Sie, lieberBaron? versetzte Monte Christo, Familienkummer ist niederschmetternd für einen armen Teufel, dessen Kind sein einziges Vermögen darstellt, er ist aber erträglich für einen Millionär. Die Philosophen haben gut reden, die praktischen Menschen werden sie hierin immer Lügen strafen; das Geld tröstet über vielerlei, und Sie müssen schneller getröstet sein, als irgend jemand, Sie, der König der Finanzen.

Danglars warf einen schiefenBlick auf den Grafen, um zu sehen, ober spotte oder im Ernste spreche. Ja, sagte er, es ist wahr, wenn das Vermögen tröstet, sobin ich getröstet; ichbin reich.

So reich, mein lieberBaron, daß Ihr Vermögen den Pyramiden gleicht; wollte man sie zerstören, man würde es doch nicht wagen; und wagte man es, so vermöchte man es nicht.

Danglars lächelte über dieses gutmütige Zutrauen des Grafen und erwiderte: Dies erinnert mich, daß ichbei Ihrem Eintritt damitbeschäftigt war, fünf kleine Anweisungen fertigzustellen. Zwei hatte ichbereits unterzeichnet; wollen Sie mir erlauben, auch die andern drei vollends auszufertigen?

Tun Sie das, lieberBaron.

Es trat ein kurzes Schweigen ein, während dessen man die Feder desBankiers kritzeln hörte.

SpanischeBons, haytischeBons, Bons auf Neapel? fragte Monte Christo.

Nein, antwortete Danglars mit seinem anmaßenden Lachen, Anweisungen auf den Inhaber an dieBank von Frankreich. Hören Sie, fügte er hinzu, Herr Graf, Sie, der Sie Finanzkaiser sind, wie ich nur König, haben Sie viele Papierfetzen von dieser Größe, jeden im Wert von einer Million, gesehen?

Monte Christo nahm die fünf Papierstücke, die ihm Danglars stolz darreichte, in die Hand, als wollte er sie abwägen, und las:

Der Direktor derBankbeliebebezahlen zu lassen an meine Ordre und auf die von mir hinterlegten Fonds die Summe von einer Million, Wert in Rechnung.

Eins, zwei, drei, vier, fünf, sagte Monte Christo, fünf Millionen! Teufel! wie Sie zu Werke gehen, Herr Krösus.

So treibe ich die Geschäfte, sprach Danglars.

Das ist wunderbar, besonders wenn diese Summe, woran ich nicht zweifle, barbezahlt wird.

Sie wird es, versetzte Danglars.

Es ist schön, einen solchen Kredit zu haben; in der Tat, dergleichen sieht man nur in Frankreich, fünf Papierfetzen im Werte von fünf Millionen, und man muß es wohl glauben.

Sie sagen das mit einem Tone… Hören Sie, machen Sie sich das Vergnügen, begleiten Sie meinen Kommis zurBank, und Sie werden ihn mit Anweisungen auf den Staatsschatz für dieselbe Summe herauskommen sehen.

Nein, erwiderte Monte Christo, die fünf Zettel zusammenlegend, die Sache ist zu interessant, und ich will selbst den Versuch machen. Mein Kreditbei Ihnenbetrug sechs Millionen, ich habe 900 000 gezogen, und Sie sind mir folglich noch fünf Millionen und 100 000 Franken schuldig. Ich nehme Ihre fünf Papierstreifen, die mir schon durch Ihre Unterschrift gut sind und gebe Ihnen hier einen allgemeinen Schein für sechs Millionen, wodurch sich unsere Rechnungbegleicht. Ich habe den Schein schon vorher geschrieben, denn ich muß Ihnen sagen, daß ich heute durchaus Geldbrauche.

Mit einer Hand steckte Monte Christo die fünf Papiere in seine Tasche, während er mit der andern demBankier den Empfangschein reichte.

Hätte derBlitz zu Danglars' Füßen eingeschlagen, sein Schrecken konnte nicht größer sein.

Wie? stammelte er, wie, Herr Graf, Sie nehmen dieses Geld? Verzeihen Sie, es ist Geld, das ich den Hospitälern schuldigbin, ein Depositum, das ich heute morgen zubezahlen versprochen habe.

Ah! sagte Monte Christo, das ist etwas anderes; es liegt mir nicht gerade an diesen Papieren. Bezahlen Sie mich in anderen Werten! Ich nahm diese Zettel nur, um überall sagen zu können, ohne fünf Minuten Frist von mir zu verlangen, habe mir das Haus Danglars fünf Millionenbarbezahlt! Das wäre merkwürdig gewesen!

Dabei reichte er die fünf Papiere Danglars, der zuerst seine Hand ausstreckte, wie ein Geier die Klauen durch die Stangen seines Käfigs ausstreckt, um das Fleisch zu packen, das man ihm hinhält.

Plötzlichbesann er sich eines andern undbezwang sich mit einer mächtigen Anstrengung. Dann sah man allmählich ein Lächeln seine verstörten Gesichtszüge runden, und er sprach: Im ganzen ist Ihr Empfangschein Geld.

Oh, mein Gott ja! Und wenn Sie in Rom wären, würde das Haus Thomson und Frenchbei der Auszahlung keine Schwierigkeit machen.

Verzeihen Sie, Herr Graf, verzeihen Sie!

Ich kann also dieses Geldbehalten?

Ja, erwiderte Danglars, den Schweiß abtrocknend, der an der Wurzel seiner Haare perlte, behalten Sie es.

Monte Christo steckte die fünf Zettel ein, mit einer Miene, als wollte er sagen: Denken Sie, bei Gott, nach; wenn Sie esbereuen, es ist noch Zeit.

Nein, nein, behalten Sie meine Unterschriften, sagte Danglars. Sie wissen, nichts ist förmlicher, als ein Geldmensch. Ichbestimmte diese Summe für die Hospitäler und hätte sie zubestehlen geglaubt; wenn ich ihnen nicht gerade dieses Geld gegeben haben würde, als obnicht ein Taler so viel wert wäre, wie der andere.

Und erbrach in ein lautes, aber unverkennbar gekünsteltes Lachen aus.

Ich entschuldige und stecke ein, erwiderte Monte Christo auf das freundlichste und legte die Anweisungen in sein Portefeuille.

Doch, esbleibt noch eine Summe von 100 000 Franken, sagte Danglars.

Oh! Bagatelle! Das Agio muß sich auf diesenBetragbelaufen, behalten Sie ihn, und wir sind quitt.

Graf, rief Danglars, sprechen Sie im Ernste?

Ich scherze nie mitBankiers, antwortete Monte Christo ernst. Und er ging auf die Tür zu, als eben der Diener meldete: Herr vonBoville, Generaleinnehmer der Hospitäler. Wahrhaftig, sagte Monte Christo, es scheint, ichbin zu rechter Zeit gekommen, mich Ihrer Unterschriften zu erfreuen, denn man macht sie mir streitig.

Danglars erbleichte zum zweitenmal und nahm schleunigst von dem Grafen Abschied.

Dem im Vorzimmer wartenden Generaleinnehmer trat Danglars anscheinend völlig ruhig entgegen.

Guten Morgen, mein lieber Gläubiger, sagte er, denn ich wollte wetten, der Gläubiger kommt zu mir.

Sie haben richtig erraten, HerrBaron, sagte Herr vonBoville, die Hospitäler erscheinen in meiner Person; die Witwen und Waisen verlangen durch meine Hände ein Almosen von fünf Millionen von Ihnen.

Und man sagt, die Waisen seien zubeklagen! versetzte Danglars, den Scherz ausspinnend, arme Kinder!

Ich komme also in ihrem Namen; Sie müssen meinenBrief gestern erhalten haben? — Ja.

Hier ist mein Empfangschein.

Mein lieber Herr vonBoville, Ihre Witwen und Waisen werden wohl die Güte haben, vierundzwanzig Stunden zu warten, inBetracht, daß Herr von Monte Christo, den Sie wohl weggehen sahen, Ihre fünf Millionen fortgenommen hat.

Wieso?

Der Graf hatte einen unbeschränkten Kredit auf mich durch das Haus Thomson und French in Rom; er kam zu mir und verlangte eine Summe von fünf Millionen auf einmal; ich gabihm eine Anweisung auf dieBank, und Siebegreifen, wenn ich an einem Tage aus derBank zehn Millionen zurückzöge, so möchte dies seltsam erscheinen. In zwei Tagen ist das etwas anderes, fügte Danglars lächelnd hinzu.

Gehen Sie doch, rief Herr vonBoville mit dem Tone des vollkommensten Unglaubens; fünf Millionen an den Herrn, der soeben wegging und mich grüßte, als obich ihn kennte. Vielleicht kennt er Sie, ohne daß Sie ihn kennen; Herr von Monte Christo kennt jedermann.

Fünf Millionen?

Hier ist sein Empfangschein, machen Sie es wie der heilige Thomas; sehen Sie undberühren Sie.

Herr vonBoville nahm das Papier, das ihm Danglars reichte, und las:

Empfangen von HerrnBaron von Danglars die Summe von fünf Millionen einmalhunderttausend Franken, die er sich nachBelieben in Anweisungen auf das Haus Thomson und French in Rom zurückzahlen lassen wird.

Es ist meiner Treu wahr! rief Herr vonBoville, doch kennen Sie das Haus Thomson und French?

Eines derbesten Häuser Europas, versetzte Danglars und warf den Empfangschein, den er wieder an sich genommen hatte, nachlässig auf seinen Schreibtisch.

Und er hatte auf Sie allein fünf Millionen? Ah, dieser Graf von Monte Christo muß ein wahrer Nabobsein.

Meiner Treu! Ich weiß nicht, wie das ist; doch er hatte drei unbeschränkte Kredite, einen auf Rothschild, einen auf mich und einen auf Laffitte, und er gab, wie Sie sehen, mir den Vorzug, wobei er mir hunderttausend Franken für das Agio ließ.

Mit dem Ausdruck der höchsten Verwunderung erwiderte Herr vonBoville: Das gefällt mir; ich muß ihnbesuchen und eine fromme Stiftung für uns erlangen.

Oh! es ist, als obSie siebereits hätten, seine Almosen alleinbelaufen sich monatlich auf 20 000 Franken.

Das ist herrlich! Übrigens werde ich ihm dasBeispiel der Frau von Morcerf und ihres Sohnes anführen, die ihr ganzes Vermögen den Hospitälern geschenkt haben.

Welches Vermögen?

Ihr Vermögen, das Vermögen des verstorbenen Generals von Morcerf, weil sie nichts von einem so schmählich erworbenen Gutebesitzen wollten.

Wovon werden sie leben?

Die Mutter zieht sich in die Provinz zurück, und der Sohn nimmt Dienste.

Ah! das nenne ich Skrupel! Wievielbesaßen sie?

Oh! nicht sehr viel, etwa eine und eine Viertelmillion.

Also Sie haben große Eile mit Ihrem Geld?

Allerdings, die Kontrolle unserer Kassen findet morgen statt.

Morgen! Warum sagten Sie mir das nicht sogleich! Morgen, ist ein Jahrhundert! Um welche Stunde?

Um zwei Uhr.

Schicken Sie um zwölf Uhr zu mir, versetzte Danglars lächelnd.

Herr vonBoville antwortete nicht viel, er machte Ja mit dem Kopfe und schüttelte sein Portefeuille.

Doch wenn ichbedenke, sagte Danglars, Sie können noch etwasBesseres tun.

Was soll ich tun?

Der Empfangschein des Herrn von Monte Christo ist Geld wert! Zeigen Sie diesen Scheinbei Rothschild oderbei Laffitte, sie nehmen Ihnen denselben auf der Stelle ab.

Obgleich rückzahlbar auf Rom?

Gewiß; es kostet Sie nur einen Diskont von fünf‑bis sechstausend Franken.

Der Einnehmer machte einen Sprung rückwärts und rief:

Meiner Treu! nein, ich will lieberbis morgen warten. Wie schnell Sie zu Werke gehen!

Ich glaubte einen Augenblick, verzeihen Sie mir, sagte Danglars mit der größten Unverschämtheit, ich glaubte, Sie hätten ein kleines Defizit zu decken.

Ah! machte der Einnehmer.

Es ist alles schon dagewesen, und in einem solchen Fallebringt man ein Opfer.

Gott sei Dank, nein.


Morgen also, nicht wahr, mein lieber Einnehmer?

Morgen? ich werde selbst kommen.

Sie drückten sich die Hand.

Doch sagen Sie, bemerkte Herr vonBoville, gehen Sie nicht zu dem Leichenbegängnis des Fräulein von Villefort?

Nein, ich halte mich seit der lächerlichen Geschichte mitBenedetto zurück.

Bah! Sie haben unrecht; sind Sie an der ganzen Sache schuld?

Hören Sie, mein lieber Einnehmer, wenn man einen fleckenlosen Namen trägt, wie ich, so ist man etwas empfindlich.

Jederbeklagt Sie, davon dürfen Sie überzeugt sein, undbesondersbeklagt man Fräulein Danglars.

Arme Eugenie! rief Danglars mit einem tiefen Seufzer. Sie wissen, daß sie in ein Kloster tritt? — Nein.

Ach! es ist leider nur zu wahr. Am Morgen nach dem Ereignis entschloß sie sich, mit einer ihrbefreundeten Nonne abzureisen; sie tritt in ein sehr strenges Kloster in Italien oder Spanien.

Oh! das ist furchtbar.

Nach diesem Ausrufe entfernte sich Herr vonBoville unter tausendBeileidsbezeugungen.

Doch er war nicht sobald außen, als Tanglars mit einer energischen Gebärde ausrief: Dummkopf!!

Und die Quittung von Monte Christo in sein kleines Portefeuille schiebend, fügte er hinzu: Komm morgen um Mittag, komm nur, und ich werde sonstwo sein.

Dann schloß er sich doppelt ein, leerte alleBehälter seiner Kasse, brachte etwa 50 000 Franken inBanknoten zusammen, verbrannte verschiedene Papiere, legte andere so, daß sie in die Augen fielen, und fing an, einenBrief zu schreiben; sobald er ihn geschrieben hatte, versiegelte er ihn und setzte darauf die Adresse: An FrauBaronin Danglars.

Dann zog er einen Paß aus seiner Schublade und sagte: Gut! er ist noch für zwei Monate gültig.

Der Kirchhof Père la Chaise.

Herr von Villefort, ein Vollblut‑Pariser, betrachtete den Friedhof Père la Chaise als allein würdig, die sterblichen Hüllen einer Pariser Familie aufzunehmen. Nur auf dem Père la Chaise konnte ein Hingeschiedener der guten Gesellschaft anständig ruhen. Er hatte hier für ewige Zeiten einen Raum erkauft, auf dem sich das so schnell gefüllte Mausoleum erhob. Man las am Giebel: die Familien Saint‑Meran und Villefort; denn dies war der letzte Wunsch der armen Renée, Valentines Mutter, gewesen.

Der prunkhafte Leichenzug fuhr durch ganz Paris, sodann durch den Faubourg du Temple und über die äußerenBoulevardsbis zum Friedhofe. Mehr als fünfzig Herrenwagen folgten den zwanzig Trauerwagen, und hinter diesen fünfzig Wagen gingen noch mehr als fünfhundert Personen zu Fuß.

Als der Zug die Grenze des Stadtgebietes erreicht hatte, sah man ein Gespann von vier Pferden erscheinen; es war das des Herrn von Monte Christo. Der Graf stieg aus und mischte sich unter die Menge, die zu Fuß dem Leichenwagen folgte. Chateau‑Renaud erblickte ihn; er stieg sogleich aus seinem Coupé und ging auf ihn zu. Beauchamp verließ ebenfalls sein Kabriolett. Der Graf schaute aufmerksam durch die Reihen der Leidtragenden. Er suchte offenbar irgend jemand. Endlich fragte er: Wo ist Morel? Weiß einer von Ihnen, meine Herren, wo er ist?

Wir haben uns schon gegenseitig dieselbe Frage vorgelegt, sagte Chateau‑Renaud, denn niemand von uns hat ihnbemerkt.

Endlich gelangte man auf den Friedhof. Des Grafen durchdringendes Auge durchforschte die Eiben- und Fichtengebüsche; ein Schatten schlüpfte durch das dunkle Gesträuch, und Monte Christo erkannte ohne Zweifel den, welchen er suchte. Erbeobachtete, wie dieser Schatten sich rasch über den Platz hinter dem Grabe von Heloise und Abälard fortbewegte und zu dem für dasBegräbnis gewählten Ort gelangte.

In dem Schatten erkannten, als der Zug anhielt, auch die andern Morel, der mit seinem schwarzen, bis oben zugeknöpften Rocke, mit seiner leichenbleichen Stirn, seinen hohlen Wangen und seinem krampfhaft zerknitterten Hute sich an einenBaum angelehnt und auf einem das Mausoleum überragenden Hügel so aufgestellt hatte, daß er nicht das geringste von der Zeremonie verlieren konnte.

Alles ging wie gewöhnlich vor sich. Einige Herren hielten Reden. Die einenbeklagten den frühzeitigen Tod; die andern verbreiteten sich über den Schmerz des Vaters; einige waren geistreich genug, zubehaupten, Valentine habe mehr als einmalbei Herrn von VillefortBitten für die Schuldigen eingelegt, über deren Haupt er das Schwert der Gerechtigkeit gehalten; kurz man erschöpfte sich inblumenreichen Wendungen.

Monte Christo hörte nichts, sah nichts, oder er sah vielmehr nur Morel, dessen Ruhe und Unbeweglichkeit ein furchtbares Schauspiel für den waren, der allein zu lesen vermochte, was im Innersten des jungen Mannes vorging.

Sieh da, sagte plötzlichBeauchamp zu Debray, dort ist Morel! Wo zum Teufel mag er gesteckt haben?

Und sie zeigten ihn Chateau‑Renaud.

Wiebleich er aussieht! sagte dieser erschrocken.

Es wird ihn frieren, versetzte Debray.

Nein, entgegnete langsam Chateau‑Renaud, ich glaube, er ist erschüttert. Maximilian ist ein für Eindrücke sehr empfänglicher Mensch.

Bah! rief Debray; er kannte Fräulein von Villefort kaum. Sie haben es selbst gesagt.

Es ist wahr. Doch ich erinnere mich, daß er auf demBalle der Frau von Morcerf dreimal mit ihr getanzt hat; Sie wissen, Graf, auf demBalle, wo Sie eine so große Wirkung hervorbrachten?

Nein, es ist nur nichtbekannt, antwortete Monte Christo, ohne eigentlich zu wissen, worauf und wem er antwortete, so sehr war er damitbeschäftigt, Morel zu überwachen, dessen Wangen sich jetztbelebten.

Die Reden sind zu Ende, Gottbefohlen, meine Herren, sagte plötzlich der Graf. Damit gaber das Zeichen zum Aufbruch und verschwand sofort. Die Leichenfeierlichkeit war vorüber, und die Anwesenden schlugen den Weg nach Paris ein.

Nur Chateau‑Renaud suchte einen Augenblick Morel mit den Augen; doch während seinBlick dem wegeilenden Grafen gefolgt war, hatte Morel seinen Platz verlassen, und Chateau‑Renaud ging, nachdem er ihn vergebens gesucht, Debray undBeauchamp nach.

Monte Christo war in ein Gebüsch getreten undbeobachtete, hinter einem großen Grabmale verborgen, jedeBewegung Morels, der sich allmählich dem Mausoleum näherte. Morel schaute irre umher; Monte Christo konnte sich abermals zehn Schritte nähern, ohne gesehen zu werden.

Der junge Mann kniete nieder, erbeugte seine Stirnbis auf den Stein, umfaßte das Gitter mit seinen Händen und murmelte: Oh! Valentine!

Dem Grafen wolltebei dem Ausdruck, mit dem diese Worte gesprochen wurden, das Herzbrechen; er machte noch einen Schritt, klopfte Morel auf die Schulter und sagte: Sie, mein lieber Freund, Sie suchte ich.

Monte Christo erwartete ein Aufbrausen, Vorwürfe, Beschuldigungen; er täuschte sich. Morel wandte sich um und sagte mit scheinbarer Ruhe: Sie sehen, ichbetete!

Der forschendeBlick des Grabenbetrachtete den jungen Mann von obenbis unten. Nach dieser Prüfung schien er ruhiger. Soll ich Sie nach Paris zurückfahren? sagte er.

Nein, ich danke.

Wünschen Sie irgend etwas? — Lassen Sie michbeten.

Der Graf entfernte sich ohne Erwiderung, doch nur um auf einer andern Stelle stehen zubleiben, von wo aus er jedeBewegung Morelsbeobachten konnte. Dieser erhobsich endlich und schlug wieder den Weg nach Paris ein, ohne ein einziges Mal den Kopf umzuwenden. Er ging langsam die Rue de la Roquette hinab. Der Graf folgte ihm auf hundert Schritte.

Maximilian ging über den Kanal und kehrte auf denBoulevards nach der Rue Meslai zurück. Fünf Minuten nachdem sich die Tür hinter ihn geschlossen hatte, öffnete sie sich wieder für Monte Christo.

Juliebefand sich am Eingang des Gartens und schaute Penelon zu, der im Garten arbeitete.

Ah! Herr Graf von Monte Christo, rief sie mit jener Freude, die jedes Mitglied der Familie Morel zeigte, wenn Monte Christo einenBesuch in der Rue Meslai machte.

Nicht wahr, gnädige Frau, Maximilian ist soeben nach Hause gekommen? fragte der Graf.

Ja, ich glaube, ich habe ihn vorübergehen sehen, erwiderte die junge Frau, doch ichbitte, rufen Sie Emanuel.

Verzeihen Sie, gnädige Frau, ich muß sogleich zu Maximilian hinaufgehen, ich habe ihm eine Sache von der größten Wichtigkeit mitzuteilen.

Gehen Sie, sagte sie, den Grafen mit ihrem reizenden Lächeln nachschauend, bis er an der Treppe verschwunden war.

Monte Christo hattebald die Stufen der zwei Stockwerke hinter sich, die das Erdgeschoß von Maximilians Wohnung trennten. Auf dem Vorplatze horchte er, es ließ sich kein Geräusch vernehmen. An dieser Glastür fand sich kein Schlüssel; Maximilian hatte sich von innen eingeschlossen, aber man konnte unmöglich durch die Tür sehen, da hinter den Scheibe ein Vorhang von roter Seide angebracht war.

Die Angst des Grafen verriet sich durch eine lebhafte Röte.

Was ist zu tun? murmelte er. Und er dachte einen Augenblick nach. Läuten? fuhr der Graf fort; oh, nein! Oftbeschleunigt der Schall einer Glocke den Entschluß dessen, der sich in Morels augenblicklicher Lagebefindet.

Monte Christo schauerte vom Scheitelbis zu den Zehen, und dabei ihm der Entschluß die Raschheit desBlitzes hatte, so stieß er mit dem Ellenbogen eine Scheibe der Glastür ein, hobden Vorhang auf und sah Morel, wie er, au seinem Schreibtisch sitzend, beim Geräusch der zerbrochenen Scheibe vom Stuhle aufsprang.

Es ist nichts, sagte der Graf, ichbitte tausendmal um Vergebung, mein lieber Freund, ichbin ausgeglitten und habe dabei an das Fenster gestoßen. Da es nun einmal zerbrochen ist, so will ich diesbenutzen, umbei Ihnen einzutreten; bemühen Sie sich nicht!

Der Graf streckte den Arm durch die zerbrochene Scheibe und öffnete die Tür. Morel erhobsich offenbar ärgerlich und ging dem Grafen entgegen, doch weniger um ihn zu empfangen, als um ihm den Weg zu versperren.

Sind Sie verwundet, mein Herr? fragte er.

Ich weiß es nicht. Doch was machten Sie denn da? Sie schrieben?

Es ist wahr, antwortete Morel, ich schrieb; das kommtbei mir manchmal vor, obgleich ich Soldatbin.

Monte Christo machte einige Schritte im Zimmer, Morel mußte den Grafen vorüberlassen, folgte ihm jedoch.

Sie schrieben? versetzte Monte Christo mit einem unheimlich scharfenBlicke, dann schaute er umher.

Ihre Pistolen neben dem Schreibzeug? sagte er, auf die Waffen deutend, die auf dem Schreibtisch lagen.

Ich mache eine Reise, antwortete Maximilian trotzig.

Mein Freund! sagte Monte Christo mit unendlich weicher Stimme, mein lieber Maximilian, keine heftigen Entschlüsse, ichbitte Sie!

Ich, heftige Entschlüsse, versetzte Morel, die Achseln zuckend; ich frage Sie, wieso ist eine Reise ein heftiger Entschluß?

Maximilian, sagte Monte Christo, legen wir die Maskebeiseite, die wir gegenseitig tragen. Maximilian, Sie täuschen mich ebensowenig durch diese erheuchelte Ruhe, wie ich Sie mit dem Anschein oberflächlicher Teilnahme täusche. Morel, meine herzliche Empfindung für Sie sagt es mir, Sie wollen sich töten.

Gut! versetzte Morel schauernd. Woher kommen Sie auf diesen Gedanken, Herr Graf?

Ich sage Ihnen, daß Sie sich töten wollen, fuhr der Graf mit demselben Tone fort, hier ist derBeweis.

Und er trat zu dem Schreibtisch, hobdas weißeBlatt auf, das der junge Mann auf einen angefangenenBrief geworfen hatte, und nahm denBrief.

Morel stürzte auf ihn zu, um das Papier seinen Händen zu entreißen. Doch Monte Christo sah dieseBewegung voraus und kam ihm zuvor, indem er ihnbeim Faustgelenk faßte und zurückhielt.

Sie sehen, daß Sie sich töten wollten, Morel, sagte der Graf, Sie haben es hier selbst geschrieben!

Nun wohl! rief Morel mit einmal von scheinbarer Ruhe zur größten Heftigkeit übergehend; nun wohl, wenn dem so wäre, wenn ichbeschlossen hätte, den Pistolenlauf gegen mich zu richten, wer wollte mich hindern, wer hätte den Mut, mich zu hindern? Wenn ich sage: Alle meine Hoffnungen sind zertrümmert, mein Herz ist gebrochen, mein Leben ist erloschen, es gibt nur noch Trauer und Ekel um mich her! Wenn ich sage: Es ist Mitleid, mich sterben zu lassen, denn wenn man mich nicht sterben läßt, so verliere ich den Verstand und werde wahnsinnig. Sprechen Sie, mein Herr, wenn ich dies sage, und man sieht, daß ich es mit der Angst und den Tränen meines Herzens sage, wird man mir antworten: Du hast unrecht? Wird man mich verhindern, nicht mehr der Unglücklichste zu sein? Sprechen Sie, mein Herr, haben Sie den Mut hierzu?

Ja, Morel, erwiderte Monte Christo mit einer Stimme, deren Ruhe seltsam mit der Ausregung des jungen Mannes im Widerspruche stand; ja, ich habe den Mut.

Sie! rief Morel mit einem wachsenden Ausdrucke von Zorn und Vorwurf; Sie, der mich mit einer törichten Hoffnung kirrte; Sie, der mich mit leeren Versprechungen zurückhielt und einschläferte, während ich durch einen äußersten Entschluß sie vielleicht hätte retten oder wenigstens in meinen Armen sterben sehen können; Sie, der alle Mittel des Geistes, alle Kräfte der Materie zubesitzen vorgibt; Sie, der aus der Erde die Rolle der Vorsehung spielt oder zu spielen sich den Anschein verleiht, und der nicht einmal die Machtbesitzt, einem vergifteten Mädchen ein Gegengift zu reichen! Ah! In der Tat, mein Herr, Sie würden mir Mitleid einflößen, flößten Sie mir nicht Abscheu ein!

Morel…

Ja, Sie haben mir gesagt, wir wollen die Masken ablegen: wohl, Sie sollenbefriedigt werden, ich lege sie ab. Ja, als Sie mir nach dem Kirchhofe folgten, antwortete ich Ihnen noch, denn ichbin gutmütig; als Sie hier eintraten, ließ ich Siebis zu dieser Stelle kommen… Doch da Sie meine Güte mißbrauchen, da Sie mir sogar in meinem Zimmer trotzen, in das ich mich als in mein Grabzurückgezogen habe, da Sie mir eine neue Qualbringen, mir, der alle erschöpft zu haben glaubte, Graf von Monte Christo, mein angeblicher Wohltäter; Graf von Monte Christo, allgemeiner Retter, seien Sie zufrieden, Sie werden Ihren Freund sterben sehen.

Und das Lächeln des Wahnsinns auf den Lippen, stürzte Morel zum zweiten Male nach den Pistolen.

Bleich wie ein Gespenst, aber mitblitzenden Augen streckte Monte Christo die Hand nach den Waffen aus und sagte: Und ich wiederhole Ihnen, Sie werden sich nicht töten!

Hindern Sie mich doch! versetzte Morel mit einem letzten Sprunge, der sich, wie der erste, an dem stählernen Arme des Grafenbrach.

Ich werde Sie hindern.

Doch wer sind Sie denn, daß Sie sich dieses Recht über freie und denkende Geschöpfe anmaßen? rief Maximilian.

Wer ichbin? wiederholte Monte Christo. Hören Sie: Ichbin der einzige Mensch auf der Welt, derberechtigt ist, Ihnen zu sagen: Morel, ich will nicht, daß der Sohn deines Vaters heute stirbt!

Und majestätisch, erhaben, ging Monte Christo mit gekreuzten Armen auf den zitternden jungen Mann zu, der, unwillkürlich durch das erhabene Wesen dieses Menschenbesiegt, einen Schritt zurückwich.

Warum sprechen Sie von meinem Vater? stammelte er, warum mischen Sie die Erinnerung an meinen Vater in das, was mir heutebegegnet?

Weil ich derbin, der deinem Vater eines Tages das Leben gerettet hat, als er sich töten wollte, wie du dich heute töten willst; weil ich der Mannbin, der deiner jungen Schwester dieBörse und dem alten Morel den Pharao geschickt hat; weil ich Edmond Dantesbin, der dich als Kind auf seinem Schoße spielen ließ!

Morel machte wankend, keuchend noch einen Schritt rückwärts, dann verließen ihn seine Kräfte, und er stürzte mit einem gewaltigen Schrei zu den Füßen Monte Christos nieder.

Plötzlich trat in Morels starkem Geiste eine rasche, vollständige Wiedergeburt ein; er stand auf, sprang aus dem Zimmer, eilte auf die Treppe und rief mit der ganzen Macht seiner Stimme: Julie! Julie! Emanuel!

Monte Christo wollte ebenfalls hinauseilen; doch Maximilian hätte sich lieber töten lassen, als daß er von den Angeln der Tür gewichen wäre, die er gegen den Grafen zurückdrückte.

Auf Maximilians Geschrei liefen Julie, Emanuel, Penelon und einige Diener erschrocken herbei.

Morel faßte siebei den Händen, öffnete die Tür wieder und rief mit einer fast erstickten Stimme: Auf die Knie! Auf die Knie! Es ist der Wohltäter, es ist der Retter unseres Vaters! Es ist…

Er wollte sagen: Es ist Edmond Dantes! Doch der Graf hielt ihn zurück.

Julie stürzte auf die Hand des Grafen, Emanuel umfaßte ihn wie einen Schutzgott, Morel fiel zum zweiten Male auf die Knie und schlug mit der Stirn aus denBoden.

Da fühlte der eherne Mann, wie sein Herz sich in seinerBrust erweiterte; die verzehrende Flamme stieg von seiner Kehle in seine Augen, er neigte das Haupt und weinte!

Einige Augenblicke erfüllte das Zimmer ein Zusammenklang edler Herzensergüsse, der denBewohnern des Himmels harmonisch geklungen haben müßte.

Julie hatte sich kaum von ihrer tiefen Erschütterung erholt, als sie hinausstürzte, die Treppe hinabeilte, mit einer kindischen Freude in den Salon lief und die kristallene Kugel aufhob, welche die ihr von dem Unbekannten der Allées de Meillan geschenkteBörsebeschützte.

Während dieser Zeit sprach Emanuel mit erschütterter Stimme zum Grafen: Oh! Herr Graf, wie konnten Sie, der uns so oft von unserem unbekannten Wohltäter sprechen hörte, wie konnten Siebis heute warten, ohne sich uns zu offenbaren? Oh! das ist eine Grausamkeit gegen uns, und ich möchtebeinahe sagen, Herr Graf, gegen Sie selbst.


Hören Sie, mein Freund, erwiderte der Graf, so kann ich Sie nennen, denn ohne es zu vermuten, sind Sie mein Freund seit elf Jahren, die Entdeckung dieses Geheimnisses ist durch ein großes Ereignis herbeigeführt worden, das Sie nicht kennen sollen. Gott ist mein Zeuge, ich wollte es mein ganzes Leben hindurch im Grunde meiner Seelebegraben halten; Ihr Schwager Maximilian hat es mir durch seine Heftigkeit entrissen, die er, ichbin fest überzeugt, bereut.

Dann schaute er Maximilian an, der sich, obgleich auf den Knien verharrend, gegen einen Lehnstuhl gewendet hatte, und fügte ganz leise, Emanuel auf einebezeichnende Weise die Hände drückend, hinzu: Wachen Sie über ihn.

Warum? fragte der junge Mann erstaunt.

Ich kann es Ihnen nicht sagen; doch wachen Sie über ihn.

Jetzt kam Julie wieder herauf; sie hielt die seideneBörse in der Hand, und zwei glänzende, freudige Tränen rollten wie zwei Tropfen Morgentau über ihre Wangen. Das ist die Reliquie, sagte sie; glauben Sie nicht, daß sie mir minder teuer ist, seitdem wir den Retter kennen.

Mein Kind, antwortete Monte Christo errötend, erlauben Sie mir, dieseBörse zurückzunehmen; nun da Sie die Züge meines Gesichtes kennen, will ich in Ihrer Erinnerung nur durch die Zuneigung leben, die Sie mir auf meineBitte gewähren werden.

Oh! nein, nein, ich flehe Sie an, sagte Julie, dieBörse an ihr Herz drückend, denn eines Tages könnten Sie uns verlassen, ja Sie werden uns leider verlassen; nicht wahr?

Sie haben richtig erraten, erwiderte Monte Christo lächelnd; in acht Tagenbin ich von diesem Lande entfernt, wo so viele Leute, die des Himmels Rache verdient hätten, glücklich lebten, während mein Vater vor Hunger und Schmerz starb.

Als er seine nahe Abreise ankündigte, heftete Monte Christo seine Augen auf Morel, und erbemerkte, daß diese Worte ihn keinen Augenblick seinem Tiefsinn zu entziehen vermochten. Er sah ein, daß er einen letzten Kampf mit dem Schmerze seines Freundesbestehen mußte; er nahm daher Julies und Emanuels Hände in die seinigen und sprach mit der sanften Würde eines Vaters: Meine lieben Freunde, ichbitte Euch, laßt mich mit Maximilian allein.

Der Grafblieballein mit Morel, der unbeweglich wie eineBildsäule verharrte.

Laß hören, sagte der Graf, Maximilians Schulter mit seinem glühenden Fingerberührend, wirst du endlich wieder ein Mensch, Maximilian?

Ja, denn ich fange an zu leiden.

Maximilian! Maximilian! sagte der Graf düster, die Gedanken, in welche du dich versenkst, sind eines Christen unwürdig.

Oh! Beruhigen Sie sich, Freund, sagte Morel, das Haupt erhebend und dem Grafen ein Lächeln voll unaussprechlicher Traurigkeit zeigend, ich werde den Tod nicht mehr suchen.

Also keine Waffen, keine Verzweiflung mehr?

Nein, denn ich habe etwasBesseres, um mich von meinem Schmerze zu heilen, als den Lauf einer Pistole oder die Spitze eines Messers.

Armer Narr!.. Was hast du denn?

Ich habe meinen Schmerz, der mich töten wird.

Freund, sagte Monte Christo mit derselben Schwermut, wie Maximilian, höre mich! Eines Tages wollte ich im Augenblick einer Verzweiflung, die der deinigen gleichkam, mich töten wie du, und in eben solcher Verzweiflung wollte sich eines Tages auch dein Vater töten. Wenn man deinem Vater in dem Augenblick, wo er den Pistolenlauf gegen seine Stirn richtete, wenn man mir in dem Augenblick, wo ich von meinemBette dasBrot des Gefangenen wegschob, das ich seit drei Tagen nichtberührt hatte, gesagt hätte: Lebt, es kommt ein Tag, wo ihr glücklich sein und das Leben segnen werdet, wir würden diese Stimme mit der Angst des Zweifels oder mit demBangen des Unglaubens aufgenommen haben, und wie oft hat doch dein Vater, dich umarmend, das Leben gesegnet, wie oft habe ich selbst…

Ah! rief Morel, den Grafen unterbrechend, Sie hatten nichts verloren, als Ihre Freiheit; mein Vater hatte nichts verloren, als sein Vermögen, und ich, ich habe Valentine verloren.

Schau mich an, Morel, sagte Monte Christo, ich habe weder Tränen in den Augen, noch Fieber in den Adern; ich sehe dich jedoch leiden, Maximilian, dich, den ich liebe, wie ich meinen Sohn lieben würde. Nun, sagt dir das nicht, Morel, daß der Schmerz ist wie das Leben, und daß es stets etwas Unbekanntes jenseits gibt? Wenn ich dich zu lebenbitte, wenn ich dir zu lebenbefehle, so geschieht es in der Überzeugung, du werdest mir eines Tages dafür danken, daß ich dir das Leben erhalten habe.

Mein Gott! rief der junge Mann, mein Gott! was sagen Sie mir da, Graf? Nehmen Sie sich in acht! Sie haben vielleicht nie geliebt?

Kind! rief der Graf.

Mit der Liebe, die ich meine, versetzte Morel. Sehen Sie, seitdem ich ein Menschbin, bin ich Soldat, ich habe das neunundzwanzigste Jahr erreicht, ohne zu lieben, denn keines von den Gefühlen, die sichbis dahin in mir regten, verdiente den Namen Liebe. Mit neunundzwanzig Jahren sah ich Valentine; ich liebe sie folglich seitbeinahe zwei Jahren; seit zwei Jahren konnte ich alle Tugenden des Mädchens und der Frau mit meinen Augen in ihrem Herzen wie in einem offenenBuche lesen. Graf, in Valentine lag für mich ein unendliches, unermeßliches, unbekanntes Glück, ein Glück, zu groß, zu vollständig, zu göttlich für diese Welt, da es mir auf Erden nicht vergönnt ist. Graf, damit sage ich Ihnen, daß es ohne Valentine für mich auf der Welt nur Trostlosigkeit und Verzweiflung gibt.

Ich hieß Sie hoffen, Morel, wiederholte der Graf.

Nehmen Sie sich in acht, sage ich Ihnen noch einmal, Sie suchen mich zu überzeugen, und wenn Sie mich überzeugen, machen Sie, daß ich den Verstand verliere, denn Sie lassen mich glauben, ich könne Valentine wiedersehen.

Der Graf lächelte.

Mein Freund, mein Vater! rief Morel in höchsterBegeisterung! Nehmen Sie sich in acht! sage ich Ihnen zum dritten Male, denn die Herrschaft, die Sie über mich gewinnen, erschreckt mich; wägen Sie den Sinn Ihrer Worte ab, denn meine Augenbeleben sich, mein Herz entzündet sich wieder, es wird neugeboren; nehmen Sie sich in acht, denn Sie lassen mich an übernatürliche Dinge glauben. Ich würde gehorchen, wenn Sie mich den Stein von dem Grabe, das die Tochter Jairibedeckt, aufheben hießen; ich würde auf den Wellen gehen, wenn Sie mich mit einem Zeichen der Hand auf den Wellen gehen hießen.

Hoffe, mein Freund, wiederholte der Graf.

Ah! rief Morel, von der ganzen Höhe seinerBegeisterung in den Abgrund seiner Traurigkeit zurückfallend; ah! Sie spotten meiner. Sie machen es wie die guten Mütter, oder vielmehr wie die selbstsüchtigen Mütter, die mit honigsüßen Worten den Schmerz ihres Kindes stillen, dessen Geschrei sie plagt. Nein, mein Freund, nein, ich hatte unrecht, Ihnen zu sagen, Sic mögen sich in acht nehmen; nein, befürchten Sie nichts, ich werde meinen Schmerz so sorgfältig in der Tiefe meinerBrustbewahren, ich werde ihn so geheim halten, daß Sie nicht einmal mehr Mitleid zu habenbrauchen. Gottbefohlen, mein Freund, Gottbefohlen.

Im Gegenteil, sagte der Graf, von dieser Stunde an, Maximilian, wirst dubei mir und mit mir leben, du wirst mich nicht mehr verlassen, und in acht Tagen haben wir Frankreich hinter uns.

Und Sie heißen mich immer noch hoffen?

Ich heiße dich hoffen, weil ich ein Mittel kenne, das dich heilen wird.

Graf, Sie machen mich, wenn es möglich ist, noch trauriger. Sie glauben, der Schlag, der mich trifft, hat nur einen alltäglichen Schmerzbewirkt, und wollen mich durch ein alltägliches Mittel, durch Reisen, heilen.

Was soll ich dir sagen? versetzte der Graf. Habe Zutrauen zu meinen Versprechungen, mach' den Versuch!

Graf, Sie verlängern nur meinen Todeskampf.

Schwaches Herz, du hast also nicht die Kraft, deinem Freunde einige Tage zur Probe zu geben! Weißt du, was der Graf von Monte Christo zu vollführen fähig ist? Weißt du, daß er genug Glauben an Gott hat, um Wunder von dem zu verlangen, der gesagt hat, mit dem Glauben könne der MenschBerge versetzen? Nun, dieses Wunder, auf das ich hoffe, erwarte es, oder…

Oder?… erwiderte Morel.

Oder nimm dich in acht, Morel, ich werde dich einen Undankbaren nennen.

Haben Sie Mitleid mit mir, Graf!

Ich habe so sehr Mitleid mit dir, Maximilian, höre mich wohl, daß ich dich, wenn ich dich nicht in einem Monat, auf den Tag, auf die Stunde, heile, selbst vor die geladene Pistole und vor einenBecher des sichersten italienischen Giftes stelle, das rascher wirkt, als das, welches Valentine getrunken hat.

Sie versprechen mirbei Ihrer Ehre, wenn ich in einem Monat nicht getröstetbin, lassen Sie mich frei über mein Leben schalten, und was ich auch tun mag, Sie werden mich keinen Undankbaren nennen?

In einem Monat findest du auf dem Tische, an dem wirbeide sitzen werden, gute Waffen und, wenn du dann noch willst, einen sanften Tod. Doch dagegen versprichst du mir, bis dahin zu warten und zu leben?

Oh! ich schwöre Ihnen! rief Morel.

Monte Christo zog den jungen Mann an sein Herz und hielt ihn lange umfangen.

Und nun, sagte er, wohnst du von heute anbei mir; du nimmst Haydees Zimmer, und meine Tochter wird durch meinen Sohn ersetzt.

Haydee! Was ist aus Haydee geworden?

Sie ist gestern nacht abgereist. — Um Sie zu verlassen?

Um mich zu erwarten… Halte dichbereit, in der Rue des Champs‑Elysees zu mir zu kommen, und laß mich von hier weggehen, ohne daß man mich sieht.

Maximilian neigte das Haupt und gehorchte wie ein Kind.

Die Teilung.

In dem Hause der Rue Saint‑Germain‑des‑Prés, das Albert von Morcerf für seine Mutter und sich gewählt hatte, war der erste Stock, bestehend ans einer kleinen Wohnung, an eine sehr geheimnisvolle Person vermietet.

Diese Person war ein Mann, dessen Gesicht der Portier selbst nie hatte sehen können; denn stets steckte sein Kinn, wenn er kam oder ging, in einer hohen Halsbinde. Gegen alles Herkommen wurde dieser Hausbewohner von niemandbespäht, und das Gerücht, sein Inkognito verberge eine sehr hochgestellte Person, welche» gar lange Arme «habe, verschaffte seiner geheimnisvollen Erscheinung großen Respekt. Er traf fast immer gegen vier Uhr in seiner Wohnung ein, in der er nie eine Nacht zubrachte.

Zwanzig Minuten später hielt ein Wagen vor dem Hotel; eine schwarz gekleidete, stets aber in einen großen Schleier gehüllte Frau stieg aus, schwebte wie ein Schatten vor der Loge vorüber und ging rasch die Treppe hinauf. Im ersten Stocke kratzte sie auf einebesondere Weise an einer Tür; diese öffnete sich und verschloß sich dann wieder hermetisch.

Beim Verlassen des Hauses wurde ebenso verfahren. Die Unbekannte ging, stets verschleiert, zuerst hinaus und stieg wieder in ihren Wagen, derbald an dem einen Ende der Straße, bald an dem andern verschwand; zwanzig Minuten nachher entfernte sich auch der Unbekannte.

An dem Tage nach dem, wo der Graf von Monte Christo Danglars einenBesuch gemacht hatte, und Valentinebeerdigt worden war, erschien der geheimnisvolleBewohnerbereits gegen zehn Uhr vormittags.

Kurz darauf fuhr ein Fiaker vor, und die verschleierte Dame stieg rasch die Treppe hinauf. Die Tür öffnete sich und schloß sich. Doch ehe sie ganz geschlossen war, rief die Dame: Oh, Lucien! oh, mein Freund!

Und so erfuhr der Portier, der diesen Ausruf gehört hatte, zum ersten Male, daß sein Mietsmann Lucien hieß.

Nun! Was gibt es denn, teure Freundin? fragte Lucien, sprechen Sie geschwind.

Mein Freund, kann ich auf Sie zählen?

Gewiß, das ist Ihnenbekannt, doch was gibt es? Ich war ganzbestürzt über IhrBillett von heute morgen. Diese Hast, diese unordentliche Schrift…beruhigen Sie mich, oder erschrecken Sie mich ganz und gar!

Lucien, ein großes Ereignis! sagte die Dame, einen fragendenBlick auf Lucien heftend; Herr Danglars ist heute nacht abgereist.

Herr Danglars abgereist! Und wohin?

Ich weiß es nicht.

Wie! Sie wissen es nicht? Er ist also abgereist, um nicht mehr zurückzukommen?

Allerdings! Um zehn Uhr abendsbrachten ihn seine Pferde an dieBarrière von Charenton; hier sagte er zu seinem Kutscher, er fahre nach Fontainebleau.

Nun! Was sagten Sie dazu?

Warten Sie, mein Freund. Er ließ mir einenBrief zurück. Da lesen Sie.

DieBaronin zog aus ihrer Tasche einenBrief undbot ihn Debray, der einen Augenblick zögerte, ehe er ihn las.

Das Schreiben lautete:

Madame und sehr teure Gemahlin!

Wenn Sie diesenBrief empfangen, haben Sie keinen Gatten mehr! Oh! erschrecken Sie darüber nicht zu sehr; Sie haben keinen Gatten mehr, wie Sie keine Tochter mehr haben; ich werde nämlich auf einer von den dreißig Straßen sein, die aus Frankreich führen.

Ichbin Ihnen eine Erläuterung schuldig: Eine Zahlung von fünf Millionen kam mir heute früh unversehens, ich habe sie ausgeführt; eine andere von derselben Summe sollte fast unmittelbar daraus erfolgen; ich vertage sie auf morgen und reise heute ab, um dieses Morgen zu vermeiden, das mir unerträglich wäre.

Nicht wahr, Siebegreifen das, Madame und sehr kostbare Gemahlin? Ich sage: Siebegreifen das, weil Sie ebensogut wie ich meine Angelegenheiten kennen, Sie kennen sie sogar nochbesser als ich, denn wenn es sich darum handelte, anzugeben, wohin eine gute Hälfte meines jüngst noch so schönen Vermögens gekommen ist, so vermöchte ich dies nicht, während Sie im Gegenteil, davonbin ich fest überzeugt, vollständig zu antworten wüßten.

Haben Sie sich über die Schnelligkeit meines Sturzes gewundert, Madame? Waren Sie geblendet durch das weißglühende Schmelzen meiner Goldstangen? Ich meinerseits gestehe, daß ich nur das Feuer dabei gesehen habe; wir wollen hoffen, daß Sie etwas Gold in der Asche fanden.

Mit dieser tröstlichen Hoffnung entferne ich mich, Madame und sehr kluge Gemahlin, ohne daß mir mein Gewissen den geringsten Vorwurf darüber macht, daß ich Sie verlasse; esbleiben Ihnen Freunde, die fragliche Asche und, um Ihr Glück vollzumachen, die Freiheit, die ich Ihnen wiederzugeben michbeeile.

Es ist indessen der Augenblick gekommenen, Madame, hier ein Wort vertraulicher Erklärung einfließen zu lassen. Solange ich hoffte, Sie arbeiteten für die Wohlfahrt unseres Hauses, für das Vermögen Ihrer Tochter, machte ich philosophisch die Augen zu; da Sie aber aus diesem Hause eine große Ruine gemacht haben, so will ich nicht als Grundlage für das Vermögen eines andern dienen. Ich habe Sie reich, aber wenig geehrt zu mir genommen. Verzeihen Sie mir, daß ich so offenherzig mit Ihnen spreche, da ich aber ohne Zweifel nur für unsbeide spreche, sehe ich nicht ein, warum ich die Worte unter einer Schminke verbergen sollte… Ich habe unser Vermögen vermehrt, und es nahm fünfzehn Jahre lang zu, bis zu dem Augenblick, wo unbekannte und für mich noch unbegreifliche Katastrophen es packten und erdrosselten, ohne daß ich, das darf ich wohl sagen, die geringste Schuld daran habe. Sie, Madame, haben nur für Vermehrung des Ihrigen gearbeitet, was Ihnen gelungen ist, davonbin ich überzeugt. Ich lasse Sie also, wie ich Sie genommen habe, reich, aber wenig ehrenwert, zurück.

Leben Sie wohl. Von heute an gedenke ich auch für meine Rechnung zu arbeiten. Glauben Sie mir, daß ich Ihnen sehr dankbar für dasBeispielbin, das Sie mir gegeben haben, und das ichbefolgen werde.

Ihr

sehr ergebener GatteBaron Danglars.

DieBaronin folgte während des Lesens Debray mit den Augen; sie sah den jungen Mann, trotz seiner großen Selbstbeherrschung, wiederholt die Farbe wechseln.

Als er geendet hatte, faltete er das Papier langsam zusammen und nahm eine nachdenkliche Haltung an.

Nun? fragte Madame Danglars mit einer leichtbegreiflichen Angst, welchen Gedanken flößt Ihnen dieserBrief ein?

Das ist ganz einfach; er flößt mir den Gedanken ein, daß Herr Danglars mit einem Verdacht abgereist ist. Sicher; doch ist das alles, was Sie mir zu sagen haben? Ichbegreife nicht.

Er ist abgereist, um nie wiederzukommen!

Oh! Glauben Sie das nicht! rief Debray.

Nein, sage ich Ihnen, er wird nicht wiederkommen; ich kenne ihn, er ist ein unerschütterlicher Mann in allen Entschließungen, die sein Interesse erheischt. Hätte er mich zu etwas nütze geglaubt, so würde er mich mitgenommen haben; er läßt mich hier, weil unsere Trennung seinen Plänen dienlich sein kann. Sie ist also unwiderruflich, und ichbin für immer frei, fügte Madame Danglars mit demselben fragenden Ausdrucke hinzu.

Doch statt zu antworten, ließ sie Debray in diesem angstvollen, erwartungsvollen Zustand verharren.

Wie! sagte sie endlich, Sie antworten mir nicht?

Ich habe Sie nur eins zu fragen: Was gedenken Sie zu tun?

Das wollte ich Sie fragen, erwiderte dieBaronin mit pochendem Herzen, ich verlange einen Rat von Ihnen.

Wenn Sie einen Rat wollen, entgegnete der junge Mann kalt, so rate ich Ihnen, zu reisen. — Sie sind, wie Herr Danglars gesagt hat, reich und frei. Eine Abwesenheit von Paris wird, scheint mir, nach dem doppelten Lärm über die vereitelte Heirat Fräulein Eugenies und das Verschwinden Herrn Danglars', durchaus notwendig sein. Es ist wichtig, daß man Sie allgemein für verlassen und arm hält; denn man würde der Frau desBankerottierers ihren Reichtum nicht verzeihen. Darum entfernen Sie sich von Ihrem Hotel, nehmen Sie Ihre Juwelen nicht mit und leisten auf Ihr Wittum Verzicht, und alle Welt wird Ihre Uneigennützigkeit rühmen und Ihr Lobsingen. Man weiß dann, daß Sie verlassen sind, und hält Sie für arm, denn ich allein kenne Ihre finanzielle Lage undbinbereit, Ihnen als redlicher Partner Rechenschaft abzulegen.

DieBaronin hatte, bleich und niedergeschmettert, diese Rede mit um so mehr Schrecken und Verzweiflung angehört, als Debray sichbemühte, völlig ruhig und gleichgültig zu erscheinen..

Verlassen? wiederholte sie, oh! sehr verlassen… Ja, Sie haben recht, mein Herr; niemand wird meine Verlassenheitbezweifeln. Das waren die einzigen Worte, welche die stolze und so heftig verliebte Frau hervorbrachte.

Aber reich, sehr reich sogar, fuhr Debray fort, indem er einige Papiere aus seinem Portefeuille zog und auf dem Tische ausbreitete.

Nurbemüht, die Schläge ihres Herzens zu ersticken und die Tränen zurückzuhalten, die am Rande ihrer Augenlider hervorbrechen wollten, ließ ihn Frau Danglars gewähren.

Endlich aber gewann das Gefühl der Würdebei ihr die Oberhand; wenn es ihr nicht gelang, ihr Herz zubewältigen, so gelang es ihr wenigstens, die Tränen zurückzuhalten.

Gnädige Frau, sagte Debray, wir sind ungefähr seit sechs Monaten assoziiert. Sie haben eine Einlage von 100 000 Franken gemacht. Im Monat April dieses Jahres hat unsere Assoziation stattgefunden. Im Maibegannen unsere Operationen, und wir gewannen sofort 450 000 Franken. Im Junibelief sich der Nutzen auf 900 000 Franken. Im Juli kamen 1 700 000 Franken dazu; Sie wissen, das ist der Monat der spanischenBons. Am Anfang des Monats August verloren wir 300 000 Franken; doch am 15. erholten wir uns wieder, und am Ende des Monats waren wir entschädigt, denn unsere Rechnungen sind gestern von mir abgeschlossen worden und geben ein Aktivum von 2 400 000 Franken, das heißt, von 1 200 000 Franken für jedes von uns. Ichbin nun vorgestern so vorsichtig gewesen, Ihr Geld flüssig zu machen; Sie sehen, es ist noch nicht lange her, und es sieht aus, als hätte ich vermutet, ich würdebald Rechenschaft abzulegen haben. Ihr Geld ist hier, halbinBanknoten, halbin Anweisungen.

Frau Danglars nahm mechanisch die Anweisungen und die zusammengebundenenBanknoten mit trockenen Augen, aber mit einer von verhaltenem Schluchzen schwellendenBrust und erwartetebleich und stumm ein Wort von Debray, das sie trösten sollte. Doch sie wartete vergebens.

Nun haben Sie ein herrliches Dasein, gnädige Fran, sagte Debray, 60 000 Livres Renten, was für eine Frau, die wenigstens ein Jahr lang keinen Haushalt führen wird, ungeheuer ist. Sie können nun allen Ihren Phantasien ungescheut nachgeben.

Debray sagte dies alles mit der gleichgültigsten Miene von der Welt, machte dann eine tiefe Verbeugung und verfiel hierauf in einbezeichnendes Schweigen. DiesesBenehmen erzürnte und enttäuschte seine Geliebte so, daß sie sich hoch aufrichtete, die Tür öffnete und, ohne ihren Partner eines letzten Grußes zu würdigen, zur Treppe eilte.

Bah! sagte Debray, als sie fort war, was wird sie nun tun? Sie wird ruhig in ihrem Hausebleiben, Romane lesen und Lanzknecht spielen, da sie nicht mehr an derBörse spielen kann.

Er nahm sein Notizbuch, strich die Summen aus, die erbezahlt hatte, und sagte: Esbleiben mir 1 060 000 Franken. Wie schade, daß Fräulein von Villefort gestorben ist! Sie hätte in jederBeziehung meinen Wünschen entsprochen, und ich würde sie geheiratet haben.

Seiner Gewohnheit gemäß wartete er phlegmatisch, bis Frau Danglars zwanzig Minuten weggegangen war, und entfernte sich dann ebenfalls.

Unter dem Zimmer, wo Debray mit Frau Danglars zwei Millionen geteilt hatte, war ein anderes Zimmer durch einen merkwürdigen Zufall ebenfalls von Personen unsererBekanntschaftbewohnt; es waren dies Mercedes und Albert.

Mercedes hatte sich seit ein paar Tagen sehr verändert… nicht als obsie die Armutbedrückt hätte, sie hatte sich verändert, weil ihr Auge nicht mehr glänzte, weil ihr Mund nicht mehr lächelte, weil einebeständige Verlegenheit das rasche Wort, das einst ihr stetsbereiter Geist ihr eingab, auf ihren Lippen zurückhielt.

Albert aber fühlte sichbeunruhigt, unbehaglich undbeengt durch den ihm noch anklebenden Luxus, der ihn verhinderte, seiner gegenwärtigen Lage zu entsprechen; er wollte ohne Handschuhe ausgehen und fand seine Hände zu weiß dazu; er wollte zu Fuß gehen und fand seine Stiefel zu fein.

Diesebeiden so edeln und verständigen, durch dasBand der mütterlichen und kindlichen Liebe unauflöslich verbundenen Seelen verstanden sich, ohne viele Worte zu machen, und scheuten sich nicht, ohne Umschweife miteinander von den materiellen Lebensbedürfnissen zu sprechen.

Albert konnte am Ende zu Mercedes, ohne daß sie erbleichte, sagen: Meine Mutter, wir haben kein Geld mehr.

Der Winter nahte heran; Mercedes hatte in dem kahlen und nun auch kühlen Zimmer kein Feuer, sie, für die einst ein Ofen mit tausend Röhren das ganze Haus von den Vorzimmernbis zu denBoudoirs erwärmte; sie hatte nicht einmal ein armseligesBlümchen, sie, deren Zimmer mit den kostbarsten Pflanzen gefüllt gewesen war.

Aber sie hatte ihren Sohn.

Meine Mutter, sagte Albert in demselben Augenblick, wo Frau Danglars die Treppe hinabging, wir wollen, wenn es Ihnen recht ist, einmal alle unsere Reichtümer zählen; ich muß die ganze Summe wissen, um meine Pläne aufzubauen.

Die Summe ist Null, erwiderte Mercedes mit schmerzlichem Lächeln.

Oh nein! Einmal haben wir 3000 Franken, und ichbehaupte, daß ich uns mit diesen 3000 Franken ein anbetungswürdiges Leben verschaffen werde.

Kind! seufzte Mercedes.

Ach! gute Mutter, sagte der junge Mann, ich habe Sie leider Geld genug gekostet, um dessen Wert zu kennen; hören Sie, 3000 Franken, das ist ungeheuer, und ichbaue auf diese Summe eine wunderbare, dauerhafte Zukunft.

Du sagst das, mein Freund, entgegnete die arme Mutter; doch vor allem, nehmen wir diese 3000 Franken an?

Mir scheint, das ist abgemacht, erwiderte Albert mit festem Tone; wir nehmen sie um so mehr an, als wir sie noch nicht haben, denn sie sind, wie Sie wissen, im Garten des kleinen Häuschens in den Allées de Meillan in Marseille vergraben.

Mit 200 Franken, sagte Albert, kommen wirbeide nach Marseille. Diese 200 Franken sind hier und noch weitere 200. Ich habe meine Uhr und meine Kette verkauft.

Doch sind wir hier im Hause etwas schuldig?

Dreißig Franken, ichbezahle sie von dem Geld. Doch das ist noch nicht alles, was sagen Sie hierzu, meine Mutter? Albert zog aus einem kleinen Notizbuch mit goldenem Schlosse eine Tausendfrankennote.

Was ist das? fragte Mercedes.

1000 Franken, meine Mutter.

Woher hast du diese tausend Franken?

Hören Sie undbeunruhigen Sie sich nicht, gute Mutter!

Albert stand auf, küßte seine Mutter wiederholt und hielt nur inne, um ihr ins Gesicht zu schauen.

Sie können sich gar nicht denken, meine Mutter, wie schön ich Sie finde! sagte der junge Mann mit dem tiefen Gefühle kindlicher Liebe; Sie sind in der Tat die schönste, wie Sie die edelste aller Frauen sind, die ich je gesehen habe.

Teures Kind! sagte Mercedes, vergebensbemüht, eine Träne zurückzuhalten.

In der Tat, Sie mußten nur noch unglücklich werden, damit sich meine Liebe in Anbetung verwandle.

Ichbin nicht unglücklich, solange ich meinen Sohn habe.

Ganz richtig; doch hier fängt die Prüfung an, meine Mutter! Sie wissen, was verabredet ist?

Ist denn etwas zwischen uns verabredet?

Ja, daß Sie in Marseille wohnen, und daß ich nach Afrika abreise, wo ich mir einen neuen Namen verdienen will.

Mercedes stieß einen Seufzer aus.

Nun, meine Mutter, seit gesternbin ichbei den Spahis eingereiht, fügte der junge Mann mit niedergeschlagenen Augen hinzu. Ich glaubte, mein Körper gehöre mir und ich könnte ihn verkaufen; seit gesternbin ich Stellvertreter von irgend jemand. Ich habe mich verkauft, wie man sagt, und um eine größere Summe, als ich wert zu sein glaubte, nämlich um 2000 Franken.

Also diese 1000 Franken? fragte Mercedesbebend.

Sind die Hälfte der Summe, meine Mutter, die andere Hälfte kommt in einem Jahre.

Mercedes schlug die Augen mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke zum Himmel auf, und Tränen strömten unter der inneren Aufregung über ihre Wangen.

Der Preis seinesBlutes! murmelte sie.

Ja, wenn ich getötet werde, erwiderte Albert. Aber ich versichere Ihnen, gute Mutter, daß ich im Gegenteil die Absicht habe, meine Haut grausam zu verteidigen; ich habe nie so viel Lust zu leben in mir gefühlt, wie gegenwärtig.

Mein Gott! mein Gott! rief Mercedes.

Überdies, warum soll ich getötet werden, meine Mutter? Ist Morel getötet worden? Bedenken Sie doch, welche Freude, wenn Sie mich mit einer gestickten Uniform zurückkommen sehen! Ich erkläre Ihnen, daß ich herrlich darin auszusehen hoffe und dieses Regiment aus Eitelkeit gewählt habe.

Mercedes seufzte, während sie zu lächeln versuchte; die Mutterbegriff, daß sie ihr Kind nicht dürfe die ganze Last des Opfers tragen lassen.

Sie sehen also, meine Mutter, fuhr Albert fort, es sindbereits mehr als 4000 Franken für Sie gesichert; mit dieser Summe werden Sie zwei volle Jahre leben.

Glaubst du? versetzte Mercedes.

Diese Worte entschlüpften der Gräfin mit dem Ausdruck so tiefen Schmerzes, daß ihr wahrer Sinn Albert nicht entging; er fühlte, wie sein Herz sich zusammenschnürte, nahm die Hand der Mutter, drückte sie zärtlich und sagte: Ja, Sie werden leben.

Ich werde leben, rief Mercedes, aber nicht wahr, du wirst nicht abreisen?

Meine Mutter, ich werde reisen, sagte Albert mit ruhiger, fester Stimme; Sie lieben mich zu sehr, um mich müßig und unnützbei sich zu lassen; überdies habe ich unterzeichnet.

So tu' nach deinem Willen, mein Sohn.

Nicht nach meinem Willen, meine Mutter, sondern nach den Geboten der Vernunft und der Notwendigkeit. Nicht wahr, wir sind zwei verzweifelte Geschöpfe? Was ist heute das Leben für Sie? Nichts. Was ist das Leben für mich? Oh! sehr wenig ohne Sie, meine Mutter, das glauben Sie mir; denn ohne Sie, das schwöre ich Ihnen, hätte dieses Leben an dem Tage aufgehört, wo ich an meinem Vater zweifelte und seinen Namen verleugnete! Ich lebe, wenn Sie mir versprechen, noch Hoffnung zu hegen; überlassen Sie mir die Sorge für Ihr zukünftiges Glück, so verdoppeln Sie meine Kräfte. Ich werde dort den Gouverneur von Algerien aufsuchen, der ein redliches Soldatenherz ist, ich erzähle ihm meine traurige Geschichte, ichbitte ihn, von Zeit zu Zeit die Augen dahin zu wenden, wo ich sein werde, und wenn er mir Wort hält, wenn er mich handeln sieht, sobin ich vor sechs Monaten Offizier oder tot. Bin ich Offizier, so ist Ihr Schicksal gesichert, meine Mutter, denn ich habe Geld für Sie und für mich und überdies einen neuen Namen, auf den wirbeide stolz sein können, denn es wird Ihr Name sein. Werde ich getötet… nun wohl! Werde ich getötet, liebe Mutter, so sterben Sie, wenn Sie so wollen, und dann hat unser Unglück sein Ziel gerade in seinem Übermaße gefunden.

Es ist gut, sagte Mercedes mit ihrem edlen, beredtenBlicke; du hast recht, mein Sohn; beweisen wir gewissen Leuten, die unsbeobachten, daß wir wenigstens desBeklagens würdig sind!

Keine traurigen Gedanken, teure Mutter, rief der junge Mann; ich schwöre Ihnen, daß wir glücklich sind, oder wenigstens glücklich werden können. Einmal im Dienste, bin ich reich; einmal in dem Marseiller Hause, sind Sie ruhig. Versuchen wir es, ichbitte Sie, meine Mutter.

Ja, versuchen wir es, mein Sohn, denn du sollst leben, du sollst glücklich sein.

Unsere Teilung ist also gemacht, fügte der junge Mann hinzu, indem er sich den Anschein gab, als fühle er sich ganz leicht. Ich denke, wir können noch heute reisen.

Gut, es sei, reisen wir! sagte Mercedes, sich in ihren einzigen Schal hüllend.

Albert sammelte hastig seine Papiere, klingelte, um die dreißig Franken zubezahlen, die er dem Hausmeister schuldig war, bot seiner Mutter den Arm und stieg die Treppe hinab.

Es ging ein Mann vor ihnen; als dieser das Streifen eines seidenen Kleides an dem Geländer hörte, wandte er sich um.

Debray! murmelte Albert.

Sie, Morcerf! erwiderte der Sekretär des Ministers.

Die Neugierde trugbei Debray den Sieg über das Verlangen, sein Inkognito zubewahren, davon; überdies sah er sich erkannt. Es war doch interessant, in diesem unbekannten Hause den jungen Mann wiederzufinden, dessen unglückliches Abenteuer ein so großes Aufsehen in Paris erregt hatte.

Morcerf, wiederholte Debray. Als er dann im Halbdunkel die Gestalt und den schwarzen Schleier der Frau von Morcerfbemerkte, fügte er lächelnd hinzu: Ah! verzeihen Sie, ich entferne mich, Albert.

Albertbegriff Debrays Gedanken und sagte, sich zu Mercedes wendend: Meine Mutter, dies ist Herr Debray, Sekretär des Ministers des Innern, ein ehemaliger Freund von mir.

Wie! ehemalig! stammelte Debray; was wollen Sie damit sagen?

Ich sage dies, Herr Debray, weil ich heute keine Freunde mehr habe und keine mehr haben soll. Ich danke Ihnen, daß Sie so gütig waren, mich zu erkennen.

Debray stieg zwei Stufen zurück, gabAlbert einen kräftigen Händedruck und sagte mit aller Rührung, deren er fähig war: Glauben Sie, lieber Albert, daß ich innigen Anteil an Ihrem Unglück genommen habe, und daß Sie in jederBeziehung über mich verfügen können.

Ich danke, mein Herr, erwiderte Albert lächelnd; doch mitten in unserem Unglück sind wir reich genug geblieben, um zu niemand unsere Zuflucht nehmen zu müssen; wir verlassen Paris, und esbleiben uns nachBezahlung unserer Reise noch 5000 Franken.

Schamröte übergoß Debrays Stirn, der eine Million in seinem Portefeuille trug. Trotz seiner geringen poetischen Veranlagung konnte er nicht umhin, Vergleiche darüber anzustellen, daß dasselbe Haus noch vor wenigen Augenblicken zwei Frauen enthielt, von denen die eine mit 1 500 000 Franken doch arm wegging, während die andere, erhaben in ihrem Unglück, mit wenigen Pfennigen reich war.

DieseBetrachtung störte ihn in seinen Höflichkeitsphrasen; er stammelte ein paar allgemeine Worte und ging rasch die Treppe hinab.

An diesem Tage hatten die ihm untergeordneten Schreiber im Ministerium viel unter seiner verdrießlichen Laune zu leiden. Doch am Abend kaufte er sich ein schönes, auf demBoulevard de l'a Madeleine liegendes Haus.

Am andern Tage, um fünf Uhr abends, stieg Frau von Morcerf, nachdem sie ihren Sohn zärtlich umarmt hatte und zärtlich von ihm umarmt worden war, in den Wagen der Schnellpost.

Ein Mann stand verborgen im Hofe der Messagerie Laffitte hinter einem von den gewölbten Fenstern, die jenesBüro überragten; er sah Mercedes in den Wagen steigen, er sah die Post wegfahren, er sah Albert sich entfernen.

Dann fuhr er mit der Hand über seine vom Zweifel durchfurchte Stirn und sagte: Ach! Wie vermag ich diesenbeiden Unschuldigen das Glück zurückzugeben, das ich ihnen genommen habe?

Der Löwengraben.

Eine Abteilung der Force, welche die gefährlichsten Gefangenen enthielt, hieß die Cour de Saint‑Bernand. Die Gefangenen nannten sie aber in ihrer kräftigen Sprache Löwengraben, ohne Zweifel, weil sie Zähne haben, die häufig in die Gitterstangen und zuweilen auch die Wächterbeißen.

Es ist ein Gefängnis im Gefängnis, die Mauern haben die doppelte Dicke. Jeden Tag untersucht ein Kerkerknecht sorgfältig die massiven Gitter, und an den herkulischen Gestalten, an den kalten, scharfenBlicken der Wächter erkennt man, daß diese in Anbetracht der Gefährlichkeit der Insassen sorgfältig ausgewählt sind.

Der zu dieser Abteilung gehörige Grasplatz ist von ungeheuren Mauern umgeben, über welche die Sonne nur schräg hereinfällt. Hier irren von der Stunde des Aufstehens an sorgenvoll, abgemagert, bleich wie Schatten, die Menschen umher, welche die Gerechtigkeit unter dem Messer gebeugt hält, das sie für sie schärft. Man sieht sie an der Mauer lehnen, die am meisten Wärme einzieht und zurückhält. Hier verweilen sie, zwei und zwei plaudernd, öfter noch allein, das Auge unablässig auf die Tür geheftet, die sich öffnet, um einen von denBewohnern dieses finsteren Aufenthaltes für immer abzurufen, oder um in den Schlund eine neue aus dem Schmelztigel der Gesellschaft ausgeworfene Schlacke zu speien.

Diese Abteilung hat ihr eigenes Sprechzimmer; es ist ein langes Viereck, durch zwei etwa drei Fuß voneinander parallel laufende Gitter in zwei Teile geteilt, so daß derBesuch dem Gefangenen nicht die Hand geben oder ihm etwas zuschieben kann. Dieses Sprechzimmer ist düster, feucht und in jeder Hinsicht fürchterlich.

So gräßlich aber auch der Ort ist, so ist er doch ein Paradies für diese Menschen, deren Tage gezählt sind; denn selten verläßt man den Löwengraben, um anderswohin zu gehen, als aufs Schafott, in dasBagno oder in das Zellengefängnis.

In dembeschriebenen feuchtkalten Hofe ging, die Hände in den Rocktaschen, ein junger Mensch auf und ab, der von denBewohnern des Grabens mit großer Neugierdebetrachtet wurde.

Nach dem Schnitte seiner Kleider hätte man ihn für einen feinen Herrn halten können, wären diese Kleider nicht zerfetzt gewesen. Sie sahen indessen auch nicht abgetragen aus; fein und weich an den unberührten Stellen, nahm das Tuch unter der streichelnden Hand des Gefangenen leicht wieder seinen Glanz an. Er wandte dieselbe Sorgfalt an, um seinBattisthemd in Ordnung zubringen, und fuhr über seine lackierten Stiefel mit dein Zipfel seines Taschentuches, worauf Anfangsbuchstaben mit einer heraldischen Krone gestickt waren.

Einige Kostgänger des Löwengrabens sahen mit auffallendem Interesse der Toilette des Gefangenen zu.

Sieh da, der Prinz macht sich schön, sagte einer.

Er ist von Natur sehr schön, bemerkte ein anderer, und wenn er nur einen Kamm und Pomade hätte, so würde er alle die Herren mit den weißen Handschuhen verdunkeln.

Sein Kleid muß sehr neu gewesen sein, und seine Stiefel glänzen gar hübsch. Es ist schmeichelhaft für uns, daß wir so stattliche Kollegen haben;… und diese Spitzbuben von Gendarmen sind gemeineBurschen, daß sie einen solchen Putz zersetzt haben!

Es scheint, das ist einBerühmter, sagte ein dritter, er hat alles getan… und zwar in der großen Art… er kommt noch so jung hier an! Oh, das lob' ich mir!

Der Gegenstand dieser gemeinenBewunderung schien dieses LobmitBehagen einzuschlürfen. Als seine Toilettebeendigt war, näherte er sich einer Tür, an der ein Gefangenwärter lehnte.

Hören Sie, mein Herr, sagte er zu diesem, leihen Sie mir zwanzig Franken, Siebekommen siebald wieder; bei mir laufen Sie keine Gefahr. Bedenken Sie, daß ich Verwandte habe, die mehr Millionenbesitzen, als Sie Franken. Geben Sie mir zwanzig Franken, ichbitte Sie, damit ich mir einen Schlafrock laufen kann. Ich leide furchtbar, daß ich immer in Frack und Stiefeln sein muß… Und welch ein Frack für einen Prinzen Cavalcanti!

Der Wächter drehte ihm den Rücken zu und zuckte die Achseln.

Gehen Sie, sagte Andrea, Sie sind ein Mensch, der kein Herz im Leibe hat, und ich werde Sie um Ihren Platzbringen.

Jetzt erst drehte sich der Gefangenwärter um undbrach in ein schallendes Gelächter aus.

Nun näherten sich die Gefangenen und machten einen Kreis.

Ich sage Ihnen, fuhr Andrea fort, daß ich mir mit dieser elenden Summe einen Rock und ein Zimmer verschaffen kann, um auf anständige Weise den hohenBesuch zu empfangen, den ich jeden Tag erwarte.

Er hat recht! Er hat recht! riefen die Gefangenen; bei Gott, man sieht, daß er ein ganzer Mann ist.

Nun, so leiht ihr ihm die zwanzig Franken! sagte der Wärter, sich mit seiner kolossalen Schulter an die Wand stützend; seid ihr das nicht einem Kameraden schuldig?

Ichbin nicht der Kamerad dieser Leute, entgegnete stolz der junge Mann; beleidigen Sie mich nicht, Sie haben kein Recht dazu!

Hört ihr ihn? rief der Wärter mit argem Lächeln, erbehandelt euch schön; leiht ihm doch zwanzig Franken!

Die Verbrecher schauten sich mit dumpfem Murren an, und ein Sturm fing an, sich über dem aristokratischen Gefangenen zu sammeln.

Bereits näherten sich die Verbrecher Andrea, und einige riefen: Die Schlappe! Die Schlappe!

Es ist dies eine grausame Operation, wobei ein in Ungnade gefallener Insasse mit Schuhen, die mit Eisenbeschlagen sind, geprügelt wird. Andere schlugen die Anwendung des Aals vor, das heißt, ein mit Sand und Kieselsteinen gefülltes gedrehtes Tuch sollte wie ein Dreschflegel zurBearbeitung von Schultern und Kopf des Missetäters dienen. Wieder andere riefen: Die Peitsche für den schönen Herrn, den ehrlichen Mann!

Doch Andrea wandte sich gegen sie um, blinzelte mit einem Auge, schwellte dieBacke mit seiner Zunge aus und ließ ein eigentümliches Schnalzen der Lippen hören.

Es war ein Maurerzeichen, das ihm Caderousse mitgeteilt hatte. Sie erkannten einen der ihrigen, und der Aufruhr legte sich sofort, was dem Gefangenwärter ganz unbegreiflich vorkam, so daß er, den Wechsel irgend einer unerlaubtenBeeinflussung zuschreibend, Andrea trotz dessen Protesten zu durchsuchen anfing.

Plötzlich erscholl eine Stimme an der Pforte, und ein Aufseher rief: Benedetto!

Man ruft mich! sagte Andrea.

In das Sprechzimmer! rief die Stimme.

Hören Sie, man will mir einenBesuch abstatten!.. Ah! mein lieber Herr, Sie werden sehen, obman einen Cavalcanti wie einen gewöhnlichen Menschenbehandeln darf!

Und wie ein schwarzer Schatten in den Hof schlüpfend, eilte Andrea durch die halbgeöffnete Pforte und ließ seine Genossen und sogar den Gefangenwärter in Verwunderung zurück.

Man rief ihn in der Tat ins Sprechzimmer, und darüber durfte man sich nicht weniger wundern, als Andrea selbst; denn statt wie die andern von der erlaubten Wohltat des Schreibens Gebrauch zu machen, um sich reklamieren zu lassen, hatte der junge Mann seit seinem Eintritt in die Force ein stoisches Schweigenbeobachtet.

Ichbin offenbar von irgend einem Mächtigenbeschützt, sagte er, das ergibt sich aus allem: das plötzliche Vermögen, die Leichtigkeit, mit der ich alle Hindernissebeseitigt habe, eine neue Familie, ein mir verliehenerberühmter Name, der Goldregen, die geplante Ehe. Eine Abwesenheit meinesBeschützers hat mich zugrunde gerichtet, doch nicht gänzlich, nicht für immer! Die Hand hat sich für einen Augenblick zurückgezogen, sie muß sich wieder nach mir ausstrecken und mich in der Minute festhalten, wo ich in den Abgrund zu stürzen drohe. Warum sollte ich einen unklugen Schritt wagen? Ich würde mir vielleicht meinenBeschützer abhold machen. Es gibt für ihn zwei Wege, mich aus der Klemme zu ziehen, entweder eine geheimnisvolle Entweichung durch Gold zu erkaufen, oder den Richter zur Freisprechung zu nötigen. Warten wir mit dem Reden und Handeln, bis ich klar sehe, daß ich ganz verlassenbin, und dann erst…

Es war, wie sich Andrea sagte, offenbar zu früh am Tage, als daß der Untersuchungsrichter nach ihm senden konnte, und zu spät für einen etwaigen Ruf von seiten des Gefängnisdirektors oder des Arztes; es mußte also wirklich der erwarteteBeschützer sein. Da erblickte er hinter dem Gitter des Sprechzimmers mit seinen vor Neugierde weit aufgesperrten Augen das düstere, verständige GesichtBertuccios, der ebenfalls mit schmerzlichem Erstaunen die Gitter, die verriegelten Türen und den Schattenbetrachtete, der sich hinter den gekreuzten Stangenbewegte.

Ah! machte Andrea, im Herzen getroffen.

Guten Morgen, Benedetto, sagteBertuccio mit seiner hohlen Stimme.

Sieh! sagte der junge Mann, voll Schrecken umherschauend.

Du erkennst mich nicht, unglückliches Kind! entgegneteBertuccio.

Still! still doch! flüsterte Andrea, der das feine Gehör der Wände kannte; mein Gott, sprechen Sie nicht so laut!

Nicht wahr, du würdest gern mit mir allein reden?

Oh, ja.

Bertuccio griff in seine Tasche, machte einem Wärter, den man hinter der Scheibe der Pforte erblickte, ein Zeichen und sagte zu ihm: Lesen Sie.

Was ist das? fragte Andrea.

DerBefehl, dich in ein Zimmer zu führen und mich mit dir sprechen zu lassen.

Ah! Ah! machte Andrea, hüpfend vor Freude, dann sagte er zu sich: Abermals der unbekannteBeschützer! Man vergißt mich nicht! Man sucht die Heimlichkeit, da man in einem abgesonderten Zimmer mit mir sprechen will. Ich habe sie…Bertuccio ist vomBeschützer abgeschickt!

Der Wärterbesprach sich einen Augenblick mit einem Oberen, öffnete sodann die zwei vergitterten Türen und führte Andrea, der vor Freude außer sich war, in ein Zimmer des ersten Stockes, das die Aussicht aus den Hof hatte.

Das Zimmer war getüncht und kam dem Gefangenen wunderbar schön vor; ein Ofen, einBett, ein Stuhl, ein Tischbildeten die kostbare Ausstattung.

Bertuccio setzte sich auf den Stuhl. Andrea warf sich auf dasBett. Der Wärter entfernte sich.

Laß hören, was hast du mir zu sagen? sprach der Intendant.

Und Sie? versetzte Andrea.

Sprich, du zuerst…

Oh! nein, Sie haben mir viel mitzuteilen, da Sie mich aufsuchten!

Wohl! es sei. Du hast deine Verworfenheit fortgesetzt; du hast gestohlen, du hast gemordet.

Wenn Sie mich in einbesonderes Zimmer führen, um mir nur dies zu sagen, mein Herr, so hätten Sie sich lieber gar keine Mühe machen sollen. Es gibt anderes, das ich nicht weiß, sprechen wir lieber davon! Wer hat Sie geschickt?

Oh, oh! Sie gehen sehr rasch, HerrBenedetto.

Nicht wahr? Und gerade aufs Ziel. Ersparen wir uns alle unnützen Worte. Wer schickt Sie?

Niemand.

Woher wissen Sie, daß ich im Gefängnisbin?

Ich habe dich längst in dem frechenBurschen erkannt, der so zierlich sein Pferd auf den Champs‑Elysées tummelte.

Die Champs‑Elysées… Ah! ah!.. die Champs‑Elysées! Sprechen wir von meinem Vater, wenn'sbeliebt!

Werbin denn ich?

Sie, meinbraver Herr, sind mein Adoptivvater… Doch, ich denke, Sie haben nicht zu meinen Gunsten 100 000 Franken hergegeben, die ich in vierbis fünf Monaten verbrauchte; Sie haben mir nicht einen italienischen Vater und Edelmann verschafft; Sie haben mich nicht in die Gesellschaft eingeführt und zu einem gewissen Mittagsmahle, das ich noch zu genießen glaube, nach Auteul eingeladen… Vorwärts, reden Sie, ehrenwerter Korse…

Was soll ich dir sagen?

Auf den Champs‑Elysées wohnt ein sehr reicher Herr.

Bei dem du gestohlen und gemordet hast, nicht wahr?

Ich glaube, ja.

Der Herr Graf von Monte Christo?

Sie haben ihn genannt. Soll ich mich in seine Arme werfen und ausrufen: Mein Vater! Mein Vater!

Scherzen wir nicht, erwiderteBertuccio mit ernstem Tone, ein solcher Name soll nicht ausgesprochen werden, wie du ihn auszusprechen wagst.

Bah! rief Andrea, etwas verblüfft durchBertuccios feierliche Haltung, warum nicht?

Weil der, der diesen Namen führt, zu sehr vom Himmelbegünstigt ist, um der Vater eines Elenden deiner Art zu sein.

Oh! Große Worte…

Und große Wirkungen, wenn du dich nicht in acht nimmst!

Drohungen! Ich fürchte sie nicht… ich werde sagen…

Glaubst du es mit Pygmäen, wie du einerbist, zu tun zu haben? sagteBertuccio mit so ruhigem Tone und mit so sicheremBlicke, daß Andrea im Innersten erschüttert wurde, glaubst du es mitBagnohelden oder mit Toren, wie man sie gewöhnlich in der Welt trifft, zu tun zu haben?…Benedetto, dubist in einer furchtbaren Hand, diese Hand will sich dir öffnen; benutze es!

Mein Vater… ich will wissen, wer mein Vater ist, sagte er eigensinnig; ich will darüber sterben, wenn es sein muß, aber ich werde es erfahren. Was kümmere ich mich um den Skandal? Für mich ist er vorteilhaft, erbringt mir Ruhm, er verleiht mir Ansehen, er empfiehlt mich. Doch ihr Leute von der großen Welt habt trotz eurer Millionen und eurer Wappenbeim Skandal immer etwas zu verlieren… Nun, wer ist mein Vater?

Ichbin gekommen, es dir zu sagen…

Ah! riefBenedetto mit freudefunkelnden Augen.

In dieser Sekunde öffnete sich die Tür, und der Gefangenwärter sagte, sich anBertuccio wendend: Verzeihen Sie, der Untersuchungsrichter erwartet den Gefangenen.

Das ist der Schluß meines Verhörs, sagte Andrea zu dem würdigen Intendanten… zum Teufel mit dem Überlästigen!

Ich werde morgen wiederkommen, versetzteBertuccio.

Gut! sagte Andrea. Meine Herren Gendarmen, ichbin ganz zu Ihren Diensten… Ah, lieber Herr, lassen Sie doch ein Dutzend Taler in der Kanzlei zurück, daß man mir hier gibt, was ichbrauche.

Es soll geschehen, erwiderteBertuccio.

Andrea reichte ihm die Hand; Bertuccio hielt die seinigen in der Tasche und ließ nur das Klimpern von ein paar Goldstücken hören.

Das wollte ich sagen, versetzte Andrea mit einer lächelnden Grimasse, aber innerlich vonBertuccios seltsamer Ruhe ganz überwältigt.

Sollte ich mich getäuscht haben? sagte er zu sich selbst, in den länglichen und vergitterten Wagen steigend, den man den Salatkorbnennt. Wir werden sehen! Morgen also! fügte er, sich zuBertuccio umwendend, hinzu.

Morgen! antwortete der Intendant.

Der Richter.

Man erinnert sich, daß der AbbéBusoni alleinbei Noirtier im Sterbezimmer geblieben war, und daß sich der Greis und der Priester in das Wächteramtbei der Leiche des Mädchens geteilt hatten. Vielleicht waren es die christlichen Ermahnungen des Abbés, vielleicht war es das überzeugende Wort, das dem Greise den Mut zurückgab; denn seit dem Augenblick derBesprechung, die er mit dem Priester gehabt, tratbei Noirtier an Stelle der Verzweiflung, die sich anfangs seinerbemächtigt hatte, eine große Ruhe ein, diebei seiner tiefen Liebe und Zuneigung für Valentinebesonders überraschend war.

Herr von Villefort hatte den Greis seit dem Morgen des Todes nicht wiedergesehen. Die ganze Dienerschaft war erneuert worden; man hatte einen anderen Kammerdiener für ihn, einen anderenBedienten für Noirtier angeworben; zwei Kammerfrauen waren in den Dienst der Frau von Villefort getreten.

In ein paar Tagen sollten die Schwurgerichtssitzungenbeginnen; darum verfolgte Villefort, in sein Kabinett eingeschlossen, mit fieberhafter Tätigkeit den gegen Caderousses Mörder eingeleiteten Prozeß. Der Fall machte großes Aufsehen in der Pariser Welt. DieBeweise waren nicht überzeugend, weil sie auf einigen Worten von der Hand eines sterbenden Galeerensklaven, eines ehemaligenBagnogenossen des Angeklagten, beruhten, der seinen Gefährten aus Haß oder aus Rache anschuldigen konnte. Nur der Staatsanwalt hatte die feste Überzeugung gewonnen, Benedetto sei schuldig, und es sollte ihm aus dem schwierigen Siege dieser seiner Anschauung einer von jenen Genüssen der Eitelkeit erwachsen, die allein die Fibern seines vereisten Herzens einigermaßen erwärmten.

Der Prozeß nahm also infolge der rastlosen Arbeit Villeforts seinen raschen Gang. Mehr als je mußte er sich verborgen halten, um einer Erwiderung auf die ungeheure Menge vonBitten zu entgehen, die man an ihn richtete, um Audienzkarten zu erhalten.

Da überdies erst so kurze Zeit vorüber war, seitdem man die arme Valentine zu Grabe getragen hatte, so staunte niemand darüber, wenn man den Vater so ganz in seiner Pflichterfüllung, der einzigen Zerstreuung, die er für seinen Kummer finden konnte, versunken sah.

Ein einziges Mal, und zwar an dem Tage, nachdemBenedetto den zweitenBesuchBertuccios empfangen hatte, bei dem dieser ihm den Namen seines Vaters hatte nennen sollen, war Villefort Herrn Noirtier zu Gesicht gekommen; es geschah dies in dem Augenblick, wo derBeamte, der Erholungbedürftig, in den Garten seines Hauses hinabging.

Wiederholt war erbis an den Hintergrund des Gartens, bis an dasbekannte, nach dem verlassenen Gehege führende Gitter gegangen, als er zufällig nach dem Hause schaute, in dem er seinen Sohn lärmend spielen hörte, der aus seiner Pension zurückgekommen war, um den Sonntag und Montagbei seiner Mutter zuzubringen.

Bei dieser Gelegenheit sah er an einem der offenen Fenster Herrn Noirtier, der sichbis an das Fenster hatte rollen lassen, um sich der letzten Strahlen einer noch warmen Sonne zu erfreuen.

Das Auge des Greises war auf einen Punkt gerichtet, den Villefort nicht genau unterscheiden konnte. DieserBlick Noirtiers war so haßerfüllt, so wild, er zeugte so sehr von heftiger Ungeduld, daß der Staatsanwalt, der alle Eindrücke dieses ihm so genaubekannten Gesichtes mit voller Schärfe auffaßte, ausdrücklich hinging, um zu sehen, worauf oder auf wen derBlick fiel.

Dabemerkte er unter einer Gruppe von Linden mit fast entblätterten Ästen Frau von Villefort, die, einBuch in der Hand, aus einerBank saß und sich von Zeit zu Zeit im Lesen unterbrach, um ihrem Sohne zuzulächeln oder ihm seinen elastischenBall zuzuwerfen, den er hartnäckig vom Salon in den Garten schleuderte.

Villefort erbleichte, denn er verstand, was der Greis sagen wollte.

Noirtier schaute stets denselben Gegenstand an; doch plötzlich ging seinBlick von der Frau auf den Mann über, und Villefort hatte selbst den Angriff dieserblitzenden Augen auszuhalten, die nichts von ihrem drohenden Ausdruck verloren. Man las in der Tat in diesemBlicke zugleich einenblutigen Vorwurf und eine furchtbare Drohung. Dann schlug Noirtier die Augen zum Himmel auf, als ober seinen Sohn an einen vergessenen Schwur erinnern wollte.

Es ist gut, sagte Villefort unten vom Hofe herauf, fassen Sie noch einen Tag Geduld; was ich gesagt habe, ist gesagt.

Noirtier schien durch diese Worteberuhigt, und seine Augen wandten sich einer andern Seite zu.

Villefort fuhr mit derbleichen Hand über seine Stirn und kehrte in sein Kabinett zurück.

Die Nacht ging kalt und ruhig vorüber; allebegaben sich zuBette und schliefen wie gewöhnlich. Nur Villefort legte sich nicht nieder; er arbeitetebis fünf Uhr morgens, durchlas die am Abend vorher von dem Untersuchungsbeamten vorgenommenen Verhöre, verglich die Aussagen der Zeugen undbrachte die Anklageschrift, eine der schärfsten und kräftigsten, die er je abgefaßt, vollends ins reine.

Am folgenden Tage sollte die erste Schwurgerichtssitzung stattfinden. Villefort sah diesen Tag, einen Montag, blaß und düster anbrechen, und derbläuliche Lichtschimmer ließ die auf dem Papiere mit roter Tinte geschriebenen Zeilen erglänzen.

Der Staatsanwalt öffnete sein Fenster; die feuchte Luft der Morgendämmerung übergoß Villeforts Haupt und erfrischte ihn.

Heute wird es geschehen, sagte er mit einer gewissen Anstrengung; heute muß der Mann, der das Schwert der Gerechtigkeit in der Hand hält, überallhin schlagen, wo sich die Schuldigenbefinden.

Allmählich erwachte alles. Villefort hörte von seinem Kabinett aus die aufeinander folgenden Geräusche: die inBewegung gesetzten Türen, das Klingeln der Glocke der Frau von Villefort, die ihre Kammerjungfer rief, das erste Geschrei des Kindes, das sich mit Lärm erhob.

Villefort läutete ebenfalls. Sein neuer Kammerdiener trat ein, brachte ihm die Zeitungen und eine Tasse Schokolade.

Ich habe das nicht verlangt. Wer gibt sich diese Mühe?

Die gnädige Frau sagt, der Herr Staatsanwalt würde ohne Zweifelbei dem Mordprozesse viel sprechen und müßte Kräfte sammeln.

Dabei stellte der Diener die Tasse auf den mit Papieren überladenen Tisch.

Villefort schaute die Tasse einen Augenblick mit düsterer Miene an, dann ergriff er sie plötzlich mit hastigerBewegung und leerte ihren Inhalt mit einem Zuge. Man hätte glauben sollen, er hoffte, dieser Trank sei tödlich, und er sehne den Tod herbei, der ihn von einer Pflichtbefreien sollte, die ihm etwas Schwierigeres, als das Sterben, zu tunbefahl. Die Schokolade war aber harmlos, und Herr von Villefort mußte an sein schweres Tagewerk gehen.

Als die Frühstücksstunde gekommen war, erschien der Staatsanwalt nichtbei Tische.

Der Kammerdiener kehrte in sein Kabinett zurück und meldete: Die gnädige Frau läßt dem Herrn Staatsanwalt sagen, es habe elf geschlagen, und die Sitzung sei auf zwölf Uhrbestimmt.

Nun! Und? rief Villefort.

Die gnädige Frau hat ihre Toilette gemacht; sie istbereit und läßt fragen, obsie den Herrn Staatsanwalt in den Justizpalastbegleiten werde, da sie sehr wünsche, dieser Sitzungbeizuwohnen.

Ah! sie wünscht das! versetzte Villefort mit schrecklichem Tone.

Der Kammerdiener wich einen Schritt zurück und erwiderte: Will der Herr Staatsanwalt allein dahin fahren, so werde ich es der gnädigen Frau sagen.

Villefortbliebeinen Augenblick stumm, er grubmit seinen Nägeln in seinebleiche Wange, von der sein ebenholzschwarzerBart stark abstach, ehe er erwiderte: Sagen Sie der gnädigen Frau, ich wünsche sie zu sprechen undbitte sie, mich in ihrem Zimmer zu erwarten. Dann kommen Sie zurück, um mich zu rasieren und anzukleiden.

Auf der Stelle.

Der Kammerdiener verschwand und erschien sofort wieder, rasierte Villefort und kleidete ihn in feierliches Schwarz. Als er damit fertig war, sagte er: Die gnädige Frau läßt sagen, sie erwarte den Herrn Staatsanwalt, sobald er angekleidet sei.

Ich komme, versetzte Villefort, und wandte sich, die Akten unter dem Arme, den Hut in der Hand, zu den Zimmern seiner Frau.

Frau von Villefort saß auf einer Ottomane undblätterte mit Ungeduld in den Zeitungen undBroschüren, die der junge Eduard zu seinerBelustigung in Stücke zerriß, ehe seine Mutter Zeit gehabt hatte, ihre Lektüre zu vollenden.

Sie war völlig zum Ausgehen gekleidet; ihr Hut lag daneben, und sie hattebereits die Handschuhe angezogen.

Ah! Hier sind Sie, mein Herr, sagte sie mit ihrer natürlichen, ruhigen Stimme. Mein Gott!! Wiebleich sehen Sie aus! Sie haben also abermals die ganze Nacht hindurch gearbeitet? Nun! Nehmen Sie mich mit, oder soll ich allein mit Eduard gehen?

Bei allen diesen FragenbliebHerr von Villefort kalt und stumm, wie eineBildsäule, und sagte nur, einen gebieterischenBlick auf das Kind heftend: Eduard, spiele im Garten, ich habe mit deiner Mutter zu reden.

Frau von Villefortbebtebei diesem kalten Wesen und dem entschiedenen Tone ihres Mannes. Eduard schaute seine Mutter an; als er sah, daß sie denBefehl des Herrn von Villefort nicht wiederholte, fing er an, seinenbleiernen Soldaten die Köpfe abzuschneiden.

Eduard, rief Herr von Villefort mit so hartem Ausdruck, daß das Kind auf denBoden sprang, verstehst du mich? Vorwärts!

An eine solcheBehandlung nicht gewöhnt, richtete sich das Kind auf, erbleichte und entfernte sich.

Herr von Villefort folgte ihmbis zur Tür und schloß diese, als Eduard hinausgegangen war, mit dem Riegel.

Oh! mein Gott! rief die junge Frau, indem sie ihrem Gattenbis in die Tiefe der Seele schauen wollte und zu lächeln versuchte, was wollen Sie denn?

Wo verwahren Sie das Gift, dessen Sie sich gewöhnlichbedienen? sprach scharf und ohne Einleitung der Staatsanwalt.

Frau von Villefort empfand, was die Lerche empfinden muß, wenn sie den Hühnergeier seine mörderischen Kreise über ihrem Kopfe immer enger ziehen sieht.

Ein heiserer, gebrochener Ton, der weder ein Schrei, noch ein Seufzer war, kam aus derBrust der Frau von Villefort, und leichenblaß erwiderte sie: Mein Herr… ich verstehe Sie nicht.

Dann erhobsie sich in einem Anfall des Schreckens… doch in einem zweiten Anfall, der offenbar noch heftiger als der erste war, fiel sie wieder auf die Kissen ihrer Ottomane zurück.

Ich fragte sie, fuhr Herr von Villefort mit vollkommen ruhigem Tone fort, wo Sie das Gift verbergen, mit dessen Hilfe Sie meinen Schwiegervater, Herrn von Saint‑Meran, meine Schwiegermutter, Barrois und meine Tochter Valentine umgebracht haben.

Oh! mein Herr, rief Frau von Villefort, die Hände faltend, was sagen Sie da?

Sie haben mich nicht zu fragen, sondern nur zu antworten.

Habe ich dem Richter oder dem Gatten zu antworten? stammelte Frau von Villefort.

Dem Richter.

Es war ein furchtbares Schauspiel: dieBlässe dieser Frau, die Angst in ihrenBlicken, das Zittern ihres ganzen Körpers. Ah! mein Herr! murmelte sie, ah! mein Herr!

Sie antworten nicht! rief der furchtbare Frager. Dann fügte er mit einem Lächeln hinzu, das noch schrecklicher war, als sein Zorn: Sie leugnen also nicht!

Frau von Villefort machte ein: Bewegung.

Und Sie könnten auch nicht leugnen, fuhr Herr von Villefort fort, indem er die Hand ausstreckte, als wollte er sie im Namen der Gerechtigkeit festnehmen. Sie haben diese verschiedenen Verbrechen mit einer unverschämten Geschicklichkeit verübt, die jedoch nur Leute täuschen konnte, die aus Liebe geneigt waren, Ihnen gegenüberblind zu sein. Seit dem Tode der Frau von Saint‑Meran wußte ich, daß ein Giftmischer in meinem Hause war, Herr d'Avrigny hatte mich davon in Kenntnis gesetzt; nach dem TodeBarrois' fiel mein Verdacht, Gott verzeihe es mir! auf jemand, auf einen Engel. Doch nach Valentines Tode gabes keinen Zweifel mehr für mich, und nicht allein für mich, sondern auch für andere. So wird Ihr Verbrechen, nunmehr zwei Personenbekannt, öffentlich werden; und es ist, wie ich Ihnen soeben sagte, nicht mehr der Gatte, der zu Ihnen spricht, sondern ein Richter.

Ihr Gesicht in ihren Händen verbergend, stammelte die junge Frau: Oh! Herr, ich flehe Sie an, glauben Sie nicht dem Scheine!

Sollten Sie feig sein? rief Villefort mit verächtlichem Tone. In der Tat, ich habe stets wahrgenommen, daß die Giftmischer feig sind. Sollten Sie feig sein, Sie, die Sie den gräßlichen Mut gehabt haben, zwei Greise und ein junges Mädchen, von Ihnen ermordet, vor Ihren Augen verscheiden zu sehen?

Herr! Herr!

Sollten Sie feig sein, fuhr Villefort mit wachsender Heftigkeit fort, Sie, die Sie die Minuten von vier Todeskämpfen eine um die andere gezählt? Sie, die Sie mit einer so wunderbaren Geschicklichkeit und Sorgfalt Ihre höllischen Pläne entworfen und Ihre schändlichen Getränke eingerührt haben? Sie, die Sie alles so gutberechnet, sollten eins nichtberechnet haben, nämlich, wohin Sie die Enthüllung Ihrer Verbrechen führen konnte, führen mußte? Oh! das ist unmöglich, und Sie haben ein Gift, süßer, feiner, tödlicher als die anderen, aufbewahrt, um der Ihnen gebührendenBestrafung zu entgehen… Sie haben dies getan, wenigstens hoffe ich es.

Frau von Villefort rang ihre Hände und fiel auf die Knie.

Ich weiß es wohl… ich weiß es wohl, sagte Herr von Villefort, Sie gestehen; doch ein Geständnis, den Richtern abgelegt, ein Geständnis im letzten Augenblick, ein Geständnis, wenn man nicht mehr leugnen kann, ein solches Geständnis mildert in keinerBeziehung die Strafe, die über den Schuldigen verhängt werden muß.

Die Strafe! rief Frau von Villefort, Strafe! Es ist schon das zweite Mal, daß Sie dieses Wort aussprechen!

Allerdings. Glaubten Sie zu entkommen, weil Sie viermal schuldig waren? Glaubten Sie, weil Sie die Frau dessen sind, der die Strafe fordert, würde diese Strafe ausbleiben? Nein, nein! Die Giftmischerin, wer sie auch sein mag, erwartet das Schafott, besonders Sie, wie ich Ihnen soeben sagte, die nicht dafürbesorgt gewesen ist, einige Tropfen von ihrem sichersten Gifte aufzubewahren!

Frau von Villefort stieß einen wilden Schrei aus, und der häßliche, unbezähmbare Schreckenbemächtigte sich ihrer verstörten Gesichtszüge.

Oh! fürchten Sie das Schafott nicht, sagte der Staatsanwalt, ich will Sie nicht entehren, denn das hieße mich selbst entehren; nein, im Gegenteil, wenn Sie mich recht gehört haben, müssen Siebegreifen, daß Sie nicht auf dem Schafott sterben können.

Nein, ich habe nichtbegriffen; was wollen Sie sagen? stammelte völlig niedergeschmettert die unglückliche Frau.

Ich will sagen, daß die Frau des ersten richterlichenBeamten der Hauptstadt einen fleckenlos gebliebenen Namen nicht mit ihrer Schandebelasten und nicht mit demselben Schlage ihren Gatten und ihr Kind entehren wird.

Nein! oh, nein!

Wohl, das wird eine gute Handlung von Ihnen sein, und für diese gute Handlung danke ich Ihnen.

Sie danken mir und wofür?

Für das, was Sie gesagt haben.

Was habe ich gesagt? Mein Kopf ist verwirrt; mein Gott! Mein Gott! Ichbegreife nichts mehr.

Und sie erhobsich mit aufgelösten Haaren und schäumenden Lippen.

Siebeantworteten die Frage noch nicht, die ichbei meinem Eintritt machte: Wo ist das Gift, dessen Sie sich gewöhnlichbedienen?

Frau von Villefort streckte die Arme zum Himmel empor und schlug krampfhaft die Hände aneinander.

Nein, nein, schrie sie, Sie wollen das nicht!

Ich will nicht, daß Sie auf dem Schafott sterben, hören Sie? antwortete Villefort.

Oh! Gnade, Herr!

Es ist mein Wille, daß Gerechtigkeit geschehe. Ichbin auf der Erde, um zu strafen, fügte er mit einem flammendenBlickebei; jeder andern Frau, und wäre es eine Königin, würde ich den Henker schicken, gegen Sie werde ichbarmherzig sein. Ihnen sage ich: Nicht wahr, gnädige Frau, Sie haben einige Tropfen von Ihrem süßesten, schnellsten und sichersten Gift aufbewahrt?

Oh! Verzeihen Sie mir, lassen Sie mich leben!

Sie ist feig, sagte Villefort.

Bedenken Sie, daß ich Ihre Fraubin!

Sie sind eine Giftmischerin.

Im Namen des Himmels!

Nein.

Im Namen der Liebe, die Sie für mich gehabt haben!

Nein! nein!

Im Namen unseres Kindes! Oh! Unserem Kinde zuliebe lassen Sie mich leben.

Nein! nein! sage ich Ihnen; ließe ich Sie leben, so würden Sie eines Tages das Kind so gut töten, wie die andern.

Ich! mein Kind töten! rief in höchster Leidenschaft diese Mutter, auf Villefort zustürzend; ich meinen Eduard töten? Und ein gräßliches Gelächter, das Lachen einer Wahnsinnigen, vollendete den Satz und verlor sich in einemblutigen Geröchel.

Frau von Villefort stürzte zu den Füßen ihres Gatten nieder.

Villefort näherte sich ihr und sagte: Bedenken Sie wohl! Istbei meiner Rückkehr nicht Gerechtigkeit geschehen, so zeige ich Sie mit meinem eigenen Munde an, verhafte ich Sie mit meinen eigenen Händen.

Sie hörte keuchend, vernichtet; nur ihr Auge lebte in ihr undbrannte in einem düsteren, furchtbaren Feuer.

Sie verstehen mich, sagte Villefort, ich gehe, um die Todesstrafe gegen einen Mörder zu fordern. Finde ich Sie noch lebend, so ist heute nacht der Kerker Ihre Wohnung.

Frau von Villefort stieß einen Seufzer aus, ihre Nerven wurden schlaff, sie wälzte sich gebrochen auf demBoden.

Der Staatsanwalt schien eine Regung des Mitleids zu fühlen, er schaute sie minder streng an, verbeugte sich leicht vor ihr und sagte langsam: Gottbefohlen, gnädige Frau!

Dieser Abschied fiel wie das Messer des Todes auf Frau von Villefort. Sie wurde ohnmächtig.

Der Staatsanwalt entfernte sich und schloßbeim Hinausgehen die Tür doppelt zu.

Das Schwurgericht.

›Die AffäreBenedetto‹, wie man damals in Paris und in der Gesellschaft sagte, machte ein ungeheures Aufsehen. Ein täglicher Gast des Café de Paris, desBoulevard de Gand und desBois deBoulogue, hatte der falsche Cavalcanti während seines Aufenthaltes in Paris und während der paar Monate, die sein Glanz gedauert, eine MengeBekanntschaften gemacht. Die Zeitungen erzählten von den verschiedenen Stellungen des Angeklagten in seinem eleganten Leben und in seinem Leben imBagno. Dies erregte die größte Neugierdebesondersbei den persönlichenBekannten des vermeintlichen Prinzen, und diesebeschlossen, alles daran zu setzen, um HerrnBenedetto, den Mörder seines Kettenkameraden, auf derBank der Angeklagten zu sehen.

Für viele warBenedetto, wenn nicht ein Opfer, doch wenigstens ein Irrtum der Justiz; man hatte Herrn Cavalcanti Vater in Paris gesehen, und man erwartete, er werde abermals erscheinen, um seinen erhabenen Sprößling zu reklamieren.

Alles lief also zu der Gerichtssitzung. Von morgens um sieben Uhr drängte man sich am Gitter, und eine Stunde vor Eröffnung der Sitzung war der Saalbereits voll vonBevorzugten.

Beauchamp, der zu den Königen der Presse gehörte, und folglich seinen Tron überall hatte, schaute durch sein Glas nach rechts und links. Er erblickte Chateau‑Renaud und Debray, die sich die Gunst eines Stadtsergeanten erworben und diesenbestimmt hatten, sich hinter sie zu stellen, statt vor sie, wie es sein Recht war. Der würdige Agent hatte den Sekretär des Ministers und den Millionär gerochen; erbenahm sich voll Rücksicht gegen seine edlen Nachbarn und erlaubte ihnen, mit dem Versprechen, ihre Plätze aufzubewahren, Beauchamp einenBesuch zu machen. Nun! Wir werden also unsern Freund sehen! sagteBeauchamp.

Ei! mein Gott, ja! erwiderte Debray, dieser würdige Prinz! Der Teufel hole den italienischen Prinzen!

Adel des Stricks, bemerkte phlegmatisch Chateau‑Renaud.

Nicht wahr, er wird verurteilt werden? fragte DebrayBeauchamp.

Ei! mein Lieber, erwiderte der Journalist, mir scheint, das muß man Sie fragen; Sie wissen dasbesser als wir. Haben Sie den Präsidentenbei der letzten Soirée Ihres Ministers gesprochen?

Ja.

Was hat er Ihnen gesagt?

Etwas, was Sie in Erstaunen setzen wird.

Ah! Sprechen Sie geschwind, ich habe schon lange nichts dergleichen mehr gehört.

Wohl! Er hat gesagt, Benedetto, den man für einen Phönix an Feinheit, einen Riesen an Schlauheit halte, sei nur ein ganz gemeiner, einfältiger Schuft und ganz unwürdig der Versuche, die man nach seinem Tode an seinen phrenologischen Organen machen werde.

Bah! riefBeauchamp, er spielte den Prinzen gar nicht übel.

Doch wenn ich mit dem Präsidenten gesprochen habe, sagte Debray zuBeauchamp, so müssen Sie den Staatsanwalt gesehen haben?

Unmöglich; seit acht Tagen verbirgt sich Herr von Villefort, und das ist ganz natürlich. Diese Reihe von häuslichen Unglücksfällen, denen der seltsame Tod seiner Tochter die Krone aufsetzte…

Der seltsame Tod! Was sagen Sie da, Beauchamp?

Ah! ja, spielen Sie den Unwissenden, versetzteBeauchamp, indem er sein Monokle einklemmte und Umschau im Saale hielt. Halt, fuhr er fort, ich täusche mich nicht.

Was gibt es?

Sie ist es. Man sagte doch, sie sei abgereist.

Fräulein Eugenie? Sollte sie zurückgekommen sein?

Nein, ihre Mutter.

Unmöglich, rief Chateau‑Renaud; zehn Tage nach der Flucht ihrer Tochter, drei Tage nach demBankerott ihres Mannes!

Debray errötete leicht und folgte der Richtung desBlickes vonBeauchamp.

Was wollen Sie! sagte er, es ist eine verschleierte Frau, eine unbekannte Dame, vielleicht die Mutter des Fürsten Cavalcanti; aber mir scheint, Sie wollen uns da eben etwas sehr Interessantes mitteilen, Beauchamp? — Ich?

Ja. Sie sprachen von dem seltsamen Tode Valentines.

Nun, versetzteBeauchamp, sind Sie nicht neugierig, zu erfahren, warum man so plötzlich in dem Hause von Villefort stirbt?

Wahrhaftig! sagte Debray, ich verliere dieses seit drei Monaten von Trauer erfüllte Haus nicht aus dem Auge.

Ei! meine Herren, fuhrBeauchamp fort, wenn man in Villeforts Hause so plötzlich stirbt, so kann dies nur sein, weil ein Mörder dort ist.

Diebeiden jungen Leutebebten, denn es war ihnen mehr als einmal derselbe Gedanke gekommen.

Und wer ist dieser Mörder? fragten sie gleichzeitig.

Der junge Eduard.

Ein schallendes Gelächter der Zuhörerbrachte den Redner durchaus nicht aus der Fassung, und er fuhr fort: Ja, meine Herren, der junge Eduard, ein Kind, das man als ein Phänomen zubetrachten hat, denn esbringtbereits alles um.

Das ist ein Scherz.

Keineswegs; ich habe gestern einenBedienten angenommen, derbei Villefort ausgetreten ist. Nun, es scheint, das liebe Kind hat sich ein Fläschchen mit einem gewissen Stoff verschafft undbedient sich seiner denen gegenüber, die ihm nicht gefallen. Zuerst war er mit Papa und Mama Saint‑Meran unzufrieden und flößte ihnen drei Tropfen von seinem Elixir ein; drei Tropfen genügen. Dann kam derbraveBarrois, ein alter Diener, an die Reihe, derbisweilen den liebenswürdigen Jungen hart anließ. Endlich hatte er es auf Valentine abgesehen; diese ließ ihn zwar nicht hart an, aber er war eifersüchtig auf sie; er flößte also auch ihr die drei Tropfen ein, und für sie, wie für die andern, war alles vorbei.

Aber zum Teufel, was erzählen Sie uns denn da? sagte Chateau‑Renaud.

Ja, nicht wahr, ein Märchen aus der andern Welt! entgegneteBeauchamp.

Das ist abgeschmackt, sagte Debray.

Zum Teufel! entgegneteBeauchamp. Fragen Sie meinenBedienten; so hieß es im ganzen Hause.

Doch das Elixir; wo ist es? Worausbesteht es?

Verdammt! Der Knabe versteckt es.

Wo hat er es her?

Weiß ich es? Sie stellen da Fragen an mich, wie ein Staatsanwalt. Ich wiederhole nur, was man mir gesagt hat; ich nenne Ihnen meine Quelle, mehr kann ich nicht tun. Der arme Teufel von einemBedienten aß vor Angst nicht mehr.

Das ist unglaublich.

Nein, mein Lieber, das ist durchaus nicht unglaublich. Sie wissen, wie sich im vorigen Jahre ein Kind in der Rue Richelieu ein Vergnügen daraus machte, seineBrüder und Schwestern umzubringen, indem es ihnen, während sie schliefen, eine Nadel ins Ohr steckte. Die kommende Generation ist sehr frühreif, mein Lieber!

Mein Freund, sagte Chateau‑Renaud, ich wette, Sie glauben nicht ein Wort von dem, was Sie uns da erzählen?… Doch ich sehe den Grafen von Monte Christo nicht; warum ist er nicht hier?

Er ist solcher Szenen überdrüssig, sagte Debray; auch wird er nicht vor der Welt erscheinen wollen, nachdem er sich von diesen Cavalcanti hatbetören lassen; sie kamen, wie es scheint, mit falschenBeglaubigungsschreiben zu ihm, und er hat für 500 000 Franken Hypotheken auf das Fürstentum genommen.

Ah! Es fällt mir ein, der Graf von Monte Christo kann nicht kommen! sagteBeauchamp.

Warum?

Weil erbei diesem Drama handelnde Person ist.

Hat er auch jemand ermordet? fragte Debray.

Nein, man wollte im Gegenteil ihn ermorden. Sie wissen, daß der gute Herr von Caderousse, als er von dem Hause des Grafen wegging, von seinem FreundeBenedetto ermordet worden ist. Sie wissen, daß manbei Monte Christo dieberüchtigte Weste gefunden hat, in der sich derBrief fand, durch den die Unterzeichnung des Vertrages gestört wurde. Sehen Sie diese Weste? Dort liegt sie ganzblutig alsBeweisstück auf dem Tische.

Ah! Sehr gut.

Still, meine Herren, der Gerichtshof erscheint; gehen wir an unsere Plätze.

Man vernahm ein starkes Geräusch im Gerichtssaale; der Stadtsergeant machte seinebeiden Schützlinge durch ein kräftiges Hm! aufmerksam, und der Gerichtsdiener rief, auf der Schwelle desBeratungssaales erscheinend: Meine Herren, der Gerichtshof!

Die Anklageschrift.

Die Richter traten unter dem tiefsten Schweigen der Versammelten ein; die Geschworenen ließen sich auf ihren Plätzen nieder; Herr von Villefort, der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit, wir möchtenbeinahe sagenBewunderung, setzte sichbedeckt in seinen Lehnstuhl und schaute ruhig umher.

Jederbetrachtete mit Erstaunen das ernste, strenge Antlitz, über dessen Unempfindlichkeit die persönlichen Schmerzen keine Gewalt zu haben schienen, und man sah mit einem gewissen Schrecken diesen Mann an, dem die Regungen der Menschlichkeit fremd zu sein schienen.

Gendarmen, sagte der Präsident, führt den Angeklagten vor.

Bei diesen Worten wurde die Aufmerksamkeit des Publikums lebhafter, und aller Augen waren auf die Tür gerichtet, durch dieBenedetto eintreten sollte.

Bald öffnete sich diese Tür, und der Angeklagte erschien.

Der Eindruck war allgemein der gleiche. Seine Züge trugen nicht das Gepräge jener tiefen Aufregung, die dasBlut zum Herzen zurückdrängt und Stirn und Wangen entfärbt. Seine Hände, von denen die eine zierlich den Hut hielt, die andere in der Öffnung seiner Weste von weißem Piqué steckte, wurden von keinem Schauer geschüttelt, sein Auge war ruhig und glänzend. Kaum war er im Saal, als derBlick des jungen Mannes alle Reihen der Richter und der Anwesenden durchlief und nur länger an dem Präsidenten undbesonders auf dem Staatsanwalt haftenblieb.

Neben Andrea setzte sich der von Amtswegen gewählte Anwalt, ein junger Mensch mitblonden Haaren und einem Gesichte, das hundertmal mehr von Aufregung gerötet war, als das des Angeklagten.

Der Präsident ordnete die Verlesung der von Villeforts geschickter und unversöhnlicher Feder abgefaßten Anklageschrift an.

Während der langdauernden Verlesung war die öffentliche Aufmerksamkeit unablässig auf Andrea gerichtet, der die Wucht der Anklagen mit der Seelenheiterkeit eines Spartaners ertrug.

Wohl niemals war Villefort so scharf, soberedt gewesen. Das Verbrechen wurde mit den lebhaftesten Farben geschildert; die früheren Verhältnisse des Angeklagten, die Verkettung seiner Handlungen seid einem ziemlich zarten Alter wurden mit der vollen Kunst dargestellt, welche der Staatsanwaltbei seinem Scharfsinn, seiner Lebenserfahrung und der Kenntnis des menschlichen Herzens zu entfalten vermochte.

Andrea schenkte dem allen nicht die geringste Aufmerksamkeit. Herr von Villefort schaute ihn oft prüfend an und setzte an ihm ohne Zweifel die psychologischen Studien fort, die er häufig an den Angeklagten machte.

Endlich war die Verlesung vorüber.

Angeklagter, sagte der Präsident, Ihr Name und Ihr Vorname?

Andrea stand auf und sagte: Verzeihen Sie, Herr Präsident, ich sehe, Siebelieben eine Ordnung der Fragen, in der ich Ihnen nicht folgen kann. Ich werde es mir später zur Aufgabe machen, dieBehauptung zu rechtfertigen, daß ich eine Ausnahme von den gewöhnlichen Angeklagtenbin. Wollen Sie mir also erlauben, in abweichender Ordnung zu antworten; ich werde darum doch auf alles Antwort geben.

Der Präsident schaute erstaunt die Geschworenen an, die ihrerseits den Staatsanwalt anblickten. Offenbar war die ganze Versammlung von Verwunderung ergriffen, nur Andrea schien völlig gleichmütig zu sein.

Ihr Alter? fragte der Präsident; werden Sie diese Fragebeantworten?

Ichbin einundzwanzig Jahre alt, oder vielmehr ich werde es erst in einigen Tagen, denn ichbin in der Nacht vom 27. auf den 28. September im Jahre 1817 geboren.

Herr von Villefort, der eben damitbeschäftigt war, sich eine Notiz zu machen, hobbei diesem Datum rasch den Kopf empor.

Wo sind Sie geboren? fragte der Präsident.

In Auteuil, bei Paris, antworteteBenedetto.

Herr von Villefort hobden Kopf abermals empor, schauteBenedetto an, als ober das Haupt der Meduse erblickt hätte, und wurde leichenblaß.

Benedetto aber fuhr anmutig über seine Lippen mit den gestickten Zipfeln seines feinenBattisttaschentuches. IhreBeschäftigung? fragte der Präsident.

Anfangs war ich Fälscher, erwiderte Andrea auf das allerruhigste, dann wurde ich Dieb, und in der jüngsten Zeit habe ich mich zum Mörder gemacht.

Ein Gemurmel oder vielmehr ein Sturm der Entrüstungbrach in allen Teilen des Saales los; die Richter selbst schauten ihn erstaunt an und zeigten den größten Abscheu vor solcher unerhörten Schamlosigkeit.

Herr von Villefort drückte eine Hand auf seine Stirn, die, anfangsbleich, dann plötzlich unheimlich rot geworden war; es fehlte ihm an Luft.

Suchen Sie etwas, Herr Staatsanwalt? fragteBenedetto mit seinem höflichsten Lächeln.

Herr von Villefort antwortete nicht, sondern setzte sich oder sank vielmehr auf seinen Stuhl zurück.

Und nun, Angeklagter, wollen Sie nach dieser rohen Prahlerei mit Ihren Verbrechen Ihren Namen sagen? fragte der Präsident.

Ichbin nicht im stande, Ihnen meinen Namen zu nennen, denn ich weiß ihn nicht; doch ich weiß den meines Vaters, und den kann ich Ihnen sagen.

Ein schmerzhafter Schwindelblendete Villefort und ließ von seinen Wangen rasch, hintereinander schwere Schweißtropfen auf das Papier fallen, das er mit krampfhafter Hand schüttelte.

So sagen Sie den Namen Ihres Vaters, sprach der Präsident.

Kein Hauch, kein Atemzug ließ sichbei dem tiefen Schweigen der großen Versammlung hören; mit äußerster Spannung warteten alle.

Mein Vater ist Staatsanwalt, antwortete ruhig Andrea.

Staatsanwalt! rief der Präsidentbestürzt und ohne die Verstörung in den Gesichtszügen des Herrn von Villefort zubemerken; Staatsanwalt?

Ja, und da Sie seinen Namen wissen wollen, so will ich ihn nennen; er heißt Villefort.

Der so lange aus Achtung vor der Würde des Gerichtshofes zurückgehaltene Ausbruch erfolgte jetzt wie ein Donner aus derBrust aller Anwesenden; der Vorsitzende selbst dachte nicht daran, dieseBewegung der Menge zu unterdrücken. Die anBenedetto gerichteten Vorwürfe und Schmähungen, die kräftigen Gebärden, dieBewegungen der Gendarmen, das Hohngelächter jenes schmutzigen Teiles der Zuhörerschaft, der sichbei jeder Versammlung in Augenblicken der Unruhe und des Skandalsbemerkbar macht, dies alles dauerte fünf Minuten, bis die Gerichtsdiener das Stillschweigen wiederherzustellen vermochten.

Mitten unter diesem Lärm hörte man den Präsidenten rufen: Sie spotten des Gerichtes, Angeklagter; sollten Sie es wagen, Ihren Mitbürgern das Schauspiel einer Verdorbenheit zu geben, die selbst in unserer lasterhaften Zeit nicht ihresgleichen hätte?

Zehn Personen drängten sich um den auf seinem Stuhle wie niedergeschmettert dasitzenden Staatsanwalt und suchten ihm auf jede Weise Trost und Ermutigung zubieten und ihm ihr Mitgefühl zubeteuern.

Die Ruhe war im Saale wiederhergestellt, mit Ausnahme eines Punktes, wo eine Gruppe sich um eine Fraubemühte, die, wie man sagte, in Ohnmacht gefallen war; man ließ sie an Salzen riechen, und sie war wieder zu sich gekommen.

Andrea wandte während dieses ganzen Tumultes sein lächelndes Gesicht der Versammlung zu, dann stützte er sich mit der anmutigsten Haltung auf die eichene Lehne seinerBank und sprach: Meine Herren, Gottbewahre mich, daß ich den Gerichtshof zubeleidigen und in Gegenwart dieser ehrenwerten Versammlung einen unnützen Skandal zu machen suche. Man fragt mich, wie alt ich sei, ich sage es; man fragt mich, wo ich geboren sei, ich antworte; man fragt mich nach meinem Namen, ich kann ihn nicht nennen, weil meine Eltern mich verlassen haben. Doch ohne meinen Namen zu nennen, da ich keinen habe, kann ich den meines Vaters nennen; ich wiederhole also, mein Vater ist Herr von Villefort, und ichbinbereit, es zubeweisen.

Der Ton des jungen Mannes hatte das Gepräge der Gewißheit und Überzeugung, wodurch der Aufruhr zum Stillschweigen gebracht wurde. DieBlicke richteten sich allgemein auf den Staatsanwalt, der auf seinem Sitze unbeweglich saß, wie ein Mensch, den derBlitz in eine Leiche verwandelt hat.

Meine Herren, fuhr Andrea, durch Gebärde und Stimme Stillschweigen heischend, fort, meine Herren, ichbin Ihnen denBeweis für meine Erklärung schuldig.

Aber Sie habenbei der Untersuchung erklärt, Sie hießenBenedetto, rief heftig der Präsident, Sie haben gesagt, Sie seien eine Waise, und Sie nannten Korsika als Ihr Vaterland.

Ich habebei der Untersuchung gesagt, was mir gut schien, und habe mir die Wahrheit für diese feierliche Gelegenheit vorbehalten. Ich wiederhole Ihnen, daß ich in Auteuil in der Nacht vom 27. auf den 28. September des Jahres 1817 geboren wurde und der Sohn des Herrn Staatsanwalts von Villefortbin. Wollen Sie nun die Einzelheiten wissen? Ich werde sie Ihnen sagen: Ich wurde geboren im ersten Stocke des Hauses Nro. 30, Rue de la Fontaine, in einem mit rotem Damast austapezierten Zimmer. Mein Vater sagte meiner Mutter, ich sei tot, nahm mich in seine Arme, wickelte mich in eine mit einem H. und mit 15 gezeichnete Serviette, und trug mich in den Garten, wo er mich lebendigbegrub.

Ein Schauer durchlief alle Anwesenden, als sie sahen, daß die Sicherheit des Angeklagten wie der Schrecken des Herrn von Villefort zugleich wuchsen.

Doch woher wissen Sie diese einzelnen Umstände? fragte der Präsident.

Ich will es Ihnen sagen, Herr Präsident. In den Garten, wo mich mein Vaterbegraben, hatte sich in dieser Nacht ein Mensch geschlichen, der ihn aus den Tod haßte und seit langer Zeit auf ihn lauerte, um eine korsische Rache an ihm zu nehmen. Dieser Mensch war in einem Gesträuch verborgen; er sah meinen Vater ein Kistchen in die Erde vergraben undbrachte ihm mitten in seiner Arbeit einen Messerstichbei; im Glauben, das Kistchen enthalte einen Schatz, öffnete er das Grabund fand mich noch am Leben. Dieser Mann trug mich in das Hospital der Findelkinder, wo ich unter Nummer 37 eingeschrieben wurde. Drei Monate nachher machte seine Schwägerin die Reise von Rogliano nach Paris, um mich zu holen, forderte mich als ihren Sohn zurück undbrachte mich nach Hause. Deshalbbin ich, obgleich in Auteuil geboren, doch in Korsika erzogen wurden.

Es herrschte einen Augenblick ein so tiefes Schweigen, das; man den Saal hätte für leer halten sollen.

Fahren Sie fort! sprach die Stimme des Präsidenten.

Ich konnte allerdings glücklich seinbei denbraven Leuten, die mich anbeteten; aber meine verkehrte Natur trug den Sieg über alle Tugenden davon, die meine Adoptivmutter in mein Herz zu pflanzen suchte. Ich wuchs im Schlechten und gelangte zum Verbrechen. Eines Tages, als ich Gott verfluchte, daß er mich soböse gemacht und mir ein so abscheuliches Geschick gegeben, kam mein Adoptivvater zu mir und sagte: Lästere nicht, Unglücklicher! Denn Gott hat dir das Tageslicht ohne Zorn verliehen, das Verbrechen kommt von deinem Vater. Von da an hörte ich auf, Gott zu lästern, aber ich verfluchte meinen Vater; und darum ließ ich hier die Worte vernehmen, die Sie mir vorgeworfen, Herr Präsident; darum habe ich den Skandal veranlaßt, über den diese Versammlung noch voll Entrüstungbebt. Ist dies ein Verbrechen mehr, sobestrafen Sie mich, habe ich Sie jedoch überzeugt, daß von meiner Geburt an mein Schicksal ein unseliges, schmerzliches, bitteres war, sobeklagen Sie mich!

Doch Ihre Mutter? fragte der Präsident.

Meine Mutter hielt mich für tot; meine Mutter ist nicht schuldig. Ich wollte ihren Namen nicht wissen und kenne ihn nicht.

In diesem Augenblick ertönte ein schriller Schrei, der in einem Schluchzen endigte, mitten aus einer Gruppe, die, wie gesagt, eine Frau umgab. Diese Frau hatte einen heftigen Anfall und wurde aus dem Gerichtssaale weggetragen; während man sie forttrug, verschobsich der dicke Schleier, der ihr Gesicht verbarg, und man erkannte Frau Danglars.

Trotz des Druckes, der auf seinen geschwächten Sinnen lastete, trotz desBrausens, das sein Ohr erfüllte, trotz des Wahnsinns, der sein Gehirn durchtobte, erkannte sie Herr von Villefort ebenfalls und stand auf.

DieBeweise! DieBeweise! sagte der Präsident, Angeklagter, erinnern Sie sich, daß dieses Gewebe von Greueltaten, um Glauben zu finden, durch die untrüglichstenBeweise unterstützt werden muß.

DieBeweise? versetzteBenedetto lachend, dieBeweise wollen Sie haben? Wohl! Schauen Sie Herrn von Villefort an, und verlangen Sie noch einmalBeweise.

Alle wandten sich dem Staatsanwalt zu, der unter dem Gewichte von tausend auf ihn geheftetenBlicken, wankend, die Haare in Unordnung, das Gesicht hochrot, vor den Präsidenten trat.

Die ganze Versammlung ließ ein anhaltendes Gemurmel des Erstaunens vernehmen.

Man verlangtBeweise von mir, mein Vater, sagteBenedetto; soll ich sie geben?

Nein, nein, stammelte Herr von Villefort mit gepreßter Stimme, nein, es ist unnötig.

Wie, unnötig? rief der Präsident, was wollen Sie damit sagen?


Ich will damit sagen, entgegnete der Staatsanwalt, daß ich mich vergebens unter dem tödlichen Drucke, der mich niederwirft, zerarbeiten würde. Meine Herren, ich erkenne es, ichbin in der Hand des rächenden Gottes. KeineBeweise! Esbedarf deren nicht: Alles, was dieser junge Mensch gesagt hat, ist wahr.

Ein düsteres, drückendes Schweigen, wie das, welches den Katastrophen der Natur vorhergeht, hüllte alle Anwesenden in seinenbleiernen Mantel.

Wie, Herr von Villefort, rief der Präsident. Hat Sie ein Anfall von Irrsinn gepackt? Sind Sie Herr Ihrer geistigen Fähigkeiten? Es wäre kein Wunder, wenn eine so seltsame, so unvorhergesehene, so furchtbare Anklage Ihren Geist gestört hätte! Auf, Herr von Villefort, beruhigen Sie sich!

Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf. Seine Zähne schlugen heftig aneinander, wie die eines Menschen, der vom Fieber verzehrt wird, und dennoch war erbleich wie der Tod.

Ichbin ganz und garbei Sinnen, sagte er; der Körper allein leidet, und das läßt sichbegreifen. Ich erkenne mich schuldig alles dessen, was dieser junge Mensch gegen mich vorgebracht hat, und halte mich von dieser Stunde an in meinem Hause zur Verfügung des Herrn Staatsanwalts, meines Nachfolgers.

Nachdem er diese Worte mit dumpfer, fast erstickter Stimme gesprochen hatte, ging Herr von Villefort wankend auf die Tür zu, die ihm der Gerichtsdiener mechanisch öffnete.

Die ganze Versammlungbliebstumm unter dem Eindruck dieser Erklärung und des Geständnisses, wodurch die rätselhaften Erscheinungen, die seit vierzehn Tagen die hohe Pariser Gesellschaft erregten, eine so furchtbare Entwicklung nahmen.

Man sage noch einmal, das Drama liege nicht im Leben! sprachBeauchamp.

Meiner Treu, versetzte Chateau‑Renaud, ich würde noch lieber wie Herr von Morcerf endigen; ein Pistolenschuß erscheint sanft gegen eine solche Katastrophe.

Und dann tötet er auch, bemerkteBeauchamp.

Und ich dachte eine Zeitlang daran, seine Tochter zu heiraten! sagte Debray. Das arme Kind hat wohl daran getan, daß es gestorben ist.

Die Sitzung ist aufgehoben, meine Herren, und die Sache auf die nächste Session verschoben, sagte der Präsident. Der Prozeß muß aufs neue eingeleitet und einem anderenBeamten anvertraut werden.

Andrea verließ den Saal, stets gleich ruhig und noch viel interessanter als zuvor, geleitet von Gendarmen, die ihm unwillkürlich eine gewisse Achtung zollten.

Nun, was denken Sie davon, meinbraver Mann? fragte Debray den Stadtsergeanten, indem er ihm einen Louisd'or in die Hand drückte.

Man wird ihm mildernde Umstände zubilligen! antwortete dieser.

Die Sühne.

Es wäre schwierig, den Zustand derBetäubung zubeschreiben, in dem sich Herr von Villefortbefand, als er den Palast verließ, das Fieber zu schildern, das jede Arterie schlagen, jede Faser seines Leibes erstarren ließ und jede Vene zum Zerspringen anschwellte. Er schleppte sich mühsam die Gänge entlang; er warf die Toga desBeamten von seinen Schultern, weil sie für ihn jetzt eine niederdrückende Last geworden war. Er kam wankendbis zur Cour Dauphine, erblickte seinen Wagen, öffnete selbst den Schlag und sank, mit dem Finger die Richtung des Faubourg Saint‑Honoré andeutend, auf die Kissen.

Das ganze Gewicht seines zusammengestürzten Glückes war auf sein Haupt gefallen; dieses Gewicht drückte ihn nieder, ohne daß er genau die Folgen davon kannte; er hatte diese nicht ermessen, er fühlte sie nur.

Gott! murmelte er, ohne nur zu wissen, was er sagte.

Der Wagen rollte rasch fort; heftig sich auf den Kissen hin und herbewegend, fühlte Villefort einen Gegenstand, der ihnbelästigte, es war ein Fächer, den Frau von Villefort zwischen den Kissen des Wagens hatte liegen lassen; dieser Fächer erweckte eine Erinnerung, und diese Erinnerung war wie einBlitz mitten in der Nacht.

Villefort dachte an seine Frau.

Oh! oh! rief er, als obein glühendes Eisen sein Herz durchdränge.

Seit einer Stunde hatte er in der Tat nur eine Seite seines Unglücks vor Augen, und nunbot sich seinem Geiste plötzlich eine andere, nicht minder furchtbare.

Diese Frau! Er war gegen sie kurz zuvor als unerbittlicher Richter verfahren, er hatte sie zum Tode verurteilt. Und vom Schrecken ergriffen, von Gewissensbissen niedergeschmettert, in den Abgrund der Schande gestürzt, den er durch dieBeredsamkeit seiner vorwurfsfreien Tugend vor ihr geöffnet hatte, schwach und wehrlos gegen seine unumschränkte oberste Gewalt, schickte sich die arme Frau in diesem Augenblick vielleicht an, zu sterben!

Eine Stunde war seit ihrer Verurteilung abgelaufen. Ohne Zweifel stellte sie sich in dieser Minute in ihrem Gedächtnis alle ihre Verbrechen vor, bat Gott um Gnade und schriebeinenBrief, um auf den Knien die Verzeihung ihres tugendhaften Gatten anzuflehen, eine Verzeihung, die sie mit ihrem Tode erkaufte.

Villefort stieß ein zweites Gebrüll des Schmerzes und der Wut aus.

Ah! rief er, sich auf dem Atlaskissen seiner Karosse wälzend, diese Frau ist nur Verbrecherin geworden, weil sie michberührt hat. Ich schwitze das Verbrechen aus, und sie ist davon angesteckt, wie man vom Typhus, von der Cholera, der Pest angesteckt wird, und ichbestrafe sie! Oh! nein! nein! sie wird leben… sie wird mir folgen… Wir fliehen, verlassen Frankreich und wandern fort und fort, solange uns die Erde trägt. Ich sprach zu ihr vom Schafott!.. Großer Gott! Wie konnte ich es wagen, dieses Wort auszusprechen! Auch mich erwartet das Schafott… Wir werden fliehen… Ja, ich will ihrbeichten; ja, jeden Tag will ich mich demütigen, ihr sagen, daß ich auch ein Verbrechenbegangen habe. Oh! Herrliche Verbindung des Tigers und der Schlange! Oh! Würdige Frau eines Mannes, wie ichbin! Sie soll leben, meine Schande soll die ihrige noch überstrahlen und sie verschwinden lassen.

Villefort stieß heftig das Vorderfenster seines Coupés herabund rief mit einer Stimme, die den Kutscher von seinem Sitze auffahren ließ: Vorwärts! Geschwinder! Geschwinder!

Von Furcht getrieben, flogen die Pferdebis an sein Haus.

Ja, ja, wiederholte sich Villefort, während er sich seiner Wohnung näherte, ja, diese Frau soll leben, sie sollbereuen und meinen Sohn erziehen, mein armes Kind, das einzige Wesen meiner Familie, das außer dem unzerstörbaren Greise der Vernichtung entgangen ist. Sie liebte den Knaben; für ihn hat sie alles getan. Man darf nie an dem Herzen einer Mutter verzweifeln, die ihr Kind liebt; sie wirdbereuen, und niemand wird erfahren, daß sie schuldig war. Die in meinem Hause verübten Verbrechen werden mit der Zeit vergessen; oder erinnern sich ihrer einige Feinde, so nehme ich sie auf das Register meiner Frevel. Meine Frau wird leben, sie wird noch glücklich sein, weil sich ihre ganze Liebe in ihrem Sohne zusammendrängt und ihr Sohn sie nicht verlaßt. Ich werde eine gute Handlung verrichtet haben, und das erleichtert das Herz.

Und der Staatsanwalt atmete freier, als er es seit langen Minuten getan. Der Wagen hielt im Hofe des Hotels an.

Villefort stürzte von dem Fußtritt auf die Freitreppe; er sah, wie die Diener darüber staunten, daß er so schnell zurückkam. Er las nichts anderes auf ihrem Antlitz; keiner richtete das Wort an ihn; manbliebvor ihm stehen, wie gewöhnlich, um ihn vorbeigehen zu lassen — mehr nicht.

Er kam an Noirtiers Zimmer vorüber und erblickte durch die halboffene Türe etwas wie zwei Schatten; doch ihn kümmerte es nicht, werbei seinem Vater war; seine Unruhe triebihn vorwärts.

Gut, sagte er, die kleine Treppe hinaufsteigend, die zu dem Vorplatze führte, auf den die Wohnung seiner Frau und Valentines Zimmer mündeten, gut, es hat sich hier nichts geändert.

Er schloß vor allem die Tür des Vorplatzes.

Niemand darf uns stören, sagte er; ich muß frei mit ihr sprechen, mich vor ihr anklagen, ihr alles mitteilen können.

Er näherte sich der Tür, legte die Hand auf den kristallenen Knopf, die Tür gabnach.

Nicht geschlossen! Oh! Gut, sehr gut! murmelte er und umfaßte mit einemBlicke den ganzen Salon. Niemand, sagte er; ohne Zweifel ist sie in ihrem Schlafzimmer.

Er eilte nach der Tür. Hier war der Riegel vorgeschoben. Schauerndblieber stehen und rief: Heloise!

Es kam ihm vor, als verrücke man einen Schrank.

Heloise! wiederholte er.

Wer ist da? fragte die Stimme der Gerufenen.

Er glaubte, diese Stimme sei schwächer als gewöhnlich.

Öffnen Sie, öffnen Sie, rief Villefort, ichbin es.

Doch trotz diesesBefehles, trotz des ängstlichen Tones, mit dem er gegeben wurde, öffnete man nicht.

Villefort stieß die Tür mit einem Fußtritte ein.

Am Eingang des Zimmers, das in ihrBoudoir ging, stand Frau von Villefort, bleich, mit verzogenem Gesicht und schaute ihn mit furchtbar starren Augen an.

Heloise! rief er, was haben Sie, sprechen Sie!

Die junge Frau streckte ihre starre, leichenblasse Hand gegen ihn aus.

Es ist geschehen, mein Herr, sagte sie mit einem Röcheln, das ihren Schlund zu zerreißen schien: Was wollen Sie noch mehr von mir?

Und sie stürzte plötzlich zuBoden.

Villefort lief auf sie zu und faßte siebei der Hand, in der sie krampfhaft ein kristallenes Fläschchen hielt.

Frau von Villefort war tot.

Außer sich vor Schrecken wich Villefortbis auf die Schwelle des Zimmers zurück und schaute die Leiche an.

Mein Sohn! rief er plötzlich, wo ist mein Sohn? Eduard! Eduard!

Er stürzte aus dem Zimmer und schrie nach Eduard mit einem solchen Tone der Angst, daß dieBedienten herbeiliefen.

Mein Sohn! Wo ist mein Sohn? fragte Villefort, man entferne ihn von dem Hause, er soll nicht sehen…

Herr Eduard ist nicht unten, antwortete der Kammerdiener.

Er spielt ohne Zweifel im Garten; seht nach! seht nach!

Nein, Herr Staatsanwalt, die gnädige Frau hat ihren Sohn vor ungefähr einer halben Stunde gerufen; Herr Eduard ist zu ihr hineingegangen und seitdem nicht mehr herausgekommen.

Ein eiskalter Schweiß überströmte Villeforts Stirn; seineBeine strauchelten, seine Gedanken fingen an, sich wie das in Unordnung gebrachte Räderwerk einer zerbrochenen Uhr in seinem Kopfe zu drehen.

Zu ihr! murmelte er, zu ihr! Und er kehrte langsam um und wischte sich mit einer Hand den Schweiß ab, während er sich mit der andern an die Wand stützte.

In das Zimmer zurückkehrend, mußte er abermals den Leichnam der unglücklichen Frau sehen.

Villefort fühlte seine Zunge im Schlunde gelähmt.

Eduard! Eduard! stammelte er.

Das Kind antwortete nicht; wo mochte das Kind sein, das nach Aussage der Diener zu seiner Mutter hineingegangen und nicht wieder herausgekommen war?

Villefort machte einen Schritt vorwärts.

Der Leichnam der Frau von Villefort lag quer vor der Tür desBoudoirs, in dem sich Eduardbefinden mußte; dieser Leichnam schien mit starren, offenen Augen, mit einer gräßlichen, geheimnisvollen Ironie auf den Lippen an der Schwelle zu wachen.

Hinter dem Leichnam ließ der halbaufgehobene Türvorhang einen Teil desBoudoirs, ein Klavier und das Ende eines Diwans vonblauem Atlasbemerken.

Villefort machte ein paar Schritte vorwärts und sah auf dem Sofa sein Kind liegen. Es schlief ohne Zweifel.

Er nahm das Kind in seine Arme, preßte es, schüttelte es, rief es; das Kind antwortete nicht. Er drückte seine gierigen Lippen auf seine Wangen; diese Wangen warenbleich und eisig; er riebseine starren Glieder, er legte seine Hand auf sein Herz, — das Herz schlug nicht mehr. Das Kind war tot. Ein viereckiges zusammengelegtes Papier fiel aus EduardsBrust. Wie vomBlitze getroffen, sank Villefort auf seine Knie; das Kind entschlüpfte seinen schlaffen Armen und rollte an die Seite seiner Mutter.

Villefort hobdas Papier auf, erkannte die Schrift seiner Frau und durchlief es gierig. Es enthielt folgende Worte: Sie wissen, obich eine gute Mutter war, da ich mich für meinen Sohn zur Verbrecherin gemacht habe. Eine gute Mutter reist nicht ohne ihren Sohn!

Villefort wollte seinen Augen nicht trauen, seiner Vernunft nicht glauben; er schleppte sich zu Eduards Körper, untersuchte ihn noch einmal mit ängstlicher Aufmerksamkeit, und ein herzzerreißender Schrei drang aus seinerBrust hervor.

Gott! murmelte erbeständig, Gott!

Diebeiden Opfer flößten ihm Entsetzen ein; er fühlte, wie sich der Schauer der die zwei Leichnamebergenden Einsamkeit seinerbemächtigte. Erbeugte sein Haupt unter dem Gewichte der Schmerzen, er erhobsich auf seine Knie, schüttelte seine von Schweiß feuchten, vor Schrecken emporgesträubten Haare, — und er, der nie Mitleid mit jemand gehabt hatte, suchte den Greis, seinen Vater, auf, um irgend jemand zu haben, dem er sein Unglück erzählen, bei dem er weinen könnte.

Noirtier schien aufmerksam, freundlich auf den wie gewöhnlich ruhigen und kalten AbbéBusoni zu hören.

Als Villefort den Abbé erblickte, fuhr er mit der Hand nach seiner Stirn. Die Vergangenheit kehrte zu ihm zurück; er erinnerte sich desBesuches, den er dem Abbé zwei Tage nach dem Mittagsmahle in Auteuil gemacht, und desBesuches, den ihm der Abbé am Todestage von Valentine abgestattet hatte.

Sie hier, mein Herr! sagte er; Sie erscheinen also immer nur in diesem Hause, um den Tod zu geleiten?

Busoni richtete sich auf. Als er die verstörten Gesichtszüge desBeamten, den wilden Glanz seiner Augen wahrnahm, begriff er, oder glaubte er zubegreifen, daß die Szene vor dem Schwurgericht sich abgespielt hatte; das übrige wußte er nicht.

Ichbin damals gekommen, umbei dem Leichnam Ihrer Tochter zubeten, antworteteBusoni.

Und warum kommen Sie heute hierher?

Ich komme, um Ihnen zu sagen, daß Sie Ihre Schuld hinreichendbezahlt haben, und daß ich von diesem Augenblicke an Gottbitten werde, er möge zufrieden sein, wie ich.

Mein Gott! rief Villefort erschreckt zurückweichend, diese Stimme ist nicht die des AbbésBusoni!

Nein.

Der Abbé riß seine falsche Tonsur ab, schüttelte den Kopf, und seine langen, schwarzen Haare fielen, vom Zwangebefreit, auf seine Schultern herabund umrahmten sein männliches Antlitz.

Es ist das Gesicht des Herrn von Monte Christo, rief Villefort mit stieren Augen.

Auch das ist es nicht, Herr Staatsanwalt, suchen Siebesser und ferner.

Diese Stimme! Diese Stimme! Wo habe ich sie zum ersten Male gehört?

Sie haben sie zum ersten Male in Marseille gehört vor einundzwanzig Jahren, am Tage Ihrer Verlobung mit Fräulein von Saint‑Meran. Suchen Sie in Ihren Akten!

Sie sind nichtBusoni? Sie sind nicht Monte Christo? Mein Gott, Sie sind jener verborgene Todfeind! Ich habe in Marseille etwas gegen Sie getan, oh! wehe mir!

Ja, du hast recht, sagte der Graf, die Arme über seinerbreitenBrust kreuzend; suche! suche!

Aber was habe ich dir denn getan? rief Villefort, dessen Geistbereits auf der Grenze schwebte, wo sich Vernunft und Unvernunft vermengen und der Wahnsinn droht, was habe ich dir getan? Sage! Sprich!

Sie haben mich zu einem langsamen, gräßlichen Tode verurteilt, Sie haben meinen Vater getötet, Sie haben mir mit der Freiheit die Liebe und mit der Liebe das Glück geraubt!

Wer sind Sie? Mein Gott! Wer sind Sie denn?

Ichbin das Gespenst eines Unglücklichen, den Sie in dein Kerker des Schlosses Ifbegraben haben. Diesem aus seinem Grabe hervorgegangenen Gespenst hat Gott die Maske des Grafen von Monte Christo gegeben, er hat es mit Diamanten und Goldbedeckt, damit Sie es erst heute erkennen sollen.

Ah! Ich erkenne dich, ich erkenne dich! sprach der Staatsanwalt; dubist…

Ichbin Edmond Dantes!

Dubist Edmond Dantes! rief der Staatsanwalt, den Grafenbeim Handgelenke fassend, so komm.

Und er zog ihn nach der Treppe, zu der ihm Monte Christo, ohne zu wissen, wohin ihn der Staatsanwalt führte, aber eine neue Katastrophe ahnend, folgte.

Sieh, Edmond Dantes, sagte er, dem Grafen den Leichnam seiner Frau und den Körper seines Sohnes zeigend; sieh hier! Bist du gerächt?

Monte Christo erbleichtebei diesem furchtbaren Schauspiel; erbegriff, daß er die Rechte der Rache überschritten hatte; erbegriff, daß er nicht mehr sagen konnte: Gott ist für mich und mit mir.

Er warf sich mit einer Empfindung unaussprechlicher Angst auf den Körper des Kindes, öffnete seine Augen, befühlte seinen Puls und stürzte mit ihm in Valentines Zimmer, das er doppelt schloß.

Mein Kind, rief Villefort, er trägt den Leichnam meines Kindes fort! Oh! Fluch! Unglück! Tod über dich!

Und er wollte Monte Christo nachstürzen; aber er fühlte, daß seine Füße wie in einem Traume Wurzel faßten, seine Augen erweiterten sich, als wollten sie ihre Höhlen sprengen. Die Adern seiner Schläfen schwollen an.

Diese Starrheit dauerte mehrere Minuten, bis die gräßliche Umwälzung der Vernunft vollbracht war. Dann stieß er einen Schrei aus, schlug ein langes Gelächter an und stürzte nach der Treppe.

Eine Viertelstunde nachher öffnete sich das Zimmer Valentines wieder, und der Graf von Monte Christo erschien auf der Schwelle. Er warbleich, sein Auge finster, seineBrust gepreßt. Alle Züge des sonst so ruhigen Gesichtes waren vom Schmerz verstört.

Er hielt in seinen Armen das Kind, dem keine Hilfe das Leben hatte zurückgeben können.

Der Graf setzte ein Knie auf die Erde und legte den Knaben mit frommer Gebärde neben seiner Mutter so nieder, daß sein Kopf auf ihrerBrust ruhte.

Dann stand er auf, ging hinaus und fragte einenBedienten: Wo ist Herr von Villefort?

DerBediente streckte, ohne zu antworten, die Hand nach dem Garten aus. Monte Christo stieg die Treppe hinab, schritt auf denbezeichneten Ort zu und sah mitten unter seinen Dienern Villefort, der, einen Spaten in der Hand, die Erde mit einer Art von Wut durchwühlte und vor sich hinmurmelte: Es ist noch nicht hier, es ist noch nicht hier!

Monte Christo näherte sich ihm und sprach ganz leise, mitbeinahe demütigem Tone: Mein Herr, Sie haben einen Sohn verloren; doch…

Villefort unterbrach ihn; er hatte weder gehört noch gesehen. Oh! Ich werde ihn wiederfinden, sagte er; Sie mögen immerhinbehaupten, er sei nicht da, ich werde ihn wiederfinden, und müßte ichbis zum Tage des jüngsten Gerichtes suchen.

Monte Christo wich voll Schrecken zurück. Ha! er ist wahnsinnig, murmelte er. Und als hätte erbefürchtet, die Mauern des verfluchten Hauses könnten über ihm einstürzen, lief er auf die Straße, zum ersten Male zweifelnd, ober das Recht gehabt, zu tun, was er getan.


Oh! Genug, genug damit, sagte er, retten wir den letzten!

Monte Christo kam nach Hanse und traf Morel, der in dem Hotel der Champs‑Elysses umherirrte, schweigsam wie ein Schatten, der den von Gottbestimmten Augenblick, um in sein Grabzurückzukehren, erwartet.

Treffen Sie Ihre Vorkehrungen, Maximilian, sagte er, freundlich lächelnd, zu ihm, wir verlassen morgen Paris.

Haben Sie nichts mehr hier zu tun? fragte Morel.

Nein, antwortete Monte Christo, und Gott wolle, daß ich nicht zu viel getan habe.

Am andern Tage reisten sie wirklich, nur vonBaptistinbegleitet, ab. Haydee hatte Ali mitgenommen, Bertucciobliebbei Noirtier.

Die Abreise.

Diese Ereignissebeschäftigten ganz Paris. Auch Emanuel und seine Frau erzählten sie sich mit erklärlichem Erstaunen in ihrem kleinen Salon der Rue Meslay; sie stellten die drei ebenso plötzlichen wie unerwarteten Katastrophen von Morcerf, Danglars und Villefort zusammen. Maximilian, der ihnen einenBesuch machte, hörte ihnen zu.

Wie viele Unglücksfälle! sagte Emanuel, an Morcerf und Danglars denkend.

Welche Leiden! rief Julie, sich Valentines erinnernd, die sie nicht in Gegenwart ihresBruders nennen wollte.

Wenn Gott sie geschlagen hat, sagte Emanuel, so geschah es, weil Gott in der Vergangenheit dieser Leute nichts fand, was eine Milderung dieser Strafe verdiente, weil diese Leute verflucht waren.

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als das Geräusch der Glocke ertönte. Fast in demselben Augenblick öffnete sich die Tür, und der Graf von Monte Christo erschien auf der Schwelle.

Ein doppelter Freudenschrei drang aus dem Munde der jungen Leute.

Maximilian, sagte der Graf, ohne daß es schien, alsbemerke er den Eindruck, den seine Gegenwart auf seine Wirte hervorbrachte, Maximilian, ich komme, Sie zu holen.

Mich holen? fragte Maximilian, wie aus einem Traume erwachend.

Ja, ist es nicht unter uns verabredet, daß ich Sie mitnehme, und habe ich Ihnen nicht gestern gesagt, Sie möchten sichbereit halten?

Hierbin ich, sagte Maximilian, ich ging nur hierher, um Abschied zu nehmen.

Und wohin reisen Sie, Herr Graf? fragte Julie.

Zuerst nach Marseille, gnädige Frau.

Nach Marseille? wiederholten diebeiden.

Ja, und ich nehme Ihnen IhrenBruder.

Ach! Herr Graf, erwiderte Julie, geben Sie ihn uns geheilt zurück.

Morel wandte sich ab, um eine lebhafte Röte zu verbergen.

Ich werde es versuchen, versetzte der Graf.

Ichbinbereit, mein Herr, sprach Maximilian. Lebt Wohl! Gottbefohlen, Emanuel! Gottbefohlen, Julie!

Wie! Lebt wohl? rief Julie, du reisest also auf der Stelle, ohne Vorbereitung, ohne Paß?

Das sind Dinge, die den Kummer der Trennung verdoppeln, sagte Monte Christo, und ichbin fest überzeugt, Maximilian ist meiner Empfehlung gemäß, so vorsichtig gewesen, für alles zu sorgen.

Ich habe meinen Paß, und mein Koffer ist gepackt, sagte Morel.

Sehr gut, versetzte Monte Christo lächelnd, man erkennt hierin die Pünktlichkeit eines guten Soldaten.

Und Sie verlassen uns auf diese Art? sagte Julie, Sie verlassen uns aus der Stelle, Sir schenken uns nicht einen Tag, nicht eine Stunde?

Mein Wagen ist vor der Tür, gnädige Frau; ich muß in fünf Tagen in Rom sein.

Doch Maximilian geht nicht nach Rom! entgegnete Emanuel.

Ich gehe, wohin mich der Graf führt, sagte Morel mit einem traurigen Lächeln; ich gehöre ihm noch für einen ganzen Monat.

Oh! Mein Gott, wie er das sagt, Herr Graf.

Maximilianbegleitet mich, sagte der Graf mit seiner überzeugenden Freundlichkeit, beruhigen Sie sich also über IhrenBruder.

Gottbefohlen, meine Schwester! wiederholte Morel; lebe wohl, Emanuel!

Er verwundet mir das Herz mit seiner Gleichgültigkeit, sagte Julie; oh! Maximilian, du verbirgst uns etwas!

Bah! rief Monte Christo, Sie werden ihn lachend und freudig zurückkommen sehen.

Maximilian schleuderte Monte Christo einen halbverächtlichen, halbzornigenBlick zu.

Vorwärts! sagte der Graf.

Ehe Sie von uns gehen, Herr Graf, sagte Julie, erlauben Sie uns, alles das auszudrücken, was einst…

Gnädige Frau, erwiderte der Graf, siebeibeiden Händen fassend, alles, was Sie mir sagen würden, käme nicht dem gleich, was ich in Ihren Augen lese; was Ihr Herz gedacht, hat das meinige empfunden. Wie die Wohltäter in Romanen hätte ich, ohne Sie wiederzusehen, abreisen müssen; doch diese Tugend ging über meine Kräfte, weil ich ein schwacher und eitler Menschbin, weil der feuchte, freudige, zärtlicheBlick von meinesgleichen nur wohltut… Nun reise ich ab, ich treibe die Selbstsucht so weit, daß ich sage: Meine Freunde, vergeßt mich nicht, denn ihr werdet mich wahrscheinlich nie wiedersehen.

Nicht wiedersehen! rief Emanuel, während zwei schwere Tränen über Julies Wangen rollten; nicht wiedersehen?

Indem der Graf an seine Lippen die Hand Julies drückte, die sich in seine Arme stürzte, reichte er die andere Emanuel; dann entriß er sich diesem Hause, einem weichen Neste, dessen Wirt das Glück war, und zog durch ein Zeichen den seit Valentines Tode stets unempfindlichen, leidenden, in Gedanken versunkenen Maximilian nach sich.

Geben Sic meinemBruder die Freude wieder! flüsterte Julie Monte Christo zu.

Monte Christo drückte ihr die Hand, wie er sie ihr elf Jahre vorher auf der Treppe, die zu Morels Kabinett führte, gedrückt hatte.

Vertrauen Sie Simbad dem Seefahrer? fragte sie lächelnd der Graf.

Oh, ja.

Wohl! So schlafen Sie im Frieden und im Glauben an den Herrn.

Unten an der Freitreppe wartete Ali mit schweißglänzendem Gesicht; er schien von einem langen Gange zu kommen.

Nun? fragte ihn der Graf in arabischer Sprache, bist dubei dem Greise gewesen?

Ali machte einbejahendes Zeichen.

Und du hast ihm denBrief vorgelegt, wie ich dirbefohlen?

Ja, sagte ehrfurchtsvoll der Sklave.

Und was hat er gesagt oder vielmehr getan?

Ali stellte sich so unter das Licht, daß ihn sein Herr sehen konnte, und schloß, vortrefflich das Gesicht des Greises nachahmend, die Augen, wie dies Noirtier tat, wenn er ja sagen wollte.

Gut! Er nimmt es an, sagte Monte Christo; brechen wir auf!

Kaum hatte er dieses Wort entschlüpfen lassen, alsbereits der Wagen rollte und die Pferde aus dem Pflaster eine Funkenmasse springen ließen.

Maximilian legte sich in seine Ecke, ohne ein Wort zu sprechen. Es verging eine halbe Stunde: der Wagen hielt plötzlich an; der Nubier stieg abund öffnete den Schlag. Die Nacht funkelte von Sternen. Man war oben an der Anhöhe von Villedejuif, auf der Hochebene, von wo aus Paris wie ein düsteres Meer seine Millionen von Lichternbewegt, die phosphoreszierenden Wellen gleichen.

Der Grafblieballein, und auf ein Zeichen fuhr der Wagen ein paar Schritte weiter. Langebetrachtete er mit gekreuzten Armen schweigend dasBabylon zu seinen Füßen. Dann sagte er, die Hände wie zum Gebete faltend:

Große Stadt! Es sind weniger als sechs Monate, daß ich durch deine Tore eingetretenbin. Ich glaube, daß mich der Geist Gottes zu dir geführt hat, triumphierend führt er mich von dir zurück. Das Geheimnis meiner Gegenwart in deinen Mauern habe ich diesem Gotte anvertraut, der allein in meinem Herzen zu lesen vermochte; er allein weiß, daß ich mich ohne Haß und ohne Stolz, doch nicht ohneBedauern entferne! Er allein weiß, daß ich nicht meinetwegen und nicht um eitler Ursache willen von der Macht, die er mir anvertraut, Gebrauch gemacht habe. Oh, große Stadt! In deinem zitternden Schoße habe ich gefunden, was ich suchte; ein geduldiger Gräber, durchwühlte ich deine Eingeweide, um dasBöse daraus hervorzutreiben; nun ist mein Werk erfüllt, meine Sendungbeendigt; nun kannst du mir weder Freude, noch Schmerzen mehrbieten, Gottbefohlen, Paris!

SeinBlick schwebte noch einmal wie der eines nächtlichen Geistes über die Ebene hin. Dann fuhr er mit der Hand nach der Stirn, stieg wieder in seinen Wagen, derbald auf der andern Seite der Anhöhe in einem Wirbel von Staubverschwand.

Das Haus in den Allées de Meillan.

Sie legten zehn Stunden zurück, ohne ein Wort zu sprechen, Morel träumte, Monte Christo schaute den Träumer an.

Morel, sagte der Graf endlich zu ihm, sollten Siebereuen, daß Sie mir gefolgt sind?

Nein, Herr Graf, doch Paris verlassen…

Hätte ich geglaubt, das Glück erwarte Sie in Paris, so würde ich Sie dort gelassen haben.

In Paris ruht Valentine, und von Paris scheiden heißt sie zum zweiten Male verlieren.

Maximilian, sagte der Graf, Freunde, welche wir verloren haben, ruhen nicht in der Erde; sie sind in unserem Herzenbegraben, und Gott hat es so gewollt, damit wir sie stetsbei uns haben können. Ich habe zwei Freunde, die mich auf diese Artbeständigbegleiten: der eine ist der, welcher mir das Leben, der andere der, welcher mir den Verstand gegeben hat. Der Geistbeider lebt in mir. Ichbefrage sie im Zweifel, und wenn ich etwas Gutes tat, so habe ich es ihren Ratschlägen zu verdanken. Beraten Sie sich mit der Stimme Ihres Herzens, Morel, und fragen Sie, obSie mir fortwährend diesesböse Gesicht machen sollen.

Mein Freund, sagte Morel, die Stimme meines Herzens ist sehr traurig und verheißt mir nur Unglück.

Es ist das Eigentümliche geschwächter Geister, daß sie alle Dinge nur durch einen schwarzen Flor sehen. Die Seelebildet sich selbst ihren Horizont; Ihre Seele ist düster, und sie läßt Ihnen den Himmel stürmisch erscheinen.

Das mag wahr sein, sagte Maximilian und verfiel wieder in seine Träumerei.

Die Reise ging mit wunderbarer Schnelligkeit vor sich, die Städte zogen wie Schatten auf ihrem Wege vorüber. Am andern Morgen kamen sie in Chalons an, wo sie das Dampfboot des Grafen erwartete. Ohne einen Augenblick zu verlieren, wurde der Wagen anBord gebracht, nachdem diebeiden Reisenden selbst eingeschifft waren.

Was den Grafenbetrifft, so schien ihn, je mehr er sich von Paris entfernte, eine um so größere Heiterkeit wie eine Glorie zu umgeben; es war, als kehre ein Verbannter in sein Vaterland zurück.

Marseille, das weiße, warme, lebendige Marseille, die jüngere Schwester von Tyrus und Karthago, die ihnen in der Herrschaft auf dem mittelländischen Meere folgte, Marseille, das immer jünger wird, je mehr es altert, erschienbald vor ihren Augen. Dieser runde Turm, dieses Fort Saint‑Nicolas, das Stadthaus, der Hafen mit den Kais vonBacksteinen, wobeide als Kinder gespielt hatten, boten den Reisenden einen erinnerungsreichen Anblick.

Auf der Cannébièreblieben sie stehen.

Ein Schiff ging nach Algier ab. Das geschäftige Handhaben der Warenballen, die auf dem Verdecke sich drängenden Passagiere, die Menge der Verwandten, der Freunde, die hier Abschied nahmen, weinten und schrieen; alle diese lärmenden Szenen vermochten Maximilian einem Gedanken nicht zu entreißen, der ihn ergriff, sobald er den Fuß auf diebreiten Platten des Kais setzte. Sehen Sie, sagte er, Monte Christo am Arme fassend, dies ist der Ort, wo mein Vater stand, als der Pharao in den Hafen einlief. Hier warf sich derbrave Mann, den Sie vom Tode und von der Schande erretteten, in meine Arme; ich fühle noch seine Tränen auf meinem Antlitz, und er weinte nicht allein, sondern es weinten noch viele Leute, die uns sahen.

Monte Christo lächelte und sagte, auf eine Straßenecke deutend: Ich war dort.

Als er dies sagte, hörte man in der von ihm angegebenen Richtung ein schmerzliches Seufzen, und man sah eine Frau, die einem Passagier des abgehenden Schiffes Zeichen machte. Der Anblick dieser Frau, die verschleiert war, brachtebei Monte Christo eine Erschütterung hervor, die Morel leicht wahrgenommen hätte, wären seine Augen nicht ans das Schiff geheftet gewesen.

Oh mein Gott! rief Morel, ich täusche mich nicht! jener junge Mann mit den Epauletten des Unterleutnants ist Albert von Morcerf!

Ja, sagte Monte Christo, ich habe ihn erkannt.

Wie kann dies sein? Sie schauten auf die entgegengesetzte Seite.

Der Graf lächelte, wie er es machte, wenn er nicht antworten wollte, wobei seine Augen zu der verschleierten Frau zurückkehrten, die an der Straßenecke verschwand. Dann wandte er sich um und sagte zu Maximilian: Lieber Freund, haben Sie nichts in dieser Gegend zu tun?

Ich habe auf dem Grabe meines Vaters zu weinen, antwortete Morel mit dumpfem Tone.

Es ist gut, gehen Sie, und erwarten Sie mich dort, ich werde Sie abholen.

Sie verlassen mich?

Ja… ich habe auch eine Pflicht zu erfüllen.

Monte Christo ließ Maximilian weggehen undbliebauf derselben Stelle, bis er verschwunden war; dann erst wanderte er nach den Allées de Meillan, um das kleine Haus auszusuchen, das unsere Leser am Anfange dieser Geschichte kennen gelernt haben.

Es erhobsich noch im Schatten der großen Lindenallee, die den müßigen Marseillern als Spaziergang dient, und im Schmucke der großen Vorhänge von Weinreben, die auf dem von der glühenden Sonne des Südens vergilbten Gesteine ihre geschwärzten und gezackten Arme kreuzten.

In dieses trotz seines Alters reizende, trotz seiner Ärmlichkeit heitere Haus, das einst Dantes' Vaterbewohnte, trat die Frau mit dem langen Schleier, die Monte Christo von dem abgehenden Schiffe sich entfernen sah.

Für den Grafen waren die ausgetretenen Stufen vor der Tür alteBekannte; er verstand esbesser als irgend jemand, diese Tür zu öffnen, deren innere Klinke ein Nagel mitbreitem Kopfe hob.

Er trat auch ein, ohne zu klopfen, ohne sich melden zu lassen, wie ein Freund, wie ein Gast.

Am Ende eines mitBacksteinen gepflasterten Ganges öffnete sich, reich an Wärme, an Sonne und an Licht, ein kleiner Garten, derselbe, wo an dembezeichneten Orte Mercedes die Summe gefunden hatte, deren Verwahrung der Graf aus Zartgefühl um vierundzwanzig Jahre zurückdatierte. Von der Schwelle der Haustür erblickte man die erstenBäume des Gartens.

Schon auf der Schwelle hörte Monte Christo ein Seufzen, das einem Schluchzen glich. Dieses Seufzen leitete seinenBlick, und unter einer Laube von dichtemBlätterwerk sah er Mercedes mit gesenktem Kopfe und weinend auf einerBank sitzen.

Monte Christo machte einige Schritte, der Sand knisterte unter seinen Füßen.

Mercedes hobdas Haupt und stieß einen Schrei des Schreckens aus, als sie einen Mann vor sich sah.

Gnädige Frau, sagte der Graf, es liegt nicht mehr in meiner Gewalt, Ihnen das Glück zubringen; doch ichbiete Ihnen den Trost; wollen Sie ihn als von einem Freunde kommend annehmen?

Ich bin in der Tat sehr unglücklich, erwiderte Mercedes; allein auf der Welt… Ichbesaß nur meinen Sohn, und er hat mich verlassen.

Und er hat wohl daran getan, gnädige Frau, Ihr Sohn ist ein edles Herz, versetzte der Graf. Er hatbegriffen, daß jeder Mensch dem Vaterlande einen Tribut schuldig ist, die einen ihre Talente, die andern ihren Gewerbefleiß; diese ihren Schweiß, jene ihrBlut. Wäre erbei Ihnen geblieben, so würde er ein unnützes Leben in Schwermut hingebracht haben. Im Kampfe gegen sein Mißgeschick, das er sicherlich in Glück verwandelt, wird er groß und stark werden. Lassen Sie ihn für Siebeide eine neue Zukunft schaffen; ich wage Ihnen zu versprechen, daß sie in sicheren Händen ist.

Oh! dieses Glück, sagte die arme Frau, traurig den Kopf schüttelnd, dieses Glück, das ich Gott aus dem Grunde meines Herzensbitte ihm zu gewähren, werde ich nicht genießen. Es ist so vieles in mir und um mich her in Trümmer gegangen, daß ich mich meinem Grabe nahe fühle. Sie haben wohl daran getan, Herr Graf, mich an einen Ort zu versetzen, wo ich so glücklich gewesenbin. Da, wo man glücklich gewesen ist, muß man sterben.

Ach! Alle Ihre Worte, gnädige Frau, fallenbitter undbrennend auf mein Herz, um sobitterer und um sobrennender, als Sie recht haben, wenn Sie mich hassen; ich habe Ihr ganzes Unglück verursacht. Warum werfen Sie mir meine Schuld nicht vor, warum klagen Sie mich nicht an?

Sie hassen, Sie anschuldigen! Sie, Edmond… den Mann, der meinem Sohne das Leben gerettet hat, hassen, anschuldigen! Denn nicht wahr, es ist Ihre unselige, blutige Absicht gewesen, Herrn von Morcerf den Sohn zu töten, auf den er so stolz war? Oh! Schauen Sie mich an, und Sie werden sehen, oban mir auch nur ein Schein von Vorwurf wahrzunehmen ist.

Der Graf schlug seine Augen auf undbetrachtete Mercedes, die, sich halbaufrichtend, ihre Hände gegen ihn ausstreckte.

Oh! Schauen Sie mich an, fuhr sie mit einem Gefühle tiefer Schwermut fort; man kann den Glanz meiner Augen heute ertragen, die Zeit ist vorüber, wo ich Edmond Dantes zulächelte, der mich dort an dem Fenster jener von seinem alten Vaterbewohnten Mansarde erwartete… Seit damals sind viele schmerzliche Tage vergangen und haben einen Abgrund zwischen mir und jener Zeit gegraben. Sie anklagen, Edmond, Sie hassen, mein Freund, nein! Mich klage ich an, mich hasse ich! Oh! Ich Elende! rief sie, die Hände faltend und die Augen zum Himmel aufschlagend. Wiebin ichbestraft worden!.. Ich hatte die Religion, die Unschuld, die Liebe, dieses dreifache Glück, das die Engelbildet, und ich Elende zweifelte an Gott.

Monte Christo ging einen Schritt auf sie zu und reichte ihr schweigend die Hand.

Nein, sagte sie, sacht die ihrige zurückziehend, nein, mein Freund, berühren Sie mich nicht. Sie haben mich verschont, und dennoch war ich von allen, die Sie geschlagen haben, die Schuldigste. Alle haben aus Haß, aus Habgier, aus Selbstsucht gehandelt, ich handelte aus Feigheit; sie wurden vonBegierden getrieben, und mich triebdie Furcht. Nein, drücken Sie meine Hand nicht, Edmond. Sie sinnen auf ein liebevolles Wort, ich fühle dies; sagen Sie es nicht, behalten Sie es für eine andere, ichbin dessen nicht würdig. Sehen Sie… das Unglück hat meine Haare grau gemacht; meine Augen haben so viele Tränen vergossen, daß sie vonblauen Adern umzogen sind; meine Stirn runzelt sich. Sie, Edmond, sind im Gegenteil immer jung, immer schön, immer stolz. Das kommt davon her, daß Sie den Glauben, daß Sie die Kraft gehabt haben, daß Sie auf Gottbauten, daß Gott Sie unterstützte. Ichbin feig gewesen, ich habe Gott verleugnet, Gott hat mich verlassen, und sobin ich nur noch eine Ruine.

Mercedes zerfloß in Tränen; das Herz der Fraubrach unter dem gewaltigen Stoße der Erinnerungen.

Monte Christo nahm ihre Hand und küßte sie ehrfurchtsvoll; aber sie fühlte selbst, daß dieser Kuß ohne Glut war, wie der, den der Graf auf die marmorne Hand derBildsäule einer Heiligen gedrückt hätte.

Es gibt von vornherein verdammte Wesen, fuhr sie fort, Wesen, deren ganze Zukunft ein erster Fehler zertrümmert. Ich hielt Sie für tot und hätte sterben sollen; denn wozu nutzte es, die Trauer um Sie ewig im Herzen zu tragen? Nur dazu, aus einer Frau von neununddreißig Jahren eine Frau von fünfzig zu machen. Wozu hat es genutzt, daß ich Sie allein unter allen erkannte und so meinen Sohn retten konnte? Mußte ich nicht den Mann, den ich als Gatten angenommen, so schuldig er auch war, ebenfalls retten? Doch ich ließ ihn sterben; mein Gott! Was sage ich, ich trug durch meine feige Unempfindlichkeit, durch meine Verachtung zu seinem Todebei, indem ich mich nicht erinnerte, nicht erinnern wollte, daß er sich meinetwegen zum Verräter und Meineidigen gemacht hatte! Wozu nutzt es endlich, daß ich meinen Sohnbis hierherbegleitet habe, da ich mich hier von ihm trenne, da ich ihn allein abreisen lasse, da ich ihn dem verzehrendenBoden Afrikas preisgebe! Oh! Ichbin feig gewesen, sage ich Ihnen, ich habe meine Liebe verleugnet undbringe allem, was mich umgibt, Unglück.

Nein, Mercedes, sagte Monte Christo, nein! Fassen Sie einebessere Meinung von sich selbst. Nein, Sie sind eine edle, fromme Frau und haben mich durch Ihren Schmerz entwaffnet; doch unsichtbar war hinter mir ein Gott, in dessen Auftrag ich handelte, und der denBlitz, den ich geschleudert hatte, nicht zurückhalten wollte. Oh! Ichbeschwöre diesen Gott, zu dessen Füßen ich mich seit zehn Jahren jeden Tag niederwerfe, ich rufe diesen Gott zum Zeugen an, daß ich Ihnen dieses Leben und mit diesem Leben die Pläne, die damit verbunden waren, zum Opfer gebracht hatte. Doch ich sage es mit Stolz, Mercedes, Gottbedurfte meiner, und ich starbnicht. Prüfen Sie die Vergangenheit, prüfen Sie die Gegenwart, suchen Sie die Zukunft zu erraten, und sehen Sie, obich nicht das Werkzeug des Herrnbin. Das gräßlichste Unglück, die grausamsten Leiden, der Abfall aller derer, die mich liebten, die Verfolgung der Menschen, die mich nicht kannten, das war der Inhalt des ersten Abschnittes meines Lebens. Dann plötzlich, nach der Gefangenschaft, nach der Einsamkeit, nach dem Elend die Luft, die Freiheit, ein so glänzendes, so wunderbares, so maßloses Glück, daß ich, ohneblind zu sein, denken mußte, Gott habe es mir mit großen Absichten geschickt. Von da an erschien mir dieses Glück als ein Priestertum; von da an hatte kein Gedanke mehr für dieses Leben, dessen Süßigkeit Sie, arme Frau, zuweilen genossen haben, in mir Raum; keine Stunde der Ruhe, nicht eine einzige, gabes mehr für mich. Ich fühlte mich fortgetrieben, wie die feurige Wolke, die am Himmel hinzieht, um die verfluchten Städte in Asche zu legen. Früher gut, vertrauensvoll, nachsichtig, machte ich mich rachsüchtig, heuchlerisch, böse, oder vielmehr unempfindlich, wie das taube undblinde Verhängnis. Dannbetrat und durchschritt ich den Pfad, der sich vor mir geöffnet hatte, ichberührte das Ziel; wehe denen, die ich auf meinem Wege traf!

Genug! sagte Mercedes, genug, Edmond! Glauben Sie mir, daß die, welche Sie allein zu erkennen vermochte, auch allein Sie verstehen konnte. Edmond, hätten Sie die, welche Sie zu erkennen, zubegreifen vermochte, auf Ihrem Wege getroffen, und wie ein Glas zerbrochen, sie hätte Siebewundern müssen, Edmond! Wie eine Kluft zwischen mir und der Vergangenheitbefestigt ist, sobesteht auch eine Kluft zwischen Ihnen und den andern Menschen, und meine schmerzlichste Qual, ich sage es Ihnen, ist es zu vergleichen; denn es gibt nichts auf der Welt, was Ihnen an Wert gleichkommt, nichts, was Ihnen ähnlich ist. Nun, sagen Sie mir Lebewohl, Edmond, und trennen wir uns!

Ehe ich Sie verlasse, was wünschen Sie, Mercedes?

Ich wünsche nur eines, Edmond, daß mein Sohn glücklich werde.

Bitten Sie den Herrn, der allein das Dasein der Menschen in seinen Händen hält, er möge den Tod von ihm fernhalten, das übrige sei meine Sorge.

Ich danke, Edmond.

Doch Sie, Mercedes?

Ichbrauche nichts, ich lebe zwischen zwei Gräbern; das eine ist das von Edmond Dantes, der vor langer Zeit gestorben; ich liebte ihn! Dieses Wort paßt nicht mehr zu meiner verwelkten Lippe, doch mein Herz erinnert sich noch dessen, und um keinen Preis der Welt möchte ich dieses Andenken meines Herzens verlieren. Das andere ist das eines Menschen, den Edmond Dantes getötet hat; ichbillige die Tat, aber ich muß für den Totenbeten.

Ihr Sohn wird glücklich werden, wiederholte der Graf.

Dann werde ich so glücklich sein, wie ich sein kann.

Doch was gedenken Sie… am Ende… zu tun?

Mercedes lächelte traurig.

Wollte ich Ihnen sagen, ich werde in dieser Gegend leben, wie die Mercedes von ehemals, das heißt arbeiten, so würden Sie mir nicht glauben; ich vermag nur noch zubeten, doch ichbedarf der Arbeit nicht. Der von Ihnen vergrabene kleine Schatz hat sich an dembezeichneten Orte gefunden; man wird forschen, wer ichbin, man wird fragen, was ich mache, man wird nicht wissen, wovon ich lebe; was liegt daran? Das ist eine Angelegenheit zwischen Gott, Ihnen und mir.

Mercedes, sagte der Graf, ich mache Ihnen keinen Vorwurf, doch Sie haben das Opfer übertrieben, indem Sie das ganze von Herrn von Morcerf angehäufte Vermögen Fremden überließen, während die Hälfte von Rechtswegen Ihrer Sparsamkeit und Wachsamkeit zukam.

Ich sehe, was Sie mir vorschlagen wollen, doch ich kann es nicht annehmen, mein Sohn würde es mir verbieten.

Ich werde mich auch wohl hüten, etwas für Sie zu tun, was nicht dieBilligung des Herrn Albert von Morcerf hätte. Ich werde seine Ansichten erforschen und mich denselben unterwerfen. Doch wollen Sie, wenn er das, was ich tun will, annimmt, selbst nicht widerstreben?

Sie wissen, Edmond, daß ich kein denkendes Geschöpf mehrbin; ich habe keine Entschließung, wenn nicht die, mich nie mehr zu entschließen. Gott schüttelte mich so in seinen Stürmen, daß ich den Willen verloren habe. Ichbin wie ein Sperling in den Klauen des Adlers. Gott will nicht, daß ich sterbe, da ich lebe. Schickt er mir Hilfe, so wird er dies wollen, und ich werde sie annehmen.

Seien Sie auf Ihrer Hut, gnädige Frau, sagte Monte Christo, sobetet man Gott nicht an! Gott will, daß man ihn verstehe und sich seine Macht klar mache; deshalbhat er uns den freien Willen gegeben.

Unglücklicher! rief Mercedes, sprechen Sie nicht so zu mir. Wenn ich glaubte, Gott habe mir den freien Willen gegeben, wasbliebe mir, um mich vor Verzweiflung zu retten?

Monte Christo erbleichte leicht und neigte das Haupt, niedergebeugt durch die Heftigkeit dieses Schmerzes.

Wollen Sie mir nicht sagen: Auf Wiedersehen? sprach er, ihr die Hand reichend.

Oh ja, ich sage Ihnen Lebewohl auf Wiedersehen undbeweise damit, daß ich noch hoffe, antwortete Mercedes, feierlich auf den Himmel deutend, und nachdem sie die Handberührt, stürzte sie nach der Treppe und verschwand aus seinen Augen.

Monte Christo verließ langsam das Haus und schlug den Weg nach dem Hafen ein.

Doch Mercedes sah nicht, wie er sich entfernte, obgleich sie in dein kleinen Zimmer von Dantes' Vater am Fenster stand. Ihre Augen suchten in der Ferne das Schiff, das ihren Sohn nach dem weiten Meere forttrug, wenn auch ihre Stimme gleichsam unwillkürlich murmelte: Edmond! Edmond! Edmond!

Die Vergangenheit.

Der Graf ging mit wundem Herzen aus dem Hause, wo er Mercedes zurückließ, um sie aller Wahrscheinlichkeit nach nie mehr zu sehen.

Seit dem Tode des kleinen Eduard war eine gewaltige Veränderung in Monte Christo vorgegangen. Auf dem Gipfel seiner Rache angelangt, zu dem er auf einem steilen und gekrümmten Pfade aufgestiegen war, hatte er auf der anderen Seite desBerges den Abgrund des Zweifels erblickt, und das Gespräch, das soeben zwischen ihm und Mercedes stattgefunden, hatte sein Herz übermäßig erschüttert.

Ein Mann von dem mächtigen Geiste des Grafen konnte aber nicht lange in dieser Schwermut schweben, die erhabene Seelen tötet. Ichbetrachte die Vergangenheit in einem falschen Lichte, sagte erbei sich, ich kann mich nicht so sehr getäuscht haben. Wie! der Zweck, den ich mir vorgesetzt hatte, wäre ein unsinniger Zweck gewesen! Wie! Ich hätte seit zehn Jahren einen falschen Weg verfolgt! Wie! Eine Stunde hätte genügt, um dem Architekten zubeweisen, das Werk aller seiner Hoffnungen sei ein, wenn nicht unmögliches, doch gotteslästerliches Werk!

Ich will mich an diesen Gedanken nicht gewöhnen, er würde mich verrückt machen. Was meinem Urteile von heute fehlt, ist die rechte Würdigung der Vergangenheit, weil ich diese Vergangenheit vom andern Ende des Horizonts ansehe. In der Tat, je mehr man fortschreitet, desto mehr verschwindet die Vergangenheit nach dem Maßstabe der Entfernung, der Landschaft ähnlich, die man durchwandert. Esbegegnet mir, was den Leutenbegegnet, die sich im Traume verwundet haben; sie sehen und fühlen ihre Wunde und erinnern sich nicht, sie erhalten zu haben.

Vorwärts, du Wiedergeborener! Vorwärts, du unermeßlich Reicher! Vorwärts, du allmächtiger Seher! Fasse noch einmal die traurige Perspektive deines elenden, hungrigen Lebens ins Auge, durchwandere wieder die Wege, auf die dich das Verhängnis gestoßen und das Unglück geführt, wo die Verzweiflung dich gepackt hat! Es strahlen heute zu viel Diamanten, zu viel Gold, zu viel Glück auf den Gläsern des Spiegels, worin Monte Christo Dantesbetrachtet; verbirg diese Diamanten, vertilge diese Strahlen! Reicher, suche den Armen auf; Freier, suche den Gefangenen auf; Wiedererweckter, suche den Leichnam auf!

Während Monte Christo so mit sich sprach, folgte er der Rue de la Caisserie. Es war die Straße, durch die ihn vierundzwanzig Jahre vorher eine schweigsame, nächtliche Wache geführt hatte.

Er ging ans dem Kai hinabdurch die Rue Saint‑Laurent und wanderte nach der Consigne; das war der Punkt des Hafens, wo man ihn damals eingeschifft hatte. Ein zu Lustfahrten dienendes Schiff kam vorüber; Monte Christo rief dem Patron, der sogleich mit Eifer auf ihn zufuhr.

Das Wetter war herrlich und die Fahrt ein Fest. Am Horizont stieg die Sonne rot und flammend in die Wellen hinab. In der Ferne sah man, weiß und anmutig wie tauchende Möwen, die Fischerbarken, die sich nach den Martiguesbegaben, und die nach Korsika oder Spanien segelnden Schiffe hinziehen.

Trotz dieses schönen Himmels, trotz dieserBarken, trotz des goldenen Lichtes, das die Landschaft übergoß, erinnerte sich der Graf, in seinen Mantel gehüllt, hintereinander all der einzelnen Umstände dieser furchtbaren Fahrt. Das einzige Licht, dasbei den Kataloniernbrannte, der Anblick des Kastells If, der ihnbelehrte, wohin er geführt wurde; der Kampf mit den Gendarmen, als er sich ins Meer stürzen wollte; seine Verzweiflung, da er sichbesiegt sah, und die kalte Empfindung des Karabinerlaufes, der sich wie ein eiserner Ring an seine Schläfe drückte: dies alles trat lebhaft vor sein Gedächtnis.

Da fühlte er allmählich wieder die alte Galle sich regen, die einst Edmond Dantes' Herz überströmt hatte. Für ihn gabes von nun an keinen schönen Himmel, keine anmutigenBarken, kein glühendes Licht mehr; der Himmel umzog sich mit einem Trauerflor, und die Erscheinung des schwarzen Riesen, den man das Kastell If nennt, ließ ihnbeben, als obplötzlich das Gespenst eines Todfeindes vor ihn getreten wäre.

Man kam an Ort und Stelle. Unwillkürlich wich der Grafbis an das Ende derBarke zurück. Der Patron mochte immerhin mit seinem freundlichsten Tone sagen: Wir landen, mein Herr.

Monte Christo erinnerte sich, daß er auf derselben Stelle, auf demselben Felsen von den Wachen fortgeschleppt worden war, daß man ihn, mit der Spitze einesBajonettes in seine Seite stechend, diese jähe Treppe hinaufzusteigen genötigt hatte.

Der Weg war Dantes sehr lang vorgekommen; Monte Christo hatte ihn sehr kurz gefunden; jeder Ruderschlag ließ mit dem feuchten Meeresstaube eine Million Gedanken und Erinnerungen emporspringen.

Seit der Julirevolution gabes keine Gefangenen mehr im Kastell If, Obgleich er dies wußte, überzog die Stirn des Grafen, als er unter das Gewölbe trat und die schwarze Treppe hinabstieg, doch eine kalteBlässe und eisiger Schweiß. Er erkundigte sich, obnoch irgend ein Gefangenwärter aus der Zeit der Restauration vorhanden sei. Alle waren entlassen oder hatten andere Ämter erhalten. Der Hausmeister, der ihm das Kastell zeigte, war erst seit 1830 da.

Man führte ihn in seinen eigenen Kerker. Er sah wieder dasbleiche Licht durch das enge Luftloch dringen, er sah den Platz, wo einst seinBett stand, und erkannte hinter demBette an den neueren Steinen noch die vom Abbé Faria gemachte Öffnung.

Monte Christo fühlte, wie seineBeine wankten; er nahm einen hölzernen Schemel und setzte sich darauf.

Erzählt man auch noch andere Geschichten von dem Kastell, außer der von Mirabeaus Einkerkerung? fragte der Graf; gibt es irgend einebesondere Überlieferung über diese finsteren Kerker?

Ja, mein Herr, antwortete der Hausmeister, und gerade von diesem Kerker hat mir der Gefangenwärter Antoine eine Geschichte mitgeteilt.

Monte Christobebte. Der Gefangenwärter Antoine war sein Gefangenwärter gewesen. Er hatte seinen Namen und sein Gesichtbeinahe vergessen; doch jetzt sah er ihn wieder vor sich mit seinem dickenBarte, seinembraunen Wams und seinem Schlüsselbund, dessen Klirren er noch zu hören wähnte. Soll ich dem Herrn die Geschichte erzählen?

Ja, sprechen Sie! Und erschrocken darüber, daß er seine eigene Geschichte erzählen hören sollte legte er die Hand auf seineBrust, um ein heftiges Schlagen des Herzens zurückzudrängen.

Dieser Kerker, sagte der Hausmeister, war vor langer Zeit von einem sehr gefährlichen Menschenbewohnt, der um so gefährlicher war, weil er große Gewandtheit und Schlauheitbesaß. Gleichzeitig mit ihmbewohnte ein anderer Mensch das Kastell; dieser war nichtbösartig, sondern nur ein armer, närrischer Priester.

Ah! Worinbestand seine Narrheit?

Erbot Millionen, wenn man ihn frei ließe.

Monte Christo schlug die Augen zum Himmel auf, doch er sah den Himmel nicht; es war ein steinerner Schleier zwischen ihm und dem Firmament. Erbedachte, daß ein nicht minder dichter Schleier zwischen den Augen derer, denen der Abbé seine Schätzebot und diesen Schätzen selbst gewesen war.

Konnten sich die Gefangenen sehen?

Oh nein, mein Herr, das war ausdrücklich verboten; doch sie vereitelten das Verbot, indem sie eine Galerie von einem Kerker zum andern aushöhlten.

Wer vonbeiden machte die Galerie?

Sicher der junge Mann, denn er war erfinderisch und stark, der alte Abbé aber alt und schwach; überdies war sein Geist zu sehr zerrüttet, als daß er einen Gedanken hätte verfolgen können.

DieBlinden! murmelte Monte Christo.

So viel ist gewiß, fuhr der Hausmeister fort, der junge Mann höhlte eine Galerie aus; womit? Das weiß man nicht; aber er höhlte sie aus, und zumBeweise dient, daß man noch die Spur davon sieht. Sehen Sie!

Und er hielt die Fackel an die Wand.

Ah! ja, in der Tat, sagte Monte Christo mit erschütterter Stimme.

Daraus ging hervor, daß die Gefangenen miteinander in Verbindung standen. Wie lange diese Verbindung dauerte, weiß man nicht. Eines Tages wurde nun der alte Gefangene krank und starb. Können Sie sich denken, was der junge tat? fragte der Hausmeister, sich unterbrechend.

Nun?

Er trug den Gestorbenen fort, legte ihn mit der Nase gegen die Wand in sein eigenesBett, kehrte in den leeren Kerker zurück, verstopfte das Loch und schlüpfte in den Sack des Toten. Haben Sie je dergleichen gehört?

Monte Christo schloß die Augen und empfand wieder alle Eindrücke, die er gehabt, als ihm die grobe Leinwand, die noch die Kälte des Leichnams an sich hatte, das Gesicht streifte.

Der Hausmeister fuhrt fort: Hören Sie, was sein Plan war: Er glaubte, manbegrabe die Toten im Kastell If, und so dachte er, die Erde mit seinen Schultern aufzuheben; doch zu seinem Unglück herrschte im Kastell If ein anderer Gebrauch; manband dem Toten eine Kugel an die Füße, um sie ins Meer zu schleudern, was auch diesmal geschah. Der tollkühne Mensch wurde oben von der Galerie ins Wasser geworfen. Am andern Tage fand man den wahren Toten in seinemBett, und man erriet alles, denn die Totengräber sagten nun, was siebis dahin nicht zu sagen gewagt hatten, sie hätten in dem Augenblick, wo sie den Körper in die Luft geschlendert, einen furchtbaren Schrei gehört, der auf der Stelle vom Wasser, in dem der Sack verschwand, erstickt worden sei.

Der Graf atmete schmerzlich, der Schweiß lies ihm von der Stirn, dieBangigkeit schnürte ihm das Herz zusammen.

Nein! murmelte er, nein! Der Zweifel, der sich in mir regte, war ein Anfang des Vergessens; doch hier höhlt sich das Herz abermals aus und wird wieder hungrig nach Rache. Und der Gefangene? fragte er, er war verschwunden, man hat nie etwas von ihm gehört?

Nie, gar nie; Siebegreifen, es sind nur zwei Fälle möglich; entweder ist er platt gefallen, und da er fünfzig Fuß hinabstürzte, so wird er auf der Stelle tot gewesen sein.

Sie sagten, man habe ihm eine Kugel an die Füße gebunden, folglich wird er senkrecht gefallen sein.

Oder er ist senkrecht gefallen, fuhr der Hausmeister fort, dann hat ihn die Kugel auf den Grund hinabgezogen, wo der arme Mensch geblieben ist.

Siebeklagen ihn?

Meiner Treu, ja! Obgleich er in seinem Elemente war.

Was wollen Sie damit sagen?

Es ging das Gerücht, dieser Unglückliche sei seiner Zeit Marineoffizier gewesen und als eifrigerBonapartist gefangen gehalten worden. — Will der Herr seinenBesuch fortsetzen? fragte der Hausmeister.

Ja, besonders wenn Sie mir das Zimmer des armen Abbés zeigen wollen.

Ah! der Nummer 27? Ja, der Nummer 27, wiederholte Monte Christo.

Und es kam ihm vor, als höre er noch die Stimme Farias, wie dieser ihm die Nummer durch die Mauer zurief.

Folgen Sie mir!

Warten Sie, sagte Monte Christo, lassen Sie mich einen letztenBlick auf alle Teile dieses Kerkers werfen.

Das ist mir lieb, versetzte der Führer, ich habe den Schlüssel des andern vergessen. — Holen Sie ihn. — Ich lasse die Fackel hier zurück. — Nein, nehmen Sie die Fackel mit.

Doch Sie haben dann kein Licht. — Ich sehe in der Nacht. — Gerade wie er. — Welcher er?

Der Nummer 34, der hier gehaust hat. Man sagte, er habe sich so an die Dunkelheit gewöhnt, daß er eine Nadel im finsteren Winkel seines Kerkers hätte sehen können.

Der Führer entfernte sich mit der Fackel.

Der Graf hatte wahr gesprochen; kaum war er ein paar Minuten in der Finsternis, als er alles wie am hellen Tage unterschied.

Ja, sagte er, dies ist der Stein, auf dem ich saß! Dies ist die Spur meiner Schultern, die ihren Eindruck in der Mauer zurückließen! Dies ist die Spur desBlutes, das von meiner Stirn floß, als ich mir eines Tages den Schädel an der Wand zerschmettern wollte!.. Oh! diese Zahlen… ich erinnere mich ihrer… ich machte sie eines Tages, als ich das Alter meines Vatersberechnete, um zu wissen, obich ihn lebendig wiederfinden würde, und Mercedes' Alter, um zu wissen, obich sie frei wiedersehen würde. Ich hatte einen Augenblick Hoffnung, nachdem ich dieBerechnung gemacht… Ich rechnete ohne den Hunger und ohne die Untreue!

Und einbitteres Lachen entströmte dem Munde des Grafen.

Auf der andern Wand traf seinenBlick eine Inschrift, die sich noch weiß auf der grünlichen Wand hervorhob: Mein Gott, erhalte mir das Gedächtnis. Oh! ja, rief der Graf, das war das einzige Gebet meiner letzten Zeit; ich verlangte nicht die Freiheit, ich verlangte das Gedächtnis, ichbefürchtete, ein Narr zu werden und zu vergessen; mein Gott, du hast mir das Gedächtnis erhalten, und ich habe mich erinnert. Dank, Dank, mein Gott!

In diesem Augenblick spiegelte sich das Licht der Fackel auf den Wänden. Der Führer stieg herab, und ohne daß man nötig hatte, wieder an den Tag hinaufzusteigen, ließ er Monte Christo durch ein unterirdisches Gewölbe wandern, das zu einem andern Eingang führte.

Auch hier wurde Monte Christo von einer Welt voll Gedanken ergriffen. Vor allem fiel ihm der an der Wand gezogene Meridian in die Augen, mit dessen Hilfe der Abbé Faria die Stunden zählte; dann sah er die Überreste desBettes, auf dem der arme Gefangene gestorben war.

Statt derBeklemmung, die der Graf in seinem Kerker empfunden hatte, erfüllte sein Herzbei diesem Anblick ein zärtliches Gefühl, ein Gefühl der Dankbarkeit, und zwei Tränen rollten aus seinen Augen hervor.

Hier, sagte der Führer, war der verrückte Abbé; durch dieses Loch kam der junge Mensch zu ihm, und er zeigte Monte Christo die Öffnung der Galerie, die man auf dieser Seite nicht verstopft hatte. An der Farbe des Steines, fuhr er fort, erkannte ein Gelehrter, daß die zwei Gefangenen ungefähr zehn Jahre miteinander in Verbindung gestanden haben. Die armen Leute müssen sich während dieser zehn Jahre viel gelangweilt haben.

Dantes nahm ein paar Louisd'or aus seiner Tasche und reichte sie dem Manne, der ihn zum zweiten Malebeklagte, ohne ihn zu kennen.

Der Hausmeister nahm sie, im Glauben, er erhalte Silbermünzen, dochbeim Scheine der Fackel erkannte er den Wert der Summe, die ihm der Fremde gab.

Mein Herr, sagte er zu ihm, Sie haben sich getäuscht.

Wieso? — Sie haben mir Gold gegeben. — Ich weiß es wohl. — Und ich kann es mit gutem Gewissenbehalten? — Ja.

Der Hausmeister schaute Monte Christo mit Erstaunen an.

Ehrlichkeit! murmelte der Graf wie Hamlet.

Mein Herr, sagte der Hausmeister, der nicht an sein Glück zu glauben wagte, mein Herr, ichbegreife Ihre Großmut nicht.

Sie ist doch leicht zubegreifen, mein Freund, versetzte der Graf. Ichbin Seemann gewesen, und Eure Geschichte mußte mich mehr rühren, als Euch.

Mein Herr, sagte der Führer, da Sie so großmütig sind, so erlauben Sie mir, Ihnen auch etwas anzubieten.

Was habt Ihr mir anzubieten, mein Freund? Muscheln, Stroharbeiten? Ich danke.

Nein, mein Herr, nein; einen Gegenstand, der sich auf die soeben erzählte Geschichtebezieht.

In der Tat! rief der Graf, was ist denn das?

Hören Sie, sagte der Hausmeister, wie das gekommenen ist. Ich sagte mir, man findet immer etwas in einem Zimmer, in dem ein Gefangener fünfzehn Jahre geblieben ist, und ich fing an, die Wände zu untersuchen.

Ah! rief Monte Christo, sich des doppelten Verstecks des Abbés erinnernd.

Nach langem Nachsuchen, fuhr der Hausmeister fort, entdeckte ich, daß es oben amBette und unter dem Herde des Kamins hohl klang.

Ja, sagte Monte Christo, ja.

Ich nahm die Steine weg und fand…

Eine Strickleiter, Werkzeug! rief der Graf.

Woher wissen Sie das? fragte der Hausmeister voll Erstaunen.

Ich weiß es nicht, ich errate es nur; man findet gewöhnlich dergleichen in den Verstecken der Gefangenen.

Ja, mein Herr; eine Strickleiter, Werkzeug.

Und Ihr habt diese Gegenstände noch?

Nein, mein Herr, ich verkaufte sie anBesucher, denn sie waren sehr seltsam; doch esbliebmir noch etwas anderes.

Was denn? fragte der Graf ungeduldig.

Esbliebmir eine Art vonBuch, auf Leinwandstreifen geschrieben.

Oh! rief Monte Christo, Ihr habt diesesBuch?

Ich weiß nicht, obes einBuch ist, aber ich habe das Ding noch.

Holt es mir, mein Freund, geht, sagte der Graf, und der Führer ging hinaus.

Der Graf neigte das Haupt in Erinnerung an die erhabene Seele seines väterlichen Freundes und faltete die Hände, in Sinnen verloren.

Sehen Sie, mein Herr, sprach eine Stimme hinter ihm, und der zurückkehrende Hausmeister reichte ihm die Leinwandstreifen, auf denen der Abbé Faria alle Schätze seines Geistes zum Ausdruck gebracht hatte. Es war das große Werk über das Königtum in Italien.

Der Graf nahm es ungestüm an sich, dann zog er aus seiner Tasche ein kleines Portefeuille, das zehnBanknoten über je tausend Franken enthielt.

Nehmt dieses Portefeuille! sagte er.

Sie schenken es mir?

Ja, doch unter derBedingung, daß Ihr erst hineinschaut, wenn ich weggegangenbin.

Und an seinerBrust die wiedergefundene Reliquiebewahrend, die für ihn den Wert des reichsten Schatzes hatte, eilte er aus dem unterirdischen Gewölbe fort, bestieg wieder seineBarke und rief: Nach Marseille!

Während sich das Fahrzeug von dem Kastell If entfernte, sagte er, die Augen aus das düstere Gefängnis geheftet: Wehe denen, die mich in diesen finsteren Kerker einsperren ließen, und denen, die vergaßen, daß ich darin eingesperrt war!

Als der Graf wiederbei den Kataloniern vorüberkam, wandte er sich abund murmelte, sein Haupt in den Mantel hüllend, den Namen einer Frau.

Der Sieg war vollständig, der Graf hatte zweimal den Zweifel niedergeschlagen.

Der Name, den er mit einem Ausdrucke der Zärtlichkeit, beinahe der Liebe aussprach, war der Haydees.

*

Als Monte Christo den Fuß wieder auf die Erde setzte, wanderte er nach dem Kirchhofe, wo er Morel fand.

Auch er hatte zehn Jahre vorher ein Grabauf dem Friedhofe gesucht, aber vergebens. Er, der nach Frankreich mit Millionen zurückkam, hatte das Grabseines vor Hunger gestorbenen Vaters nicht finden können. Morel hatte ein Kreuz darauf setzen lassen, doch dieses Kreuz war umgefallen, und der Totengräber hatte es in seinen Ofen gesteckt.

Der würdige Handelsmann war glücklicher gewesen als der alte Dantes. In den Armen seiner Kinder gestorben, wurde er, von diesen zu Grabe geleitet und neben seiner Frau, die ihm um zwei Jahre in die Ewigkeit vorangegangen war, beigesetzt. Zwei große Marmorplatten, ans denen ihre Namen geschrieben standen, lagen nebeneinander innerhalbeines kleinen Geheges, das durch ein eisernes Geländer geschlossen und von vier Zypressen überschattet wurde.

Maximilian lehnte an einem von diesenBäumen und heftete seine matten Augen auf diebeiden Gräber. Sein Schmerz warbodenlos tief, fast wie der Schmerz eines Unzurechnungsfähigen.

Maximilian, Sie drückten auf der Reise das Verlangen aus, sich einige Tage in Marseille aufzuhalten; ist dies noch Ihr Wunsch?

Ich habe keinen Wunsch mehr, Graf; nur kommt es mir vor, es wird mir weniger peinlich sein, in Marseille als anderswo zu warten.

Destobesser, Maximilian, denn ich verlasse Sie und nehme Ihr Wort mit, nicht wahr?

Ah! Ich werde es vergessen, Graf, ich werde es vergessen!

Nein, Morel, Sie werden es nicht vergessen, weil Sie vor allem ein Mann von Ehre sind, weil Sie geschworen haben, weil Sie noch einmal schwören werden.

Oh! Graf, haben Sie Mitleid mit mir! Graf, ichbin so unglücklich!

Ich habe einen Menschen gekannt, der unglücklicher war, als Sie, Morel.

Unmöglich! Was gibt es Unglücklicheres, als einen Menschen, der das einzige Gut, das er auf der Weltbegehrte und liebte, verloren hat?

Hören Sie, Morel, und lassen Sie einen Augenblick Ihren Geist das festhalten, was ich Ihnen sagen werde. Ich habe einen Menschen gekannt, bei dem alle seine Hoffnungen aus Glück, wiebei Ihnen, auf einer Frauberuhten. Dieser Mensch war jung, er hatte einen alten Vater, den er liebte, eineBraut, die er anbetete; er war eben imBegriff, sie zu heiraten, als plötzlich das launenhafte Schicksal ihm seine Freiheit, seine Geliebte und alle Hoffnung auf einebessere Zukunft raubte, um ihn in die Tiefe eines Kerkers zu stürzen.

Ah! entgegnete Morel, man verläßt einen Kerker wieder nach acht Tagen, nach einem Monat, nach einem Jahr.

Erbliebvierzehn Jahre dort, Morel, sagte der Graf, seine Hand auf die Schulter des jungen Mannes legend.

Maximilianbebte und murmelte: Vierzehn Jahre!

Vierzehn Jahre, wiederholte der Graf. Auch er hatte während dieser vierzehn Jahre viele Augenblicke der Verzweiflung, auch er hielt sich, wie Sie, Morel, für den Unglücklichsten der Menschen und wollte sich töten.

Nun?

Nun! Im äußersten Augenblick enthüllte sich ihm Gott durch ein irdisches Mittel, denn Gott tut keine Wunder mehr. Am Anfangbegriff er vielleicht nicht die unendlicheBarmherzigkeit des Herrn; endlich aber faßte er Geduld und wartete.

Eines Tages kam er wie durch ein Wunder aus seinem Grabe, ein anderer, reich, mächtig; sein erster Schrei galt seinem Vater — sein Vater war tot.

Mein Vater ist auch tot, sagte Morel.

Ja, aber Ihr Vater starbin Ihren Armen, unter Freunden, glücklich, geehrt, reich; sein Vater starbarm, hoffnungslos, an Gott verzweifelnd. Und als zehn Jahre nach seinem Tode der Sohn sein Grabsuchte, da war sogar sein Grabverschwunden, und niemand konnte ihm sagen: Hier ruht im Herrn das Herz, das dich so sehr geliebt.

Oh! seufzte Morel.

Dies war also ein unglücklicherer Sohn, als Sie, Morel, denn er wußte nicht einmal, wo er das Grabseines Vaters wiederfinden sollte.

Aber esbliebihm doch wenigstens die Frau, die er so sehr geliebt hatte.

Sie täuschen sich, Morel, diese Frau…

Sie war tot? rief Morel.

Noch schlimmer als dies; sie war untreu geworden, sie hatte einen von den Verfolgern ihresBräutigams geheiratet. Sie sehen also, daß dieser Mensch in seiner Liebe unglücklicher war, als Sie.

Und ihm hat Gott dennoch Trost verliehen?

Er hat ihm wenigstens Ruhe verliehen.

Und dieser Mensch kann noch glücklich sein?

Ich hoffe es, Maximilian.

Der junge Mann ließ sein Haupt auf seineBrust sinken.

Sie haben mein Versprechen, sagte er nach kurzem Stillschweigen, Monte Christo die Hand reichend; nur erinnern Sie sich…

Am fünften Oktober, Morel, erwarte ich Sie auf der Insel Monte Christo. Am vierten holt Sie eine Jacht im Hafen vonBastia ab; diese Jacht heißt der Eurus, Sie nennen sich dem Patron, und er führt Sie zu mir. Nicht wahr, das ist abgemacht, Maximilian?

Es ist abgemacht, und ich werde tun, was gesagt ist? nur erinnern Sie sich des fünften Oktobers. Wann reisen Sie?

Auf der Stelle, das Dampfboot erwartet mich. In einer Stundebin ich fern von Ihnen.

Morelbegleitete Monte Christobis zum Hafen; schon wirbelte der Rauch aus der schwarzen Röhre des Dampfers hervor. Bald lief das Schiff aus, und eine Stunde nachher durchstreifte derselbe Strich von weißlichem Rauch, kaum noch sichtbar, den von den ersten Nebeln verdüsterten östlichen Horizont.

Peppino.

In demselben Augenblick, wo das Dampfschiff des Grafen hinter dem Kap Morgiou verschwand, hatte ein Mann, der mit Extrapost auf der Straße von Florenz nach Rom reiste, das Städtchen Aquapendente passiert. In einen Oberrock gekleidet, der ein glänzendesBand der Ehrenlegion sehen ließ, war dieser Mann nicht allein durch dieses Zeichen, sondern auch durch den Akzent, in dem er mit dem Postillon sprach, als Franzose leicht erkennbar.

In der Nähe der ewigen Stadt fühlte der Reisende durchaus nicht die Regung enthusiastischer Neugierde, die jeden Fremden antreibt, sich aus seinem Wagen zu erheben und den Dom von St. Peter ins Auge zu sassen, den man lange vorher gewahrt, ehe man etwas anderes unterscheidet.

Nein, er zog nur sein Portefeuille aus der Tasche und aus dem Portefeuille ein viereckig zusammengelegtes Papier, das er entfaltete und mit einer fast ehrfürchtigen Aufmerksamkeit wieder zusammenlegte. Dann sagte er: Gut! ich habe es immer noch.

Der Wagen fuhr durch die Porta del Popolo, schlug den Weg links ein und hielt vor dem Gasthofe zur Stadt London an. Meister Pastrini, unser alterBekannter, empfing den Reisenden, den Hut in der Hand, auf der Schwelle seines Hauses. Der Reisende stieg aus, befahl ein gutes Mittagsmahl und erkundigte sich nach der Adresse des Hauses Thomson und French, die ihm sogleich genannt wurde, denn dieses Haus war eines derbekanntesten in Rom. Es lag auf der Via deiBanchibei St. Peter.

Als der Ankömmling nach dem Essen mit dem Führer den Gasthof verließ, trennte sich ein Mensch von einer Gruppe von Neugierigen und folgte dem Fremden, ohne von diesembemerkt zu werden, mit der Geschicklichkeit eines Agenten der Pariser Polizei. Der Franzose hatte große Eile, seinenBesuchbei dem Hause Thomson und French zu machen, und sie kamenbald an Ort und Stelle. Der Franzose trat ein und ließ seinen Führer im Vorzimmer. Gleichzeitig mit dem Franzosen trat der Mensch ein, der ihm so vorsichtig gefolgt war. Der Franzose läutete an der Tür desBüros und ging in das erste Zimmer; sein Schatten tat dasselbe.

Finde ich hier die Herren Thomson und French? fragte der Fremde.

Ein Lakai erhobsich und fragte, wen er zu melden habe, indem er sich anschickte, dem Fremden voranzugehen.

Den HerrnBaron von Danglars.

Kommen Sie! sagte der Lakai.

Eine Tür öffnete sich, der Lakai und derBaron verschwanden durch diese Tür. Der Mensch, der hinter Danglars eingetreten war, setzte sich auf eine Wartebank. Außerdembefand sich im Zimmer nur ein Kommis, der ungefähr fünf Minuten lang ruhig schrieb, während der Wartende ganz still und unbeweglich dasaß. Dann kritzelte die Feder des Kommis nicht mehr auf dem Papiere; er schaute auf, sah aufmerksam umher und sagte, nachdem er sich überzeugt hatte, daß ihn niemand weiter hören konnte: Ah! Ah! Du hier, Peppino?

Ja, antwortete dieser lakonisch.

Du witterstBeutebei dem Dicken?

Die Witterung war leicht; man hat uns im voraus Nachricht gegeben.

Du weißt also, was er hier macht?

Bei Gott! Er kommt, um Geld zubeziehen; nur muß man erst wissen, wieviel.

Man wird es dir sogleich sagen, Freund.

Sehr gut. Doch ich rate dir, mir keine falsche Nachricht zu geben.

Gut, ich will gleich in mein Observatorium gehen, der Franzose könnte sonst inzwischen sein Geschäft abmachen.

Peppino machte einbejahendes Zeichen, zog einen Rosenkranz aus seiner Tasche und murmelte ein paar Gebete, während der Kommis durch dieselbe Tür verschwand, die dem Lakaien und demBaron Eingang gewährt hatte. Nach ungefähr zehn Minuten kam er strahlend zurück.

Nun? fragte Peppino. — Hurtig! sagte der Kommis; die Summe ist rund. — Nicht wahr, fünfbis sechs Millionen? — Ja; du weißt die Zahl? — Auf einen Schein des Grafen von Monte Christo? — So ist es, rief der Kommis; wenn du aber schon alles weißt, warum wendest du dich dann noch an mich? — Um sicher zu sein, daß es der Mensch ist, mit dem wir zu tun haben. — Er ist es… fünf Millionen. Nicht wahr, eine hübsche Summe, Peppino?

Ja, und wirbekommen einigeBrocken davon, erwiderte Peppino philosophisch.

Still! Unser Mann kommt.

Der Kommis nahm wieder seine Feder und Peppino seinen Rosenkranz; der eine schrieb, der anderebetete, als die Tür sich öffnete. Danglars erschien strahlend, begleitet von demBankier, der ihnbis zur Tür zurückführte.

Hinter Danglars entfernte sich Peppino.

Der Wagen wartete vor dem Hause. Der Führer hielt den Kutschenschlag geöffnet. Danglars sprang leicht wie ein Jüngling von zwanzig Jahren in den Wagen. Der Führer schloß den Schlag und stieg zum Kutscher hinauf. Peppino stieg auf den Hintersitz.

Will Seine Exzellenz St. Peter sehen? fragte der Führer.

Wozu? entgegnete derBaron; ichbin nicht nach Rom gekommen, um zu sehen. Für sich fügte er mit seinem habgierigen Lächeln hinzu: Ichbin gekommen, um einzusacken.

Und erbetastete in der Tat sein Portefeuille, in dem er einenBrief verschlossen hatte.

Casa Pastrini, sagte der Führer zum Kutscher, und der Wagen entfernte sich rasch.

Zehn Minuten nachher war derBaron wieder in seinem Zimmer, und Peppino setzte sich auf die an der Wand vor dem Gasthof angebrachteBank, nachdem er ein paar Worte einemBetteljungen zugeflüstert hatte, der mit aller Schnelligkeit seinerBeine den Weg nach dem Kapitol einschlug.

Danglars war müde, befriedigt und darum schläfrig. Er legte sich nieder, steckte sein Portefeuille unter sein Kopfkissen und entschlummerte.

Peppino hatte Zeit übrig; er spielte Mora mit den Facchini, verlor drei Taler und trank, um sich zu trösten, eine Flasche Orvietowein.

Am andern Morgen erwachte Danglars spät, obgleich er sich früh zuBette gelegt hatte. Er frühstückte reichlich, und da er nach den Sehenswürdigkeiten der ewigen Stadt nichts fragte, so verlangte er auf die Mittagsstunde Postpferde.

Doch er hatte ohne die italienische Unpünktlichkeit und die Förmlichkeiten der Polizei gerechnet. Die Pferde kamen erst um zwei Uhr, und der Führerbrachte den visierten Paß erst um drei Uhr.

Welche Straße? fragte der Postillon italienisch.

Straße nach Ancona, antwortete derBaron.

Meister Pastrini übersetzte die Frage und die Antwort, und der Wagen verließ den Gasthof im Galopp.

Danglars wollte nach Venedig reisen und dort einen Teil seines Vermögens einziehen, sodann sich von Venedig nach Wienbegeben, wo er den Rest flüssig zu machen gedachte. Seine Absicht war, sich in dieser Stadt niederzulassen, die man ihm als eine Stadt der Vergnügungen geschildert hatte.

Kaum hatte er drei Stunden in der Campagna von Rom zurückgelegt, als die Nacht anzubrechenbegann. Danglars hatte nicht so spät abzureisen geglaubt, sonst wäre er geblieben. Er fragte den Postillon, wieviel Zeit man nochbrauche, um die nächste Stadt zu erreichen.

Non capisco! antwortete der Postillon.

Danglars machte eineBewegung mit dem Kopfe, die sagen wollte: Sehr gut!

Der Wagen setzte seinen Weg fort.

Bei der ersten Post werde ich anhalten, sagte Danglars zu sich selbst. Er fühlte noch einen Rest des Wohlbehagens vom vorhergehenden Tage, das ihm eine so gute Nacht verschafft hatte. Was tun, wenn manBankier ist und einen glücklichenBankerott gemacht hat? Danglars dachte an seine in Paris zurückgebliebene Frau, an seine Tochter, die sich mit Fräulein d'Armilly in der Welt umhertrieb; dann dachte er auch an seine Gläubiger und die Art und Weise, wie er sein Geld anwenden wollte. Als er an nichts mehr zu denken hatte, schloß er die Augen und schlief ein.

Bei einem heftigeren Stoße öffnete er zuweilen seine Augen aus eine Sekunde wieder und fühlte sich stets mit derselben Geschwindigkeit durch die römische Campagna mit ihren zahllosen zertrümmerten Wasserleitungen fortgezogen. Doch die Nacht war kalt, düster und regnerisch, und es war vielbesser für einen schläfrigen Menschen, im Hintergrunde seines Wagens mit geschlossenen Augen zu träumen, als den Kopf aus dem Kutschenschlag zu strecken und einen Postillon, der nichts zu antworten wußte, als: non capisco, zu fragen, wo er sichbefinde.

Danglars sagte sich, es sei auf der Station noch immer Zeit, zu erwachen, und setzte seinen Schlaf fort.

Der Wagen hielt an; Danglars dachte, er habe das ersehnte Ziel erreicht. Er öffnete die Augen, schaute durch die Scheiben, in der Erwartung, sich mitten in einer Stadt oder wenigstens in einem Dorfe zu finden; doch er sah nur ein Stück halbzerfallener Mauer und dreibis vier Menschen, die wie Schatten hin und her gingen.

Danglars wartete einen Augenblick, er glaubte, der Postillon werde hier an der Station kommen und das Postgeld von ihm verlangen; er gedachte die Gelegenheit zubenutzen, um sich von seinem neuen Führer Auskunft geben zu lassen; doch die Pferde wurden gewechselt, ohne daß jemand Geld von ihm forderte. Erstaunt öffnete Danglars den Wagenschlag, doch eine kräftige Hand stieß ihn sogleich zurück, und der Wagen rollte fort.

Voll Verwunderung erwachte derBaron gänzlich aus seinem Halbschlummer.

He! sagte er zu dem Postillon, he! mio caro!

Doch mio caro antwortete nicht. Danglars öffnete nun das Fenster und fragte, den Kopf durch die Öffnung streckend: He, Freund! Wohin fahren wir?

Dentro la testa! rief eine gebieterische Stimme mit drohender Gebärde.

Danglarsbegriff, daß dentro la testa den Kopf zurück! hieß. Er gehorchte nicht ohne eine gewisse Unruhe, und da diese Unruhe von Augenblick zu Augenblick zunahm, so war sein Geistbald von Gedanken erfüllt, die ganz geeignet waren, einen Reisenden, undbesonders einen Reisenden in Danglars' Lage wachzuhalten.

Seine Augen nahmen in der Finsternis jenen Grad von Schärfe an, den im ersten Augenblick große Aufregung verleiht. Erbemerkte einen Menschen, der, in einen Mantel gehüllt, am Schlage rechts galoppierte.

Ein Gendarm! sagte er. Sollte der französische Telegraph die päpstlichenBehörden auf mich aufmerksam gemacht haben? Erbeschloß, sich darüber Licht zu verschaffen.

Wohin führt Ihr mich? fragte er.

Dentro la testa! wiederholte dieselbe Stimme mit drohendem Ausdruck.

Danglars wandte den Kopf nach dem Kutschenschlage links und sah hier einen zweiten Reiter galoppieren.

Ichbin offenbar gefangen, sagte Danglars mit schweißtriefender Stirn zu sich selbst. Und er warf sich in den Hintergrund seiner Kalesche zurück, diesmal nicht, um zu schlafen, sondern um nachzudenken.

Einen Augenblick nachher ging der Mond auf.

Aus dem Grunde seines Wagens heraus ließ er nun seinenBlick in die Campagna schweifen. Er sah die gespensterhaften Formen der Wasserleitungen, die er schon vorher im Vorüberfahrenbemerkt hatte; nur waren sie jetzt, statt zu seiner Rechten, zu seiner Linken. Erbegriff, daß man den Wagen hatte eine Wendung machen lassen und nach Rom zurückfuhr.

Oh! Ich Unglücklicher, murmelte er, man hat sicher meine Auslieferung verlangt.

Der Wagen rollte mit furchtbarer Schnelligkeit fort. Eine Stunde verging für Danglars in gräßlichster Angst, dennbei jedem neuen Zeichen seines Weges erkannte der Flüchtling, daß die Reise nach Rom zurückging. Endlich erblickte er eine düstere Masse, er glaubte, der Wagen müßte sich daran stoßen; doch der Wagen wandte sich aband fuhr an dieser düsteren Masse hin, die nichts anderes war, als der Rom umschließende Wallgürtel.

Oh! oh! murmelte Danglars, wir kehren nicht in die Stadt zurück, folglich ist es nicht die Justiz, die sich meinerbemächtigt. Guter Gott! Ein anderer Gedanke, — sollten es etwa?… Seine Haare sträubten sich.

Er erinnerte sich jener interessanten Geschichten von römischenBanditen, die Albert Morcerf Frau Danglars und Eugenie erzählt hatte.

Vielleicht Räuber! murmelte er.

Plötzlich rollte der Wagen auf härteremBoden alsbisher. Danglars wagte einenBlick aufbeide Seiten der Straße; er gewahrte Monumente von seltsamer Form, und sagte sich, nach Morcerfs Erzählungen müsse er auf der Via Appia sein.

Links vom Wagen, in einem Tale, sah er eine kreisförmige Aushöhlung. Das war der Zirkus des Caracalla.

Auf ein Wort des Mannes, der rechts vom Wagen galoppierte, hielt dieser an, und der Kutschenschlag links öffnete sich.

Scendi! befahl eine Stimme.

Danglars stieg sogleich aus und schaute mehr tot als lebendig umher. Vier Männer umgaben ihn, vom Postillon abgesehen.

Di quà! sagte einer von den vier Männern, den Fußpfad hinabsteigend, der von der Via Appia in die unebenen Gründe der Campagna von Rom führte. Danglars folgte dem Manne ohne Widerspruch undbrauchte sich nicht umzuwenden, um zu wissen, daß ihm die drei andern Männer folgten. Es kam ihm indessen vor, als obdiese Männer wie Schildwachen in ungefähr gleichen Entfernungen stehenblieben.

Nach einem stummen Marsche von etwa zehn Minutenbefand sich Danglars zwischen einem kleinen Hügel und einem Gebüsch; drei Männer, die stumm da standen, bildeten ein Dreieck, dessen Mittelpunkt er war. Er wollte sprechen, seine Zunge verwirrte sich.

Vorwärts! Vorwärts! sagte dieselbe Stimme mit dem kurzen, gebieterischen Tone.

Diesmalbegriff Danglars doppelt, durch den Klang des Worts und durch das Gefühl, denn der Mensch, der hinter ihm ging, triebihn so heftig vorwärts, daß erbeinahe auf seinen Führer stieß.

Dieser Führer war unser Freund Peppino, der auf gewundenem Pfade in das hohe Gras drang. Erbliebvor einem, von dichtemBuschwerk überragten Felsen stehen, in dessen Spalten er verschwand.

Der Mann, der Danglars folgte, forderte diesen durch Zeichen auf, dasselbe zu tun. Es unterlag keinem Zweifel mehr, der französischeBankerottierer war in den Händen römischerBanditen!

Danglars ergabsich, wie ein zwischen zwei furchtbare Gefahren gestellter Mensch, den die Angst mutig macht. Trotz seinesBauches schober sich hinter Peppino durch, ließ sich, die Augen schließend, hinabgleiten und fiel auf seine Füße. Als er die Erdeberührte, öffnete er die Augen.

Der Weg warbreit, aber dunkel. Peppino, der nun, da er zu Hause war, sich nicht mehr zu verbergen hatte, schlug Feuer und zündete eine Fackel an.

Zwei andere Männer stiegen, die Nachhutbildend, hinter Danglars herab; sie stießen diesen, wenn er stehenblieb, wie zufällig vorwärts und trieben ihn so auf einem sanften Abhangebis zum Mittelpunkte eines düster aussehenden Kreuzweges. In übereinandergesetzten Nischen, die in Form von Särgen ausgegraben waren, schienen sich an den Wänden unter dem weißen Gestein schwarze, tiefe Augen zu öffnen. Eine Schildwache schlug mit der linken Hand an den Kolben ihres Karabiners und rief sodann: Wer da?

Freunde! Freunde! sagte Peppino. Wo ist der Kapitän?

Dort, antwortete die Schildwache, über ihre Schulter aus einen aus dem Felsen ausgehöhlten Saal deutend, aus dem das Licht durch große gewölbte Öffnungen in den Gang drang.

GuteBeute, Kapitän, guteBeute! rief Peppino italienisch, nahm Danglars am Kragen seines Überrocks und führte ihn zu einer Öffnung, die einer Tür glich; durch diese Öffnung gelangte man in den Saal, wo der Kapitän seinen ständigen Aufenthalt zu haben schien.

Ist es der Mensch? fragte der Kapitän, der aufmerksam in Plutarchs Leben Alexanders las.

Er selbst, Kapitän, er selbst.

Sehr gut, zeigt ihn mir!

Auf diesen durchaus nicht höflichenBefehl hielt Peppino so rasch seine Fackel an Danglars' Gesicht, daß dieser lebhaft zurückwich, um sich nicht die Augenbrauen versengen zu lassen.

Sein verstörtes Gesichtbot alle Symptome einesbleichen, häßlichen Schreckens.

Der Mann ist müde, sagte der Kapitän, man führe ihn zu seinemBett!

Oh, diesesBett! murmelte Danglars; wahrscheinlich ist es einer von den Särgen, die aus der Mauer ausgehöhlt sind, und der Schlaf ist der Tod, den mir einer von den Dolchen, die ich im Schatten funkeln sehe, bringen wird.

Man erblickte in der Tat in den düstern Tiefen des ungeheuren Saales, auf ihren Lagern von getrockneten Kräutern oder von Wolfshäuten, die Gefährten des Mannes sich erheben, den Albert von Morcerf die Kommentare Cäsars lesend und Danglars in den Plutarch versenkt fand.

DerBankier stieß einen dumpfen Seufzer aus und folgte seinem Führer; er versuchte weder zubitten, noch zu schreien. Er hatte keine Kraft, keinen Willen, keine Gewalt, kein Gefühl mehr; er ging, weil man ihn fortzog. Er stieß an eine Stufe, begriff, daß er eine Treppe vor sich hatte, und hobmechanisch vier- oder fünfmal den Fuß auf. Dann öffnete sich eine niedrige Tür vor ihm; erbückte sich unwillkürlich, um nicht anzustoßen, undbefand sich in einer aus dem Felsen gehauenen Zelle. Diese Zelle war, wenn auch kahl, so doch rein und trocken.

EinBett von getrocknetem Grase, bedeckt mit Ziegenhäuten, war in einer Ecke dieser Zelle ausgebreitet. Bei diesem Anblick murmelte Danglars: Oh, Gott sei gelobt! Es ist ein wirklichesBett!

Es war zum zweiten Male, daß er in einer Stunde den Namen Gottes anrief; dies war seit zehn Jahren nicht vorgekommen.

Ecco, sprach der Führer, stieß Danglars in die Zelle und schloß die Tür hinter ihm. Ein Riegel klirrte; Danglars war gefangen.

Wäre indessen auch kein Riegel dagewesen, so hätte er doch der heilige Peter sein und zum Führer einen Engel des Himmels haben müssen, um mitten durch die Garnison zu kommen, welche die Katakomben von San Sebastianobesetzt hielt und um ihren Führer gelagert war, in dem unsere Leser sicher schon denberüchtigten Luigi Vampa erkannt haben.

Danglars hatte diesenBanditen, an dessen Dasein er nicht glauben wollte, als ihm Morcerf davon erzählte, ebenfalls erkannt. Er hatte nicht nur ihn, sondern auch die Zelle erkannt, in der Morcerf eingeschlossen gewesen war, und die aller Wahrscheinlichkeit nach den Fremden gewöhnlich als Wohnung diente.

Diese Erinnerungen, bei denen Danglars mit einer gewissen Freude verweilte, verliehen ihm wieder Ruhe. Da ihn dieBanditen nicht aus der Stelle töteten, hatten sie überhaupt nicht die Absicht, ihn zu töten. Man hatte ihn festgenommen, um ihn zu plündern, da er aber nur einige Louisd'orbei sich trug, so würde man sich, meinte er, damitbegnügen müssen.

Er erinnerte sich, daß Morcerf zu ungefähr viertausend Talern angeschlagen worden war; da er sich für eine viel gewichtigere Person hielt, als Morcerf, so schätzte er sein Lösegeld auf achttausend Taler, das heißt achtundvierzigtausend Franken. Esblieben ihm dann etwa fünf Millionen und fünfzigtausend Franken. Damit kommt man überall durch.

Mit diesemberuhigenden Gedanken streckte er sich auf seinem Lager aus und entschlummertebald.

Luigi Vampas Speisekarte.

Danglars erwachte nach längerem Schlafe.

Für einen Pariser, der an seidene Vorhänge, an samtüberzogene Wände, an den Wohlgeruch, der von dem Holze im Kamin aufsteigt, und ähnlichen Luxus gewöhnt ist, muß das Erwachen in einem Felsen wie ein schlechter Traum sein. Doch in einer Sekunde war sich Danglars der rauhen Wirklichkeitbewußt.

Ja, ja, murmelte er, ichbin in den Händen derBanditen, von denen uns Albert von Morcerf erzählt hat.

Seine ersteBewegung war, zu atmen, um sich Gewißheit zu verschaffen, daß er nicht verwundet sei.

Nein, sagte er, sie haben mich weder umgebracht noch verwundet, aber sie haben mich vielleichtbestohlen.

Er fuhr rasch mit den Händen in seine Taschen. Sie waren unberührt; die hundert Louisd'or, die er sich vorbehalten hatte, um seine Reise von Rom nach Venedig zu machen, waren noch in der Tasche seinerBeinkleider, und das Portefeuille, worin er den Kreditbrief über fünf Millionen und fünfzigtausend Franken aufbewahrt hatte, fand sich in seiner Rocktasche.

SonderbareBanditen, die mir meineBörse und mein Portefeuille lassen! sagte er zu sich selbst. Sie werden es, wie ich es mir gestern abend gedacht habe, auf Lösegeld abgesehen haben. Halt! Ich habe auch noch meine Uhr! Wir wollen einmal sehen, wieviel Uhr es ist.

Danglars Repetieruhr schlug halbsechs Uhr morgens. Ohne sie wäre Danglars in völliger Ungewißheit über die Stunde gewesen, denn das Tageslicht drang nicht in die Zelle.

Sollte er eine Erklärung von denBanditen verlangen, sollte er geduldig warten, bis sie ihn auffordern würden? Das letztere schien ratsamer; Tanglars wartete.

Er wartetebis um die Mittagsstunde. Während dieser Zeit ging eine Schildwache an seiner Tür auf und ab. Um acht Uhr morgens war die Wache abgelöst worden. Danglarsbekam Lust zu sehen, wer ihnbewachte.

Erbemerkte, daß Lichtstrahlen, die von der Lampe herrührten, durch die schlecht zusammengefügtenBretter der Tür drangen. Er näherte sich einer dieser Öffnungen gerade in dem Augenblick, wo derBandit ein paar SchluckBranntwein aus einem ledernen Schlauch nahm.

Zur Mittagsstunde fand wieder eine Ablösung statt; Danglars warbegierig, seinen neuen Wächter zu sehen, und näherte sich abermals der Spalte. Es war ein athletischerBandit, ein Goliath mit großen Augen, dicken Lippen und eingedrückter Nase! Sein rotes Haar hing auf seine Schultern in gedrehten Zöpfen wie eine Anzahl von Schlangen herab.

Oh! oh! sagte Danglars, der gleicht mehr einem Werwolf, als einem menschlichen Geschöpfe; in jedem Fallebin ich alt und zähe, und mein Fleisch ist nicht gut zubeißen.

Man sieht, Danglars hatte noch so viel Geistesgegenwart, daß er scherzen konnte. In demselben Augenblick setzte sich sein Wächter, als wollte er ihmbeweisen, er sei kein Werwolf, der Tür seiner Zelle gegenüber, zog aus seinem Schnappsack schwarzesBrot, Zwiebeln und Käse und fing an, diese Dinge mit großem Appetit zu verzehren.

Der Teufel soll mich holen, sagte Danglars, indem er durch die Spalte seiner Tür einenBlick aus das Mahl desBanditen warf, wenn ichbegreife, wie man solchen Unrat essen kann.

Doch die Geheimnisse der Natur sind unerforschlich, und es übt auf den Hungrigen der Anblick eines Schmausenden einen eigenen Reiz.

Danglars fühlte plötzlich, daß sein Abscheu in diesem Augenblick keinen Grund hatte, der Mensch kam ihm weniger häßlich, dasBrot weniger schwarz, der Käse frischer vor. Die rohen Zwiebeln endlich, ein abscheuliches Nahrungsmittel des Wilden, erinnerten ihn an gewisse PariserBrühen, die sein Koch so ausgezeichnetbereitete, wenn Danglars zu ihm sagte: Herr Deniseau, machen Sie mir heute einen guten Canaille‑Teller.

Er stand auf und klopfte an die Tür. — DerBandit hobden Kopf empor. Danglars sah, daß man ihn gehört hatte, und verdoppelte sein Klopfen.

Che cosa? fragte derBandit.

Sagen Sie doch! Freund, rief Danglars, mit seinen Fingern an die Tür trommelnd, es scheint mir, es wäre Zeit, daß man mir auch zu essen gäbe.

Doch, mag es nun sein, daß der Riese ihn nicht verstand, oder wollte er ihn nicht verstehen, jedenfalls setzte er, ohne sich stören zu lassen, sein Mahl fort.

Danglars fühlte seinen Stolz gedemütigt, und da er sich nicht weiter mit diesem Tiere einlassen wollte, so legte er sich auf seineBockshäute und sprach kein Wort mehr.

Es vergingen abermals vier Stunden; der Riese wurde durch einen andernBanditen ersetzt. Danglars, der ein furchtbares Zerren im Magen fühlte, stand sacht auf, hielt sein Auge wieder an die Spalten seiner Tür und erkannte das kluge Gesicht seines Führers.

Es war in der Tat Peppino, der die friedliche Wachebezog, sich der Tür gegenüber niederließ und zwischen seinenBeinen einen irdenen Topf, der warme, duftende Kichererbsen mit Speck enthielt, niedersetzte. Neben diese Kichererbsen stellte Peppino noch ein hübsches Körbchen mit Trauben und eine Flasche Orvietowein. Peppino war offenbar ein Leckermaul.

Als Danglars diese gastronomischen Vorbereitungen sah, lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

Ah! ah! Wir wollen doch sehen, obder manierlicher ist, dachte er und klopfte sacht an die Tür.

On y va, sagte derBandit, der in Pastrinis Hause das Französische gelernt hatte.

Danglars erkannte jetzt in ihm wirklich den, der ihm so wütend: Dentro la testa! zugerufen hatte. Doch es war keine Zeit zu Vorwürfen, er nahm im Gegenteil sein freundlichstes Gesicht an und sagte mit liebenswürdigem Lächeln: Verzeihen Sie, mein Herr, wird man mir nicht auch zu essen geben?

Wie? rief Peppino, sollte Euere Exzellenz zufällig Hunger haben?

Zufällig, das ist herrlich! murmelte Danglars; es sind gerade vierundzwanzig Stunden, daß ich nichts mehr gegessen habe. Allerdings, mein Herr, fügte er laut hinzu, ich habe Hunger und sogar sehr großen Hunger.

Und Euere Exzellenz will essen?

Auf der Stelle, wenn es sein kann.

Nichts kann leichter sein, sagte Peppino, man verschafft sich hier alles, was man haben will, wenn manbezahlt, wie diesbei allen ehrlichen ChristenBrauch ist.

Das versteht sich, rief Danglars, obgleich die Leute, die einen verhaften und einsperren, ihre Gefangenen wenigstens auch nähren sollten.

Auf der Stelle, Exzellenz, was wünschen Sie?

Peppino setzte seinen Napf so auf die Erde, daß der Dampf unmittelbar Danglars in die Nase stieg.

Sie haben also Küchen hier? fragte derBankier.

Wie! Obwir Küchen haben? Vollkommene Küchen! — Und Köche? — Vortreffliche! — Wohl! Ein Huhn, einen Fisch, Wildpret, gleichviel was, wenn ich nur zu essenbekomme. — Ganz nach demBelieben Eurer Exzellenz; wir wollen sagen ein Huhn, nicht wahr? — Ja, ein Huhn.

Peppino richtete sich auf und schrie mit lauter Lunge: Ein Huhn für seine Exzellenz!

Peppinos Stimme widerhallte noch unter den Gewölben, alsbereits ein hübscher, schlanker, wie die antiken Fischträger halbnackter, junger Mensch erschien! Er trug das Huhn auf einer silbernen Platte.

Man sollte glauben, man wäre im Café de Paris, murmelte Danglars.

Hier, Exzellenz! sagte Peppino, indem er das Huhn aus den Händen des jungenBanditen nahm und auf einen wurmstichigen Tisch setzte, der nebst einem Schemel und demBette vonBockshäuten die ganze Ausstattung der Zellebildete. Danglars forderte ein Messer und eine Gabel.

Hier, Exzellenz! rief Peppino undbot ihm ein kleines stumpfes Messer und eine Gabel vonBuchsbaum.

Danglars nahm Messer und Gabel und schickte sich an, das Huhn zu zerschneiden.

Verzeihen Sie, Exzellenz, sagte Peppino, eine Hand auf die Schulter desBankiers legend, hierbezahlt man, ehe man ißt; sonst gibt'sbeim Fortgehen Differenzen.

Ah! ah! murmelte Danglars, das ist nicht mehr wie in Paris, abgesehen davon, daß sie mich wahrscheinlich schinden werden; doch wir wollen die Sache großartigbetreiben. Mein Freund, ich habe immer von der Wohlfeilheit des Lebens in Italien reden hören; ein Huhn wird in Rom zwölf Sous kosten; und dabei warf er Peppino einen Louisd'or zu.

Peppino hobden Louisd'or auf. Danglars näherte das Messer dem Huhn.

Einen Augenblick, Exzellenz, sagte Peppino aufstehend; Eure Exzellenz ist mir noch etwas schuldig.

Ich dachte doch, sie würden mich schinden! murmelte Danglars und fügte laut hinzu: Wieviel ist man Ihnen noch für dieses schwindsüchtige Huhn schuldig?

Eure Exzellenz hat mir einen Louisd'or auf Abschlag gegeben und ist mir noch viertausendneunhundertundneunundneunzig Louisd'or schuldig.

Danglars riß seine Augenbei diesem großartigen Scherze sehr weit auf. Ah! Sehr drollig, murmelte er, in der Tat, äußerst drollig.

Er wollte wieder zum Werke schreiten und das Huhn zerlegen; doch Peppino hielt ihm die rechte Hand fest und sagte: Erst das Geld, mein Herr.

Wie, Sie scherzen nicht?

Wir scherzen nie, Exzellenz.

Wie, hunderttausend Franken für dieses Huhn?

Exzellenz, es ist unglaublich, wieviel Mühe man hat, um Geflügel in diesen verfluchten Grotten aufzuziehen.

Gehen Sie! Ich finde das sehr komisch, in der Tat äußerstbelustigend: doch da ich Hunger habe, lassen Sie mich essen! Hier ist noch ein Louisd'or für Sie.

Dann macht es noch viertausendneunhundertundachtundneunzig Louisd'or, sagte Peppino mit derselben Gleichgültigkeit; mit Geduld werden wir zum Ziele gelangen.

Oh! versetzte Danglars, empört über diesenbeharrlichen Spott, oh, niemals. Gehen Sie zum Teufel! Sie wissen nicht, mit wem Sie zu tun haben.

Peppino machte ein Zeichen, und der junge Mensch nahm rasch das Huhn weg. Danglars warf sich auf seinBett. Peppino schloß wieder die Tür und fing an, seine Erbsen mit Speck zu essen.

Danglars kam sein Magen durchlöchert vor wie das Faß der Danaiden, er konnte nicht glauben, daß es ihm je gelingen würde, ihn zu füllen.

Er faßte übrigens noch eine halbe Stunde Geduld; doch es ist nicht zu leugnen, daß ihm diese halbe Stunde wie ein Jahrhundert vorkam. Dann stand er auf, ging abermals zur Tür und sprach: Hören Sie, mein Herr, lassen Sie mich nicht länger schmachten, sagen Sie mir sogleich, was man von mir will.

Exzellenz, sagen Sie vielmehr, was Sie von uns wollen. Geben Sie IhreBefehle, und wir werden sie ausführen.

So öffnen Sie vor allem!

Peppino öffnete.

Ich will, sagte Danglars, bei Gott! Ich will essen. — Sie haben Hunger? — Ei! Sie wissen es wohl. — Was wünscht Eure Exzellenz zu essen? — Ein Stück trockenesBrot, da die Hühner in diesen verfluchten Höhlen so ungeheuer teuer sind. — Brot! Es sei, rief Peppino. Holla! Brot!

Der junge Mannbrachte ein kleinesBrot.

Hier! sagte Peppino.

Wieviel? fragte Danglars. Viertausendneunhundertachtundneunzig Louisd'or. Ich habe zwei Louisd'or Vorschuß.

Wie! EinBrot hunderttausend Franken?

Hunderttausend Franken! erwiderte Peppino; wirbedienen nicht nach der Karte, sondern zu einem Preise. Obman wenig, obman viel ißt, obman zehn Schüsseln verlangt oder eine einzige, das kostetbei uns gleich viel.

Abermals dieser Scherz, lieber Freund, ich erkläre Ihnen, daß das albern ist! Sagen Sie mir auf der Stelle, daß ich vor Hunger sterben soll, die Sache wird schneller abgemacht sein.

Nein, Exzellenz, Sie wollen sich selbst um das Lebenbringen. Bezahlen Sie, und essen Sie.

Womitbezahlen, dreifaches Tier? sagte Danglars, außer sich; glaubst du, man trägt mir nichts, dir nichts hunderttausend Frankenbei sich?

Sie haben fünf Millionen und fünfzigtausend Franken in Ihrer Tasche, Exzellenz, erwiderte Peppino; das macht fünfzig Hühner zu hunderttausend Franken und ein halbes Huhn zu fünfzigtausend Franken.

Danglars schauderte; dieBinde fiel ihm von den Augen; das war allerdings immer noch ein Scherz, aber erbegriff ihn endlich. Hören Sie, sagte er, wenn ich Ihnen diese hunderttausend Franken gebe, werden Sie sich dann wenigstens fürbezahlt erklären und mich nachBelieben essen lassen?

Allerdings, sprach Peppino.

Doch wie soll ich sie Ihnen geben? versetzte Danglars, freier atmend.

Nichts leichter; Sie haben einen offenen Kredit auf Thomson und French, Via deiBanchi in Rom; geben Sie mir eine Anweisung von viertausendneunhundertundachtundneunzig Louisd'or auf diese Herren, unserBankier wird sie uns abnehmen.

Danglars wollte sich wenigstens das Verdienst des guten Willens geben, nahm die Feder, die ihm Peppino nebst Papier reichte, schriebden Zettel und unterzeichnete.

Hier, sagte er, hier ist eine Anweisung auf den Inhaber.

Und hier ist Ihr Huhn.

Danglars zerschnitt seufzend das Huhn; es kam ihm sehr mager für eine so fette Summe vor.

Peppino aber las aufmerksam die Anweisung, steckte sie in die Tasche und aß seine Kichererbsen weiter.

Die Vergebung.

Am andern Morgen hatte Danglars abermals Hunger; die Luft dieser Höhle war im höchsten Maße Appetit erregend; der Gefangene glaubte, an diesem Tage müßte er keine Ausgabe machen; als sparsamer Mann hatte er die Hälfte von seinem Huhn und ein Stück von seinemBrot in einer Ecke seiner Zelle versteckt. Doch er hatte kaum gegessen, als er Durstbekam; darauf hatte er nicht gerechnet.

Er kämpfte gegen den Durst, bis zu dem Augenblick, wo er fühlte, daß seine vertrocknete Zunge an seinem Gaumen anklebte. Als Danglars dem verzehrenden Feuer nicht mehr widerstehen konnte, rief er.

Eine Wache öffnete die Tür; es war ein neuerBandit.

Er dachte, es wäre für ihnbesser, wenn er mit einem altenBekannten zu tun hätte, und rief Peppino.

Hierbin ich, Exzellenz, sagte Peppino, mit einem Eifer herbeieilend, den Danglars als ein gutes Vorzeichenbetrachtete, was wünschen Sie?

Zu trinken, sprach der Gefangene.

Exzellenz, Sie wissen, daß der Wein in der Gegend von Rom übermäßig teuer ist.

So geben Sie mir Wasser, erwiderte Danglars, der den Stoß zu parieren suchte.

Exzellenz, das Wasser ist noch viel seltener, als der Wein; es herrscht gegenwärtig eine so große Trockenheit.

Gehen Sie doch, Sie fangen wieder an, scheint es! sagte Danglars lächelnd, um sich den Anschein zu geben, als scherze er. Der Unglückliche fühlte, wie der Schweiß seine Schläfebefeuchtete.

Nun, mein Freund, fuhr er fort, als er sah, daß Peppino unempfindlichblieb, ichbitte Sie um ein Glas Wein! Werden Sie es mir abschlagen?

Ich habe Ihnenbereits gesagt, Exzellenz, daß wir den Wein nicht im kleinen verkaufen, erwiderte Peppino ernst.

Wohl! So geben Sie mir eine Flasche vombilligsten.

— Sie haben alle denselben Preis. — Und was ist dieser Preis? — Fünfundzwanzigtausend Franken die Flasche.

Sagen Sie mir, rief Danglars mit größterBitterkeit, daß Sie mich ganz und gar ausziehen wollen; das ist schneller undbesser auf einmal getan, als wenn Sie mich so Fetzen für Fetzen auffressen.

Es ist dies möglicherweise der Plan des Herrn. — Wer ist dieser Herr? — Der, zu dem man Sie vorgestern geführt hat. — Und wo ist er? Machen Sie, daß ich ihn sehen kann. — Das ist leicht.

Einen Augenblick nachher stand Luigi Vampa vor Danglars.

Sie rufen mich? fragte er den Gefangenen.

Sie, mein Herr, sind der Anführer der Leute, die mich hierher gebracht haben? — Ja, Exzellenz.

Wieviel Lösegeld verlangen Sie von mir? Sprechen Sie.

Ganz einfach die fünf Millionen, die Siebei sich tragen.

Danglars fühlte einen ungeheuren Krampf sein Herz zermalmen.

Das ist alles, was ich auf der Welt habe, mein Herr, es ist der Rest eines ungeheuren Vermögens; wenn Sie mir es nehmen, so nehmen Sie mir mein Leben.

Es ist uns verboten, IhrBlut zu vergießen, Exzellenz.

Und durch wen ist Ihnen dies verboten?

Durch den, dem wir gehorchen.

Ich glaubte, Sie seien selbst der Führer?

Ichbin der Führer dieser Leute, doch ein anderer ist mein Gebieter.

Und dieser Gebieter gehorcht auch jemand?

Ja. — Wem? — Gott.

Danglarsbliebeinen Augenblick nachdenklich, und sagte sodann: Ichbegreife Sie nicht. — Das ist möglich.

Und dieser Führer hat Ihnen gesagt, Sie sollen mich sobehandeln? — Ja. — Was ist sein Zweck? Ich weiß es nicht. — Aber meineBörse wird sich erschöpfen — Das ist wahrscheinlich. — Hören Sie, wollen Sie eine Million? — Nein. — Zwei Millionen? — Nein.

Drei Millionen?.. Vier?.. Hören Sie, vier? Ich gebe sie Ihnen unter derBedingung, daß Sie mich gehen lassen.

Warumbieten Sie uns vier Millionen für das, was fünf wert ist, versetzte Vampa; das ist Wucher, HerrBankier, oder ich verstehe mich nicht darauf.

Nehmen Sie alles! Nehmen Sie alles! sage ich Ihnen, und töten Sie mich! rief Danglars.

Still! Still! Beruhigen Sie sich, Exzellenz, Sie regen IhrBlut so auf, daß Sie einen Appetitbekommen, bei dem Sie eine Million täglich verzehren; Mord und Tod! Seien Sie sparsamer, lieber Herr.

Doch wenn ich kein Geld mehrbesitze, um Sie zubezahlen, mein Herr? rief Danglars in Verzweiflung.

Dann werden Sie Hunger haben.

Ich werde Hunger haben? fragte Danglars erbleichend.

Das ist wahrscheinlich… antwortete Vampa phlegmatisch.

Aber Sie sagen, Sie wollen mich nicht töten? Und dennoch wollen Sie mich Hungers sterben lassen?

Das ist nicht dasselbe.

Wohl! Ihr Elenden, rief Danglars, ich werde Eure schändlichenBerechnungen vereiteln. Soll ich einmal sterben, so will ich lieber sogleich ein Ende machen: laßt mich leiden, martert mich, tötet mich, doch Ihr sollt meine Unterschrift nichtbekommen.

Wie es Ihnenbeliebt, Exzellenz, sagte Vampa und verließ die Zelle.

Danglars warf sichbrüllend aus dieBockfelle seines Lagers.

Wer waren diese Menschen? Wer war dieser sichtbare Führer? Wer war der unsichtbare Führer? Welche Pläne verfolgten sie mit ihm? Und wenn die ganze Welt sich loskaufen konnte, warum vermochte er allein dies nicht?

Oh! Allerdings der Tod, ein rascher und gewaltsamer Tod war ein gutes Mittel, diese erbitterten Feinde zu hintergehen, die eine unbegreifliche Rache gegen ihn zu planen schienen.

Ja, aber sterben! Zum ersten Male vielleicht in seiner ganzen Laufbahn dachte Danglars an den Tod zugleich mit dem Verlangen und der Furcht, zu sterben. Doch die Stunde war für ihn gekommen, seinenBlick auf das unversöhnliche Gespenst zu heften, das im Innern jedes Geschöpfes lebt und das nunbei jedem Pulsschlage des Herzens zu ihm sagte: Du wirst sterben.

Danglars glich jenen wilden Tieren, welche die Jagd aufregt, in Verzweiflungbringt, und denen es durch die Gewalt der Verzweiflung zuweilen gelingt, sich zu retten.

Danglars dachte an Flucht.

Doch die Mauern waren die Felsen selbst, und vor dem einzigen Ausgang, der aus der Zelle führte, lag ein Mensch; hinter diesem Menschen sah man mit Flintenbewaffnete Schatten hin und her gehen.

Sein Entschluß, nicht zu unterzeichnen, dauerte zwei Tage, dann verlangte er Nahrungsmittel undbot eine Million. Man trug ihm ein vortreffliches Abendessen auf und nahm seine Million.

Von da an war das Leben des unglücklichen Gefangenen einebeständige Ausschweifung. Er hatte so viel gelitten, daß er sich keinen weiteren Leiden mehr aussetzen wollte und sich allen Forderungen unterzog. Nach Verlauf von acht Tagen machte er eines Nachmittags, als er wie in den schönen Tagen seines Glückes gespeist hatte, seine Rechnung undbemerkte, daß er so viele Anweisungen abgegeben, daß ihm nur noch fünfzigtausend Franken übrigblieben.

Da ging eine seltsame Umwandlung in ihm vor. Er, der fünf Millionen hingegeben hatte, suchte die fünfzigtausend Franken zu retten, die ihmblieben; erbeschloß, eher die größten Entbehrungen zu ertragen, als diese fünfzigtausend Franken herzugeben. Der Unglückliche nährte einen Schimmer von Hoffnung, der an Wahnsinn grenzte; er, der seit so langer Zeit Gott vergessen hatte, dachte an ihn, um sich zu sagen, Gott habe zuweilen Wunder getan. Diese Höhle könnte versinken; die päpstlichen Karabinieri könnten diesen verfluchten Aufenthaltsort entdecken und ihm zu Hilfe kommen; dann würden ihm noch fünfzigtausend Frankenbleiben; fünfzigtausend Franken wären eine hinreichende Summe, um einen Menschen vor dem Hungertode zu schützen. Erbat Gott, ihm diese fünfzigtausend Franken zu erhalten, und indem erbat, weinte er.

So vergingen drei Tage, während deren der Name Gottesbeständig, wenn nicht in seinem Herzen, doch auf seinen Lippen war. In Zwischenräumen hatte er Augenblicke des Irrsinns, in denen er durch die Fenster einer armseligen Kammer einen Greis im Todeskampfe auf einem elenden Lager zu erblicken glaubte. Dieser Greis starbauch vor Hunger.

Am vierten Tage war er kein Mensch mehr, sondern ein lebendiger Leichnam; er hatte auf demBoden die letzten Krümchen seiner früheren Mahle zusammengerafft und fing an das Stroh zu verzehren, mit dem derBodenbedeckt war.

Dann flehte er Peppino an, wie man einen Schutzengel anfleht, ihm etwas Speise zu geben; erbot ihm tausend Franken für einen Mund vollBrot. Peppino antwortete nicht.

Am fünften Tage schleppte er sich vor den Eingang der Zelle.

Ihr seid also kein Christ? sagte er, sich auf seine Knie erhebend; Ihr wollt einen Menschen töten, der EuerBruder vor Gott ist?

Und er fiel mit dem Gesicht auf die Erde.

Dann fuhr er plötzlich wieder auf und rief: Der Führer!

Hierbin ich! sagte, sogleich erscheinend, Vampa, was wünschen Sie noch?

Nehmen Sie mein letztes Geld, stammelte Danglars, ihm sein Portefeuille reichend, nehmen Sie es und lassen Sie mich in dieser Höhle; ich verlange meine Freiheit nicht mehr, ich verlange mein Leben nicht mehr.

Sie leiden also sehr? fragte Vampa.

Ja, ich leide grausam.

Es gibt aber Menschen, die mehr gelitten haben.

Ich glaube es nicht.

Doch! Die, welche vor Hunger gestorben sind.

Danglars dachte an den Greis, den er während der Stunde seines Irrsinns durch die Fenster seiner armseligen Kammer aus seinem Lager sich winden sah. Er schlug mit der Stirn auf die Erde und stieg einen Seufzer aus.

Ja, sagte er, es ist wahr; es gibt Leute, die mehr gelitten haben, als ich, aber diese waren Märtyrer.

Siebereuen wenigstens? sagte eine düstere, feierliche Stimme, welche die Haare auf Danglars' Haupte sich sträuben ließ.

Sein geschwächterBlick suchte die Gegenstände zu unterscheiden, und er sah hinter demBanditen einen Mann, der in einen Mantel gehüllt und vom Schatten eines steinernen Pfeilersbedeckt war.

Was soll ichbereuen? stammelte Danglars.

DasBöse, das Sie getan haben.

Oh! ja, ichbereue es, ichbereue es, rief Danglars.

Und er schlug mit seiner abgemagerten Faust an seineBrust.

Dann vergebe ich Ihnen, sagte der Unbekannte, seinen Mantel abwerfend und in das Licht vorschreitend.

Der Graf von Monte Christo! rief Danglars, bleicher vor Schrecken, als er es einen Augenblick zuvor vor Hunger und Elend gewesen war.

Sie täuschen sich; ichbin nicht der Graf von Monte Christo.

Und wer sind Sie denn?

Ichbin der, den Sie verkauft, preisgegeben, entehrt haben; ichbin der, dessenBraut Sie mit Schmachbedeckten; ichbin der, auf den Sie traten, auf dem Sie fortschritten, um sich zum Glück aufzuschwingen; ichbin der, dessen Vater Sie vor Hunger sterben ließen, den Sie verurteilt hatten, ebenfalls Hungers zu sterben, und der Ihnen dennoch vergibt, weil er selbst der Vergebungbedarf; ichbin Edmond Dantes.

Danglars stieß einen Schrei aus und stürzte, so lang er war, zur Erde nieder.


Stehen Sie auf, sagte der Graf, Ihr Lebenbleibt unverletzt; ein solches Glück ist Ihren zwei Genossen nicht widerfahren; der eine ist wahnsinnig, der andere ist tot. Behalten Sie die fünfzigtausend Franken, die Sie noch haben, ich mache sie Ihnen zum Geschenk. Die fünf Millionen, die Sie den Hospitälern gestohlen haben, sind diesenbereits von unbekannter Hand wiedererstattet worden.

Und nun essen Sie und trinken Sie! Für heute abend sind Sie mein Gast.

Vampa, wenn dieser Mensch sichberuhigt hat, lassen Sie ihn frei!

Danglarsbliebauf der Erde liegen, bis sich der Graf entfernte; als er das Haupt erhob, sah er nur noch einen im Gange verschwindenden Schatten, vor dem sich die Räuber verbeugten.

Danglars wurde demBefehle des Grafen gemäß von Vampa mit demBesten, was er hatte, erquickt. Als er seinen Hunger gestillt hatte, ließ ihn der Anführer derBanditen in einen Wagen steigen, begleitete ihn eine Strecke weit und lehnte ihn dann unfern der Straße an einenBaum.

Hierblieberbis zum Anbruch des Tages, ohne zu wissen, wo er war.

Beim Morgenlichtebemerkte er, daß er sich in der Nähe einesBachesbefand; er hatte Durst und schleppte sichbis zu diesemBache. Als er sich neigte, um daraus zu trinken, sah er, daß seine Haare weiß geworden waren.

Der fünfte Oktober.

Es war ungefähr sechs Uhr abends; ein opalfarbiges Licht, in das eine schöne Herbstsonne ihre goldenen Strahlen einwob, fiel auf dasbläuliche Meer. Aus diesem ungeheuren Gewässer, das sich von Gibraltarbis zu den Dardanellen, und von Tunisbis nach Venedig ausdehnt, glitt eine leichte Jacht von reiner, zierlicher Form in dem ersten Dunste des Abends hin.

Nach und nach verschwanden am westlichen Horizont die letzten Strahlen der Sonne. Die Jacht rückte rasch vor, obgleich scheinbar der Wind kaum stark genug war, um das Lockenhaar eines Mädchens flattern zu lassen.

Auf dem Vorderteile stehend, sah ein Mann von hoher Gestalt, brauner Gesichtsfarbe und mit großem Auge das Land als düstere, kegelförmige Masse auf sich zukommen, die gleich einem ungeheuren katalanischen Hut sich aus den Wellen erhob.

Ist das Monte Christo? fragte mit ernster, von tiefer Traurigkeit zeugender Stimme der Reisende, dessenBefehlen die Jacht für den Augenblick unterstand.

Ja, Exzellenz, antwortete der Patron, wir kommen sogleich dahin.

Wir kommen dahin! murmelte der Reisende mit einem Ausdrucke unsäglicher Schwermut. Dann fügte er mit leiser Stimme hinzu: Ja, dort wird der Hafen sein.

Und er versenkte sich wieder in seine Gedanken, die sich durch ein unsäglich trauriges Lächeln kundgaben.

Zehn Minuten nachher geite man die Segel auf und warf den Anker fünfhundert Schritte von einem kleinen Hafen.

DasBoot warbereits mit den Ruderern und dem Lotsen im Meere. Der Reisende stieg hinabundblieb, statt sich auf das für ihn mit einemblauen Teppich geschmückte Vorderteil zu setzen, mit gekreuzten Armen stehen.

Die Ruderer warteten, ihre Ruder halbin die Höhe gehoben, wie Vögel, die ihre Flügel trocknen lassen.

Vorwärts! sprach der Reisende.

Die acht Ruderer setzten mit einem Schlage ein; dann glitt dieBarke, dem Antriebe gehorchend, rasch dem Ufer zu.

In einem Augenblickbefand man sich in der kleinenBucht, die hier durch einen natürlichen Ausschnitt gebildet wurde. DieBarkeberührte einen Grund von feinem Sand. Der junge Mann stieg aus und suchte mit seinen Augen um sich her den Weg, denn es warbereits völlig Nacht.

In dem Augenblick, wo er den Kopf umwandte, ruhte eine Hand auf seiner Schulter, und eine Stimme ließ ihn erbeben.

Guten Abend, Maximilian, sagte diese Stimme, Sie sind sehr pünktlich, und ich danke Ihnen.

Sie sind es, Graf! rief der junge Mann mit einer freudigenBewegung und mit seinenbeiden Händen die Hand Monte Christos drückend.

Ja, wie Sie sehen, nicht minder pünktlich; doch Sie triefen, lieber Freund. Sie müssen die Kleider wechseln, es findet sich hier eine für Siebereitstehende Wohnung, in der Sie Müdigkeit und Kälte vergessen werden, sagte Monte Christo lächelnd.

Maximilian schaute den Grafen voll Erstaunen an.

Wie, sagte er, Sie sind hier nicht mehr derselbe, der Sie in Paris waren?

Warum dies?

Ja, hier lächeln Sie.

Monte Christos Stirn verdüsterte sich plötzlich, und er sagte: Sie haben recht, daß Sie mich an mich selbst erinnern, Maximilian; Sie wiederzusehen war ein Glück für mich, und ich vergaß, daß jedes Glück vorübergehend ist.

Oh! nein, nein, Graf, rief Morel, abermals diebeiden Hände seines Freundes ergreifend; lachen Sie im Gegenteil, seien Sie glücklich, undbeweisen Sie mir, daß das Leben nur für die Leidenden schlecht ist. Oh! Sie sind menschenfreundlich, Sie sind gut, Sie sind groß, mein Freund, und um mir Mut zu verleihen, heucheln Sie diese Heiterkeit.

Sie täuschen sich, Morel, erwiderte Monte Christo, ich war in der Tat glücklich.

Dann ist es um sobesser, Sie vergessen mich.

Wieso?

Ja, denn Sie wissen, Freund, wie der Gladiator, der in den Zirkus trat, den erhabenen Kaiserbegrüßte, so sage ich zu Ihnen: Der den Tod erleiden wird, grüßt dich.

Sie sind nicht getröstet? fragte Monte Christo mit einem seltsamenBlicke.

Haben Sie wirklich geglaubt, ich könnte es sein? rief Morel mit einem Tone vollBitterkeit. Graf, hören Sie mich: Ichbin zu Ihnen gekommen, um in den Armen eines Freundes zu sterben. Allerdings gibt es noch Menschen, die ich liebe; ich liebe meine Schwester Julie, ich liebe ihren Gatten Emanuel; aber für mich ist esBedürfnis, daß man mir starke Arme öffnet, daß man mir in meinen letzten Augenblicken zulächelt. Meine Schwester würde in Tränen zerfließen und ohnmächtig werden; ich würde sie leiden sehen und habe selbst genug gelitten. Emanuel würde mir die Waffe aus den Händen reißen und das Haus mit seinem Geschrei erfüllen. Sie, Graf, dessen Wort ich habe, Sie, der Sie mehr als ein Mensch sind, Sie werden mich sanft und zärtlichbis zu den Pforten des Todes geleiten? Oh! Graf, wie sanft und wollüstig werde ich im Tode ruhen!

Morel sprach diese letzten Worte mit einem Ausdrucke von Energie, der den Grafenbeben ließ.

Mein Freund, fuhr Morel fort, als er sah, daß der Graf schwieg, Sie haben mir den fünften Oktober als das Ende der Fristbezeichnet, die Sie von mir verlangen… Mein Freund, heute ist der fünfte Oktober…

Morel zog seine Uhr.

Es ist neun Uhr, ich habe noch drei Stunden zu leben.

Es sei! sagte Monte Christo, kommen Sie!

Morel folgte mechanisch dem Grafen, und sie warenbereits in der Grotte, ehe es Maximilianbemerkte.

Er fand Teppiche unter seinen Füßen, eine Tür öffnete sich, Wohlgerüche umhüllten ihn, ein lebhaftes Licht traf seine Augen. Morel zögerte, weiterzugehen, undbliebstehen; er mißtraute den entnervenden Sinnenreizen, die ihn umgaben.

Monte Christo zog ihn sanft vorwärts und sagte: Geziemt es sich nicht, daß wir die drei Stunden, die uns nochbleiben, wie die alten Römer verwenden, die, von Nero, ihrem Kaiser und Erben, zum Tode verurteilt, sich mitBlumenbekränzt zu Tische setzten und den Tod mit dem Wohlgeruch von Heliotropen und Rosen einatmeten?

Morel lächelte.

Wie Sie wollen, sagte er; der Todbleibt immer der Tod, das heißt die Ruhe, das heißt die Abwesenheit des Lebens nd folglich des Schmerzes. Er setzte sich, Monte Christo nahm seinen Platz ihm gegenüber.

Manbefand sich in dem wundervollen, bereits von unsbeschriebenen Speisesaal, wo Marmorstatuen auf ihren Häuptern stets mitBlumen und Früchten gefüllte Körbchen trugen.

Morel hatte alles flüchtig angeschaut und ohne Zweifel nichts gesehen. Reden wir als Männer! sagte er mit einemBlicke auf den Grafen.

Sprechen Sie!

Graf, Sie sind der Inbegriff aller menschlichen Kenntnisse, und Ihr Wesen macht den Eindruck auf mich, als kämen Sie aus einer Welt, die weiter vorgerückt und reicher ist, als die unsrige.

Es ist etwas Wahres daran. Morel, sagte der Graf mit jenem schwermütigen Lächeln, das ihn so schön erscheinen ließ; ichbin von einem Planeten herabgestiegen, den man den Schmerz nennt.

Ich glaube alles, was Sie mir sagen, ohne daß ich den Sinn davon zu ergründen suche. ZumBeweise hierfür mag dienen: Sie hießen mich leben, und ich lebte; Sie hießen mich hoffen, und ich hofftebeinahe. Ich wage es daher, Graf, sie zu fragen, als obSie schon einmal tot gewesen wären: Graf, tut das wehe?

Monte Christo schaute Morel mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit an und erwiderte: Ja, allerdings, es tut sehr wehe. Wenn Sie auf eine rohe Weise die sterbliche Hülle zerreißen, die hartnäckig zu leben verlangt; wenn Sie Ihr Fleisch unter den unmerklichen Zähnen eines Dolches aufschreien lassen; wenn Sie mit einer unverständigen Kugel Ihr Hirn durchbohren, dasbei dem geringsten Stoße von Schmerzenbefallen wird, — so werden Sie sicher leiden und mit Widerwillen das Leben verlassen, das Sie mitten unter Ihrem verzweiflungsvollen Todeskampfe immer noch schöner finden, als eine so teuer erkaufte Ruhe.

Ja, ichbegreife, sagte Morel; der Tod hat wie das Leben seine Geheimnisse des Schmerzes und der Wollust, und es kommt nur darauf an, sie kennen zu lernen.

Ganz richtig, Maximilian, Sie haben das große Wort ausgesprochen. Der Tod ist, je nachdem wir uns gut oder schlimm mit ihm stellen, entweder ein Freund, der uns ebenso sanft wiegt, wie eine Amme, oder ein Feind, der uns mit Gewalt die Seele aus dem Leibe reißt. Eines Tags, wenn unsere Welt noch tausend Jahre gelebt, wenn man sich aller zerstörenden Kräfte der Naturbemächtigt haben wird, um sie der allgemeinen Wohlfahrt der Menschheit dienstbar zu machen; wenn der Mensch einmal die Geheimnisse des Todes kennt, — wird dieser ebenso sanft, ebenso wollüstig sein, wie der Schlummer in den Armen unserer Geliebten.

Und wenn Sie sterben wollten, wüßten Sie so zu sterben? — Ja.

Morel reichte ihm die Hand und sagte: Ichbegreife nun, warum Sie mich hierherbeschieden haben, auf diese einsame Insel, mitten in den Ozean, in diesen unterirdischen Palast… ein Grab, das den Neid eines Pharao erregt haben würde; es geschah dies, weil Sie mich liebten, nicht wahr, Graf? Weil Sie mich hinreichend lieben, um mir einen Tod ohne Kampf zu gönnen, einen Tod, der mir gestattet, zu sterben, während ich den Namen Valentine ausspreche und Ihnen die Hand drücke?

Ja, Sie haben richtig erraten, Morel, sagte der Graf einfach, dies war meine Absicht.

Ich danke; die Hoffnung, daß ich morgen nicht mehr leben werde, ist so süß für mein armes Herz.

Bedauern Sie keinen Verlust? fragte Monte Christo.

Nein! antwortete Morel.

Bedauern Sie nicht, von mir scheiden zu müssen? fragte der Graf mit tiefer Rührung.

Morel hielt inne. Sein so reines Auge trübte sich plötzlich und glänzte dann wieder in ungewöhnlichem Feuer, eine große Träne strömte hervor und rollte an seiner Wange herab.

Wie! rief der Graf, Siebeklagen den Verlust von irgend etwas auf Erden und wollen sterben?

Oh! Ich flehe Sie an! rief Morel mit mattem Tone, kein Wort mehr, verlängern Sie meine Qualen nicht, Graf.

Hören Sie, Morel, sagte der Graf, im innersten Herzenbewegt, Ihr Schmerz ist ungeheuer, das sehe ich; aber dennoch glauben Sie an Gott und setzen das Heil Ihrer Seele nicht aufs Spiel!

Morel lächelte traurig und erwiderte: Graf, ich schwöre Ihnen, meine Seele gehört nicht mehr mir.

Hören Sie, Morel, ich habe keine Verwandten auf der Welt, ich habe mich daran gewöhnt, Sie als meinen Sohn zubetrachten; um meinen Sohn zu retten, würde ich mein Leben und noch viel mehr mein Vermögen opfern.

Was wollen Sie damit sagen?

Ich will damit sagen, Morel, daß Sie das Leben verlassen, weil Sie nicht alle Genüsse kennen, die es einem großen Vermögen verheißt. Morel, ichbesitze hundert Millionen: mit einem solchen Vermögen können Sie jedes Ziel erreichen, das Sie sich vorsetzen. Sind Sie ehrgeizig? Jede Laufbahn ist Ihnen geöffnet. Setzen Sie die Welt in Aufruhr, vollführen Sie wahnsinnige Streiche, seien Sie ein Verbrecher, wenn es sein muß, aber leben Sie.

Graf, ich habe Ihr Wort, erwiderte Morel kalt, und, fügte er, seine Uhr ziehend, hinzu, es ist halbzwölf Uhr.

Morel! Bedenken Sie auch, unter meinen Augen, in meinem Hause?

Dann lassen Sie mich gehen, sprach Morel düster, oder ich fange an zu glauben, Sie lieben mich nicht meinetwegen, sondern Ihretwegen! Und er stand auf.

Es ist gut, sagte Monte Christo, dessen Gesicht sichbei diesen Worten aufklärte; Sie wollen es, Morel, und sind unbeugsam. Ja! Sie sind tief unglücklich, und es könnte Sie, wie Sie gesagt haben, nur ein Wunder heilen; setzen Sie sich, Morel, und warten Sie!

Morel gehorchte. Monte Christo stand ebenfalls auf und holte aus einem sorgfältig verschlossenen Schranke, dessen Schlüssel er an einer goldenen Kette an sich hängen hatte, ein kleines silbernes, wunderbar gearbeitetes Kästchen, dessen Ecken vier Figuren darstellten, Figuren von Frauen, Symbole von Engeln, die zum Himmel aufstreben.

Er stellte dieses Kästchen auf den Tisch, öffnete es und zog eine kleine goldene Kapsel daraus hervor, deren Deckel sich durch den Druck einer Feder hob.

Diese Kapsel enthielt eine salbenartige, halbfeste Substanz. Der Graf schöpfte eine kleine Menge davon mit einem goldenen Löffel undbot sie Morel mit einem langenBlicke.

Man konnte nun sehen, daß diese Substanz grünlich war.

Das ist es, was Sie von mir verlangten, sagte er, das ist es, was ich Ihnen versprochen habe.

Noch lebend, erwiderte der junge Mann, den Löffel aus den Händen Monte Christos nehmend, noch lebend danke ich Ihnen aus dem Grunde meines Herzens.

Der Graf nahm einen zweiten Löffel und schöpfte abermals aus der goldenen Kapsel.

Was wollen Sie machen, Freund? fragte Morel, seine Hand zurückhaltend.

Meiner Treu, Morel, erwiderte er lächelnd, Gott vergebe mir! Ich glaube, ichbin des Lebens so müde wie Sie, und da sich eine Gelegenheitbietet…

Halten Sie ein! rief der junge Mann. Oh! Sie, der Sie lieben, den man liebt, der Sie den Glauben und die Hoffnung haben, tun Sie nicht, was ich zu tun imBegriffebin!

Von Ihrer Seite wäre es ein Verbrechen. Gottbefohlen, mein edler und hochherziger Freund! Gottbefohlen! Ich werde Valentine alles sagen, was Sie für mich getan haben.

Und ohne weiter zu zögern, schlürfte Morel die geheimnisvolle Substanz.

Dann schwiegenbeide. Alibrachte still und aufmerksam den Tabak und die persischen Pfeifen, trug den Kaffee auf und verschwand. Allmählich erbleichten die Lampen in den Händen der Marmorstatuen, und der Geruch der Räucherflammen kam Morel minder durchdringend vor.

Ihm gegenübersitzend, schaute Monte Christo Maximilian aus der Tiefe des Schattens an, während Morel nur die Augen des Grafen glänzen sah.

Ein ungeheurer Schmerzbemächtigte sich des jungen Mannes; er fühlte die Pfeife seinen Händen entschlüpfen, die Gegenstände verloren unmerklich ihre Farbe, seinen getrübten Augen kam es vor, als öffneten sich die Türen und Vorhänge in der Wand.

Freund, sagte er, ich fühle, daß ich sterbe — Dank!

Er machte eine Anstrengung, um dem Grafen zum letzten Male die Hand zu reichen; aber die Hand fiel kraftlos an seiner Seite nieder.

Dann kam es ihm vor, als lächele Monte Christo, nicht mit seinem seltsamen, furchtbaren Lächeln, bei dem er wiederholt die Geheimnisse dieser tiefen Seele im Halbdunkel zu erkennen geglaubt hatte, sondern mit einembarmherzigen Wohlwollen, wie es Väter ihren kleinen Kindern zeigen, wenn diese unvernünftige Dinge reden.

Zu gleicher Zeit wuchs der Graf in seinen Augen; seine fast verdoppelte Gestalt trat auf den roten Tapeten hervor; er hatte seine schwarzen Haare zurückgeworfen und erschien aufrecht und stolz, wie einer von jenen Engeln, mit denen man dieBösen am Tage des jüngsten Gerichtesbedroht.

Gelähmt, gebändigt, warf sich Morel in seinen Stuhl zurück; eine sanfte Erstarrung durchdrang alle seine Adern.

Liegend, entkräftet, fühlte er nichts Lebendes mehr in sich als diesen Traum; es kam ihm vor, als liefe er mit vollen Segeln in den schwankenden Zustand ein, der dem unbekannten Dunkel vorhergeht, das man Tod nennt. Noch einmal versuchte er, dem Grafen seine Hand zu geben; diesmal aber rührte sich seine Hand nicht mehr. Er wollte ein letztes Lebewohl aussprechen; doch seine Zunge wälzte sich schwerfällig im Munde umher, wie ein Stein, der ein Grabverstopfen soll.

Seine mitbetäubender Schlafsuchtbelasteten Augen schlossen sich unwillkürlich; hinter seinen Augenlidern aberbewegte sich einBild, das er erkannte, trotz der Dunkelheit, mit der er sich umhüllt glaubte. Es war der Graf, der eine Tür öffnete.

Sogleich übergoß eine unermeßliche, aus einem anstoßenden mit unendlicher Pracht geschmückten Gemache hervorstrahlende Klarheit den Saal, in dem sich Morel seinem süßen Todeskampfe hingab.

Da sah er auf der Schwelle dieses Saales zwischenbeiden Gemächern eine Frau von wunderbarer Schönheit stehen, Bleich und sanft lächelnd, schien sie der Engel derBarmherzigkeit, der den Engel der Rachebeschwört.

Öffnet sich schon der Himmel für mich? dachte der Sterbende; dieser Engel gleicht dem, welchen ich verloren habe.

Monte Christobezeichnete der jungen Frau mit dem Finger das Sofa, auf dem Morel ruhte.

Sie ging auf ihn zu, die Hände gefaltet und ein Lächeln auf den Lippen.

Valentine! Valentine! rief Morel aus dem Grunde seiner Seele.

Aber sein Mundbrachte keinen Ton hervor, und er stieß, als wären alle seine Kräfte in dieser innerenBewegung vereinigt, einen Seufzer aus und schloß die Augen.

Valentine stürzte auf ihn zu.

Morels Lippen machten abermals eineBewegung.

Er ruft Sie, sprach der Graf, er ruft Sie aus der Tiefe seines Schlummers, er, dem Sie Ihr Schicksal anvertraut hatten, und von dem Sie der Tod trennen wollte! Aber zum Glück war ich da; und ich habe den Todbesiegt! Valentine, fortan sollt ihr euch auf Erden nicht mehr trennen; denn damit ihr einander wiederfändet, stürzte er sich in das Grab. Ohne mich wäret ihrbeide gestorben; ich gebe euch einander zurück: möge Gott mir das doppelte Dasein, das ich rettete, in Rechnung stellen!

Valentine ergriff die Hand Monte Christos und drückte sie in einem Ergusse unwiderstehlicher Freude an ihre Lippen.

Oh! Danken Sie mir sehr, sagte der Graf, oh! Wiederholen Sie mir, ohne des Wiederholens müde zu werden, daß ich Sie glücklich gemacht habe; Sie ahnen nicht, wie sehr ich dieser Gewißheitbedarf.

Oh! Ja, ja, ich danke Ihnen von ganzer Seele, sagte Valentine, und wenn Sie an der Aufrichtigkeit meines Dankes zweifeln, so fragen Sie Haydee, die mich seit unserer Abreise von Frankreichbewog, mit Gesprächen über Sie den glücklichen Tag, der heute für mich erglänzt, geduldig zu erwarten.

Sie lieben also Haydee? fragte Monte Christo mit einer Rührung, die er vergebens zu verbergenbemüht war.

Oh! Von ganzer Seele!

Nun wohl, so hören Sie, sagte der Graf, ich habe mir eine Gunst von Ihnen zu erbitten.

Von mir? Großer Gott! Bin ich so glücklich?…

Ja. Sie haben Haydee Ihre Schwester genannt, möge sie in der Tat Ihre Schwester sein, Valentine; geben Sie ihr alles zurück, was Sie mir schuldig zu sein glauben, beschützen Sie mit Morel die arme Haydee, denn sie wird fortan allein auf der Welt sein…

Allein auf der Welt! wiederholte eine Stimme hinter dem Grafen; und warum?

Monte Christo wandte sich um.

Haydee stand da, bleich und in Eis verwandelt, und schaute den Grafen mit einer Gebärde tödlicher Starrheit an.

Weil du morgen frei sein wirst, meine Tochter, antwortete der Graf; weil du in der Welt den dir gebührenden Platz einnehmen wirst; weil mein Verhängnis das deinige nicht verdunkeln soll. Fürstentochter! Ich gebe dir die Reichtümer und den Namen deines Vaters zurück!

Haydee erbleichte, öffnete ihre durchsichtigen Hände, wie es die Jungfrau tut, die sich Gottbefiehlt, und sprach mit einer von Tränen heiseren Stimme: Also du verläßt mich, Herr?

Haydee! Dubist jung, dubist schön; vergiß michbis auf meinen Namen und sei glücklich!

Es ist gut, sprach Haydee, deineBefehle sollen vollzogen werden, mein Herr, ich werde dichbis auf deinen Namen vergessen und glücklich sein. Und sie machte einen Schritt rückwärts, um sich zu entfernen.

Oh, mein Gott! rief Valentine, während sie den erstarrten Kopf Morels auf ihre Schulter hob, sehen Sie nicht, wiebleich sie ist? Begreifen Sie nicht, was sie leidet?

Haydee entgegnete mit einem herzzerreißenden Ausdrucke: Warum soll er michbegreifen? Er ist mein Herr, und ichbin seine Sklavin; er hat das Recht, nichts zu sehen.

Der Grafbebtebei den Tönen dieser Stimme, die selbst die geheimsten Fibern seines Herzens erweckte; seine Augenbegegneten denen des jungen Mädchens und konnten ihren Glanz nicht ertragen.

Mein Gott! Mein Gott! rief Monte Christo, was ich ahnen durfte, wäre also wahr, Haydee, du wärest glücklich, wenn ich dich nicht verlassen würde?

Ichbin jung, antwortete sie mit sanftem Tone; ich liebe das Leben, das du mir stets so süß gemacht hast, und würde esbeklagen, wenn ich sterben müßte.

Damit willst du mir sagen, wenn ich dich verließe, Haydee…

So würde ich sterben, Herr, ja!

Du liebst mich also?

Oh! Valentine, er fragt, obich ihn liebe! Valentine, sage ihm doch, obdu Maximilian liebst!

Der Graf fühlte, wie seineBrust sich erweiterte und sein Herz sich ausdehnte; er öffnete seine Arme, und Haydee fiel ihm, einen Schrei ausstoßend, um den Hals.

Oh! Ja, ich liebe dich! sprach sie, ich liebe dich, wie man seinen Vater, seinenBruder, seinen Gatten liebt, ich liebe dich, wie man sein Leben, seinen Gott liebt, denn dubist für mich das Schönste, dasBeste und das Größte der geschaffenen Wesen.

Also geschehe, wie du willst, mein geliebter Engel, sagte der Graf. Gott, der mich gegen meine Feinde angetrieben und mich zu ihrem Sieger gemacht hat, Gott will nicht diese Reue an das Ende meines Sieges setzen, das sehe ich nun. Ich wollte michbestrafen; Gott will mir verzeihen. Liebe mich also, Haydee! Wer weiß? Deine Liebe wird mich vielleicht vergessen lassen, was ich vergessen muß.

Aber was sprichst du denn da, Herr? fragte das junge Mädchen.

Ich sage, daß ein Wort von dir, Haydee, mich mehr erleichtert hat, als zwanzig Jahre meiner lahmen Weisheit. Ich habe nur dich aus dieser Welt; durch dich kann ich leiden, durch dich kann ich glücklich sein.

Hörst du, Valentine? rief Haydee, er sagt, durch mich könne er leiden, durch mich, die ich mein Leben für ihn geben würde!

Der Graf sammelte sich einen Augenblick und sprach: Habe ich die Wahrheit erschaut? Oh, mein Gott, gleichviel, Belohnung oder Strafe, ich nehme dieseBestimmung an. Komm, Haydee, komm…

Seinen Arm um den Hals des Mädchens schlingend, drückte er Valentine die Hand und verschwand.

Es verging ungefähr eine Stunde, während deren Valentine, stöhnend, ohne Stimme und mit starren Augenbei Morel verharrte. Allmählich fühlte sie sein Herz schlagen, ein unmerklicher Atem öffnete seine Lippen, und dieses leichte, die Rückkehr des Lebens verkündendeBeben durchlief den ganzen Leibdes jungen Mannes.

Endlich öffneten sich seine Augen, aber starr und wie im Irrwahn; dann kehrte das Gesicht zurück, und mit dem Gesicht das Gefühl, mit dem Gefühl der Schmerz.

Oh! rief er im Tone der Verzweiflung, ich lebe noch, der Graf hat mich getäuscht! Und er streckte die Hand nach dem Tische aus und griff nach einem Messer.

Freund, sagte Valentine mit ihrem wunderbaren Lächeln, erwache und schaue mich an!

Morel stieß einen gewaltigen Schrei aus und fiel mit irrem Geiste, voll Zweifel, wie von einer himmlischen Erscheinung geblendet, auf seine Knie nieder…

Am andern Morgen, bei den ersten Strahlen des Tages, gingen Morel und Valentine Arm in Arm am Gestade hin. Valentine erzählte Morel, wie Monte Christo in ihrem Zimmer erschienen sei, wie er ihr alles entschleiert habe, wie er sie das Verbrechen mit dem Finger habeberühren lassen, und sie endlich auf eine wunderbare Weise, indem er die Leute in dem Glauben ließ, sie sei wirklich gestorben, vom Tode errettete.

Sie hatten die Tür der Grotte offen gefunden und waren hinausgetreten; der Himmel ließ in seinem Morgenazur die letzten Gestirne der Nacht erglänzen.

Da erblickte Morel in dem Halbschatten einer Gruppe von Felsen einen Menschen, der auf ein Zeichen wartete, um herbeizukommen; es war Jacopo, der Kapitän der Jacht.

Mit einer Gebärde rief Valentine ihn zu sich, und Maximilian fragte ihn: Ihr habt uns etwas zu sagen?

Ich habe Ihnen einenBrief vom Grafen zu übergeben. Vom Grafen! murmelten gleichzeitig die jungen Leute.

Ja, lesen Sie.

Morel öffnete denBrief und las:

Mein lieber Maximilian!

Eine Feluke liegt für Sie vor Anker. Jacopo wird Sie nach Livorno fahren, wo Herr Noirtier seine Enkelin erwartet, die er segnen will, ehe sie Ihnen zum Altare folgt. Alles, was sich in dieser Grotte findet, mein Freund, mein Haus in den Champs‑Elysées und mein kleines Schloß in Treport sind Hochzeitsgeschenke von Edmond Dantes für den Sohn seines Patrons Morel. Fräulein von Villefort wird die Güte haben, die Hälfte davon zu nehmen, denn ichbitte sie, den Armen von Paris das ganze Vermögen zu schenken, das ihr von ihrem Vater, der wahnsinnig geworden, und von ihremBruder, der im vorigen September mit ihrer Stiefmutter verschieden ist, zukommt.

Sagen Sie dem Engel, der über Ihrem Leben wachen wird, Morel, er möge zuweilen für einen Menschenbeten, der sich wie Satan einen Augenblick für Gottes gleichen gehalten, aber mit aller Demut eines Christen erkannt hat, daß in den Händen Gottes allein die oberste Macht und die unbegrenzte Weisheit liegen. Diese Gebete werden vielleicht die Gewissensbisse mildern, die er im Grunde seines Herzens mit sich trägt.

Was Siebetrifft, Morel, hören Sie das ganze Geheimnis meinesBenehmens gegen Sie. Es gibt weder Glück noch Unglück auf dieser Welt, es gibt nur eine Vergleichung eines Zustandes mit einem anderen und mehr nicht. Der allein, der das äußerste Unglück erfahren hat, ist geeignet, die höchste Glückseligkeit zu empfinden. Man muß die Nähe des Todes empfunden haben, Maximilian, um zu wissen, wie schön das Leben ist.

Lebt also und seid glücklich, geliebte Kinder meines Herzens, und vergeßt nie: bis zu dem Tage, wo es Gott gefallen wird, den Menschen die Zukunft zu enthüllen, besteht die ganze menschliche Weisheit in den zwei Worten:

Warten und Hoffen!

Euer Freund

Edmond Dantes, Graf von Monte Christo.

Während Maximilian diesenBrief las, der Valentine von dem Wahnsinn ihres Vaters und dem Tode ihresBruders in Kenntnis setzte, erbleichte sie; ein schmerzlicher Seufzer entschlüpfte ihrerBrust, und stille, aber darum nicht minderbrennende Zähren rollten an ihren Wangen herab. Ihr Glück war teuer erkauft.

Morel schaute unruhig umher und sprach: In der Tat, der Graf übertreibt seine Großmut, Valentine würde sich mit meinembescheidenen Vermögenbegnügt haben. Wo ist der Graf, mein Freund? Führt mich zu ihm!

Jacopo streckte die Hand nach dem Horizont aus. Die Augen der jungen Leute folgten der vom Seemann angegebenen Richtung, und auf einer dunkelblauen Linie, die am Horizont den Himmel vom Meere trennte, erblickten sie ein kleines weißes Segel.

Abgereist! rief Morel; abgereist! Gottbefohlen, mein Freund! Fahre wohl, mein Vater!

Abgereist! rief Valentine: Gottbefohlen, meine Freundin! Fahre wohl, meine Schwester! Wer weiß, obwir sie je wiedersehen werden! sagte Morel, eine Träne trocknend.

Mein Freund! versetzte Valentine, hat uns der Graf nicht gesagt, die ganze menschliche Weisheitbestehe in den zwei Worten:

Загрузка...