Dritter Band

Die Vorstellung

Als Albert sich mit Monte Christo allein sah, sagte er: Herr Graf, erlauben Sie mir, Ihnen zunächst meine Junggesellenwohnung zu zeigen. An die italienischen Paläste gewöhnt, werden Sie sich freilich wundern, mit wie wenig Raum ein junger Mann hier in Paris auskommen kann.

Monte Christo kanntebereits das Speisezimmer und den Salon im Erdgeschoß. Albert führte ihn nun in seinbevorzugtes Zimmer, sein Atelier. Der Graf wußte alle die zahllosen Gegenstände darin zu würdigen, und Morcerf, der dem Gaste als Erklärer hatte dienen wollen, machte seinerseits unter Leitung seines Gastes einen Kursus in der Archäologie und Naturwissenschaft durch.

Man stieg dann in den ersten Stock hinauf, und Albert führte seinen Gast in den Salon, der mit Werken moderner Meister geschmückt war. Wenn er aber erwartet hatte, diesmal wenigstens dem fremden Reisenden etwas Neues zu zeigen, so hörte er zu seinem großen Erstaunen diesen sofort den Namen jedes Meisters nennen, obgleich die Werke häufig nur die Anfangsbuchstaben desselben trugen. Offenbar kannte er nicht nur alle diese Namen, sondern verstand auch jedes dieser Talente zu würdigen.


Vom Salon ging man ins Schlafzimmer; es war zugleich ein Muster von Eleganz und von strengem Geschmack; darin glänzte ein einziges künstlerisch ausgeführtes Porträt in mattgoldenem Rahmen. DiesesBild zog sogleich dieBlicke des Grafen an, denn er machte drei rasche Schritte darauf zu.

Es war das Porträt einer Frau von etwa fünfundzwanzig Jahren, vonbrauner Gesichtsfarbe, mit feurigem, von schön geformtem Augenlide verschleiertemBlicke, sie trug die malerische Kleidung der katalonischen Fischerinnen mit rot und schwarzem Mieder und goldenen, durch die Haare gesteckten Nadeln; sie schaute auf die See hinaus, und ihr hübsches Profil hobsich von dem doppelten Azur der Wellen und des Himmels ab.

Es war düster im Zimmer, sonst hätte Albert gesehen, welche Leichenblässe sich über die Wangen des Grafen verbreitete, er hätte dasBeben seiner Schultern und seinerBrustbemerken müssen.

Nach kurzem Stillschweigen sagte der Graf von Monte Christo mit vollkommen ruhiger Stimme: Graf, Sie haben da eine schöne Geliebte, und diesesBallkostüm steht ihr zum Entzücken.

Oh! erwiderte Albert, Sie irren. Das ist meine Mutter, die Sie ja noch nicht gesehen haben. Die Tracht ist, wie es scheint, ein Phantasiekostüm, und die Ähnlichkeit ist so groß, daß ich meine Mutter noch vor mir zu sehen wähne, wie sie im Jahre 1830 war, als sie dieses Porträt während einer Abwesenheit des Grafen malen ließ. Seltsamerweise mißfiel das Porträt meinem Vater, und der große Kunstwert des Gemäldes ließ ihn den Widerwillen nicht überwinden, den er dagegen gefaßt hatte. Allerdings ist Herr von Morcerf, unter uns gesagt, einer der eifrigsten Politiker, einberühmter General, aber ein äußerst mäßiger Kunstkenner. Anders meine Mutter, die sehr gut malt, und da sie ein solches Werk zu sehr schätzt, um sich gänzlich davon trennen zu können, hat sie es mir gegeben, damit es Herrn von Morcerf, dessen Porträt ich Ihnen übrigens auch zeigen werde, seltener vor Augen komme. Meine Mutter jedoch kommt selten zu mir, ohne es zubetrachten, und noch seltener geschieht es, daß sie dasBildbetrachtet, ohne zu weinen. Übrigens ist die Wolke, die durch dieses Gemälde in unser Haus kam, die einzige, die sich zwischen dem Grafen und der Gräfin erhoben hat, denn sie sind, obgleich seit mehr als zwanzig Jahren verheiratet, noch heute so sehr eins wie am ersten Tage.

Monte Christo warf einen raschenBlick auf Albert, als wollte er unter seinen Worten eine verborgene Absicht suchen, aber der junge Mann hatte sie offenbar völlig absichtslos ausgesprochen.

Nun haben Sie alle meine Reichtümer gesehen, fuhr Albert fort; erlauben Sie mir, Herr Graf, sie Ihnen anzubieten, so unwürdig sie auch sein mögen. Betrachten Sie sich als hier zu Hause, und um noch heimischer zu werden, haben Sie die Güte, mich zu Herrn von Morcerf zubegleiten, dem ich von Rom den Dienst, den Sie mir geleistet, mitgeteilt. und denBesuch, den Sie mir versprochen, angekündigt habe. Ich darf wohl sagen, der Graf und die Gräfin erwarten mit Ungeduld den Zeitpunkt, wo sie Ihnen danken können. Sie haben hierfür wenig Sinn; ich weiß das, Herr Graf, und Familienszenen üben keine große Wirkung auf Simbad den Seefahrer aus, der so viele andere Szenen gesehen hat. Nehmen Sie indessen, was ich Ihnenbieten kann, als Eingang in das Pariser Leben an, in ein Leben voll Höflichkeitsbesuche und Vorstellungen.

Monte Christo verbeugte sich, ohne zu antworten; er nahm den Vorschlag ohneBegeisterung und ohne Widerstreben an… wie eine Pflicht des Anstandes, der sich jeder unterwerfen muß. Albert rief seinen Kammerdiener undbefahl ihm, Herrn und Frau von Morcerf den Grafen von Monte Christo zu melden; dann folgte er ihm mit dem Grafen.

Als man in das Vorzimmer des Grafen gelangte, sah man über der Tür des Salons ein Wappenschild; der Grafbliebvor dem Wappen stehen, schaute es aufmerksam an und fragte: Ohne Zweifel das Wappen Ihrer Familie, Vicomte? Ichbin sehr unwissend in der Wappenkunde.

Sie haben richtig erraten, es sind die Wappen meines Vaters und meiner Mutter, antwortete Morcerf mit dem einfachen Tone der Überzeugung. Von weiblicher Seitebin ich Spanier, doch das Haus Morcerf ist französisch und, wie ich sagen hörte, eines der ältesten im südlichen Frankreich.

Ja, sagte der Graf, das deuten die Amseln in den Wappen an. Fast alle Kreuzfahrer wählten als Wappen entweder Kreuze oder Wandervögel. Einer Ihrer väterlichen Ahnen wird einen Kreuzzug mitgemacht haben, und nehmen wir auch an, es sei einer der letzten Züge unter Ludwig dem Heiligen gewesen, so führt dies Ihren Adel schon in das dreizehnte Jahrhundert zurück, was immerhin ein hübsches Alter ist. Sie stammen also zugleich von der Provence und von Spanien her, wodurch sich, wenn das Porträt, das Sie mir gezeigt haben, ähnlich ist, die schönebraune Farbe erklärt, die ich so sehr auf dem Antlitz der edeln Katalonierinbewunderte.

Die Ironie, die in diesen Worten lag, die scheinbar das Gepräge der größten Höflichkeit an sich trugen, war schwer zu erraten; Morcerf dankte ihm auch mit einem Lächeln, ging voran und öffnete eine in den Salon führende Tür. An der am meisten in das Auge fallenden Stelle dieses Salons sah man ebenfalls ein Porträt; es war das eines Mannes von etwa sechsunddreißig Jahren in Generalsuniform mit demBande der Kommandeure der Ehrenlegion, dem Stern des Großoffiziers vom Erlöser‑Orden und dem Großkreuz des Ordens Karls III.

Monte Christobeschäftigte sich eben damit, dieses Porträt mit derselben Sorgfalt zu zergliedern wie vorher das andere, als eine Seitentür geöffnet wurde und er sich dem Grafen von Morcerf selbst gegenüber fand.

Dieser war ein Mann von vierzigbis fünfundvierzig Jahren; sein schwarzer Schnurrbart und seine schwarzen Augenbrauen stachen seltsam von seinen weißen, nach militärischer Modebürstenartig geschnittenen Haaren ab; er warbürgerlich gekleidet und trug am Knopfloch ein Ordensband. Der Graf von Morcerf trat mit ziemlich edlem Anstand und mit einem gewissen Eifer ein. Monte Christo ließ ihn auf sich zukommen, ohne einen Schritt zu tun; man hätte glauben sollen, seine Füße seien an denBoden genagelt, wie seine Augen an das Gesicht des Eintretenden.

Mein Vater, sagte der junge Mann, ich habe die Ehre, Ihnen den Grafen von Monte Christo, den edelmütigen Freund, vorzustellen, den ich so glücklich war unter den Ihnenbekannten, schwierigen Umständen zu treffen.

Der Herr ist willkommen in unserer Mitte, sagte der Graf von Morcerf, Monte Christo mit einem Lächelnbegrüßend; er hat unserem Hause durch Erhaltung seines einzigen Erben einen Dienst geleistet, für den wir zu unauslöschlichem Danke verpflichtet sind.

Mit diesen Wortenbot Morcerf seinem Gaste einen Lehnstuhl, während er sich selbst vor das Fenster setzte. Monte Christo nahm den gebotenen Platz an, richtete es aber so ein, daß er im Schatten der großen Samtvorhänge verborgenblieb, wo es ihm gestattet war, in den Zügen des Grafen, die auffallende Spuren sorgenvoller Ermattung zeigten, eine ganze Geschichte geheimer Leiden zu lesen, die aus den tiefen Furchen sprach, womit ein frühzeitiges Alter sein Gesicht durchzogen hatte.

Graf Morcerf sagte hierauf: Die Frau Gräfin warbei der Toilette, als sie der Herr Vicomte von demBesuchebenachrichtigen ließ, den sie zu empfangen die Ehre haben sollte; sie wird in zehn Minuten hier sein.

Es ist viel Ehre für mich, erwiderte Monte Christo, daß ich schon am Tage meiner Ankunft in Paris mit einem Manne inBerührung treten kann, dessen Verdienst seinem Rufe gleichkommt, undbei dem das gerechte Schicksal keinen Irrtumbeging. Hatte es Ihnen aber nicht auf dem algerischen Kriegsschauplatze einen Marschallsstabanzubieten?

Ich habe den Dienst verlassen, sagte Morcerf, ein wenig errötend. Unter der Restauration zum Pair ernannt, nahm ich meinen Abschied, denn wenn man, wie ich, seine Epauletten auf dem Schlachtfelde gewonnen hat, so versteht man nicht auf dem schlüpfrigenBoden des Salons zu manövrieren. Ich habe den Degen niedergelegt und mich auf die Politik geworfen, widme mich der Industrie und studiere die nützlichen Künste. Während der zwanzig Jahre, die ich im Dienste geblieben, hatte ich wohl Lust hierzu, aber es gebrach mir an Zeit.

Auf diesen Ansichtenberuht die Überlegenheit Ihrer Nation über die anderen Länder, Herr Graf, versetzte Monte Christo. Von vornehmer Herkunft und imBesitz eines schönen Vermögens, haben Sie es doch nicht verschmäht, als gemeiner Soldat von der Pike auf zu dienen, und das ist etwas Seltenes. Zum General, Pair von Frankreich, Kommandeur der Ehrenlegion erhoben, geben Sie sich zu einer zweiten Lehrzeit her, ohne andere Hoffnung und andereBelohnung, als die, eines Tages Ihresgleichen nützlich zu sein. Ah! mein Herr, das ist in der Tat schön, ich sage noch mehr, es ist erhaben!

Albertbetrachtete und hörte Monte Christo mit Erstaunen; er war nicht gewohnt, ihn so enthusiastisch sich ausdrücken zu hören.

Ah! fuhr der Fremde fort, ohne Zweifel, um die unmerkliche Wolke zu verscheuchen, diebei seinen Worten über Morcerfs Stirn hinzog, ah! wir machen es in Italien nicht so, wir wachsen nach unserem Geschlecht und unserer Gattung, und wirbehalten dasselbeBlätterwerk, dieselbe Gestalt und leider oft dieselbe Nutzlosigkeit unser ganzes Leben hindurch.

Aber, entgegnete der Graf von Morcerf, für einen Mann von Ihrem Verdienste ist Italien kein Vaterland; Frankreich reicht Ihnen seine Arme. Entsprechen Sie dem Rufe, den es an Sie ergehen läßt! Frankreich ist nicht immer undankbar; esbehandelt manchmal seine Kinder schlecht, aber für die Fremden zeigt es sich gewöhnlich großherzig.

Ei! sagte Albert lächelnd, man sieht, daß Sie den Herrn Grafen von Monte Christo nicht kennen. SeineBefriedigung liegt außerhalbdieser Welt; er strebt nicht nach Auszeichnungen.

Sie sind Herr Ihrer Zukunft gewesen und haben denBlumenpfad gewählt, sagte der Graf von Morcerf mit einem Seufzer.

Allerdings, erwiderte Monte Christo mit einem Lächeln, das ein Maler schwerlich wiedergeben könnte.

Hätte ich nicht den Herrn Grafen zu ermüdenbefürchtet, sagte der General, offenbar entzückt über die Art seines Gastes, so würde ich ihn in die Kammer geführt haben, es ist heute eine interessante Sitzung.

Ich würde Ihnen sehr dankbar sein, doch für heute hat man mir mit der Hoffnung, der Frau Gräfin vorgestellt zu werden, geschmeichelt, und ich will lieber hierauf warten.

Ah! da kommt meine Mutter, rief der Vicomte.

Rasch sich umwendend, erblickte Monte Christo wirklich Frau von Morcerf auf der Schwelle der gegenüberliegenden Tür; unbeweglich undbleich, stand sie hier seit einigen Sekunden und hatte die letzten Worte gehört.

Monte Christo erhobsich und machte eine tiefe Verbeugung vor der Gräfin, die sich stumm und zeremoniös verneigte.

Fehlt Ihnen etwas, teure Mutter? rief der junge Vicomte, Mercedes entgegeneilend.

Sie dankte mit einem Lächeln und sagte: Nein, ich fühle mich nur erschüttertbeim ersten Anblick des Herrn Grafen, ohne dessen Eingreifen wir heute in Tränen und Trauer wären. Mein Herr, fügte die Gräfin, mit der Majestät einer Königin vorschreitend, hinzu, ich verdanke Ihnen das Leben meines Sohnes und segne Sie für diese Wohltat. Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, welches Vergnügen es mirbereitet, daß Sie mir Gelegenheit verschafften, Ihnen aus dem Grunde meines Herzens zu danken, wie ich Sie aus dem Grunde meines Herzens gesegnet habe.

Der Graf verbeugte sich abermals, jedoch noch tiefer als das erste Mal; er warbleicher als Mercedes.

Gnädige Frau, sagte er, der Herr Graf und Siebelohnen mich zu großmütig für eine ganz einfache Handlung. Einen Menschen retten, dem Vater eine Qual ersparen, das empfindliche Herz einer Frau schonen, heißt nicht ein gutes Werk, sondern ein Gebot der Menschlichkeit ausführen.

Auf diese mit außerordentlicher Weichheit und Artigkeit gesprochenen Worte erwiderte die Gräfin mit gefühlvollerBetonung: Mein Herr, mein Sohn ist glücklich, Sie seinen Freund nennen zu dürfen, und ich danke Gott, der die Dinge so gelenkt hat.

Mercedes schlug ihre Augen mit grenzenloser Dankbarkeit zum Himmel auf, und Monte Christo glaubte sogar Tränen darin zittern zu sehen.

Herr Graf, fuhr sie fort, werden Sie uns die Ehre erweisen, den Rest des Tages mit uns zuzubringen?

Glauben Sie mir, gnädige Frau, ich weiß Ihnen den größten Dank für Ihr Anerbieten, aber ichbin heute morgen vor Ihrer Tür aus meinem Reisewagen gestiegen. Ich weiß noch gar nicht, wie ich in Paris eingerichtetbin; ich weiß kaum, wo ichbleibe.

So versprechen Sie uns wenigstens, daß wir das Vergnügen ein andermal haben werden, sagte die Gräfin.

Monte Christo verbeugte sich, ohne zu antworten.

Dann halte ich Sie nicht zurück, sagte die Gräfin, denn meine Dankbarkeit soll keine Last für Sie sein.

Lieber Graf, sagte Albert, wenn Sie gestatten, stelle ich Ihnen meinen Wagen zur Verfügung, wie Sie es mir gegenüber in Rom getan haben, bis Sie Zeit gehabt haben, Ihre Equipagen in gehörigen Stand zu setzen.

Ich danke Ihnen tausendmal für Ihre Zuvorkommenheit, Vicomte, aber ich denke, Bertuccio wird die fünf Stunden, die ich ihm gelassen, gut angewendet haben, und ich werde vor der Tür einen Wagen finden.

Albert war an diese Art und Weise des Grafen gewöhnt, er wußte, daß für ihn etwas Unmögliches so wenig zubestehen schien, wie für den Kaiser Nero; er wollte sich aber doch selbst überzeugen undbegleitete daher den Grafenbis an die Tür des Hauses. Monte Christo hatte sich nicht getäuscht; er fand wirklich einen Wagen, der auf ihn wartete. Es war ein prachtvolles Coupé und ein Gespann, das, wie man in der Pariser Gesellschaft wußte, noch am Tage zuvor nicht für achtzehntausend Franken feil gewesen war.

Mein Herr, sagte der Graf zu Albert, ich mache Ihnen nicht den Vorschlag, mich nach Hause zubegleiten, ich könnte Ihnen nur ein improvisiertes Haus zeigen, und ich habe, wie Sie wissen, inBezug auf Improvisationen einen Ruf zu wahren. Bewilligen Sie mir einen Tag und erlauben Sie mir dann, Sie einzuladen. Und er sprang in den Wagen, der sich hinter ihm schloß, und fuhr im Galopp von dem Hause weg, jedoch nicht so schnell, daß er nicht eine unmerklicheBewegung wahrgenommen hätte, welche den Vorhang des Salons zittern machte, wo er die Gräfin zurückgelassen hatte.

Als Albert zu seiner Mutter zurückkehrte, bemerkte er, daß sie wie aufgelöst in einen samtenen Lehnstuhl zurückgesunken war; in dem halbdunklen Gemache konnte man aber nichts deutlich erblicken, so konnte er auch das Gesicht der Gräfin nicht sehen, doch kam es ihm vor, alsbebte ihre Stimme; auch drang durch die Wohlgerüche von Rosen und Heliotropen der herbe, beißende Geruch von Essigäther, und seiner ängstlichen Aufmerksamkeit entging das Flacon der Gräfin nicht, das auf dem Kamin stand.

Sie sind doch nicht wohl, teure Mutter! rief er eintretend.

Nein, Albert; aber dubegreifst, diese Rosen, diese Hyacinthen, diese Orangenblüten strömen während der ersten Wärme so starke Wohlgerüche aus…

Dann muß man sie in Ihr Vorzimmerbringen lassen, sagte Morcerf, mit der Hand nach der Glocke greifend. Sie sind in der Tat unpäßlich; schon vorhin, als Sie eintraten, waren Sie sehrbleich.

Ich warbleich, sagst du, Albert?

Sie waren von einerBlässe, die Ihnen sehr gut steht, meine Mutter, aber darum meinen Vater und mich nichtsdestoweniger erschreckt hat.

Sprach dein Vater mit dir darüber? fragte Mercedes rasch.

Nein, Mama, doch erinnern Sie sich, er hat Ihnen gegenüber selbst dieseBemerkung gemacht.

Ich erinnere mich dessen nicht, versetzte die Gräfin.

Ein Diener erschien und trug auf Alberts Geheiß dieBlumen ins Vorzimmer.

Was für ein Name ist Monte Christo? fragte die Gräfin, nachdem sich der Diener entfernt hatte. Ist es ein Familienname oder nur ein Titel?

Ich glaube, es ist nur ein Titel. Der Graf hat eine Insel im toskanischen Archipel gekauft. Übrigensbildet er sich nichts auf den Adel ein und nennt sich einen Zufallsgrafen, obgleich in Rom allgemein die Ansicht herrscht, der Graf sei ein sehr vornehmer Herr.

Seine Haltung ist ausgezeichnet, sagte die Gräfin, wenigstens nach dem, was ich während der wenigen Augenblicke, die er hier war, beurteilen konnte.

Oh! sie ist ganz vollkommen, so vollkommen, daß siebei weitem alles übersteigt, was ich Aristokratischesbeim englischen, spanischen oder deutschen Adel gesehen habe.

Die Gräfin dachte einen Augenblick nach und fuhr dann nach diesem kurzen Zögern fort: Mein lieber Albert… du hast Herrn von Monte Christo in seinem Heim gesehen, dubist mit der Welt vertraut undbesitzest mehr Takt, als man in deinem Alter zu haben pflegt, glaubst du, daß der Graf wirklich ist, was er zu sein scheint?

Und was scheint er zu sein?

Du sagtest es soeben, ein vornehmer Herr.

Ich sagte Ihnen, man halte ihn dafür.

Und was denkst du davon, Albert?

Ich muß gestehen, ich habe keinebestimmte, abgeschlossene Ansicht über ihn; ich habe so viele seltsame Dinge von ihm gehört, daß ich, wenn ich sagen soll, was ich von ihm denke, Ihnen antworte, ich möchte den Grafen für einen Menschen nach LordByrons Art halten, dem das Schicksal einen unseligen Stempel aufgedrückt hat, für den Sprossen irgend einer alten Familie, der, seines väterlichen Vermögens enterbt, ein neues durch die Kraft seines abenteuerlichen Geistes fand, der ihn über die Gesetze der Gesellschaft stellte.

Du sagst?…

Ich sage, Monte Christo ist eine Insel im Mittelländischen Meere, ohneBewohner, ohne Garnison, ein Schlupfwinkel für Schmuggler und Piraten. Wer weiß, obdiese würdigen Gewerbsleute ihrem Herrn nicht eine Abgabe zahlen?

Es ist möglich, sagte die Gräfin, in Sinnen verloren.

Doch gleichviel, versetzte der junge Mann, Schmuggler oder nicht, Sie werden zugestehen, meine Mutter, da Sie es selbst gesehen haben, der Herr Graf von Monte Christo ist ein merkwürdiger Mann, und seine Erscheinung in den Salons von Paris wird von dem glänzendsten Erfolgbegleitet sein. Schon heute hat erbei mir seinen Eintritt in die Welt damitbegonnen, daß er sogar Chateau‑Renaud in das höchste Erstaunen versetzte.

Wie alt kann der Graf sein? sagte Mercedes, sichtbar ein großes Gewicht auf diese Frage legend.

Fünfunddreißigbis sechsunddreißig Jahre, meine Mutter.

So jung! Das ist unmöglich, sagte Mercedes, zugleich auf Alberts Worte und ihre eigenen Gedanken erwidernd.

Es ist dennoch wahr, drei- oder viermal äußerte er, und gewiß ohne Vorbedacht: damals war ich fünf Jahre, damals zehn, zu jener Zeit zwölf Jahre alt. Meine Neugierde achtete auf diese Einzelheiten, ich stellte die Daten zusammen, und nie fand ich einen Widerspruchbei ihm. Das Alter dieses seltsamen Mannes, der eigentlich kein Alter hat, ist nach meiner festen Überzeugung fünfunddreißig Jahre. Erinnern Sie sich überdies, meine Mutter, wie lebhaft sein Auge ist, wie üppig und ungebleicht seine Haare, und wie runzelfrei seine edle Stirn; erbesitzt nicht nur einen kräftigen, sondern auch noch einen jungen Körper.

Die Gräfin senkte das Haupt wie unter dem Druck schwerer, bitterer Gedanken.

Und dieser Mann hat ein Gefühl der Freundschaft für dich gefaßt, Albert? fragte sie inbebendem Tone, und du liebst ihn?

Er gefällt mir, Mutter, was auch Franz d'Epinay sagen mag, dem er als unheimliches, einer andern Welt entstammendes Wesen erscheint.

Die Gräfin machte eineBewegung des Schreckens und sagte stotternd: Albert, stets war ichbemüht, dirBehutsamkeit gegen neueBekanntschaften zu empfehlen. Nunbist du ein Mann und könntest mir Ratschläge geben, dennoch wiederhole ich dir, sei klug. Albert.

Liebe Mutter, wenn nur dieser Rat Nutzenbringen sollte, so müßte ich zum voraus wissen, wogegen sich mein Mißtrauen zu richten hätte. Der Graf spielt nie, der Graf trinkt nur durch einen Tropfen spanischen Wein vergoldetes Wasser, der Graf ist so reich, daß er, ohne sich ins Gesicht lachen zu lassen, kein Geld von mir entlehnen könnte; was soll ich also von ihmbefürchten?

Du hast recht, meine Furcht ist töricht, besonders da sie einen Mann zum Gegenstand hat, der dir das Leben rettete. Doch sprich, hat ihn dein Vater gut ausgenommen? Es ist wünschenswert, daß wir auf recht gutem Fuße mit dem Grafen stehen. Herr von Morcerf ist zuweilen sehrbeschäftigt, seine Angelegenheitenbereiten ihm Sorgen, und es könnte sein, daß er, ohne zu wollen…

Mein Vater war, wie man es nur immer wünschen konnte; ich sage noch mehr, er schien geschmeichelt durch ein paar sehr geschickte Komplimente, die der Graf sehr glücklich und passend einfließen ließ, als kennte er ihn seit dreißig Jahren. Jeder von diesen Lobpfeilen mußte meinen Vater kitzeln, fügte Albert lachend hinzu. Sie trennten sich als diebesten Freunde der Welt, und Herr von Morcerf wollte ihn sogar in die Kammer mitnehmen, um ihn seine Rede hören zu lassen.

Die Gräfin antwortete nicht, sie war in so tiefe Träumerei versunken, daß sich ihre Augen allmählich geschlossen hatten. Vor ihr stehend, betrachtete sie der junge Mann mit jener Sohnesliebe, diebesonders zärtlich und innigbei Kindern ist, deren Mütter noch schön und jung sind. Als er sah, wie sich ihre Augen schlossen, als er sie eine Minute lang in ihrer sanften Unbeweglichkeit atmen hörte und sie entschlummert glaubte, entfernte er sich auf den Fußspitzen.

Dieser Teufelskerl, murmelte er, den Kopf schüttelnd, ich prophezeite ihm dort schon, er würde in der Welt Aufsehen machen; ich ermesse die Wirkung seiner Person nach einem untrüglichen Thermometer; meiner Mutter ist er aufgefallen, folglich muß er sehr merkwürdig sein. Und er ging in seinen Stall hinab, nicht ohne leisen Ärger darüber, daß sich der Graf, ohne nur daran zu denken, ein Gespann erworben hatte, das seineBraunenbei Kennern in die zweite Reihe schob.

Bertuccio

Mittlerweile war der Graf in seiner Wohnung angelangt; er hatte sechs Minuten gebraucht, den Weg zurückzulegen. Diese sechs Minuten genügten, daß er von zwanzig jungen Leutenbemerkt wurde, die, bekannt mit dem Preise des Gespanns, das sie selbst nicht hatten kaufen können, ihre Rosse in Galopp setzten, um den glänzenden Herrn zu sehen, der sich Pferde im Werte von 20 000 Franken anschaffte.

Das von Ali gewählte Haus, das für Monte Christo als Pariser Residenz dienen sollte, lag rechts, wenn man die Champs‑Elysées hinaufgeht, zwischen Hof und Garten. Eine üppigeBaumgruppe, die sich mitten im Hofe erhob, verbarg einen Teil der Fassade. Das inmitten eines weiten Raumes vereinzelt stehende Haus hatte außer dem Haupteingang noch einen andern Eingang, der sich nach der Rue de Ponthieu öffnete.

Ehe der Kutscher den Pförtner angerufen hatte, drehte sich schon das massive Gittertor auf seinen Angeln; man hatte den Grafen kommen sehen, und er wurde in Paris, wie in Rom und überall, mitBlitzesschnellebedient. Der Kutscher fuhr also hinein, beschriebden Halbkreis, ohne den Gang seiner Pferde im geringsten zu hemmen, und die Räder krachten noch auf dem Sande der Allee, alsbereits das Gitter wieder geschlossen war. Auf der linken Seite der Freitreppe hielt der Wagen an, zwei Männer erschienen am Schlage; der eine war Ali, der seinem Herrn mit unglaublich treuherziger Freude zulächelte und sich durch einen einzigenBlick von Monte Christobezahlt fand. Der andere verbeugte sich in Demut und reichte dem Grafen den Arm, um ihm aussteigen zu helfen.

Ich danke, HerrBertuccio, sagte der Graf, leicht herausspringend; wie ist's mit dem Notar?

Er wartet im kleinen Salon, antworteteBertuccio.

Und die Visitenkarten, die Sie meinemBefehle gemäß stechen lassen sollten, sobald Sie die Nummer des Hauses wüßten?

Sindbesorgt, Herr Graf; ich warbei dembesten Graveur des Palais Royal und ließ ihn die Platte in meiner Gegenwart ausführen; die erste abgezogene Karte wurde, wie Siebefohlen, demBaron Danglars, Deputierten, Rue de la Chaussee d'Antin Nr. 7, überbracht, die andern liegen auf dem Kamin des Schlafzimmers Eurer Exzellenz!

Gut. Wieviel Uhr ist es? — Vier Uhr.

Monte Christo gabseine Handschuhe, seinen Hut und Stock einemBedienten und ging dann in den kleinen Salon, wo ihn der Notar, ein ehrliches Schreibergesicht mit der unzerstörbaren Würde eines PariserBeamten, erwartete.

Ist dies der Notar, der den Auftrag hat, das Landhaus zu verkaufen, das ich mir erwerben will? fragte Monte Christo.

Ja, Herr Graf, antwortete der Notar; hier ist der Kaufvertrag!

Vortrefflich. Und wo liegt das Haus? fragte Monte Christo nachlässig, sich halbanBertuccio, halban den Notar wendend.

Der Intendant machte eine Gebärde, die wohlbedeuten sollte: Ich weiß es nicht.

Der Notar schaute Monte Christo an und rief: Wie, der Herr Graf weiß nicht, wo das Haus liegt, das er kaufen will?

Wie zum Teufel soll ich es wissen? Ich komme heute von Cadix, bin nie in Paris gewesen, ja es ist sogar das erste Mal, daß ich französischenBodenbetrete.

Dann ist es etwas anderes; das Haus, das der Herr Graf kauft, liegt in Auteuil.

Bei diesen Worten erbleichteBertuccio sichtbar.

Und wo liegt Auteuil? fragte Monte Christo.

Nur ein paar Schritte von hier, Herr Graf, erwiderte der Notar, etwas hinter Paffy, in einer reizenden Gegend.

So nahe! sagte Monte Christo, das ist kein Landhaus. Wie zum Teufel konnten Sie ein Haus vor den Toren der Stadt wählen, HerrBertuccio?

Ich! rief der Intendant mit seltsamem Eifer; hat mich der Herr Graf nichtbeauftragt, dieses Haus zu wählen? Der Herr Graf wolle die Gnade haben, sich zubesinnen.

Ah! es ist richtig, sagte Monte Christo, ich erinnere mich nun, ich habe die Anzeige in irgend einemBlatte gelesen und mich durch den lügnerischen Titel Landhaus verführen lassen.

Es ist noch Zeit, sagteBertuccio lebhaft, und wenn mich Eure Exzellenzbeauftragen will, anderswo zu suchen, so werde ich dasBeste finden, was es gibt, mag es nun in Enghien, in Fontenay‑aux‑Roses oder inBellevue sein.

Nein, erwiderte Monte Christo gleichgültig, da dies einmal ins Auge gefaßt ist, will ich's auchbehalten.

Und der gnädige Herr hat recht, sagte rasch der Notar, der seine Gebühr zu verlieren fürchtete, es ist ein reizendes Eigentum: fließendes Wasser, Gebüsch, ein, wenn auch seit geraumer Zeit verlassenes, doch äußerstbehagliches Wohngebäude, abgesehen von dem Mobiliar, das, so alt es auch ist, doch seinen Wert hat, besonders heutzutage, wo man Altertümer liebt und sucht.

Zum Teufel, eine solche Gelegenheit wollen wir nicht versäumen, rief Monte Christo; den Vertrag, Herr Notar!

Und er unterzeichnete rasch, nachdem er einenBlick auf die Stelle geworfen hatte, wo die Lage des Hauses und die Namen der Eigentümer angegeben waren, dannbefahl er, 55 000 Franken auszuzahlen. Der Intendant ging mit unsichern Schritten hinaus und kehrte mit einem PäckchenBanknoten zurück, die der Notar zählte.

Und nun ist allen Förmlichkeiten Genüge geleistet? fragte der Graf. Haben Sie die Schlüssel?

Sie sind in den Händen des Hausverwalters, der das Hausbewacht; doch hier ist der schriftlicheBefehl, den ich an ihn ergehen lasse, den gnädigen Herrn in sein Eigentum einzuführen.

Sehr gut. Begleiten Sie diesen Herrn, sagte der Graf zuBertuccio.

Der Intendant ging hinter dem Notar hinaus.

Kaum war der Graf allein, als er aus seiner Tasche ein Portefeuille mit einem Schlosse zog, das er mit einem Schlüsselchen öffnete, das er am Halse trug und nie von sich ließ. Nachdem er einen Augenblick gesucht hatte, nahm er einBlättchen zur Hand, worauf einige Notizen standen, verglich diese mit dem auf dem Tische liegenden Verkaufsschein und sagte: Auteuil, Rue de la Fontaine Nr. 30, es stimmt. Soll ich nun durch religiösen Schrecken oder durch körperliche Angst ein Geständnis zu entreißen suchen? Jedenfalls werde ich in einer Stunde alles wissen.

Bertuccio! rief er, mit einem Hämmerchen auf ein Glöckchen schlagend, das einen scharfen, anhaltenden Ton von sich gab, und der Intendant erschien auf der Schwelle.

HerrBertuccio, sagte der Graf, erzählten Sie mir nicht, Sie seien in Frankreich gereist?

Ja, Exzellenz, in einigen Teilen Frankreichs.

Sie kennen ohne Zweifel die Gegend von Paris?

Nein, Exzellenz, antwortete der Intendant mit einemBeben, das der Graf als Kenner einer heftigen Unruhe zuschrieb.

Es ist ärgerlich, daß Sie nie die Gegend von Parisbesucht haben, sagte er, denn ich will noch heute abend mein neues Gut in Augenschein nehmen, und wenn Sie michbegleitet hätten, würden Sie mir ohne Zweifel nützliche Auskunft gegeben haben.

Nach Auteuil! riefBertuccio, dessen kupferfarbiges Gesicht plötzlich leichenblaß wurde. Ich nach Auteuil gehen?

Aber was ist denn Erstaunliches daran, daß Sie nach Auteuil gehen sollen? Wenn ich in Auteuil wohnen werde, müssen Sie wohl dahin kommen, da Sie doch zum Haushalt gehören!

Bertuccio neigte das Haupt vor dem gebieterischenBlicke des Herrn undbliebunbeweglich und ohne zu antworten.

Was ist Ihnen denn? Sie lassen mich zum zweitenmale um den Wagen läuten? rief Monte Christo mit dem Tone, in dem Ludwig XIV. dasbekannte: Ich habe warten müssen! aussprach.

Bertuccio sprang in das Vorzimmer und schrie mit heiserer Stimme: Die Pferde Seiner Exzellenz! Monte Christo schriebein paarBriefe; als er den letzten versiegelte, erschien der Intendant wieder und meldete den Wagen.

Wohl, nehmen Sie Ihren Hut, sagte Monte Christo.

Es gabkeinBeispiel, daß man einemBefehle des Grafen widersprochen hätte; der Intendant folgte auch, ohne eine Einwendung zu machen, seinem Herrn und nahm seinen Platz ehrfurchtsvoll auf dem Vordersitz.

Das Haus in Auteuil

Monte Christo war es nicht entgangen, daßBertuccio sichbekreuzt und im Wagen ein kurzes Gebet gemurmelt hatte, denn er ließ den Intendanten, dessen Widerwille gegen die Fahrt unverkennbar war, keinen Augenblick aus den Augen.

In zwanzig Minuten war man in Auteuil. Die Unruhe des Intendanten hatte immer mehr zugenommen, und als sie in das Dorf hineinfuhren, betrachtete er mit fieberhafter Aufregung jedes Haus, an dem sie vorüberkamen.

Sie lassen in der Rue de la Fontaine Nr. 30 halten, sagte der Graf, seinenBlick unbarmherzig auf den Intendanten heftend.

Der Schweiß tratBertuccio aufs Gesicht, aber er gehorchte und rief, sich aus dem Wagen neigend, dem Kutscher zu: Rue de la Fontaine, Nr. 30.

Diese Nummer 30 lag am Ende des Dorfes. Während der Fahrt war es Nacht geworden, der Wagen hielt an, und der Lakai stürzte an den Schlag und öffnete.

Nun! sagte der Graf, Sie steigen nicht aus, HerrBertuccio, Siebleiben im Wagen? Aber zum Teufel, was ist Ihnen denn heute?

Bertuccio sprang aus dem Wagen undbot seine Schulter dem Grafen zur Stütze.

Klopfen Sie, sagte dieser, und melden Sie mich an.

Bertuccio klopfte, die Tür öffnete sich, und der Hausmeister erschien.

Wasbeliebt? fragte er.

Ihr neuer Herr ist hier, sagte der Diener und übergabdem Hausmeister das Schreiben des Notars.

Das Haus ist also verkauft, und der Herr wird esbewohnen? versetzte der Hausmeister.

Ja, mein Freund, sagte der Graf, und ich werde dafür sorgen, daß Sie den Verlust Ihres früheren Herrn nicht zubeklagen haben.

Oh! Herr, ich habe nicht viel zubeklagen, denn wir sahen ihn nur äußerst selten, den Herrn Marquis von Saint‑Meran.

Der Marquis von Saint‑Meran! versetzte Monte Christo, der Name kommt mirbekannt vor… Und er schien in seinem Gedächtnis zu suchen.

Ein alter Edelmann, fuhr der Hausmeister fort, ein getreuer Diener derBourbonen. Er hatte eine einzige Tochter, die an Herrn von Villefort verheiratet war, der Staatsanwalt in Nimes und später in Versailles gewesen ist.

Monte Christo warf einenBlick aufBertuccio, der fahler aussah, als die Mauer, an die er sich lehnte, um nicht zu fallen.

Ist diese Tochter nicht gestorben? fragte Monte Christo; es ist mir, als hätte ich davon gehört.

Ja, vor einundzwanzig Jahren.

Ich danke, sagte Monte Christo, denn der Intendant kam ihm so niedergeschmettert vor, daß er jetzt nicht weiter fragte. Nehmen Sie eine Wagenlaterne, Bertuccio, und zeigen Sie mir die Zimmer!

Der Intendant gehorchte unverzüglich, aber aus dem Zittern der Hand, welche die Laterne hielt, war leicht zu entnehmen, was ihn dieser Gehorsam kostete. Sie durchschritten ein ziemlich geräumiges Erdgeschoß und einen ersten Stock, bestehend aus einem Salon, einemBadezimmer und zwei Schlafzimmern. Durch eines von diesen Schlafzimmern gelangte man zu einer Wendeltreppe, die nach außen zu führen schien.

Ah! ein Nebenausgang, sagte der Graf, das ist sehrbequem. Leuchten Sie mir, HerrBertuccio; gehen Sie voraus, wir wollen sehen, wohin die Treppe führt!

Herr Graf, sie geht in den Garten. — Und woher wissen Sie das? — Das heißt, sie muß wohl dahin führen. — Gut, wir wollen uns überzeugen.

Bertuccio stieß einen Seufzer aus und ging voran. Die Treppe führte wirklich nach dem Garten. An der AusgangstürbliebBertuccio stehen.

Vorwärts! sagte der Graf.

DochBertuccio war wiebetäubt, wie vernichtet. Seine irren Augen suchten ringsumher die Spuren einer furchtbaren Vergangenheit, und er schien mit seinen krampfhaft zusammengepreßten Händen entsetzliche Erinnerungen zurückdrängen zu wollen.

Nun! rief der Graf.

Nein, stammelteBertuccio, die Laterne hinstellend; nein, Herr Graf, ich gehe nicht weiter, es ist unmöglich!

Was soll das heißen? entgegnete des Grafen gebieterische Stimme.

Sie sehen Wohl, Exzellenz, rief der Intendant, daß dies nicht mit natürlichen Dingen zugeht. Sie wollten ein Haus in der Gegend von Paris kaufen und kauften gerade eins in Auteuil, und das Haus, das Sie kauften, ist gerade Nummer 30 in der Rue de la Fontaine. Oh! warum habe ich Ihnen nicht schon dort alles gesagt, gnädiger Herr; Sie hätten sicherlich nicht von mir verlangt, ich solle mitfahren. Ich hoffte, das Haus des Herrn Grafen würde ein anderes sein! Als obes nicht noch mehr Häuser in Autenil gäbe als das, wo der Mord vorgefallen ist!

Oh! oh! rief Monte Christo, was für ein scheußliches Wort haben Sie da ausgesprochen! Teufel von einem Menschen! Eingefleischter Korse! Stets Aberglauben oder Geheimnisse! Nehmen Sie die Laterne und lassen Sie uns den Gartenbesehen, in meiner Gegenwart werden Sie hoffentlich keine Angst haben?

Bertuccio hobdie Laterne auf und gehorchte. Als die Tür sich öffnete, wurde einblasser Himmel sichtbar, an dem der Mond vergebens gegen ein Meer ihn meist verhüllender Wolken kämpfte. Der Intendant wollte sich nach der linken Seite wenden.

Nein, nein, sagte der Graf, wozu den Alleen folgen? Hier ist ein schöner Rasen, gehen wir geradeaus!

Bertuccio wischte den Schweiß von seiner Stirn ab, gehorchte, zielte dabei aber fortwährend nach links. Monte Christo wandte sich im Gegenteil mehr rechts; an einerBaumgruppeblieber stehen. Der Intendant vermochte es nicht länger auszuhalten und rief: Zurück, Herr! ichbitte, halten Sie sich fern, Sie sind gerade an der Stelle.

LieberBertuccio, versetzte der Graf lachend, kommen Sie doch zu sich, wir sind hier in einem, ich kann es nicht leugnen, schlecht unterhaltenen englischen Garten, weiter nichts.

Gnädigster Herr, ich flehe Sie an, bleiben Sie nicht dort!

Ich glaube, Sie werden ein Narr, Bertuccio; wenn dies der Fall ist, so sagen Sie es mir, ich lasse Sie in irgend eine Heilanstalt einsperren, ehe ein Unglück geschieht.

Ach, Exzellenz, sagteBertuccio, den Kopf schüttelnd und die Hände mit einerBewegung faltend, die den Grafen zum Lachen gebracht hätte, wenn ihn nicht im Augenblick Gedanken von höherem Interesse gefesselt und äußerst aufmerksam auf jede Äußerung dieses von der Angst gepeinigten Gewissens gemacht hätten; ach! Exzellenz, das Unglück ist geschehen.

Bertuccio, entgegnete der Graf, ich erlaube mir, Ihnen zubemerken, daß Siebei Ihren heftigen Gebärden sich die Arme verdrehen und die Augen rollen, wie einBesessener, aus dessen Leibder Teufel nicht weichen will. Ich habe aber stets wahrgenommen, daß der Teufel mit der größten Hartnäckigkeit am Platze zubleiben trachtet, wo ein Geheimnis zu Grunde liegt. Ich wußte, daß Sie ein Korse sind, ich wußte auch, daß Sie stets düster waren und eine alte Rache im Herzen trugen, und ließ dies in Italien hingehen, weil dergleichen dort gang und gäbe ist. In Frankreich aber ist man gegen Morde allgemein sehr eingenommen; es gibt Gendarmen, die sich damitbeschäftigen, Richter, die verurteilen, und rächende Schafotte.


Bertuccio faltete die Hände, während die Laterne, die er hielt, sein verstörtes Gesichtbeleuchtete. Monte Christo schaute ihn eine Minute lang mit demselbenBlick an, mit dem er in Rom Andreas Hinrichtung angeschaut hatte, und sprach dann mit einem Tone, bei dem ein neuer Schauer den Leibdes armen Intendanten durchlief: Der AbbéBusoni hat also gelogen, als er mir Sie nach seiner Reise durch Frankreich im Jahre 1829 mit einem Empfehlungsbriefe zuschickte, worin er Ihre kostbaren Eigenschaften hervorhob. Gut, ich werde dem Abbéschreiben, ich werde ihn für seinen Schützling verantwortlich machen und ohne Zweifel erfahren, wie es sich mit dieser Mordgeschichte verhält. Ich mache Sie jedoch darauf aufmerksam, Bertuccio, daß ich mich immer, wo ich meinen Aufenthalt nehme, nach den Gesetzen des Landes zu richten pflege und keine Lust habe, mich Ihnen zu Liebe mit der französischen Justiz zu entzweien.

Oh! tun Sie das nicht, Exzellenz; nicht wahr, ich habe treu gedient? riefBertuccio in Verzweiflung, ichbin immer ein ehrlicher Mann gewesen, und habe sogar, soviel ich vermochte, gute Handlungen verrichtet.

Ich leugne das nicht, doch warum zum Teufel gebärden Sie sich so? Das ist ein schlimmes Zeichen; ein reines Gewissenbringt nicht solcheBlässe auf die Wangen, solches Fieber in die Hände…

Aber, Herr Graf, versetzteBertuccio zögernd, sagten Sie mir nicht selbst, es sei Ihnen vom AbbéBusoni, der mich im Gefängnis zu Nimesbeichten hörte, mitgeteilt worden, ich hätte mir einen schweren Vorwurf zu machen?

Ja, doch da er Sie mit derBemerkung, Sie würden ein vortrefflicher Intendant werden, zu mir sandte, so glaubte ich, Sie hätten gestohlen.

Oh! Herr Graf, riefBertuccio mit Verachtung.

Oder als Korse hätten Sie derBegierde nicht widerstehn können, eine Haut zu machen, wie man in Ihrem Lande sonderbarerweise sagt, während man doch eine Haut vernichtet.

Nun ja, guter gnädiger Herr, ja, Exzellenz, so ist es, riefBertuccio, sich dem Grafen zu Füßen werfend, ja, es ist eine Rache, das schwöre ich, nichts als eine Rache.

Ichbegreife das, begreife aber nicht, warum Sie gerade dieses Haus in solche heftige Aufregung versetzt?

Ist das nicht natürlich, gnädigster Herr, da in diesem Hause die Rache vollführt wurde?

Wie, in meinem Hause?

Oh! Exzellenz, es gehörte Ihnen noch nicht.

Das ist ein seltsames Zusammentreffen. Siebefinden sich durch Zufall wieder an einem Orte, wo eine Szene vorgefallen ist, die so furchtbare Gewissensbissebei Ihnen veranlaßt…

Gnädiger Herr, ichbin fest überzeugt, ein unvermeidliches Verhängnis lenkt dies so. Zuerst kaufen Sie ein Haus gerade in Auteuil. Dieses Haus ist das, wo ich einen Mordbegangen habe; Sie steigen in den Garten gerade auf der Treppe herab, wo er herabgestiegen ist; Siebleiben gerade auf der Stelle stehen, wo er den Stoß erhalten hat. Zwei Schritte von hier, unter jener Platane, war das Grab, wo er das Kind verscharrt hatte. Alles dies ist kein Zufall, sonst müßte der Zufall zu sehr der Vorsehung gleichen.

Gut, nehmen wir an, es sei die Vorsehung — ich nehme immer alles an, was man will; überdies muß man kranken Geistern entgegenkommen. Auf, Bertuccio, fassen Sie sich und erzählen Sie mir die ganze Geschichte.

Ich habe sie nur ein einziges Mal erzählt, und zwar dem AbbéBusoni. Dergleichen, fügteBertuccio hinzu, läßt sich nur unter dem Siegel derBeichte aussprechen.

Dann werden Sie es für angezeigt halten, wenn ich Sie zu IhremBeichtvater schicke, mein lieberBertuccio! Doch mirbangt vor einem Gaste, den solche Gespenster in Schrecken versetzen; mir paßt es nicht, daß meine Leute am Abend nicht in den Garten zu gehen wagen. Auch muß ich gestehen, daß mich durchaus nicht nach demBesuche irgend eines Polizeikommissars verlangt. Denn lassen Sie sich sagen, HerrBertuccio, in Italienbezahlt man die Justiz nur, wenn sie schweigt, in Frankreichbezahlt man sie dagegen nur, wenn sie spricht. Teufel! ich meinte, Sie seien noch ein wenig Korse, ein gut Teil Schmuggler und ein äußerst geschickter Intendant; aber ich sehe, daß Sie noch andere Saiten auf IhremBogen haben. Sie sind nicht mehr in meinem Dienst!

Oh! gnädigster Herr, rief der Intendant, bei dieser Drohung vom heftigsten Schrecken ergriffen, wenn es nur hiervon abhängt, obich in Ihrem Dienstebleibe, so werde ich reden, so werde ich alles sagen, und wenn ich Sie verlasse, nun so mag es sein, um das Schafott zubesteigen!

Das ist etwas anderes, sagte Monte Christo, doch wenn Sie lügen wollen, überlegen Sie es sich wohl! Es wäre dannbesser, Sie sprächen gar nicht.

Nein, Herr Graf, ich schwöre Ihnenbei dem Heile meiner Seele, ich werde alles sagen; denn selbst der AbbéBusoni hat nur einen Teil meines Geheimnisses erfahren. Aber ich flehe Sie vor allem an, entfernen Sie sich von dieser Platane; sehen Sie, der Mond tritt eben hervor und will jene Stellebeleuchten, und dort, wo Sie stehen, in den Mantel gehüllt, der mir Ihre Gestalt verbirgt und ganz dem des Herrn von Villefort gleicht…

Wie! rief Monte Christo, Herrn von Villefort?…

Eure Exzellenz kannte ihn? — Ja, wenn es der ehemalige Staatsanwalt von Nimes ist, der den Ruf eines der ehrlichsten und gerechtestenBeamten hatte? — Jawohl, gnädiger Herr, riefBertuccio, dieser Mann… — Nun? — War ein Schurke! –

Bah, unmöglich! — Es ist dennoch, wie ich Ihnen sage. — Oh! und Sie haben denBeweis dafür? — Ich hatte ihn wenigstens. — Und Sie waren so ungeschickt, ihn zu verlieren? — Ja, doch wenn man gut sucht, kann man ihn wohl wieder finden. — Wahrhaftig, erzählen Sie mir das, Bertuccio, denn es fängt wirklich an, mich zu interessieren!

Und eine Arie aus der Oper Lucia trällernd, setzte sich der Graf auf eineBank, während ihmBertuccio, seine Erinnerungen sammelnd, folgte. Bertucciobliebvor Monte Christo stehen.

Die Vendetta

Wo soll ich anfangen, Herr Graf? fragteBertuccio.

Wo Sie wollen, erwiderte Monte Christo, denn ich weiß von nichts.

Die Sache geht in das Jahr 1815 zurück.

Ah! ah! rief Monte Christo, 1815 ist lange her.

Ja, gnädiger Herr, aber dennoch sind die geringsten Umstände meinem Gedächtnis so gegenwärtig, als wäre nur ein Tag vergangen. Ich hatte einen älterenBruder, der dem Kaiser diente und Leutnant in einem ganz aus Korsenbestehenden Regiment war. DieserBruder war mein einziger Freund; wir waren, ich mit fünf, er mit achtzehn Jahren, Waisen; er zog mich auf, als wäre ich sein Sohn. Im Jahre 1814, unter denBourbonen, verheiratete er sich; der Kaiser kam von der Insel Elba zurück, meinBruder nahm sogleich wieder Dienste und zog sich, bei Waterloo leicht verwundet, mit der Armee hinter die Loire zurück. Eines Tages empfingen wir einenBrief von meinemBruder. Er teilte uns mit, die Armee sei entlassen, und er werde über Clermont‑Ferrand und Nimes zurückkommen; erbat mich, wenn ich etwas Geld hätte, es ihm durch einen Wirt in Nimes, mit dem ich in Verbindung stand, zukommen zu lassen. Ich liebte, wie gesagt, meinenBruder zärtlich und war entschlossen, ihm das Geld selbst zubringen. Ichbesaß etwa tausend Franken, ließ fünfhundert davon Assunta, meiner Schwägerin, nahm die andern fünfhundert undbegabmich auf den Weg nach Nimes. Diesbot keine Schwierigkeit; ich hatte meineBarke, auch einen Seetransport zubesorgen; allesbegünstigte mein Vorhaben. Als aber die Ladung fertig war, wurde der Wind konträr, so daß wir vier oder fünf Tage nicht in die Rhone einlaufen konnten. Endlich gelang es uns; wir fuhrenbis Arles hinaus, ließen dieBarke zwischenBellegarde undBeaucaire und schlugen den Weg nach Nimes ein. Es war die Zeit, wo dieberüchtigten Metzeleien im Süden stattfanden. Wer desBonapartismus verdächtig war, wurde von denBlutknechten des Royalismus erwürgt. In Nimes watete manbuchstäblich imBlute, bei jedem Schritt stieß man auf Leichen; zu förmlichenBanden organisierte Mörder töteten, plünderten, sengten undbrannten. Bei dem Anblicke dieser Schlächterei erfaßte mich ein Schauder, nicht für mich, den einfachen, korsischen Fischer, — denn ich hatte nicht viel zubefürchten, im Gegenteil, das war für uns Schmuggler eine gute Zeit, — sondern für meinenBruder, der von der Loire‑Armee mit seiner Uniform und seinen Epauletten zurückkam und folglich alles zubefürchten hatte. Ich lief zu unserm Wirte, meine Ahnungen hatten mich nicht getäuscht; meinBruder war am Abend zuvor in Nimes angekommen und vor der Tür des Mannes, von dem er Gastfreundschaft forderte, ermordet worden. Ich tat alles in der Welt, um die Mörder in Erfahrung zubringen, aber niemand wagte es, mir ihre Namen zu sagen, so sehr waren sie gefürchtet. Ich dachte nun an die französische Justiz, von der man mir so viel gesprochen hatte, undbegabmich zum ersten Staatsanwalt.

Und dieser Staatsanwalt hieß Villefort? fragte Monte Christo scheinbar gleichgültig.

Ja, Exzellenz; er kam von Marseille, wo er Staatsanwaltsgehilfe gewesen war. Sein Eifer hatte seineBeförderung zur Folge gehabt. Er hatte, heißt es, als einer der ersten der Regierung die Landung von der Insel Elba angezeigt. Mein Herr, sagte ich zu ihm, meinBruder ist in den Straßen von Nimes ermordet worden, ich weiß nicht von wem, aber das ist Ihre Sache. Sie sind hier der Chef der Justiz, und der Justiz kommt es zu, die zu rächen, die sich nicht zu verteidigen vermochten. — Was war IhrBruder? fragte der Staatsanwalt. — Leutnant im korsischenBataillon. — Ein Soldat des Usurpators also? — Ein Soldat der französischen Armee. — Wohl! erwiderte er, er hat sich des Schwertesbedient und ist durch das Schwert umgekommen. — Sie täuschen sich, mein Herr, er ist durch den Dolch umgekommen. — Was soll ich dabei tun? — Ich habe es Ihnenbereits gesagt, Sie sollen ihn an seinen Mördern rächen. — Warum? IhrBruder wird Streit gehabt und sich duelliert haben. Diese alten Soldaten erlauben sich Übergriffe, die ihnen unter der Herrschaft des Kaisers durchgingen, jetzt aber nicht mehr, denn hier im Süden liebt man weder die Soldaten, noch die Übergriffe.

Mein Herr, entgegnete ich, ichbitte Sie nicht für mich. Ich werde mich rächen, aber meinBruder hatte eine Frau; die Arme würde Hungers sterben, denn sie lebte allein von der Arbeit meinesBruders. Erlangen Sie eine kleine Pension für sie von der Regierung!

Jede Revolution hat ihre Katastrophen, antwortete Herr von Villefort. IhrBruder ist ein Opfer der neuesten gewesen, das mögen Sie als ein Unglückbetrachten, aber die Regierung ist Ihrer Familie deshalbnichts schuldig. Wenn wir zu Gericht zu sitzen hätten über alle Rachetaten, welche die Parteigänger des Usurpators gegen die Parteigänger des Königs verübten, als noch die Macht in ihren Händen lag, so wäre IhrBruder heute vielleicht zum Tode verurteilt. Was hier vorgeht, kann nur als etwas Natürliches erscheinen, denn es ist die Folge des Gesetzes der Vergeltung.

Herr, rief ich, ist es möglich, daß Sie so sprechen, Sie, als Staatsbeamter?

Bei meinem Ehrenwort, alle Korsen sind Narren, erwiderte Herr von Villefort, Sie glauben, Ihr Landsmann sei noch Kaisers, Sie irren sich in der Zeit, mein Lieber, Sie hätten mir das vor zwei Monaten sagen müssen. Gehen Sie, oder ich lasse Sie abführen!

Ich schaute ihn einen Augenblick an, um zu sehen, obweiteresBitten Erfolg verspräche. Aber der Mann war von Stein. Ich näherte mich ihm und sagte mit halber Stimme: Wohl! da Sie die Korsen so gut kennen, so müssen Sie wissen, wie sie ihr Wort halten. Sie meinen, man habe wohl daran getan, meinenBruder umzubringen, der einBonapartist war, während Sie Royalist sind. Ichbin ebenfallsBonapartist und sage Ihnen nur eins: Ich werde Sie töten. Von diesem Augenblicke an erkläre ich Ihnen Vendetta! Seien Sie also auf Ihrer Hut, denn sobald wir uns wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, hat Ihre letzte Stunde geschlagen. Darauf öffnete ich, ehe er sich von seinem Erstaunen erholt hatte, die Tür und entfloh.

Ah! ah! sagte Monte Christo, mit Ihrem ehrlichen Gesichtebringen Sie dergleichen fertig und noch dazu gegen einen Staatsanwalt! Pfui doch! Und wußte er denn, was das Wort Vendettabesagen wollte?

Er wußte es so gut, daß er von diesem Augenblick an nicht mehr allein ausging, sich zu Hause verschanzte und mich überall suchen ließ. Zum Glück war ich so gut verborgen, daß er mich nicht finden konnte. Da faßte ihn die Angst, er fürchtete sich, länger in Nimes zubleiben; erbat um Versetzung, und da er wirklich ein einflußreicher Mann war, soberief man ihn nach Versailles. Aber Sie wissen, daß es für einen Korsen, der seinem Feinde Rache geschworen hat, keine Entfernung gibt, und sein Wagen, so gut er gefahren wurde, hatte nie über einen halben Tag Vorsprung vor mir, während ich ihm doch zu Fuße folgte.

Das Schwierige dabei war nicht, ihn zu töten, denn hundertmal fand ich hierzu Gelegenheit, aber ich mußte ihn töten, ohne entdeckt undbesonders ohne verhaftet zu werden. Denn ich gehörte nicht mehr mir; ich hatte meine Schwägerin zubeschützen und zu ernähren. Drei Monate langbelauerte ich Herrn von Villefort; drei Monate lang machte er keinen Schritt, keinen Spaziergang, ohne daß ihm meinBlick folgte. Endlich entdeckte ich, daß er insgeheim nach Auteuil kam; ich folgte ihm und sah ihn in das Haus gehen, in dem wir unsbefinden; nur kam er, statt durch die Haustür vorn einzutreten, entweder zu Pferde oder zu Wagen, ließ Pferd oder Wagen im Wirtshaus und schlich sich durch die kleine Tür herein, die Sie dort sehen.

Ich hatte nichts mehr in Versailles zu tun, bliebin Autenil und zog Erkundigungen ein. Wollte ich ihn fangen, so mußte ich offenbar hier meine Falle stellen. Das Haus gehörte Villeforts Schwiegervater, Herrn von Saint‑Meran. Dieser wohnte aber in Marseille, folglich war ihm dieses Landhaus unnütz; es hieß auch, er habe es an eine junge Witwe vermietet, die nur unter dem Namen dieBaroninbekannt war. Während ich eines Abends über die Mauer schaute, sah ich wirklich eine hübsche junge Frau allein im Garten gehen. Sieblickte häufig nach der kleinen Tür, und ich sagte mir, daß sie Herrn von Villefort am Abend erwarte. Als sie so nahe zu der Mauer kam, daß ich trotz der Dunkelheit ihre Züge zu unterscheiden vermochte, erkannte ich, daß sie sehr hübsch, blond, groß und etwa neunzehn Jahre alt war; auch konnte ichbemerken, daß sie sich in andern Umständenbefand, und ihre Schwangerschaft schien mir sogar ziemlich weit vorgerückt. Einige Augenblicke nachher öffnete man die kleine Tür; ein Mann trat ein, die junge Fran lief ihm so rasch als möglich entgegen, sie umarmten sich, küßten sich zärtlich und gingen ins Haus. Dieser Mann war Herr von Villefort. Ich dachte, wenn er herauskäme, besonders wenn erbei Nacht herauskäme, müßte er den Garten in seiner ganzen Länge durchschreiten.

Und Sie haben seitdem den Namen der Frau erfahren? fragte der Graf.

Nein, Exzellenz, Sie werden sehen, daß ich nicht Zeit gehabt habe, mich danach zu erkundigen. — Ich hätte den Staatsanwalt vielleicht an diesem Abend töten können; aber ich kannte den Garten noch nicht genau genug und fürchtete, wenn er nicht sofort tot wäre und Leute auf sein Geschrei herbeiliefen, nicht schnell genug fliehen zu können. Deshalbverschobich die Ausführung meines Vorhabens auf das nächste Mal undbezog, damit mir nichts entginge, ein kleines Zimmer mit der Aussicht auf die Straße, die längs der Gartenmauer hinlief.

Drei Tage nachher sah ich gegen sieben Uhr abends einen Diener zu Pferde aus dem Garten eilen und im Galopp auf dem Wege fortsprengen, der zur Straße nach Sèvres führte. Ich nahm an, er reite nach Versailles, und täuschte mich nicht. Drei Stunden später kam er mit Staubbedeckt zurück. Zehn Minuten nach ihm erschien ein anderer Mann, in einen Mantel gehüllt, zu Fuß und öffnete die kleine Gartentür, die sich wieder hinter ihm schloß.

Ich ging rasch hinab. Obschon ich das Gesicht des Mannes nicht gesehen hatte, so verrieten mir doch die Schläge meines Herzens, daß er es sei; ich ging über die Straße zu einem Randstein an der Mauerecke, von dem aus ich das erste Mal in den Garten gesehen hatte. Diesmalbegnügte ich mich nicht mit dem Schauen, ich zog mein Messer aus der Tasche, überzeugte mich, daß es gehörig geschärft war, und sprang über die Mauer. Es war mein erstes, an die Tür zu laufen; er hatte den Schlüssel stecken lassen und ihn nur zweimal umgedreht. Nichts konnte also von dieser Seite meine Flucht hemmen. Ich übersah die Örtlichkeit; der Gartenbildete ein langes Geviert, mittendurch zog sich ein Rasenteppich, an dessen Rande dichtbelaubteBaumgruppen standen. Um sich von dem Hause an die kleine Tür oder von der kleinen Tür nach dem Hause zubegeben, mußte Herr von Villefort an einer von diesenBaumgruppen vorübergehen.

Es war Ende September, der Windblies heftig, ein wenig Mondschein, alle Augenblicke durch dichte Wolken verschleiert, die schnell am Himmel hinglitten, ließ den Sand der zu dem Hause führenden Alleen weiß erscheinen, vermochte aber die Dunkelheit der Gebüsche nicht zu durchdringen. Ich verbarg mich also in dem Gebüsch, an dem Herr von Villefort vorüberkommen mußte. Kaum war ich hier, als ich unter den Windstößen, welche dieBaumzweige über meine Stirnbeugten, etwas wie Seufzen zu unterscheiden glaubte. Es vergingen zwei Stunden, während deren ich wiederholt dasselbe Seufzen zu hören glaubte. Endlich schlug es Mitternacht.

Als noch der letzte Schlag verhallte, sah ich einen schwachen Schimmer die Geheimtreppe erhellen, auf der wir soeben herabgekommen sind. — Die Tür öffnete sich, und der Mann mit dem Mantel erschien. Der furchtbare Augenblick war da. Doch ich hatte mich auf diesen Augenblick so lange vorbereitet, daß ich nicht die geringste Schwäche empfand; ich zog mein Messer, öffnete es und hielt mich fertig.

Der Mann mit dem Mantel kam gerade auf mich zu; als er aber in dem entblößten Raume weiter vorschritt, glaubte ich zubemerken, daß er in der rechten Hand eine Waffe hielt; ich fürchtete nicht den Kampf, sondern das Mißlingen. Sobald er nur noch einige Schritte von mir entfernt war, erkannte ich, daß das, was ich für eine Waffe gehalten hatte, nichts anderes war, als ein Spaten. Ich hatte noch nicht erraten können, in welcher Absicht Herr von Villefort das Gerät trug, als er am Saume des Gebüsches stehenbliebund, nachdem er sich umgeschaut hatte, ein Loch in die Erde zu graben anfing. Nunbemerkte ich, daß er etwas in seinem Mantel trug, das er auf den Rasen legte, um in seinenBewegungen freier zu sein. Da mischte sich, muß ich gestehen, etwas Neugier in meinen Haß, ich wollte sehen, was Herr von Villefort tat, bliebunbeweglich, atemlos und wartete.

Es kam mir ein Gedanke, der sich auchbestätigte, als ich den Staatsanwalt ein kleines, etwa zwei Fuß langes und sechsbis acht Zollbreites Kistchen unter seinem Mantel hervorziehen sah, das er in das Loch legte, auf das er wieder Erde warf; diese frische Erdebearbeitete er sodann mit seinen Füßen, um die Spur seines nächtlichen Werkes verschwinden zu lassen. Hierauf warf ich mich auf ihn, stieß ihm mein Messer in dieBrust und sagte: Ichbin GiovanniBertuccio! Dein Tod für meinenBruder, dein Schatz für seine Witwe. Du siehst, meine Rache ist noch vollständiger als ich hoffte.


Ich weiß nicht, ober diese Worte hörte, ich glaube es nicht, denn er sank nieder, ohne einen Ton von sich zugeben; ich fühlte dasBlut heiß auf meine Hände und in mein Gesicht spritzen; aber ich war trunken, ich war wahnsinnig; diesesBlut erfrischte mich, statt mich zubrennen. In einer Sekunde hatte ich das Kistchen mit Hilfe des Spatens wieder ausgegraben; ich füllte das Loch wieder, warf den Spaten über die Mauer, eilte durch die Tür, schloß sie doppelt von außen und nahm den Schlüssel mit.

Gut, sagte Monte Christo, das war, scheint mir, ein Raubmord.

Nein, Exzellenz, erwiderteBertuccio, es war Vendetta, verbunden mit einer Wiedererstattung.

Sie fanden doch wenigstens eine runde Summe?

Ich lief an den Fluß und sprengte, begierig zu erfahren, was das Kistchen enthielt, das Schloß mit meinem Messer.

In eine Windel von seinemBattist war ein neugebornes Kind eingewickelt; sein purpurrotes Gesicht und seineblauen Hände deuteten an, daß es durch eine Schnur, die sich um seinen Hals geschlungen, erdrosselt war. Da es mir jedoch noch nicht ganz kalt zu sein schien, zögerte ich, das arme Geschöpf in das Wasser zu werfen; nach einem Augenblick glaubte ich in der Tat ein leichtes Schlagen in der Gegend des Herzens zu fühlen. Ichbefreite seinen Hals von der Schnur, und da ich als Krankenwärter im Hospital vonBastia gedient hatte, so tat ich, was ein Arzt unter solchen Umständen hätte tun können, das heißt, ichblies ihm kräftig Luft in die Lunge, und nach einer Viertelstunde unerhörter Anstrengung sah ich es atmen, und unmittelbar darauf hörte ich einen Schrei seinerBrust sich entwinden. — Ich stieß ebenfalls einen Schrei aus, aber einen Freudenschrei. Gott verflucht mich also nicht, sagte ich zu mir selbst, denn er gestattet mir, einem Menschen Leben zu geben, im Austausch für das Leben, das ich einem andern genommen habe.

Und was taten Sie mit diesem Kinde? fragte Monte Christo; es war ein ziemlichbeschwerliches Gepäck für einen Menschen, der fliehen mußte.

Ich hatte auch keinen Augenblick den Gedanken, es zubehalten. Doch ich wußte, daß es in Paris ein Hospiz gibt, wo man diese armen Geschöpfe aufnimmt. Als ich durch dieBarriere kam, gabich vor, ich hätte das Kind auf der Straße gefunden und erkundigte mich. Das Kistchen machte meine Aussage glaubwürdig! dieBattistwindeln deuteten an, daß das Kind reichen Eltern gehörte; dasBlut, mit dem ichbedeckt war, konnte ebensowohl von dem Kinde, als von irgend einem andern Wesen herrühren. Man machte keine Einwendung, bezeichnete mir das Hospiz, das ganz oben in der Rue l'Enfer lag, und nachdem ich aus Vorsicht die Windel so entzwei geschnitten hatte, daß einer von denbeidenBuchstaben, womit sie gezeichnet war, bei der Einhüllungblieb, während ich den andern an mich nahm, legte ich meineBürde in den Turm, läutete und entlief, so rasch ich nur immer vermochte. Vierzehn Tage nachher war ich wieder in Rogliano und sagte zu Assunta: Tröste dich, meine Schwester. Israel ist tot, aber ich habe ihn gerächt. Dabat sie mich um Erläuterung meiner Worte, und ich erzählte ihr alles, was vorgefallen war.

Giovanni, sagte Assunta, du hättest das Kind hierherbringen sollen; wir würden Elternstellebei ihm vertreten und ihm den NamenBenedetto gegeben haben, und Gott hätte uns für diese gute Handlung gesegnet.

Statt einer Antwort gabich ihr die Hälfte der Windel, die ichbehalten hatte, um das Kind eines Tages, wenn wir reicher wären, zurückzufordern.

Mit welchenBuchstaben war die Windel gezeichnet? fragte der Graf.

Mit einem H und N, und darüber eineBaronenkrone.

Fahren Sie fort! Ichbinbegierig, zu erfahren, was aus dem Kleinen geworden ist, und welches Verbrechens man Siebeschuldigte, als Sie einenBeichtiger verlangten und der AbbéBusoni Sie darauf im Gefängnis aufsuchte.

Bertuccio fuhr in seiner Erzählung fort: Halbum die Erinnerungen zu vertreiben, die michbeständig quälten, halbum dieBedürfnisse der armen Witwe zubestreiten, legte ich mich wieder mit allem Eifer auf das Schmugglerhandwerk. Dieses Gewerbe ist sehr einträglich, wenn man dabei mit einigem Verstand und Geschick zu Werke geht. Ich für meine Person lebte im Gebirge, denn ich hatte nun eine doppelte Ursache, die Gendarmen und Zöllner zu fürchten. Da ich tausendmal lieber getötet als verhaftet werden wollte, vollführte ich erstaunliche Dinge. Meine Unternehmungen wurden immer ausgedehnter und immer vorteilhafter. Assunta war eine gute Wirtschafterin, und unser kleines Vermögen rundete sich allmählich. Als ich eines Tages eine neue Wanderung antrat, sagte sie zu mir: Geh, bei deiner Rückkehrbereite ich dir eine Überraschung.

Mein Ausflug dauertebeinahe sechs Wochen; als ich zurückkam, war das erste, was ich erblickte, ein Kind von siebenbis acht Monaten, in einer im Verhältnis zu unserer sonstigen Ausstattung sehr kostbaren Wiege. Ich stieß einen Freudenschrei aus. Die einzigen traurigen Gedanken, die mich seit der Ermordung des Staatsanwaltes heimgesucht, waren durch das Verlassen des Kindes verursacht worden. Es versteht sich von selbst, daß ich inBeziehung auf den Mord selbst keine Gewissensbisse fühlte.

Die arme Assunta hatte alles erraten; sie hatte, um nichts zu vergessen, den Tag und die Stunde, wo das Kind im Hospiz niedergelegt worden war, genau aufgeschrieben und war, mit der Windel versehen, nach Paris gereist, um den Kleinen zurückzufordern. Man machte keine Einwendung, und sie erhielt das Kind.

Ah! ich gestehe, Herr Graf, als ich das arme Kind in seiner Wiege schlafend erblickte, dehnte sich meineBrust aus, und Tränen traten in meine Augen. In der Tat, Assunta, rief ich, dubist eine vortreffliche Frau, und die Vorsehung wird dich segnen.

Dies ist weniger Philosophie, sagte der Graf, als Glaube.

Ach! Exzellenz, sagteBertuccio, Sie haben ganz recht, gerade dieses Kind wählte Gott zum Werkzeug meinerBestrafung. Nie offenbarte sich früher eine verderbte Natur, und dennoch kann man nicht sagen, daß es schlecht erzogen wurde, denn meine Schwesterbehandelte es wie den Sohn eines Fürsten. Es war ein Knabe von reizender Gesichtsbildung, mit hellblauen Augen; nur verliehen die etwas feurigblonden Haare dem Gesichte des Jungen einen seltsamen Ausdruck, den die Lebhaftigkeit seines Auges und die Schlauheit seines Lächelns noch verstärkten. Nach dem Sprichwort sind die Roten entweder ganz gut oder ganzböse; dieses Sprichwort log nicht inBeziehung aufBenedetto; er zeigte sich schon von seiner frühesten Jugend ganzböse. Es ist nicht zu leugnen, daß die Sanftmut seiner Mutter seine ersten üblen Neigungen ungemeinbegünstigte; denn während meine arme Schwägerin auf den Markt der fünfbis sechs Stunden entlegenen Stadt ging, um die ersten Früchte und das wohlschmeckendste Zuckerwerk zu kaufen, zog der Knabe die Kastanien und Äpfel, die er dem Nachbar stahl, vor.

Eines Tages — Benedetto mochte etwa fünf Jahre alt sein — kam der Nachbar Wasilio, der nach, der Gewohnheit unsers Landes weder seineBörse, noch seine Schmucksachen verschloß — der Herr Graf weiß, daß es in Korsika keine Diebe gibt, — zu uns und klagte, es sei ein Louisd'or aus seinerBörse verschwunden. Man glaubte, er habe falsch gezählt; aber erbehauptete, seiner Sache gewiß zu sein. Benedetto hatte das Haus schon am Morgen verlassen, und wir gerieten in nicht geringe Unruhe, als wir ihn am Abend mit einem Affen zurückkehren sahen, den er gefesselt am Fuße einesBaumes gefunden zu haben vorgab. Seit einem Monat war es das leidenschaftliche Trachten des Kindes gewesen, einen Affen zubesitzen. Ein Gaukler, der durch Rogliano kam und mehrere solche Tierebesaß, deren Possen unsern Jungen sehr ergötzten, hatte ihm ohne Zweifel dieses unglückliche Verlangen eingeflößt.

Man findet in unsern Wäldern keinen Affen, sagte ich zu ihm, undbesonders keinen gefesselten Affen; gestehe mir also, wie du dir das Tier verschafft hast.

Benedettobeharrtebei seiner Lüge und gabnoch weitere nähere Umstände an, die mehr seiner Einbildungskraft, als seiner Wahrheitsliebe Ehre machten; ich ärgerte mich, er lachte; ich drohte, er zog sich ein paar Schritte zurück. — Du kannst mich nicht schlagen, sagte er, du hast nicht das Recht dazu, denn dubist nicht mein Vater.

Wir wußten gar nicht, wer ihm dieses unselige Geheimnis entdeckt hatte, das wir mit so großer Sorgfalt vor ihm verbargen. Aber die Antwort erschreckte mich so, daß mein aufgehobener Arm niederfiel, ohne den Schuldigen zuberühren. Das Kind triumphierte und wurde infolgedessen so unbändig, daß alles Geld Assuntas, deren Liebe zu ihm immer mehr zuzunehmen schien, je weniger er derselben würdig war, für tolle Launen des Knaben, die sie nicht zubekämpfen vermochte, daraufging. Wenn ich in Rogliano war, ging es noch erträglich; aber sobald ich abreiste, warBenedetto Meister im Hause, und einböser Streich folgte dem andern. Kaum elf Jahre alt, wählte er seine Kameraden unter den jungen Leuten von achtzehn und neunzehn Jahren, den schlimmstenBurschen vonBastia und Corte, undbereits hatte uns das Gericht Warnungen zugehen lassen.

Es wurde mirbange; jede Untersuchung konnte verhängnisvolle Folgen nach sich ziehen, und ich sollte eben einer wichtigen Expedition halber Korsika für einige Zeit verlassen. Ich sann lange nach undbeschloß, um ein Unglück zu vermeiden, Benedetto mit mir zu nehmen. Ich hoffte, das tätige harte Leben eines Schmugglers, die strenge Disziplin anBord würden ihm, der sonst unrettbar verloren schien, gut tun. Ich nahm ihn alsobeiseite und machte ihm den Vorschlag, mir zu folgen, wobei ich ihm alles Mögliche versprach, was ein Kind von zwölf Jahren locken kann.

Er ließ mich reden, ohne mich zu unterbrechen. Als ich aber zu Ende war, schlug er ein Gelächter an und rief: Seid Ihr ein Narr, Oheim? — so nannte er mich, wenn er guter Laune war — Ich soll das Leben, das ich führe, meinen schönen Müßiggang, gegen die schauderhafte Arbeit vertauschen, die Ihr tut? Ich soll die Nacht in der Kälte, den Tag in der Hitze zubringen, mich fortwährend verbergen, oder, wenn ich mich zeige, Flintenschüsse kriegen, und dies alles, um ein wenig Gold zu gewinnen? Geld habe ich, soviel ich will; Mutter Assunta gibt mir, so oft ich von ihr fordere. Ihr seht also, daß ich dumm wäre, wenn ich Euern Vorschlag annähme.

Während ich noch ganz starr vor Staunen über diese Worte war, kehrte er zu seinen Kameraden zurück, und ich sah von ferne, wie er mich ihnen gegenüber für einen Dummkopf erklärte.

Ein reizendes Kind! murmelte Monte Christo.

Oh! wenn er mir gehört hätte, sagteBertuccio, wenn er mein Sohn oder wenigstens mein Neffe gewesen wäre, so würde ich ihn auf den rechten Pfad zurückgeführt haben, denn das gute Gewissen verleiht Stärke. Aber der Gedanke, daß ich ein Kind schlagen sollte, dessen Vater ich getötet hatte, machte es mir unmöglich, ihn zu züchtigen. Ich gabmeiner Schwester, die den Jungen stets verteidigte, gute Ratschläge, und da sie mir gestand, es hätten ihr wiederholt größere Summen gefehlt, sobezeichnete ich ihr einen Ort, wo sie unsern kleinen Schatz verbergen könnte. Mein Entschluß war gefaßt: Benedetto konnte vortrefflich lesen, schreiben und rechnen, denn wenn er sich zufällig zur Arbeit herbeiließ, so lernte er in einem Tag so viel, wie andere in einer Woche. Mein Entschluß, sage ich, war gefaßt; ich wollte ihn als Schreiber auf irgend einem zu langen Seefahrtenbestimmten Schiffe unterbringen und, ohne ihn zuvor in Kenntnis zu setzen, an einem schönen Morgen nehmen und anBord schaffen lassen. War er dem Kapitän gehörig empfohlen, so hing seine Zukunft nur von ihm ab. Sobald dieser Plan festgestellt war, brach ich nach Frankreich auf. Alle unsere Operationen sollten diesmal im Golf von Lyon ausgeführt werden; die Unternehmungen wurden aber immer schwieriger, denn der Küstendienst war strenger geworden, als je. Anfänglich ging alles vortrefflich. Wirbanden unsereBarke, die einen doppeltenBoden hatte, worin wir unsere Waren verbargen, mitten unter einer Anzahl von Schiffen an, die an denbeiden Ufern der Rhone vonBeaucairebis Arles lagen. Hierbegannen wir nächtlicherweile unsere verbotenen Waren auszuschiffen und durch die Vermittlung von Leuten, die mit uns in Verbindung standen, oder mit Hilfe der Wirte, bei denen wir unsere Niederlagen hatten, in die Stadt zu schaffen. Mag es nun sein, daß uns das Glück unvorsichtig gemacht hatte, oder waren wir verraten: eines Abends gegen fünf Uhr, als wir eben unser Vesper verzehren wollten, lief unser Schiffsjunge ganz erschrocken herbei und sagte, er habe eine Abteilung Zollbeamter auf unser Schiff zukommen sehen. In einem Augenblick waren wir auf denBeinen, aber es war schon zu spät, man hattebereits unsereBarke umzingelt. Unter den Zöllnernbemerkte ich auch einige Gendarmen, und durch diesen Anblick erschreckt, stieg ich in den Schiffsraum hinab, schlüpfte durch eine Stückpforte und ließ mich in den Fluß fallen; dann schwamm ich unter dem Wasser, schöpfte nur nach laugen Zwischenräumen Atem und erreichte, ohne gesehen zu werden, einen kurz zuvor angelegten Graben, durch den die Rhone mit dem Kanal in Verbindung steht, der vonBeaucaire nach Aigues‑Mortes führt. Nun war ich gerettet, denn ich konnte dem Graben folgen, ohne gesehen zu werden. Ungehindert kam ich in den Kanal. Diesen Weg hatte ich auch deshalbgewählt, weil ich denBesitzer eines kleinen Gasthofs auf der Straße vonBellegarde nachBeaucaire kannte.

Wie hieß dieser? fragte der Graf, der wieder einiges Interesse an der ErzählungBertuccios zu nehmen schien.

Er hieß Gaspard Caderousse und war mit einer Frau verheiratet, die am Sumpffieber hinsiechte. Der Mann dagegen war ein kräftigerBursche, der uns mehr als einmal unter schwierigen UmständenBeweise von Geistesgegenwart und Mut gegeben hatte.

Und Sie sagen, fragte der Graf, diese Dinge seien vorgefallen im Jahre…

Am 3. Juni 1829 abends.

Ah! sagte Monte Christo, am 3. Juni 1829?… Gut, fahren Sie fort.

Bei Caderousse gedachte ich also eine Zufluchtsstätte zu finden. Da wir aber gewöhnlich nicht durch die Tür, die nach der Straße führte, bei ihm eintraten, so stieg ich über die Gartenhecke und erreichte, in derBesorgnis, Caderousse könnte einen Reisenden im Hause haben, eine Art Schuppen, worin ich wiederholt die Nacht zugebracht hatte. Dieser Schuppen war von der Gaststube im Erdgeschoß nur durch einenBretterverschlag getrennt, in dem man Öffnungen gemacht hatte, damit wir im geeigneten Augenblick unsre Anwesenheit anmelden könnten. Ich gedachte, Caderousse, wenn er allein wäre, von meiner Ankunft in Kenntnis zu setzen, schlich mich also unter den Schuppen und tat Wohl daran, denn in demselben Augenblick kam Caderousse mit einem Unbekannten nach Hause. Ich hielt mich still und wartete, nicht um die Geheimnisse meines Wirtes zubelauschen, sondern weil ich nicht anders konnte.

Der Mann, der Caderoussebegleitete, war offenbar fremd im südlichen Frankreich; er gehörte zu den Handelsleuten, die zur Messe vonBeaucaire kommen, um Juwelen zu verkaufen. Caderousse trat rasch und zuerst ein. Als er die untere Stube wie gewöhnlich leer sah, rief er seiner Frau zu: He! Carconte, der würdige Priester hat uns nicht getäuscht; der Stein war gut.

Ein freudiger Ausruf ließ sich vernehmen, und fast in demselben Augenblick kam ein schwacher Tritt die Treppe herunter. Was sagst du? fragte die Frau, bleicher als eine Tote.

Ich sage, daß der Diamant gut war, und daß dieser Herr, einer der ersten Juweliere von Paris, uns fünfzigtausend Franken dafür geben will. Nur verlangt er, um sicher zu sein, daß der Diamant uns gehört, du sollst ihm, wie ich's schon getan habe, erzählen, auf welche wunderbare Weise er in unsere Hände gekommen ist. Setzen Sie sich einstweilen, mein Herr, wenn es Ihnenbeliebt, ich will Ihnen eine Erfrischung holen. Der Juwelierbetrachtete mit großer Aufmerksamkeit das Innere der Herberge und die sichtbare Armut des Wirtes, der einen Diamanten, der aus dem Schmuckkästchen eines Fürsten zu kommen schien, an ihn verkaufen wollte.

Erzählen Sie, sagte der Fremde; ohne Zweifel wollte er die Abwesenheit des Mannesbenutzen und sehen, obdiebeiden Erzählungen übereinstimmten.

Ei! mein Gott, sagte die Frau mit großer Zungenfertigkeit, es ist ein Segen des Himmels, den wir entfernt nicht erwarteten. Denken Sie sich, lieber Herr, daß mein Mann im Jahre 1814 mit einem Seefahrer, namens Dantes, in Verbindung stand; der arme Junge, den Caderousse ganz vergessen hatte, hat ihn nicht vergessen und ihm, als er im Gefängnis starb, den Diamanten, den Sie hier sehen, hinterlassen.

Aber wie ist er in denBesitz dieses Diamanten gelangt? fragte der Juwelier. Erbesaß ihn also, ehe er in das Gefängnis kam?

Nein, mein Herr, erwiderte die Frau, sondern er machte, wie mir scheint, im Gefängnis dieBekanntschaft eines reichen Engländers; und da sein Stubengenosse im Kerker krank wurde und Dantes ihn pflegte, so schenkte der Engländer, als er aus der Haft entlassen wurde, diesen Diamanten dem armen Dantes, der, minder glücklich, im Gefängnis starbundbei seinem Tode uns den Stein vermachte, den uns heute früh ein würdiger Abbé in seinem Auftrag überbrachte.

Das ist ganz das gleiche, murmelte der Juwelier, und die Geschichte muß am Ende wahr sein, so unwahrscheinlich sie auch aussieht. Es handelt sich also nur um den Preis, über den wir noch nicht einig sind.

Wie! rief Caderousse, ich glaubte, Sie hätten eingewilligt, den von mir verlangten Preis dafür zu zahlen. — Das heißt, versetzte der Juwelier, ich habe vierzigtausend Franken geboten. — Vierzigtausend Franken! rief die Careonte, wir geben ihn dafür nicht her. Der Abbé hat uns gesagt, er sei ohne Fassung fünfzigtausend Franken wert. — Zeigen Sie mir den Diamanten, sagte der Juwelier, damit ich ihn noch einmalbetrachten kann; man irrt sichbei flüchtigemBetrachten leicht.

Caderousse zog aus seiner Tasche ein kleines Futteral, öffnete es und gabes dem Juwelier. Beim Anblick des Diamanten, der so groß war wie eine kleine Haselnuß, funkelten die Augen der Carconte vorBegierde.

Und was dachten Sie dabei, Herr Horcher? fragte Monte Christo. Kannten Sie den Edmond Dantes, von dem die Rede war?

Nein, Exzellenz, ich hattebis dahin nie von ihm sprechen hören und hörte auch seitdem nur ein einziges Mal den AbbéBusoni von ihm reden, als ich ihn im Gefängnis in Nimes sah.

Gut, fahren Sie fort!

Der Juwelier nahm den Ring aus Caderousses Händen, zog aus seiner Tasche ein stählernes Zänglein und eine kleine messingne Wage, öffnete die goldenen Krampen, die den Stein im Ringe hielten, zog den Diamanten heraus und wog ihn mit ängstlicher Sorgfalt. Dann sagte er: Ich gebe 45 000 Franken, aber keinen Sou mehr; es tut mir sogar leid, daß ich diese Summe geboten habe, insofern der Stein einen Mangel hat, den ich anfangs nichtbemerkte.

Bringen Sie den Stein wenigstens wieder in den Ring, sagte Caderousse spitzig. — Sie haben recht, versetzte der Juwelier, undbrachte den Diamanten wieder in seinen Kasten. — Gut, sagte Caderousse, ich verkaufe ihn an einen anderen.

Ja, entgegnete der Juwelier, aber ein anderer wird sich nicht so leicht mit der Auskunftbegnügen, die Sie mir gegeben haben. Er wird sagen: Es geht nicht mit rechten Dingen zu, daß ein Mensch wie Sie einen Diamanten von fünfzigtausend Frankenbesitzt, er wird dieBehörden darauf aufmerksam machen, dann sucht man den AbbéBusoni, und die Abbés, die Diamanten von zweitausend Louisd'or verschenken, sind selten. Die Justizbemächtigt sich der Sache, man schickt Sie ins Gefängnis, — und werden Sie auch als unschuldig erkannt, setzt man Sie nach einer Haft von dreibis vier Monaten wieder in Freiheit, so hat sich der Ring in der Gerichtskanzlei verloren, oder man gibt Ihnen einen falschen Stein, der drei Franken wert ist, statt eines Steines von fünfzigtausend Franken. Also ganz nach Ihrem Gutdünken; ich habe übrigens, wie Sie sehen, schönes Geld mitgebracht.

Und er zog aus einer von seinen Taschen eine Handvoll Gold, die er vor den geblendeten Augen des Wirtes funkeln ließ, und aus der andern ein Päckchen mitBanknoten. In Caderousses Innern entspann sich offenbar ein harter Kampf, und das kleine Futteral von Saffianleder, das er in seiner Hand hin und her drehte, schien ihm als Wert offenbar nicht der ungeheuren Summe zu entsprechen, die seine Augenblendete. Er wandte sich zu seiner Frau und sagte leise: Was meinst du dazu?

Gib, gib, antwortete sie; wenn er ohne den Diamanten nachBeaucaire zurückkehrt, zeigt er uns an, und wer weiß, obwir je wieder des AbbésBusoni habhaft werden können.

Gut, sagte Caderousse, nehmen Sie den Diamanten für 45 000 Franken; meine Frau will aber noch eine goldene Kette haben und ich silberne Schnallen.

Nun, so geben Sie doch her! Was für ein schrecklicher Mensch! versetzte der Juwelier, ihm den Ring aus der Hand ziehend; ich zahle ihm 45 000 Franken, das heißt ein Vermögen, wie ich wohl eines haben möchte, und er ist noch nicht zufrieden!

Warten Sie, bis ich die Lampe angezündet habe, entgegnete die Carconte, es ist nicht mehr hell, und man könnte sich irren.

Während dieser Verhandlung war es wirklich Nacht geworden, und mit der Nacht war der Sturm gekommen, der seit einer halben Stunde loszubrechen drohte. Man hörte den Donner dumpf in der Ferne grollen; aber ganz und gar vom Dämon des Gewinnesbesessen, schienen sich weder der Juwelier noch die Carconte darum zubekümmern. Ich selbst fühlte mich ganz geblendetbei dem Anblick von all diesem Gold und all denBanknoten. Es kam mir vor, als träumte ich.

Caderousse zählte wiederholt das Gold und die Scheine, die der Juwelier auf den Tisch gezählt hatte, und gabdannbeides seiner Frau, die ebenfalls alles durchzählte. Mittlerweile ließ der Juwelier den Diamanten unter dem Strahle der Lampe spiegeln.

Nun, ist die Rechnung richtig? fragte der Händler.

Ja, antwortete Caderousse, und nun, obgleich Sie uns vielleicht zehntausend Livres zu wenig gezahlt haben, wollen Sie mit uns zu Nacht speisen? Es kommt von gutem Herzen.

Ich danke, erwiderte der Juwelier. Es istbereits spät, und ich muß nachBeaucaire zurück, sonst wird meine Frau unruhig. Bei Gott, es istbald neun Uhr, ich werde vor Mitternacht nicht inBeaucaire sein. Gottbefohlen, Kinder.

Ein Donnerschlag erdröhnte, begleitet von einem so grellenBlitze, daßbeinahe die Lampe verdunkelt wurde.

Oh! sagte Caderousse, bei diesem Wetter wollen Sie fort? — Ich fürchte mich nicht vor dem Donner, versetzte der Juwelier. — Und vor den Räubern? fragte die Carconte. Die Straße ist während der Messe nie sicher. — Oh! was die Räuberbetrifft, entgegnete der Händler, da ist etwas für sie. Und er zog ein paar kleine, bis an die Mündung geladene Pistolen aus der Tasche. Das sind Hunde, die zugleichbellen undbeißen, sie sind für diebeiden erstenbestimmt, die es nach Eurem Diamanten gelüsten sollte, Vater Caderousse.

Caderousse und seine Frau wechselten einen finsternBlick. Sie hatten, wie es schien, gleichzeitig einen furchtbaren Gedanken.

Dann glückliche Reise, sagte Caderousse.

Ich danke, erwiderte der Juwelier, nahm seinen Stock und wollte sich entfernen. In dem Augenblick, wo er die Tür öffnete, drang ein so heftiger Windstoß in die Stube, daß erbeinahe die Lampe ausgelöscht hätte.

Oh! oh! sagte er, ein schönes Wetter, und drei Stunden Wegbei einem solchen Sturme! — Bleiben Sie hier, schlafen Siebei uns! versetzte Caderousse. — Ja, bleiben Sie, sagte Carconte mit zitternder Stimme, wir sorgen für Sie. — Nein, ich muß inBeaucaire schlafen. Gottbefohlen.

Caderousse ging langsambis zur Schwelle.

Man sieht weder Himmel noch Erde, sagte der Juwelier, bereits halbaußer dem Hause. Muß ich mich links oder rechts halten? — Rechts, antwortete Caderousse, Sie können nicht fehlen, die Straße ist aufbeiden Seiten mitBäumenbesetzt. — Schließe doch die Tür! rief die Carconte, ich liebe offene Türen nicht, wenn es donnert! — Und wenn Geld im Hause ist, nicht wahr? entgegnete Caderousse, den Schlüssel zweimal im Schlosse drehend.

Er kam zurück, ging an den Schrank, nahm den Sack und das Portefeuille heraus, undbeide fingen an, zum dritten Male ihr Gold und ihre Scheine zu zählen. Ich habe nie einen Ausdruck gesehen, wie den dieser gierigen, von der spärlichen Lampebeleuchteten Gesichter. Die Fraubesonders war abscheulich, ihr gewöhnliches fiebriges Zittern hatte sich noch gesteigert. Ihr Gesicht war leichenfarbig geworden, ihre hohlen Augen flammten.

Warum hast du ihm ein Nachtlager hier angeboten? fragte sie mit dumpfem Tone. — Um… damit… antwortete Caderoussebebend, damit erbei dem Wetter nicht nachBeaucaire zurückzukehrenbrauchte. — Ah! sagte die Carconte mit einem Tone, der sich nichtbeschreiben läßt; ich glaubte, es geschehe aus einem andern Grunde. — Weib! Weib! rief Caderousse, warum hast du solche Gedanken, und warumbehältst du sie nicht für dich? — Gleichviel, sagte die Carconte, dubist kein Mann. — Warum? — Wärest du ein Mann, so würde er nicht von hier weg gekommen sein. — Weib! — Oder er würde wenigstensBeaucaire nicht erreichen. — Weib! — Die Straße macht eineBiegung, er muß der Straße folgen, während sich längs dem Kanal ein kürzerer Weg hinzieht. — Weib, dubeleidigst den guten Gott. Halt, horch!

Man hörte in der Tat einen furchtbaren Donnerschlag, während einBlitz die ganze Stube mit einerbläulichen Flamme übergoß, doch langsam abnehmend schien sich der Donner nur ungern von dem verfluchten Hause zu entfernen.

Jesus! rief die Carconte sichbekreuzend.

Beinahe in demselben Augenblicke hörte man mitten unter dem Stillschweigen des Schreckens, das gewöhnlich auf Donnerschläge folgt, an die Tür klopfen. Caderousse und seine Fraubebten und schauten sich ängstlich an.

Wer ist da? rief Caderousse aufstehend, schobdie auf dem Tische zerstreuten Goldstücke undBanknoten auf einen Haufen undbedeckte sie mit seinen Händen.

Ei, bei Gott, ich, der Juwelier.

Nun, was sagtest du, versetzte die Carconte mit einem furchtbaren Lächeln, ichbeleidige den guten Gott?… Gerade der gute Gott schickt ihn uns zurück.

Caderousse fielbleich und keuchend auf seinen Stuhl.

Die Carconte dagegen stand auf, ging festen Schrittes auf die Tür zu, öffnete und sagte: Kommen Sie herein, lieber Herr.

Meiner Treu, sagte der Juwelier, der, vom Regen triefend, eintrat, es scheint, der Teufel will nicht, daß ich heute abend nachBeaucaire zurückkehre. Sie haben mir Gastfreundschaft angeboten, ich nehme sie an und komme, um hier zu schlafen.

Caderousse stammelte einige Worte, während er den Schweiß abtrocknete, der von seiner Stirn floß. Die Carconte schloß die Tür doppelt hinter dem Juwelier.

Der Blutregen

Der Juwelier schautebei seinem Eintritt forschend umher; aber nichts schien einen Verdacht in ihm zu erregen. Caderousse hielt sein Gold und seineBanknoten immer noch mitbeiden Händen. Die Carconte lächelte ihrem Gaste so freundlich zu, als sie nur immer konnte. Dann setzte sie auf eine Ecke des Tisches die magern Überreste eines Mittagsessens, denen sie einige frische Eier hinzufügte.

Caderousse hatte seine Geldscheine wieder in sein Portefeuille, das Gold in einen Sack getan und das Ganze in seinem Schrank verschlossen. Er ging düster und nachdenkend in der Stube auf und abund schaute von Zeit zu Zeit den Juwelier an, der dampfend vor dem Herde stand und, als eine Seite trocken war, sich auf die andere wandte.

Mein Herr, sagte die Carconte, eine Flasche Wein auf den Tisch stellend, es ist allesbereit, wenn Sie zu Nacht essen wollen.

Und Sie? fragte der Gast.

Ich esse nicht zu Nacht, antwortete Caderousse.

Wir haben sehr spät zu Mittag gegessen und werden Siebedienen, erwiderte die Carconte mit einembei ihr, selbst gegen zahlende Gäste, ungewöhnlichen Eifer.

Caderousse warf von Zeit zu Zeit einen raschenBlick auf sie. Der Sturm wütete fort.

Es ist der Mistral, und der wirdbis morgen fortdauern, sagte Caderousse, den Kopf schüttelnd, und stieß einen Seufzer aus.

Desto schlimmer für die, welche draußen sind, sagte der Juwelier, sich an den Tisch setzend.

Ja, die haben eineböse Nacht durchzumachen, versetzte die Carconte.

Der Juwelier fing an zu essen, und die Carconte erwies ihm fortwährend alle die kleinen Rücksichten einer aufmerksamen Wirtin; sonst so wunderlich und widerwärtig, war sie ein Muster von Zuvorkommenheit und Höflichkeit geworden. Hätte sie der Juwelier vorher gekannt, so würde ihm diese Veränderung sicherlich aufgefallen sein und Verdacht eingeflößt haben. Als das Abendessenbeendet war, ging Caderousse selbst an die Tür, öffnete sie und sagte: Ich glaube, der Sturm legt sich.

Aber als sollte er Lügen gestraft werden, erschütterte in diesem Augenblick ein furchtbarer Donnerschlag das Haus, ein Windstoß, vermischt mit Regen, drang in die Tür und löschte die Lampe aus. Caderousse schloß die Tür wieder, und seine Frau zündete ein Licht an der ersterbenden Glut au.

Mein Herr, sagte sie, Sie müssen müde sein, ich habe dasBett frisch überzogen, gehen Sie hinauf und schlafen!

Der Juwelierbliebnoch einen Augenblick, dann wünschte er seiner Wirtin gute Nacht und stieg die Treppe hinauf. Ich hörte ihn über mir gehen, jede Stufe krachte unter seinen Tritten. Die Carcounte folgte ihm mit gierigemBlick, während ihm Caderousse den Rücken zuwandte.

Alle diese einzelnen Umstände, welche seitdem in meinem Geiste mit der Frische des ersten Momentes Platz gegriffen haben, fielen nur zur Zeit, wo sie unter meinen Augen vorgingen, nicht auf; in allem, was geschah, lag im ganzen nichts Unnatürliches, und abgesehen von der Diamantengeschichte, die mir etwas unwahrscheinlich vorkam, konnte nichts einen Argwohn in mir rege machen.

Von Müdigkeit überwältigt und entschlossen, die erste Frist zubenutzen, die der Sturm den Elementen gönnen würde, wollte ich ein paar Stunden schlafen und um Mitternacht weggehen. Ich hörte im obern Zimmer den Juwelier alle Vorkehrungen treffen, um die Nacht sobehaglich als möglich zuzubringen. Baldbemerkte ich an dem Krachen seinesBettes, daß er sich niedergelegt hatte.

Ich fühlte, wie sich meine Augen unwillkürlich schlossen, und da ich keinen Verdacht geschöpft hatte, so suchte ich nicht gegen den Schlaf zu kämpfen und warf nur noch einenBlick in das Innere. Caderousse saß an einem langen Tische auf einer von den hölzernenBänken, die in den Dorfwirtshäusern die Stühle ersetzen; er wandte mir den Rücken zu und hielt seinen Kopf aufbeide Hände gestützt.

Die Carconte schaute ihn eine Zeit lang an, zuckte die Achseln und setzte sich ihm gegenüber. In diesem Augenblick flackerte die Flamme zufällig auf, und ein etwas hellerer Schimmer erleuchtete die düstere Stube. Die Carconte schaute ihren Mann starr an, und da dieser stets in derselben Stellung verharrte, sah ich sie ihre gekrümmte Hand nach ihm ausstrecken und seine Stirnberühren.

Caderoussebebte. Es kam mir vor, als spräche sie ganz leise zu ihm, doch der Schall ihrer Worte gelangte nichtbis zu mir. Ich sah nur noch wie durch einen Nebel und halbtraumbefangen. Endlich schlossen sich meine Augen, und ich verlor dasBewußtsein.

Ich lag im tiefsten Schlafe, als ich durch einen Pistolenschuß erweckt wurde, auf den ein furchtbarer Schrei folgte. Es erschollen ein paar wankende Tritte auf demBoden der Stube, und eine träge Masse stürzte auf der Treppe, gerade über meinem Haupte, nieder.

Ich war noch nicht ganz meiner Herr. Ich vernahm Seufzer und dann halberstickte Schreie, wie von einem Kampf. Ein letzter Schrei, der länger anhielt, als die andern, und sich endlich in ein Stöhnen verwandelte, entriß mich völlig meiner Erstarrung.

Ich erhobmich, öffnete die Augen, die in der Finsternis nichts sahen, und fuhr mit der Hand nach der Stirn, auf die, wie es mir vorkam, durch dieBretter der Treppe ein lauer Regen floß.

Das tiefste Schweigen war auf den furchtbaren Lärm gefolgt. Ich hörte sodann die Tritte eines Menschen über meinem Kopfe und auf der Treppe; dieser Mensch stieg in die untere Stube herabund zündete eine Kerze an. Ich erkannte Caderousse, sein Gesicht warbleich, und sein Hemd ganz mitBlut überzogen. Als das Licht angezündet war, stieg er rasch wieder die Treppe hinauf, und ich hörte von neuem seine raschen, unruhigen Tritte.

Einen Augenblick nachher kam er wieder herab; er hielt das Futteral in der Hand, wickelte es in sein rotes Tuch undband es um den Hals. Dann lief er nach dem Schranke, ergriff sein Geld, nahm ein paar Hemden, stürzte aus der Tür und verschwand in der Dunkelheit. Da wurde mir alles klar, und ich machte mir das Geschehene zum Vorwurf, als wäre ich selbst der wahre Schuldige. Es kam mir vor, als hörte ich ein Stöhnen. Der unglückliche Juwelier war nicht tot, vielleicht lag es in meiner Macht dadurch, daß ich ihm Hilfe leistete, einen Teil von dem Übel wieder gutzumachen, das ich zwar nicht selbst getan, wohl aber hatte tun lassen. Ich stemmte meine Schultern gegen die schlecht zusammengefügtenBretter, die den Schuppen, in dem ich michbefand, von der inneren Stube trennten. DieBretter gaben nach, und ichbefand mich im Hause.

Ich ergriff den Leuchter und eilte nach der Treppe; ein Körper versperrte mir den Weg, es war der Leichnam der Carconte. Der Pistolenschuß, den ich gehört, war auf sie abgefeuert; ihr Hals war völlig durchbohrt. Das Zimmerbot den Anblick der furchtbarsten Zerstörung. Alle Geräte waren umgeworfen; dieBettlaken, an die sich der unglückliche Juwelier ohne Zweifel angeklammert hatte, lagen auf demBoden; er selbst war auf der Erde ausgestreckt und schwamm, den Kopf an die Wand gestützt, in seinemBlute, das aus dreibreiten Wunden in seinerBrust hervorquoll. In einer vierten stak ein langes Küchenmesser, dasbis ans Heft hineingestoßen war.

Ich näherte mich dem Juwelier, er war nicht ganz tot. Bei dem Lärm, den ich machte, öffnete er seine stieren Augen; heftete sie eine Sekunde lang auf mich, bewegte seine Lippen, als wollte er sprechen, und verschied.


Dieses furchtbare Schauspiel machte mich fast wahnsinnig. Von dem Augenblick jedoch, wo ich nicht mehr helfen konnte, fühlte ich nur dasBedürfnis, zu fliehen. Michbei den Haaren fassend und ein Geschrei des Schreckens ausstoßend, stürzte ich nach der Treppe.

In der unteren Stube fand ich eine ganzebewaffnete Macht, bestehend aus fünfbis sechs Zollbeamten und mehreren Gendarmen. Manbemächtigte sich meiner. Ich versuchte es nicht einmal, Widerstand zu leisten;… ich war nicht mehr Herr meiner Sinne. Ich wollte sprechen, stieß aber nur unzusammenhängende Töne aus.

Ich sah, daß die Zöllner und Gendarmen mit dem Finger auf mich deuteten, denn ich war ganz mitBlutbedeckt. Der laue Regen, der durch dieBretter der Treppe auf mich gefallen, war dasBlut der Carconte.

Ich deutete mit dem Finger auf den Ort, wo ich verborgen gewesen war.

Was will er sagen? fragte ein Gendarm.

Ein Zöllner sah nach und sagte: Er will sagen, daß er hier durchgeschlüpft ist, und zeigte das Loch, durch das ich wirklich geschlüpft war.

Nunbegriff ich, daß man mich für den Mörder hielt. Ich fand meine Sinne wieder, ich fand meine Kräfte wieder, befreite mich von den Händen zweier Männer, die mich hielten, und rief: Ichbin es nicht.

Zwei Gendarmen schlugen mit ihren Karabinern auf mich an.

Wenn du dich rührst, sagten sie, bist du des Todes.

Aber ich wiederhole, daß ich es nichtbin, rief ich.

Du kannst deine Geschichten den Richtern von Nimes erzählen, erwiderten sie. Inzwischen folge uns; und wenn wir dir raten sollen, leiste keinen Widerstand!

Das war nicht meine Absicht; ich fühlte mich durch Erstaunen und Schrecken gelähmt. Man legte mir Handschellen an, band mich an den Schweif eines Pferdes und führte mich nach Nimes.

Es war mir auf meinem Wege durch den Kanal ein Zöllner gefolgt; als er mich in der Gegend des Hauses aus dem Gesichte verlor, vermutete er, ich würde die Nacht hier zubringen. Erbenachrichtigte seine Kameraden und kam mit ihnen gerade, um den Pistolenschuß zu hören und mich inmitten von Schuldbeweisen festzunehmen, deren Widerlegung mir, wie ich wohl einsah, kaum gelingen konnte.

Ich verließ mich auch nur auf eines undbat den Untersuchungsrichter sogleich, überall einen gewissen AbbéBusoni suchen zu lassen, der im Verlaufe des Tages im Wirtshause zum Pont du Gard gewesen sei. Hatte Caderousse gelogen, gabes keinen AbbéBusoni, so war ich offenbar verloren, wenn nicht Caderousse ebenfalls gefangen wurde und alles gestand.

Es vergingen zwei Monate, während deren, ich muß es zum Lobe meines Richters sagen, alle Nachforschungen angestellt wurden, um den aufzusuchen, nach dem ich verlangte. Ich hatte jede Hoffnung verloren, Caderousse war nicht festgenommen worden. In der nächsten Sitzung sollte ich gerichtet werden, als am 8. September, das heißt drei Monate und fünf Tage nach dem Vorfall, der AbbéBusoni, auf den ich nicht mehr rechnete, sichbei dem Kerkermeister einfand und sagte, er habe erfahren, ein Gefangener wünsche ihn zu sprechen. Er habe in Marseille davon gehört, gaber an, undbeeile sich, dem Wunsche zu entsprechen.

Sie können sich denken, mit welcher Freude ich ihn empfing ich erzählte ihm das ganze Ereignis, dessen Zeuge ich gewesen, sprach aber nicht ohne Unruhe von der Geschichte mit dem Diamanten. Gegen mein Erwarten war sie Punkt für Punkt wahr; ebenfalls gegen mein Erwarten maß er allem, was ich sagte, Glaubenbei. Von seinem Wohlwollen und seiner tiefen Einsicht ergriffen, beichtete ich ihm, was in Auteuil geschehen, und erhielt von ihm den Trost der Absolution. Er verließ mich, indem er mir versprach, er würde alles tun, was in seiner Macht liege, meine Richter von meiner Unschuld zu überzeugen.

DenBeweis, daß er sich wirklich mit mirbeschäftigte, fand ich darin, daß meine Haft allmählich milder wurde. In der Zwischenzeit wurde Caderousse im Ausland verhaftet und nach Frankreich zurückgebracht. Er gestand alles und warf die Schuld des Vorbedachts undbesonders der Anstiftung auf seine Frau. Er wurde zu lebenslänglicher Galeerenstrafe verurteilt und mich setzte man in Freiheit.

Damals geschah es, daß Sie sich mit einemBriefe des AbbésBusonibei mir einfanden? fragte Monte Christo.

Ja, Exzellenz; er nahm sichtbar Anteil an mir, riet mir, mein Schmugglerhandwerk aufzugeben, und wollte mich an einenBekannten empfehlen.

Oh, mein Vater, rief ich, wieviel Güte! — Doch Sie schwören mir, daß ich es nie zubereuen haben werde?

Ich streckte die Hand aus, um zu schwören.

Unnötig, sagte er, ich kenne und liebe die Korsen; hier ist meine Empfehlung.

Und auf diese Empfehlung hin hatte Eure Exzellenz die Gnade, mich in seine Dienste zu nehmen. Nun frage ich Eure Exzellenz, hat sie sich je über mich zubeklagen gehabt?

Nein, erwiderte der Graf, und ich gestehe mit Vergnügen, Sie sind ein guter Diener, Bertuccio, obgleich es Ihnen an Vertrauen gebricht.

Mir, Herr Graf?

Ja, Ihnen. Wie kommt es, daß Sie eine Schwägerin und einen Adoptivsohn haben, und weder von der einen noch von dem andern mit mir sprachen?

Ach! Exzellenz, ich muß Ihnen noch den traurigsten Teil meines Lebens mitteilen. Nach meiner Freilassung reiste ich nach Korsika, denn es drängte mich, meine arme Schwägerin wiederzusehen. Als ich aber nach Rogliano kam, fand ich das Haus in Trauer; es war eine furchtbare Szene vorgefallen. Meinem Rate gemäß, widerstand meine Schwägerin den ForderungenBenedettos, der jeden Augenblick alles Geld verlangte, das im Hause war. Eines Morgensbedrohte er sie und verschwand dann einen ganzen Tag. Sie weinte, denn die liebe Assunta hatte ein Mutterherz für den Elenden. Es kam der Abend, sie wartete auf ihn, ohne sich niederzulegen. Als er um elf Uhr mit zweien seiner Freunde, den gewöhnlichen Genossen seiner tollen Streiche, zurückkehrte, streckte sie die Arme nach ihm aus; doch die Ruchlosen packten sie, und einer von den dreien, ich fürchte, es war das höllische Kind selbst, rief: Wir wollen sie auf die Folter spannen, sie muß gestehen, wo sie ihr Geld hat.

Der Nachbar Wasilio war gerade inBastia, und nur seine Frau allein zu Hause. Niemand außer ihr konnte sehen oder hören, wasbei meiner Schwägerin vorging. Zwei von ihnen hielten die arme Assunta, der dritte verrammelte Türen und Fenster, und alle drei hielten dann Assuntas nackte Füße, indem sie mit Tüchern ihr Geschrei erstickten, über die Kohlenglut, um ihr das Geständnis zu entreißen, wo unser kleiner Schatz verborgen liege. Doch dabei fingen ihre Kleider Feuer; da ließen sie die Unglückliche los, um nicht selbst verbrannt zu werden. Ganz in Flammen lief sie nach der Tür, aber die Tür war verschlossen; sie stürzte nach dem Fenster, doch das Fenster war verrammelt. Nun hörte die Nachbarin ein furchtbares Geschrei; es war Assunta, die um Hilfe rief. Bald dämpfte sich ihre Stimme; die Schreie verwandelten sich in ein Stöhnen, und als am andern Morgen, nach einer Nacht des Schreckens und der Angst, Wasilios Frau aus ihrer Wohnung herauszugehen wagte und von der Polizei unser Haus öffnen ließ, fand man Assunta halbverbrannt, aber noch atmend, die Schränke erbrochen, das Geld entwendet. Benedetto hatte Rogliano verlassen, um nie mehr dahin zurückzukehren. Seit jenem Tage habe ich ihn nicht mehr gesehen und auch nichts mehr von ihm gehört. — Nachdem ich diese traurige Kunde vernommen, begabich mich zu Eurer Exzellenz. Ich konnte nicht vonBenedetto sprechen, weil er verschwunden, und nicht von meiner Schwägerin, weil sie tot war.

Und was dachten Sie von diesem Ereignis? sagte Monte Christo.

Es sei die Strafe für das Verbrechen, das ichbegangen hatte. Oh! diese Villefort waren ein verfluchtes Geschlecht.

Ich glaube es, murmelte der Graf finster.

Und nunbegreifen Eure Exzellenz wohl, daß dieses Haus, das ich seitdem nicht mehr gesehen, daß dieser Garten, in dem ich mich plötzlich wiederfand, daß dieser Platz, wo ich einen Menschen getötet habe, die Erschütterung in mir hervorbringen mußte, deren Veranlassung Sie erfahren wollten; denn ich weiß nicht gewiß, obnicht hier zu meinen Füßen Herr von Villefort in dem Grabe liegt, das er für sein Kind gegraben hatte.

Es ist in der Tat alles möglich, sagte Monte Christo, von derBank aufstehend, auf der er gesessen hatte, sogar, fügte er ganz leise hinzu, sogar, daß der Staatsanwalt nicht gestorben ist. Der AbbéBusoni hat wohl daran getan, Sie mir zuzuschicken. Sie haben ebenfalls wohl daran getan, mir Ihre Geschichte zu erzählen, denn ich werde nichts Schlimmes mehr von Ihnen denken. Doch was den verruchtenBenedettobetrifft, haben Sie nie seine Spur aufzufinden gesucht, haben Sie nie zu erfahren gesucht, was aus ihm geworden ist?

Nie. Hätte ich gewußt, wo er wäre, so würde ich, statt zu ihm zu gehen, vor ihm geflohen sein, wie vor einem Ungeheuer. Nein, glücklicherweise habe ich nie irgend einen Menschen der Welt von ihm sprechen hören, und ich hoffe, er ist tot.

Hoffen Sie das nicht, Bertuccio; die Schlechten sterben nicht so leicht, denn Gott scheint sie unter seine Obhut zu nehmen, um Werkzeuge seiner Rache aus ihnen zu machen.

Es mag sein, versetzteBertuccio. Ichbitte den Himmel nur, ihn nie mehr sehen zu dürfen. Und nun wissen Sie alles, Herr Graf, fügte der Intendant, sein Haupt neigend, hinzu, Sie sind mein Richter hienieden, wie dies Gott dort oben sein mag… Werden Sie mir nun nicht einige Worte des Trostes sagen?

Sie haben recht, ich kann Ihnen sagen, was der AbbéBusoni sagen würde: Der, welcher Sie mißhandelt hatte, Villefort, verdient eine Strafe für das, was er Ihnen getan, und vielleicht noch für etwas anderes. Benedetto aber wird, falls er lebt, zu einer göttlichen Rache dienen. Sie aber haben sich in Wahrheit nur einen Vorwurf zu machen: Fragen Sie sich, warum Sie das Kind, nachdem Sie es dem Tode entrissen, nicht seiner Mutter zurückgegeben haben! Hierin liegt Ihr Verbrechen, Bertuccio.

Ja, Herr Graf, das ist mein Verbrechen, denn ichbin hierbei feig gewesen; hatte ich das Kind einmal ins Leben zurückgerufen, sobliebnur eins zu tun: ich mußte es, wie Sie sagen, seiner Mutter zurückschicken. Aber zu diesemBehufe hätte ich auch Nachforschungen anstellen, die Aufmerksamkeit auf mich ziehen, mich vielleicht preisgeben müssen. Ich wollte aber nicht sterben, ich hing meiner Schwägerin wegen am Leben, vielleicht auch nur aus Liebe zu eben diesem Leben. Oh, ichbin kein Tapferer, wie mein armerBruder!

Bertuccio verbarg sein Gesicht in seinenbeiden Händen, und Monte Christo heftete einen langen, unbeschreiblichenBlick auf ihn.

Dann nach einem kurzen Stillschweigen, das durch die Stunde und den Ort noch feierlicher wurde, sagte der Graf mit einembei ihm ungewöhnlichen Tone der Schwermut:

HerrBertuccio, erinnern Sie sich stets folgender Worte, ich habe sie oft vom AbbéBusoni aussprechen hören: Für jedes Übel gibt es zwei Mittel, die Zeit und das Stillschweigen. Lassen Sie mich nur eine Minute im Garten spazierengehen. Was für Sie, die handelnde Person, bei dieser furchtbaren Szene eine schmerzhafte Erschütterung hervorbringen muß, wird für mich einebeinahe sanfte Empfindung sein und diesem Gute einen doppelten Wert verleihen. DieBäume gefallen mir, weil sie Schatten geben, und der Schatten gefällt mir, weil er voll von Träumen und Gesichten ist. Sehen Sie, ich habe einen Garten gekauft und glaubte nur einen von Mauern eingeschlossenen Raum zu kaufen; es findet sich aber, daß dieser Raum von Schreckbildernbevölkert ist, die gar nicht im Vertrage aufgeführt sind. Jedoch ich liebe diese Geister; meines Wissens haben die Toten in sechstausend Jahren nicht so vielBöses getan, wie die Lebenden an einem einzigen Tage. Kehren Sie also zurück und schlafen Sie in Frieden! Ist Ihr letzterBeichtiger minder nachsichtig, als es der AbbéBusoni war, so lassen Sie mich kommen, wenn ich noch auf der Weltbin, und ich werde Worte finden, die Ihre Seele in jeder Minute sanft einwiegen lassen, wo siebereit ist, sich auf die große Reise zu machen, die man die Ewigkeit nennt.

Bertuccio verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor dem Grafen und entfernte sich nach einem tiefen Seufzer. Nach einem Gange durch den Garten kehrte der Graf zu seinem Wagen zurück. Bertuccio stieg, ohne ein Wort zu sagen, auf denBock neben den Kutscher. Der Wagen schlug wieder den Weg nach Paris ein.

Noch an demselben Abend, unmittelbar nach seiner Ankunft in dem Hause der Champs‑Elysées, besichtigte Monte Christo die ganze Wohnung, wie es nur ein seit langen Jahren damit vertrauter Mensch hätte tun können. Nicht ein einziges Mal öffnete er, obgleich er allein ging, eine Tür statt einer andern, wählte er eine Treppe oder eine Flur, die ihn nicht dahin führte, wohin er gehen wollte. Alibegleitete ihnbei dieser nächtlichen Schau. Der Graf gabBertuccio mehrereBefehle für die Verschönerung und Einteilung der Zimmer; dann zog er seine Uhr und sagte zu dem aufmerksamen Nubier: Es ist halbzwölf Uhr. Haydee mußbald kommen. Hat man die französischen Frauen davon in Kenntnis gesetzt?

Ali streckte die Hand nach der für die schöne Griechinbestimmten Wohnung aus, die so abgesondert und durch eine Tapetentür verborgen war, daß man das ganze Hausbesichtigen konnte, ohne zu vermuten, daß es hier noch einen Salon und zweibewohnte Zimmer gab. Ali streckte also die Hand nach dieser Wohnung aus, deutete die Zahl drei mit den Fingern seiner linken Hand an, legte dann den Kopf auf die wieder flach gemachte Hand und schloß die Augen, als schliefe er.

Oh! sagte Monte Christo, der an diese Sprache gewöhnt war, es sind ihrer drei, und sie warten im Schlafzimmer, nicht wahr?

Alibejahte, indem er mit dem Kopfe nickte.

Madame wird heute abend müde sein und ohne Zweifel schlafen wollen; veranlasse sie nicht zum Sprechen; die französischen Kammerfrauen sollen ihre neue Gebieterin nurbegrüßen und sich dann zurückziehen. Du wachst darüber, daß die griechische Kammerfrau nicht mit den französischen Frauen verkehrt.

Ali verbeugte sich.

Bald hörte man den Hausmeister anrufen; das Gitter öffnete sich, ein Wagen hielt vor der Freitreppe. Der Graf ging hinab; der Kutschenschlag warbereits offen; er reichte seine Hand einer Frau, die in einen großen, seidenen, ganz mit Gold gestickten, von ihrem Haupte herabfallenden Schleier gehüllt war. Die junge Frau nahm die ihr dargebotene Hand, küßte sie mit ehrfurchtsvoller Liebe und ließ ein paar zärtliche Worte laut werden, auf die der Graf mit sanftem Ernste antwortete. Dann wurde die junge Frau, eine junge Griechin, in ihre Gemächerbegleitet.

Der unbegrenzte Kredit

Am andern Tage, gegen zwei Uhr nachmittags, hielt eine mit zwei prächtigen Pferdenbespannte Kalesche vor der Tür des Grafen. Ein Mann von etwa fünfzig Jahren inblauem Frack und weißer Weste mit ungeheurer goldener Uhrkette streckte seinen Kopf aus dem Coupé, auf dessen Füllung eineBaronenkrone gemalt war, und schickte seinen Diener zum Hausmeister, um zu fragen, obder Graf von Monte Christo zu Hause sei.

Inzwischenbetrachtete er mit großer Aufmerksamkeit das Äußere des Hauses und die Livree einigerBedienten, die hin und her gingen. Sein Auge war lebhaft, aber mehr verschmitzt als geistreich; seine Lippen waren so dünn, daß sie, statt gegen außen vorzuspringen, in den Mund zurücktraten; diebreiten und hervorragendenBackenknochen, die niedergedrückte Stirn, die Ausbuchtung des Hinterhauptes, die übermäßige Ohrmuschel trugen dazubei, für jeden Physiognomiker dem Gesichte dieser Person einen fast abstoßenden Charakter zu verleihen.

Der Diener klopfte an das Fenster des Hausmeisters und fragte: Wohnt hier nicht der Graf von Monte Christo?

Seine Exzellenz wohnt hier, antwortete der Hausmeister; aber… Erbefragte Ali mit einemBlicke. Ali machte ein verneinendes Zeichen.

Aber Seine Exzellenz ist nicht zu sprechen, sagte der Hausmeister.

Dann nehmen Sie diese Karte des HerrnBaron von Danglars und geben sie dem Herrn Grafen. Sagen Sie ihm, daß mein Herr, der jetzt zur Kammer fährt, einen Umweg macht, um sich die Ehre zu geben, ihm einenBesuch abzustatten.

Der Diener kehrte zum Wagen zurück und meldete, was man ihm gesagt.

Oh! oh! rief Danglars, dieser Herr ist also so vornehm, das; man ihn Exzellenz nennt, und daß nur sein Kammerdiener mit ihm sprechen darf; gleichviel, da er einen Kredit auf mich hat, muß ich ihnbesuchen, für den Fall, daß er Geld zu erheben wünscht.

Und er warf sich in seinen Wagen zurück und rief dem Kutscher so laut zu, daß man es auf der andern Seite der Straße hören konnte: In die Deputiertenkammer!

Durch eine Jalousie hatte Monte Christo denBaron gesehen und ihn mit derselben Aufmerksamkeit gemustert, mit der Danglars das Haus, den Garten und die Livreenbesichtigt hatte.

Dieser Mensch, sagte er, ist offenbar ein häßliches Geschöpf; erkennt man nicht sofort, wenn man ihn sieht, die Schlange an der platten Stirn, den Geier an dem gewölbten Schädel und den Habicht an dem scharfen Schnabel?

In demselben Augenblick trat der Intendant ein. Monte Christo wandte sich an ihn und sagte: Haben Sie die Pferde gesehen, die soeben vor meiner Tür hielten?

Allerdings, Exzellenz, sie sind sehr schön.

Wie kommt es, fragte Monte Christo, die Stirn faltend, daß es, wenn ich die zwei schönsten Pferde von Paris verlange, hier noch zwei andere Pferde gibt, die so schön sind, wie die meinigen, und daß diese Pferde nicht in meinem Stalle stehen?

Herr Graf, sagteBertuccio, die Pferde, von denen Sie sprechen, waren nicht käuflich.

Monte Christo zuckte die Achseln und erwiderte: Lassen Sie sich sagen, mein Herr Intendant, daß stets alles für den käuflich ist, der den Preis zu machen weiß.

Herr Danglars hat 16 000 Franken dafürbezahlt.

Dann hätte man ihm 32 000bieten müssen; er istBankier, und einBankier versäumt nie eine Gelegenheit, sein Kapital zu verdoppeln.

Spricht der Herr Graf im Ernste? fragteBertuccio.

Monte Christo schaute den Intendanten wie ein Mensch an, der darüber erstaunt, daß man eine solche Frage an ihn zu richten wagt, und sagte sodann: Ich habe heute abend einenBesuch zu erwidern, die zwei Pferde müssen dann mit neuem Geschirr an meinen Wagen gespannt sein.

Bertuccio verbeugte sich, um wegzugehen; an der Türblieber noch einmal stehen und fragte: Um wieviel Uhr gedenkt Exzellenz denBesuch zu machen? — Um fünf Uhr.

Ich erlaube mir, Eure Exzellenz zubemerken, daß es zwei Uhr ist, sagte der Intendant.

Ich weiß es, erwiderte Monte Christo mit trockenem Tone; dann fügte er, zu Ali gewendet, hinzu: Laß alle Pferde an Madame vorüberfahren, damit sie sich das Gespann auswählen kann, das ihr am meisten gefällt; will sie mit mir zu Mittag speisen, so mag sie es mir sagen lassen, man serviert dannbei ihr; geh und schicke mir den Kammerdiener.

Ali war kaum verschwunden, als der Kammerdiener ebenfalls eintrat.

HerrBaptistin, sagte der Graf, Sie sind seit einem Jahre in meinem Dienst; das ist die Probezeit, die ich gewöhnlich meinen Leuten auferlege. Sie sagen mir zu.

Baptistin verbeugte sich.

Nun fragt es sich nur noch, obich Ihnen zusage.

Oh! Herr Graf! riefBaptistin.

Hören Sie mich zu Ende! Sie erhalten im Jahr fünfzehnhundert Franken, Sie haben eine Tafel, wie sie sich viele wünschen würden. Ein Diener, haben Sie selbst wieder Diener, die für Ihr Weißzeug und Ihre andernBedürfnisse sorgen. Außer den fünfzehnhundert Franken Gehalt stehlen Sie mirbei den Ankäufen, die Sie für meine Toilette zu machen haben, noch ungefähr weitere fünfzehnhundert Franken jährlich.

Oh! Herr Graf.

Ichbeklage mich nicht, HerrBaptistin, denn ich finde dies nicht übermäßig; doch wünsche ich, daß es hierbeibleiben möge. Sie werden also nirgends einen Posten dem ähnlich finden, den Sie Ihr Glück finden ließ. Ich schlage meine Leute nie, ich fluche nie, ich gerate nie in Zorn, ich vergebe stets einen Irrtum, doch nie eine Nachlässigkeit oder Vergeßlichkeit. MeineBefehle sind gewöhnlich kurz, aber klar und genau; ich will sie lieber zwei- oder dreimal wiederholen, als falsch ausgelegt zu sehen. Ichbin reich genug, um alles zu erfahren, was ich erfahren will, und ichbin sehr neugierig, das sage ich Ihnen zum voraus. Erfahre ich nun, Sie hätten im Guten oder im Schlechten von mir gesprochen, meine Handlungenbeurteilt, mein Tun überwacht, so würden Sie auf der Stelle mein Haus verlassen. Ich warne meine Diener nur ein einziges Mal, Sie sind gewarnt, gehen Sie! Baptistin verbeugte sich und machte ein paar Schritte, um sich zu entfernen.

Doch halt, sagte der Graf, ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß ich jedes Jahr eine gewisse Summe auf den Kopf meiner Leute anlege. Die, welche ich wegschicke, verlieren natürlich dieses Geld, das denBleibenden zu gut kommt, die nach meinem Tode ein Recht darauf haben. Sie sind ein Jahrbei mir; die Ansammlung Ihres Vermögens hatbegonnen, sorgen Sie dafür, daß es zunimmt.

Diese in Gegenwart von Ali, der kein Wort Französisch verstand, gehaltene Redebrachte aufBaptistin eine große Wirkung hervor.

Es soll meinBestreben sein, mich in allen Punkten mit den Wünschen Eurer Exzellenz in Einklang zu setzen, sagte er; überdies werde ich mir Herrn Ali zum Vorbild nehmen. Oh! keineswegs, sagte der Graf eiskalt. Bei Ali sind viele Fehler mit guten Eigenschaften vermischt. Nehmen Sie sich keinBeispiel an ihm, denn Ali ist eine Ausnahme; er hat keinen Lohn, er ist kein Diener; er ist mein Sklave, mein Hund; verfehlt er sich gegen seine Pflicht, so jage ich ihn nicht fort, sondern töte ihn.

Baptistin riß die Augen weit auf.

Sie zweifeln? sagte Monte Christo.

Und er wiederholte arabisch die Worte, die er französisch zuBaptistin gesprochen hatte.

Ali hörte, lächelte, näherte sich seinem Herrn, setzte ein Knie auf die Erde und küßte ihm ehrfurchtsvoll die Hand. Diese kleine Zugabe zu der Lektion seines Gebieters machte das Maß des ErstaunensbeiBaptistin voll. Der Graf hieß ihn nun durch ein Zeichen weggehen und Ali ihm folgen. Beidebegaben sich in sein Kabinett, wo eine lange Unterredung stattfand.

Um fünf Uhr schlug der Graf dreimal auf sein Glöckchen. Ein Schlag rief Ali, zwei riefenBaptistin, dreiBertuccio.

Meine Pferde! sagte Monte Christo.

Sie sind angespannt, Exzellenz, erwiderteBertuccio. Habe ich den Herrn Grafen zubegleiten?

Nein, der Kutscher, Ali undBaptistin, sonst niemand.

Der Graf ging hinabund erblickte an seinem Wagen die Pferde, die er wenige Stunden zuvor an Danglars' Wagenbewundert hatte.

Diese Tiere sind in der Tat schön, sagte er, und Sie haben wohl daran getan, sie zu kaufen, nur war es ein wenig spät.

Exzellenz, entgegneteBertuccio, es hat mir viele Mühe gemacht, sie zu erhalten, und der Preis ist sehr hoch.

Kommen Ihnen die Pferde darum minder schön vor? fragte der Graf, die Achseln zuckend.

Dieses Gespräch fand oben auf der Freitreppe statt. Bertuccio tat einen Schritt, um die erste Stufe hinabzusteigen. Sacht, mein Herr, rief Monte Christo, ihn zurückhaltend. Ichbedarf eines Gutes an der Seeküste, sagen wir, in der Normandie, zwischen Havre undBoulogne. Ich gebe Ihnen Raum, wie Sie sehen. Bei diesem Ankauf müssen Sie auf einen kleinen Hafen, eine kleineBuchtbedacht sein, wo meine Korvette einlaufen und sich halten kann; ihr Tiefgangbeträgt nur fünfzehn Fuß. Das Schiff muß stetsbereit sein, in See zu gehen, zu welcher Stunde des Tages oder der Nacht es mirbeliebt. Sie erkundigen sichbei allen Notaren nach einem Gute, das den von mir angegebenenBedingungen entspricht. Haben Sie ein solches in Erfahrung gebracht, sobesichtigen Sie es, und wenn Sie damit zufrieden sind, kaufen Sie es in meinem Namen. Die Korvette ist auf dem Wege nach Fécamp, nicht wahr?

An demselben Abend, an dem wir Marseille verließen, sah ich sie in See gehen.

Und die Jacht?

Die Jacht hatBefehl, in Martigues zubleiben.

Gut! Sie korrespondieren von Zeit zu Zeit mit den Patronen, welche die Schiffebefehligen, damit sie nicht einschlafen. Und dazu noch eins: Für das Dampfboot, das in Chalons ist, geben Sie dieselbenBefehle wie für die Segelschiffe.

Sehr wohl.

Sobald das Gut gekauft ist, muß ich auf der Straße nach dem Norden und auf der nach dem Süden frische Pferde haben von zehn zu zehn Stunden.

Eure Exzellenz kann auf michbauen.

Der Graf machte ein Zeichen der Zufriedenheit, stieg die Stufen hinabund sprang in seinen Wagen, der, von dem herrlichen Gespann im Trabe gezogen, erst vor dem Hotel desBankiers anhielt.

Danglars führte eben den Vorsitzbei einer für Eisenbahn‑Angelegenheiten ernannten Kommission, als man ihm denBesuch des Grafen von Monte Christo meldete. Die Sitzung war übrigens fast zu Ende. Bei dem Namen des Grafen stand er auf und sagte zu seinen Kollegen, von denen mehrere Kammermitglieder waren:

Meine Herren, verzeihen Sie mir, wenn ich Sie verlasse, aber denken Sie sich, daß das Haus Thomson und French in Rom einen gewissen Grafen von Monte Christo an mich weist und ihm zugleich einen unbegrenzten Kreditbei mir eröffnet. Es ist der possierlichste Scherz, den sich je meine Korrespondenten im Ausland gegen mich erlaubt haben. Sie werdenbegreifen, die Neugierde hat mich gepackt und hält mich noch fest; ichbin auch heute frühbei dem angeblichen Grafen vorgefahren. Wäre er ein wirklicher Graf, so könnte er, wie Sie einsehen werden, nicht so reich sein. Der Herr war nicht sichtbar. Sind die Manieren, die sich der Herr von Monte Christo erlaubt, Ihrer Ansicht nach nicht die einer Hoheit oder einer hübschen Frau? Das Haus auf den Champs‑Elysées ist übrigens, wie ich erfahren habe, sein Eigentum und gar nicht zu verachten. Ich halte mich für mystifiziert. Aber sie wissen dort nicht, mit wem sie es zu tun haben; wer zuletzt lacht, lacht ambesten.

Nachdem er diese Worte von sich gegeben hatte, die er mit einem seine Nasenlöcher schwellenden Nachdruck sprach, verließ der HerrBaron seine Gäste und ging in einen weiß und goldenen Salon, der in der Chaussée d'Antin in hohem Ansehn stand. Er hatteBefehl gegeben, den Grafen hier einzuführen, um ihn mit dem ersten Schlage zublenden.

Monte Christobetrachtete ein paar Kopien von Albano und Fattore, die manbei demBankier für Originale ausgegeben hatte, aberbei dem Geräusch, das Danglars machte, wandte er sich um. Danglars grüßte leicht mit dem Kopfe undbedeutete dem Grafen durch ein Zeichen, er möge sich auf einen mit weißem, goldgesticktem Atlas überzogenen Polsterstuhl von vergoldetem Holze setzen.

Ich habe die Ehre, mit Herrn von Monte Christo zu sprechen?

Und ich, antwortete der Graf, mit dem HerrnBaron von Danglars, Ritter der Ehrenlegion, Mitglied der Kammer der Abgeordneten?

Monte Christo wiederholte alle Titel, die er auf der Karte desBarons gefunden hatte. Danglars fühlte den Stich, biß sich in die Lippen und antwortete:

Entschuldigen Sie mich, daß ich Ihnen nicht sogleich den Titel gegeben habe, unter dem Sie sich ankündigten; aber Sie wissen, wir leben unter einer volkstümlichen Regierung, und ichbin ein Vertreter der Rechte des Volkes.

So sehr, daß Sie zwar die Gewohnheit, sich selbstBaron nennen zu lassen, beibehielten, die, andere Graf zu nennen, aber vergessen haben!

Ah! ich halte auch für meine Person nichts darauf, mein Herr, entgegnete Danglars gleichgültig, man hat mich wegen einiger Dienste, die ich geleistet, zumBaron ernannt und zum Ritter der Ehrenlegion gemacht; daher…

Doch Sie entsagten Ihren Titeln und gaben ein schönesBeispiel!

Nicht ganz; Siebegreifen, für dieBedienten…

Ja, ja, für Ihre Leute heißen Sie gnädiger Herr, für die Journalisten Herr und für Ihre WählerBürger. Das sind unter einer konstitutionellen Regierung höchst praktische Abstufungen, wie ich vollkommenbegreife.

Danglars kniff sich abermals die Lippen; er sah, daß er auf diesem Gebiete Monte Christo nicht gewachsen war, und suchte auf ein anderes überzugehen, mit dem erbesser vertraut war.

Herr Graf, sagte er sich verbeugend, ich habe eine Mitteilung von dem Hause Thomson und French erhalten.

Ichbin darüber entzückt, HerrBaron, ich werde nicht nötig haben, mich selbst vorzustellen, was immer ein wenig peinlich ist. Sie haben alsobereits eine Mitteilung empfangen? Ja, aber ich gestehe, daß ich den Sinn derselben nicht vollkommenbegriff. — Bah!

DieserBrief, ich habe ihn, glaube ich, bei mir. Ja, hier ist er. DieserBrief eröffnet dem Herrn Grafen einen unbegrenzten Kredit auf mein Haus.

Nun, HerrBaron, was finden Sie hierin Dunkles?

Nichts, außer dem Worte unbegrenzt.

Wie, ist der Ausdruck nicht gut? Siebegreifen, derBrief ist von Engländern geschrieben.

Ah! ganz gewiß, hinsichtlich der Grammatik ist nichts dagegen einzuwenden, anders steht es geschäftlich.

Scheint Ihnen das Haus Thomson und French nicht vollkommen sicher, HerrBaron? sagte Monte Christo mit der naivsten Miene der Welt. Teufel! das wäre mir ärgerlich, denn ich habe einige Fonds dort angelegt.

Vollkommen sicher, erwiderte Danglars mitbeinahe spöttischem Lächeln; aber der Sinn des Wortes unbegrenzt istbei finanziellen Dingen so unbestimmt…

Daß er unbegrenzt ist, nicht wahr?

Das ist es gerade, was ich sagen wollte; das Unbestimmte aber ist der Zweifel, und im Zweifel enthalte dich, spricht der Weise.

Und dasbedeutet, daß, wenn das Haus Thomson und French geneigt ist, Tollheiten zubegehen, das Haus Danglars keine Lust hat, demBeispiel zu folgen.

Wieso, Herr Graf?

Ja gewiß, die Herren Thomson und French machen Geschäfte ohnebestimmte Zahlen, aber Herr Danglars hat eine Grenzebei den seinigen; er ist ein weiser Mann, wie er soebenbemerkte.

Mein Herr, sagte derBankier stolz, es hat noch niemand an meiner Kasse etwas auszusetzen gefunden.

Dann werde ich anfangen, wie es scheint, erwiderte Monte Christo.

Wer sagt Ihnen das?

Die Erläuterungen, die Sie von mir verlangen, denn sie sind Zögerungen sehr ähnlich.

Danglarsbiß sich in die Lippen; zum zweiten Male wurde er von diesem Manne geschlagen, und zwar diesmal auf dem Gebiete, das er als sein eigenstesbezeichnete. Seine spöttische Höflichkeit war nur geheuchelt undberührte jenes Extrem, das der Unverschämtheit so nahe steht. Monte Christo dagegen lächelte aufs anmutigste undbesaß, wenn er wollte, ein gewisses naives Wesen, das ihm sehr zum Vorteile gereichte.

Mein Herr, sagte Danglars nach kurzem Stillschweigen, ich will versuchen, mich dadurch verständlich zu machen, daß ich Siebitte, selbst die Summe zubestimmen, die Sie von mir zu erheben gedenken.

Mein Herr, antwortete Monte Christo, entschlossen, keinen Zollbreitbei dieser Verhandlung zurückzuweichen, wenn ich einen unbegrenzten Kredit auf Sie verlangt habe, so geschah dies, weil ich denBetrag der Summen, deren ich vielleichtbedarf, nicht kannte.

DerBankier glaubte, der Augenblick sei gekommen, den Meister zu zeigen, er warf sich in seinen Polsterstuhl zurück und sagte mit stolzem, plumpem Lächeln: Oh! mein Herr, scheuen Sie sich nicht, Ihren Wunsch auszudrücken, Sie werden sich überzeugen, daß die Kasse des Hauses Danglars, sobeschränkt sie auch ist, doch den ausgedehntesten Forderungen zu entsprechen vermag, und sollten Sie auch eine Million verlangen…

Wiebeliebt?

Ich sage eine Million, wiederholte Danglars mit dem Nachdruck der Gemeinheit.


Und was soll ich mit einer Million tun? entgegnete der Graf. Guter Gott! wenn ich nur eine Million gebraucht hätte,… einer solchen Erbärmlichkeit wegen würde ich mir nicht haben einen Kredit auf Sie eröffnen lassen! Eine Million habe ich stets in meinerBrieftasche. Hierbei zog Monte Christo aus einem kleinen Täschchen, das auch seine Visitenkarten enthielt, zwei Anweisungen auf die Staatsbank, je über 500 000 Franken.

Einen Menschen wie Danglars mußte man mit einem Keulenschlage niederstrecken, leichte Stiche taten ihm nichts. DerBankier wanktebetäubt und schaute Monte Christo mit verdutzten Augen an, deren Stern sich furchtbar erweiterte. Gestehen Sie mir, daß Sie dem Hause Thomson und French mißtrauen? sagte Monte Christo. Mein Gott, das ist ganz einfach, ich habe diesen Fall vorgesehen. Hier sind noch zweiBriefe, dem ähnlich, den Sie erhalten haben, der eine ist von Arnstein in Wien an den HerrnBaron Rothschild, der andere vonBaring in London an Herrn Laffitte. Sagen Sie ein Wort, und ich überhebe Sie jeder Unruhe, indem ich mich an eins von denbeiden Häusern wende.

Das wirkte, Danglars warbesiegt. Er öffnete sichtbar zitternd diebeidenBriefe von Wien und London, die ihm der Graf mit den Fingerspitzen reichte, und untersuchte die Echtheit der Unterschriften mit einer ängstlichen Aufmerksamkeit, die für Monte Christobeleidigend gewesen wäre, wenn er sie nicht der Verwirrung desBankiers zu gut gehalten hätte.

Oh! mein Herr, diese drei Unterschriften sind Millionen wert, sagte Danglars, indem er sich erhob, als wollte er in dem Manne, der vor ihm stand, die personifizierte Macht des Geldesbegrüßen. Drei unbegrenzte Kredite auf unsere größten Häuser! Verzeihen Sie, Herr Graf, aber wenn man auch aufhört, mißtrauisch zu sein, so kann man doch noch erstauntbleiben.

Oh! ein Haus wie das Ihrige dürfte wohl nicht staunen, erwiderte Monte Christo mit aller ihm zu Gebote stehenden Höflichkeit. Sie können mir also einiges Geld schicken?

Befehlen Sie, Herr Graf, ichbin zu Ihren Diensten.

Nun, da wir uns verstehen… nicht wahr, wir verstehen uns?

Danglars machte einbejahendes Zeichen mit dem Kopfe.

Und Sie haben kein Mißtrauen mehr? fuhr Monte Christo fort.

Oh! Herr Graf, rief derBankier, ich hatte es nie.

Nun also, da wir uns verstehen, wollen wir eine runde Summe für das erste Jahr feststellen, sechs Millionen etwa.

Sechs Millionen, gut! versetzte derBankier ganzbetäubt.

Brauche ich mehr, fuhr Monte Christo gleichgültig fort, so setzen wir mehr. Doch ich gedenke nur ein Jahr in Frankreich zubleiben, und während dieses Jahres überschreite ich diese Summe wohl nicht… übrigens werden wir sehen… Schicken Sie mir morgen zunächst 500 000 Franken, ich werdebis zur Mittagsstunde zu Hause sein; und wäre dies auch nicht der Fall, so fände sich ein Empfangsscheinbei meinem Intendanten.

Das Geld wird morgen vormittag um zehn Uhrbei Ihnen sein, Herr Graf, erwiderte Danglars.

Der Graf stand auf.

Ich muß Ihnen gestehen, Herr Graf, sagte Danglars, ich glaubte von allen großen Vermögen in Europa Kenntnis zu haben, aber das Ihre, das dochbeträchtlich zu sein scheint, war mir völlig unbekannt; ist es neu?

Nein, mein Herr, es ist von sehr altem Datum; es war eine Art Familienschatz, den man nichtberühren durfte, der Zuschlag der Zinsen hat das Kapital verdreifacht. Die vom Erblasser festgesetzte Frist ist erst vor ein paar Jahr en abgelaufen, und erst seitdembin ich im Genuß; somit ist es ganz natürlich, daß Ihnen von diesem Kapital nichtsbekannt ist. Übrigens werden Sie den Stand der Dinge in einiger Zeit genauer kennen lernen.

Der Grafbegleitete diese Worte mit jenembleichen Lächeln, das Franz d'Epinay sobange gemacht hatte.

Mit Ihrem Geschmack und Ihrer Gesinnung, mein Herr Graf, fuhr Danglars fort, werden Sie in der Hauptstadt einen Luxus entwickeln, der uns arme kleine Millionäre insgesamt in den Staubtreten muß. Doch dürfte ich um die Ehrebitten, Sie der FrauBaronin von Danglars vorstellen zu dürfen? Entschuldigen Sie meinen Eifer, Herr Graf, doch ein Kunde, wie Sie, gehörtbeinahe zur Familie.

Monte Christo verbeugte sich. Danglars läutete, und es erschien ein Lakai in auffallender Livree, den sein Herr fragte: Ist die FrauBaronin zu Hause?

Ja, HerrBaron. Die FrauBaronin hat Gesellschaft. Und wer istbei der FrauBaronin? Herr Debray? fragte Danglars mit einer Gelassenheit, die Monte Christo, derbereits von den durchsichtigen Geheimnissen im Hause des Finanzmannes unterrichtet war, innerlich lächeln ließ.

Ja, HerrBaron, Herr Debray, antwortete der Lakai.

Danglars machte ein Zeichen mit dem Kopfe. Dann, sich gegen Monte Christo wendend, sagte er: Herr Lucien Debray, ein alter Freund von uns, ist geheimer Sekretärbeim Minister des Innern. Was meine Fraubetrifft, so muß ich Ihnenbemerken, daß sie einer sehr alten Familie angehört; sie ist ein Fräulein von Servières, Witwe aus erster Ehe mit dem Obersten Marquis von Nargonne.

Ich habe nicht die Ehre, die FrauBaronin von Danglars zu kennen; aber Herrn Lucien Debray traf ich unmittelbar nach meiner Ankunftbei Herrn von Morcerf.

Ah! Sie kennen den kleinen Vicomte.

Wir waren miteinander zur Zeit des Karnevals in Rom.

Ah! ja; habe ich nicht so etwas wie von einem sonderbaren Abenteuer mitBanditen sprechen hören, deren Händen er auf eine wunderbare Weise entrissen wurde? Ich glaube, er hat meiner Frau und meiner Tochterbei seiner Rückkehr aus Italien dergleichen erzählt.

Die FrauBaronin erwartet die Herren, meldete der Lakai.

Die Apfelschimmel

Dem Grafen voran durchschritt derBaron eine Reihe von Zimmern, die durch ihre schwerfällige Pracht und den darin herrschenden übermäßig schlechten Geschmack auffielen, und gelangte in dasBoudoir der Frau Danglars, ein kleines achteckiges Gemach, mit einem von indischem Musselin überzogenen Atlas tapeziert. Die Polsterstühle waren von altem vergoldetem Holz und hatten alten Überzug; über den Türen hingen Gemälde, Schäferszenen nachBoucher darstellend; zwei mit der übrigen Ausstattung im Einklang stehende hübsche Pastelle in Medaillenform machten endlich aus diesem Zimmer das einzige einigermaßen stilvolle des ganzen Hauses, was nur die Folge davon war, daß sich dieBaronin mit Lucien Debray allein die Ausschmückung vorbehalten hatte.

Frau Danglars, die trotz ihrer sechsunddreißig Jahre noch schön genannt werden konnte, saß an ihrem Klavier, einem Meisterwerke von eingelegter Arbeit, während Lucien, an einem Tische sitzend, in einem Albumblätterte.

Lucien hatte schon vor der Erscheinung des Grafen Zeit gehabt, derBaronin allerlei Dinge inBeziehung auf dessen Person zu erzählen. Man weiß, welchen Eindruck Monte Christo während des Frühstücksbei Albert auf dessen Gäste hervorbrachte; dieser Eindruck, so wenig empfänglich im ganzen Debray war, hatte sichbei ihm noch nicht verwischt, und die Mitteilungen, die er derBaronin über den Grafen machte, waren ganz davon erfüllt. Durch die früheren Erzählungen Morcerfs und durch die neuenBerichte Debrays angeregt, hatte die Neugierde derBaronin den höchsten Grad erreicht. Sie empfing Herrn Danglars mit einem Lächeln, wie es ihm gewöhnlich nicht zuteil wurde, während sie dem Grafen auf seinen Gruß eine zeremoniöse, aber zugleich freundliche Verneigung gewährte.

Lucien wechselte mit dem Grafen einen halbvertrauten Gruß und nickte Danglars zu.

FrauBaronin, sagte Danglars, erlauben Sie mir, Ihnen den Herrn Grafen von Monte Christo vorzustellen, den mein Korrespondent in Rom mit den dringendsten Empfehlungen an mich gewiesen hat. Ich habe nur ein Wort zu sagen, das ihn im Augenblick zum Liebling aller unserer schönen Damen machen wird; er kommt nach Paris, um ein Jahr hier zubleiben und während dieses Jahres sechs Millionen auszugeben. Dies verspricht eine Reihe vonBällen, Diners und Soupers, wobei der Herr Graf, wie ich hoffe, uns ebensowenig vergessen wird, wie wir ihnbei unseren kleinen Festen!

Trotz der plumpen Art dieser Vorstellung ist doch ein Mensch, der nach Paris kommt, um in einem Jahre ein fürstliches Vermögen zu verbrauchen, etwas so Seltenes, daß Frau Danglars auf Monte Christo einen recht neugierigenBlick warf.

Wann sind Sie angelangt, mein Herr? fragte sie. — Gestern früh.

Und Sie kommen Ihrer Gewohnheit gemäß, wie man mir gesagt hat, vom Ende der Welt?

Diesmal nur von Cadix.

Oh! Sie erscheinen in einer abscheulichen Jahreszeit; Paris ist im Sommer fürchterlich; es gibt keineBälle, keine Gesellschaften, keine Feste. Die italienische Oper ist in London, die französische Oper überall, nur nicht in Paris; und was das Théâtre‑Françaisbetrifft, so wissen Sie, daß es nirgends mehr zu finden ist. Somitbleiben uns als einzige Zerstreuung nur noch ein paar unglückliche Wettrennen auf dem Marsfelde und in Satory. Werden Sie rennen lassen, Herr Graf?

Ich, erwiderte Monte Christo, werde in Paris alles mitmachen, wenn ich das Glück habe, jemand zu finden, der mich recht in das Pariser Leben einführt.

Sie sind Liebhaber von Pferden, Herr Graf?

Ich habe einen Teil meines Lebens im Orient zugebracht, gnädige Frau, und die Orientalen schätzen, wie Sie wissen, nur zwei Dinge in der Welt, den Adel der Pferde und die Schönheit der Frauen.

Ah! Herr Graf, entgegnete dieBaronin, Sie hätten, meine ich, die Frauen voransetzen können!

Sie sehen, FrauBaronin, daß ich recht hatte, wenn ich mir soeben einen Führer wünschte, der mir in den französischen Sitten Anleitung zu geben vermöchte.

In diesem Augenblick trat die Lieblingskammerfrau derBaronin Danglars ein, näherte sich ihrer Gebieterin und flüsterte ihr ein paar Worte ins Ohr. Frau Danglars entgegnete erbleichend: Es ist unmöglich!

Nein, es ist die genaue Wahrheit, sagte die Kammerfrau.

Frau Danglars fragte, sich an ihren Gatten wendend: Ist es wahr, mein Herr?

Was, FrauBaronin? erwiderte er, sichtbarbeunruhigt.

Man sagt mir, mein Kutscher habe, als er anspannen wollte, meine Pferde nicht mehr im Stalle gefunden. Ich frage Sie, was soll dasbedeuten?

FrauBaronin, hören Sie mich!

Oh! ich höre schon, denn ichbin neugierig, zu erfahren, was Sie mir sagen werden; ich mache diese Herren zu Richtern zwischen uns und will Ihnen zunächst mitteilen, wie sich die Sache verhält. DerBaron hat zehn Pferde im Stall; unter diesen zehn Pferden gehören mir zwei, reizende Tiere, die schönsten Pferde von Paris; Sie kennen sie, Herr Debray, meine Apfelschimmel. Nun, jetzt eben, als Frau von Villefort meinen Wagen von mir entlehnt, als ich ihr ihn für morgen zu einer Spazierfahrt zusage, finden sich meine zwei Pferde nicht mehr vor. Herr Danglars hat wahrscheinlich ein paar tausend Franken dabei verdient. Wie verhaßt ist mir doch dieser gemeine Krämergeist!

FrauBaronin, erwiderte Danglars, die Pferde waren zu lebhaft und kaum vier Jahre alt, ich werde ähnliche, sogar schönere für Sie finden, wenn es welche gibt, aber sanfte, ruhige Pferde, die mir keine solche Angst einflößen.

DieBaronin zuckte die Achseln mit der Miene tiefer Verachtung.

Danglars schien diese mehr als deutliche Gebärde nicht zubemerken und sagte, sich an Monte Christo wendend: In der Tat, ichbedaure, Sie nicht früher gekannt zu haben, Herr Graf; Sie richten Ihr Haus ein?

Ja wohl. Ich hätte Ihnen diese Tiere angetragen; denken Sie, ich habe sie um ein Nichts weggegeben; aber wie gesagt, ich wollte sie los sein, es waren zu feurige Tiere.

Mein Herr, sagte der Graf, ich danke Ihnen, ich habe heute morgen ziemlich gute und nicht zu teuer gekauft. Doch sehen Sie, Herr Debray! Sie sind, glaube ich, Kenner?

Während Debray ans Fenster trat, näherte sich Danglars seiner Frau und sagte ganz leise zu ihr: Stellen Sie sich vor, man kam undbot mir einen ungeheuren Preis für die Pferde. Ich weiß nicht, welcher Narr, der sich mit Gewalt zu Grunde richten will, heute seinen Intendanten zu mir schickte; nur so viel ist gewiß, daß ich sechzehntausend Frankenbei dem Handel gewinne. Schmollen Sie nicht, und ich gebe Ihnen viertausend davon und Eugenie ebenfalls viertausend.

Frau Danglars ließ einen niederschmetterndenBlick auf ihren Gatten fallen.

Wenn ich mich nicht täusche, sind Ihre Pferde, Ihre eigenen Pferde, an den Wagen des Grafen gespannt, rief Debray.

Meine Apfelschimmel! rief Frau Danglars und eilte ans Fenster. Danglars war ganz verblüfft.

Ist es möglich? rief Monte Christo, den Erstaunten spielend.

Es ist unglaublich, murmelte derBankier.

DieBaronin sagte Debray ein paar Worte ins Ohr, und dieser näherte sich Monte Christo.

DieBaronin läßt Sie fragen, um welchen Preis ihr Gatte sein Gespann an Sie verkauft hat?

Ich weiß es nicht genau; es ist eine Überraschung, die mir mein Intendant, ich glaube um dreißigtausend Franken, bereitet hat.

Debray überbrachte derBaronin die Antwort.

Danglars erwiderte nichts, er sah eine unheilvolle Szene voraus; bereits war die Stirn derBaronin gefaltet und weissagte Sturm. Debray fühlte dies, schützte ein Geschäft vor und entfernte sich, Monte Christo, der mit Genugtuung die Lage der Dingebemerkte, verbeugte sich vor Frau Danglars, ging ebenfalls weg und überließ denBaron dem Grimme seiner Gemahlin.

Gut, dachte Monte Christo, während er sich zurückzog; ich habe mein Ziel so ziemlich erreicht; ich halte den Frieden dieser Ehe in meinen Händen und kann mit einem Schlage das Herz des Mannes und das der Frau gewinnen; welches Glück! Aber ichbin Fräulein Eugenie Danglars nicht vorgestellt worden, während ich sie doch so gern hätte kennen lernen. Doch wir sind in Paris und haben Zeit vor uns. Es wird noch geschehen!

Zwei Stunden später erhielt Frau Danglars einenbestrickend liebenswürdigenBrief vom Grafen, worin er ihr schrieb, da er sein Erscheinen in der Pariser Welt nicht damit anfangen wolle, daß er eine hübsche Frau in Verzweiflungbringe, sobitte er sie, ihre Pferde zurückzunehmen. Als das Gespann wieder zurückgesandt wurde, trugen die Pferde das gleiche Geschirr, nur hatte der Graf in die Mitte jeder Rosette über dem Ohre einen Diamanten nähen lassen.

Danglars empfing auch einenBrief. Der Grafbat ihn um Erlaubnis, bei derBaronin dieser Millionärslaune entsprechen zu dürfen, und schriebihm zugleich, er möge die orientalische Manier entschuldigen, mit der die Zurücksendung der Pferde stattfinde.

Durch einen Schlag auf das Glöckchen gerufen, trat Ali am andern Morgen in das Kabinett des Grafen, der mit ihm am Abend vorher nach Auteuil gefahren war.

Ali, sagte Monte Christo, ich habe von deiner Geschicklichkeit im Werfen des Lassos gehört.

Ali machte einbejahendes Zeichen und richtete sich stolz auf.

Du könntest also mit dem Lasso einen Ochsen aufhalten?

Ali machte mit dem Kopfe einbejahendes Zeichen.

Einen Löwen?

Ali machte die Gebärde eines Menschen, der den Lasso schleudert, und ahmte ein ängstliches Gebrüll nach.

Ichbegreife, sagte der Graf, du hast den Löwen gejagt. Würdest du zwei toll gewordene Pferde in ihrem Laufe aufhalten?

Ali lächelte.

Wohl, so höre! sagte Monte Christo. Sogleich wird ein Wagen, fortgerissen von zwei Apfelschimmeln, denselben, die gestern noch mein waren, hier vorüberkommen. Dun mußt diesen Wagen vor meiner Tür anhalten, und sollten die Pferde dabei zu Grunde gehen.

Ali ging auf die Straße hinabund zog vor der Tür eine Linie auf dem Pflaster; dann kehrte er zurück und zeigte dem Grafen, der ihm mit den Augen gefolgt war, die Linie.

Der Graf schlug ihm sanft auf die Schulter… dies war seine Weise, Ali zu danken; dann ging der Nubier abermals hinabund rauchte seinen Tschibuk auf einem Randsteine, der die Ecke des Hauses und der Straßebildete, während Monte Christo sich mit anderen Dingenbeschäftigte.

Gegen fünf Uhr hörte man ein entferntes Rollen, das sich mit großer Geschwindigkeit näherte; es erschien eine Kalesche, deren Kutscher vergebens die Pferde zurückzuhalten suchte, die wütend, mit gesträubten Mähnen, in wahnsinnigen Sprüngen fortstürzten.

Eine junge Frau und ein Kind von sieben Jahren, die sich im Wagen eng umschlossen hielten, waren vor übergroßem Schrecken außer stande, einen Schrei auszustoßen; ein Stein unter einem Rad oder ein Anstreifen an einemBaume hätte genügt, den krachenden Wagen zu zerschmettern. Die Schreckensrufe der Vorübergehendenbegleiteten das dahinsausende Gefährt.


Plötzlich legte Ali seinen Tschibuk weg, zog den Lasso aus der Tasche, schleuderte ihn, daß er dreimal die Vorderbeine des linken Pferdes umwickelte, und ließ sich ein paar Schritte durch die Heftigkeit derBewegung fortreißen, aber dann stürzte das gefesselte Pferd nieder und lähmte die Anstrengungen des aufrecht gebliebenen, das mit aller Gewalt seinen Lauf fortzusetzen trachtete. Der Kutscherbenutzte diese Frist, um von seinem Sitze herabzuspringen; dochbereits hatte Ali das zweite Pferd mit eiserner Faust an den Nüstern gepackt, und vor Schmerz wiehernd, stand das Tier regungslos.

Dies alles spielte sich so schnell ab, wie die Kugel zum Ziel fliegt. Doch reichte es hin, daß ein Mann aus dem Hause, vor dem der Unfall sich ereignet hatte, mit mehreren Dienern herbeieilen konnte; in dem Augenblick, wo der Kutscher den Schlag öffnete, hober aus dem Wagen die Dame, die sich mit einer Hand an ein Kissen anklammerte, während sie mit der andern ihren ohnmächtigen Sohn an dieBrust drückte. Monte Christo trugbeide in den Salon und sagte, während er sie auf einen Diwan niederlegte: Seien Sie ruhig, gnädige Frau, Sie sind gerettet.

Die Frau kam zu sich und deutete auf ihren Sohn mit einemBlicke, beredter als alleBitten.

Ja, ichbegreife, sagte der Graf, das ohnmächtige Kind aufmerksambetrachtend; doch seien Sie unbesorgt, es ist ihm kein Unglück widerfahren, diebloße Angst hat den Kleinen in diesen Zustand versetzt.

Oh, mein Herr, rief die Mutter, sagen Sie mir das nicht, um mich zuberuhigen? Sehen Sie, wiebleich er ist! Mein Sohn! Mein Kind! Mein Eduard! Antworte doch deiner Mutter! Ach! mein Herr, lassen Sie einen Arzt rufen! Mein Vermögen dem, der mir meinen Sohn zurückgibt!

Monte Christo machte mit der Hand eine Gebärde, um die in Tränen zerfließende Mutter zuberuhigen, öffnete ein Kästchen, nahm daraus ein mit Gold verziertes Riechfläschchen vonböhmischem Kristall, das einenblutroten Saft enthielt, und ließ einen einzigen Tropfen auf die Lippen des Kindes fallen.

Obgleich immer nochbleich, schlug das Kind sogleich die Augen auf. Bei diesem Anblick ward die Mutterbeinahe wahnsinnig vor Freude.

Wobin ich? rief sie, und wem verdanke ich so viel Glück nach einer so grausamen Prüfung?

Gnädige Frau, antwortete Monte Christo, Sie sindbei einem Manne, der sich äußerst glücklich fühlt, daß er Ihnen einen Kummer ersparen konnte.

Oh! fluchwürdige Neugierde, versetzte die Dame; ganz Paris sprach von den schönen Pferden der Frau Danglars, und ich hatte den tollen Gedanken, mit ihnen fahren zu wollen.

Wie? rief der Graf mit vortrefflich gespielter Verwunderung, es sind die Pferde derBaronin?

Ja, mein Herr, Sie kennen sie?

Frau Danglars?… Ich habe die Ehre, und es gewährt mir doppelte Freude, daß ich Sie der Gefahr entrissen habe, der Sie durch diese Pferde preisgegeben waren; denn Sie hätten diese Gefahr mir zuschreiben können; ich hatte die Pferde gestern demBaron abgekauft, dieBaronin schien dies jedoch sehr zubedauern, so daß ich sie ihr mit derBitte, sie von meiner Hand anzunehmen, zurückschickte.

Sie sind also der Graf von Monte Christo, von dem Hermine gestern so viel mit mir sprach?

Ja, gnädige Frau.

Und ich, mein Herr, bin Frau Heloise von Villefort.

Der Graf verbeugte sich wie ein Mensch, vor dem man einen Namen zum ersten Male ausspricht.

Oh! wie dankbar wird Herr von Villefort sein! fuhr Heloise fort, denn Sie haben ihm seine Frau und sein Kind wiedergegeben; ohne Ihren edelmütigen Diener wäre ich sicherlich mit meinem Kinde umgekommen.

Ach! gnädige Frau, ich zittre noch, wenn ich an die Gefahr denke, der Sie ausgesetzt waren.

Oh! ich hoffe, Sie werden mir erlauben, den aufopfernden Dienst dieses Menschen würdig zubelohnen.

Gnädige Frau, ichbitte Sie, verderben Sie mir Ali weder durch Lobeserhebungen, noch durchBelohnungen. Ali ist mein Sklave; dadurch, daß er Ihnen das Leben gerettet hat, dient er mir, und mir zu dienen, ist seine Pflicht.

Aber er hat sein Leben gewagt, sagte Frau von Villefort, auf welche dieser Gebieterton einen seltsamen Eindruck machte.

Ich habe ihm sein Leben gerettet, entgegnete Monte Christo, folglich gehört es mir.

Während des folgenden kurzen Stillschweigens konnte der Graf nach Gefallen das Kindbetrachten, das seine Mutter mit ihren Küssenbedeckte. Es war klein, schwächlich, hatte eine so feine weiße Haut, wie sie gewöhnlich nur rothaarige Kinderbesitzen, und dennochbedeckte ein Wald von schwarzen, starren Haaren seine gewölbte Stirn und ließ, anbeiden Seiten des Gesichtes auf die Schultern herabfallend, die Lebhaftigkeit seiner einen hohen Grad von Verschlagenheit undBosheit verratenden Augen noch mehr hervortreten. Sein nun wieder roter Mund war von seinen Lippen umrandet, aber die Mundspalte zu weit; im ganzen deuteten die Züge des kaum achtjährigen Kindes auf mehr als zwölf Jahre. Es war sein erstes, daß er sich mit ungestümerBewegung aus den Armen seiner Mutter losmachte und das Kästchen öffnete, woraus der Graf das Elixierfläschchen genommen hatte. Dann wollte er, ohne um Erlaubnis zu fragen, die Pfropfen aus den Phiolen ziehen.

Berühren Sie das nicht, sagte der Graf, einige von den Flüssigkeiten sind gefährlich, nicht nur, wenn man sie trinkt, sondern schon, wenn man ihren Geruch einatmet.

Frau von Villefort erbleichte, hielt den Arm ihres Sohnes zurück und zog ihn an sich. Sobald ihre Furchtbeschwichtigt war, warf sie auf das Kästchen einen kurzen, aber ausdrucksvollenBlick, der dem Grafen nicht entging.

In dieser Sekunde trat Ali ein.

Frau von Villefort machte eineBewegung der Freude und sagte, ihren Sohn noch näher an sich ziehend: Eduard, siehst du diesen guten Diener? Er hat sich sehr mutigbenommen, denn er setzte sein Leben ein, um die Pferde, die uns fortrissen, und den Wagen anzuhalten. Danke ihm, denn ohne ihn wären wir zu dieser Stunde wohlbeide tot.

Das Kind streckte seine Lippen vor, wandte verächtlich den Kopf abund rief: Er ist zu häßlich!

Der Graf lächelte, als hätte das Kind seine Hoffnung erfüllt; Frau von Villefort aber schalt ihren Sohn.

Siehst du, sagte der Graf arabisch zu Ali, diese Damebittet ihren Sohn, dir zu danken, daß du ihnen das Leben gerettet hast, und das Kind erwidert, du seiest zu häßlich.

Ali wandte einen Augenblick seinen gescheiten Kopf nach dem Kinde undbetrachtete es scheinbar ausdruckslos, aber aus demBeben seiner Nasenlöcher ersah Monte Christo, daß der Araber im Herzen verwundet war.

Mein Herr, fragte Frau von Villefort, während sie aufstand, um sich zu entfernen, wohnen Sie gewöhnlich in diesem Hause?

Nein, gnädige Frau, es ist ein Absteigequartier, das ich mir gekauft habe; ich wohne in der Avenue des Champs‑Elysées Nr. 30. Doch ich sehe, Sie haben sich wieder völlig erholt und wollen zurückkehren. Es istBefehl gegeben, Ihre Pferde an meinen Wagen zu spannen, und Ali, der häßlicheBursche, sagte er, dem Kinde zulächelnd, wird die Ehre haben, Sie nach Hause zu fahren, während Ihr Kutscher hierbleibt, um Ihren Wagen wieder instand setzen zu lassen. Sodannbringt ihn eines von meinen Gespannen unmittelbar zu Frau Danglars zurück.

Aber mit denselben Pferden zu fahren, werde ich nie wagen, entgegnete Frau von Villefort.

Oh! Sie sollen sehen, gnädige Frau, sagte Monte Christo, unter Alis Hand werden sie sanft wie die Lämmer.

Ali näherte sich in der Tat den Pferden, die man nur mit Mühe auf dieBeine gebracht hatte. Er hielt in der Hand einen kleinen mit aromatischem Essig getränkten Schwamm, riebdamit die mit Schaum und Schweißbedeckten Nüstern und Schläfen, und fast in demselben Augenblick fingen die Pferde an, heftig zu schnauben, und ihr ganzer Leibzitterte ein paar Sekunden lang.

Dann ließ Ali mitten unter einem Volkshaufen, den der Lärm und der Anblick des zertrümmerten Wagens vor das Haus gezogen hatte, die Pferde an das Coupé des Grafen spannen, faßte die Zügel, stieg auf denBock und war zum großen Erstaunen der Anwesenden, die den rasenden Lauf der Pferde angesehen hatten, genötigt, sich kräftig der Peitsche zubedienen, um sie von der Stelle und zu einem matten Trabe zubringen.

Kaum hatte Frau von Villefort in zwei Stunden ihr Haus im Faubourg Saint‑Honoré erreicht, so schriebsie folgendesBillett an Frau Danglars:

Liebe Hermine!

Ichbin auf wunderbare Weise mit meinem Sohne durch denselben Grafen von Monte Christo gerettet worden, von dem wir uns gestern abend unterhielten und den ich heute durchaus nicht zu sehen erwartet hatte. Sie sprachen gestern von ihm mit einerBegeisterung, die mit aller Macht meinen kleinen Witz zum Spotte reizte. Heute aber finde ich, daß dieseBegeisterung noch weit unter dem Werte des Mannesbleibt, der sie eingeflößt hat. Ihre Pferde waren wie wütend geworden und rissen den Wagen mit so unwiderstehlicher Gewalt fort, daß mein armer Eduard und ich ohne Zweifel am erstenBaume der Landstraße oder am ersten Randsteine des Dorfes die Hirnschale zerschmettert hätten, als ein Nubier, im Dienste des Grafen, ich glaube auf ein Zeichen des letzteren, die Pferde im Laufe aufhielt, auf die Gefahr, selbst in Stücke zerrissen zu werden, — und es ist ein Wunder, daß dies nicht der Fall war. Da eilte der Graf herbei, trug Eduard und mich in seine Wohnung und rief hier meinen Sohn wieder ins Leben. Ich wurde in seinem Wagen nach Hause geführt, den Ihrigen wird man Ihnen morgen zuschicken. Sie werden Ihre Pferde seit diesem Vorfalle sehr geschwächt finden: sie sind wiebetäubt, es ist, als könnten sie sich selbst nicht vergeben, daß sie sich von einem Menschen habenbändigen lassen. Der Grafbeauftragt mich, Ihnen zu sagen, zwei Tage Ruhe auf der Streu und als einziges Futter Gerste werden sie wieder so kräftig, das heißt, wieder so furchtbar machen, wie sie gestern gewesen sind.

Adieu! ich danke Ihnen nicht für meine Spazierfahrt, Und wenn ich es mir überlege, ist es unbillig, daß ich Ihnen wegen des Mißgeschicks mit Ihrem Gespann grolle, denn diesem Umstand verdanke ich es, daß ich den Grafen von Monte Christo gesehen habe, und dieser scheint mir, abgesehen von den Millionen, über die er verfügt, ein äußerst seltsames, ein interessantes Problem, das ich um jeden Preis studieren will, selbst um den Preis einer neuen Spazierfahrt mit Ihren Pferden.

Eduard hat den Unfall mit einem wunderbaren Mute ausgehalten. Er ist ohnmächtig geworden, hat jedoch zuvor keinen Schrei ausgestoßen und nachher keine Träne vergossen. Sie werden mir abermals sagen, meine Mutterliebe verblende mich; aber in diesem kleinen, so schwächlichen, so zarten Körper wohnt eine eiserne Seele.

Unsere kleine Valentine läßt Ihrer Eugenie viel Schönes sagen; und ich umarme Sie von ganzem Herzen.

Heloise von Villefort.

N. S. Machen Sie doch, daß ich auf irgend eine Art mit dem Grafen von Monte Christobei Ihnen zusammentreffe; ich will ihn durchaus wiedersehen. Übrigens hat mir Herr von Villefort versprochen, dem Grafen einenBesuch zu machen, und ich hoffe, er wird denBesuch erwidern.

Noch an demselben Abendbildete das Ereignis von Auteuil den Hauptgegenstand der Unterhaltung; Albert erzählte es seiner Mutter, Chateau‑Renaud im Jockey‑Klub, Debray im Salon des Ministers, Beauchamp sagte dem Grafen sogar in seinem Journal Artigkeiten in einem Artikel von zwanzig Zeilen, der den edlen Fremden zum Helden aller Damen der hohen Aristokratie erhob.

Viele Leute ließen sichbei Frau von Villefort einschreiben, um das Recht zu haben, ihrenBesuch zu geeigneter Zeit zu wiederholen und dann aus ihrem Munde alle Einzelheiten des Abenteuers zu vernehmen. Herr von Villefort aber zog, wie Heloise gesagt hatte, einen schwarzen Frack und gelbe Handschuhe an und fuhr noch an demselben Abend vor der Tür des Hauses Nr. 30 in den Champs‑Elysées vor.

Staatsanwalt und Kosmopolit

Hätte der Graf von Monte Christo seit langer Zeit in der Pariser Welt gelebt, so würde er den Schritt des Herrn von Villefort seinem ganzen Werte nach zu schätzen gewußt haben.

Wohlgelittenbei Hofe, überall wegen seiner Gewandtheit gerühmt, von vielen gehaßt, aber von einigen warmbeschützt, ohne jedoch von irgend jemand wirklich geliebt zu werden, nahm Herr von Villefort eine hohe Stellung in derBeamtenhierarchie ein. Kalte Höflichkeit undbedingungslose Unterwürfigkeit unter die Grundsätze der Regierung, dabei erbitterter Haß gegen die Idealisten, das waren diebezeichnendsten Eigenschaften dieser Säule des Staates.

SeineBeziehungen zu dem alten Hofe, von dem er stets mit Würde und Ehrfurcht sprach, machten ihnbei dem neuen geachtet, und er wußte so viele Dinge, daß man ihn nicht nurbeständig schonte, sondern auchbisweilen zu Rate zog. Vielleicht wäre dem nicht so gewesen, wenn man sich seiner hätte entledigen können, aber Herr von Villefort hauste, wie ehemals rebellische Lehnsträger, in einer unüberwindlichen Feste. Diese Feste war sein Amt als Staatsanwalt, dessen Vorteile er vortrefflich auszubeuten wußte.

Selten machte oder erwiderte erBesuche; seine Fraubesorgte dies für ihn, und die Gesellschaft nahm es geduldig hin, indem sie ernsten und zahlreichen Geschäften zuschrieb, was in Wirklichkeit nur eineBerechnung des Stolzes war.

Für seine Freunde war Herr von Villefort ein mächtigerBeschützer, für seine Feinde ein stummer, aber erbitterter Gegner, für die Gleichgültigen verkörperte er das starre Gesetz. Seine Physiognomie zeigte Gleichgültigkeit, sein Auge war matt und glanzlos oder unverschämt durchdringend und forschend. Herr von Villefort stand im Rufe des am wenigsten neugierigen Mannes in Paris. Seine Ungezwungenheit wurde von allen Seiten gerühmt; er gabjedes Jahr einenBall und erschien dabei nur eine Viertelstunde, das heißt drei Viertelstunden kürzere Zeit als der Königbei dem seinigen. Niemals sah man ihn im Theater oder Konzert, oder sonst an einem öffentlichen Orte.

So war der Mannbeschaffen, dessen Wagen vor der Tür des Grafen von Monte Christo hielt.

Der Kammerdiener meldete Herrn von Villefort in dem Augenblick, wo der Graf, über einen großen Tisch gebeugt, auf einer Landkarte den Weg von St. Petersburg nach China verfolgte.

Der Staatsanwalt trat mit demselben ernsten, abgemessenen Schritte ein, mit dem er im Tribunal erschien; es war derselbe Mensch oder vielmehr die Fortsetzung desselben Menschen, den wir einst als Staatsanwaltsgehilfen in Marseille gesehen haben. Seine tiefliegenden Augen waren hohl, und seineBrille mit der goldenen Fassung schien einen Teil seines Gesichtes zubilden; mit Ausnahme seiner weißen Halsbinde war sein ganzer Anzug schwarz, und diese Trauerfarbe wurde nur durch den Streifen eines rotenBandes unterbrochen, der durch sein Knopfloch ging.

So sehr Monte Christo seiner Herr war, so prüfte er doch mit sichtbarer Neugierde denBeamten, der, aus Gewohnheit mißtrauisch, mehr geneigt war, in dem edlen Fremden — so nannte manbereits Monte Christo — einen zur Ausbeutung eines neuen Schauplatzes nach Paris gekommenen Industrieritter oder einen verkappten Missetäter, als sonst etwas zu erblicken.

Mein Herr, sagte Villefort mit schnarrendemBeamtentone, der ausgezeichnete Dienst, den Sie gestern meiner Frau und meinem Sohne geleistet haben, macht es nur zur Pflicht, Ihnen zu danken. Ich komme daher, um mich dieser Pflicht zu entledigen und Ihnen meine ganze Erkenntlichkeit auszudrücken.

Während der Staatsbeamte sprach, verlor sein strenges Auge nichts von seiner gewöhnlichen Anmaßung. Erbrachte seine Worte scharf und deutlich mit unsympathischer Stimme hervor.

Mein Herr, erwiderte der Graf ebenfalls mit eisiger Kälte, ich fühle mich sehr glücklich, daß ich imstande gewesenbin, einen Sohn seiner Mutter zu erhalten, denn das mütterliche Gefühl ist das mächtigste und heiligste von allen. Das Glück, das mir dabei zuteil ward, überhebt Sie der Verbindlichkeit, einer Pflicht nachzukommen, deren Erfüllung mich allerdings ehrt, denn ich weiß, daß Herr von Villefort nicht verschwenderisch mit einer solchen Gunst ist, die aber trotzdem für mich nicht den Wert der innerenBefriedigung hat.

Erstaunt über diesen Ausfall, auf den er durchaus nicht gefaßt war, bebte Villefort, und ein verächtliches Zucken seiner Lippen deutete an, daß er den Grafen von Monte Christo nicht für einen sehr artigen Edelmann halte.

Er schaute umher, um an irgend einen Gegenstand das abgebrochene Gespräch anzuknüpfen, und sah die Karte, die Monte Christo im Augenblick seines Eintrittesbetrachtet hatte. Siebeschäftigen sich mit Geographie, sagte er. Das ist ein lohnendes Studium, für Siebesonders, der Sie, wie ich höre, so viele Länder gesehen haben, als sich im Atlas verzeichnet finden.

Ja, antwortete der Graf, ich wollte mit dem Menschengeschlechte im allgemeinen das vornehmen, was Sie täglich an Ausnahmen treiben, nämlich ein psychologisches Studium. Ich dachte, es würde mir dann leichter sein, vom Ganzen aus das Einzelne zubeurteilen. Ein algebraischer Grundsatz verlangt, daß man vomBekannten zum Unbekannten, und nicht vom Unbekannten zumBekannten fortschreite… Aber setzen Sie sich doch, Herr Staatsanwalt, ichbitte Sie.

Monte Christobezeichnete dem Staatsanwalt einen Polsterstuhl, den vorzurücken der Gast sich selbst die Mühe nehmen mußte. Der Graf war halbseinemBesuche zugewendet; mit dem Rücken lehnte er sich ans Fenster und mit dem Ellbogen auf die geographische Karte.

Ah! Sie philosophieren, versetzte Villefort nach einem kurzen Stillschweigen, währenddessen er, wie ein Athlet, der einen mächtigen Gegner trifft, Vorrat an Kräften gesammelt hatte. Nun, mein Herr, bei meinem Ehrenworte, wenn ich wie Sie, nichts zu tun hätte, so würde ich mir wenigstens eine minder ödeBeschäftigung suchen.

Es ist wahr, erwiderte Monte Christo, der Mensch ist eine häßliche Raupe für den, der ihn unter dem Mikroskopbetrachtet. Doch Sie sagten, ich hätte nichts zu tun;… denken Sie etwa, Sie hätten etwas zu tun? Oder, um deutlicher zu sprechen, wähnen Sie, was Sie tun, sei der Mühe wert, davon zu reden?

Herrn von Villeforts Erstaunen verdoppelte sichbei diesem zweiten scharfen Schlage des seltsamen Gegners; seit langer Zeit hatte er kein so starkes Wort anhören müssen. Er erwiderte sofort:

Mein Herr, Sie sind ein Fremder und haben nach Ihrer eigenen Äußerung einen Teil Ihres Lebens im Orient zugebracht, Sie wissen also nicht, welchen vorsichtigen, abgemessenen Gangbei uns die inbarbarischen Ländern so rasche undblutige Justiz hat.

Doch, mein Herr, doch; sie geht mit hinkendem Fuße. Ich weiß das alles, denn ich habe mich hauptsächlich mit der Justiz aller Länderbeschäftigt, ich habe das kriminelle Verfahren aller Nationen mit der natürlichen Justiz verglichen und hierbei gefunden, daß das Gesetz der Urvölker, das Gesetz der Wiedervergeltung, das ist, das dem Willen Gottes am meisten entspricht. Würde dieses Gesetz eingeführt, mein Herr, entgegnete der Staatsanwalt, so müßte es unsere Gesetzbücher ungemein vereinfachen, und dieBeamten hätten sodann, wie Sie soeben sagten, allerdings nicht mehr viel zu tun. Mittlerweile gelten unsere Gesetzbücher mit ihren den gallischen Sitten, den römischen Gesetzen, den fränkischen Gebräuchen entnommenenBestimmungen; aber die Kenntnis aller dieser Gesetze erwirbt man sich, wie Sie zugestehen werden, nicht ohne lange Arbeiten, und esbedarf zur Erringung dieser Kenntnis ausgedehnter Studien, und ist sie einmal errungen, großer Geisteskraft, sie festzuhalten.

Ichbin auch dieser Meinung; doch alles, was Sie inBeziehung auf das französische Gesetzbuch wissen, weiß ich nicht nur hinsichtlich des letzteren, sondern auch hinsichtlich der Gesetzbücher aller Nationen. Die englischen, die türkischen, die japanischen, die hindostanischen Gesetze sind mir ebenso genaubekannt, wie die französischen.

In welcher Absicht haben Sie dies alles gelernt? fragte Villefort erstaunt.

Monte Christo lächelte und sagte: Mein Herr, ich sehe, daß Sie, obgleich Sie im Rufe eines großen Mannes stehen, alles aus dem materiellen, gewöhnlichen Gesichtspunkte der Gesellschaftbetrachten, das heißt, aus dembeschränktesten Gesichtspunkte, den der menschliche Geist einnehmen kann.

Wollen Sie sich näher erklären, mein Herr, sagte Villefort, immer mehr erstaunt; ich verstehe Sie nicht ganz.

Ich sage, daß Sie, die Augen auf die gesellschaftliche Organisation der Nationen heftend, nur die Federn der Maschine sehen und nicht den erhabenen Werkmeister, der sie in Tätigkeit setzt; ich sage, daß Sie um sich her nur die Titelträger sehen, deren Patente von den Ministern oder vom König unterzeichnet sind, und daß die Menschen, die Gott über die Titelträger, die Minister und die Könige stellte, indem er ihnen einebesondere Sendung gab, Ihrer Kurzsichtigkeit entgehen. Tobias hielt auch den Engel, der ihm das Gesicht zurückgegeben hatte, für einen gewöhnlichen Menschen. Die Nationen hielten Attila, der sie vernichten sollte, für einen Eroberer, wie alle Eroberer, undbeide mußten ihre göttlichen Sendungen offenbaren, damit man sie erkannte; der eine mußte sagen: Ichbin der Engel des Herrn, und der andere: Ichbin der Hammer Gottes, ehe ihr wahres Wesen erkannt wurde.

Also, sagte Villefort, der, immer mehr erstaunt, mit einem Erleuchteten oder mit einem Narren zu sprechen glaubte, alsobetrachten Sie sich als eines von den außerordentlichen Wesen, von denen Sie soeben sprachen?

Warum nicht? entgegnete kalt Monte Christo.

Entschuldigen Sie, versetzte Villefort fastbestürzt, wenn ich nicht wußte, daß ich zu einem Manne kam, dessen Kenntnisse und geistige Fähigkeiten so weit das Gewöhnliche überragen. Bei uns, den unglücklichen verderbten Erzeugnissen der Zivilisation, ist es nicht gebräuchlich, daß Edelleute, wie Sie, die imBesitze eines unermeßlichen Vermögens sind oder wenigstens scheinen, ihre Zeit mit gesellschaftlichen Spekulationen, mit philosophischen Träumen verlieren, die höchstens geeignet sind, die Menschen zu trösten, die das Schicksal von den Gütern der Erde enterbt hat!

Ei! ei! versetzte der Graf, sind Sie denn zu Ihrer hohen Stellung gelangt, ohne Ausnahmen zuzulassen oder angetroffen zu haben? Üben Sie nie IhrenBlick, der doch der Schärfe und Sicherheit so sehrbedürfte, um mit einem Schlage den zu erkennen, auf den eben dieserBlick gefallen ist? Sollte nicht ein öffentlicherBeamter, derbeste Anwender des Gesetzes, der schlaueste Ausleger seiner Dunkelheiten, eine stählerne Sonde zur Prüfung der Herzen sein, ein Probierstein zur Untersuchung des Goldes, das sich in jeder Seele mit mehr oder weniger Legierung findet?

Mein Herr, Sie setzen mich ganz in Verwirrung; bei meinem Worte, ich habe nie jemand sprechen hören, wie Sie.

Dies ist der Fall, weil Sie stets in den Kreis der gewöhnlichenBedingungen gebannt geblieben sind und es nie wagten, sich mit einem Flügelschlage in die höheren Sphären zu erheben, die Gott mit unsichtbaren und ausnahmsweisen Wesenbevölkert hat.

Ah! rief Villefort lächelnd, ich gestehe, ich möchte es gern wissen, wenn ein solches Wesen mit mir inBerührung kommt.

Ihr Wunsch ist erfüllt; Sie haben soeben davon Kenntnis erhalten, und ich wiederhole es.

Also Sie selbst?…

Ichbin eines von diesen Ausnahmewesen… ja, mein Herr, und ich glaube, daß sichbis auf den heutigen Tag noch kein Mensch in einer Stellungbefunden hat, die der meinigen ähnlich gewesen wäre. Die Reiche der Könige sindbegrenzt, entweder durch Gebirge, oder durch Flüsse, durch die Schranken der Sitte oder Sprache. Mein Reich ist groß wie die Welt, denn ichbin weder Italiener, noch Franzose, noch Hindu, noch Amerikaner, noch Spanier: ichbin Kosmopolit. Kein Land kann sagen, ich gehöre ihm durch die Geburt an. Gott allein weiß, in welchem Lande ich sterben werde. Ichbefolge alle Gebräuche, rede alle Sprachen. Nicht wahr, Sie halten mich für einen Franzosen? Denn ich spreche Französisch mit derselben Leichtigkeit und derselben Reinheit, wie Sie. Wohl! Ali, mein Nubier, hält mich für einen Araber; Bertuccio, mein Intendant, für einen Römer und Haydee, meine Sklavin, für einen Griechen. Sie sehen also, da ich keinem Lande angehöre, von keiner Regierung Schutz verlange, keinen Menschen als meinenBruder anerkenne, so vermag auch keine von denBedenklichkeiten, welche die Mächtigen zurückhalten, oder keines von den Hindernissen, welche die Schwachen lähmen, mich zu lähmen oder zurückzuhalten. Ich habe nur drei Gegner, ich sage nichtBesieger, denn durchBeharrlichkeit unterwerfe ich sie: zwei sind die Entfernung und die Zeit. Der dritte und furchtbarste ist mein Zustand als sterblicher Mensch. Dieser allein kann mich auf dem Wege, auf dem ich fortschreite, und ehe ich das Ziel erreicht habe, nach dem ich strebe, aufhalten; alles übrige habe ichberechnet. Alles, was die Menschen die Wechselfälle des Schicksals nennen, habe ich vorhergesehen, und vermag mich auch einer zu treffen, so kann er mich doch nicht niederwerfen. Sterbe ich nicht, so werde ich immer das sein, was ichbin; deshalbsage ich Ihnen Dinge, die Sie nie gehört haben, selbst nicht einmal aus dem Munde der Könige, denn die Königebedürfen Ihrer, und die andern Menschen haben Furcht vor Ihnen. Wer sagt sich nicht in einer Gesellschaft, die so lächerlich organisiert ist, wie die unsere: Vielleicht werde ich eines Tages mit dem Staatsanwalt zu tun haben!

Aber können Sie dies nicht selbst sagen? Denn sobald Sie in Frankreich wohnen, sind Sie natürlich den französischen Gesetzen unterworfen.

Ich weiß es wohl, erwiderte Monte Christo, doch wenn ich in ein Land gehen muß, fange ich damit an, daß ich durch Mittel, die nur ichbesitze, alle Menschen prüfe, von denen ich etwas zu fürchten oder zu hoffen habe, und es gelingt mir, sie ebensogut oder vielleicht nochbesser zu kennen, als sie sich selbst kennen. Infolgedessen ist jeder Staatsanwalt mehr in Verlegenheit als ich.

Damit wollen Sie sagen, versetzte Villefort zögernd, daßbei der Schwäche der menschlichen Natur jeder Mensch, Ihrer Ansicht nach,… Fehlerbegangen hat?

Fehler oder Verbrechen, sagte Monte Christo gleichgültig.

Und daß Sie allein unter den Menschen, die Sie, wie Sie selbst sagten, nicht als IhreBrüder anerkennen, versetzte Villefort mit leichtbebender Stimme,… und daß Sie allein vollkommen sind?

Nein, nicht vollkommen, sondern nur undurchdringlich. Doch genug davon, mein Herr, wenn Ihnen das Gespräch mißfällt. Ichbin dann ebensowenig durch Ihre Justizbedroht, wie Sie durch mein doppeltes Gesicht.

Nein! nein! mein Herr, entgegnete rasch Herr von Villefort, der ohne Zweifelbefürchtete, es könnte scheinen, als wollte er das Terrain aufgeben. Durch Ihr glänzendes und erleuchtendes Gespräch haben Sie mich über den gewöhnlichen Standpunkt erhoben; wir unterhalten uns nicht mehr, wir philosophieren. Sie wissen ja, welche grausamen Wahrheiten sich oft die Theologen in der Sorbonne oder die Philosophenbei ihren Disputationen sagen; nehmen wir an, wir disputieren über soziale Theologie oder theologische Philosophie, sobemerke ich Ihnen ganz einfach: MeinBruder, du frönst dem Stolze, du stehst über andern, aber Gott steht über dir.

Über allen, erwiderte Monte Christo mit so tieferBewegung, daß Villefort unwillkürlich schauderte. Ich habe meinen Stolz für die Menschen, für diese Schlangen, die stetsbereit sind, sich gegen den zu erheben, der sie mit der Stirn überragt, ohne sie mit dem Fuße zu zertreten. Doch vor Gott, der mich aus dem Nichts hervorgezogen hat, um mich zu dem zu machen, was ichbin, lege ich diesen Stolz ab.

Dannbewundere ich Sie, Herr Graf, sagte Villefort, der sich zum ersten Malbei dieser seltsamen Unterredung dieser aristokratischen Anrede dem Fremden gegenüberbediente. Ja, ich sage Ihnen, wenn Sie wirklich stark, wirklich erhaben, wirklich heilig oder undurchdringlich sind, so seien Sie stolz darauf… aber Sie haben doch irgend einen Ehrgeiz?

Ich hatte einen. Auch ichbin, wie dies allen Menschen einmal im Lebenbegegnet, vom Satan auf den höchstenBerg der Erde geführt worden; hier zeigte er mir die ganze Welt und sagte zu mir, wie er einst zu Christus gesagt hatte: Sprich, Menschenkind, was willst du, wenn du mich anbetest? Ich sann lange nach, denn seit geraumer Zeit zehrte wirklich ein furchtbarer Ehrgeiz an meinem Herzen; dann antwortete ich ihm: Ich habe stets von der Vorsehung sprechen hören, und dennoch habe ich sie nie erschaut, noch irgend etwas, was ihr gleicht, und dasbringt mich auf den Glauben, siebestehe gar nicht. Ich will selbst die Vorsehung sein, denn das Schönste, das Größte, das Erhabenste, was ich kenne, ist zubelohnen und zubestrafen. Aber Satan neigte das Haupt, stieß einen Seufzer aus und erwiderte: Du irrst dich, die Vorsehungbesteht; nur siehst du sie nicht, weil sie, eine Tochter Gottes, unsichtbar ist, wie ihr Vater. Du hast nichts gesehen, was ihr gleicht, weil sie mit verborgenen Federn wirkt und auf dunkeln, unbekannten Wegen wandelt. Alles, was ich für dich tun kann, besteht darin, daß ich dich zu einem der Werkzeuge der Vorsehung mache. Der Handel wurde abgeschlossen, ich verliere dabei vielleicht meine Seele; doch gleichviel, er reut mich nicht.

Villefort schaute Monte Christo mit dem höchsten Erstaunen an und fragte: Haben Sie Verwandte, Herr Graf?

Nein, ichbin allein auf der Welt.

Schade, Sie hätten ein Schauspiel sehen können, das Ihren Stolz wohl gebrochen hätte. Sie sagen, Sie fürchten nur den Tod?

Ich sage nicht, daß ich ihn fürchte, ich sage nur, er könne mich aufhalten.

Und das Alter?

Meine Sendung wird vollendet sein, ehe ich altbin.

Und der Wahnsinn?

Ichbinbeinahe wahnsinnig geworden, und Sie kennen den Satz nonbis in eodem (nie zweimal das gleiche); es ist ein strafrechtlicher Grundsatz und gehört folglich in Ihr Reich.

Mein Herr, versetzte Villefort, es gibt noch etwas anderes zu fürchten als den Tod, das Alter oder den Wahnsinn; zumBeispiel den Schlagfluß, diesen Wetterstrahl, der Sie trifft, ohne Sie zu zerstören, und der doch alles wertlos macht. Wenn Sie einmal Lust haben, dieses Gespräch in meinem Hause fortzusetzen, mit einem Gegner, der fähig ist, Sie zubegreifen, undbegierig, Sie zu widerlegen, so zeige ich Ihnen meinen Vater, Herrn Noirtier von Villefort, einen der heftigsten Jakobiner der französischen Revolution, einen Mann, der zwar nicht, wie Sie, alle Reiche der Erde gesehen, aber zum Umsturz eines der mächtigstenbeigetragen hat. Nun, mein Herr, das Zerspringen einesBlutgefäßes in einem Gehirnlappen hat dies alles zerstört, und zwar in einer Sekunde. Herr Noirtier, der mit Revolutionen spielte, der Frankreich nur noch als ein großes Schachbrettbetrachtete, von demBauern, Türme, Ritter und Königin verschwinden mußten, weil der König matt war; der furchtbare und gefürchtete Herr Noirtier war am andern Tage nur ein armer, schwacher Greis, dem Willen des schwächsten Wesens im ganzen Hause, seiner Enkelin Valentine, unterworfen.

Ah! dieses Schauspiel ist weder meinen Augen, noch meinem Geiste fremd, entgegnete Monte Christo, ichbin ein wenig Arzt und habe, wie meine Kollegen, wiederholt die Seele in der lebendigen oder in der toten Materie gesucht, und sie ist, wie die Vorsehung, obgleich meinem Herzen gegenwärtig, doch für meine Augen unsichtbar geblieben. Hundert Schriftsteller haben seit Sokrates, seit Seneca, seit dem heiligen Augustin, seit Gall den Vergleich gemacht, den Sie machen, aber dennochbegreife ich, daß die Leiden eines Vaters den Geist eines Sohnes starkbeeinflussen können. Da Sie mich dazu auffordern, so werde ich zur Förderung meiner Demut dieses furchtbare Schauspielbetrachten, das Trauer in Ihr Hausbringen muß.

Es wäre dies ohne Zweifel der Fall, hätte mich Gott nicht reich entschädigt. Während der Greis sich mühsam zum Grabe schleppt, treten zweiblühende Kinder frisch ins Leben: Valentine, eine Tochter aus meiner ersten Ehe mit Fräulein Renée von Saint‑Meran, und Eduard, der Sohn, dem Sie das Leben gerettet haben.

Und was schließen Sie daraus?

Ich schließe daraus, daß mein Vater, von Leidenschaften irregeführt, eines von jenen Versehenbegangen hat, die der menschlichen Gerechtigkeit entgehen, aber von der Gerechtigkeit Gottes gesühnt werden… und daß Gott, der nur eine Person treffen wollte, auch nur eine geschlagen hat.

Monte Christo konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

Leben Sie wohl, mein Herr, sagte Villefort, der schon seit einiger Zeit aufgestanden war; indem ich Sie verlasse, trage ich ein Gefühl der Hochachtung mit mir fort, das Ihnen hoffentlich angenehm sein wird, wenn Sie mich näher kennen, denn ichbin nichts weniger als ein Mensch vom Alltagsschlage. Überdies haben Sie sich meine Frau zur ewigen Freundin gemacht.

Der Graf verbeugte sich undbegleitete Herrn von Villefort nurbis an die Tür seines Kabinetts; der Staatsanwalt kehrte zu seinem Wagen zurück, wobei zwei Lakaien vorauseilten, die ihm auf den Wink ihres Herrn den Schlag öffneten.

Als Villefort verschwunden war, sagte Monte Christo, einen schweren Seufzer aus seiner gepreßtenBrust ausstoßend: Genug des Giftes, und nun, da mein Herz voll davon ist, wollen wir das Gegengift suchen!

Und er schlug einmal auf das Glöckchen und sagte zu dem eintretenden Ali: Ich gehe zur gnädigen Frau hinauf; in einer halben Stunde muß der Wagenbereit sein.

Haydee

Die Hoffnung auf den angenehmenBesuch und auf ein paar glückliche Augenblicke verbreitete, sobald Villefort verschwunden war, einen heiteren Ausdruck über das Antlitz des Grafen, so daß Ali, derbei dem Klange des Glöckchens herbeigelaufen war, sich auf der Fußspitze und mit gehemmtem Atem zurückzog, als wollte er die guten Gedanken nicht verscheuchen, die seinen Gebieter zu umschweben schienen.

Die schöne Griechinbefand sich in einer Wohnung, die von der des Grafen völlig getrennt war. Ihre Gemächer hatte man ganz auf orientalische Weise ausgeschmückt, das heißt, dieBöden waren mit dicken türkischen Teppichenbelegt, Brokatstoffe fielen an den Wänden herab, und in jedem Zimmer lief an den Wänden ein großer Diwan mit vielen Kissen entlang. Haydee hatte drei französische Kammerfrauen und eine griechische. Die französischen Kammerfrauen verweilten im ersten Zimmer, bereit, auf den Ton eines goldenen Glöckchens herbeizulaufen und denBefehlen der griechischen Sklavin zu gehorchen, die hinreichend Französisch sprach, um ihnen den Willen ihrer Gebieterin zu verdolmetschen, und sollten nach der Vorschrift Monte Christos Haydee mit einer Rücksichtbehandeln, die man sonst nur einer Königin gegenüberbeobachtet.

Die Griechinbefand sich im hintersten Zimmer ihrer Wohnung, in einer Art von rundem, nur von obenbeleuchtetemBoudoir, worein das Licht durch Scheiben von rosenfarbigem Glase drang. Sie lag auf demBoden auf Kissen vonblauem, mit Silber durchwirktem Atlas, halbzurückgelehnt auf den Diwan, den Kopf mit ihrem weich gerundeten rechten Arme umschlingend, während sie mit der Linken die Korallenspitze einer persischen Pfeife an ihre Lippen hielt. Ihr Anzug war der der epirotischen Frauen; sie trugBeinkleider von weißem, mit rosenfarbigenBlumenbroschiertem Atlas, die zwei niedliche Füße entblößt ließen, an denen zwei kleine, mit Gold und Perlen gestickte Sandalen mit aufwärts gebogenen Spitzen sichtbar waren; ferner eineblau und weiß gestreifte Jacke mit weiten, unten geschlitzten Ärmeln, mit silbernen Knopflöchern und Knöpfen von Perlen; endlich eine Art von Leibchen, das durch einen herzförmigen Schnitt den Hals und den ganzen obern Teil derBrust offen ließ und unterhalbdesBusens mit zwei Diamantknöpfen geschlossen wurde. Der untere Teil des Leibchens und der obere desBeinkleides verschwanden unter einem Gürtel von lebhaften Farben und mit langen seidenen Fransen. Auf dem Kopfe hatte sie ein mit Gold und Perlen gesticktes, auf die Seite geneigtes Mützchen, unter dem sich eine schöne, natürliche, purpurrote Rose herabneigte.


Ihr Gesicht zeigte die griechische Schönheit in ihrer ganzen Vollendung, große schwarze, samtartige Augen, marmorne Stirn, gerade Nase, Korallenlippen, Perlenzähne und schwarze Haare. Über dieses reizende Ganze lag die Jugend mit all ihrem Schimmer, all ihrem Dufte ausgebreitet; Haydee mochte kaum neunzehn Jahre alt sein.

Monte Christo rief der griechischen Kammerfrau und ließ Haydee um Erlaubnisbitten, bei ihr eintreten zu dürfen. Statt jeder Antwort hieß Haydee ihre Zofe den Vorhang zurückschlagen, der an der Tür angebracht war, deren Simswerk das junge Mädchen wie ein reizendes Gemälde umrahmte.

Monte Christo trat ein.

Haydee erhobsich auf den Ellenbogen, reichte dem Grafen ihre Hand, lächelte ihm freundlich entgegen und sagte in der wohlklingenden Sprache der Töchter von Athen: Warum läßt du mich um Erlaubnisbitten, bei mir eintreten zu dürfen? Bist du nicht mein Gebieter, bin ich nicht mehr deine Sklavin?

Monte Christo lächelte ebenfalls und erwiderte: Haydee, Sie wissen…

Warum sagst du nicht mehr du zu mir, wie gewöhnlich? unterbrach ihn die junge Griechin; habe ich denn irgend ein Versehenbegangen? Dann mußt du michbestrafen und nicht Sie nennen.

Haydee, entgegnete der Graf, du weißt, daß wir in Frankreich sind, und daß du folglich freibist.

Frei, wozu? fragte das Mädchen.

Es steht dir frei, mich zu verlassen.

Dich verlassen?… Und warum sollte ich dich verlassen?

Was weiß ich? Wir werden andere Leutebei uns sehen.

Ich will niemand sehen.

Und wenn du unter den jungen Leuten, denen dubegegnen wirst, einen träfest, der dir gefiele, so wäre ich nicht so ungerecht…

Ich habe keinen schöneren Mann, als dubist, gesehen, und nie einen andern geliebt, als meinen Vater und dich.

Armes Kind, sagte Monte Christo, du hast kaum mit jemand anders gesprochen außer mit mir und deinem Vater.

Wohl! wasbrauche ich mit anderen zu sprechen? Mein Vater nannte mich seine Freude, du nennst mich deine Liebe, und Ihrbeide nennt mich Euer Kind.

Du erinnertst dich deines Vaters, Haydee?

Das junge Mädchen lächelte.

Er ist da und da, sagte die Griechin, ihre Hand auf ihre Augen und auf ihr Herz legend.

Und ich, wobin ich? fragte lächelnd Monte Christo.

Du, erwiderte sie, dubist überall.

Monte Christo nahm Haydees Hand, um sie zu küssen, aber das naive Kind entzog sie ihm undbot ihm die Stirn dar.

Nun weißt du, Haydee, sagte der Graf, daß du frei, daß du Gebieterin, daß du Königinbist; du kannst deine Trachtbeibehalten oder nach deiner Laune aufgeben. Dubleibst hier, wenn dubleiben willst, du fährst aus, wenn du ausfahren willst, es wird stets ein Wagen für dich angespannt sein, Ali und Myrthobegleiten dich überallhin und sind zu deinemBefehl; nurbitte ich dich um eines: Bewahre das Geheimnis deiner Geburt, sage kein Wort über deine Vergangenheit, nennebei keiner Veranlassung den Namen deines Vaters oder deiner armen Mutter!

Herr, ich habe dirbereits gesagt, daß ich niemand sehen werde.

Höre mich, Haydee, diese orientalische Abgeschlossenheit wird dir in Paris vielleicht unmöglich werden. Fahre fort, das Leben in unsern nördlichen Ländern kennen zu lernen, wie du dies in Rom, in Florenz, in Mailand und in Madrid getan hast; dies wird dir immerhin nützlich sein, magst du nunbeständig hier leben oder nach dem Orient zurückkehren.

Das Mädchen schlug seine großen, feuchten Augen zu dem Grafen auf und erwiderte: Oder obwir nach dem Orient zurückkehren, willst du sagen, nicht wahr, Herr?

Ja, meine Tochter, du weißt wohl, daß ich dich nie verlassen werde. Nicht derBaum verläßt dieBlüte, sondern dieBlüte trennt sich vomBaume. Ich werde dich auch nie verlassen, Herr, denn ich weiß, daß ich ohne dich nicht leben könnte.

Armes Kind! In zehn Jahrenbin ich alt, und in zehn Jahrenbist du noch ganz jung.

Mein Vater hatte einen langen, weißenBart; das hinderte mich nicht, ihn zu lieben; mein Vater zählte sechzig Jahre, und er kam mir schöner vor, als alle jungen Leute, die ich sah.

Doch sage mir, glaubst du, daß es dir hier gefallen wird? — Werde ich dich sehen? — Jeden Tag. Nun, Herr, warum fragst du mich dann? — Ichbefürchte, du langweilst dich.

Nein, Herr, denn am Morgen denke ich, daß du kommen wirst, und am Abend erinnere ich mich, daß du gekommenbist; dann habe ich im Herzen drei Gefühle, mit denen man sich nie langweilt: die Traurigkeit, die Liebe und die Dankbarkeit.

Dubist eine würdige Tochter des Epirus, Haydee, du Anmutige, du Poetische, und man sieht, daß du von der in deinem Lande geborenen Familie von Göttinnen abstammst. Sei also unbesorgt, meine Tochter, ich werde es so machen, daß deine Schönheit nicht verloren geht, denn wenn du mich wie deinen Vater liebst, so liebe ich dich wie mein Kind.

Du täuschest dich, Herr, ich liebte meinen Vater nicht, wie ich dich liebe, meine Liebe für dich ist eine andere Liebe; mein Vater ist tot, und ichbin nicht tot, während ich sterben müßte, wenn du sterben würdest.

Der Graf reichte Haydee die Hand mit einem Lächeln voll tiefer Zärtlichkeit; sie drückte wie gewöhnlich ihre Lippen darauf.

Und so in der rechten Stimmung für die Zusammenkunft, die er mit Morel und seiner Familie haben sollte, entfernte er sich, folgende Verse von Pindar murmelnd:

Die Jugend ist eineBlüte, deren Frucht die Liebe ist… Glücklich ist der Gärtner, der sie pflückt, nachdem er sie langsam hat reifen sehen.

Der Wagen stand seinenBefehlen gemäßbereit. Er stieg ein, und die Pferde führten ihn wie immer im Galopp fort.

Die Familie Morel

Der Graf gelangte in wenigen Minuten in die Rue Mesla Nr. 7. Das Haus war weiß, freundlich und davor ein Hof, in dem man zwei kleine Gartenstücke mit schönenBlumen erblickte.

In dem Hausmeister, der ihm die Tür öffnete, erkannte der Graf den alten Cocles, der jedoch den Grafen nicht wiedererkannte. Den ganzen zweiten Stock des freundlichen Hausesbewohnte Maximilian. Dieser überwachte soeben die Wartung seiner Pferde und rauchte eine Zigarre am Eingang des Gartens, als der Wagen des Grafen vor der Tür anhielt.

Cocles öffnete, wie gesagt; Baptistin sprang von seinemBocke und fragte, obHerr und Frau Herbault und Herr Maximilian Morel für den Grafen von Monte Christo zu sprechen seien.

Für den Grafen von Monte Christo! rief Morel, seine Zigarre wegwerfend und demBesuche entgegeneilend, ich glaube wohl, ich glaube wohl! Ah! Dank, tausendmal Dank, Herr Graf, daß Sie Ihr Versprechen nicht vergessen haben. Und der junge Offizier drückte dem Grafen so innig die Hand, daß dieser sich über die Treuherzigkeit seiner Kundgebung nicht täuschen konnte und mit dem erstenBlicke sah, daß er mit Ungeduld erwartet worden war.

Kommen Sie, sagte Maximilian. Meine Schwester ist im Garten undbricht ihre verwelkten Rosen ab; mein Schwager liest seine Zeitungenbei ihr, denn wo Frau Herbault ist, pflegt auch Herr Emanuel zu sein.

Bei dem Geräusch der Tritte hobeine junge Frau von dreißig Jahren in einem seidenen Hauskleide den Kopf. Diese Frau, die sorgfältig von einem herrlichen Rosenstock die welkenBlumen pflückte, war unsere kleine Julie, nunmehr, wie es der Vertreter des Hauses Thomson und French vorhergesagt hatte, Frau Emanuel Herbault. Sie stieß einen leichten Schrei aus, als sie einen Fremden erblickte, Maximilian aber sagte lachend: Laß dich nicht stören, Schwester; der Herr Grafbefindet sich erst seit zweibis drei Tagen in Paris, weiß aberbereits, was eine Rentière des Marais ist, und wenn er es nicht weiß, so wirst du es ihn lehren.

Ah! mein Herr, sagte Julie, Sie so hierher zu führen ist ein Verrat von meinemBruder, der nicht die geringste Eitelkeit für seine arme Schwesterbesitzt… Penelon!.. Penelon!..

Ein Greis, der eine Rabatte umgrub, steckte seinen Spaten in die Erde und näherte sich mit der Mütze in der Hand, während er so gut wie möglich den Kautabak verbarg, den er schleunigst in die Tiefen seinerBacken zurückgeschoben hatte. Einige weißeBüschel versilberten sein noch dichtes Haupthaar, indes seinebronzefarbige Gesichtshaut und sein kühnes, lebhaftes Auge den alten, unter der Sonne des Äquators gebräunten und vom Hauche der Stürme gestählten Seemann verrieten.

Ich glaube, Sie haben mich gerufen, Fräulein Julie, sagte er, hierbin ich.

Penelon hatte die Gewohnheitbeibehalten, die Tochter seines Patrons Fräulein Julie zu nennen, und war nie imstande gewesen, sich daran zu gewöhnen, sie als Frau Herbault anzureden.

Penelon, sagte Julie, melde Herrn Emanuel den angenehmenBesuch, der uns zuteil wird, während Maximilian den Herrn Grafen in den Salon führt. Dann, sich an Monte Christo wendend, fuhr sie fort: Sie werden mir wohl erlauben, auf eine Minute zu entfliehen?

Und ohne die Einwilligung des Grafen abzuwarten, eilte sie hinter eineBaumgruppe und erreichte das Haus durch eine Seitenallee.

Ah! mein lieber Herr Morel, sagte Monte Christo, ichbemerke zu meinem Schmerze, daß ich einen Aufruhr in Ihrer Familie veranlasse.

Sehen Sie, erwiderte Maximilian lachend, sehen Sie dort unten den Mann, der ebenfalls sein Wams gegen einen Oberrock zu vertauschen imBegriffe ist? Oh! man kennt Sie, glauben Sie mir, Sie waren angekündigt.

Es scheint hier eine glückliche Familie zu wohnen, Herr Morel, sagte der Graf, seinen eigenen Gedankenbeantwortend.

Oh ja! dafür stehe ich Ihnen, Herr Graf; es fehlt ihnen nichts zu ihrem Glücke, sie sind jung, sie sind heiter, sie lieben sich, und mit ihren 25 000 Franken Rentebilden sie sich ein, den Reichtum Rothschilds zubesitzen.

25 000 Franken Rente ist übrigens wenig, sagte Monte Christo mit einer Weichheit, welche in Maximilians Herz wie die Stimme eines zärtlichen Vaters drang; doch sie werden hierbei nicht stehenbleiben, unsere jungen Leute, sie werden ebenfalls Millionäre werden. Ihr Herr Schwager ist Advokat… Arzt?…

Er war Kaufmann, Herr Graf, und hatte das Haus meines armen Vaters übernommen. Herr Morel starbmit Hinterlassung eines Vermögens von 500 000 Franken; ichbekam die eine Hälfte und meine Schwester die andere, denn wir waren nur zwei Kinder. Ihr Gatte, der sie ohne ein anderes Erbgut, als seine Redlichkeit, seinen scharfen Verstand und seinen fleckenlosen Ruf geheiratet hatte, wollte ebensovielbesitzen wie seine Frau. Er arbeitete, bis er 250 000 Franken zusammengebracht hatte; hierzu genügten sechs Jahre. Eines Tages suchte Emanuel seine Frau auf und sagte zu ihr: Julie, Cocles hat mir soeben eine Rolle von hundert Franken zugestellt, welche die Summe von 250 000 Franken vollmacht. Wirst du mit dem wenigen, womit wir uns fortanbegnügen müssen, zufrieden sein? Höre, das Haus macht jährlich Geschäfte für eine Million und kann einen Nutzen von 40 000 Franken abwerfen. Wir verkaufen, wenn wir wollen, die Kundschaft in einer Stunde für 300 000 Franken an Herrn Delaunay, der uns diese Summe anbietet. Was meinst du?

Mein Freund, erwiderte meine Schwester, das Haus Morel kann nur durch einen Morel gehalten werden. Ist es nicht 300 000 Franken wert, den Namen unseres Vaters für immer vor schlimmem Schicksalswechsel zu schützen?

Ich meinte dasselbe, erwiderte Emanuel, wollte jedoch deine Ansicht wissen.

Gut, mein Freund. Alle unsere Ausstände sind eingezogen, alle unsere Wechsel sindbezahlt; wir können einen Strich unter den letzten des Monats ziehen und unsere Kontore schließen; ziehen wir diesen Strich und schließen wir sie! — Und dies wurde auch auf der Stelle ausgeführt. Es war drei Uhr; um ein Viertel auf vier zeigte sich ein Kunde, der die Fahrt zweier Schiffe versichern lassen wollte. Diesbrachte voraussichtlich einen Geschäftsgewinn von 15 000 Franken.

Mein Herr, sagte Emanuel, wollen Sie sich wegen dieser Versicherung an Herrn Delaunay wenden. Wir haben das Geschäft aufgegeben.

Seit wann? fragte der erstaunte Kunde.

Seit einer Viertelstunde.

Und auf diese Art haben meine Schwester und mein Schwager nur 25 000 Franken Rente, schloß Maximilian seine Rede lächelnd.

Kaum hatte er geendet, als Emanuel wieder erschien; er grüßte wie ein Mann, der den Wert des Gastes zu schätzen weiß, ließ den Grafen das kleine Anwesen sehen und führte ihn in das Hans.

Der Salon warbereits vonBlumen durchduftet, die in einer ungeheuren japanischen Vase zusammengehalten wurden. Hübsch gekleidet und zierlich frisiert, trat Julie hervor, um den Grafenbei seinem Eintritt zu empfangen. Alles atmete hier Ruhe, vom Gesange des Vogelsbis zum Lächeln derBewohner. Der Graf hatte seit dem Eintritte in das Haus die ganze Fülle dieses ruhigen Familienglücks auf sich wirken lassen. Erbliebstumm und träumerisch und vergaß, daß man ihn anschaute und von ihm die Wiederaufnahme des nach den ersten Komplimenten unterbrochenen Gespräches zu erwarten schien.

Endlichbemerkte er das eingetretene Stillschweigen, entriß sich seiner Träumerei und sagte: Gnädige Frau, verzeihen Sie mir meine Gemütsbewegung, die Sie, da Sie an den Frieden und an das Glück gewöhnt sind, in Erstaunen setzen muß; doch für mich ist die Zufriedenheit auf einem menschlichen Antlitz etwas so Neues, daß ich nicht müde werden kann, Sie und Ihren Gatten anzuschauen.

Wir sind in der Tat sehr glücklich, versetzte Julie; aber wir hatten lange zu leiden, und wenige Menschen mußten ihr Glück so teuer erkaufen, wie wir.

Die Neugierde prägte sich in den Zügen des Grafen aus.

Oh! das ist eine ganze Familiengeschichte, wie Ihnen neulich Chateau‑Renaud sagte, erklärte Maximilian; für Sie, Herr Graf, der Sie an großartigere und glänzendere Verhältnisse gewöhnt sind, dürfte dieses häusliche Gemälde wenig Interessebieten. Jedenfalls haben wir, wie Ihnen Julie soeben sagte, heftige Schmerzen ausgestanden, wenn sie auch in diesen kleinen Rahmen eingeschlossen waren.

Und Gott hat Ihnen, wie er esbei allen tut, denBalsam des Trostes auf das Leiden gegossen? fragte Monte Christo.

Ja, Herr Graf, antwortete Julie; wir können dies wohl sagen, denn er hat für uns getan, was er nur für seine Auserwählten tut; er schickte uns einen von seinen Engeln.

Die Röte stieg dem Grafen in die Wangen; er stand auf und schritt, ohne etwas zu erwidern, langsam durch den Salon.

Sie lächeln über uns, Herr Graf, sagte Maximilian, der ihm mit dem Auge folgte.


Nein, nein, entgegnete Monte Christo, äußerstbleich und mit einer Hand die Schläge seines Herzens zurückdrängend, während er mit der andern auf eine kristallene Kugel deutete. unter der eine seideneBörse, kostbar gelagert auf einem Kissen von schwarzem Samt, ruhte. Ich fragte mich nur, wozu dieseBörse diene, die, wie mir scheint, auf der einen Seite ein Papier und auf der andern einen ziemlich schönen Diamanten enthält.

Maximilian nahm eine ernste Miene an und erwiderte: Das, Herr Graf, ist unser köstlichster Familienschatz.

In der Tat, der Diamant ist ziemlich hübsch, wiederholte Monte Christo.

Oh! meinBruder spricht nicht von dem Werte des Steines, obgleich er zu 100 000 Franken geschätzt wird, er will Ihnen nur sagen, daß die Gegenstände, die dieseBörse enthält, Reliquien von dem Engel sind, von dem vorhin die Rede war.

Ichbegreife das nicht und darf auch nicht fragen, gnädige Frau, erwiderte Monte Christo, sich verbeugend; verzeihen Sie mir, ich wollte nicht indiskret sein.

Indiskret, sagen Sie? Oh! wie glücklich machen Sie uns im Gegenteil, wenn Sie uns Gelegenheit geben, uns des weiteren über diesen Gegenstand auszusprechen. Wie gern möchten wir es der ganzen Welt mitteilen, damit wir dadurch etwas über unsern unbekannten Wohltäter erfahren.

Maximilian hobdie Kristallkugel auf, zog denBrief aus derBörse und reichte ihn dem Grafen. DieserBrief, sagte er, wurde an einem Tage geschrieben, wo mein Vater einen verzweiflungsvollen Entschluß gefaßt hatte, diesen Diamanten gabder edelmütige Unbekannte meiner Schwester als Mitgift.

Monte Christo nahm denBrief und las ihn mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke von Glück; es war das unsern Lesernbekannte, an Julie gerichtete und von Simbad dem Seefahrer unterzeichnete Schreiben.

Der Unbekannte, sagen Sie? Also ist der Mann, der Ihnen diesen Dienst geleistet hat, für Sie unbekannt geblieben?

Ja, nie haben wir das Glück gehabt, ihm die Hand zu drücken, obwohl wir Gott flehend um diese Gunstbaten, sagte Maximilian. In dieser ganzen wunderbarenBegebenheit waltete eine geheimnisvolle Leitung, die wir noch nichtbegreifen können.

Oh! rief Julie, ich habe noch nicht jede Hoffnung verloren, eines Tags die Hand unseres Wohltäters zu küssen. Vor vier Jahren war Penelon in Triest. Penelon, Herr Graf, ist derbrave Seemann, den Sie mit dem Spaten gesehen haben; früher Hochbootsmann ist er nun Gärtner geworden. Penelon war also in Triest und sah auf dem Kai einen Engländer, der sich in einer Jacht einschiffte; sogleich erkannte er den, der am 5. Juni 1823 meinen Vater aufgesucht und mir am 5. September diesesBillett geschrieben hatte. Es war, wie er versichert, derselbe Mann; doch er wagte ihn nicht anzureden.

Ein Engländer? versetzte Monte Christo träumerisch und unruhig JuliesBlicken folgend, ein Engländer sagen Sie?

Ja, erwiderte Maximilian, ein Engländer, derbei uns als Vertreter des Hauses Thomson und French in Rom erschien. Deshalbsahen Sie michbeben, als Sie neulichbei Herrn von Morcerfbemerkten, Thomson und French in Rom seien IhreBankiers. Dies ereignete sich im Jahre 1829, wie wir Ihnen sagten, und ich frage Sie im Namen des Himmels, haben Sie diesen Engländer gekannt?

Doch sagten Sie mir nicht, es sei von dem Hause Thomson und Frenchbeständig in Abrede gestellt worden, daß es Ihnen diesen Dienst geleistet? Sollte dieser Engländer vielleicht aus Dankbarkeit für irgend eine gute Handlung Ihres Vaters diesen Vorwand ergriffen haben, um ihm einen Dienst zu leisten?

Unter solchen Umständen ist alles zu vermuten, selbst ein Wunder.

Wie hieß er? fragte Monte Christo.

Er hat keinen andern Namen hinterlassen, sagte Julie, den Grafen mit großer Aufmerksamkeitbetrachtend, als den, womit er dasBillett unterzeichnete: Simbad der Seefahrer.

Was offenbar kein Name, sondern ein Pseudonym ist.

Und als ihn Julie immer aufmerksamer anschaute und die Töne seiner Stimme aufzufangen und zu sammeln schien, fuhr er fort: Sagen Sie, ist es nicht ein Mann etwa von meinem Wuchse, vielleicht etwas größer, etwas schlanker, in eine hohe Halsbinde eingezwängt, gegürtet undbeständig einenBleistift in der Hand haltend?

Oh! Sie kennen ihn also? rief Julie mit freudestrahlenden Augen.

Nein, ich habe nur eine Vermutung. Ich kannte einen Lord Wilmore, der edle Handlungen der Art auszuführen pflegte.

Ohne sich zu erkennen zu geben?

Es war ein wunderlicher Mensch, er glaubte nicht an Dankbarkeit.

Oh, mein Gott! rief Julie mit einem erhabenen Ausdruck die Hände faltend, woran glaubt denn der Unglückliche?

Er glaubte wenigstens nicht daran zur Zeit, wo ich ihn kannte, sagte Monte Christo, den diese aus der Tiefe der Seele kommende Stimmebis in die letzte Fiber erschüttert hatte; seit jener Zeit hat er jedoch vielleicht einenBeweis erhalten, daß es eine Dankbarkeit gibt.

Und Sie kennen diesen Mann? fragte Emanuel.

Oh! wenn Sie ihn kennen, rief Julie, sprechen Sie, vermögen Sie ihn zu uns zu führen, ihn uns zu zeigen, uns zu offenbaren, wo er ist? Wie, Maximilian, wie, Emanuel, wenn wir ihn je wieder finden würden, würde er nicht an dankbare Herzen glauben müssen?

Monte Christo fühlte, wie zwei Tränen in seine Augen traten; er machte noch ein paar Schritte im Salon.

Im Namen des Himmels, sagte Maximilian, wenn Sie etwas von diesem Manne wissen, so teilen Sie es uns mit.

Ach! erwiderte Monte Christo, die Erschütterung seiner Stimmebewältigend, ach! wenn Lord Wilmore Ihr Wohltäter ist, sobefürchte ich, daß Sie ihn nie finden werden. Ich habe ihn vor zwei oder drei Jahren in Palermo verlassen; er reiste damals nach weit entfernten Ländern, und ich zweifle sehr an seiner Rückkehr.

Ah! mein Herr, Sie sind grausam, rief Julie voll Schrecken.

Und es entstürzten Tränen den Augen der jungen Frau.

Gnädige Frau, sagte mit ernstem Tone Monte Christo, während er mit seinenBlicken diebeiden Tränenperlen verschlang, die über Julies Wangen herabrollten, wenn Lord Wilmore gesehen hätte, was ich hier sehe, so würde er das Leben noch lieben, denn die Tränen, die Sie vergießen, müßten ihn mit dem Menschengeschlechte aussöhnen. Und er reichte Julie die Hand, und diese gabihm die ihre, hingezogen vonBlick und Ton des Grafen.

Doch dieser Lord Wilmore, sagte sie, sich an eine letzte Hoffnung klammernd, hatte er kein Vaterland, Verwandte, Familie, war erbekannt? Könnten wir nicht…

Oh! suchen Sie nicht, Madame, bauen Sie keine leeren Hoffnungen auf das Wort, das mir entschlüpft ist! Nein, Lord Wilmore ist wahrscheinlich nicht der Mann, den Sie suchen, er war mein Freund, ich kannte seine Geheimnisse, er hätte mir auch dieses mitgeteilt.

Und er sagte Ihnen nichts davon? rief Julie.

Nichts.

Sie nannten ihn aber doch sogleich?

Sie wissen, in solchen Fällen ergeht man sich leicht in Mutmaßungen.

Meine Schwester, sagte Maximilian, Monte Christo zu Hilfe kommend, der Herr Graf hat recht. Erinnere dich dessen, was unser guter Vater uns so oft sagte: Der Mann, der unser Glück machte, war kein Engländer.

Monte Christo zitterte und sagte lebhaft: Ihr Vater sagte Ihnen dies, Herr Morel?

Mein Vater, Herr Graf, erblickte in dieser Handlung ein Wunder. Mein Vater glaubte an einen für uns aus dem Grabe erstandenen Wohltäter. Oh! welch ein rührender Aberglaube, mein Herr!.. Während ich selbst ihm nichtbeipflichtete, war ich doch weit entfernt, diesen Glauben in seinem Herzen zerstören zu wollen. Wie oft träumte er davon und sprach ganz leise den Namen eines geliebten Freundes, eines verlorenen Freundes aus, und als er nur noch einen Schritt vom Tode entfernt war und das Herannahen der Ewigkeit seinem Geiste etwas von der Erleuchtung des Grabes gegeben hatte, da wurde dieser Gedanke, derbis dahin eine dunkle Vermutung gewesen war, zur Überzeugung, und die letzten Worte, die er sterbend aussprach, lauteten: Maximilian, es war Edmond Dantes.

Die immer mehr zunehmendeBlässe des Grafen wurdebei diesen Worten furchtbar. Er konnte kaum mehr sprechen, zog seine Uhr, als hätte er die Stunde vergessen, nahm seinen Hut, machte eine ungestüme, verlegene Verbeugung vor Frau Herbault, drückte Emanuel und Maximilian die Hand und stammelte: Gnädige Frau, erlauben Sie mir, Ihnen zuweilen meine Achtung zubezeigen. Ich liebe Ihr Haus undbin Ihnen dankbar für Ihren Empfang, denn es ist das erste Mal seit Jahren, daß ich mich vergessen habe.

Und er entfernte sich mit großen Schritten.

Das ist ein seltsamer Mensch… dieser Graf von Monte Christo, sagte Emanuel.

Ja, erwiderte Maximilian, aber ich glaube, er hat ein vortreffliches Herz, und ichbin überzeugt, daß er uns liebt.

Und mir, sagte Julie, mir war es, als erinnerte sich mein Inneres seiner Stimme, und wiederholt kam es mir vor, als hörte ich sie nicht zum erstenmal.

Pyramos und Thisbe

Auf dem Faubourg Saint‑Honoré hinter einem schönen Palast dehnte sich damals ein weiter Garten aus, dessenblätterreiche Kastanienbäume die ungeheuren, wallhohen Mauern überragten, und wenn der Frühling kam, ihre rosenfarbigen und weißenBlüten in zwei Vasen von gerieftem Stein fallen ließen, die auf zwei viereckigen Pfeilern einander gegenüberstanden, zwischen die ein eisernes Gitter aus der Zeit Ludwigs XIII gefügt war.

Dieser großartigste Eingang war trotz der herrlichen Geranien, die in den Vasen wuchsen, der Öde verfallen, seitdem sich die Eigentümer auf denBesitz des Hauses, des mitBäumenbepflanzten und nach dem Faubourg gehenden Hofes und des Gartensbeschränkten, den dieses Gitter schloß. Da aber der Dämon der Spekulation eine Straße am Ende dieses Küchengartens gezogen, so glaubte man dieses Stück alsBauplatz verkaufen zu können.

Jedoch die Spekulation schlug fehl, und der Käufer des Küchengartens verpachtete den Platz an einen Gemüsegärtner, der nur Luzernen darauf wachsen ließ. Eine kleine niedrige Tür, die sich nach der noch im Plane schlummernden Straße öffnete, gewährte Eingang in dieses von Mauern umschlossene Gebiet.

Nach dem vornehmen Hause oder, wie man in Paris sagt, nach dem Hotel zubekränzten Kastanienbäume die Mauer. Auf einer Ecke, wo dasBlätterwerk so dicht war, daß das Licht kaum durchzudringen vermochte, deuteten eine steinerneBank und Gartensitze auf einen Lieblingswinkel für irgend einenBewohner des hundert Schritte davon entlegenen Hotels, das wegen des grünen, umhüllenden Walles kaum wahrzunehmen war. Die Wahl dieses geheimnisvollen Asyls rechtfertigte sich durch die Abwesenheit der Sonne, durch die angenehme Frische, durch das Gezwitscher der Vögel und durch die Entfernung des Hauses und der Straße.

Gegen Abend an einem der heißesten Tage des Frühjahrs lagen auf dieser Steinbank einBuch, ein Sonnenschirm, ein Arbeitskorbund einBatisttaschentuch, dessen Stickerei angefangen war; und nicht weit von dieserBank stand am Gitter vor denBrettern, das Auge an den durchsichtigen Verschlag haltend, eine junge Frau, derenBlick durch eine Spalte den noch öden Raum überlief.

Fast in demselben Augenblick schloß sich geräuschlos die Tür dieser kleinen Wüste, und ein junger Mann, groß, kräftig, in einerBluse von roher Leinwand, eine Samtmütze auf dem Kopf, dessen schwarzerBart und schwarze, sorgfältig gepflegte Haare jedoch ein wenig mit dieser Volkstracht im Widerspruch standen, trat, nachdem er einen raschenBlick umhergeworfen hatte, um sich zu versichern, daß ihn niemandbeobachte, herein und wandte sich mit raschen Schritten nach dem Gitter.

Bei dem Anblicke dessen, den sie erwartete, aber wahrscheinlich nicht in dieser Tracht, erschrak das Mädchen und wich ein wenig zurück.

Aber der junge Mann hatte durch die Spalte der Tür mit jenemBlicke, der nur Liebenden eigen ist, das weiße Kleid und das langeblaue Gürtelband flattern sehen; er eilte nach dem Verschlage, legte seinen Mund an eine Öffnung und sagte mit halblauter Stimme: Fürchten Sie sich nicht, Valentine, ichbin es.

Die Genannte näherte sich und sagte: Oh, warum sind Sie heute so spät gekommen? Wissen Sie, daß wirbald zu Mittag essen, und daß es großer Täuschungskunst und Hurtigkeitbedurfte, um von meiner Stiefmutter, die michbelauert, meiner Kammerfrau, die michbespäht, meinemBruder, der mich quält, freizukommen und hier an dieser Stickerei zu arbeiten? Sobald Sie sich für Ihr Zögern entschuldigt haben, werden Sie mir sagen, was dieses neue Kostüm, in dem ich Siebeinahe nicht erkannt hätte, bedeuten soll.

Teure Valentine, erwiderte der junge Mann, meine Liebe zu Ihnen ist zu groß, als daß ich hiervon noch sprechen sollte, und dennoch fühle ich, so oft ich Sie sehe, dasBedürfnis, Ihnen zu sagen, daß ich Sie anbete, damit das Echo meiner eigenen Worte Ihr Herz liebkosen möge, wenn ich Sie nicht mehr sehe. Nun danke ich Ihnen für Ihr Schmälen; es ist ganzbezaubernd, denn esbeweist mir, daß Sie mich erwarteten und an mich dachten. Sie wollen die Ursache meiner Zögerung und denBeweggrund meiner Verkleidung wissen, ich werde Ihnenbeides sagen und hoffe, Sie entschuldigen mich: ich habe mir einen Stand erwählt.

Einen Stand?… Was wollen Sie damit sagen, Maximilian? Sind wir denn so glücklich, daß Sie über unsere Lage scherzen?

Oh! Gott soll michbewahren, daß ich mit dem, was mein Leben ausmacht, Scherz treibe. Aber des Mauerkletterns überdrüssig und ernstlich erschrocken über den eines Abends von Ihnen ausgesprochenen Gedanken, Ihr Vater würde mich früher oder später als Diebvor Gericht ziehen, was die Ehre der ganzen französischen Armee verletzen müßte, dazu erwägend, daß man sich wundern könnte, in dieser Gegend, wo es nicht die geringste Zitadelle zubelagern oder das kleinsteBlockhaus zu verteidigen gibt, einen Kapitän der Spahis sich herumtreiben zu sehen, bin ich Gemüsegärtner geworden und habe natürlich die Tracht meines Gewerbes angenommen.

Welch eine Tollheit!

Im Gegenteil, es ist, wie ich glaube, das vernünftigste, was ich in meinem ganzen Leben getan habe, denn es verleiht uns vollkommene Sicherheit.

Erklären Sie sich deutlicher!

Wohl, ich habe den Eigentümer dieses Platzes aufgesucht; der Vertrag mit den ehemaligen Pächtern war abgelaufen, und ich pachtete den Garten für mich. Alle diese Luzernen gehören mir, Valentine, und nichts hindert mich, mir eine Hütte unter diesem Gebüschbauen zu lassen und fortan zwanzig Schritte von Ihnen zu leben. Oh! diese Freude, dieses Glück, ich weiß mich nicht zu fassen! Scheint Ihnen, Valentine, dies nicht unbezahlbar? Und diese ganze Seligkeit, dieses ganze Glück, diese ganze Freude, wofür ich zehn Jahre meines Lebens gegeben hätte, kosten mich, erraten Sie wieviel?… Fünfhundert Franken jährlich, zahlbar in vierteljährlichen Raten. Sie sehen also, es ist in Zukunft nichts mehr zubefürchten. Ichbefinde mich hier auf meinem eigenen Grund undBoden, kann Leitern an meine Mauer stellen und hinüberschauen undbinberechtigt, Ihnen zu sagen, daß ich Sie liebe, solange sich Ihr Stolz nicht verwundet fühlt, wenn er dieses Wort aus dem Munde eines armen Tagelöhners mitBluse und Mütze vernimmt.

Valentine stieß einen leichten Schrei freudigen Erstaunens aus, erwiderte aberbald traurig, und als hätte eine eifersüchtige Wolke plötzlich den Sonnenstrahl verschleiert, der ihr Herz erleuchtete: Ach! Maximilian, wir sind nun frei; unser Herz wird uns Gott versuchen lassen; wir werden unsere Sicherheit mißbrauchen, und unsere Sicherheit wird uns zu Grunde richten.

Können Sie mir das sagen, liebe Freundin, mir, der ich Ihnen, seitdem ich Sie kenne, jeden Tagbeweise, daß ich meine Gedanken und mein Leben Ihren Gedanken und Ihrem Leben untergeordnet habe? Wer hat Ihnen Zutrauen zu mir gegeben? Nicht wahr, meine Ehre. Als Sie mir sagten, ein unbestimmter Instinkt versichere Ihnen, Sie liefen irgend eine große Gefahr, stellte ich meine Ergebenheit zu Ihren Diensten, ohne eine andereBelohnung von Ihnen zu verlangen, als das Glück, Ihnen dienen zu dürfen. Habe ich Ihnen seitdem durch ein Wort, durch ein Zeichen Veranlassung gegeben, zubereuen, daß Sie mich unter denen auszeichnen, die glücklich gewesen wären, für Sie zu sterben? Armes Kind, Sie sagten mir, Sie seien mit Herrn d'Epinay verlobt, Ihr Vater habe diese Verbindung geschlossen, das heißt, sie wäre gewiß, denn alles, was Herr von Villefort wolle, geschehe unfehlbar. Nun, ichbin im Schatten geblieben und habe alles, nicht von meinem Willen, nicht von dem Ihrigen, sondern von den Ereignissen, von der Vorsehung Gottes erwartet, und dennoch liebten Sie mich, hatten Sie Mitleid mit mir und sagten mir dies. Ich danke Ihnen für dieses süße Wort, das ich Sie von Zeit zu Zeit zu wiederholenbitte, denn es wird mich alles vergessen lassen.

Das ist es, was Sie kühn gemacht hat, Maximilian, das ist es, was mir ein sehr süßes und zugleich sehr unglückliches Lebenbereitet, so daß ich mich oft frage, was für michbesser sei, der Kummer, den mir einst die Strenge meiner Stiefmutter und dieblindeBevorzugung ihres Kindes verursachten, oder das gefahrvolle Glück, das ichbei Ihrem Anblick genieße.

Gefahrvoll! rief Maximilian; können Sie ein so hartes und ungerechtes Wort aussprechen! Sie erlaubten mir zuweilen, ein Wort an Sie zu richten, Valentine, aber Sie verboten mir, Ihnen zu folgen; ich gehorchte. Habe ich, seitdem ich Gelegenheit fand, in dieses Gehege zu schlüpfen, durch diese Tür mit Ihnen zu plaudern, so nahebei Ihnen zu sein, ohne Sie zu sehen, — sprechen Sie, habe ich je um Erlaubnis gebeten, den Saum Ihres Kleides durch dieses Gitterberühren zu dürfen? Habe ich je einen Schritt getan, um über diese Mauer — bei meiner Jugend und meiner Kraft ein lächerliches Hindernis — zu gelangen? Nie vernahmen Sie von mir einen Vorwurf über Ihre Strenge, nie einen lauten Wunsch; ich hieltblindlings fest an meinem Wort, wie ein Ritter in den alten Zeiten. Gestehen Sie dies wenigstens zu, damit ich Sie nicht für ungerecht halte.

Das ist wahr, sagte Valentine, ihm zwischen zweiBrettern hindurch die Spitze eines ihrer zarten Fingerbietend, auf die Maximilian seine Lippen drückte; es ist wahr, Sie sind ein redlicher Freund. Aber Sie haben am Ende nur ausBerechnung so gehandelt, mein lieber Maximilian; Sie wußten, daß der Sklave von dem Tage an, wo erbegehrlich würde, alles verlieren müßte. Sie haben mir die Freundschaft einesBruders versprochen, mir, die keine Freundebesitzt, mir, die vom Vater vergessen, von der Stiefmutter verfolgt wird; mir, die als einzigen Trost nur den unbeweglichen, stummen, eisigen Greis hat, dessen Hand meine Hand nicht drücken kann, dessen Auge allein zu mir spricht und dessen Herz ohne Zweifel mit einem Überreste von Wärme für mich schlägt. Bitterer Hohn des Geschicks, das mich zur Feindin und zum Opfer aller derer macht, die stärker sind als ich, und mir einen Leichnam zur Stütze und zum Freunde gibt! Oh wahrlich, Maximilian, ich wiederhole Ihnen, ichbin sehr unglücklich, und Sie haben recht, wenn Sie mich um meiner selbst willen und nicht um Ihretwillen lieben.

Valentine, sagte der junge Mann, mit tiefer Rührung, ich sage nicht, daß ich Sie allein auf der Welt liebe, denn ich liebe auch meine Schwester und meinen Schwager, aber mit einer sanften, ruhigen Liebe, die in keiner Hinsicht dem Gefühle gleicht, das ich für Sie hege: Wenn ich an Sie denke, wallt meinBlut, schwillt meineBrust, strömt mein Herz über; doch diese Kraft, diese Glut, diese übermenschliche Macht, ich werde sie anwenden, um Siebis zu dem Tage zu lieben, wo Sie mir sagen, ich solle sie in Ihrem Dienste verwenden. Herr Franz d'Epinay wird, wie ich höre, noch ein Jahr abwesend sein; wie viele günstige Wechselfälle können in einem Jahre zu unsern Gunsten eintreten! Wie viele Ereignisse können uns unterstützen! Hoffen wir also, es ist so schön und süß, zu hoffen! Doch mittlerweile, Valentine, was sind Sie, die Sie mir meine Selbstsucht zum Vorwurf machen, was sind Sie für mich gewesen? Die schöne und kalteBildsäule der züchtigen Venus. Was haben Sie mir im Austausch für diese Ergebenheit, für diesen Gehorsam, für diese Zurückhaltung versprochen? Nichts; was haben Sie mirbewilligt? Sehr wenig. Sie erwähnen gegen mich des Herrn d'Epinay als Ihres Verlobten und seufzenbei dem Gedanken, eines Tages ihm zu gehören. Sprechen Sie, Valentine, ist das alles, was Sie im Gemüte tragen? Wie! ich verpfände Ihnen mein Leben, ich gebe Ihnen meine Seele, ich widme Ihnen auch den unbedeutendsten Schlag meines Herzens, und während ich Ihnen ganz gehöre, während ich mir ganz leise sage, daß ich sterben werde, wenn ich Sie verliere, erschrecken Sie nicht schonbei deinbloßen Gedanken, eines andern Gattin zu sein? Oh Valentine! Wenn ich wäre, was Sie sind, wenn ich mich geliebt fühlte, wie Sie sich zweifellos geliebt fühlen müssen, so hätte ich schon hundertmal meine Hand zwischen den Stangen dieses Gitters durchgestreckt, die Hand des armen Maximilian gedrückt und ihm gesagt: Dir allein, Maximilian, in dieser und in der andern Welt.

Valentine antwortete nicht, aber der junge Mann hörte sie seufzen und weinen.

Rasch tratbei ihm die Gegenwirkung ein.

Oh, Valentine, Valentine! rief er, vergessen Sie meine Worte, wenn darin etwas für SieBeleidigendes liegt!

Nein, sagte sie, Sie haben recht; aber sehen Sie nicht, daß ich ein armes Geschöpfbin, das so gut wie in einem fremden Hause leben muß? Mein Vater ist mir wirklich fast fremd, und mein Wille wird seit zehn Jahren, Tag für Tag, Minute für Minute durch den eisernen Willen von Gebietern gebrochen, deren Hand unendlich schwer auf mir liegt. Niemand sieht, was ich leide, und ich habe es auch außer Ihnen niemand gesagt. Scheinbar und in den Augen der Welt ist alles gut, ist alles liebevoll gegen mich, in Wirklichkeit aber ist mir alles feindselig. Die Welt sagt: Herr von Villefort ist zu ernst und zu streng, um sehr zärtlich gegen seine Tochter zu sein; aber sie hat wenigstens das Glück, in Frau von Villefort eine zweite Mutter zu finden. Die Welt täuscht sich, mein Vater ist völlig gleichgültig gegen mich, meine Stiefmutter haßt mich mit um so größerer Erbitterung, als sie diese durch einbeständiges Lächeln glaubt verschleiern zu müssen.

Sie hassen? Sie, Valentine! Und wie kann man Sie hassen?

Ach! mein Freund, ich muß gestehen, daß dieser Haß gegen mich von einem an sich sehr natürlichen Gefühle herrührt. Siebetet ihren Sohn, meinenBruder Eduard, an. — Nun?

Es kommt mir zwar sonderbar vor, daß ich eine Geldfrage in unser Gespräch mischen soll; aber ich glaube, mein Freund, daß ihr Haß davon herrührt. Da sie kein eigenes Vermögen hat, da ichbereits durch die Erbschaft meiner Mutter reichbin und sich dieses Vermögen noch durch das, welches mir eines Tages von Herrn und Frau von Saint‑Meran zukommen muß, mehr als verdoppeln wird, so glaube ich, daß sie neidisch ist. Oh, mein Gott! wenn ich ihr die Hälfte dieses Vermögens geben und mich dannbei Herrn Villefort wie eine Tochter im Hause ihres Vatersbefinden könnte, ich würde es auf der Stelle tun.

Arme Valentine!

Ja, ich fühle mich gekettet und fühle mich zugleich so schwach, daß es mir vorkommt, als stützten mich meine Fesseln, so daß ich mich davor fürchte, sie zu zerbrechen. Überdies ist mein Vater nicht der Mann, dessenBefehle man ungestraft übertreten dürfte; er ist mächtig gegen mich, er wäre mächtig gegen Sie, er wäre sogar mächtig gegen den König, beschützt durch eine vorwurfsfreie Vergangenheit und einebeinahe unangreifbare Stellung. Oh! Maximilian, ich schwöre Ihnen, ich kämpfe nicht, weil ich Sie nicht minder als mich in diesem Kampf zu Grunde zu richtenbefürchte.

Aber Valentine, versetzte Maximilian, warum auf diese Art verzweifeln, warum die Zukunft stets so düster sehen?

Ah! mein Freund, weil ich nach der Vergangenheit urteile.

Aber vergessen Sie nicht, daß ich auch Ihrem Vater kein unwillkommener Freier sein kann. Ich habe gute Aussichten in der Armee, ichbesitze einbeschränktes, aber unabhängiges Vermögen; das Andenken an meinen Vater endlich wirdbei uns als das eines der ehrlichsten Kaufleute, die je gelebt haben, verehrt. Ich sage, bei uns, Valentine, weil Sie halbund halbvon Marseille sind.

Sprechen Sie mir nicht von Marseille, Maximilian, dieses einzige Wort erinnert mich an meine gute Mutter, an diesen guten, von der ganzen Weltbeklagten Engel; an diese herrliche Frau, die, nachdem sie während ihres kurzen Aufenthaltes auf Erden über ihre Tochter gewacht, jetzt, so glaube ich sicher, im Himmel über sie wacht. Oh! wenn meine Mutter noch lebte, Maximilian, so hätte ich nichts mehr zu fürchten! Ich würde ihr sagen, daß ich Sie liebe, und sie würde unsbeschützen.

Ach! Valentine, entgegnete Maximilian, wenn sie noch lebte, würde ich Sie ohne Zweifel nicht kennen; denn Sie wären dann, wie Sie sagen, glücklich, und die glückliche Valentine hätte mich von ihrer Größe herabverächtlich angeschaut.

Ah! mein Freund! rief Valentine. Sie sind ebenfalls ungerecht… Doch, sagen Sie mir…

Was soll ich Ihnen sagen? versetzte Maximilian, als er Valentine zögern sah.

Sagen Sie mir, fuhr das Mädchen fort, waltete in Marseille nicht ein Mißverständnis zwischen Ihrem Vater und dem meinigen ob?

Nicht, daß ich wüßte, erwiderte Maximilian, wenn nicht dadurch, daß Ihr Vater ein mehr als eifriger Parteigänger derBourbonen und der meinige ein dem Kaiser ergebener Mann war; das ist, glaube ich, die einzige Uneinigkeit, die zwischen ihnen stattgefunden hat. Doch warum diese Frage, Valentine?

Ich will es Ihnen gestehen, versetzte das Mädchen, denn Sie müssen es wissen. Es war an dem Tage, an dem Ihre Ernennung zum Offizier der Ehrenlegion in der Zeitungbekannt gemacht wurde. Wirbefanden uns allebei meinem Großvater, Herrn Noirtier; außerdem war noch Herr Danglars zugegen, Sie wissen, derBankier, dessen Pferde vorgestern meiner Mutter und meinemBruderbeinahe den Tod gebracht hätten. Ich las die Zeitung meinem Großvater laut vor, während die Herren von der wahrscheinlichen Verheiratung des Herrn von Morcerf mit Fräulein Danglars sprachen. Als ich zu der Siebetreffenden Mitteilung kam, die mirbereitsbekannt war, denn Sie hatten mir am Tage vorher die frohe Kunde mitgeteilt, — war ich sehr glücklich, zitterte jedoch, daß ich Ihren Namen laut aussprechen sollte, und ich würde ihn gewiß übergangen haben, hätte ich nichtbefürchtet, man könnte mein Stillschweigen übel auslegen; ich raffte also meinen ganzen Mut zusammen und las.

Teure Valentine!

Nun wohl, sobald Ihr Name erklang, drehte mein Vater seinen Kopf; ich war so überzeugt — sehen Sie, wie töricht ichbin! — alle Welt würde von diesem Namen wie vom Donner gerührt werden, daß ich meinen Vater und sogar Danglars, bei dem es sicher eine Täuschung war, beben zu sehen glaubte.

Morel, sagte mein Vater mit gerunzelter Stirn. Sollte es einer von den Morels aus Marseille sein, einer von den wütendenBonapartisten, die uns im Jahre 1815 so übel mitgespielt haben?

Ja, erwiderte Herr Danglars, ich glaube sogar, daß es der Sohn des ehemaligen Reeders ist.

Wirklich? versetzte Maximilian; und was antwortete Ihr Vater, Valentine?

Oh! etwas Abscheuliches, das ich nicht wiederholen kann.

Sagen Sie es immerhin! sagte Maximilian lächelnd.

Ihr Kaiser wußte alle diese Fanatiker an ihren Platz zu stellen, fuhr er mit immer düstererer Stirn fort, er nannte sie Kanonenfutter, und das war der einzige Name, den sie verdienen; ich freue mich, daß die gegenwärtige Regierung dieses heilsame Prinzip wieder zur Ausübungbringt. Behielte sie Algerien auch nur aus diesem einzigen Grunde, so würde ich ihr Glück wünschen, obgleich es uns etwas viel kostet.

Das ist in der Tat eine ziemlich rohe Politik, sagte Maximilian; doch, meine teure Freundin, erröten Sie nicht über das, was Herr von Villefort gesagt hat. Meinbraver Vater gabinBezug auf diesen Punkt dem Ihrigen in keinerBeziehung nach, denn er wiederholte unablässig: Warumbildet der Kaiser, der so viel Schönes tut, nicht ein Regiment aus lauter Richtern und Advokaten und schickt sie immer ins erste Feuer? Sie sehen, die Parteien geben sich in der Wahl des Ausdrucks und der Feinheit des Gefühls nichts nach. Doch was sagte Herr Danglars zu diesem Ausfalle des Staatsanwaltes?

Oh! erbrach in jenes ihm eigentümliche, widerwärtige Gelächter aus; einen Augenblick nachher standen sie auf und gingen weg. Mein Großvater war sehr ergriffen. Ich muß Ihnen sagen, Maximilian, daß ich allein dieBewegungen im Innern dieses armen Gelähmten errate, und ich vermute, daß das Gespräch einen sehr starken Eindruck auf ihn hervorgebracht hatte, da er ein fanatischer Anhänger des Kaisers gewesen zu sein scheint.

Er ist wirklich einer derbekanntestenbonapartistischen Parteigänger, sagte Maximilian; er ist Senator gewesen und hat, wie Sie wissen, oder wie Sie nicht wissen, Valentine, fast an allen Verschwörungen unter der Restauration teilgenommen.

Ja, ich höre zuweilen ganz leise von diesen Dingen sprechen, die mir seltsam vorkommen; der GroßvaterBonapartist, der Vater Royalist… Kurz, ich wandte mich also zu ihm. Er deutete mit demBlicke auf die Zeitung.

Was haben Sie, guter Papa? sagte ich. Sind Sie zufrieden? — Er machte mit dem Kopfe einbejahendes Zeichen. — Mit dem, was mein Vater soeben gesagt hat? — Er machte ein verneinendes Zeichen. — Mit dem, was Herr Danglars gesagt hat? — Er machte abermals ein verneinendes Zeichen. — Damit also, daß Herr Morel zum Offizier der Ehrenlegion ernannt worden ist? — Er machte einbejahendes Zeichen.

Sollten Sie es glauben, Maximilian? Er freute sich darüber, daß Sie zum Offizier der Ehrenlegion ernannt wurden, er, der Sie nicht kennt; es ist vielleicht etwas Narrheitbei ihm, denn er fängt an kindisch zu werden, wie man sagt; doch ich liebe ihn wegen dieserBejahung.

Das ist seltsam, sagte Maximilian; Ihr Vater würde mich also hassen, während Ihr Großvater… Es ist doch etwas Sonderbares um die Liebe und den Haß der Parteien!

Still! rief plötzlich Valentine. Verbergen Sie sich, fliehen Sie, man kommt!

Maximilian eilte nach seinem Spaten und fing an, die Luzernen unbarmherzig umzugraben.

Mein Fräulein! mein Fräulein! rief eine Stimme hinter denBäumen; Frau von Villefort ruft und sucht sie überall, es istBesuch im Salon. Ein vornehmer Herr, ein Prinz, wie ich höre, der Graf von Monte Christo.

Ich komme, rief Valentine.

Sieh da! sagte Maximilian, nachdenkend auf seinen Spaten gestützt, zu sich selbst, woher kennt der Graf von Monte Christo Herrn von Villefort?

Giftkunde

Es war wirklich der Graf von Monte Christo, derbei Frau von Villefort in der Absicht erschien, denBesuch des Staatsanwalts zu erwidern, und es wurde, wie sich leicht denken läßt, durch seinen Namen das ganze Haus inBewegung gesetzt.

Frau von Villefortbefand sich allein im Salon, als man den Grafen meldete, und sie ließ sogleich ihren Sohn kommen, damit das Kind seine Danksagungbei Monte Christo wiederhole. Eduard, der seit zwei Tagen unablässig von dieser hohen Person hatte sprechen hören, lief eilig herbei, nicht aus Gehorsam gegen die Mutter und ebensowenig, um dem Grafen zu danken, sondern aus Neugierde und um irgend eine Wahrnehmung zu machen, mit deren Hilfe er einen Streich ausführen könnte, der seine Mutter stets zu der Äußerung veranlaßte: Oh! dasböse Kind; doch ich muß ihm verzeihen, es hat so viel Witz!

Nach dem ersten Austausche der gewöhnlichen Höflichkeiten erkundigte sich der Graf nach Herrn von Villefort.

Mein Gatte speistbeim Herrn Kanzler, antwortete die junge Frau; er ist soeben weggefahren und wird gewiß sehrbedauern, nicht das Glück zu haben, Sie zu sehen. Wo ist denn deine Schwester Valentine! sagte Frau von Villefort zu Eduard; manbenachrichtige sie, damit ich die Ehre haben kann, sie dem Herrn Grafen vorzustellen.

Sie haben eine Tochter, gnädige Frau? fragte der Graf; das muß noch ein Kind sein?

Es ist die Tochter des Herrn von Villefort, erwiderte die junge Frau; eine Tochter aus erster Ehe, eine hübsche, große Person.

Aber schwermütig, unterbrach sie Eduard.

Dieser junge Naseweis hat ziemlich recht und wiederholt nur, was er mich sehr oft mit Kummer hat sagen hören; denn Fräulein von Villefort ist, trotz allem, was wir zu ihrer Zerstreuung tun, von einem traurigen Charakter und von einer Schweigsamkeit, die häufig der Wirkung ihrer Schönheit Eintrag tut. In diesem Augenblick trat Valentine ein. Sie schien in der Tat traurig zu sein, undbei aufmerksamerBetrachtung hätte man in ihren Augen Spuren von Tränen wahrnehmen können.

Valentine war groß, schlank, achtzehn Jahre alt, hatte hell kastanienbraune Haare, dunkelblaue Augen und zeichnete sich durch den würdevollen Gang und durch die Haltung aus, die auch ihrer Mutter eigen gewesen war. Ihre weißen, zarten Hände, ihr Perlmutterhals, ihre rosig gefärbten Wangen verliehen ihrbeim ersten Anblick das Aussehen einer von den schönen Engländerinnen, die man so poetisch mit Schwänen verglichen hat, welche sich auf der Fläche des Wassers spiegeln.

Sie trat also ein und grüßte, als siebei ihrer Mutter den Fremden erblickte, von dem sie so viel hatte sprechen hören, ohne mädchenhafte Ziererei und ohne die Augen niederzuschlagen, mit einer Anmut, welche die Aufmerksamkeit des Grafen verdoppelte.

Fräulein von Villefort, meine Stieftochter, stellte Frau von Villefort vor.

Und der Herr Graf von Monte Christo, König von China, Kaiser von Cochinchina, rief der Knabe, seiner Schwester einen verstecktenBlick zuwerfend.

Diesmal erbleichte Frau von Villefort und war nahe daran, auf diese häusliche Geißel wirklich ärgerlich zu werden. Doch der Graf lächelte im Gegenteil und schien das Kind mit Wohlgefallen zubetrachten, was die Freude undBegeisterung seiner Mutter auf den höchsten Grad steigerte.

Aber, gnädige Frau, sagte der Graf, das Gespräch wieder anknüpfend und abwechselnd Frau von Villefort und Valentine anschauend, habe ich nichtbereits die Ehre gehabt, Sie irgendwo zu sehen, Sie und das Fräulein? Ich dachte soeben daran, und als das Fräulein eintrat, warf sein Anblick einen neuen Schimmer auf eine verworrene Erinnerung… verzeihen Sie mir diesen Ausdruck.

Es ist nicht sehr wahrscheinlich, Fräulein von Villefort liebt die Gesellschaft nur wenig, und wir gehen selten aus, sagte die junge Frau.

Auch habe ich das Fräulein, sowie Sie, gnädige Frau, und diesen reizenden Jungen nicht in der Gesellschaft gesehen. Die Pariser Gesellschaft ist mir übrigens völlig unbekannt, denn ich habe, wie ich glaube, bereits die Ehre gehabt, Ihnen zubemerken, daß ich erst seit ein paar Tagen in Parisbin. Nein, wenn Sie mir erlauben, einen Augenblick nachzudenken… Warten Sie…

Der Graf legte seine Hand an seine Stirn, als wollte er seine Erinnerungen zusammendrängen: Nein, es ist außerhalb… es ist… ich weiß nicht… aber es scheint mir, diese Erinnerung ist unzertrennlich von einer schönen Sonne und einem religiösen Feste… Das Fräulein hieltBlumen in der Hand; das Kind lief im Garten einem prächtigen Pfau nach, und Sie, gnädige Frau, saßen unter einer Weinlaube. Helfen Sie mir doch, gnädige Frau! Erinnern Sie sich an nichts?

In der Tat, nein, erwiderte Frau von Villefort.

Der Herr Graf hat uns vielleicht in Italien gesehen, bemerkte Valentine schüchtern.

In der Tat, in Italien… das ist möglich, sagte Monte Christo. Sie haben Italienbereist, mein Fräulein?

Frau von Villefort und ich waren vor zwei Jahren dort. Die Ärzte fürchteten für meineBrust und empfahlen mir die Luft in Neapel. Wir reisten nachBologna, Perugia und Rom.

Ah! so ist es, mein Fräulein, rief Monte Christo, als genüge diese einfache Andeutung, um seine Erinnerungen festzustellen. Es war in Perugia am Tage des Fronleichnamsfestes, im Garten des Gasthauses zur Post, wo der Zufall uns zusammenführte, und wo ich, wie ich mich nun entsinne, Sie zu sehen die Ehre gehabt habe.

Ich erinnere mich der Stadt Perugia vollkommen, mein Herr, und ebenso des Gasthauses zur Post und des Festes, von dem Sie sprechen, sagte Fran von Villefort; aber ich entsinne mich ganz und gar nicht, die Ehre gehabt zu haben, Sie dort zu sehen.

Ich will Ihnen helfen, versetzte der Graf. Der Tag war glühend heiß; Sie erwarteten Pferde, die wegen der Feierlichkeit nicht kamen. Das Fräulein ging in den Garten, und Ihr Sohn lief einem Vogel nach. Sie, gnädige Frau, verweilten unter der Weinlaube; erinnern Sie sich nicht, daß Sie, auf einer Steinbank sitzend, ziemlich lange mit jemand plauderten?

Ja, wahrhaftig ja, sagte die junge Frau errötend, ich entsinne mich dessen, mit einem Manne, der in einen langen wollenen Mantel gehüllt war… mit einem Arzte, glaube ich.

Ganz richtig, dieser Mann war ich; ich wohnte in dem Gasthofe und hatte meinen Kammerdiener vom Fieber geheilt, weshalbman mich für einen Arzt hielt. Wir plauderten lange von gleichgültigen Dingen, von Perugino, von Raphael, von Sitten und Gebräuchen, von jenerberüchtigten Aqua Tofana, von der man Ihnen, glaube ich, gesagt hatte, daß noch einige Personen in Perugia das Geheimnisbewahrten.

Ah! es ist wahr, sagte Frau von Villefort mit einer gewissen Unruhe, ich erinnere mich dessen.

Ich kann mich auf die Einzelheiten unserer Unterhaltung nicht mehrbesinnen, versetzte der Graf mit vollkommener Ruhe, doch weiß ich noch, daß Sie, den allgemeinen Irrtum über meine Person teilend, mich über die Gesundheit von Fräulein von Villefort um Rat fragten.

Aber Sie waren wirklich Arzt, da Sie Kranke heilten?

Molière oderBeaumarchais würden Ihnen antworten, gnädige Frau, daß ich, gerade weil ich es nicht war, meine Kranken zwar nicht geheilt habe, aber sie nicht gehindert habe zu genesen; ichbegnüge mich, Ihnen zubemerken, daß ich ziemlich gründlich die Chemie und die Naturwissenschaften studiert habe, aber nur als Liebhaber.

In diesem Augenblick schlug es sechs Uhr.

Es ist sechs Uhr, sagte Frau von Villefort sichtbar erregt; willst du nicht sehen, Valentine, obdein Großvater zur Mahlzeitbereit ist?

Valentine stand auf, verbeugte sich vor dem Grafen und verließ das Zimmer, ohne ein Wort zu sprechen.

Oh! mein Gott, sollten Sie Fräulein von Villefort meinetwegen entfernt haben? sagte der Graf, als Valentine weggegangen war.

Durchaus nicht, erwiderte lebhaft die junge Frau; es ist die Stunde, wo wir Herrn Noirtier das traurige Mahl einnehmen lassen, das sein unglückliches Dasein fristet. Sie wissen, mein Herr, in welch einembeklagenswerten Zustande sich der Vater meines Gattenbefindet?

Ja, gnädige Frau, Herr von Villefort hat mir davon gesagt; eine Lähmung, glaube ich.

Ach! ja, der arme Greis ist jederBewegung unfähig, die Seele allein wacht in dieser menschlichen Maschine, aber ebenfallsbleich und zitternd, und wie eine Lampe, die dem Erlöschen nahe ist. Doch verzeihen Sie, mein Herr, daß ich Sie mit unserem häuslichen Unglück unterhalte. Ich unterbrach Sie in dem Augenblick, wo Sie mir sagten, Sie seien ein geschickter Chemiker.

Oh! das sagte ich nicht, gnädige Frau, entgegnete lächelnd der Graf; im Gegenteil, ich studierte die Chemie, weil ich, entschlossen, im Orient zu leben, dasBeispiel des Königs Mithridatesbefolgen wollte.

Mithridates, rex Ponticus, rief der junge Naseweis, während er Silhouetten aus einem herrlichen Album schnitt, derselbe, der jeden Morgen eine Tasse Gift mit Rahm frühstückte.

Eduard, abscheuliches Kind, laß uns allein! rief Frau von Villefort, das verstümmelteBuch den Händen des Knaben entreißend, und führte ihn zur Tür. Suche deine Schwesterbei dem guten Papa Noirtier auf.

Der Graf folgte ihr mit den Augen und murmelte: Ich will doch sehen, obsie die Tür hinter ihm schließt.

Frau von Villefort schloß die Tür mit der größtenBehutsamkeit hinter ihrem Sohne, der Graf gabsich den Anschein, alsbemerkte er es nicht. Dann schaute die junge Frau noch einmal aufmerksam umher und setzte sich wieder.

Erlauben Sie mir, Ihnen zubemerken, gnädige Frau, sagte der Graf mit gutmütigem Tone, erlauben Sie mir, Ihnen zubemerken, daß Sie sehr streng gegen diesen reizenden Jungen sind.

Ich muß wohl, Herr Graf, erwiderte Frau von Villefort mit einem wahrhaft mütterlichen Ausdrucke.

Herr Eduard rezitierte seinen Cornelius Nepos, als er vom König Mithridates sprach, und Sie unterbrachen ihnbei Anführung einer Stelle, wodurch erbewies, daß sein Lehrer die Zeit nicht mit ihm verloren hat.

Es ist nicht zu leugnen, Herr Graf, sagte die Mutter geschmeichelt, daß er alles lernt, was er lernen will. Er hat nur den Fehler, daß er zu eigensinnig ist. Doch um auf das zu kommen, was er vorhin sagte, glauben Sie, Herr Graf, daß sich Mithridates dieser Vorsichtsmaßregelnbediente, und daß dieselben wirksam sind?

Ich glaube so sehr daran, gnädige Frau, daß ich selbst, der ich mit Ihnen spreche, in Neapel, in Palermo und in Smyrna, das heißt, bei drei Veranlassungen, wo ich ohne diese Vorsichtsmaßregeln mein Leben hätte lassen können, davon Gebrauch gemacht habe.

Ja, es ist wahr; ich erinnere mich, daß Sie mirbereits etwas Ähnliches in Perugia erzählten.

Wirklich? rief der Graf mit einembewunderungswürdig gespielten Erstaunen; ich entsinne mich dessen nicht. Es ist wahr, ich habe Russen, ohne im geringsten dadurchbelästigt zu werden, vegetabilische Substanzen verschlingen sehen, die unfehlbar einen Neapolitaner oder einen Araber umgebracht hätten.

Sie glauben also, der Erfolg seibei uns noch sicherer, als im Orient, und in unserm nebeligen und regnerischen Klima gewöhne sich ein Mensch leichter an diese stufenweise Einsaugung des Giftes als in der heißen Zone?

Allerdings: doch wohl verstanden, man wird nur gegen das Gift geschützt sein, an das man sich gewöhnt hat?

Ichbegreife; und wie würden Sie sich daran gewöhnen oder vielmehr, wie haben Sie sich daran gewöhnt?

Das ist ganz leicht. Nehmen Sie an, Sie wüßten zum voraus, welches Giftes man sich gegen Siebedienen will, nehmen Sie an, dieses Gift sei…Brucin zumBeispiel.

DasBrucin zieht man, glaube ich, aus der falschen Angosturarinde, sagte Frau von Villefort.

Ganz richtig, gnädige Frau; aber ich sehe, ichbrauche Sie nicht mehr viel zu lehren, und mache Ihnen mein Kompliment; solche Kenntnisse sind seltenbei Frauen.

Oh! ich gestehe, erwiderte Frau von Villefort, ich habe die heftigste Leidenschaft für die verborgenen Wissenschaften, die wie Poesie zur Einbildungskraft sprechen und sich wie eine algebraische Gleichung in Ziffern auflösen; ichbitte Sie, fahren Sie fort! Was Sie mir sagen, interessiert mich im höchsten Grade.

Nun wohl, fuhr Monte Christo fort, nehmen Sie an, dieses Gift seiBrucin, und Sie nehmen am ersten Tage ein Milligramm, am zweiten zwei Milligramm, so haben Sie nach Verlauf von zehn Tagen ein Zentigramm, nach Verlauf von weiteren zwanzig Tagen drei Zentigramm, das heißt eine Dosis, diebereits für eine nicht ebenso vorbereitete Person sehr gefährlich wäre. Nach Verlauf eines Monats endlich werden Sie, wenn Sie Wasser aus derselben Flasche trinken, die Person töten, die zugleich mit Ihnen von diesem Wasser getrunken hat, ohne an etwas anderem als an einer leichten Unbehaglichkeit wahrzunehmen, daß irgend eine giftige Substanz mit dem Wasser vermischt gewesen ist.

Sie kennen kein anderes Gegengift?

Ich kenne keines.

Ich habe oft Mithridates' Geschichte gelesen, hielt sie aber stets für eine Fabel, sagte Frau von Villefort nachdenkend.

Nein, es ist ausnahmsweise eine Wahrheit; doch was Sie mich da fragen, gnädige Frau, ist nicht das Resultat einerbloßen Laune, denn Sie richtetenbereits vor zwei Jahren ähnliche Fragen an mich, und Sie sagen mir soeben, seit langer Zeitbeschäftige Sie Mithridates' Geschichte.

Es ist wahr, die Lieblingsstudien meiner Jugend warenBotanik und Mineralogie, und als ich später erfuhr, die Anwendung einfacher Heilmittel erkläre häufig die ganze Geschichte der Völker und das ganze Leben der Menschen des Orients, sobedauerte ich, daß ich kein Mannbin, um ein Fontana oder ein Cabanis zu werden.

Um so mehr, versetzte Monte Christo, als die Orientalen sich, nicht, wie Mithridates, damitbegnügen, sich aus den Giften einen Panzer zu machen, sondern sich auch einen Dolch darausbilden. Die Wissenschaft wird in ihren Händen nicht allein eine Verteidigungs-, sondern häufig auch eine Angriffswaffe, die eine dient gegen die physischen Leiden, die andere gegen ihre Feinde; mit dem Opium, mit derBelladonna, mit dem Haschisch verschaffen sie sich im Traume das Glück, das ihnen Gott in Wirklichkeit verweigert hat; mit dem Schlangenholz, mit dem Kirschlorbeer schläfern sie die ein, die sie gern stumm machen wollen.

Wirklich! rief Frau von Villefort, deren Augenbei diesem Gespräche von einem seltsamen Feuer erglänzten.

Ei, mein Gott! ja, gnädige Frau, fuhr Monte Christo fort, die geheimen Dramen des Orients entstehen und entwickeln sich so: von der Pflanze, die Liebe erregt, bis zur Pflanze, die den Todbringt; von dem Tranke, der den Himmel öffnet, bis zu dem, der einen Menschen in die Hölle versenkt; und die Kunst dieser Chemiker versteht esbewundernswert, das Mittel und das Übel den Liebesbedürfnissen und dem Verlangen der Rache anzupassen.

Aber, mein Herr, die orientalische Gesellschaft, in deren Mitte Sie einen Teil Ihres Lebens zugebracht haben, ist also wirklich phantastisch wie die Märchen, die aus Ihrem schönen Lande zu uns kommen? Ein Mensch kann dort ungestraft aus dem Wege geschafft werden? Die Sultane sind in der Tat Harun al Raschids, die nicht nur einem Giftmischer vergeben, sondern ihn sogar zum ersten Minister machen, wenn das Verbrechen geistreich ist?

Nein, gnädige Frau, das Phantastischebesteht nicht einmal mehr im Orient, es gibt auch dort, unter anderen Namen und unter anderen Kostümen Polizeikommissare, Untersuchungsrichter, Staatsanwälte und Sachverständige. Man hängt, man köpft, man spießt dort die Verbrecher nach Herzenslust; aber als gewandteBetrüger wußten diese Leute die menschliche Gerechtigkeit zu vereiteln und sich den Erfolg ihrer Unternehmungen durch geschickteBerechnungen zu sichern. Willbei uns der vombösen Geist des Hasses oder der HabgierBesessene einen Feind vernichten oder einen Verwandten auf die Seite schaffen, so geht er zum Apotheker, gibt einen falschen Namen an, durch den er leichter entdeckt wird, als durch seinen wahren, und kauft, unter dem Vorwande, Ratten störten ihn im Schlafe, fünfbis sechs Gramm Arsenik. Ist er sehr geschickt, so geht er zu fünfbis sechs Apothekern und wird nun fünf‑bis sechsmal leichter erkannt. Besitzt er dann sein spezifisches Mittel, so flößt er seinem Feinde, seinem Verwandten eine Dosis Arsenik ein, wovon ein Mammut umkommen würde, so daß das Opfer ohne alles weitere ein Gebrüll ausstößt, worüber die ganze Gegend in Aufruhr gerät. Dann kommt eine ganze Heerschar von Polizeiagenten und Gendarmen; man schickt nach einem Arzte, der den Toten öffnet und in seinen Eingeweiden das Arsenik mit Löffeln sammelt. Am andern Tag erzählen hundert Zeitungen dieBegebenheit, samt dem Namen des Opfers und des Mörders. Schon an demselben Abend kommen die Apotheker und sagen: Ich habe das Arsenik an den Herrn verkauft; und dann wird der einfältige Verbrecher verhaftet, eingekerkert, verhört, konfrontiert, verurteilt und guillotiniert; ist es aber eine Frau von einigerBedeutung, so wird sie auf Lebenszeit eingesperrt. So verstehen Ihre Nordländer die Chemie, gnädige Frau.

Was wollen Sie! rief lachend die junge Frau, man tut, was man kann. Nicht alle Weltbesitzt das Geheimnis der Medici oder derBorgia.

Wie ist es aber im Orient, gnädige Frau? Kommen Sie nach Aleppo oder auch nur nach Neapel und Rom, und Sie sehen durch die Straßen aufrechte, frische Menschen schreiten, von denen ihnen der hinkende Teufel sagen könnte: Dieser Herr ist seit drei Wochen vergiftet und wird in einem Monat völlig tot sein.

Sie haben also das Geheimnis derberüchtigten Aqua Tofana wiedergefunden, von dem man mir in Perugia sagte, es sei verloren gegangen?

Ei, mein Gott! verliert sich etwasbei den Menschen, gnädige Frau? Die Künste rücken von der Stelle und wandern durch die Welt; die Dinge verändern nur ihren Namen, und der gemeine Haufe läßt sich dadurch täuschen; aber es ist immer dasselbe Resultat. Jedes Gift wirktbesonders auf dieses oder jenes Organ, das eine auf den Magen, das andere auf das Gehirn, und wieder ein anderes auf die Eingeweide. Gut, das Giftbewirkt einen Husten, dieser Husten eineBrustentzündung oder irgend eine andere Krankheit, die imBuche der Wissenschaft eingetragen ist, was sie aber nicht abhält, vollkommen tödlich zu sein. Wäre sie es nicht, so würde sie es durch die Mittel, welche die naiven Ärzte, gewöhnlich sehr schlechte Chemiker, anwenden; und so ist ein Mensch mit Kunst und nach allen Regeln getötet, wogegen die Justiz nichts einzuwenden hat, wie einer meiner Freunde, ein furchtbarer Chemiker, der ausgezeichnete Abbé Adelmonte von Taormina in Sizilien, sagte.

Das ist schrecklich, aberbewunderungswürdig, ich muß gestehen, ich hielt alle diese Geschichten für Erfindungen des Mittelalters. Es ist ein Glück, sagte Frau von Villefort, daß solche Substanzen nur von Chemikernbereitet werden können, denn, in der Tat, die eine Hälfte der Welt würde die andere vergiften.

Durch Chemiker oder durch Personen, die sich mit der Chemiebeschäftigen, erwiderte mit gleichgültigem Tone Monte Christo.

Und dann, sagte Frau von Villefort, sich mit aller Gewalt ihren Gedanken entreißend, so geistreich es auch ausgeführt sein mag, sobleibt das Verbrechen doch immer Verbrechen, und wenn es der menschlichen Nachforschung entgeht, so entgeht es nicht dem Auge Gottes. Die Orientalen sind gewissenloser als wir; sie kennen keine Hölle. Bei uns aberbleibt immer das Gewissen noch übrig.

Ja, ja, erwiderte Monte Christo, zum Glückbleibt das Gewissen noch übrig, sonst wären wir sehr unglücklich. Nach jeder etwas kräftigen Handlung rettet uns das Gewissen, denn es liefert uns tausend gute Entschuldigungen, über die wir allein zu Gericht sitzen, und diese Gründe, so vortrefflich sie auch sein mögen, um uns den Schlaf zu gestatten, wären doch vielleicht nicht viel wert, wenn sie uns vor einem Tribunal das Leben retten sollten. So mußte Richard III. vortrefflich von seinem Gewissenbedient sein, nachdem er die Kinder Eduards IV. auf die Seite geschafft hatte. Er konnte sich in der Tat sagen: Diese Kinder eines grausamen und rachsüchtigen Königs hatten alle Laster ihres Vaters geerbt, was ich allein in ihren jugendlichen Neigungen zu erkennen imstande war, diese Kinder hinderten mich, das englische Volk glücklich zu machen, das sie unfehlbar unglücklich gemacht hätten. So wurde Lady Macbeth von ihrem Gewissenbedient, denn sie wollte, was auch Shakespeare gesagt hat, nicht ihrem Gemahle, sondern ihrem Sohne einen Thron geben. Ah! die mütterliche Liebe ist eine große Tugend, eine so mächtige Triebfeder, daß sie gar viele Dinge entschuldigt; Lady Macbeth wäre auch nach dem Tode Duncans ohne ihr Gewissen eine sehr unglückliche Frau gewesen.

Frau von Villefort nahm mit größter Gier diese furchtbaren Grundsätze, diese schauderhaftenBehauptungen in sich auf, die der Graf mit der ihm eigentümlichen naiven Ironie aussprach.

Nach einem Augenblick des Stillschweigens sagte sie: Wissen Sie, Herr Graf, daß Sie ein furchtbarer Geist sind, und daß Sie die Welt unter einem etwas leichenfarbigen Lichte ansehen? Haben Sie dieses Urteil über die Menschheit gewonnen, indem Sie sie durch Destillierkolben und Retortenbetrachteten? Denn Sie hatten recht, Sie sind ein großer Chemiker, und das Elixier, das Sie meinen Sohn nehmen ließen, rief ihn so schnell zum Leben zurück…

Oh! trauen Sie ihm nicht, sagte Monte Christo, ein Tropfen von diesem Elixier genügte, um den sterbenden Knaben ins Leben zurückzurufen; aber drei Tropfen hätten dasBlut so nach seiner Lunge getrieben, daß sein Herz gar gewaltig geschlagen hätte; sechs hätten ihm den Atem versetzt und eine viel ernstere Ohnmacht verursacht, als die war, in der Sie ihn erblickten, und zehn würden ihn getötet haben. Sie wissen, gnädige Frau, wie rasch ich ihn von den Flaschen entfernte, die er unklugerweiseberührte?

Es ist also ein furchtbares Gift?

Oh, mein Gott! nein! Räumen wir vor allem das Wort Giftbeiseite, denn manbedient sich in der Medizin der stärksten Gifte, die durch die Art, wie man sie anwendet, sehr heilsame Arzneimittel werden.

Was war es denn?

Ein geistreiches Präparat von meinem Freunde, dem vortrefflichen Adelmonte, dessen Anwendung er mich gelehrt hat.

Das muß ein vortreffliches Mittel gegen Krämpfe sein!

Ausgezeichnet, gnädige Frau, ich mache häufig Gebrauch davon; versteht sich mit aller möglichen Vorsicht, fügte der Graf lachend hinzu.

Ich glaube es wohl, versetzte Frau von Villefort in demselben Tone. Ich meinesteils, die so sehr zu Ohnmächten geneigt ist, könnte wohl einen Doktor Adelmontebrauchen, der mir Mittel ersänne, daß ich frei atmen und mich über die Gefahr, eines Tags an Erstickung zu sterben, beruhigen könnte. Da jedoch die Sache in Frankreich schwer zu finden ist und Ihr Abbé mir zuliebe wohl nicht geneigt sein wird, die Reise nach Paris zu machen, so halte ich mich an die krampfstillenden Mittel des HerrnBlanche; auch Minze und Hoffmannsche Tropfen spielen eine große Rollebei mir. Sehen Sie die Pastillen, die ich mirbesonders machen lasse, sind von doppelter Dosis.

Monte Christo eröffnete die Schildpattbüchse, die ihm die junge Frau reichte, und zog den Geruch der Pastillen als ein würdiger Kenner dieses Präparates ein.

Sie sind ausgezeichnet, sagte er, aber sie müssen verschluckt werden, wozu die ohnmächtige Person oft nicht mehr imstande ist. Mein Spezifikum ist mir lieber.

Nach der Wirkung, die ich davon gesehen habe, würde ich es gewiß auch vorziehen, doch es ist ohne Zweifel ein Geheimnis, und ichbin nicht unbescheiden genug, Sie darum zubitten.

Aber ich, gnädige Frau, sagte Monte Christo, gestatte mir, es Ihnen anzubieten.

Oh, mein Herr…

Nur erinnern Sie sich, daß eine kleine Dosis ein Heilmittel, eine große Gift ist. Ein Tropfenbringt wieder zum Leben, fünf oder sechs müßten unfehlbar töten, und zwar auf eine um so schrecklichere Weise, als sie in einem Glase Wein nicht im geringsten den Geschmack verändern. Doch ich schweige, gnädige Frau, denn es siehtbald so aus, als wollte ich Ihnen raten.

Es hatte halbsieben Uhr geschlagen; man meldete eine Freundin der Frau von Villefort, die mit ihr zu Mittag speisen sollte.

Wenn ich die Ehre hätte, Sie zum dritten oder vierten Male, statt zum zweiten Male zu sehen, Herr Graf, sagte Frau von Villefort, wenn ich die Ehre hätte, mich Ihre Freundin nennen zu dürfen, statt nur einfach das Glück zu haben, Ihnen verbunden zu sein, so würde ich daraufbestehen, Siebeim Mittagsessen zubehalten, und ließe mich nicht durch eine Weigerung abweisen.

Tausend Dank, gnädige Frau, erwiderte Monte Christo, ich habe selbst eine Verbindlichkeit, der ich mich nicht entziehen kann. Ich versprach einer mirbefreundeten griechischen Fürstin, die noch nie die große Oper gesehen hat und in dieser Hinsicht auf mich zählt, sie ins Theater zu führen.

Gehen Sie, Herr Graf, aber vergessen Sie mein Rezept nicht!

Wie, gnädige Frau, dazu müßte ich die Stunde vergessen, die ich mit Ihnen im Gespräche zugebracht habe, und das ist völlig unmöglich. Der Graf von Monte Christo verbeugte sich und verließ den Salon.

Frau von Villefortbliebin Träume versunken.

Wahrlich, ein seltsamer Mann! sagte sie, er sieht mir ganz aus, als hieße er mit seinem wirklichen Namen Adelmonte.

Was Monte Christobetrifft, so hatte der Erfolg seine Erwartungen übertroffen.

Das ist ein guterBoden, sagte er im Weggehen zu sich selbst, ichbin überzeugt, daß das Korn, das man daraus fallen läßt, nicht unfruchtbarbleibt.

Und am andern Tage schickte er seinem Versprechen getreu das verlangte Elixier.

Robert der Teufel

Der Vorwand des Opernbesuchs war um so näherliegend, als am Abend eine Feierlichkeit in der Akademie royale de Musique stattfinden sollte.

Morcerf hatte, wie die meisten reichen jungen Leute, seinen Orchestersperrsitz und konnte außerdem in zehn Logen von Personen seinerBekanntschaft einen Platz haben. Chateau‑Renaud hatte seinen Sperrsitz zunächstbei ihm. Beauchamp hatte als Journalist seinen Platz überall.

Lucien Debray war an diesem Tage die Loge des Ministers zur Verfügung gestellt, und er hatte sie dem Grafen von Morcerf angeboten, der auf Mercedes' Ablehnung zu Danglars schickte und ihm sagen ließ, er würde wahrscheinlich am Abend derBaronin und ihrer Tochter einenBesuch machen, wenn die Damen die Loge, die er ihnen antrage, annehmen wollten. Die Damen hüteten sich wohl, die Einladung auszuschlagen. Niemand ist so lüstern nach Logen, die nichts kosten, als ein Millionär. Was Danglarsbetrifft, so erklärte dieser, seine politischen Grundsätze und seine Eigenschaft als oppositioneller Abgeordneter erlaubten ihm nicht, in die Loge des Ministers zu gehen. DieBaronin schriebsogleich Lucien, er möge sie abholen, da sie nicht allein mit Eugenie in die Oper fahren könnte.

In der Tat, wären diebeiden Frauen allein gekommen, so hätte man das sicherlich sehr anstößig gefunden. Wenn aber Fräulein Danglars mit ihrer Mutter und deren Liebhaber erschien, so war dagegen nichts einzuwenden; man muß die Welt nehmen, wie sie ist.

Ah! ah! sagte Chateau‑Renaud, dort sind Personen IhrerBekanntschaft, Vicomte. Was zum Teufel schauen Sie denn rechts! Man sieht Sie.

Albert wandte sich um, und seine Augenbegegneten wirklich denen derBaronin Danglars, die ihn leicht mit dem Fächerbegrüßte. Was Fräulein Eugeniebetrifft, so senkten sich ihre großen, schwarzen Augen kaumbis zum Orchester.

In der Tat, mein Lieber, fuhr Chateau‑Renaud fort, ichbegreife nicht, was Sie, abgesehen von der Mesalliance, gegen Fräulein Danglars einzuwenden haben; es ist wirklich eine sehr hübsche Person.

Allerdings sehr hübsch, erwiderte Albert; doch ich muß Ihnen gestehen, daß ich inBeziehung auf Schönheit etwas Milderes, Zarteres, Weiblicheres vorziehen würde.

So sind die jungen Leute, versetzte Chateau‑Renaud, der sich als ein Mann von dreißig Jahren Morcerf gegenüber ein väterliches Ansehen gab; Sie sind nie zufrieden. Wie, mein Lieber, man findet für Sie eineBraut, die nach dem Muster Dianas geschaffen scheint, und Sie fühlen sich dadurch nichtbefriedigt!

Das ist es gerade, ich hätte mir lieber etwas in der Art der Venus von Milo gewünscht. Stets mitten unter ihren Nymphen, erschreckt mich diese Diana ein wenig; ich fürchte, sie könnte mich als Actäonbehandeln.

In der Tat, einBlick auf das Mädchen erklärte zum Teil Morcerfs Gefühl. Fräulein Danglars war schön, aber von einer etwas starren Schönheit. Ihre Haare waren sehr schwarz, doch in ihren natürlichen Wellenbemerkte man einen gewissen Widerstand gegen die Hand, die ihnen ihren Willen aufnötigen wollte; ihre Augen, schwarz wie die Haare, überwölbt von herrlichenBrauen, die nur den Fehler hatten, daß sie sich zuweilen zusammenzogen, warenbesonders merkwürdig durch einen Ausdruck von Festigkeit, den man in demBlicke eines Mädchens erstaunlich finden mußte. Ihr Mund war etwas groß, aber mit schönen Zähnen geschmückt, welche ihre Lippen nochbedeutend hervorhoben, deren zu lebhaftes Rot von derBlässe ihrer Gesichtsfarbe stark abstach. Ein schwarzes Mal endlich an der Ecke des Mundes verlieh vollends dieser Physiognomie den entschiedenen Charakter, der Morcerf ein wenig erschreckte. Alles übrige an ihr stand indessen im Einklang mit dem Kopf. Sie war, wie Chateau‑Renaud sagte, die jagende Diana, nur mit etwas noch Festerem, noch Muskulöserem in ihrer Schönheit.

Ihre Erziehung schien, wie gewisse Züge ihrer Physiognomie, einen mehr männlichen Charakter zu tragen. Sie sprach mehrere Sprachen, zeichnete sehr leicht, machte Verse und komponierte; besonders leidenschaftlich war sie für die Musik eingenommen, die sie mit einer ihrer Freundinnen aus der Pension studierte, einer jungen Person ohne Vermögen, die jedoch alle Anlagen hatte, eine vortreffliche Sängerin zu werden. Ein großer Komponist hegte, wie man sagte, für sie eine mehr als väterliche Teilnahme, und hatte ihr die Hoffnung eingeflößt, sie würde eines Tags ein Kapital in ihrer Stimme finden.

Die Möglichkeit, daß Fräulein Lucie d'Armilly, so hieß die junge Künstlerin, später einmal auf derBühne auftrat, veranlaßte Fräulein Danglars, wenn sie auch das junge Mädchenbei sich empfing, sich doch nie öffentlich in seiner Gesellschaft zu zeigen. Ohne indessen in dem Hause desBankiers die unabhängige Stellung einer Freundin der Tochter des Hauses zu haben, nahm Lucie immerhin einen höheren Rang ein, als den einer gewöhnlichen Lehrerin.

Einige Sekunden nach dem Eintritt derBaronin Danglars sahen die jungen Leute, daß das Parterre sich erhoben hatte und aller Augen sich auf einen Punkt richteten; ihreBlicke folgten der allgemeinen Richtung und hafteten an der Loge des ehemaligen russischenBotschafters. Ein Mann in schwarzer Kleidung von etwa vierzig Jahren war mit einer Frau in orientalischem Kostüm eingetreten. Die Frau war von der höchsten Schönheit und das Kostüm auffallend reich.

Ah! rief Albert, es ist Monte Christo mit seiner Griechin.

Es waren wirklich der Graf und Haydee. Nach weniger als einer Minute war die junge Frau der Gegenstand der Aufmerksamkeit des ganzen Saales; die Frauen neigten sich aus ihren Logen heraus, um unter dem Feuer des Kronenleuchters diese Kaskade von Diamanten funkeln zu sehen.

Der zweite Akt ging unter dem dumpfen Geräusche vorüber, dasbei versammelten Massen ein großes Ereignis andeutet. Niemand dachte daran, Stillschweigen zu fordern. Diese junge, schöne, blendende Frau war das seltsamste Schauspiel, das man sehen konnte.

Diesmal deutete ein Zeichen von Frau Danglars Albert unzweideutig an, daß er erwartet werde. Sobald der Aktbeendigt war, eilte er auf die Vorbühne. Erbegrüßte diebeiden Frauen und reichte Debray die Hand.

DieBaronin empfing ihn mit reizendem Lächeln und Eugenie mit ihrer gewöhnlichen Kälte.

Meiner Treu, Freund, sagte Debray, Sie sehen in mir einen ganz erschöpften Menschen, der Sie um Hilfe ruft, um wieder zu Kräften zu kommen. Die FrauBaronin drückt mich zuBoden mit Fragen über den Grafen, und ich soll wissen, von wo er ist, woher er kommt und wohin er geht; ichbin, bei Gott, kein Cagliostro, und um mich aus der Klemme zu ziehen, sagte ich: Fragen Sie Morcerf, er kennt seinen Monte Christo an den Fingern auswendig. Hierauf machte man Ihnen ein Zeichen.

Ist es denn glaublich, sagte dieBaronin, daß man, wenn man eine halbe Million geheime Fonds zur Verfügung hat, nichtbesser unterrichtet ist?

Gnädige Frau, entgegnete Lucien, ichbitte Sie, zu glauben, daß ich, wenn ich eine halbe Million zu meiner Verfügung hätte, sie zu etwas anderem verwenden würde, als über Herrn Monte Christo Erkundigungen einzuziehen, denn in meinen Augen hat er kein anderes Verdienst, als daß er zweimal so reich ist, als ein Nabob. Ich habe meinem Freunde Morcerf das Wort abgetreten, besprechen Sie sich mit ihm… mich geht es nichts mehr an.

Ein Nabobhätte mir sicherlich nicht ein Paar Pferde von dreißigtausend Franken, nebst vier Diamanten an den Ohren, von denen jeder fünftausend Franken wert ist, zugeschickt!

Oh! was die Diamantenbetrifft, erwiderte lachend Morcerf, das ist seine Manie. Ich glaube, daß er, wie Potemkin, stets Diamanten in seinen Taschen trägt und sie auf seinem Wege ausstreut, wie es der kleine Däumling mit seinen Kieselsteinen machte.

Er wird eine Mine gefunden haben, sagte Frau Danglars. Sie wissen, daß er einen unumschränkten Kredit auf das Haus desBarons hat.

Nein, das wußte ich nicht, aber es muß so sein, versetzte Albert.

Und daß er Herrn Danglars ankündigte, er gedenke, ein Jahr in Paris zubleiben und hier sechs Millionen auszugeben!

Er ist der Schah von Persien, der inkognito reist.

Und diese Frau, Herr Lucien, fragte Eugenie, haben Siebemerkt, wie schön sie ist?

In der Tat, mein Fräulein, ich kenne niemand, der den Personen Ihres Geschlechts so volle Gerechtigkeit widerfahren läßt, wie Sie.

Lucien hielt sein Lorgnon an das Auge und rief: Reizend, in der Tat, reizend!

Und weiß Herr von Morcerf, wer sie ist?

Mein Fräulein, sagte Albert, auf diese fast unmittelbare Aufforderung erwidernd; ich weiß es so ungefähr, wie alles, was die geheimnisvolle Personbetrifft, mit der wir unsbeschäftigen. Diese Frau ist eine Griechin.

Das sieht man leicht an ihrer Tracht, und Sie sagen mir nichts, was nichtbereits der ganze Saal so gut wüßte, wie wir.

Es tut mir leid, daß ich ein so unwissender Ciceronebin, entgegnete Morcerf; doch ich muß gestehen, daß sich meine Kenntnisse hieraufbeschränken. Ich weiß überdies nur noch, daß sie vortrefflich musikalisch ist, denn als ich eines Tagesbei dem Grafen frühstückte, hörte ich die Töne einer Guzla, die nur von ihr kommen konnten.

Ihr Graf empfängt also? fragte Frau Danglars.

Und zwar auf eine glänzende Weise, das schwöre ich Ihnen.

Ich muß Herrn Danglarsbewegen, ihn zum Diner und zumBall einzuladen, damit er uns ähnlichesbietet.

Wie! Sie wollen ihnbesuchen? sagte Debray lachend.

Warum nicht? Mit meinem Manne!

Aber der geheimnisvolle Graf ist Junggeselle.

Sie sehen, daß dies nicht der Fall ist, entgegnete dieBaronin, ebenfalls lachend und auf die schöne Griechin deutend.

Diese Frau ist eine Sklavin, wie er uns, Sie erinnern sich, Morcerf, bei Ihrem Frühstück selbst gesagt hat?

Gestehen Sie, mein lieber Lucien, sagte dieBaronin, daß sie vielmehr das Aussehen einer Prinzessin hat.

Aus Tausendundeiner Nacht.

Aus Tausendundeiner Nacht, das sage ich nicht; doch was macht eine Prinzessin aus, mein Lieber? Die Diamanten, und damit ist sie zur Genügebedeckt.

Sie hat sogar zu viele Diamanten an sich, sagte Eugenie; sie wäre schöner ohnedies, denn man würde ihren Hals und ihre reizend geformten Handgelenke sehen. Oh, die Künstlerin! Sehen Sie, wie leidenschaftlich sie wird! sagte Frau Danglars.

Ich liebe alles, was schön ist, sagte Eugenie.

Aber was sagen Sie denn zu dem Grafen? fragte Debray, es scheint mir, er ist auch nicht übel.

Der Graf, entgegnete Eugenie, als wäre es ihr noch nicht eingefallen, ihn anzuschauen, der Graf ist sehrbleich.

Gerade in dieserBlässe liegt das Geheimnis, das wir suchen, sagte Morcerf. Die Ihnenbekannte Gräfin die dort in der Seitenloge sitzt, behauptet, wie Sie wissen, er sei ein Vampir.

Morcerf, Sie sollten Ihrem Grafen von Monte Christo einenBesuch machen und ihn zu unsbringen, sagte Frau Danglars.

Warum? fragte Eugenie.

Damit wir mit ihm sprechen könnten; bist du nichtbegierig, ihn zu sehen?

Nicht im geringsten.

Seltsames Kind! murmelte dieBaronin.

Oh! er wird wohl von selbst kommen, sagte Morcerf. Er hat Sie gesehen, gnädige Frau, und grüßt Sie soeben.

DieBaronin gabdem Grafen seinen Gruß mit einem reizenden Lächeln zurück.

Wohl, ich opfere mich, sagte Morcerf; ich verlasse Sie und will sehen, obes nicht möglich ist, mit ihm zu sprechen.

Das ist ganz einfach, gehen Sie in seine Loge.

Ichbin nicht vorgestellt.

Wem?

Der schönen Griechin.

Es ist eine Sklavin, sagen Sie.

Doch Siebehaupten, es sei eine Prinzessin… Nein!.. ich hoffe, wenn er mich hinausgehen sieht, wird er auch hinausgehen.

Es ist möglich. Gehen Sie!

Ich gehe, sagte Morcerf und ging hinaus. In dem Augenblick, wo er an der Loge des Grafen vorüberkam, öffnete sich wirklich die Tür; der Graf sagte einige arabische Worte zu Ali, der im Flur stand, und nahm Morcerf am Arme.

Ali schloß die Tür wieder und stellte sich davor; esbildete sich im Gange eine ganze Versammlung um den Nubier.

In der Tat, sagte Monte Christo, Ihr Paris ist eine seltsame Stadt, und Ihre Pariser sind ein seltsames Volk. Schauen Sie, wie sie sich um Ali drängen, der nicht weiß, was dasbedeuten soll.

Glauben Sie mir, daß sich Ali dieser Popularität nur erfreut, weil er Ihnen gehört und Sie in diesem Augenblick der Mann der Mode sind.

Wirklich? Und was erwirbt mir diese Gunst?

Bei Gott! Sie selbst. Sie verschenken Gespanne von tausend Louisd'or; Sie retten Staatsanwaltsfrauen das Leben; Sie lassen unter dem Namen MajorBlack Vollblutpferde mit Jockeys so groß wie Quistitis rennen.

Und wer zum Teufel hat Ihnen alle diese Tollheiten erzählt?

Zuerst, Frau Danglars, die vor Verlangen stirbt, Sie in Ihrer Loge zu sehen; sodann das Journal vonBeauchamp und endlich meine eigene Einbildungskraft. Warum nennen Sie Ihr Rennpferd Vampa, wenn Sie das Inkognitobehaupten wollen?

Ah! Sie haben recht, das war eine Unklugheit. Doch sagen Sie mir, kommt der Graf von Morcerf nicht auch zuweilen in die Oper? Ich habe ihn überall mit den Augen gesucht und nirgendsbemerkt.

Ich glaube, er wird heute abend in die Loge derBaronin kommen.

Die reizende Person, welchebei ihr sitzt, ist ihre Tochter?

Ja.

Ich mache Ihnen mein Kompliment. Doch mein lieber Graf, wir sprechen später hiervon. Was sagen Sie aber zu der Musik? Morcerf lächelte und erwiderte: Zu welcher Musik?

Zu der, die Sie soeben gehört haben.

In diesem Augenblick ertönte das Glöckchen.

Sie werden mich entschuldigen, sagte der Graf, nach seiner Loge zurückkehrend.

Wie, Sie gehen?

Sagen Sie der Gräfin G…, wenn Sie sie sprechen, viel Schönes von ihrem Vampir.

Und derBaronin?

Ich werde die Ehre haben, wenn sie es mir erlaubt, ihr heute abend meine Aufwartung zu machen.

Während des dritten Aktes fand sich der Graf von Morcerf, wie er versprochen hatte, bei Frau Danglars ein. Der Graf war keiner von den Menschen, die in einem Saale einen Aufruhr hervorbringen; auchbemerkte niemand seine Ankunft außer den Personen in seiner Loge.

Monte Christo sah ihn indessen, und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.

Haydee sah nichts, solange der Vorhang ausgezogen war; wie jede Urnaturbetete sie alles an, was zum Ohr und zum Gesicht spricht.

Nach dem dritten Akt verließ der Graf seine Loge und erschien einen Augenblick nachher in der derBaronin Danglars.

DieBaronin konnte sich nicht enthalten, einen Schrei freudigen Erstaunens auszustoßen.

Ah! Sie kommen, Herr Graf, rief sie; es drängte mich in der Tat, meinen mündlichen Dank dem schriftlichen hinzuzufügen, den ichbereitsbei Ihnen abgestattet habe.

Oh! gnädige Frau! Sie erinnern sich noch dieser Kleinigkeit? Ich hatte siebereits vergessen, sagte der Graf.

Ja; aber das vergißt man nicht, Herr Graf, daß Sie am andern Tage meine arme Freundin aus der Gefahr errettet haben, der sie durch eben diese Pferde preisgegeben war.

Auch diesmal, gnädige Frau, verdiene ich Ihren Dank nicht; es war Ali, mein Nubier, der das Glück hatte, Frau von Villefort diesen ausgezeichneten Dienst zu leisten.

War es auch Ali, der meinen Sohn den Händen der römischenBanditen entriß? sagte der Graf von Morcerf.

Nein, Herr Graf, sagte Monte Christo, die Hand drückend, die ihm der General reichte, nein, diesmal nehme ich den Dank für meine Rechnung an; aber Sie haben mir diesen Dankbereits abgestattet, und ich habe ihn angenommen, und esbeschämt mich in der Tat, daß ich Sie noch erkenntlich finde. Ichbitte Sie, erweisen Sie mir die Ehre, FrauBaronin, mich Ihrer Fräulein Tochter vorzustellen.

Oh! Sie sind schon vorgestellt, wenigstens dem Namen nach, denn seit einigen Tagen sprechen wir nur von Ihnen. Eugenie, fuhr dieBaronin, sich gegen ihre Tochter umwendend, fort, der Herr Graf von Monte Christo.

Der Graf verbeugte sich; Fräulein Danglars machte eine leichteBewegung mit dem Kopfe.

Sie haben einebewunderungswürdige Personbei sich, sagte Eugenie, ist es Ihre Tochter?

Nein, mein Fräulein, erwiderte Monte Christo, erstaunt über diese außerordentliche Offenherzigkeit oder diese merkwürdige Entschiedenheit, es ist eine arme Griechin, deren Vormund ichbin.

Und sie heißt?

Haydee, antwortete Monte Christo.

Eine Griechin! murmelte der Graf von Morcerf.

Ja, Graf, sagte Frau Danglars, sagen Sie mir, obSie je an dem Hofe von Ali Pascha Tependelini, dem Sie so glorreich dienten, eine so herrliche Tracht gesehen haben, wie die, welche wir hier vor Augen haben?

Ah! Sie haben in Janina gedient, Herr Graf?

Ich war Generalinstruktor der Truppen des Paschas, antwortete Morcerf, und ich mache kein Geheimnis daraus, daß mein geringes Vermögen von der Freigebigkeit dieses erhabenen albanesischen Heerführers herrührt.

Sehen Sie nur! sagte Frau Danglars.

Wo denn? stammelte Morcerf.

Dort! sagte Monte Christo.

Und den Grafen mit seinem Arme umfassend, neigte er sich mit ihm zur Loge hinaus.

In diesem Augenblicke gewahrte Haydee, die den Grafen mit den Augen suchte, seinenbleichen Kopf neben dem Morcerfs, den er umfaßt hielt.

Dieser Anblickbrachte auf die Griechin die Wirkung eines Medusenhauptes hervor; sie machte eineBewegung vorwärts, als wollte siebeide mit den Augen verschlingen; dann warf sie sich fast in derselben Sekunde wieder zurück und stieß einen schwachen Schrei aus, der jedoch von den Personen, die ihr zunächst waren, und von Ali gehört wurde, der sogleich die Tür öffnete.

Was ist denn Ihrem Mündelbegegnet, Herr Graf? fragte Eugenie, man sollte glauben, sie sei unwohl.

In der Tat, es scheint so zu sein, sagte der Graf, doch erschrecken Sie nicht darüber. Haydee ist sehr nervös und daher sehr empfindlich gegen Gerüche; ein Geruch, der ihr zuwider ist, kann ihr eine Ohnmacht zuziehen; aber ich habe hier ein Gegenmittel, sagte der Graf, ein Fläschchen aus der Tasche ziehend.

Nachdem er dieBaronin und ihre Tochter mit einer einzigen Verbeugung gegrüßt und einen letzten Händedruck mit dem Grafen und mit Debray ausgetauscht hatte, verließ er die Loge.

Als er in die seinige zurückkehrte, war Haydee noch sehrbleich; sobald er erschien, nahm sie ihnbei der Hand.

Monte Christobemerkte, daß die Hände des Mädchens zugleich feucht und eisig kalt waren.

Mit wem sprachst du denn, Herr? fragte das Mädchen.

Mit dem Grafen von Morcerf, der im Dienste deines erhabenen Vaters stand und, wie er selbstbekennt, ihm sein Vermögen zu verdanken hat.


Ha, der Elende! rief Haydee, er ist es, der ihn an die Türken verkauft hat, und dieses Vermögen ist nur der Preis seines Verrates. Wußtest du das nicht, lieber Herr?

Ich habe wohl so etwas in Epirus gehört, sagte Monte Christo, aber ich kenne die einzelnen Umstände nicht. Komm, meine Tochter, du wirst sie mir erzählen, sie müssen sehr seltsamer Art sein.

Oh ja, komm, komm! Es ist mir, als müßte ich umkommen, wenn ich diesem Menschen länger gegenüberbleibe.

Und Haydee stand rasch auf, hüllte sich in ihren mit Perlen und Korallen geschmücktenBurnus von weißem Kaschmir und verließ die Loge in dem Augenblick. wo der Vorhang aufgezogen wurde.

Sehen Sie, obdieser Mensch auch nur irgend etwas tut, wie ein anderer! sagte die Gräfin zu Albert, der sich in ihre Logebegeben hatte. Er hört ganz andächtig den dritten Akt an und geht in der Minute, wo der viertebeginnen soll, fort.

Steigen und Fallen

Einige Tage nach diesem Zusammentreffen machte Albert von Morcerf dem Grafen von Monte Christo einenBesuch in seinem Hause in den Champs‑Elyées, dasbereits das Aussehen eines Palastes gewonnen hatte. Er gabaufs neue dem Dank der Frau Danglars Ausdruck, den sie dem Grafen schon vorher in einemBrief mit der UnterschriftBaronin Danglars, geborene Hermine von Servieux, abgestattet hatte.

In AlbertsBegleitung war Lucien Debray, der den Worten seines Freundes einige Komplimente hinzufügte, über deren Quelle jedoch der Grafbei seinem Scharfblicke sich nicht täuschen ließ. Er konnte in der Tat, ohne einen Irrtumbefürchten zu müssen, voraussetzen, daß Frau Danglars, da sie sich außer stande fühlte, mit eigenen Augen in die Geheimnisse eines Mannes zu dringen, der Pferde für dreißigtausend Franken verschenkte und in die Oper mit einer Sklavin ging, die für eine Million Diamanten trug, Debraybeauftragt hatte, ihr so viel wie möglich Auskunft zu verschaffen.

Aber der Graf gabsich den Anschein, als vermute er nicht im geringsten einen Zusammenhang zwischen LuciensBesuche und der Neugierde derBaronin. Sie stehen in fast ununterbrochenem Verkehr mit demBaron Danglars? fragte er Albert von Morcerf.

Ja, Herr Graf, Sie wissen, was ich Ihnen gesagt habe.

Der Planbesteht also noch immer?

Mehr als je, es ist eine abgemachte Sache, sagte Lucien.

Und indem er meinte, mit diesem einen ins Gespräch geworfenen Wort habe er sich das Recht erkauft, sich nun schweigend zu verhalten, klemmte Lucien sein Lorgnon ins Auge, biß auf den goldenen Knopf seines Stöckchens und schritt, mit aller Aufmerksamkeit die Waffen und Gemäldebetrachtend, im Zimmer umher.

Ah! rief Monte Christo, nach Ihren Worten hätte ich nicht an eine so schnelle Lösung geglaubt.

Was wollen Sie? Die Dinge entwickeln sich, ohne daß man's merkt. Wenn wir auch nicht an sie denken, denken sie an uns, und wenn wir uns umdrehen, sind wir erstaunt darüber, wie sie vorgeschritten sind. Mein Vater und Herr Danglars haben miteinander in Spanien gedient, mein Vaterbei der eigentlichen Armee, Herr Danglarsbeim Train. Mein Vater, den die Revolution zu Grunde gerichtet hatte, und Herr Danglars, der von Haus aus vermögenslos war, legten dort den Grund, mein Vater zu seinem großen politischen und militärischen Glück, Herr Danglars zu seinembewunderungswürdigen politischen und finanziellen Glück.

Ja, in der Tat, erwiderte Monte Christo, ich glaube, Herr Danglars erzählte mir davon während desBesuches, den ich ihm machte; und, sagte er, einen Seitenblick auf Lucien werfend, der in einem Albumblätterte, und ist Fräulein Eugenie hübsch?

Sehr hübsch; aber von einer Schönheit, die ich nicht zu schätzen weiß, ich Unwürdiger.

Sie sprechen, als obSiebereits ihr Gatte wären.

Oh! rief Albert, und sah sich dabei ebenfalls nach seinem Freunde um.

Wissen Sie, sagte Monte Christo, die Stimme dämpfend, wissen Sie, daß Sie mir nicht eben sehrbegeistert für diese Heirat zu sein scheinen.

Fräulein Danglars ist zu reich für mich, und das erschreckt mich, erwiderte Morcerf.

Bah! versetzte Monte Christo, ein schöner Grund; sind Sie nicht selbst reich?

Mein Vater hat etwa fünfzigtausend Franken Rente und wird mir vielleicht zehnbis zwölfbei meiner Verheiratung geben.

Das sieht allerdingsbescheiden aus, besonders in Paris, sagte der Graf; aber das Vermögen ist nicht alles auf dieser Welt, ein schöner Name und eine hohe gesellschaftliche Stellung haben auch ihren Wert. Ihr Name istberühmt. Ihre Stellung glänzend, der Graf von Morcerf ist ein Soldat, und man sieht gern die Unantastbarkeit eines Ritters ohne Furcht und Tadel mit der Armut eines Kreuzritters vereinigt. Die Uneigennützigkeit ist der schönste Sonnenstrahl, in dem ein edler Degen erglänzen kann. Ich finde im Gegenteil diese Verbindung im höchsten Grade passend; Fräulein Danglarsbereichert Sie, und Sie adeln das Fräulein!

Albert schüttelte den Kopf undbliebnachdenklich. Es ist dabei noch etwas anderes, sagte er.

Ich gestehe, daß ich diesen Widerwillen gegen ein junges, reiches und schönes Mädchen nichtbegreifen kann, sagte der Graf.

Oh, mein Gott! rief Morcerf, dieser Widerwille, wenn wirklich ein Widerwille stattfindet, kommt nicht ganz von meiner Seite.

Von welcher Seite denn? Sagten Sie mir nicht, Ihr Vater wünschte diese Heirat?

Er kommt von meiner Mutter, und meine Mutter hat ein sicheres Auge. Sie lächelt nicht zu dieser Verbindung, sie hat ein Vorurteil gegen die Danglars.

Oh! das läßt sichbegreifen, sagte der Graf mit etwas gezwungenem Tone; die Frau Gräfin von Morcerf, welche die Vornehmheit, der Adel, die Feinheit in der Person ist, scheut sich, eine gemeinbürgerliche, plumpe, rohe Hand zuberühren, und das ist natürlich.

Ich weiß nicht, obdies der Fall ist, entgegnete Albert, weiß jedoch, daß diese Heirat, wenn sie wirklich stattfindet, meine Mutter unglücklich machen wird. Schon vor sechs Wochen sollte eine Familienversammlung zurBesprechung des Heiratsvertrages stattfinden, aber meine Mutter wurde dergestalt von der Migränebefallen, ohne Zweifel infolge ihrer Abneigung dagegen, daß man die Zusammenkunft auf zwei Monate verschob. Siebegreifen, es eilt nicht, ichbin noch nicht einundzwanzig Jahre alt und Eugenie erst siebzehn; doch die zwei Monate sind in der nächsten Woche abgelaufen, und man muß sich am Ende entscheiden. Sie können sich nicht vorstellen, mein lieber Graf, in welcher Verlegenheit ich michbefinde… Ah! wie glücklich sind Sie doch, Sie freier Mann!

Nun so seien Sie auch frei, wer hindert Sie daran?

Oh, es würde meinem Vater einen so großen Verdrußbereiten, wenn ich Fräulein Danglars nicht heiratete.

So heiraten Sie das Fräulein, sagte der Graf mit einer seltsamenBewegung der Achsel.

Ja, aber meiner Mutter würde diese Verbindung nicht Verdruß, sondern Schmerzbereiten.

Dann heiraten Sie das Fräulein nicht, sagte der Graf.

Ich werde es versuchen; nicht wahr, Sie geben mir Ihren Rat, und wenn es Ihnen möglich ist, entziehen Sie mich dieser Verlegenheit? Oh! um meiner vortrefflichen Mutter keinen Kummer zubereiten, würde ich es, glaube ich, sogar auf einen Konflikt mit meinem Vater ankommen lassen.

Monte Christo wandte sich ab, er schienbewegt.

Ei! sagte er zu Debray, der auf einem weichen Polsterstuhl am Ende des Salons saß und in der rechten Hand einenBleistift, in der linken ein Notizbuch hielt, ei! was machen Sie denn? Eine Skizze nach Poussin?

Ich? Nein, ich mache ganz das Gegenteil davon, ich mache Zahlen und zwar solche, die Sie unmittelbar angehen, Vicomte. Ichberechne, was das Haus Danglarsbei dem letzten Steigen der Hayti‑Papiere gewinnen mußte; von 206 stiegen sie in drei Tagen auf 499, und der klugeBankier hatte viel um 206 gekauft. Er muß 300 000 Franken gewonnen haben.

Das ist noch nicht seinbester Treffer, sagte Morcerf; hat er nicht in diesem Jahre eine Million mit spanischenBons gewonnen?

Sie sprechen von Hayti? fragte Monte Christo.

Oh! Hayti, das ist das Wunderland der französischenBörsenspieler. So hat Herr Danglars gestern zu 409 verkauft und steckt 300 000 Franken ein, hätte erbis heute gewartet, so würde er, da die Papiere wieder auf 205 gesunken sind, statt 300 000 Franken zu gewinnen, 25 000 Franken verloren haben.

Und warum sind diese Papiere von 409 auf 205 gefallen? fragte Monte Christo. Entschuldigen Sie, ich verstehe von allen diesenBörsengeschäften nicht das geringste.

Weil die Nachrichten sich folgen, aber nicht sich gleichen, antwortete Albert lachend.

Ah Teufel! rief der Graf, Herr Danglars spielt also so hoch, daß er an einem Tage 300 000 Franken gewinnen oder verlieren kann! Da muß er ja ungeheuer reich sein?

Er selbst spielt gar nicht, rief Lucien lebhaft, Frau Danglars tut es; sie riskiert wahrhaftig alles.

Aber Sie, der Sie ein vernünftiger Mann sind, Lucien, Sie, der Sie wissen, wie unzuverlässig die Nachrichten sind, der Sie an der Quelle sitzen, Sie sollten sie davon abhalten, sagte Morcerf lächelnd.

Wie vermöchte ich dies, da es ihrem Manne nicht gelingt? fragte Lucien. Sie kennen den Charakter derBaronin; niemand hat Einfluß auf sie, und sie tut durchaus nur, was sie will.

Oh! wenn ich an Ihrer Stelle wäre, sagte Albert, ich wollte sie heilen; das hieße ihrem künftigen Schwiegersohne einen Dienst leisten.

Wieso?

Ah, bei Gott! das ist sehr einfach. Ich würde ihr eine Lektion geben. Ihre Stellung als Sekretär des Ministers verleiht Ihren Äußerungen großes Gewicht; Sie dürfen nur den Mund öffnen, und die Wechselagenten stenographieren so schnell als möglich Ihre Worte. Lassen Sie nun dieBaronin hunderttausend Franken Schlag auf Schlag verlieren, und sie wird klug werden.

Ichbegreife nicht, stammelte Lucien.

Es ist doch ganz klar, erwiderte der junge Mann mit durchaus echter Naivität. Teilen Sie ihr an einem schönen Morgen irgend etwas Unerhörtes mit, eine telegraphische Nachricht, die nur Sie allein wissen können, zumBeispiel: Heinrich IV. sei gesternbei Gabrielle gesehen worden; das läßt die Fonds steigen, sie richtet ihrenBörsenhandel danach ein und verliert sicherlich, wennBeauchamp den andern Tag in seiner Zeitung schreibt: Mit Unrechtbehaupten wohlunterrichtete Leute, König Heinrich IV. sei gesternbei Gabrielle gesehen worden; dies ist völlig unrichtig; König Heinrich IV. hat den Pont‑Neuf nicht verlassen.

Lucien spitzte den Mund zu einem Lächeln. Obgleich scheinbar gleichgültig, hatte Monte Christo doch kein Wort von dieser Unterhaltung verloren, und sein durchdringendes Auge hatte sogar hinter der Verlegenheit des Sekretärs ein Geheimnis zu entdecken geglaubt.

Es war eine Folge dieser Verlegenheit, von der Albert nicht das geringste wahrnahm, daß Lucien seinenBesuch abkürzte; er fühlte sich offenbar unbehaglich. Der Graf sagte ihm, während er ihnbis zur Tür geleitete, mit leiser Stimme ein paar Worte, worauf er erwiderte: Sehr gern, Herr Graf, ich nehme es an.

Der Graf kehrte zu Albert von Morcerf zurück und sagte:

Denken Sie nicht, wenn Sie sich die Sache überlegen, daß Sie unrecht gehabt haben, so über Ihre Schwiegermutter in Gegenwart des Herrn Debray zu reden?

Ichbitte, Graf, versetzte Morcerf, sagen Sie dieses Wort nicht mehr.

Wahrhaftig und ohne Übertreibung, ist die Gräfin in diesem Grade gegen die Heirat eingenommen?

Dergestalt, daß dieBaronin nur selten in unser Haus kommt, und daß meine Mutter, glaube ich, nicht zweimal in ihrem ganzen Lebenbei Fran Danglars gewesen ist.

Das ermutigt mich, offenherzig mit Ihnen zu sprechen, sagte der Graf. Herr Danglars ist meinBankier, Herr von Villefort hat mich mit Höflichkeiten überhäuft, indem er mir seinen Dank für einen Dienst aussprach, den ich ihm zufällig zu leisten imstande war. Ich mache mich nach alledem auf eine Lawine von Einladungen zu Mittagessen und Abendunterhaltungen gefaßt. Um aber den Anschein prunkhafter Vorbereitung zu vermeiden, und wenn Sie wollen, um mir das Verdienst der Zuvorkommenheit zu wahren, gedenke ich, Herrn und Frau, sowie Fräulein Danglars und Herrn und Frau von Villefort in mein Landhaus in Auteuil zubitten. Wenn ich nun Sie, sowie den Herrn Grafen und die Frau Gräfin von Morcerf, ebenfalls zu diesem Mittagessen einlade, wird es da nicht aussehen, wie wenn ich Siebeide absichtlich zusammenbringen wollte, oder wird nicht wenigstens die Frau Gräfin von Morcerf die Sache sobetrachten, besonders wenn der HerrBaron von Danglars mir die Ehre erweist, seine Tochter mitzubringen? Dann wird Ihre Mutter eine Abneigung gegen mich fassen, und das möchte ich durchaus nicht, denn es ist mir alles daran gelegen, sagen Sie ihr dies, so oft sich Gelegenheit dazubietet, in gutem Andenkenbei ihr zu stehen.

Herr Graf, ich danke Ihnen, daß Sie mit so viel Offenherzigkeit mit mir sprechen, und ichbleibe gern dem Mahle fern, wie Sie es mir scheinen vorschlagen zu wollen. Sie sagen, es sei Ihnen daran gelegen, in gutem Andenkenbei meiner Mutter zubleiben; Sie stehenbereits in voller Wertschätzungbei ihr.

Sie glauben? sagte Monte Christo mit Teilnahme.

Oh! ichbin dessen gewiß. Als Sie uns neulich verließen, plauderten wir noch eine ganze Stunde von Ihnen. Doch ich komme auf das zurück, worüber wir soeben sprachen. Wenn meine Mutter von dieser Aufmerksamkeit Ihrerseits erführe, und ich es wagte, sie ihr mitzuteilen, ichbin überzeugt, sie wüßte Ihnen den innigsten Dank dafür; mein Vater würde allerdings in nicht geringe Wut geraten.

Der Graf erwiderte lachend: Sie sind nun in Kenntnis gesetzt. Doch ich denke, Ihr Vater wird keinen Anlaß haben, wütend zu werden; Herr und Frau Danglars werden mich für einen Menschen von sehr schlechter Lebensart halten. Sie wissen, daß ich mit Ihnen vertraut verkehre, daß Sie sogar mein ältester PariserBekannter sind und werden mich, wenn sie Sie nichtbei mir finden, fragen, warum ich Sie nicht eingeladen habe. Suchen Sie es wenigstens so einzurichten, daß Sie vorher schon eine wertvolle Einladung annehmen, und teilen mir dies schriftlich mit. Sie wissen, bei denBankiers gilt nur das Geschriebene.

Ich gedenke, etwasBesseres zu tun, Herr Graf, erwiderte Albert; meine Mutter wünscht wieder einmal Seeluft zu atmen. Auf welchen Tag ist Ihr Mittagessenbestimmt?

Auf Sonnabend.

Wir haben heute Dienstag, morgen abend reisen wir ab, übermorgen früh sind wir in Treport. Sie sind einbezaubernder Mann, Herr Graf, daß Sie den Leuten die Dinge so nach ihrerBequemlichkeit und zu ihrer Zufriedenheit einrichten.

Sie überschätzen mein Verdienst weit; ich wünsche Ihnen nur angenehm zu sein.

Auf welchen Tag wollen Sie einladen?

Heute.

Gut! ich gehe zu Herrn Danglars und kündige ihm an, daß ich morgen mit meiner Mutter Paris verlasse und nicht Ihr Gast sein könne.

Recht; die Sache ist abgemacht.

Hätten Sie nicht Lust, Herr Graf, heute mit uns zu Mittag zu speisen? Wir sind nur in kleiner ausgewählter Gesellschaft, Sie, meine Mutter und ich. Sie haben meine Mutter kaumbemerkt; doch Sie werden sie in der Nähe sehen. Es ist eine merkwürdige Frau, und ichbedaure nur, daß nicht ihresgleichen im Alter von zwanzig Jahren lebt; dann würde esbald eine Gräfin und eine Vicomtesse von Morcerf geben. Meinen Vater finden Sie nicht, er hat Kommissionssitzung und speistbeim Großreferendar. Kommen Sie, wir plaudern von Reisen! Sie, der Sie die ganze Welt gesehen haben, erzählen uns von Ihren Abenteuern; Sie teilen uns die Geschichte der schönen Griechin mit, die kürzlich mit Ihnen in der Oper war und von Ihnen Ihre Sklavin genannt wird, während Sie sie wie eine Prinzessinbehandeln. Wir sprechen Italienisch und Spanisch! Kommen Sie, meine Mutter wird Ihnen dankbar sein.

Tausend Dank, erwiderte der Graf, Ihre Einladung ist äußerst liebenswürdig, und ichbedaure lebhaft, daß ich sie nicht annehmen kann. Ichbin nicht frei, wie Sie wähnten, sondern ich habe im Gegenteil ein höchst wichtiges Zusammentreffen.

Ah! nehmen Sie sich in acht, Sie haben mich soeben gelehrt, wie man sich klüglich einer unerwünschten Einladung zum Mittagessen entziehen kann. Ichbedarf einesBeweises. Glücklicherweisebin ich nichtBankier wie Herr Danglars, wohl aber ebenso neugierig wie er.

Ich werde Ihnen auch denBeweis geben, erwiderte der Graf und läutete.

Baptistin trat ein undbliebwartend an der Tür stehen.

Baptistin, was sagte ich Ihnen, als ich Sie heute morgen in mein Arbeitszimmer rief?

Siebefahlen mir, die Tür des Herrn Grafen schließen zu lassen, sobald es fünf Uhr geschlagen hätte, antwortete der Diener. Hernach hießen Sie mich nur den Herrn MajorBartolomeo Cavalcanti empfangen.

Sie hören, den Herrn MajorBartolomeo Cavalcanti, einen Mann vom ältesten Adel Italiens, dessen Namen Dante zu verherrlichenbemüht war; ferner seinen Sohn, einen reizenden jungen Mann, ungefähr von Ihrem Alter, Vicomte, der denselben Titel führt wie Sie und in die Pariser Welt mit den Millionen seines Vaters eintritt. Der Majorbringt mir heute abend seinen Sohn Andrea, den Contino, wie wir in Italien sagen. Er will ihn mir anvertrauen, und ich werde sein Glück zu fördern suchen, wenn er einiges Verdienstbesitzt. Nicht wahr, Sie helfen mir?

Ganz gewiß! Dieser Major Cavalcanti ist wohl ein alter Freund von Ihnen? fragte Albert.

Keineswegs, er ist ein würdiger, sehr höflicher, sehrbescheidener, sehr diskreter Herr, wie es in Italien eine Menge gibt. Ich habe ihn wiederholt in Florenz, inBologna, in Lucca gesehen, und er teilte mir seine Ankunft mit. Die Reisebekanntschaften sind anspruchsvoll; sie verlangen überall von uns die Freundschaft, die wir ihnen zufällig einmal erzeigt haben. Dieser gute Major Cavalcantibesucht Paris wieder, das er nur einmal im Vorübergehen unter der Kaiserherrschaft gesehen hat. Ich gebe ihm ein gutes Diner, er läßt mir seinen Sohn hier, ich verspreche, ihn zu überwachen, lasse ihn alle Torheitenbegehen, und wir sind quitt.

Vortrefflich! rief Albert, ich sehe, Sie sind ein kostbarer Mentor. Gottbefohlen, bis Sonntag sind wir zurück. Doch ich habe Nachricht von Franz erhalten.

Ah! wirklich? Gefällt es ihm immer noch in Italien.

Ich denke ja; erbedauert indessen, daß Sie nicht mehr dort sind, denn er sagt, Sie seien die Sonne von Rom, und ohne Sie herrsche dort trübes Wetter.

Er ist also von seiner Ansicht über mich zurückgekommen?

Im Gegenteil, erbeharrt daraus, Sie für höchst phantastisch zu halten; darumbedauert er Ihre Abwesenheit.

Ein liebenswürdiger junger Mann, versetzte Monte Christo; ich fühlte für ihn schon eine lebhafte Sympathie am ersten Abend, als ich ihn auf der Insel Monte Christo nach irgend einem Abendessen Ausschau halten sah und ihm Gastfreundschaft erweisen durfte. Er ist, glaube ich, ein Sohn des Generals d'Epinay, der im Jahre 1815 auf eine so erbärmliche Weise von denBonapartisten ermordet wurde?

Ganz richtig.

Liegt für ihn nicht auch ein Heiratsplan vor?

Ja, er soll sich mit Fräulein von Villefort vermählen, wie ich Fräulein Danglars heiraten soll, erwiderte Albert lachend.

Sie lachen?

Ich lache, weil es mir vorkommt, alsbesitze er ebensoviel Sympathie für die Heirat, wie ich für eine Verbindung zwischen mir und Fräulein Danglars. Aber wahrhaftig, lieber Graf, wir plaudern von Frauen, wie die Frauen von Männern plaudern. Das ist unverzeihlich! Albert stand auf.

Sie gehen?

Die Frage ist gut! Seit zwei Stunden quäle ich Sie, und Sie haben die Höflichkeit, mich zu fragen, obich gehe! In der Tat, Graf, Sie sind der artigste Mann der Erde! Und IhreBedienten, wie sind sie dressiert, besonders HerrBaptistin! Ich konnte nie einen solchen Menschenbekommen.

Er wandte sich zum Gehen und rief: Welchen Dienst würden Sie mir leisten, und wie wollte ich Sie noch hundertmal mehr lieben, wenn ich mit Ihrer Hilfe Junggesellebliebe, und wäre es nur noch zehn Jahre lang!

Alles ist möglich, erwiderte Monte Christo mit ernstem Tone. Er verabschiedete sich von Albert und trat in sein Arbeitszimmer, wo erBertuccio fand.

HerrBertuccio, sagte der Graf, wissen Sie, daß ich am Sonnabend in meinem Hause in Auteuil eine Gesellschaft gebe?

Bertuccio erwiderte leicht schaudernd: Gut, gnädiger Herr.

Ichbedarf Ihrer, fuhr der Graf fort, damit alles aufsbeste vorbereitet wird. Das Haus ist sehr schön oder kann wenigstens sehr schön sein.

Man müßte zu diesem Zwecke alles verändern, Herr Graf, denn die Tapeten sehen recht alt aus.

Verändern Sie alles, mit Ausnahme des roten Schlafzimmers, dies lassen Sie ganz, wie es ist! Den Garten lassen Sie ebenfalls unberührt, aber aus dem Hofe, zumBeispiel, machen Sie alles, was Sie wollen! Es wird mir sogar angenehm sein, wenn man ihn nicht wiedererkennen kann.

Ich werde tun, was in meinen Kräften liegt, um den Herrn Grafen zufrieden zu stellen.

Der Major Cavalcanti

Es schlug sieben Uhr, undBertuccio war seit zwei Stunden nach Auteuil abgereist, als ein Fiaker vor der Tür des Hotels hielt und an dem Gitter einen Mann von etwa zweiundfünfzig Jahren absetzte, der einen von jenen Röcken mit schwarzenBorten trug, deren Geschlecht in Europa unvergänglich zu sein scheint. Eine weite Hose, ziemlich reinliche Stiefel, hirschlederne Handschuhe, eine schwarze Halsbinde mit einem schmalen weißen Streifen, die man, wenn sie ihr Eigentümer nicht freiwillig getragen haben würde, für ein Halseisen hätte halten können, das war die malerische Tracht, in welcher der Mensch erschien, der an dem Gitter läutete, hier fragte, obnicht in Nr. 30 der Avenue der Champs‑Elysees der Graf von Monte Christo wohne, und auf diebejahende Antwort des Portiers eintrat.

Der kleine, eckige Kopf dieses Menschen, seine weißlichen Haare und sein dicker, grauer Schnurrbart machten ihn fürBaptistin erkenntlich, denn dieserbesaß das genaue Signalement des Gastes und erwartete ihn im untern Hausflur. Kaum hatte er seinen Namen vor dem Diener ausgesprochen, als Monte Christo von seiner Ankunftbenachrichtigt wurde.

Man führte den Fremden in den einfachsten Salon. Der Graf erwartete ihn daselbst und ging ihm mit lachender Miene entgegen. Ah! lieber Herr, sagte er, seien Sie willkommen! Ich erwartete Sie.

Wirklich? erwiderte der Lukkeser, Eure Exzellenz erwartete mich?

Ja, ich war von Ihrer Ankunft auf heute um sieben Uhrbenachrichtigt.

Sie waren von meiner Ankunftbenachrichtigt?

Vollkommen.

Ah! destobesser, ichbefürchtete, man hätte diese Vorsichtsmaßregel vergessen.

Welche?

Sie in Kenntnis zu setzen.

Oh, nein!

Sind Sie dessen gewiß, täuschen Sie sich nicht?

Ichbin dessen gewiß.

Mich erwartete Eure Exzellenz heute abend um sieben Uhr?

Allerdings Sie. Ich will Ihnen denBeweis geben.

Oh, wenn Sie mich erwarteten, so ist es nicht der Mühe wert.

Doch! doch! rief Monte Christo.

Der Lukkeser schien etwasbeunruhigt.

Sprechen Sie, sind Sie nicht der MarquisBartolomeo Cavalcanti?

Bartolomeo Cavalcanti, wiederholte freudig der Lukkeser, so ist es.

Exmajor in österreichischen Diensten?

War ich Major? fragte schüchtern der alte Soldat.

Ja, sagte Monte Christo, Major. Das ist der Name, den man in Frankreich dem Grade gibt, den Sie in Italien einnahmen.

Gut, versetzte der Lukkeser, Siebegreifen, mir ist es ganz lieb…

Übrigens, kommen Sie nicht aus eigenem Antriebe hierher?

Allerdings.

Sie sind durch den vortrefflichen AbbéBusoni an mich gewiesen worden?

So ist es, rief der Major.

Und Sie haben einenBrief?

Hier ist er.

Monte Christo nahm denBrief, öffnete und las ihn.

Der Major schaute den Grafen mit großen, erstaunten Augen an, die zwar neugierig in allen Teilen des Gemaches umherliefen, jedoch immer wieder zu dessen Eigentümer zurückkehrten.

So ist es… der liebe Abbé… Der Major Cavalcanti, ein würdiger Patricier aus Lucca, von den Cavalcanti in Florenz abstammend, fuhr Monte Christo lesend fort, imBesitze eines Vermögens, das jährlich eine halbe Million abwirft.

Monte Christo schlug die Augen vom Papier auf und verbeugte sich.

Eine halbe Million, sagte er, Teufel! mein lieber Herr Cavalcanti.

Steht eine halbe Million da? fragte der Lukkeser.

Mit allenBuchstaben, und das muß so sein, der AbbéBusoni ist ein Mann, der ganz genau die großen Vermögen in Europa kennt!

Es mag wohl richtig sein mit der halben Million; doch auf mein Ehrenwort, ich glaubte nicht, daß es sich so hochbeliefe.

Weil Sie einen Intendanten haben, der Siebestiehlt; was wollen Sie, mein lieber Herr Cavalcanti, man muß sich das gefallen lassen!

Und da Sie mir hierüber Aufklärung gegeben haben, so werde ich denBurschen vor die Tür werfen, sagte mit ernstem Tone der Lukkeser.

Monte Christo fuhr fort zu lesen: Und dem nur eines zu seinem Glücke fehlte.

Oh, mein Gott! ja, nur eines, sagte der Lukkeser mit einem Seufzer.

Einen angebeteten Sohn wiederzufinden.

Einen angebeteten Sohn?

Der in seiner Jugend entweder durch einen Feind seiner Familie oder durch Zigeuner geraubt wurde.

Im Alter von fünf Jahren, mein Herr! sagte der Lukkeser mit einem tiefen Seufzer und die Augen zum Himmel aufschlagend.

Armer Vater! sagte Monte Christo.

Der Graf las weiter: Ich gebe ihm die Hoffnung, ich gebe ihm das Leben, Herr Graf, indem ich ihm verkündige, daß Sie ihm diesen Sohn, den er seit fünfzehn Jahren umsonst suchte, wiederfinden können.

Der Lukkeser schaute Monte Christo mit einem Ausdrucke voll unsäglicher Unruhe an.

Ich kann es, sagte Monte Christo.

Der Major richtete sich hoch auf und rief: Ah! ah! derBrief ist alsobis zum Ende wahr?

Zweifelten Sie daran, mein lieber HerrBartolomeo?

Nein, niemals! Ein ernster, eine religiöse Würdebekleidender Mann, wie der AbbéBusoni, hätte sich nie einen solchen Scherz erlaubt; doch Sie haben nicht alles gelesen, Exzellenz!

Ah! das ist wahr, es findet sich hier noch eine Nachschrift.

Ja, erwiderte der Lukkeser, es findet sich… eine… Nachschrift.

Um den Major Cavalcanti nicht in die Verlegenheit zu setzen, Papiere verkaufen zu müssen, schicke ich ihm einen Wechsel von zweitausend Franken für seine Reiseunkosten und akkreditiere ihnbei Ihnen mit der Summe von achtundvierzigtausend Franken, die ichbei Ihnen gut habe.

Der Major verfolgte in sichtbarer Angst diese Nachschrift mit den Augen.

Gut! begnügte sich der Graf zubemerken.

Er hat gut gesagt, murmelte der Lukkeser. Also die Nachschrift wird von Ihnen ebenso günstig aufgenommen, wie der übrigeBrief?

Der AbbéBusoni und ich stehen miteinander in Abrechnung; ich weiß nicht genau, ober achtundvierzigtausend Frankenbei mir gut hat, aber es kommt zwischen uns auf ein paarBanknoten nicht an. Ah! Sie legten also einen großen Wert auf diese Nachschrift, mein lieber Cavalcanti?

Ich muß Ihnen gestehen, antwortete der Lukkeser, daß ich mich, voll Zutrauen zu der Unterschrift des AbbéBusoni, nicht mit andern Geldern versehen hatte; wäre mir diese Quelle entgangen, so würde ich mich in Paris in großer Verlegenheitbefunden haben.

Setzen Sie sich doch, sagte Monte Christo; in der Tat, ich weiß nicht, was ich mache… ich lasse Sie seit einer Viertelstunde stehen.

Der Major zog einen Stuhl an sich und setzte sich.

Nun sagen Sie, sagte der Graf, wollen Sie etwas zu sich nehmen? Ein Glas Xeres, Porto, Alicante?

Alicante, wenn Sie erlauben, das ist mein Lieblingswein.

Monte Christo läutete; Baptistin erschien. Der Graf ging auf ihn zu und fragte leise: Nun…?

Der junge Mensch ist imblauen Salon, antwortete der Kammerdiener.

Vortrefflich. Bringen Sie Alicantewein und Zwiebacke.

Baptistinbrachte das Verlangte.

Der GrafbefahlBaptistin, die Platte in denBereich der Hand seines Gastes zu stellen, der zuerst den Alicante mit dem Rande seiner Lippen kostete, sodann eine Miene der Zufriedenheit annahm und endlich den Zwieback zart in das Glas tauchte.

Sie wohnten also in Lucca? sagte Monte Christo, Sie waren reich, Sie waren vornehmer Abkunft, Sie genossen die allgemeine Achtung, Sie hatten alles, was einen Menschen glücklich machen kann?

Alles, Exzellenz, erwiderte der Major, seinen Zwieback verschlingend, durchaus alles.

Und es fehlte nur zu Ihrem Glück, Ihr Kind wiederzufinden? Dies fehlte mir sehr, rief der würdige Major, schlug die Augen zum Himmel auf und suchte zu seufzen.

Nun reden Sie, mein lieber Herr Cavalcanti, wie verhält es sich mit diesem so sehrbeklagten Sohne? Denn man sagte mir, Sie seien Junggeselle geblieben.

Man glaubte es, mein Herr, und ich selbst…

Ja, versetzte Monte Christo, und Sie selbst suchten diesem Gerüchte Glauben zu verschaffen. Eine Jugendsünde, die Sie vor aller Augen verbergen wollten.

Der Lukkeser richtete sich auf, nahm seine ruhigste und würdigste Haltung an, schlug aber zugleichbescheiden die Augen nieder, sei es, um seine Haltung zu sichern, sei es, um seine Einbildungskraft zu unterstützen, während er von unten herauf den Grafen anschaute, dessen auf seine Lippen festgebanntes Lächeln stets dieselbe wohlwollende Neugierde andeutete. Ja, mein Herr, sagte er, ich wollte diesen Fehler vor der ganzen Welt verbergen.

Nicht Ihretwegen, versetzte Monte Christo, denn ein Mann steht über dergleichen Dingen!

Oh! nein, gewiß nicht meinetwegen, erwiderte der Major, lächelnd und die Achseln zuckend.

Sondern seiner Mutter wegen?

Seiner Mutter wegen, rief der Lukkeser, seiner armen Mutter wegen!

Trinken Sie doch, lieber Herr Cavalcanti, sagte Monte Christo, dem Lukkeser ein zweites Glas Alcante einschenkend; die Erinnerung überwältigt Sie.

Seiner armen Mutter wegen, murmelte der Lukkeser, indem er einen Versuch machte, obnicht die Kraft des Willens den Winkel seines Auges mit einer falschen Zähre zubefeuchten vermöchte.

Welche, glaube ich, einer der ersten Familien Italiens angehörte?

Eine Patrizierin von Fiesole.

Namens?

Marchesa Oliva Corsinari!

Und Sie heirateten sie am Ende, trotz des Widerstrebens der Familie?

Mein Gott! ja, das tat ich am Ende.

Und Ihre Papiere, die Sie mitbringen, sind ganz in Ordnung?

Was für Papiere? fragte der Lukkeser.

Nun, Ihr Trauschein mit Oliva Corsinari und der Taufschein von Andrea Cavalcanti, Ihrem Sohne; heißt er nicht Andrea?

Ganz richtig, Herr Graf, doch mitBedauern muß ich Ihnenbemerken, nicht darauf aufmerksam gemacht, daß ich mich mit diesen Papieren versehen sollte, versäumte ich, sie mitzunehmen.

Ah! Teufel! rief Monte Christo.

Sind Sie denn durchaus nötig?

Unerläßlich, rief Monte Christo; wenn man hier irgend einen Zweifel über die Gültigkeit Ihrer Ehe und die Rechtmäßigkeit Ihres Kindes erhöbe!

Es ist richtig, man könnte Zweifel erheben.

Das wäre sehr unangenehm.

Es könnte ihm dadurch eine glänzende Heirat entgehen.

O peccato!

Siebegreifen, in Frankreich ist man streng. Es genügt nicht, wie in Italien, einen Priester aufzusuchen und ihm zu sagen: Wir lieben einander, verbinden Sie uns! In Frankreich gibt es einebürgerliche Ehe, und um sichbürgerlich zu verheiraten, braucht man Papiere, durch welche die Identität nachgewiesen wird.

Das ist ein Unglück, ich habe diese Papiere nicht.

Zum Glücke habe ich sie.

Ah! mein Herr, rief der Lukkeser, der, als er das Ziel seiner Reise durch den Mangel seiner Papiere verfehlt sah, befürchtete, dieses Vergessen könnte einige Schwierigkeiten inBeziehung auf die achtundvierzigtausend Franken zur Folge haben, ah! mein Herr, das ist ein Glück. Ja, wiederholte er, das ist ein Glück, denn ich hätte nicht daran gedacht.

Bei Gott! ich glaube wohl, man denkt nicht an alles. Glücklicherweise dachte der AbbéBusoni für Sie daran.

Einbewunderungswürdiger Mann; und er schickte Ihnen die Papiere?

Hier sind sie.

Der Lukkeser legte die Hände als Zeichen derBewunderung zusammen. Sie heirateten Oliva Corsinari in der St. Paulskirche in Monte Cattini, hier ist der Trauschein des Priesters.

Ja, meiner Treu, sagte der Major, den Schein mit Erstaunen anschauend.

Und hier der Taufschein von Andrea Cavalcanti, ausgefertigt von dem Pfarrer von Saravezza.

Alles ist in Ordnung, sagte der Major.

So nehmen Sie diese Papiere, mit denen ich nichts zu tun habe, geben Sie sie Ihrem Sohne, der sie sorgfältig aufbewahren wird.

Ich glaube wohl!.. Wenn er sie verlieren würde!..

Was nun die Mutter des jungen Mannesbetrifft…

Mein Gott, sagte der Lukkeser, unter dessen Füßen die Schwierigkeiten immer neu emporzuwachsen schienen, sollte man ihrerbedürfen?

Nein, mein Herr, versetzte Monte Christo, hat sie übrigens nicht…

Doch, doch! rief der Major, sie hat…

Der Natur ihren Tributbezahlt…

Ach, ja! sagte rasch der Lukkeser.

Ich habe das erfahren, sagte Monte Christo, sie ist vor zehn Jahren gestorben.

Und ichbeweine noch ihren Tod, mein Herr, versetzte der Major, ein Taschentuch aus seiner Tasche ziehend.

Was wollen Sie, sagte Monte Christo, wir sind alle sterblich. Siebegreifen, lieber Herr Cavaleanti, manbraucht in Frankreich nicht zu wissen, daß Sie seit fünfzehn Jahren von Ihrem Sohne getrennt sind. Alle diese Geschichten von kinderstehlenden Zigeunern findenbei uns keinen Anklang mehr. Sie haben ihn zur Erziehung in ein Kolleg in der Provinz geschickt, und er soll nun nach Ihrem Willen diese Erziehung in der Pariser Welt vollenden. Deshalbverließen Sie Via Reggio, wo Sie seit dem Tode Ihrer Frau wohnen. Das wird genügen.

Sie glauben?

Gewiß.

Gut also.

Wenn man etwas von dieser Trennung erführe…

Ah! ja. Was würde ich sagen?

Ein ungetreuer Lehrer, von den Feinden Ihrer Familie erkauft, habe dieses Kind geraubt, damit Ihr Name erlösche.

Ganz richtig, da es der einzige Sohn ist…

Nun da alles festgestellt ist, da Ihre Erinnerungen, wieder aufgefrischt, Sie nicht verraten werden, müssen Sie wohl geahnt haben, daß Ihnen eine Überraschungbevorsteht.

Eine angenehme? fragte der Lukkeser.

Ah! ich sehe wohl, daß man ebensowenig das Auge, als das Herz eines Vaters täuscht.

Hm! machte der Major.

Ist Ihnen irgend eine indiskrete Enthüllung zuteil geworden, oder haben Sie vielmehr erraten, er sei da?

Wer?

Ihr Kind, Ihr Sohn, Ihr Andrea!

Ich habe es erraten, erwiderte der Lukkeser mit dem größten Phlegma der Welt; er ist also hier?

Er ist hier, sagte Monte Christo, mein Kammerdiener hat mich soeben von seiner Ankunftbenachrichtigt.

Ah! sehr gut! sagte der Major, indem er dabei die Schnüre seiner Polonaise zusammenzog.

Mein Herr, ichbegreife Ihre Erschütterung, man muß Ihnen Zeit lassen, sich zu erholen; auch will ich den jungen Menschen auf die so sehr ersehnte Zusammenkunft vorbereiten, denn ich setze voraus, er ist nicht minder ungeduldig als Sie.

Ich glaube es wohl, sagte Cavalcanti.

Gut! in einer kleinen Viertelstunde gehören wir Ihnen.

Siebringen mir ihn? Sie treiben also Ihre Güte so weit, daß Sie mir meinen Jungen selbst vorstellen?

Nein, ich will mich keineswegs zwischen einen Vater und seinen Sohn stellen; Sie werden allein sein, Herr Major; doch seien Sie unbesorgt, selbst dann, falls die Stimme desBlutes stummbliebe, könnten Sie sich nicht täuschen, er wird durch diese Tür eintreten. Es ist ein hübscher, blonder, junger Mann, vielleicht etwas zublond, und von äußerst einnehmenden Manieren, wie Sie sehen werden.

Doch Sie wissen, sagte der Major, ich nahm nur die zweitausend Franken mit, die mir der AbbéBusoni zu geben die Güte hatte. Damit machte ich die Reise, und…

Und Siebrauchen Geld, das ist nur zubillig, mein lieber Herr Cavalcanti. Hier sind auf Abschlag acht Tausendfranknoten.

Die Augen des Majors glänzten wie Karfunkel.

Somitbin ich Ihnen noch vierzigtausend Franken schuldig, sagte Monte Christo.

Will Eure Exzellenz einen Empfangschein? fragte der Major, die Scheine in die innere Tasche seiner Polonaise steckend.

Wozu?

AlsBelege dem AbbéBusoni gegenüber.

Sie geben mir einen allgemeinen Schein, wenn Sie die letzten vierzigtausend Franken in Empfang genommen haben. Unter ehrlichen Leuten sind solche Vorsichtsmaßregeln unnötig.

Ah! ja, das ist wahr, sagte der Major, unter ehrlichen Leuten.

Nun noch ein letztes Wort, Marquis. Sie erlauben mir eine kleine, unmaßgeblicheBemerkung, nicht wahr?

Ichbitte darum.

Es wäre wirklich nicht übel, wenn Sie diese Polonaise ablegen würden.

Wirklich? sagte der Major, sein Kleid mit einem gewissen Wohlgefallen anschauend.

Ja, das trägt man noch in Via Reggio, aber in Paris ist dieses Kostüm, so elegant es auch sein mag, längst aus der Mode.

Das ist ärgerlich.

Oh! wenn Sie viel darauf halten, so ziehen Sie esbei Ihrer Abreise wieder an.

Aber was soll ich dafür nehmen?

Was Sie in Ihren Koffern finden.

Wie, in meinen Koffern! Ich habe nur einen Mantelsack.

Bei sich, allerdings. Wozu sichbeschweren? Überdies liebt es ein alter Soldat, mit leichter Ausrüstung zu marschieren.

Gerade deshalb…

Sie sind ein vorsichtiger Mann und haben Ihre Koffer vorausgeschickt. Diese sind gestern im Hotel des Princes, Rue de Richelieu, angelangt. Dort ist Ihre Wohnungbestellt.

In diesen Koffern also?…

Ich setze voraus, Sie sind so vorsichtig gewesen, durch Ihren Kammerdiener alles, was Siebrauchen, einpacken zu lassen: Röcke zu gewöhnlichen Ausgängen, Uniformen. Bei großen Veranlassungen ziehen Sie Ihre Uniform an, das tut gut. Vergessen Sie Ihre Kreuze nicht. Man spottet darüber in Frankreich, trägt sie aber dennoch immer.

Sehr gut! sehr gut! sehr gut! sagte der Major, von dem, was er hörte, immer mehr geblendet.

Und nun, da Ihr Herz gegen zu lebhafte Empfindungen gewappnet ist, bereiten Sie sich vor, lieber Cavalcanti, Ihren Sohn Andrea wiederzusehen.

Und sich freundlich vor dem entzückten Lukkeser verbeugend, verschwand Monte Christo hinter dem Türvorhange.

Andrea Cavalcanti

Monte Christo trat in den anstoßenden Salon, denBaptistin unter dem Namen derblaue Salonbezeichnet hatte, und in den schon vor ihm ein ziemlich elegant gekleideter junger Mann von ungezwungenen Manieren eingetreten war. Dieser lag auf dem Sofa und klopfte mit zerstreuter Miene seine Stiefel mit einem goldknöpfigen Röhrchen. Sobald er Monte Christo wahrnahm, stand er rasch auf.

Der Herr Graf von Monte Christo? fragte er.

Ja, antwortete dieser, und ich habe wohl die Ehre, mit dem, Herrn Grafen Cavalcanti zu sprechen?

Der Graf Andrea Cavalcanti, wiederholte der junge Mann, indem er diese Worte mit einer äußerst freien Verbeugungbegleitete.

Sie müssen einBeglaubigungsschreiben für mich haben?

Ja, unterzeichnet seltsamerweise von Simbad dem Seefahrer. Da ich aber diesen Simbad nur aus Tausendundeiner Nacht kannte, so…

Wohl, es ist ein Abkömmling von ihm, ein sehr reicher Freund von mir, ein mehr als origineller, fast närrischer Engländer, der mit seinem wahren Namen Lord Wilmore heißt.

Ah! das erklärt mir die Sache, versetzte Andrea. Dann geht es vortrefflich. Es ist derselbe Engländer, den ich kennen gelernt habe… in… ja, sehr gut!.. Mein Herr Graf, ichbin Ihr Diener.

Wenn das, was Sie mir zu sagen die Güte haben, wahr ist, sagte lächelnd der Graf, so hoffe ich, daß Sie so gefällig sein werden, mir etwas Näheres über Sie und Ihre Familie mitzuteilen.

Sehr gern, Herr Graf, antwortete der junge Mann mit einer Zungenfertigkeit, diebewies, daß er ein gutes Gedächtnisbesaß. Ichbin, wie Sie sagten, der Graf Andrea Cavalcanti, Sohn des MajorsBartolomeo Cavalcanti, Abkömmling der in das goldeneBuch von Florenz eingetragenen Cavalcanti. Obgleich noch sehr reich, denn mein Vaterbesitzt ein Zinseneinkommen von einer halben Million, hat unsere Familie doch viel Unglück erfahren, und ich selbst, mein Herr, bin in einem Alter von fünf Jahren durch einen ungetreuen Hofmeister geraubt worden und habe deshalbseit fünfzehn Jahren den Urheber meiner Tage nicht gesehen. Seitdem ich das Alter der Vernunft erreicht und Herr meiner selbstbin, suche ich ihn vergebens. Endlich meldet mir dieserBrief Ihres Freundes Simbad, daß er sich in Parisbefindet, und erteilt mir Vollmacht, mich an Sie zu wenden, um weitere Auskunft zu erhalten.

In der Tat, mein Herr, alles, was Sie mir da erzählen, ist sehr interessant, sagte der Graf, der mit ingrimmiger Zufriedenheit die dreiste Miene des Sprechersbetrachtete, und Sie werden wohl daran tun, wenn Sie in allen Stücken der Aufforderung meines Freundes Simbad entsprechen, denn Ihr Vater ist in der Tat hier und sucht Sie.

Der Graf hatte seit seinem Eintritt in den Salon den jungen Mann nicht aus dem Gesichte verloren; erbewunderte die Festigkeit seinesBlickes und die Sicherheit seiner Stimme. Dochbei den Worten: Ihr Vater ist in der Tat hier und sucht Sie, machte der junge Andrea einen Sprung und rief entsetzt: Mein Vater? Mein Vater hier?

Allerdings, erwiderte Monte Christo, Ihr Vater, der MajorBartolomeo Cavalcanti.

Der Ausdruck des Schreckens, der sich über die Züge des jungen Mannes verbreitet hatte, verschwand fast in demselben Augenblick wieder.

Ah! ja, es ist wahr, rief er, der Major Cavalcanti. Und Sie sagen, dieser liebe Vater sei hier?

Ja, mein Herr. Ich sage noch mehr. Soeben habe ich ihn verlassen; die Geschichte, die er mir von seinem geliebten, einst verlorenen Sohn erzählte, ergriff mich ungemein; seine Schmerzen, seineBefürchtungen, seine Hoffnungen wegen dieses Sohnes klingen wie ein rührendes Gedicht. Endlich hört er eines Tags, die Räuber seines Sohnes seienbereit, den Geraubten gegen eine sehrbedeutende Summe zurückzugeben oder ihm mitzuteilen, wo er sei. Nichts hielt den guten Vater zurück. Die Summe wurde an die Grenze von Piemont geschickt… Siebefanden sich, glaube ich, im Süden Frankreichs? Ja, mein Herr, antwortete Andrea mit einer ziemlich verlegenen Miene; ja, ichbefand mich im Süden Frankreichs.

Ein Wagen sollte Sie in Nizza erwarten?

So ist es, er führte mich von Nizza nach Genua und über Turin nach Paris.

Vortrefflich; er hoffte immer, Ihnen unterwegs zubegegnen, denn dies war die Straße, die er selbst verfolgte.

Aber wenn er mirbegegnet wäre, dieser liebe Vater, sagte Andrea, ich zweifle, ober mich erkannt haben würde; es ist eine ziemliche Veränderung mit mir vorgegangen, seitdem er mich aus dem Gesichte verloren hat.

Ah! die Stimme desBlutes, sagte Monte Christo.

Ah! ja, das ist wahr, erwiderte der junge Mann, ich dachte nicht an die Stimme desBlutes.

Nunbeunruhigt nur ein Gedanke den Marquis Cavalcanti, versetzte Monte Christo; was Sie wohl getan haben, während Sie von ihm entfernt waren; wie Sie von Ihren Verfolgernbehandelt worden sind; obman Ihrer Abkunft die schuldige Rücksicht hat zu teil werden lassen, obnicht die Fähigkeiten, mit denen Sie die Natur so reichbegabte, in jener Umgebung vernachlässigt worden sind, und obSie selbst meinen, den Ihnen gebührenden Rang wieder einnehmen und würdigbehaupten zu können.

Mein Herr, stammelte der junge Mann verwirrt, ich hoffe, es wird kein falscherBericht…, übrigens, er kann ruhig sein. Die Räuber, die mich von meinem Vater entfernten und ohne Zweifel, wie sie es später getan, mich an ihn zu verkaufenbeabsichtigten, berechneten, daß man mir, um einen guten Nutzen aus mir zu ziehen, meinen ganzen persönlichen Wert lassen und ihn sogar, wenn es möglich wäre, steigern müßte. Ich erhielt daher eine ziemlich gute Erziehung und wurde von den Kinderdieben ungefähr sobehandelt, wie einst in Kleinasien die Sklaven, aus denen ihre Herren Grammatiker, Mediziner und Philosophen machten, um sie teuer auf dem Markte zu Rom zu verkaufen. Monte Christo lächelte zufrieden; er hatte, wie es scheint, nicht so viel von Andrea Cavalcanti gehofft.

Wenn sich übrigens, versetzte der junge Mann, bei mir ein Mangel an Erziehung, oder vielmehr an Weltgewandtheit zeigen sollte, so wird man wohl die Nachsicht haben, dies zu entschuldigen, inBetracht der Unglücksfälle, die mich seit meiner Jugend verfolgten.

Nun, Graf, Sie werden daraus machen, was Sie wollen, sagte mit gleichgültigem Tone Monte Christo; denn Sie sind der Herr, und es geht nur Sie an; doch auf mein Wort, ich würde im Gegenteil nicht eine Silbe von all diesen Abenteuern sprechen, denn Ihre Geschichte ist ein Roman, und kaum haben Sie irgend jemand davon erzählt, so wird sie völlig entstellt in der Welt umlaufen. Sie werden nicht mehr ein wiedergefundenes Kind, sondern ein Findelkind sein. Vielleicht wird Ihnen der Erfolg zuteil, daß Sie Neugierde erregen; doch nicht jeder liebt es, der Mittelpunkt vonBeobachtungen und die Zielscheibe von Kommentaren zu sein. Das wird Ihnen etwas unangenehm werden.

Ich glaube, Sie haben recht, Herr Graf, sagte der junge Mann, unter Monte Christos unbeugsamemBlicke unwillkürlich erbleichend; es ist dies eine große Unannehmlichkeit.

Oh! Sie müssen sich andererseits die Sache nicht übertrieben vorstellen, entgegnete Monte Christo; denn das hieße, um einen Fehler zu vermeiden, in eine Torheit verfallen. Nein, es gilt nur, einen Plan des Vorgehens festzustellen, und von einem gescheiten Manne, wie Sie sind, läßt sich dieser Plan um so eher durchführen, als er mit Ihren Interessen im Einklang steht; Sie müssen eben durch Zeugnisse und ehrenwerte Verbindungen allesbekämpfen, was Ihre Vergangenheit etwa Dunkles hat.

Andrea verlor sichtbar seine Haltung.

Gern würde ich mich Ihnen alsBürge anbieten, sagte Monte Christo; doch es istbei mir oberster Grundsatz, stets an meinenbesten Freunden zu zweifeln, und einBedürfnis, auch die andern zum Zweifel anzuregen. So würde ich hier eine Rolle spielen, die nicht in meinem Fache läge, wie die Schauspieler sagen, und ich liefe Gefahr, mich auspfeifen zu lassen!

Herr Graf, versetzte Andrea mit kaltem Tone, ich denke jedoch, in Rücksicht auf Lord Wilmore, der mich Ihnen empfohlen hat…

Ja, gewiß; doch Lord Wilmore verhehlt mir nicht, mein lieber Herr Andrea, daß Sie eine etwas stürmische Jugend hinter sich haben. Oh! sagte der Graf, als er AndreasBewegung sah, ich verlange keineBeichte von Ihnen. Dazu hat man zu IhrerBeruhigung den Herrn Marquis Cavalcanti, Ihren Vater, von Lucca kommen lassen. Sie werden sehen, er ist ein wenig steif, etwas geschraubt; doch das ist schließlich eine Uniformfrage, und wenn man erfährt, daß er seit seinem achtzehnten Jahre in österreichischen Diensten steht, ist alles entschuldigt. Doch, ich versichere Ihnen, er genügt als Vater völlig.

Ah! Sieberuhigen mich, mein Herr, ich verließ ihn vor so langer Zeit, daß ich keine Erinnerung mehr an ihn habe.

Und Sie wissen, ein großes Vermögen läßt über vieles hinwegsehen.

Mein Vater ist also wirklich reich, mein Herr?

Millionär… 500 000 Franken Rente.

Ich werde mich also in einer angenehmen Lagebefinden? fragte ängstlich der junge Mann.

In einer äußerst angenehmen, mein lieber Herr; er gibt Ihnen fünfzigtausend Franken jährlich, solange Sie in Parisbleiben.

Dann werde ich immer hierbleiben.

Ei! wer kann für die Umständebürgen? Der Mensch denkt, Gott lenkt.

Andrea stieß einen Seufzer aus und erwiderte: Aber solange ich in Parisbleibe und kein Umstand mich zwingt, wegzugehen, ist mir das Geld, von dem Sie soeben sprachen, sicher? Ganz gewiß.

Durch meinen Vater? fragte Andrea mit einer gewissen Unruhe.

Ja, aber garantiert durch Lord Wilmore, der Ihnen auf dieBitte Ihres Vaters einen Kredit von fünftausend Franken monatlichbei Herrn Danglars, einem der sicherstenBankiers von Paris, eröffnet hat.

Und mein Vater gedenkt, lange in Paris zubleiben? fragte Andrea mit derselben Unruhe.

Nur einige Tage, antwortete Monte Christo. Sein Dienst erlaubt ihm nicht, länger als zweibis drei Wochen abwesend zu sein.

Oh, der liebe Vater! rief Andrea, sichtbar entzückt über diese schnelle Abreise.

Auch will ich, versetzte Monte Christo, der sich stellte, als täuschte er sich über das in den Worten des jungen Mannes zum Ausdruck gekommene Gefühl, auch will ich die Stunde Ihrer Wiedervereinigung keinen Augenblick mehr verzögern. Sind Sie vorbereitet, den würdigen Herrn Cavalcanti zu umarmen?

Sie zweifeln hoffentlich nicht daran?

Nun, so treten Sie in diesen Salon, mein junger Freund, und Sie werden Ihren Vater finden, der Sie erwartet.

Andrea machte eine tiefe Verbeugung vor dem Grafen und trat in den Salon.

Der Graf folgte ihm mit den Augen und drückte, sobald er ihn verschwinden sah, an einer Feder, die mit einem Gemälde in Verbindung stand, das sich aus dem Rahmen schobund so durch einen geschickt angebrachten Zwischenraum denBlick in den Salon dringen ließ.

Andrea machte die Tür hinter sich zu und näherte sich dem Major, der sich erhob, sobald er das Geräusch seiner Tritte hörte.

Ah! mein Herr und lieber Vater, sagte Andrea mit lauter Stimme und so, daß es der Graf durch die geschlossene Tür hören konnte, sind Sie es wirklich?

Guten Tag, mein lieber Sohn, sagte der Major mit ernstem Tone.

Nach so vielen Jahren der Trennung, fuhr Andrea, nach der Tür schielend fort, welch ein Glück, uns wiederzusehen!

In der Tat, die Trennung hat lange gedauert.

Umarmen wir uns nicht, mein Herr? fragte Andrea.

Und diebeiden umarmten sich, wie man sich auf derBühne umarmt, das heißt, sie streckten sich den Kopf über die Schulter.

So sind wir also wieder vereinigt? sagte Andrea.

Wir sind wiedervereinigt, wiederholte der Major.

Um uns nie mehr zu trennen?

In der Tat; ich glaube, mein lieber Sohn, Siebetrachten Frankreich nunmehr als ein zweites Vaterland?

Ich wäre allerdings in Verzweiflung, wenn ich Paris verlassen müßte.

Und ich vermöchte, wie Siebegreifen, nicht außerhalbLuccas zu leben. Ich werde daher sobald als möglich nach Italien zurückkehren.

Doch ehe Sie abreisen, mein geliebter Vater, stellen Sie mir ohne Zweifel die Papiere zu, mit deren Hilfe ich imstandebin, leicht nachzuweisen, von welchemBlute ich abstamme.

Allerdings, denn ich komme ausdrücklich deshalbund habe es mich so viel Mühe kosten lassen, Sie zu treffen, um sie Ihnen zustellen zu können.

Andrea griff gierig nach dem Trauscheine seines Vaters, nach seinem eigenen Taufscheine und durchlief, nachdem er das Ganze mit einembei einem guten Sohn erklärlichen Ungestüm geöffnet hatte, die Papiere mit einer Hast und Gewandtheit, die zugleich das geübte Auge und das lebhafteste Interesse verrieten.

Als er damit zu Ende war, erglänzte ein unbeschreiblicher Ausdruck von Freude auf seiner Stirn, und er sagte, den Major mit einem seltsamen Lächeln anschauend, in vortrefflichem Toskanisch: Ah! es gibt also keine Galeeren in Italien?

Der Major warf sich zurück und rief: Was meinen Sie?

Daß man ungestraft solche Dokumente fabriziert? Für die Hälfte davon, mein vielgeliebter Vater, würde man Sie in Frankreich auf fünf Jahre die Luft von Toulon einatmen lassen.

Wiebeliebt? sagte der Lukkeser, der eine majestätische Miene zu erlangen suchte.

Mein lieber Herr Cavalcanti, sagte Andrea, den Major am Arme fassend, wieviel gibt man Ihnen dafür, daß Sie mein Vater sind?

Der Major wollte sprechen.

Stille! sagte Andrea, die Stimme dämpfend, ich will Ihnen zuerst Vertrauen schenken; manbezahlt mir fünfzigtausend Franken jährlich dafür, daß ich Ihr Sohnbin; Siebegreifen folglich, daß ich nie geneigt sein werde, zu leugnen, Sie seien mein Vater.

Der Major schaute unruhig umher.

Oh! seien Sie unbesorgt, wir sind allein, versetzte Andrea; überdies sprechen wir Italienisch.

Nun wohl, mir gibt man ein für alle Mal fünfzigtausend Franken, sprach der Lukkeser.

Herr Cavalcanti, glauben Sie an Feenmärchen?

Nein, früher nicht; aber jetzt muß ich daran glauben.

Sie haben alsoBeweise erhalten?

Der Major zog eine Handvoll Gold aus seiner Tasche.

Handgreifliche, wie Sie sehen.

Sie denken, ich könne den Versprechungen trauen, die man mir gemacht hat?

Ich glaube es.

Und dieserbrave Mann von einem Grafen werde sie halten?

Punkt für Punkt; doch Siebegreifen, um zu diesem Ziele zu gelangen, müssen wir unsere Rollen spielen.

Wie denn? Ich als zärtlicher Vater.

Und ich als ehrfurchtsvoller Sohn.

Da sie verlangen, daß Sie von mir abstammen.

Welche sie?

Verdammt, ich weiß es nicht, die, welche uns schrieben; haben Sie nicht auch einenBriefbekommen?

Doch wohl.

Von wem?

Von einem gewissen AbbéBusoni.

Den Sie nicht kennen?

Ich habe ihn nie gesehen. Was sagte Ihnen derBrief, den Sie erhielten?

Sie werden mich nicht verraten?

Ich werde mich wohl hüten, unsere Interessen sind dieselben.

So lesen Sie.

Und der Major gabdem jungen Mann einenBrief.

Andrea las mit leiser Stimme:

Sie sind arm, ein unglückliches Alter erwartet Sie. Wollen Sie, wenn nicht reich, doch wenigstens unabhängig werden?

Reisen Sie auf der Stelle nach Paris und fordern Siebei dem Herrn Grafen von Monte Christo, Avenue des Champs Elysées, Nr. 30, den Sohn zurück, den Sie von der Marchesa Corsinari gehabt haben und der Ihnen in einem Alter von fünf Jahren gestohlen worden ist.

Dieser Sohn heißt Andrea Cavalcanti.

Damit Sie die Absicht des Unterzeichneten, Ihnen angenehm zu sein, nicht in Zweifel ziehen, finden Sie anbei:

Eine Anweisung von zweitausend vierhundert toskanischen Lire, zahlbarbei Herrn Gozzi in Florenz.

EinenBrief zum Zweck der Einführungbei dem Herrn Grafen von Monte Christo, auf den ich Sie mit einer Summe von achtundvierzigtausend Franken akkreditiere.

Finden Sie sich am 26. Mai abends um sieben Uhrbei dem Grafen ein.

AbbéBusoni.

So ist es.

Wie, so ist es? Was wollen Sie damit sagen? fragte der Major.

Ich sage, daß ich einen ungefähr ähnlichenBrief erhalten habe.

Sie? Von dem AbbéBusoni?

Von einem Engländer, von einem gewissen Lord Wilmore, der den Namen Simbad der Seefahrer annahm.

Und den Sie ebensowenig kennen, wie ich den AbbéBusoni?

Doch; ichbin weiter vorgerückt als Sie.

Sie haben ihn gesehen?

Ja, einmal.

Wo?

Ah! das ist es gerade, was ich Ihnen nicht sagen kann; sonst wüßten Sie so viel wie ich, und das ist nicht nötig.

DieserBrief sagte Ihnen?

Lesen Sie!

Sie sind arm und sehen nur einer elenden Zukunft entgegen; wollen Sie einen Namen haben, frei sein, reich sein?

Nehmen Sie den Postwagen, den Siebespannt finden, wenn Sie von Nizza durch das Genueser Tor weggehen. Reisen Sie durch Turin, Chambéry und Pont‑de‑Beauvoisin. Begeben Sie sich zu dem Grafen von Monte Christo, Avenue des Champs Elysées, am 26. Mai um sieben Uhr abends, und fordern Sie Ihren Vater von ihm.

Sie sind der Sohn des MarquisBartolomeo Cavalvanti und der Marchesa Oliva Corsinari, wie dies die Ihnen von dem Marquis zu übergebenden Papierebestätigen werden, die Ihnen unter diesem Namen in der Pariser Welt zu erscheinen gestatten.

Was Ihren Rangbetrifft, so wird Sie eine Rente von fünfzigtausend Lire in den Stand setzen, denselben zubehaupten.

Sie erhalten anbei eine Anweisung auf fünftausend Lire an Herrn Ferrea, Bankier zu Nizza, und einen Einführungsbrief für den Grafen von Monte Christo, der von mirbeauftragt ist, für dieBefriedigung aller IhrerBedürfnisse zu sorgen.

Simbad der Seefahrer.

Hm, sagte der Major, das ist sehr schön!

Nicht wahr?

Sie haben den Grafen gesehen? Hat er anerkannt? Alles.

Begreifen Sie etwas hiervon?

Meiner Treu, nein.

In dieser ganzen Geschichte ist einer der Tor.

Auf jeden Fall weder Sie noch ich.

Nein, gewiß nicht.

Wohl, aber wer sonst?

Daran ist wenig gelegen, nicht wahr?

Allerdings, das wollte ich eben sagen; setzen wir unsere Rollen fort und spielen ein gemeinschaftliches Spiel. Gut; Sie werden mich würdig finden, Ihr Partner zu sein. Ich habe nicht einen Augenblick daran gezweifelt, mein lieber Vater.

Sie erweisen mir viel Ehre, mein lieber Sohn.

Monte Christo wählte diesen Augenblick, um in den Salon zurückzukehren. Als sie das Geräusch seiner Tritte hörten, warfen sie sich in die Arme; der Graf fand sie eng umschlossen.

Nun, Herr Marquis, es scheint, Sie haben einen Sohn nach Ihrem Herzen wiedergefunden?

Ah! Herr Graf, die Freude erstickt mich fast.

Und Sie, junger Mann?

Ah! Herr Graf, das Glück erstickt mich.


Glücklicher Vater! glückliches Kind! rief der Graf. Nur einesbetrübt mich, sagte der Major; die Notwendigkeit, in der ich michbefinde, Paris so schnell zu verlassen. Oh! lieber Herr Cavalcanti, Sie werden hoffentlich nicht eher abreisen, alsbis ich Sie einigen Freunden vorgestellt habe, entgegnete Monte Christo.

Ich stehe dem Herrn Grafen zuBefehl, sagte der Major. Nunbeichten Sie, junger Mann, sagte Monte Christo.

Wem?

Ihrem Herrn Vater, sagen Sie ihm ein paar Worte von dem Zustand Ihrer Finanzen.

Ah! Teufel! rief Andrea; Sieberühren die empfindlichste Seite.

Hören Sie, Major? sagte Monte Christo.

Allerdings höre ich.

Das gute Kind sagt, esbrauche Geld!

Was soll ich tun?

Bei Gott, Sie müssen ihm geben!

Ich?

Ja Sie.

Monte Christo trat zwischenbeide.

Nehmen Sie, sagte er zu Andrea und drückte ihm ein Päckchen mitBanknoten in die Hand.

Was ist das?

Die Antwort Ihres Vaters.

Meines Vaters?

Gaben Sie ihm nicht zu verstehen, Sie hätten Geld nötig? Ja. Nun?

Erbeauftragt mich, Ihnen dies zuzustellen. Auf Abschlag von meiner Rente?

Nein, zur Deckung Ihrer Einrichtungskosten.

Oh, teurer Vater!

Still, sagte Monte Christo, Sie sehen, ich soll Ihnen nicht sagen, daß es von ihm kommt.

Ich weiß diese Zartheit zu würdigen, versetzte Andrea und steckte dieBanknoten in seine Tasche.

Es ist gut, gehen Sie nun! sagte Monte Christo. Und wann werden wir die Ehre haben, den Herrn Grafen wiederzusehen? fragte Cavalcanti

Ah! ja, wiederholte Andrea; wann werden wir diese Ehre haben?

Sonnabend, wenn Sie wollen… ja… Sonnabend. Ich habe in meinem Hause in Auteuil, Rue de la Fontaine, Nr. 30, mehrere Personenbei Tische, und unter anderen Herrn Danglars, IhrenBankier; ich werde Sie ihm vorstellen, denn er muß Siebeide kennen, um Ihnen Ihr Geld auszuzahlen.

In Gala? fragte mit heller Stimme der Major.

In Gala: Uniform, Kreuze, kurze Hose.

Und ich? fragte Andrea.

Oh! Sie, sehr einfach. SchwarzeBeinkleider, lackierte Stiefel, weiße Weste, schwarzer Frack, lange Halsbinde; lassen Sie sichbeiBlin oderbei Veronique kleiden. Baptistin wird Ihnen die Adresse dieser Herrn geben. Je weniger anspruchsvoll Sie sich kleiden, destobesser wirdbei Ihrem Reichtum die Wirkung sein. Kaufen Sie Pferde, so nehmen Sie siebei Dedeveux; brauchen Sie einen Wagen, so gehen Sie zuBaptiste.

Um welche Stunde dürfen wir uns einfinden?

Gegen halbsieben Uhr.

Es ist gut, man wird nicht verfehlen, sagte der Major, nach seinem Hute greifend.

Diebeiden Cavalcanti verbeugten sich und verließen das Zimmer.

Der Graf näherte sich dem Fenster und sah sie Arm in Arm durch den Hof schreiten.

In der Tat, sagte er, das sind zwei große Schufte! Wie schade, daß sie einander nicht wirklich als Vater und Sohn angehören!

Dann fügte er nach einem Augenblick düsteren Nachdenkens hinzu: Wir wollen zu den Morels gehen; ich glaube, der Ekel greift mein Herz noch mehr an, als der Haß.

Unsere Leser müssen uns nun erlauben, sie zu dem an das Haus des Herrn von Villefort grenzenden Luzernengehege zu führen, wo wir hinter dem von Kastanienbäumen überschatteten Gitter unsbefreundete Personen finden.

Das Luzernengehege

Diesmal hat sich Maximilian zuerst eingefunden. Er lauert in dem tiefgelegenen Garten auf eine Erscheinung zwischen denBäumen und auf das Knistern eines seidenen Schuhes auf dem Sande der Allee.

Endlich läßt sich das so lang ersehnte Knistern hören, aber statt einer Gestalt erscheinen zwei. Die Zögerung Valentines war durch einenBesuch der Frau Danglars und Eugenies, der sich über die Stunde, wo Valentine erwartet wurde, ausgedehnt hatte, veranlaßt worden. Um das Stelldichein nicht ganz zu versäumen, schlug Valentine Fräulein Danglars einen Spaziergang im Garten vor, denn sie wollte Maximilian zeigen, daß sie nicht schuld an dem Verzuge sei, unter dem er ohne Zweifel gelitten.

Der junge Mannbegriff alles mit der den Liebenden eigenen schnellen Auffassung, und sein Herz war erleichtert. Ohnebis in denBereich der Stimme zu kommen, richtete Valentine doch ihren Spaziergang so ein, daß Maximilian sie hin und her gehen sehen konnte, und jeder dem jungen Mann zugeworfeneBlick sagte ihm: Fassen Sie Mut, Freund, Sie sehen, daß es nicht meine Schuld ist.

Und Maximilian faßte in der Tat Mut, während er den Kontrast zwischen denbeiden Mädchenbewunderte, zwischen derBlonden mit schmachtenden Augen und vorgebeugter Gestalt, gleich einer schönen Weide, und derBraunen mit den stolzen Augen und dem pappelartig geraden Wuchse. Es versteht sich von selbst, daßbei dieser Vergleichung zwischen zwei so entgegengesetzten Naturen der Vorzug, wenigstens von dem jungen Manne, Valentine eingeräumt wurde.

Nach einem halbstündigen Spaziergang entfernten sich diebeiden Mädchen. Maximilianbegriff, daß Frau Danglars'Besuch zu Ende war.

Eine Minute nachher erschien Valentine wirklich wieder allein. Aus Furcht, ein neugierigerBlick könne ihr folgen, kam sie langsam; und statt unmittelbar auf das Gitter zuzuschreiten, setzte sie sich auf eineBank, während sie scheinbar absichtslos jedes Gebüsch untersuchte und das Auge in die Tiefe der Allee hinabsandte. Nach diesen Vorsichtsmaßregeln lief sie zu dem Gitter.

Guten Morgen, Valentine, sagte eine Stimme.

Guten Morgen Maximilian; ich ließ Sie warten, aber Sie haben wohl die Ursache gesehen?

Ja, ich erkannte Fräulein Danglars; doch ich glaubte nicht, daß Sie in so enger Verbindung mit dieser Dame ständen.

Wir plauderten miteinander, und sie gestand mir ihren Widerwillen gegen eine Verbindung mit Herrn von Morcerf, und ich gestand ihr, daß ich es als ein Unglückbetrachte, Herrn d'Epinay heiraten zu sollen.

Teure Valentine!

Deshalb, mein Freund, sahen Sie diese scheinbare Harmonie zwischen mir und Eugenie! Während ich aber von dem Manne sprach, den ich nicht lieben kann, dachte ich an den Mann, den ich liebe.

Sie sind gut in allen Dingen, Sie haben etwas an sich, was Fräulein Danglars nie haben wird: den unerklärlichen Zauber, derbei der Frau das ist, was der Wohlgeruchbei derBlume, der Wohlgeschmackbei der Frucht; dennbei derBlume wiebei der Frucht ist mit der Schönheit nicht alles getan.

Ihre Liebe läßt Sie mich so anschauen!

Nein, Valentine, das schwöre ich Ihnen. Ichbetrachtete Siebeide vorhin, undbei meiner Ehre, während ich der Schönheit Fräulein Danglars' Gerechtigkeit widerfahren ließ, begriff ich doch nicht, wie sich ein Mann in sie verlieben könnte — doch gestatten Sie eine Frage derbloßen Neugierde: Liebt Fräulein Danglars einen andern, daß sie sich einer Verheiratung mit Herrn von Morcerf scheut?

Sie sagte mir, sie liebe niemand, sagte Valentine; sie verabscheue die Ehe; ihre größte Freude wäre es gewesen, ein freies und unabhängiges Leben zu führen, und sie wünschtebeinahe, ihr Vater möchte sein Vermögen verlieren, daß sie wie ihre Freundin, Fräulein Luise d'Armilly, Künstlerin werden könnte.

Ah, das ist interessant, doch ich wollte Ihnen sagen, daß ich kürzlich Herrn von Morcerf getroffen habe. Franz ist sein Freund, wie Sie wissen; er kündigte mir seine nahebevorstehende Rückkehr an.

Valentine erbleichte und hielt sich am Gitter.

Ah, mein Gott! sagte sie, wenn dies so wäre! Frau von Villefort ließ mich vorhin wissen, ich sollte in zehn Minutenbei ihr sein; sie habe mir eine für mich äußerst wichtige Nachricht mitzuteilen. ObSie wohl diese Nachricht meint? Doch nein, diese Mitteilung käme nicht von Frau von Villefort.

Warum nicht?

Warum… ich weiß es nicht… doch es scheint mir, wenn sich Frau von Villefort auch nicht offen widersetzt, so ist sie doch nicht für diese Heirat eingenommen.

Ah! Valentine, ich glaube, ich werde Frau von Villefort anbeten.

Oh! nicht zu eilig, Maximilian, sagte Valentine mit einem traurigen Lächeln.

Wenn sie aber gegen diese Heirat aus irgend einem Grunde eingenommen ist, würde ihr Ohr nicht vielleicht für einen andern Antrag offen sein?

Glauben Sie dies nicht, Maximilian! Nicht die Ehesucher verwirft Frau von Villefort, sondern die Ehe.

Wie, die Ehe? Wenn sie die Ehe so sehr haßt, warum hat sie sich verheiratet?

Sie verstehen mich nicht, Maximilian. Als ich vor einem Jahre den Gedanken äußerte, mich in ein Kloster zurückzuziehen, nahm sie trotz derBemerkungen, die sie dagegen machen zu müssen glaubte, meinen Vorschlag mit Freuden an, und ichbin fest überzeugt, auch mein Vater gabauf ihren Antriebseine Einwilligung dazu; nur mein armer Großvater hielt mich zurück. Sie können sich nicht vorstellen, Maximilian, welcher Ausdruck in den Augen dieses armen Greises liegt, der nur mich allein in der Welt liebt und, Gott verzeihe mir, wenn dies eine Lästerung ist, nur von mir allein in der Welt geliebt wird. Wenn Sie wüßten, wie er mich anschaute, wieviel Vorwurf in diesemBlicke, wieviel Verzweiflung in diesen Tränen lag, die ohne Klagen, ohne Seufzer an seinen unbeweglichen Wangen herabrollten! Ah, Maximilian, ich fühlte etwas wie einen Gewissensbiß, warf mich ihm zu Füßen und rief: Verzeihung! Verzeihung! mein Vater, man mag mit mir machen, was man will, ich werde Sie nie verlassen. Dann schlug er die Augen zum Himmel auf! Maximilian, ich kann viel erdulden; dieserBlick meines guten, alten Großvaters hat mich zum voraus für dasbelohnt, was ich leiden werde.

Teure Valentine! Sie sind ein Engel.

Hören Sie weiter! Ich habe als Erbteil von meiner Mutter gegen 50 000 Franken Rente; mein Großvater und meine Großmutter, der Marquis und die Marquise von Saint‑Meran, müssen mir ebensoviel hinterlassen; Herr Noirtier hat offenbar die Absicht, mich zu seiner einzigen Erbin einzusetzen. Daraus geht hervor, daß meinBruder Eduard im Vergleiche mit mir, da er kein Vermögen von Frau von Villefort zu erwarten hat, arm ist. Frau von Villefort aber liebt dieses Kind, und hätte ich den Schleier genommen, so wäre mein ganzes Vermögen von meinem Vater, der alles von dem Marquis, der Marquise und mir erbte, ihrem Sohne zugekommen.

Oh, wie sonderbar ist eine solche Habgierbei einer jungen und hübschen Frau!

Bemerken Sie wohl, daß sie nicht für sich, sondern für ihren Sohn danach trachtet, und daß das, was Sie ihr als einen Fehler vorwerfen, aus dem Gesichtspunkte der mütterlichen Liebebetrachtet, fast eine Tugend ist.

Wie wäre es aber, Valentine, wenn Sie einen Teil Ihres Vermögens diesem Sohne abtreten wollten?

Aber wie einen solchen Vorschlag machen, undbesonders einer Frau gegenüber, diebeständig das Wort Uneigennützigkeit auf der Zunge führt?

Valentine, meine Liebe ist mir stets heilig geblieben, und wie jede heilige Sache, habe ich sie mit dem Schleier meiner Achtungbedeckt und in meinem Herzen eingeschlossen. Niemand in der Welt, nicht einmal meine Schwester, hat eine Ahnung von dieser Liebe, Valentine, erlauben Sie mir, mit einem Freunde über diese Liebe zu sprechen?

Valentinebebte und erwiderte: Mit einem Freunde? Oh, mein Gott! Maximilian, ich zittere, wenn ich Sie nur so reden höre! Mit einem Freunde, und wer ist denn dieser Freund?

Teure Freundin, Sie kennen ihn, er hat Ihrer Stiefmutter und ihrem Sohne das Leben gerettet.

Der Graf von Monte Christo? Oh! er kann nie mein Freund sein, denn er ist zu sehr der meiner Stiefmutter.

Der Graf der Freund Ihrer Stiefmutter, Valentine? Ichbin überzeugt, daß Sie sich täuschen, sagte Maximilian.

Oh! wenn Sie wüßten, nicht Eduard regiert mehr im Hause, sondern der Graf: hochgeschätzt von Frau von Villefort, die in ihm den Inbegriff aller menschlichen Kenntnisse erblickt, bewundert von meinem Vater, derbehauptet, er habe nie mit mehrBeredsamkeit erhabene Gedanken aussprechen hören, und vergöttert von Eduard, der ihm, trotz seiner Furcht vor seinen großen, schwarzen Augen, entgegenläuft, sobald er ihn kommen sieht, und ihm die Hand öffnet, wo er stets einbewunderungswürdiges Spielzeug findet. Auf diese Art ist der Graf Monte Christo Herr in unserm Hause.

Gut, Valentine, wenn es sich so verhält, wie Sie sagen, so müssen Siebereits die Wirkungen seiner Gegenwart fühlen oder werden sie wenigstensbald fühlen. Er trifft Albert von Morcerf in Italien, um ihn den Händen von Räubern zu entreißen; er erblickt Frau Danglars, um ihr ein königliches Geschenk zu machen; Ihre Stiefmutter und IhrBruder fahren vor seiner Tür vorüber, damit sein Nubier ihnen das Leben rettet. Dieser Mannbesitzt offenbar die Macht, auf die Ereignisse, auf die Menschen und auf die Dinge einen Einfluß zu üben. Ich sah nie einen einfacheren Geschmack in Verbindung mit größerer Pracht. Sein Lächeln ist so süß, wenn er es mir zuwendet, daß ich vergesse, wiebitter die andern sein Lächeln finden. Oh! sagen Sie mir, Valentine, hat er Ihnen so zugelächelt? Wenn er dies getan, so werden Sie glücklich sein.

Mir! rief das junge Mädchen; oh, mein Gott! Maximilian, er schaut mich nicht einmal an, oder er wendet vielmehr das Auge ab, wenn ich zufällig in seine Nähe komme. Nein, er ist nicht edelmütig, oder erbesitzt nicht den scharfenBlick, der in der Tiefe der Herzen liest und den Sie mit Unrechtbei ihm voraussetzen. Besäße er diesenBlick, so würde er gesehen haben, daß ich unglücklichbin; wäre er edelmütig, so würde er seinen Einfluß zu meinem Schutze angewendet haben, und spielte er, wie Sie sagen, die Rolle der Sonne, so hätte sich mein Herz an einem ihrer Strahlen erwärmt. Siebehaupten, er sei Ihr Freund, Maximilian; ei, mein Gott! woher wissen Sie dies?

Es ist gut, Valentine, erwiderte Morel seufzend; sprechen wir nicht mehr davon, ich werde ihm nichts sagen!

Ach! mein Freund, ichbetrübe Sie. Oh, warum kann ich Ihnen nicht die Hand drücken, um mir Verzeihung von Ihnen zu erbitten! Doch mir wäre nichts lieber, als wenn ich überzeugt würde; sagen Sie mir, was hat denn dieser Graf von Monte Christo für Sie getan?

Ich gestehe, Sie setzen mich sehr in Verlegenheit, Valentine, wenn Sie mich fragen, was er für mich getan habe; ich weiß wohl, es ist nichts Auffallendes. Auch entspringt meine Zuneigung für ihn rein dem Zuge des Herzens, und ich kann sie nicht verstandesgemäßbegründen. Hat die Sonne etwas für mich getan? Nein; sie erwärmt mich, und ihr Licht läßt mich Sie erblicken. Hat dieser oder jener Wohlgeruch etwas für mich getan? Nein; sein Duft erquickt auf eine angenehme Weise meine Sinne; ich kann nichts weiter sagen, wenn man mich fragt, warum ich diesen Wohlgeruch rühme. Meine Freundschaft für den Grafen ist unerklärlich, wie die seinige für mich. Eine geheime Stimme offenbart mir, daß diese unvorhergesehene und gegenseitige Freundschaft mehr als Zufall ist. Ich finde in seinen einfachsten Handlungen, in seinen geheimsten Gedanken einen Zusammenhang mit meinen Handlungen und meinen Gedanken. Sie werden abermals über mich lachen, Valentine; aber seitdem ich diesen Mann kenne, ist mir der törichte Gedanke gekommen, alles, was mir Gutesbegegne, entströme ihm. Und dennoch habe ich dreißig Jahre gelebt, ohne diesesBeschützers zubedürfen… nicht wahr? Gleichviel, hören Sie einBeispiel: Er hat mich auf Sonnabend zum Mittagessen eingeladen, das istbei unserem Verhältnis zu einander ganz natürlich, nicht wahr? Nun, was habe ich seitdem erfahren? Ihr Vater ist zu diesem Mittagessen eingeladen, Ihre Mutter wird kommen. Ich werde mit ihnen zusammentreffen, und wer weiß, was in der Zukunft hieraus entspringt? Das sind scheinbar ganz einfache Umstände. Ich aber sage mir, der Graf, dieser sonderbare Mann, der alles errät, habe mich mit Herrn und Frau von Villefort zusammenbringen wollen, und ich suchebisweilen, das schwöre ich Ihnen, in seinen Augen zu lesen, ober nicht meine Liebe erraten hat.

Guter Freund, entgegnete Valentine, ich müßte Sie für einen Träumer und Schwärmer halten und an Ihrem Verstande zweifeln, wenn ich von Ihnen nur solcheBemerkungen hörte. Wie, Sie sehen in diesem Zusammentreffen etwas anderes als einen Zufall? Bedenken Sie doch! Mein Vater, der nie ausgeht, war zehnmal auf dem Punkte, diese Einladung abzuschlagen, trotz derBitte der Frau von Villefort, die im Gegenteil vor Verlangenbrennt, den wunderbaren Nabobin seinem Hause zu sehen, und nur mit großer Mühe hat sie es dahin gebracht, daß er siebegleite. Nein, nein, glauben Sie mir, Maximilian, abgesehen von Ihnen, habe ich von niemand auf dieser Welt Hilfe zu erwarten, als von meinem Großvater, einem Leichnam.

Ich fühle, daß Sie recht haben, Valentine, und daß die Logik auf Ihrer Seite ist! Doch Ihre sanfte, stets für mich so mächtige Stimme überzeugt mich heute nicht.

Die Ihrige mich auch nicht, und ich gestehe, wenn Sie keinen weiteren Grund anzuführen wissen…

Ich weiß einen, sagte Maximilian zögernd; doch in der Tat, Valentine, ich muß selbstbekennen, er ist noch törichter als der erste.

Desto schlimmer, versetzte lächelnd Valentine.

Nun, so schauen Sie durch dieBretter, und sehen Sie dort an einemBaume das neue Pferd, mit dem ich gekommenbin.

Oh! ein herrliches Tier! rief Valentine, warum haben Sie es nicht zum Gitter geführt? Ich hätte mit ihm gesprochen, und es würde mich verstanden haben.

Es ist in der Tat ein sehr wertvolles Tier; Sie wissen aber, daß mein Vermögenbeschränkt ist, Valentine, und daß ich dasbin, was man einen vernünftigen Menschen nennt. Nun, ich hatte diese herrliche Medea, so nenne ich sie, bei einem Pferdehändler gesehen; ich fragte nach dem Preise; man antwortete mir: 4500 Franken. Ich mußte mich, wie Siebegreifen, enthalten, sie länger schön zu finden, und entfernte mich mit schwerem Herzen, denn das Pferd hatte mich zärtlich angeschaut, mich mit seinem Kopfe geliebkost und, als ich auf ihm saß, auf die anziehendste Weise unter mir getanzt. An demselben Abend sah ich einige Freundebei mir, Herrn Debray und fünfbis sechs andere Taugenichtse, die Sie nicht einmal dem Namen nach kennen. Man schlug ein Hazardspiel vor; ich spiele nie, denn ichbin nicht reich genug, um verlieren zu können, und nicht arm genug, um einen Gewinn zu wünschen. Doch Siebegreifen, ich war Wirt und konnte nichts anderes tun, als Karten holen lassen. Als man sich zur Tafel setzte, kam Herr von Monte Christo. Man spielte, und ich gewann; kaum wage ich es zu gestehen, Valentine, ich gewann fünftausend Franken. Wir trennten uns um Mitternacht. Ich konnte mich nicht halten, nahm einen Wagen und ließ mich zu meinem Pferdehändler führen. Ich stürzte durch die Tür, trat in den Stall und schaute nach der Raufe. Oh Glück! Medea knaupelte an ihrem Haber. Ich ergreife einen Sattel, befestige ihn selbst auf dem Rücken, lege den Zaum an, und Medea zeigt sich mit meinem Tun durchaus einverstanden. Dann händige ich dem erstaunten Kaufmann die 4500 Franken ein und reite die ganze Nacht auf den Champs‑Elysées spazieren. Ich sah Licht an den Fenstern des Grafen, und es kam mir sogar vor, als erblickte ich seinen Schatten hinter den Vorhängen. Nun wollte ich schwören, Valentine, der Graf wußte, daß ich dieses Pferd wünschte, und verlor absichtlich, um mich gewinnen zu lassen.

Mein lieber Maximilian, Sie sind in der Tat zu phantastisch… und werden mich nicht lange lieben… ein Mann, der so poetische Anschauungen hat, wird eine eintönige Liebe wie die unsrigebald sattbekommen. Doch hören Sie, großer Gott, man ruft mich.

Oh! Valentine, durch die kleine Öffnung des Verschlags Ihren kleinsten Finger… daß ich ihn küssen kann.

Maximilian, wir sagten, wir wollten füreinander nichts als zwei Stimmen, zwei Schattenbleiben.

Nach IhremBelieben, Valentine.

Werden Sie glücklich sein, wenn ich tue, was Sie wollen?

Ganz gewiß!

Valentine stieg auf eineBank und streckte, nicht ihren kleinen Finger durch die Öffnung, sondern ihre ganze Hand über den Verschlag.

Maximilian stieß einen Schrei aus, sprang auf einen Stein, ergriff die teure Hand und drückte seine glühenden Lippen darauf; doch sogleich entschlüpfte die Hand wieder der seinigen, und der junge Mann hörte Valentine, die vielleicht über die Empfindung erschrocken war, die sich ihrerbemächtigt hatte, rasch entfliehen.

Noirtier von Villefort

Während der eben mitgeteilten Unterredung zwischen Valentine und Maximilian trug sich im Hause des Staatsanwalts folgendes zu. Herr von Villefort trat mit Frau von Villefortbei dem Vater des ersteren ein. Beide setzten sich an die Seite des Greises, nachdem sie ihnbegrüßt undBarrois, einen alten Diener, der schon 25 Jahre in seinem Dienste stand, weggeschickt hatten.

Herr Noirtier saß in seinem großen Rollstuhle, auf den man ihn jeden Morgen setzte, einem Spiegel gegenüber, in dem das ganze Zimmer sichtbar war und der dem Greise, ohne daß er eineBewegung machte, zeigte, wer in sein Zimmer eintrat, wer es verließ und was man um ihn her machte. Unbeweglich wie ein Leichnam, schaute Herr Noirtier mit gescheiten, lebhaften Augen seine Kinder an, deren umständlicheBegrüßung ihm irgend einen feierlichen und unerwarteten Schritt verkündigte.

Das Gesicht und das Gehör waren noch die einzigen Sinne, die wie zwei Funken diesesbereits zu drei Vierteln dem Grabe angehörige menschliche Gebildebelebten; und von diesen zwei Sinnen vermochte nur einer nach außen das innere Leben des starren Körpers zu enthüllen, das Auge. Und dieses Auge, welches das innere Leben offenbarte, war einem von jenen fernen Lichtern ähnlich, die in finsterer Nacht dem in der Wüste verirrten Reisenden anzeigen, daß es noch ein Wesen gibt, welches in dieser Stille und in dieser Dunkelheit wacht.

In dem schwarzen Auge des alten Noirtier, das eine schwarzeBraue überragte, während all sein Haar, das er lang und auf die Schultern herabhängend trug, weiß war, — in diesem Auge waren die ganze Tätigkeit, die ganze Gewandtheit, die ganze Kraft, der ganze Verstand, die einst in diesem Körper und in diesem Geiste weilten, nunmehr konzentriert. Fehlten auch dieBewegungen des Armes, die Gebärden des Antlitzes, der Ton der Stimme, die Haltung des Körpers, dieses mächtige Auge ersetzte alles; erbefahl mit den Augen, er dankte mit den Augen; es war ein Leichnam mit lebendigen Augen, und nichts war ergreifender anzuschauen, als wenn sich zuweilen in diesem Marmorgesichte ein Zorn entzündete oder eine Freude glänzte. Nur drei Personen verstanden die Sprache des armen Gelähmten: Villefort, Valentine und der alte Diener. Da jedoch Villefort nur selten und eigentlich nur, wenn er es nicht umgehen konnte, seinen Vater sah, soberuhte das ganze Glück des Greises auf seiner Enkelin, und Valentine war durch Ergebenheit, Liebe und Geduld dahin gelangt, daß sie alle Gedanken Noirtiers von seinen Augen ablas. Auf seine stumme, für jeden andern unverständliche Sprache antwortete sie mit ihrer ganzen Stimme, mit ihrer ganzen Physiognomie, mit ihrer ganzen Seele, so daß sogar lebensvolle Gespräche zwischen dem Mädchen und dem Mann mit dem ungeheuren Wissen, dem unerhörten Scharfsinne und dem mächtigen Willen stattfinden konnten.

Valentine hatte also das seltsame Problem gelöst, die Gedanken des Greises zu verstehen und ihm ihre Gedanken verständlich zu machen; und infolgedessen kam es nur selten vor, daß siebei den gewöhnlichen Vorkommnissen des Lebens nicht genau das Verlangen dieser lebendigen Seele oder dasBedürfnis dieses halbunempfindlichen Körpers erraten hätte. Der DienerBarrois kannte alle Gewohnheiten seines Herrn, und Noirtierbrauchte nur ausnahmsweise etwas von ihm zu verlangen.

Villefortbedurfte keiner Unterstützung, um mit seinem Vater das seltsame Gespräch anzuknüpfen, das er mit ihm zu führen gedachte, denn auch er kannte, wie gesagt, vollkommen das Wörterbuch des Greises, und wenn er sich desselben nicht häufigerbediente, so geschah dies aus Überdruß oder Gleichgültigkeit. Er ließ also vorher Valentine in den Garten hinabgehen, entfernteBarrois, setzte sich rechts von seinem Vater, während Frau von Villefort ihren Platz zu seiner Linken nahm, undbegann: Mein Herr, wundern Sie sich nicht, daß Valentine nicht mit uns heraufgekommen ist, und daß ichBarrois entfernte, denn die Unterredung, die wir untereinander haben werden, kann nicht in Gegenwart eines jungen Mädchens oder eines Dieners stattfinden; Frau von Villefort und ich haben Ihnen eine Mitteilung zu machen.

Noirtiers Gesichtbliebunempfindlich, während Villeforts Augebis in die tiefste Seele des Greises dringen zu wollen schien.

Diese Mitteilung, fuhr der Staatsanwalt mit dem eisigen Tone fort, der nie einen Widerspruch zuzulassen schien, diese Mitteilung, Frau von Villefort und ich sind fest davon überzeugt, wird Sie erfreuen.

Das Auge des Greisesbliebteilnahmlos, er hörte nur.

Mein Herr, sagte Villefort, wir verheiraten Valentine.

Ein Gesicht von Wachs wärebei dieser Kunde nicht kälter geblieben, als das Gesicht des Greises.

Die Heirat wirdbinnen drei Monaten stattfinden, fügte Villefort hinzu.

Das Auge des Greisesbliebimmer gleich leblos.

Frau von Villefort nahm ebenfalls das Wort und sagte hastig:

Wir dachten, diese Mitteilung hätte Interesse für Sie, mein Herr; überdies schien Valentine sich stets Ihrer Zuneigung zu erfreuen; wir haben Ihnen also nur noch den Namen des für siebestimmten jungen Mannes zu sagen. Es ist eine von den ehrenvollsten Partien, auf die Valentine Anspruch machen kann. Der junge Mannbesitzt Vermögen, einen schönen Namen, und seinBenehmen und sein Geschmackbieten die vollkommene Gewähr, daß sie glücklich sein wird. Sein Name kann Ihnen nicht unbekannt sein: es handelt sich um Franz von Quesnel, Baron d'Epinay.

Während der kurzen Rede seiner Frau heftete Villefort einen noch aufmerksamerenBlick als zuvor auf den Greis. Sobald Frau von Villefort den Namen Franz aussprach, bebte Noirtiers Auge, das sein Sohn so gut kannte, und ließ einenBlitz hervorleuchten.

Der Staatsanwalt, der mit der früheren politischen Feindschaft, die zwischen seinem Vater und Franzens Vaterbestanden hatte, vertraut war, begriff diesen Feuerblick und diese Aufregung; doch er ließbeides scheinbar unbemerkt vorübergehen und nahm die Rede da wieder auf, wo seine Frau abgebrochen hatte.

Mein Herr, sagte er, Siebegreifen, es ist von Wichtigkeit, daß Valentine, die nunmehr ihrem neunzehnten Jahre nahe steht, ihre häusliche Versorgung findet. Nichtsdestoweniger haben wir Siebei unseren Konferenzen nicht vergessen, und wir haben uns zum voraus vergewissert, daß Valentines Gatte einwilligen würde, wenn nichtbei uns zu leben, was für ein junges Ehepaar vielleicht lästig wäre, wenigstens Sie, den Valentine ganzbesonders liebt, und der die gleiche Zuneigung für sie zubesitzen scheint, bei sich aufzunehmen. Dann würden Sie keine von Ihren Gewohnheiten aufzugebenbrauchen und statt eines zwei Kinder haben, die über Ihre alten Tage wachten.

Noirtiers Augenblitz wurde gleichsamblutig. Es ging offenbar etwas Furchtbares im Innern des Greises vor, sicherlich stieg ihm der Schrei des Schmerzes und der Wut in die Kehle und erstickte ihnbeinahe, da er nicht ausbrechen konnte, denn sein Gesicht wurde purpurrot, und seine Lippen erbleichten.

Villefort öffnete ruhig ein Fenster und sagte: Es ist sehr warm hier, die Wärmebekommt Herrn Noirtier schlecht.

Dann kam er zurück, jedoch ohne sich zu setzen.

Die erwähnte Heirat, fügte Frau von Villefort hinzu, ist Herrn d'Epinay und seiner Familie sehr angenehm; übrigensbesteht diese Familie nur aus einem Oheim und einer Tante. Seine Mutter starbin dem Augenblick, wo sie ihn zur Weltbrachte, und da sein Vater 1815, das heißt, als das Kind kaum zwei Jahre alt war, ermordet wurde, sobraucht er nur dem eigenen Willen zu folgen.

Ein geheimnisvoller Mord, dessen Urheber unbekannt geblieben sind, obgleich der Verdacht sich auf verschiedene lenkte, sagte Villefort.

Noirtier machte eine solche Anstrengung, daß seine Lippen sich wie zu einem Lächeln zusammenzogen.

Die wahren Schuldigen aber, fuhr Villefort fort, diejenigen, die da wissen, daß sie das Verbrechenbegangen haben; diejenigen, welche die Gerechtigkeit der Menschen während ihres Lebens und die Gerechtigkeit Gottes nach ihrem Tode treffen kann, sollten glücklich sein, wenn sie sich an unserem Platzebefänden und Herrn Franz d'Epinay eine Tochterbieten könnten, um auch den Schein des Verdachtes zu ersticken.

Noirtier hatte sich mit einer Gewaltberuhigt, die manbei dieser gebrochenen Organisation nicht hätte erwarten sollen.

Ja, ichbegreife, antwortete er Villefort mit einemBlicke, der zugleich tiefe Verachtung und sittlichen Zorn ausdrückte.

Villefort erwiderte diesenBlick, dessen Inhalt er gelesen hatte, mit einem leichten Achselzucken. Dannbedeutete er seiner Frau durch ein Zeichen, sie möge aufstehen.

Mein Herr, genehmigen Sie nun den Ausdruck meiner Achtung, sagte Frau von Villefort. Erlauben Sie, daß Eduard Ihnen seine Ehrfurchtbezeugt?


Verabredetermaßen drückte der Greis durch ein Schließen der Augen seineBilligung, seine Weigerung durch ein wiederholtesBlinzeln, und irgend einen Wunsch dadurch aus, daß er seine Augen zum Himmel aufschlug. Verlangte er nach Valentine, so schloß er nur das rechte Auge, verlangte er nachBarrois, so schloß er das linke Auge.

Auf Frau von Villeforts Frageblinzelte er heftig.

Als Frau von Villefort den Vorschlag mit einer offenbaren Weigerung aufgenommen sah, kniff sie die Lippen zusammen.

Ich werde Ihnen also Valentine schicken? sagte sie.

Ja, antwortete der Greis, rasch die Augen schließend.

Herr und Frau von Villefort grüßten und entfernten sich mit demBefehle, Valentine zu rufen, der indessen schon gesagt worden war, sie sollte sich im Verlaufe des Tagesbei Herrn Noirtier einfinden.

Kaum hatten sich die Eltern entfernt, so trat Valentine, noch ganz rosig vor Aufregung, bei dem Greise ein. EinBlick sagte ihr, wie sehr ihr Großvater litt, und wieviel er ihr zu sagen hatte.

Ah, guter Papa, rief sie, was ist denn geschehen? Nicht wahr, man hat dich geärgert, und dubist aufgebracht?

Ja, erwiderte er, die Augen schließend.

Gegen wen? Gegen meinen Vater? Nein. Gegen Frau von Villefort? Nein. Gegen mich?

Der Greis machte einbejahendes Zeichen.

Gegen mich! versetzte Valentine erstaunt.

Der Greis wiederholte das Zeichen.

Was habe ich dir denn getan, lieber, guter Papa? rief Valentine. — Keine Antwort; sie fuhr fort: Ich habe dich den ganzen Tag nicht gesehen, man hat dir irgend etwas über mich gesagt.

Ja, sagte mit Heftigkeit derBlick des Greises.

Vergebens suche ich zu erraten. Mein Gott! ich schwöre dir, guter Vater… Ah! nicht wahr, Herr und Frau Villefort gingen soeben von hier weg?

Ja.

Und sie sind es, welche dir Dinge gesagt haben, die dich ärgern? Was ist es denn? Mein Gott! Was konnten sie dir sagen? Und sie suchte, endlich sagte sie, die Stimme dämpfend und sich dem Greise nähernd. Oh! ich habe es, sie sprachen vielleicht von meiner Verheiratung?

Ja, antwortete der zornigeBlick.

Ichbegreife, du grollst mir wegen meines Stillschweigens. Oh! siehst du, sie hatten mir so oft eingeschärft, dir nichts davon zu sagen! Sie hätten mir selbst nichts davon gesagt, würde ich es nicht durch einen Zufall selbst erfahren haben; deshalbwar ich so zurückhaltend gegen dich. Vergibmir, guter Papa Noirtier!

Wieder starr und ausdruckslos geworden, schien derBlick zu antworten: Es ist nicht allein dein Stillschweigen, was michbetrübt.

Was ist es denn? fragte das junge Mädchen; du glaubst vielleicht, ich würde dich verlassen, guter Vater, meine Heirat könnte mich vergeßlich machen?

Nein, erwiderte der Greis.

Warumbist du dann ärgerlich? Die Augen des Greises nahmen einen Ausdruck von unendlicher Sanftmut an.

Ja, ichbegreife, sagte Valentine, weil du mich liebst.

Der Greis machte einbejahendes Zeichen.

Und du fürchtest, ich könnte unglücklich werden?

Ja.

Du liebst Herrn Franz nicht?

Seine Augen wiederholten drei- oder viermal: Nein.

Dannbist du wohl sehrbekümmert, lieber Vater?

Ja.

Wohl, so höre, sagte Valentine, vor Noirtier niederknieend und ihre Arme um seinen Hals schlingend. Ichbin auch sehrbekümmert, denn ich liebe Herrn Franz d'Epinay ebenfalls nicht.

EinBlitz der Freude erleuchtete die Augen des Greises.

Als ich mich ins Kloster zurückziehen wollte, warst du so sehr aufgebracht gegen mich.

Eine Tränebefeuchtete das trockene Augenlid Noirtiers.

Nun wohl, fuhr Valentine fort, ich dachte hieran, um dieser Heirat zu entgehen, die mich in Verzweiflungbringt.

Noirtiers Atem wurde keuchend.

Diese Heirat macht dir also großen Kummer, guter Vater? Oh, mein Gott! wenn du mirbeistehen könntest, wenn wirbeide diesen Plan zu vereiteln vermöchten! Aber dubist ohne Kraft gegen sie, du, dessen Geist doch so lebhaft, dessen Wille noch so fest ist; wenn es sich aber darum handelt, zu kämpfen, sobist du schwach und sogar noch schwächer als ich. Ach! du wärest in den Tagen deiner Kraft und deiner Gesundheit ein so mächtigerBeschützer für mich gewesen; aber heute vermagst du nur noch mich zubegreifen und dich mit mir zu freuen oder zubetrüben; es ist dies ein letztes Glück, das mir Gott mit den andern zu nehmen vergessen hat.

In Noirtiers Augen lag ein solcher Ausdruck von Kraft und Tiefe, daß das junge Mädchen darin die Worte zu lesen glaubte: Du täuschest dich, ich vermag noch viel für dich.

Du vermagst noch etwas für mich, lieber, guter Papa?

Ja.

Noirtier schlug die Augen zum Himmel auf. Dies war das zwischen ihm und Valentine verabredete Zeichen, wenn er etwas wünschte.

Was willst du, lieber, guter Papa?

Valentine suchte einen Augenblick in ihrem Geiste, drückte laut ihre Gedanken aus, wie sie ihr hintereinander kamen, und als sie sah, daß der Greis auf alles, was sie sagen mochte, beständig: Nein! antwortete, rief sie: Wohl, wir müssen zu den großen Mitteln greifen, da ich so dummbin.

Dann sagte sie hintereinander alleBuchstaben des Alphabets her vom Abis zum N, während ihr Lächeln das Auge des Gelähmtenbefragte; beim N machte Herr Noirtier einbejahendes Zeichen.

Ah! sagte Valentine, die Sache, die dubegehrst, fängt mit demBuchstaben N an; laß einmal sehen, na, ne, ni, no…

Ja, ja, ja, machte der Greis.

Ah, es ist no.

Valentine holte ein Wörterbuch, das sie vor Noirtier legte; sie öffnete es, und während das Auge des Greises auf dieBlätter geheftet war, lief ihr Finger rasch auf den Seiten herab.

Die Übung seit den sechs Jahren, da Noirtier in seinenbetrübten Zustand verfallen, machten ihr die Proben so leicht, daß sie so rasch den Gedanken des Greises erriet, als hätte dieser selbst in dem Wörterbuch suchen können.

Bei dem Worte Notar gabihr Noirtier ein Zeichen, einzuhalten.

Notar? sagte sie; du willst einen Notar, guter Papa?

Der Greis machte ein Zeichen, daß er wirklich einen Notar verlange.

Darf es mein Vater wissen?

Ja.

Dann wird man dir ihn sogleich holen!

Valentine lief nach der Glocke, rief einenBedienten undbat ihn, Herrn oder Frau von Villefort zu dem Großvater zubitten.

Bist du zufrieden? sagte Valentine und lächelte ihrem Großvater zu, wie eine Mutter ihrem Kinde.

Herr von Villefort trat, vonBarrois gerufen, wieder ein.

Was wollen Sie, mein Herr? fragte er den Gelähmten.

Mein Großvater verlangt nach einem Notar, sagte Valentine.

Bei diesem seltsamen und so unerwarteten Verlangen wechselte Herr von Villefort einenBlick mit dem Gelähmten.

Ja, machte der letztere mit einer Festigkeit, die ausdrücken wollte, er sei mit Hilfe von Valentine und seinem alten Diener, der nun wußte, was er haben wollte, bereit, den Kampf aufzunehmen.

Warum? fragte Villefort.

DerBlick des Gelähmtenbliebunbeweglich und folglich stumm, wasbesagen wollte: Ichbeharre auf meinem Willen.

Um uns einen schlimmen Streich zu spielen? versetzte Villefort, lohnt sich das der Mühe?

Wenn der gnädige Herr einen Notar haben will, sobedarf er seiner offenbar, sagteBarrois mit der, altenBedienten eigentümlichen Hartnäckigkeit. Also werde ich einen Notar holen.

Barrois erkannte keinen andern Herrn an, als Noirtier, und gabnie zu, daß seinem Willen in irgend einerBeziehung widersprochen wurde.

Ja, ich will einen Notar, machte der Greis und schloß die Augen mit einer Miene des Trotzes, und als wollte er sagen: Wir wollen doch sehen, obman es wagt, mir zu verweigern, was ich verlange.

Es wird ein Notar kommen, da Sie es durchaus so haben wollen, mein Herr; doch ich werde mich und Siebei ihm entschuldigen, denn die Szene wird sehr lächerlich sein.

In dem Augenblick, woBarrois wegging, schaute Noirtier Valentine mit einer herausfordernden Teilnahme an, die mehr sagte als Worte. Das Mädchenbegriff diesenBlick und Villefort ebenfalls, denn seine Stirn verdüsterte sich, und seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Er nahm einen Stuhl, setzte sich in dem Zimmer des Gelähmten fest und wartete.

Noirtier ließ ihn mit vollkommener Gleichgültigkeit gewähren, forderte aber mit einem kurzen Seitenblick Valentine auf, sich durchaus nicht zubeunruhigen und ebenfalls zubleiben.

Drei Viertelstunden nachher kam der Diener mit dem Notar zurück.

Mein Herr, sagte Villefort nach den erstenBegrüßungen, Sie sind von Herrn Noirtier von Villefort hierherberufen worden; eine allgemeine Lähmung hat ihm den Gebrauch der Glieder und der Stimme geraubt, und uns allein gelingt es mit großer Mühe, einige Fetzen seiner Gedanken aufzufassen.

Noirtier ließ mit dem Auge eine so ernste und gebieterische Mahnung an Valentine ergehen, daß Sie auf der Stelle hinzufügte: Ich, mein Herr, verstehe alles, was mein Großvater sagen will.

Es ist wahr, bestätigteBarrois, alles, durchaus alles, wie ich dem Herrn unterwegs sagte.

Erlauben Sie mir, mein Herr, und Sie, mein Fräulein, sagte der Notar, sich an Villefort und Valentine wendend, es ist dies einer von den Fällen, wo der öffentlicheBeamte nicht unbedachtsam zu Werke gehen darf, ohne eine gefährliche Verantwortlichkeit zu übernehmen. Wenn ein Akt gültig sein soll, so muß der Notar notwendigerweise vor allem davon überzeugt sein, daß er den Willen dessen, der ihm denselben diktiert, genau aufgefaßt und getreu ausgelegt hat. Ich kann aber unmöglich derBilligung oder der Mißbilligung eines Klienten, der nicht spricht, sicher sein, und da mir der Gegenstand seiner Wünsche oder seines Widerstrebens infolge seiner Stummheit nicht klar dargetan werden kann, so ist meine Tätigkeit hier mehr als unnütz und wäre sogar ungesetzlich ausgeübt.

Der Notar tat einen Schritt, um sich zu entfernen. Ein unmerkliches Lächeln des Triumphes zeigte sich auf den Lippen des Staatsanwaltes. Noirtier aber schaute Valentine mit einem so schmerzlichen Ausdrucke an, daß sie sich dem Notar in den Weg stellte.

Mein Herr, sagte sie, die Sprache, welche ich mit meinem Großvater spreche, läßt sich sehr leicht erlernen; und ich will sie Ihnen in wenigen Minutenbegreiflich machen. Wasbrauchen Sie, mein Herr, um zur vollkommenenBeruhigung Ihres Gewissens zu gelangen?

Sie fragen, was zur Gültigkeit unserer Akte nötig sei? erwiderte der Notar; die Gewißheit derBilligung oder Mißbilligung. Wenn man testieren will, kann man zwar körperlich krank, aber geistig muß man gesund sein.

Wohl, mein Herr, mit zwei Zeichen werden Sie die Gewißheit erlangen, daß sich mein Großvater nie mehr, als jetzt, der Fülle seines Verstandes erfreut. Der Stimme und derBeweglichkeit der Gliedmaßenberaubt, schließt Herr Noirtier die Augen, wenn er ja sagen will, undblinzelt wiederholt, wenn er nein sagen will. Sie wissen nun genug, um mit Herrn Noirtier zu sprechen; versuchen Sie es!

DerBlick, den der Greis Valentine zuwarf, war so voll Zärtlichkeit und Dankbarkeit, daß ihn selbst der Notarbegriff.

Sie haben gehört und verstanden, mein Herr, was Ihre Enkelin soeben sagte? fragte der Notar.

Noirtier schloß sacht die Augen und öffnete sie dannbald wieder.

Und Siebilligen, was sie sagte, nämlich, daß die von ihr angegebenen Zeichen wirklich die sind, mit deren Hilfe Sie Ihre Gedankenbegreiflich machen?

Ja, machte der Greis.

Sie ließen mich rufen, um Ihr Testament zu machen?

Ja.

Und ich soll mich nicht entfernen, ohne dieses Testament gemacht zu haben?

Der Gelähmteblinzelte lebhaft und wiederholt mit den Augen.

Begreifen Sie nun, fragte das Mädchen, und ist Ihr Gewissenberuhigt?

Doch ehe der Notar antworten konnte, zog ihn Villefortbeiseite und sagte zu ihm: Mein Herr, glauben Sie, daß ein Mensch ungestraft einen so furchtbaren körperlichen Schlag, wie ihn Herr Noirtier von Villefort erfahren hat, ertragen könne, ohne daß sein Geist ebenfallsbedenklich angegriffen sein muß.

Dasbeunruhigt mich nicht so sehr, Herr von Villefort, antwortete der Notar, aber ich frage mich, wie wir dazu gelangen, die Gedanken zu erraten, um Antworten hervorzurufen.

Sie sehen also, daß es unmöglich ist, sagte Villefort.

Valentine und der Greis hörten diese Unterredung mit an. Noirtier heftete seinenBlick so starr und fest auf Valentine, daß er offenbar eine Erwiderung veranlassen wollte.

Mein Herr, sagte sie, lassen Sie sich dadurch nichtbeunruhigen! So schwierig es auch ist oder vielmehr scheinen mag, die Gedanken meines Großvaters zu entdecken, so werde ich sie Ihnen doch in einer Weise offenbaren, die jeden Zweifel in dieser Hinsichtbenehmen muß. Seit sechs Jahrenbin ichbei Herrn von Noirtier, und er mag selbst sagen, obim Verlauf dieser sechs Jahre einer von seinen Wünschen, weil er ihn mir nicht hätte verständlich machen können, in seinem Herzenbegraben geblieben ist.

Nein, bezeichnete der Greis.

Versuchen wir es! sagte der Notar. Sie nehmen das Fräulein zu Ihrem Dolmetscher an?

Der Gelähmte machte einbejahendes Zeichen.

Wohl; was wünschen Sie, mein Herr, und welcher Akt soll vorgenommen werden?

Valentins! nannte alleBuchstaben des Alphabetsbis zumBuchstaben T.

Bei dem T hielt NoirtiersberedterBlick an.

Der Herr verlangt denBuchsraben T, sagte der Notar; das ist offenbar.

Valentine nahm nun das Wörterbuch undblätterte vor den Augen des aufmerksamen Notars. Testamentbezeichnetebald ihr Finger, durch NoirtiersBlick festgehalten.

Testament! rief der Notar, die Sache ist klar, der Herr will testieren.

Ja, machte Noirtier wiederholt.

Mein Herr, das ist wunderbar, Sie müssen es selbst gestehen, sagte der Notar erstaunt zu Villefort.

In der Tat, versetzte dieser, und noch wunderbarer wäre das Testament; denn ich kann nicht denken, daß Sie dieBestimmungen Wort für Wort ohne die geistreiche Mithilfe meiner Tochter zu Papierebringen wollen. Valentine ist aber etwas zu sehrbei diesem Testamente interessiert, um als eine entsprechende Dolmetscherin des dunkeln Willens des Herrn Noirtier von Villefort gelten zu können.

Nein, nein, nein! machte der Gelähmte.

Wie! entgegnete Herr von Villefort, Valentine ist nicht interessiertbei Ihrem Testament?

Nein, bezeichnete Noirtier.

Mein Herr, sagte der Notar, der, entzückt über ein solches Erlebnis, in der Gesellschaft die einzelnen Umstände dieser malerischen Episode wiederzuerzählen gedachte, — mein Herr, nichts scheint mir jetzt leichter als das, was ich soeben noch für etwas Unmögliches hielt, und dieses Testament wird ganz einfach ein sogenanntes mystisches Testament sein, das heißt von dem Gesetze vorhergesehen und als rechtsgültig anerkannt, vorausgesetzt, daß es in Gegenwart von sieben Zeugen vorgelesen, von dem Testator in ihrer Anwesenheit gebilligt und durch den Notar, ebenfalls in ihrer Anwesenheit, geschlossen wird. Was die Zeitbetrifft, so wird es nicht länger dauern, als ein gewöhnliches Testament. Vor allem kommen die ehrwürdigen Formeln inBetracht, die sich immer gleichbleiben, und was die Einzelheitenbetrifft, so werden diese sich zum größten Teil nach Lage der Sache und mit Ihrer Hilfe, der Sie die Geschäfte für den Erblasserbesorgt haben, von selbst ergeben. Damit übrigens der Akt unangreifbarbleibt, werden wir ihm die vollständige Rechtsgültigkeit geben; einer von meinen Kollegen wird mir als Gehilfe dienen und gegen die Gewohnheit dem Diktierenbeiwohnen. Sind Sie zufrieden, mein Herr? fügte der Notar, sich an den Greis wendend, hinzu.

Ja, erwiderte Noirtier, strahlend vor Freude, daß man ihnbegriff.

Was hat er nur vor? fragte sich Villefort, dem seine hohe Stellung so viel Zurückhaltung aufnötigte, während er nicht zu erraten vermochte, worauf sein Vater abzielte.

Das Testament.

Nach einer Viertelstunde war die ganze Familie im Zimmer des Gelähmten versammelt, und der zweite Notar hatte sich ebenfalls eingefunden.

Mit wenigen Worten verständigten sich diebeidenBeamten. Man las Noirtier eine allgemeine herkömmliche Testamentsformel vor; dann sagte der erste Notar, sich nach dem Greise umwendend, um gleichsam die Untersuchung seines Verstandes zubeginnen: Wenn man sein Testament macht, mein Herr, so geschieht es zu Gunsten oder zum Nachteil irgend einer Person.

Ja, bezeichnete Noirtier.

Haben Sie einen Gedanken, wie hoch sich Ihr Vermögenbelaufen mag?

Ja.

Ich will Ihnen, aufwärts gehend, verschiedene Zahlen nennen; Sie werden mich anhalten, wenn ich diejenige erreicht habe, welche Sie als die Ihrigebetrachten.

Ja.

Es war ein eigentümlich feierliches und ergreifendes Schauspiel, bei dem der Kampf des Geistes gegen die Materie auf das packendste in Erscheinung trat.

Die Anwesenden schlossen einen Kreis um Noirtier; der zweite Notar saß an einem Tische, bereit zu schreiben; der erste stand vor ihm und fragte: Nicht wahr, Ihr Vermögen übersteigt 300 000 Franken?

Noirtier machte einbejahendes Zeichen.

Besitzen Sie 400 000 Franken? fragte der Notar.

Noirtierbliebunbeweglich. 600 000? 700 000? 900 000?

Noirtier machte einbejahendes Zeichen.

In unbeweglichen Gütern? fragte der Notar.

Noirtier machte ein verneinendes Zeichen.

In Renteneinschreibungen?

Noirtier machte einbejahendes Zeichen.

Diese Einschreibungen sind in Ihren Händen?

Auf einenBlick Noirtiers anBarrois ging der alte Diener hinaus und kehrte einen Augenblick nachher mit einer kleinen Kassette zurück.

Man öffnete die Kassette und fand für 900 000 Franken Einschreibungen.

Der erste Notar überreichte die Einschreibungen eine nach der andern seinem Kollegen; die Sache stimmte.

Es ist so, der Verstand des Erblassers erfreut sich offenbar noch seiner vollkommenen Kraft, sagte der Notar. Dann fuhr er, an den Gelähmten sich wendend, fort: Siebesitzen also in Kapitalien 900 000 Franken. Wem wollen Sie dieses Vermögen hinterlassen?

Oh! sagte Frau von Villefort, das ist nicht zweifelhaft. Herr Noirtier liebt einzig und allein seine Enkelin, Fräulein Valentine von Villefort; sie ist es, die ihn seit sechs Jahren pflegt und durch ihrebeständige Fürsorge die Zuneigung ihres Großvaters, ich möchtebeinahe sagen, seine Dankbarkeit zu fesseln wußte; es ist also gerecht undbillig, daß sie den Preis ihrer Ergebenheit erntet.

Noirtiers Auge schleuderte einenBlitz, als würde er durch das falsche Ziel nichtbetört, das Frau von Villefort seinen vermeintlichen Absichten setzte.

Wollen Sie Fräulein Valentine von Villefort diese 900 000 Franken vermachen? fragte der Notar, der dieseBestimmung nur noch eintragen zu müssen glaubte.

Valentine hatte einen Schritt rückwärts gemacht und weinte mit niedergeschlagenen Augen; der Greis schaute sie eine Sekunde lang mit dem Ausdrucke einer tiefen Zärtlichkeit an, dann wandte er sich gegen den Notar undblinzelte mit den Augen auf diebezeichnete Weise.

Nein? sagte der Notar; wie, Sie setzen Fräulein Valentine von Villefort nicht zur Universalerbin ein?

Noirtier machte ein verneinendes Zeichen.

Täuschen Sie sich nicht? rief der Notar ganz verwundert; Sie sagen nein?

Nein, wiederholte Noirtier, nein!

Valentine hobdas Haupt wieder empor; sie war erstaunt, nicht über ihre Enterbung, sondern darüber, daß ihr Großvater ihr gegenüber das seinem Tun entsprechende Gefühl hegen sollte.

Doch Herr Noirtier schaute sie mit so tiefer Zärtlichkeit an, daß sie ausrief: Oh! mein guter Vater, ich sehe wohl, Sie entziehen mir nur Ihr Vermögen, lassen mir aber Ihr Herz?

Oh! ja, gewiß, sagten die Augen des Gelähmten mit einem Ausdruck, in dem sich Valentine nicht täuschen konnte.

Dank! Dank! murmelte das Mädchen.

Diese Weigerung hatte indessen in Frau von Villeforts Herzen eine unerwartete Hoffnung erzeugt; sie näherte sich dem Greise.

Sie hinterlassen also Ihr Vermögen Ihrem Enkel Eduard von Villefort, mein lieber Herr Noirtier? fragte die Mutter.

DasBlinzeln war furchtbar; es prägtebeinahe Haß aus.

Nein, sagte der Notar; also Ihrem Sohne?

Nein! entgegnete der Greis.

Die zwei Notare schauten sich erstaunt an; Villefort und seine Frau fühlten, wie sie aus Scham und Verdruß rot wurden.

Aber was haben wir Ihnen denn getan, Vater, sagte Valentine; Sie lieben uns also nicht mehr?

DerBlick des Greises flog rasch über seinen Sohn und über seine Schwiegertochter hin undbliebmit einem Ausdruck inniger Zärtlichkeit an Valentine haften.

Nun, sagte sie, wenn du mich liebst, guter Vater, so suche diese Liebe mit dem, was du in diesem Augenblick tust, in Einklang zubringen. Du kennst mich und weißt daher, daß ich nie an dein Vermögen gedacht habe. Überdies sagt man, ich sei von meiner Mutter Seite reich, zu reich; erkläre dich doch!

Noirtier heftete einen glühendenBlick aus Valentines Hand.

Meine Hand? sagte sie.

Ja, bezeichnete Noirtier.

Ihre Hand! wiederholten die Anwesenden.

Ah! meine Herren, Sie sehen wohl, daß alles vergeblich, und daß mein armer Vater ein Narr ist, sprach Villefort.

Oh! ichbegreife! rief plötzlich Valentine; nicht wahr, meine Heirat, guter Vater?

Ja, ja, ja, wiederholte dreimal der Gelähmte und schleuderte dabei einenBlitz, so oft sich sein Augenlid hob.

Nicht wahr, du grollst uns wegen der Heirat?

Ja.

Das ist albern, sagte Villefort.

Verzeihen Sie, mein Herr, sagte der Notar, alles dies ist im Gegenteil sehr logisch und scheint mir durchaus wohlbegründet zu sein.

Du willst nicht, daß ich Herrn Franz d'Epinay heirate?

Nein, ich will nicht, drückte das Auge des Greises aus.

Und Sie enterben Ihre Enkelin, weil sie eine Heirat wider Ihren Willen macht? rief der Notar.

Ja, antwortete Noirtier.

Ohne diese Heirat wäre sie also Ihre Erbin?

Ja.

Es trat nun ein tiefes Stillschweigen um den Greis ein. Diebeiden Notareberieten sich; Valentine schaute mit gefalteten Händen und einem dankbaren Lächeln ihren Großvater an: Villefortbiß sich auf seine dünnen Lippen; Frau von Villefort war außer stande, ein freudiges Gefühl zurückzudrängen, das sich unwillkürlich über ihr Antlitz verbreitete.

Aber es scheint mir, sagte endlich Villefort, das Stillschweigenbrechend, es scheint mir, daß ich alleinbefugtbin, über diese Angelegenheit zu urteilen und zu verfügen. Ich, als alleiniger Herr der Hand meiner Tochter, will, daß sie Herrn Franz d'Epinay heiratet, und sie wird ihn heiraten.

Valentine fiel weinend auf einen Stuhl.

Mein Herr, sagte der Notar, sich an den Greis wendend, was gedenken Sie mit Ihrem Vermögen zu tun, wenn Fräulein Valentine Herrn Franz d'Epinay heiratet? Sie gedenken doch darüber zu verfügen?

Ja, bezeichnete Noirtier.

Zu Gunsten irgend eines Mitgliedes Ihrer Familie?

Nein.

Also zu Gunsten der Armen?

Ja.

Sie wissen doch, daß das Gesetz dem widerstrebt, daß Sie Ihren Sohn völlig ausschließen?

Ja.

Sie werden also nur über den Teil verfügen, den Sie nach dem Gesetz das Recht haben ihm zu entziehen.

Noirtierbliebunbeweglich.

Sie wollen immer noch über das Ganze verfügen?

Ja.

Man wird das Testament nach Ihrem Tode angreifen.

Nein.

Mein Vater kennt mich, sagte Herr von Villefort, er weiß, daß sein Wille mir heilig sein wird; übrigens erkennt er recht gut, daß ich in meiner Stellung nicht gegen die Armen prozessieren kann.

Noirtiers Auge drückte einen Triumph aus.

Wasbestimmen Sie, mein Herr? fragte der Notar Villefort.

Nichts, mein Herr, es ist ein im Herzen meines Vaters feststehender Entschluß, und ich weiß, daß er nie etwas an seinen Entschließungen ändert, sagte Villefort. Ich füge mich also. Diese 900 000 Franken werden der Familie verloren gehen, um Hospitäler zubereichern; aber ich gebe der Laune eines Greises nicht nach und werde nach meinem Gewissen handeln.

Hiernach entfernte sich Villefort mit seiner Frau und überließ es seinem Vater, nach Gutdünken zu testieren.

Noch an demselben Tage wurde das Testament gemacht; man holte Zeugen, es wurde von dem Greise gebilligt, in Gegenwart der Zeugen geschlossen undbei Herrn Deschamps, dem Notar der Familie, niedergelegt.

Der Telegraph

Herr und Frau von Villefort erfuhren, als sie in ihre Wohnung zurückkehrten, Herr von Monte Christo sei gekommen, ihnen einenBesuch zu machen, und warte auf sie im Salon. Zu aufgeregt, um sogleich einzutreten, ging Frau von Villefort durch ihr Schlafzimmer, während der Staatsanwalt, mehr seiner Herr, gerade auf den Salon zuschritt.

Doch so sehr er auch Herr seiner Empfindungen war, so gut er sein Gesicht zu formen wußte, so vermochte Herr von Villefort die Wolke doch nicht so völlig von seiner Stirn zu entfernen, daß der Graf, der ihm mit einem strahlenden Lächeln entgegentrat, nicht die düstere, brütende Mienebemerkt hätte.

Oh! mein Gott! rief Monte Christo nach den erstenBegrüßungen, was haben Sie denn, Herr von Villefort? Bin ich in dem Augenblick gekommen, wo Sie vielleicht eine hochnotpeinliche Anklage abfaßten?

Herr von Villefort suchte zu lächeln und erwiderte: Nein, mein Herr Graf, es ist hier kein anderes Opfer, als ich selbst. Ichbin es, der den Prozeß verliert; der Zufall, die Halsstarrigkeit, die Narrheit haben die Anklageschrift abgefaßt.

Was wollen Sie damit sagen? fragte Monte Christo mit einer vortrefflich gespielten Teilnahme. Ist Ihnen in der Tat ein ernstes Unglück widerfahren?

Oh! Herr Graf, versetzte Villefort mit ingrimmiger Ruhe, es ist nicht der Mühe wert, davon zu sprechen; es ist so gut wie nichts, nur ein Geldverlust.

In der Tat, erwiderte Monte Christo, ein Geldverlust ist etwas Geringesbei einem Vermögen, wie Sie esbesitzen, undbei Ihrem philosophischen, erhabenen Geiste.

Auch ist es nicht die Geldfrage, was mich kümmert, obschon 900 000 Franken immerhin wohl einBedauern oder wenigstens eine Regung des Ärgers wert sind, sondern ich fühle mich getroffen durch die Fügung des Schicksals, des Zufalls, des Verhängnisses, ich weiß nicht, wie ich die Macht nennen soll, die den Schlag lenkt, der mich trifft, meine Hoffnungen niederstürzt und vielleicht die Zukunft meiner Tochter durch die Laune eines kindisch gewordenen Greises zerstört.

Ei, mein Gott! rief der Graf. 900 000 Franken, sagten Sie? In der Tat, diese Summe verdient wohl einBedauern, selbst für einen Philosophen. Und werbereitete Ihnen diesen Verdruß?

Mein Vater, von dem ich mit Ihnen sprach.

Herr Noirtier? Sie sagten mir doch, er sei völlig gelähmt, und alle seine Fähigkeiten seien vernichtet?

Ja, seine körperlichen Fähigkeiten, denn er kann sich nicht rühren, er kann nicht sprechen, undbei alledem denkt er, will er, handelt er, wie Sie sehen. Ich habe ihn vor fünf Minuten verlassen, und er ist in diesem Augenblick damitbeschäftigt, zwei Notaren ein Testament zu diktieren.

Er hat also doch gesprochen?

Nein, aber er hat sich mit Hilfe desBlickes verständlich gemacht; die Augen haben zu leben fortgefahren und töten, wie Sie sehen.

Mein Freund, sagte Frau von Villefort, welche nun ebenfalls eintrat, Sie übertreiben wohl die Lage der Dinge.

Gnädige Frau… sagte der Graf sich verbeugend.

Frau von Villefort grüßte mit ihrem freundlichsten Lächeln.

Was sagt mir denn Herr von Villefort? sagte Monte Christo; und welche unbegreifliche Ungnade…

Unbegreiflich, das ist das richtige Wort, versetzte der Staatsanwalt, die Achseln zuckend; die Laune eines Greises!

Gibt es denn kein Mittel, ihn von dieser Entscheidung abzubringen?

Doch, sagte Frau von Villefort, und es hängt nur von meinem Manne ab, daß dieses Testament statt zum Nachteil für Valentine, gerade zu ihren Gunsten gemacht wird.

Als der Graf sah, daß diebeiden Ehegatten in Rätseln zu sprechen anfingen, nahm er eine zerstreute Miene an und sah mit größter Aufmerksamkeit und der augenscheinlichstenBilligung Eduard zu, der Tinte in das Trinkgeschirr der Vögel goß.

Meine Teure, sagte Villefort, seiner Frau antwortend, Sie wissen, daß ich es nicht liebe, in meinem Hause als Tyrann aufzutreten. Es ist mir indessen daran gelegen, daß meine Entscheidungen in meiner Familie geachtet werden und die Narrheit eines Greises und die Laune eines Kindes nicht einen seit langen Jahren festgestellten Plan umwerfen. DerBaron d'Epinay war mein Freund, wie Sie wissen, und eine Verbindung mit seinem Sohne mußte mir in jederBeziehung entsprechend erscheinen.

Glauben Sie, Valentine sei mit ihm einverstanden? sagte Frau von Villefort; sie widersetzte sich in der Tat von jeher dieser Heirat, und es würde mich nicht wundern, wenn alles, was wir soeben gehört und gesehen haben, die Ausführung eines zwischen ihnen verabredeten Planes wäre.

Gnädige Frau, entgegnete Villefort, glauben Sie mir, man verzichtet nicht so leicht auf ein Vermögen.

Sie verzichtete doch auf die Welt, als sie vor einem Jahre in ein Kloster gehen wollte.

Gleichviel, rief Villefort, ich sage, daß diese Heirat geschlossen werden muß, gnädige Frau.

Gegen den Willen Ihres Vaters! sagte Frau von Villefort, eine andere Seite angreifend, das ist sehr ernst!

Monte Christo stellte sich, als hörte er nichts, verlor aber kein Wort von dem, was gesprochen wurde.

Ich kann wohl sagen, fuhr Villefort fort, daß ich stets meinen Vater geachtet habe, weil sich mit dem natürlichen Gefühle der Abkunftbei mir dasBewußtsein seiner moralischen Überlegenheit verband; doch diesmal muß ich darauf Verzicht leisten, verständige Überlegung in dem Greise anzuerkennen, der nur wegen seines Hasses gegen den Vater auf diese Art den Sohn verfolgt. Es wäre also lächerlich von mir, wenn ich mich in meinemBenehmen nach seinen Launen richtete. Ich werde nicht aufhören, die größte Achtung für Herrn Noirtier zu hegen; ich werde, ohne zu klagen, mich der Geldstrafe unterziehen, die er über mich verhängt; aber ichbleibe unerschütterlich in meinem Willen, und die Welt mag richten, auf welcher Seite die gesunde Vernunft ist. Ich verheirate folglich meine Tochter mit demBaron Franz d'Epinay, weil diese Verbindung meinen Ansichten nach gut und ehrenvoll ist, und ich meine Tochter verheiraten kann, mit wem es mirbeliebt.

Ei! sagte der Graf, dessenBilligung der Staatsanwaltbeständig mit demBlicke nachgesucht hatte; ei! Herr Noirtier enterbt, wie Sie sagen, Fräulein Valentine, weil sie den HerrnBaron Franz d'Epinay heiraten soll?

Mein Gott! ja, mein Herr; das ist der Grund, rief Villefort, die Achseln zuckend.

Läßt sich diesbegreifen? entgegnete die junge Frau, ich frage Sie, in welcher Hinsicht mißfällt Herr d'Epinay Herrn Noirtier mehr als ein anderer?

In der Tat, sagte der Graf. Ich habe Herrn Franz d'Epinay kennen gelernt; er ist doch der Sohn des Generals von Quesnel, der von König Karl X. zumBaron d'Epinay gemacht wurde?

Ganz richtig! erwiderte Villefort.

Ei! mir scheint, das ist ein reizender junger Mann.

Ichbin fest überzeugt, es ist auch nur ein Vorwand, sagte Frau von Villefort; die Greise sind Tyrannen in ihren Zuneigungen; Herr Noirtier will nicht, daß seine Enkelin heiratet.

Können Sie sich nicht diesen Haß irgendwie sonst erklären? Vielleicht stammt er von irgend einer politischen Antipathie?

In der Tat, mein Vater und der Vater des Herrn d'Epinay lebten in stürmischen Zeiten, von denen ich nur noch die letzten Tage gesehen habe, sprach Villefort.

War Ihr Vater nichtBonapartist? Ich glaube mich zu erinnern, daß Sie mir etwas dergleichen sagten.

Mein Vater war vor allem Jakobiner, erwiderte Villefort, durch die Aufregung über die Grenzen der Klugheit fortgerissen, und das Gewand des Senators, das ihm Napoleon um die Schultern warf, gabihm nur eine andere Hülle, ohne etwas an ihm zu ändern. Konspirierte mein Vater, so geschah es nicht für den Kaiser, sondern gegen dieBourbonen, denn mein Vater hatte das Furchtbare an sich, daß er nie für Hirngespinste, sondern stets für mögliche Dinge kämpfte, und daß er zur Durchsetzung seiner Ideen vor keinem Mittel zurückwich.

Sie sehen, sagte Monte Christo, Herr Noirtier und Herr d'Epinay werden sich auf politischemBoden entgegengetreten sein. Hatte der General d'Epinay, obgleich er unter Napoleon diente, nicht im Grunde seines Herzens eine royalistische Gesinnungbewahrt, und ist es nicht derselbe, der eines Abends, als er einen napoleonistischen Klubverließ, zu dem man ihn in der Hoffnung desBeitritts eingeladen hatte, ermordet wurde?

Villefort schaute den Grafenbeinahe mit Schrecken an.

Täusche ich mich? fragte Monte Christo.

Nein, mein Herr, antwortete Frau von Villefort, im Gegenteil, es ist genau so, und eben, um einen alten Haß zu ersticken, hatte Herr von Villefort den Gedanken, zwei Kinder sich lieben zu lassen, deren Väter sich gehaßt hatten.

Erhabener Gedanke! rief Monte Christo, ein Gedanke voll milder Menschenliebe, dem die ganze Welt ihrenBeifall zollen müßte. In der Tat, es wäre schön gewesen, Fräulein Noirtier von Villefort sich Frau Franz d'Epinay nennen zu sehen.

Villefortbebte und schaute Monte Christo an, als wollte er im Grunde seines Herzens die Absicht lesen, welche den soeben ausgesprochenen Worten zu Grunde lag.

Da aber der Graf das wohlwollende Lächeln, an das seine Lippen gewöhnt waren, beibehielt, so vermochte der Staatsanwalt trotz der Schärfe seinesBlickes nicht, hinter die Maske Monte Christos zublicken.

Obgleich es ein großes Unglück für Valentine ist, das Vermögen ihres Großvaters zu verlieren, sagte Villefort, so glaube ich doch nicht, daß die Heirat deshalbscheitert; ich glaube nicht, daß Herr d'Epinay vor diesem pekuniären Verlust zurückweicht. Er wird sehen, daß ich wohl mehr wertbin, als diese Summe, die ich dem Wunsche, ihm mein Wort zu halten, opfere; er wird sich zudem sagen, daß Valentine schon durch das Vermögen ihrer Mutter reich ist, das von Herrn und Frau von Saint Meran verwaltet wird, die siebeide zärtlich lieben.

Und wohl würdig sind, daß man sie liebt und pflegt, wie dies Valentinebei Herrn Noirtier getan hat, fügte Frau von Villefort hinzu. Sie kommen spätestens in einem Monat nach Paris, und Valentine wird nach einer solchenBeleidigung nicht mehr gebunden sein, sich, wie sie es jetzt getan, bei Herrn Noirtierbegraben zu lassen.

Der Graf hörte mit Wohlgefallen die disharmonische Stimme verletzter Eitelkeit und in den Staubgetretener Interessen und sagte nach kurzem Stillschweigen: Mir scheint, und ichbitte Sie im voraus wegen dessen, was ich sagen werde, um Verzeihung, daß Herr Noirtier, wenn er Fräulein von Villefort, nur weil sie einen jungen Mann heiraten wollte, dessen Vater er gehaßt hat, enterbt, daß Herr Noirtier, sage ich, dem lieben Eduard nicht dasselbe Unrecht vorwerfen kann.

Nicht wahr? rief Frau von Villefort mit einem unbeschreiblichen Tone, nicht wahr, das ist ungerecht, abscheulich ungerecht. Dieser arme Eduard ist ebensogut der Enkel des Herrn Noirtier, und dennoch würde er Valentine sein ganzes Vermögen hinterlassen haben, wenn sie nicht Franz hätte heiraten sollen, und Eduard führt überdies den Namen der Familie, abgesehen davon, daß Valentine, wenn sie auch wirklich ihr Großvater enterbt, immer noch dreimal reicher sein wird, als er.

Nach diesem kräftigen Ausfall hörte der Graf nur noch zu und sparte sich selbst weitere Anregungen.

Nun genug, sagte Villefort. Wir wollen uns nicht länger über diese kleinlichen Familienangelegenheiten unterhalten! Ja, es ist richtig, mein Vermögen wird die Einkünfte der Armen vermehren, die heutzutage die wahren Reichen sind. Ja, mein Vater wird mich um eine gesetzliche Hoffnung gebracht haben, und das ohne Grund; ich aber habe dann als Mann von Verstand, als Mann von Herz gehandelt. Herr d'Epinay, dem ich die Rente von dieser Summe versprach, wird siebekommen, und sollte ich mir die größten Entbehrungen auferlegen.

Es wäre doch vielleichtbesser, sagte Frau von Villefort, auf den einzigen Gedanken zurückkommend, der unablässig in der Tiefe ihres Herzens auftauchte; es wäre doch vielleichtbesser, man machte Herrn d'Epinay Mitteilung, damit er in der Lage wäre, selbst sich darüber zu entscheiden und sein Wort zurückzugeben!

Oh! das wäre ein großes Unglück, rief Villefort.

Ein großes Unglück? wiederholte Monte Christo.

Allerdings, erwiderte Villefort, sichbesänftigend, eine gescheiterte Heirat, und scheitert sie auch aus Geldgründen, wirft ein schlechtes Licht auf ein junges Mädchen. Dann würden auch alte Gerüchte, die ich ersticken wollte, wieder laut werden. Doch nein, dem wird nicht so sein, Herr d'Epinay, der ein ehrenhafter Mann ist, wird sich durch Valentines Enterbung noch mehr für gebunden erachten, als zuvor, sonst würde er ja nur aus Habsucht um unser Kind gefreit haben; nein, das ist nicht möglich.

Ich denke wie Herr von Villefort, sagte Monte Christo, seinenBlick auf Frau von Villefort heftend, und wenn ich ihm einen Rat geben dürfte, so würde ich ihn auffordern, jetzt, wo Herr d'Epinay, wie ich höre, zurückkehrt, dasBand so fest zu knüpfen, daß es sich nicht mehr lösen läßt. Ich würde unter allen Umständen eine Verbindung zustandebringen, die Herrn von Villefort nur zur Ehre gereichen kann.

Villefort erhobsich, von sichtbarer Freude ergriffen, während seine Frau leicht erbleichte.

Gut, sagte er, das ist alles, was ich haben wollte, und ich werde mir die Meinung eines Ratgebers, wie Sie sind, zu nutze machen, fügte er, Monte Christo die Hand reichend, hinzu. Hiernach ist alles, was sich hier ereignet hat, als nicht geschehen zubetrachten, und an unsern Plänen hat sich nichts geändert.

Mein Herr, sagte Monte Christo, so ungerecht die Welt ist, so wird sie Ihnen doch Dank für diesen Entschluß wissen, dafür stehe ich Ihnen. Ihre Freunde werden stolz darauf sein, und Herr d'Epinay, müßte er auch Fräulein von Villefort ohne Mitgift nehmen, was schwerlich der Fall sein wird, ist sicherlich entzückt über seinen Eintritt in eine Familie, in der man sich auf die Höhe solcher Opfer zu erheben weiß, um sein Wort zu halten und seine Pflicht zu erfüllen.

Während der Graf so sprach, stand er auf und schickte sich an, wegzugehen.

Sie verlassen uns? sagte Frau von Villefort.

Ichbin genötigt, gnädige Frau; ich kam nur, um Sie an Ihr Versprechen für Sonnabend zu erinnern.

Befürchten Sie, wir würden es vergessen?

Sie sind zu gütig, gnädige Frau; doch Herr von Villefort hat so ernste und zuweilen so dringende Geschäfte…

Mein Mann hat sein Wort gegeben, Herr Graf, und Sie konnten soeben sehen, daß er es hält, wenn alles dabei verloren gehen kann; er wird es umsomehr tun, wenn alles dabei zu gewinnen ist.

Findet die Gesellschaft in Ihrem Hause in den Champs‑Elysées statt? fragte Villefort.

Nein, sagte Monte Christo, und das macht Ihr Opfer noch verdienstlicher… auf dem Lande.

In der Nähe von Paris?

Vor dem Tore, eine halbe Stunde vor dem Tore, in Auteuil.

In Auteuil! rief Villefort. Ah! es ist wahr, Frau von Villefort sagte mir, Sie wohnten in Auteuil, wo man sie in Ihr Hausbrachte. Und wo in Auteuil?

Rue de la Fontaine.

Rue de la Fontaine? versetzte Villefort mit gepreßter Stimme; Nummer?

Nummer 30.

Man hat also an Sie das Haus des Herrn von Saint‑Meran verkauft? rief Villefort.

Des Herrn von Saint‑Meran? fragte Monte Christo. Dieses Haus gehörte Herrn von Saint‑Meran?

Ja, erwiderte Frau von Villefort; nicht wahr, es ist eine schöneBesitzung?

Reizend.

Und denken Sie sich, mein Mann wollte nie darin wohnen.

In der Tat, mein Herr? Das ist ein Vorurteil, von dem ich mir keine Rechenschaft geben kann.

Ich liebe Auteuil nicht, sagte der Staatsanwalt, sich selbstbezwingend.

Es würde mich jedoch sehr unglücklich machen, sollte mich diese Antipathie des Vergnügensberauben, Siebei mir zu empfangen! versetzte Monte Christo.

Nein, Herr Graf, ich hoffe wohl… glauben Sie mir, daß ich alles tun werde, was ich vermag…, stammelte Villefort.

Oh! ich nehme keine Entschuldigung an, entgegnete Monte Christo. Sonnabend um sechs Uhr erwarte ich Sie, und wenn Sie nicht kämen, so würde ich glauben müssen, es ruhe auf diesem seit zwanzig Jahren unbewohnten Hause irgend eine finstere Überlieferung, irgend eineblutige Legende.

Ich werde kommen, sagte Villefort rasch.

Meinen Dank. Nun aber müssen Sie mir erlauben, mich von Ihnen zu verabschieden.

In der Tat, Sie sagten, Sie müssen uns verlassen, Herr Graf, versetzte Frau von Villefort, und Sie wollten uns sogar mitteilen, warum, als Sie sich unterbrachen, um zu einem andern Gedanken überzugehen.

Wahrhaftig, gnädige Frau, ich weiß nicht, obich Ihnen sagen soll, wohin ich gehe.

Warum nicht? Sagen Sie es nur!

Ich will mir etwas ansehen, worüber ich oft stundenlang geträumt habe.

Was?

Einen Telegraphen.

Einen Telegraphen? wiederholte Frau von Villefort.

Ei, mein Gott! ja, einen Telegraphen. Zuweilen sah ich am Ende einer Straße auf einem Hügelbei schönem Sonnenscheine die schwarzen, wie die Füße eines ungeheuren Käfers sichbiegenden Arme, und dieses Schauspiel hat mich immer merkwürdig ergriffen, das versichere ich Ihnen, denn ich dachte, diese Zeichen, welche die Luft mit unfehlbarer Sicherheit durchschneiden und auf Hunderte von Meilen den unbekannten Willen eines vor einem Tische sitzenden Menschen einem andern am Ende der Liniebefindlichen Menschen verkünden, verdanken ihr Dasein nur der Energie des sonderbaren Insektenkörpers. Geister, Sylphen, Gnomen schienen mir dabei im Spiele zu sein. Niemals aber triebes mich, diese großen Insekten mit den weißenBäuchen und den schwarzen mageren Füßen von nahem zu sehen; denn ich fürchtete, ich würde unter ihrem steinernen Flügel den kleinen Menschenwitz, sehr ernst und würdig, sehr gründlich und steifleinen, triefend von Wissenschaft, von kleinlicher Eifersüchtelei, vielleicht auch von Aberglauben finden. Eines Morgens erfuhr ich aber, diebewegende Kraft jedes Telegraphen sei ein armer Teufel von einem Angestellten mit einem jährlichen Gehalt von zwölfhundert Franken, der nur mechanische Handgriffe verstehe und so wenig von der wunderbaren elektrischen Kraft wisse, wie ein Nachtwächter von der Poesie der göttlichen Nacht. Da erfaßte mich ein seltsames Verlangen, diese lebendige Puppe einmal näher anzuschauen.

Und Sie wollen nun dahin?

Ja, gnädige Frau!

Und zu welchem Telegraphen wollen Sie gehen? Zu dem im Ministerium des Innern oder zu dem im Observatorium?


Oh, nein, ich könnte dort Leute antreffen, die mich nötigen wollten, etwas zubegreifen, das ich gar nichtbegreifen will, und die mir wider meinen Willen ein Geheimnis zu enthüllen versuchen, das ihnen im Grunde selbst verborgen ist. Zum Teufel! Ich will wenigstens die Illusionen mir erhalten, die ich noch über die Insekten hege; es ist genug, daß ich die, welche ich über die Menschen hatte, verlieren mußte. Ich werde also zu keinem derbeiden Pariser Telegraphen gehen, weder zu dem auf dem Observatorium noch dem im Ministerium des Innern. Ichbrauche einen Telegraphen im freien Felde.

So gehen Sie, denn in zwei Stunden ist es Nacht, und Sie sehen dann nichts mehr.

Teufel! Sie erschrecken mich! Wo ist der nächste auf der Straße nachBayonne?

In Chatillon.

Und nach dem in Chatillon?

Ich glaube, der auf dem Turme von Monthléry.

Ich danke; auf Wiedersehen! Sonnabend werde ich Ihnen meine Eindrücke erzählen.

Vor der Tür traf der Graf mit den zwei Notaren zusammen, die soeben Valentine enterbt hatten und sich nun wegbegaben… äußerst entzückt, daß sie einen Akt aufgesetzt hatten, der ihnen unfehlbar große Ehre machen mußte.

Загрузка...