Die Flugbahnen der Shuttles und der kinetischen Geschosse verschmolzen für einen Moment, dann trennten sie sich wieder voneinander. Die Shuttles bemühten sich, so schnell wie möglich an Höhe zu gewinnen, während die Steine noch das letzte Stück auf ihrem Sturz auf die Planetenoberfläche zurücklegten. Geary hörte, wie die Shuttlepiloten ihren Unmut über das Kommandonetz kundtaten.
»Eins von diesen verdammten Dingern hätte mir fast ein Ohr abgerissen!«
»Schwere Turbulenzen! Versuche, auf Kurs zu bleiben!«
»Wir haben unsere Hauptluke verloren!« Das war Shuttle zwei. »Achtet darauf, dass die Marines angeschnallt sind und dass ihre Panzerung versiegelt ist. Die ist das Einzige, was sie vom Vakuum trennt.«
Unter den fliehenden Shuttles verging der gesamte zentrale Bereich des Arbeitslagers in einer gigantischen Wolke aus Staub und Trümmern, die kilometerweit hochgewirbelt wurden, als die kinetischen Projektile alle gleichzeitig einschlugen. Die Wolke schoss so schnell in die Höhe, als würde eine riesige Hand versuchen, nach den Shuttles zu greifen, um sie zurückzuhalten.
Dann erfolgte eine weitere Explosion inmitten der Überreste des Lagers, und noch eine, stärker sogar. Eine pilzförmige Wolke stieg bis in den Himmel auf.
»Eine der Syndik-Bomben ist explodiert«, meldete der Ablauf-Wachhabende.
»Kommt schon!«, spornte Desjani die Shuttles im Flüsterton an, die vor den Schockwellen und Trümmern davonflogen.
»Wir sind getroffen! Schaden an Antriebseinheit an Steuerbord! Bleiben auf Kurs, Maximalgeschwindigkeit um zwanzig Prozent gesunken!«
»Verlassen jetzt die Gefahrenzone.«
»Mehrere Treffer an der Unterseite. Zwei Durchschläge. Schalten um auf Reservesteuerkontrolle.«
Geary war sich nicht sicher, welches der genaue Zeitpunkt war, an dem er die Krisensituation als ausgestanden bezeichnen konnte. Doch irgendwann war der Moment gekommen, da er wusste, dass sie es geschafft hatten.
»Alle Shuttles aus der Gefahrenzone. Die Colossus nähert sich Shuttle zwei für ein Notfall-Andockmanöver. Shuttles eins und zwei fliegen wie vorgesehen zur Spartan und zur Guardian.«
»Okay«, meinte Desjani grinsend. »Jetzt können Sie sagen, es war mein Plan.«
»Mit Vergnügen«, stimmte Geary ihr zu und hätte vor Erleichterung fast gelacht. Er öffnete den Kommandokanal. »An Relentless und Reprisal: hervorragende Treffsicherheit. Alle Schiffe haben ausgezeichnete Arbeit geleistet. Jeder Marine und jedes Shuttle haben weit mehr geleistet, als es die Pflicht von ihnen verlangen kann. Sobald das letzte Shuttle an Bord gebracht worden ist, wird die Flotte sich zum Sprungpunkt nach Padronis begeben.«
Weit unter der Flotte rührten die einzigen Bewegungen in den Überresten des Arbeitslagers von den Trümmern her, die vom Himmel herabregneten, während an einer Seite der Rauchpilz immer noch anwuchs. Unwillkürlich musste Desjani lächeln. »Den Selbstmordteil ihres Auftrags haben diese Syndiks zumindest erfolgreich ausgeführt.«
Geary dachte darüber nach, was diese Spezialeinheit seinen Marines, seinen Shuttles und den Tausenden befreiter Gefangener hätte antun können, wäre auch der restliche Auftrag erfüllt worden, dann nickte er zustimmend.
Die nächste halbe Stunde verlief nach der vorangegangenen Hektik fast einschläfernd ereignislos, da die Shuttles damit beschäftigt waren, zu ihrem eigentlichen Mutterschiff zurückzukehren. Auf dem Planeten unter ihnen trafen derweil die Rebellen und Syndik-Treuen aufeinander und lieferten sich heftige Gefechte. Keiner von beiden Seiten stand offenbar der Sinn danach, sich noch weiter um die Allianz-Flotte zu kümmern. »Müssen wir noch länger diese Wachen beschützen, die mit ihren Familien geflohen sind?«, wollte Geary wissen.
»Es gibt keine Hinweise darauf, dass sie verfolgt werden, Sir. Wahrscheinlich werden die meisten Leute glauben, dass sie in den Trümmern des Lagers den Tod gefunden haben.«
»Gut.« Nach der Aufregung rund um die Befreiung der Kriegsgefangenen brannte Geary jetzt darauf, der Flotte endlich den Befehl geben zu können, in Richtung Sprungpunkt aufzubrechen. Während er nervös abwartete, ging ihm eine Frage durch den Kopf, und er sah Desjani an. »Warum nennen die Marines diese Täuschungsvorrichtung eigentlich Persischer Esel?«
Sie antwortete mit einem fragenden Gesichtsausdruck. »Es gibt bestimmt einen Grund dafür. Lieutenant Casque, Sie haben doch im Augenblick nichts zu tun. Sehen Sie mal in der Datenbank nach, ob Sie da eine Erklärung finden können.«
»Und wer ist bloß auf die Idee gekommen, eine Atomwaffe als Hupnum zu bezeichnen? Das klingt nach irgendwelchen niedlichen Fabelwesen.«
Diesmal hob Desjani hilflos die Hände, da sie abermals um eine Erklärung verlegen war. »Darauf hat man sich bestimmt einfach so geeinigt. Irgendwer hat den Begriff geprägt, und andere haben ihn übernommen. Wie hießen Hupnums denn in … äh … in der Vergangenheit?«
Geary fragte sich, was Desjani eigentlich hatte sagen wollen, um seine Zeit vor einem Jahrhundert zu beschreiben. »Wir nannten sie PNW. Portable Nuklearwaffen. Kurz und knapp.«
»Aber portabel sind alle Nuklearwaffen«, wandte Desjani ein. »Auch wenn sie sich in einem Flugkörper oder auf einem Schiff befinden, sind sie immer noch portabel.«
Er warf ihr einen giftigen Blick zu. »Sagen Sie, haben Sie irgendwann mal als Lektorin in der Literaturagentur Ihres Onkels gearbeitet?«
»Ein paar Mal. Aber was hat das jetzt mit den Nuklearwaffen zu tun?«
»Gefällt Ihnen der Begriff Hupnum, Captain Desjani?«
»Nein! Wir in der Flotte bezeichnen sie üblicherweise als NBMs, Nuklear bewaffnete Marines.«
»NBMs?« Warum gab es in dieser Welt kein Handbuch, das einem all diese Dinge beschreiben konnte? Aber wenn er jetzt so darüber nachdachte, konnte er sich daran erinnern, dass er vereinzelt mitbekommen hatte, wie Matrosen dieses Kürzel benutzten.
»Ja.« Desjani machte eine entschuldigende Geste. »Nuklear bewaffnete Marines, das ist ein geflügeltes Wort unter Matrosen für etwas, das sie für keine gute Idee halten.«
Geary hatte Mühe, ernsthaft zu bleiben. »Manche Dinge ändern sich wohl nie. Glauben Sie, es gab jemals eine Zeit, in der Marines und Matrosen gut miteinander ausgekommen sind?«
»Wir kommen gut miteinander aus, wenn planetarische Streitkräfte uns das Leben schwer machen wollen«, betonte sie. »Und wenn es eine Mission zu erledigen gilt.«
»Und in Kneipen?«
»Das läuft üblicherweise nicht ganz so gut. Es sei denn, in der Kneipe tummeln sich auch ein paar Leute von den planetarischen Streitkräften.«
»Ganz wie früher«, meinte Geary.
»Captain?«, meldete sich Lieutenant Casque zu Wort. »Die Datenbank sagt, dass die Persischen Esel ihren Namen aus einer antiken Geschichte haben. Diese Leute, die sogenannten Perser, überfielen ein anderes Volk, gerieten dabei aber in eine Falle. Der Feind war mobiler als sie selbst, sodass sie sich nachts zurückziehen mussten, damit man sie nicht bemerkte. Diese Perser hatten diese Objekte bei sich, diese Esel. Der Feind hatte noch nie Esel gesehen, die sehr viel Lärm machten. Also ließen die Perser ihre Esel zurück, damit der Feind glaubte, sie säßen immer noch in der Falle. Ich vermute, bei diesen Eseln handelte es sich um eine Art primitive Täuschungsvorrichtung.«
Lieutenant Yuon schaute Casque mit gequälter Miene an. »Esel sind Tiere.«
»Oh, Captain, ich höre gerade, Esel sind …«
»Danke, das weiß ich.« Desjani machte einen skeptischen Eindruck, als sie nachhakte. »Wie alt ist diese Geschichte genau, Lieutenant Casque? Was bedeutet ›antik‹?«
»Captain, die Quelle ist gekennzeichnet als ›antikes Buch – Erde‹. Älter geht es also nicht. Ich schätze, die Marines haben in diesem Buch darüber gelesen.«
»Hervorragende Annahme, Lieutenant.« An Geary gerichtet beschrieb sie eine Geste, die so viel wie »Wer hätte das gedacht?«, bedeuten sollte. »Da ist Ihre Antwort, Sir. Die Marines haben von dieser alten Geschichte gehört. Vielleicht haben sie sich damit beschäftigt, weil es der erste dokumentierte Fall eines Täuschungsmanövers in einem Krieg war. Nein, das dürfte die Sache mit dem hölzernen Pferd gewesen sein, von der ich mal gelesen habe. Egal, auf jeden Fall ist es eine sehr alte Geschichte.«
»Die sogar noch älter ist als ich«, gab Geary zurück. »Jedenfalls bin ich mir ziemlich sicher, dass sich diese Dinge ereignet haben, noch bevor ich mich zur Flotte gemeldet habe.« Niemals hätte er es für möglich gehalten, darüber Witze zu machen, wie lange seine Zeit zurücklag. In Anbetracht der Hektik rund um die Rettung der Kriegsgefangenen war es ihm aber mit einem Mal gar nicht mehr wichtig, sich über Dinge aufzuregen, an denen er ohnehin nichts ändern konnte.
»Sir«, meldete der Ablauf-Wachhabende. »Alle Shuttles sind zu ihren Schiffen zurückgekehrt.«
»Bestens.« Geary erteilte den Befehl an die Flotte, sich in Bewegung zu setzen und dorthin zurückzukehren, wo die reparierten Kriegsschiffe, die Hilfsschiffe und die Eskorten auf sie warteten. Sobald die Flotte wieder komplett war, konnte sie sich auf den Weg zum Sprungpunkt nach Padronis machen. »Mir kommt da gerade ein Gedanke. Uns war bekannt, welche Verluste wir den Syndiks in der letzten Zeit beschert haben. Aber woher wussten die Rebellen in diesem System davon? Sie haben sich in dem Moment gegen die Syndiks erhoben, als wir die gegnerische Flotte hier bei Heradao geschlagen hatten.«
Rione antwortete in nachdenklichem Tonfall: »Unter den Bürgern der Syndikatwelten müssen schon längst Gerüchte kursieren, wie es um die Flotte der Syndiks bestellt ist. Das wahre Ausmaß der Verluste kann aber nur den Senioroffizieren und den CEOs bekannt sein. Das wiederum bedeutet, dass einige aus diesem Kreis Teil jener Kräfte sein müssen, die versuchen, Heradao der Kontrolle durch die Syndiks zu entreißen. Es gärt also unter der Oberfläche.«
»Dann könnte sich so etwas in vielen Systemen wiederholen, wenn sich die Neuigkeit herumspricht«, folgerte Geary.
»Vielleicht. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Syndiks durchaus noch in der Lage sind, in einzelnen Sternensystemen die Kontrolle auszuüben. Ein Zusammenbruch der Syndikatwelten wird lange Zeit in Anspruch nehmen, ehe er sich von System zu System vorgearbeitet hat.«
»Lange Zeit? Zu schade«, murmelte Desjani und sah auf ihr Display. »Die Shuttles, die einige der befreiten Kriegsgefangenen zur Dauntless gebracht haben, sind jetzt bereit, ihre Passagiere aussteigen zu lassen.«
Sofort sprang Geary auf. »Gehen wir hin und heißen sie an Bord willkommen.«
»Ja«, stimmte Rione ihm zu. »Sofern der befehlshabende Offizier der Dauntless nichts gegen meine Anwesenheit einzuwenden hat.«
»Selbstverständlich nicht, Madam Co-Präsidentin«, entgegnete Desjani ohne eine Gefühlsregung in ihrer Stimme.
Sie erreichten den Shuttlehangar, als der erste Vogel die Luke öffnete und die ehemaligen Gefangenen die Rampe herunterkamen. Sie stellten sich ein Stück vom Shuttle entfernt auf und sahen sich freudig und immer noch ein wenig ungläubig um. In ihren zerlumpten alten Uniformen und in der abgetragenen Zivilkleidung erinnerten sie verblüffend an die Gefangenen, die die Flotte lange zuvor im Sutrah-System befreit hatte. Selbst die Atmosphäre und die Gefühle waren genau wie bei Sutrah.
»Ich nehme an, man kann noch so viele Gefangene befreien, aber man verspürt immer diesen wohligen Schauer«, murmelte Desjani und sprach aus, was Geary durch den Kopf ging.
In diesem Moment rief ein Mann laut über das Deck: »Vic? Vic Rione?« Ein großer, dürrer Mann mit den Abzeichen eines Commanders auf seinem alten Mantel schaute in ihre Richtung und riss dabei die Augen ungläubig auf.
Victoria Rione musterte den Mann nachdenklich, dann stockte ihr kurz der Atem. Schnell hatte sie sich wieder im Griff und erwiderte: »Kai! Kai Fensin!«
Sie lief ihm entgegen, während er sich aus der Gruppe löste und auf sie zulief. Einige der Matrosen, die die Befreiten zur Krankenstation führen sollten, machten Anstalten, den Mann aufzuhalten, aber Rione gab ihnen ein Zeichen, dass sie sich keine Sorgen machen mussten. »Vic?«, wiederholte Fensin, als er vor ihr stand. »Wann bist du zur Flotte gegangen? Du bist ja keinen Tag älter geworden.«
»Vic?«, raunte Desjani gerade laut genug, dass Geary sie hören konnte.
»Immer schön lächeln«, gab er zurück, dann folgte er Rione.
Die schüttelte gerade den Kopf und machte einen verlegenen Eindruck. »Ich fühle mich aber viel älter, und ich bin nicht zur Flotte gegangen, Kai. Darf ich dir den Flottenbefehlshaber vorstellen, Captain Geary?«
»Geary.« Commander Fensin lächelte ihn ungläubig an. »Auf dem Weg hierher hat man uns gesagt, wer diese Flotte befehligt. Wer sonst hätte mit der Flotte herkommen sollen, um uns zu befreien?« Plötzlich schien er zu erschrecken, dann nahm Fensin Haltung an. »Es ist mir eine Ehre, Sir, eine große Ehre.«
»Rühren, Commander«, befahl Geary. »Entspannen Sie sich. Sie werden noch früh genug wieder strammstehen müssen.«
»Ja, Sir«, pflichtete Fensin ihm bei. »Ich habe einmal mit einem anderen Geary gedient. Michael Geary. Ein Großneffe von Ihnen. Wir waren beide als Junioroffiziere an Bord der Vanquish.«
Geary merkte, wie sein Lächeln erstarrte. Fensin entging das nicht, besorgt fragte er: »Verzeihen Sie. Ist er tot?«
»Möglicherweise.« Er fragte sich, wie sich wohl jetzt gerade seine Stimme anhörte. »Sein Schiff wurde im Heimatsystem der Syndiks zerstört, als er der Flotte Rückendeckung gab, damit sie entkommen konnte.«
»Er hat einen Geary hingelegt?«, platzte Fensin heraus. »Ausgerechnet er? Ich meine …« Fensin erschrak über seine verbalen Fehltritte.
»Ich verstehe schon«, sagte Geary beschwichtigend. »Er hielt nicht viel von Black Jack, nachdem er in dessen Schatten hatte aufwachsen müssen. Aber gegen Ende schien er mich besser zu verstehen, als er sich in der gleichen Situation befand wie ich.« Es wurde Zeit, das Thema zu wechseln und über etwas hoffentlich Angenehmeres zu reden. »Woher kennen Sie Co-Präsidentin Rione?«
»Co-Präsidentin?« Fensin sah Rione erstaunt an.
Sie nickte knapp. »Co-Präsidentin der Callas-Republik. Und damit auch Mitglied des Senats der Allianz. Ich ging in die Politik, um der Allianz zu dienen, nachdem Paol …« Sie hielt inne und zwinkerte ein paar Mal. »Man hatte mir gesagt, er sei tot, aber vor Kurzem habe ich herausgefunden, dass er noch lebte, als man ihn gefangennahm. Weißt du irgendetwas?«
Kai Fensin kniff sekundenlang die Augen zu. »Ich war auf dem gleichen Schiff wie Vics Ehemann«, erklärte er an Geary gerichtet. »Entschuldigung, ich meine natürlich Co-Präsidentin Riones …«
»Für dich bin und bleibe ich Vic, Kai. Also: Weißt du etwas?«
»Kurz nach unserer Gefangennahme wurden wir getrennt«, fuhr er leise fort. »Paol war schwerverletzt. Jemand hatte mir gesagt, er sei auf dem Schiff umgekommen, deshalb war ich sehr erstaunt, als ich sah, dass er doch noch lebte. Dann brachten die Syndiks die Schwerverletzten weg, angeblich um sie zu behandeln. Aber …« Er verzog den Mund. »Du weißt ja, was manchmal mit Gefangenen geschieht.«
»Sie haben ihn umgebracht?«, fragte Rione im Flüsterton.
»Das weiß ich nicht. Bei meinen Vorfahren, Vic, ich weiß es nicht. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört, und auch nicht von den anderen, die fortgebracht wurden.« Er zuckte mit den Schultern und schaute betrübt drein. »Von unserem Schiff waren noch ein paar andere in diesem Lager. Ich glaube, keiner von ihnen wurde auf die Dauntless gebracht, aber wir haben uns viel unterhalten. Reden war so ziemlich das Einzige, was man im Lager machen konnte, wenn die Syndiks einen nicht gerade dazu zwangen, Gräben auszuheben oder Steine zu klopfen. Keiner wusste irgendetwas darüber, was mit Paol geschehen ist. Ich wünschte, ich könnte dir noch seine letzten Worte weitergeben, aber als die Syndiks uns trennten, war er eigentlich gar nicht ansprechbar.«
Rione brachte ein Lächeln zustande. »Ich weiß, welche Worte er gesagt hätte.«
Nach kurzem Zögern sah Fensin wieder Geary an. »Im Shuttle wurde viel erzählt. Jeder wollte das Neueste erfahren. Da war auch die Rede davon, dass da etwas zwischen einer Politikerin und einem Flottenkommandanten läuft.«
»Captain Geary und ich hatten vorübergehend eine Affäre«, erklärte Rione ohne zu zögern.
»Die in dem Moment endete, als sie erfuhr, dass ihr Ehemann womöglich noch lebt«, fügte Geary hinzu. Das war zwar nicht die ganze Wahrheit, aber es kam ihr nahe genug, dass er verantworten konnte, es zu sagen.
Commander Fensin nickte. Mit einem Mal wirkte er viel hagerer. »Ich hätte Vic daraus keinen Vorwurf gemacht, Sir. Vielleicht noch, bevor ich in dieses Arbeitslager kam. Als ich noch dachte, dass Ehre nur ein paar simple Regeln kennt. Jetzt weiß ich, wie es ist, wenn man glaubt, jemanden niemals wiederzusehen, weil der Krieg kein Ende nimmt. Man sieht die Leute im Arbeitslager sterben; Leute, die fast ihr ganzes Leben dort zugebracht haben, und man denkt sich, dass es einem selbst irgendwann ganz genauso ergehen wird. Viele Gefangene haben in diesem Lager neue Partner gefunden, weil sie davon überzeugt waren, nicht mehr zu ihren früheren Lieben zurückkehren zu können. Verheiratete Menschen, die neue Beziehungen begonnen haben. Wenn sie heimkehren, wird das für alle Beteiligten eine schmerzhafte Sache werden.« Er sah Rione an. »Mir ist es auch so ergangen.«
Riones Gesichtsausdruck war so sanft, wie Geary es noch nie erlebt und auch nicht für möglich gehalten hatte. Es war, als hätte die Begegnung mit diesem Mann aus ihrer Vergangenheit die Erinnerungen an bessere Zeiten erwachen lassen. »Ist sie mit auf dieses Schiff gekommen?«
»Sie ist tot. Sie starb vor drei Monaten. Die Strahlung auf diesem Planeten verursacht manchmal Probleme, und die Syndiks geben kein Geld für kostspielige Behandlungen ihrer Gefangenen aus.« Fensins Augen nahmen einen leidenden Ausdruck an. »Mögen die lebenden Sterne mir verzeihen, aber das hat mir alles viel leichter gemacht. Ich weiß nicht, ob meine Frau noch lebt, aber jetzt stehe ich wenigstens nicht vor einer Wahl. Ich bin kein Ungeheuer, Vic, aber ich muss immer wieder daran denken, was mir so erspart geblieben ist.«
»Ich verstehe, was du meinst«, erwiderte Rione und griff nach Commander Fensins Arm. »Komm, ich begleite dich in die Krankenstation, damit du so wie die anderen untersucht werden kannst.« Dann gingen sie los, während Geary ihnen nachsah.
Desjani räusperte sich leise und murmelte: »Bei der Gnade unserer Vorfahren.«
»Ja, das ist schon so eine Sache.«
»Schön zu sehen, dass sie auch menschlich sein kann«, fügte sie hinzu. »Ich rede von Vic.«
Er sah Desjani ein wenig skeptisch an. »Ihnen ist doch klar, wie sie reagieren wird, wenn Sie sie so anreden.«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen«, gab sie zurück. »Aber keine Sorge, Sir, ich werde den richtigen Moment dafür gut auswählen.«
Geary schickte ein Stoßgebet zu den Vorfahren und hoffte darauf, sich nicht in der unmittelbaren Nähe der beiden aufzuhalten, wenn Desjani ihre Ankündigung wahrmachte. »Wie viele der befreiten Gefangenen werden in der Lage sein, Ihre Crew zu verstärken?«
»Das weiß ich noch nicht, Sir. Das ist so wie bei Sutrah. Wir reden mit jedem Einzelnen von ihnen, dann bewerten wir, welche Fähigkeiten sie besitzen oder wie eingerostet sie sind. Danach wird das Personalverwaltungssystem uns dabei helfen zu entscheiden, wer wo am besten aufgehoben ist.«
»Könnten Sie …«
»Commander Fensin bleibt auf jeden Fall an Bord der Dauntless, Sir«, erklärte sie und warf ihm einen kühlen Blick zu. »Ich will doch hoffen, dass dieser Commander die Politikerin für sich beansprucht, damit wir sie vom Hals haben.«
»Wissen Sie, Sie dürfen nette Dinge auch tun, um einfach nur nett zu sein, sogar ihr gegenüber.«
»Tatsächlich?« Desjanis Miene verriet keine Regung, als sie zu den befreiten Gefangenen schaute. »Ich muss die anderen auf der Dauntless willkommen heißen, Sir.«
»Haben Sie was dagegen, wenn ich sie bei der Gelegenheit auch in der Flotte willkommen heiße?«
»Natürlich nicht, Sir.« Sie sah ihn betrübt an. »Ich weiß, wie wenig Sie die Reaktionen mögen, die das nach sich ziehen wird.«
»Tja, aber es gehört nun mal zu meinen Aufgaben, diese Leute zu begrüßen.«
Es war eigenartig, zwischen den Reihen aus ehemaligen Gefangenen hindurchzugehen, die zum Teil Jahrzehnte im Arbeitslager verbracht hatten, und dabei zu wissen, dass jeder von ihnen lange nach ihm zur Welt gekommen war. Bei der Crew der Dauntless hatte er dieses Gefühl nicht mehr. Dort war es ihm gelungen, diese Tatsache zu vergessen. Aber durch die befreiten Gefangenen kamen diese Gefühle nun alle wieder und ihm wurde vor Augen geführt, dass ein jeder in einem Universum aufgewachsen war, in dem Black Jack Geary bereits als Legende galt.
Eine Unteroffizierin, die viele Dienstjahre hinter sich hatte, sprach ihn plötzlich an. »Ich kannte jemanden von der Merlon, Sir. Als ich noch ein Kind war.«
Geary verspürte ein sonderbar hohles Gefühl, als er stehen blieb, um ihr zuzuhören. »Von der Merlon?«
»Ja, Sir. Jasmin Holaran. Sie war … ähm …«
»Sie war der Höllenspeer-Batterie Eins Alpha zugeteilt gewesen.«
»Genau, Sir!« Die Frau strahlte ihn an. »Als sie im Ruhestand war, lebte sie in unserer Nachbarschaft. Wir besuchten sie, damit sie uns Geschichten erzählte. Sie sprach immer davon, dass alles stimmt, was die Legenden über Sie sagen, Sir.«
»Tatsächlich?« Er konnte sich an Holarans Gesicht erinnern. Er wusste noch, dass er die junge Matrosin einmal hatte verwarnen müssen, nachdem sie bei einem Landurlaub in eine Schlägerei geraten war. Er sah sie vor sich bei der Beförderungszeremonie, und ihm kam ins Gedächtnis, wie er die Höllenspeer-Batterie, zu der auch Holaran gehört hatte, wegen ihrer überragenden Ergebnisse beim Bereitschaftstest gelobt hatte. Sie war eine fähige Matrosin gewesen, die sich hin und wieder Ärger einhandelte, nicht mehr und nicht weniger. Sie hatte zu jenen Leuten gehört, deren Leistungen als durchschnittlich bezeichnet werden, die ihre Arbeit erledigen und die tagtäglich dafür sorgen, dass ein Schiff funktioniert.
Batterie Eins Alpha war beim Kampf gegen die Syndiks schon früh funktionsunfähig geschossen worden, aber Geary hatte nie erfahren, wer von der Besatzung den Angriff überlebt hatte. Holaran war also unter den Überlebenden gewesen, und sie hatte es geschafft, die Merlon zu verlassen. Und auch die nachfolgenden Jahre im Kriegsdienst hatte sie überlebt, was so vielen anderen nicht vergönnt worden war. Dann hatte sie als Rentnerin neugierigen Kindern ihre Geschichte erzählt, und als sie schließlich in hohem Alter starb, da trieb er noch immer im Kälteschlaf durchs All.
»Sir?« Desjani stand neben ihm und sah ihn besorgt an. »Ist alles in Ordnung, Sir?«
Er fragte sich, wie lange er wohl schweigend dagestanden hatte, und benötigte noch einen Moment, um die Gefühle in den Griff zu bekommen, die auf ihn einstürmten. »Ja, ja, danke, Captain Desjani.« Er konzentrierte sich wieder auf die Matrosin vor ihm. »Und Ihnen danke ich, dass Sie mir von Jasmin Holaran erzählt haben. Sie war eine gute Matrosin.«
»Sie sagte, Sie hätten ihr das Leben gerettet. Ihr und vielen anderen«, ergänzte die ältere Frau hastig. »Dank den lebenden Sternen für Geary, sagte sie immer. Hätten Sie sich nicht geopfert, dann wäre sie bei Grendel gestorben und hätte so viel versäumt. Ihr Ehemann war zu der Zeit zwar schon tot, und ihre Kinder waren alle zur Flotte gegangen.«
»Ihr Ehemann?« Er war sich sicher, dass Holoran nicht verheiratet gewesen war, als sie auf der Merlon diente. Durch sein Handeln hatte sie überleben und ein langes, erfülltes Leben führen können, ein Leben mit einem Mann und Kindern.
»Sir?« Desjani meldete sich wieder zu Wort, diesmal etwas drängender als gerade eben.
Offenbar hatte er wieder schweigend dagestanden, während ihm all diese Dinge durch den Kopf gingen. »Ja, es ist alles in Ordnung.« Er atmete tief durch, da er das Gefühl hatte, als wäre ihm eine große Last von den Schultern genommen worden, die ihm bislang so gar nicht bewusst gewesen war. »Ich habe etwas bewirkt«, flüsterte er so leise, dass nur Desjani ihn hören konnte.
»Natürlich haben Sie das.«
»Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen«, versicherte Geary der ehemaligen Gefangenen. »Dass ich einem Menschen begegne, der noch jemanden von meiner Crew gekannt hat.« Überrascht stellte er fest, dass er das völlig ernst meinte. Der Augenblick, vor dem er sich seit seinem Erwachen aus dem Kälteschlaf gefürchtet hatte, nahm ihm in Wahrheit etwas von dem Schmerz, den er wegen seiner verlorenen Vergangenheit mit sich herumtrug. »Ich werde keinen von ihnen jemals vergessen, und durch Sie habe ich jetzt die Verbindung zu einem meiner Besatzungsmitglieder zurückgewonnen.«
Die Frau strahlte ihn freudig an. »Das ist das Mindeste, was ich tun kann, Sir.«
»Es ist etwas sehr Großes, was Sie damit getan haben«, ließ er sie wissen. »Für mich. Daher danke ich Ihnen aus tiefstem Herzen.« Geary nickte Desjani zu. »Es ist alles in Ordnung«, versicherte er ihr.
»Ja, das ist es«, meinte sie lächelnd. »Wenn man Kriegsgefangene befreit, weckt man damit jede Menge Geister.«
»Ja, aber wenn wir diesen Geistern ins Gesicht sehen, dann bringen sie uns vielleicht auch Frieden.« Nachdem er sich noch einmal bei der älteren Frau bedankt hatte, ging er weiter und sprach mit anderen Befreiten. Das hohle Gefühl in seinem Inneren hatte sich unterdessen in angenehme Wärme verwandelt.
Die hielt jedoch nicht lange an. Als er mit Desjani den Shuttlehangar verließ, wurde er von der Brücke gerufen.
»Captain Geary?«, ertönte die Stimme der Ablauf-Wachhabenden, die blechern aus dem Komm-Pad klang. »Es scheint da ein Problem mit den ehemaligen Kriegsgefangenen zu geben.«
So viel zu den Augenblicken der Entspannung. »Was ist denn los?«
»Die ranghöchsten Senioroffiziere bestehen darauf, auf die Dauntless gebracht und in Schutzhaft genommen zu werden.« Nach dem Tonfall zu urteilen, konnte die Wachhabende selbst nicht glauben, was sie da sagte.
Einen Moment lang sah er nur stumm auf sein Komm-Pad. »Die bitten mich darum, festgenommen zu werden?«
»Ja, Sir. Möchten Sie mit ihnen reden, Sir?«
Eigentlich nicht. Trotzdem aktivierte er die am nächsten gelegene große Komm-Einheit und winkte Desjani zu sich. »Kommen Sie, das sollten Sie sich auch anhören.«
Geary sah zwei Frauen und einen Mann. Eine der Frauen und der Mann trugen die Abzeichen eines Flottencaptains auf Zivilkleidung, die die Syndiks ihnen überlassen hatten. Die andere Frau hatte den Rang eines Colonels der Marines inne. Alle drei sahen bereits älter aus, was Geary vor die Frage stellte, wie lange sie bereits Gefangene der Syndiks gewesen waren. »Ich bin Captain Geary. Was kann ich für Sie tun?«
Es dauerte einen Moment, ehe eine Antwort kam, da die drei ihn so anstarrten, wie es inzwischen normal war, auch wenn er sich niemals daran würde gewöhnen können. Schließlich erwiderte die Frau: »Wir bitten darum, so schnell wie möglich in Schutzhaft genommen zu werden, Captain Geary.«
»Wieso? Wir haben Sie gerade aus der Gefangenschaft geholt, warum sollten Sie sich freiwillig in eine Zelle auf einem Schiff der Flotte begeben?«
»Wir haben Feinde in den Reihen unserer Mitgefangenen«, sagte der Captain. »Wegen unseres Dienstrangs und unserer Dienstzeit hatten wir das Sagen über die Gefangenen. Einige Leute waren sehr unzufrieden mit den Entscheidungen, die wir im Lauf der Jahrzehnte getroffen haben.«
Geary sah zu Desjani, die die drei Offiziere skeptisch betrachtete. »Ich bin Captain Desjani, befehlshabender Offizier der Dauntless. Welche Entscheidungen haben zu solchen Problemen geführt, dass Sie auf mein Schiff kommen wollen?«
Die drei sahen sich kurz an, dann antwortete der Colonel: »Kommandoentscheidungen. Wir waren gezwungen, die Konsequenzen aller Entscheidungen in Erwägung zu ziehen, die die Gefangenen betrafen.«
Selbst Geary war längst klar, dass die drei keine Einzelheiten verlauten lassen wollten. Desjani beugte sich vor. »Tun Sie, was die drei wollen. Nehmen Sie sie fest. Wir sollten sie unter Kontrolle haben, bis wir wissen, was da gelaufen ist.«
Er nickte, ließ die Geste aber so wirken, als gelte sie den drei ehemaligen Kriegsgefangenen. »Also gut. Wir müssen uns mit Ihrer Situation noch eingehender befassen, aber bis dahin komme ich Ihrer Bitte nach.« Er sah sich die Daten neben dem Bild an. »Sie sind alle auf der Leviathan? Dann werde ich Captain Tulev befehlen, dass er Sie in Ihren Quartieren unter Arrest stellt.«
»Sir, wir wären lieber Ihrer direkten Kontrolle unterstellt.«
»Captain Tulev ist ein zuverlässiger und vertrauenswürdiger Offizier dieser Flotte. Sie sind bei ihm nicht schlechter aufgehoben als bei mir.«
Wieder tauschten die drei vielsagende Blicke aus. »Wir benötigen Wachen, Captain Geary.«
Das wurde ja immer befremdlicher. »Captain Tulev wird den Befehl erhalten, Marines vor Ihren Quartieren zu postieren. Können Sie mir sonst noch etwas sagen?«
Nach kurzem Zögern antwortete die eine Frau: »Wir bereiten einen umfassenden Bericht über unser Handeln vor.«
»Danke, den würde ich gern lesen. Geary Ende.« Er beendete die Verbindung, dann rief er Tulev. »Captain, da spielt sich etwas ganz Eigenartiges ab.«
Tulev hörte sich an, was Geary zu berichten hatte, ohne dass er eine Miene verzog. »Ich werde Wachen aufstellen, Captain Geary. Ich wurde bereits von anderen ehemaligen Gefangenen angesprochen, die mich aufgefordert haben, ihnen zu sagen, wo die drei Senioroffiziere untergebracht sind.«
»Aufgefordert?«
»Ja, und deshalb hatte ich bereits beschlossen, diese Offiziere isoliert einzuquartieren und dem Grund für diese offene Feindseligkeit auf die Spur zu kommen.«
Desjani mischte sich ein: »Haben diese Leute irgendeinen Grund für ihre Forderungen genannt?«
»Nein, sie schweigen sich darüber aus. Allerdings handelt es sich bei ihnen durchweg um Offiziere. Aber ich werde dieser Sache schon auf den Grund gehen. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich muss die Marines für den Wachdienst anfordern.«
Nachdem das Gespräch beendet war, sah Geary Desjani an. »Irgendeine Ahnung, was da los sein könnte?«
Desjani verzog das Gesicht. »Das eine oder andere kommt mir schon in den Sinn. Die drei fürchten um ihr Leben, also muss es etwas viel Schwerwiegenderes sein als bloße Meinungsverschiedenheiten über bestimmte Entscheidungen.«
»Und warum sagen die anderen Gefangenen uns dann nicht, was vorgefallen ist? Sie waren alle im gleichen Lager, warum sollen die übrigen Gefangenen dann nicht in der Lage gewesen sein …« Er unterbrach sich und nahm Kontakt mit Colonel Carabali auf. »Colonel, sind Sie im Arbeitslager diesen drei Senioroffizieren der Allianz begegnet?«
Carabali sah vom jüngsten Einsatz mitgenommen aus, ihre Uniform war durchgeschwitzt. Während sie antwortete, straffte sie die Schultern. »Zwei Captains und ein Colonel? Ja. Die kamen uns entgegen, als wir gelandet sind. Ich glaube, wir haben sie mit dem ersten Shuttle rausgeflogen. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, dass ich sie nach der Begegnung noch mal gesehen habe. Ich weiß, dass andere Gefangene nach ihnen gesucht haben.« Carabali machte eine kurze Pause. »Allerdings habe ich ihre Quartiere gesehen. Abgesondert von den anderen Unterkünften. Die hatten was von einem Bunker an sich. Vor den Quartieren muss ein Syndik-Posten Wache gehalten haben, aber als wir eintrafen, hatte der bereits die Flucht ergriffen. Es war eigenartig, aber mir blieb keine Zeit, um mich näher damit zu befassen, Sir.«
»Verstanden, Colonel. Vielen Dank.« Geary beugte den Kopf nach vorn und versuchte nachzudenken. »Wie bekommen wir Antworten, Tanya, bevor irgendetwas passiert?«
Sie hatte ebenfalls konzentriert überlegt und lächelte ihn flüchtig an. »Vielleicht sollten wir beide uns unter sechs Augen mit Commander Fensin unterhalten.«
»Fensin?« Er musste daran denken, wie entgegenkommend und hilfsbereit der Mann gewirkt hatte. Und er neigte dazu, das auszusprechen, was ihm gerade durch den Kopf ging. »Das könnte funktionieren, wenn wir Rione dabeihaben, damit sie ihm gut zuredet.«
»Muss das sein? Ach, vermutlich haben Sie recht. Sie können wir gebrauchen, falls er den Mund nicht aufmachen will.«
»Sie hören sich an, als wüssten Sie schon, was los ist«, meinte Geary.
»Ich weiß es nicht, Sir, aber ich fürchte, dass ich es wissen könnte, und wenn Commander Fensin nicht reden will, dann könnte ich in der Lage sein, ihn zum Reden zu bringen.« Sie tippte auf ihr Komm-Pad. »Brücke, stellen Sie fest, wo sich Co-Präsidentin Rione und Commander Fensin aufhalten. Sie sollten zusammen unterwegs sein, vermutlich auf der Krankenstation. Captain Geary und ich müssen sofort mit den beiden im Konferenzraum reden.«
Zögerlich gab der Wachhabende zurück: »Sollen wir Co-Präsidentin Rione den Befehl erteilen, sich in den Konferenzraum zu begeben?«
Desjani warf Geary einen mürrischen Blick zu, während sie antwortete: »Nein, informieren Sie sie, dass Captain Geary dringend darum bittet, mit ihr und Commander Fensin im Konferenzraum zu reden. Das dürfte wohl diplomatisch genug sein.«
Commander Fensin lächelte, als er im Konferenzraum Platz nahm. Rione saß neben ihm und zeigte keine Regung, beobachtete aber ganz genau, wie Desjani die Luke schloss.
Geary kam sofort auf den Grund für die Unterredung zu sprechen. »Commander Fensin, was hat es mit diesen drei Senioroffizieren auf sich, die zu den befreiten Gefangenen gehören?«
Das Lächeln verschwand von den Lippen des Mannes, auf dessen Gesicht sich alle möglichen Gefühlsregungen abzeichneten, ehe er sich in den Griff bekam. »Was soll es mit ihnen auf sich haben?«
»Wir wissen, es gibt Probleme. Welchen Grund haben die drei, sich vor ihren Mitgefangenen zu fürchten?«
»Ich verstehe nicht, was Sie von mir wollen.«
»Vielleicht verstehen Sie ja ein anderes Wort besser«, mischte sich Desjani ein. »Wie wäre es mit ›Verrat‹?«
Fensin saß plötzlich reglos da, dann schaute er Desjani an. »Wie haben Sie davon erfahren?«
»Ich bin Befehlshaberin eines Schlachtkreuzers«, entgegnete sie. »Was genau haben die drei gemacht?«
»Ich habe einen Eid abgelegt …«
»Lange davor haben Sie einen Eid gegenüber der Allianz abgelegt, Commander«, fiel sie ihm ins Wort. »Als Ihr vorgesetzter Offizier erwarte ich, dass Sie einen umfassenden Bericht erstatten.«
Geary wurde bewusst, dass Desjani die Kontrolle über das Verhör an sich gerissen hatte, aber da sie offenbar auf dem besten Weg war, dem Mann Antworten zu entlocken, gab es für ihn keinen Grund zu protestieren.
Ganz im Gegensatz zu Rione. »Ich hätte gerne eine Erklärung für diese Vorgehensweise. Commander Fensin hat seine medizinische Untersuchung noch nicht einmal abgeschlossen.«
»Ich denke«, warf Geary ein, »Sie bekommen eine Erklärung, wenn Commander Fensin Captain Desjanis Fragen beantwortet.«
Fensin hatte Desjani schweigend angesehen, nun sank er in sich zusammen und rieb mit beiden Händen über sein Gesicht. »Mir hat das sowieso nie gefallen. Sollten wir es irgendwie schaffen, aus dem Lager rauszukommen, dann würden alle den Mund halten, bis wir die drei zu fassen bekommen; so lautete die Übereinkunft. Als wären wir eine Gangsterbande und nicht Angehörige des Allianz-Militärs. Je mehr Zeit verstrich, umso überzeugender wurde es aber, so zu verfahren. Wir würden niemals gerettet werden. Wir würden niemals wieder in Freiheit gelangen. Wir würden tun müssen, was getan werden musste, damit Gerechtigkeit geschieht. Uns als wir gerettet wurden, änderten sich die Regeln nicht. Wir waren uns einig, es zu tun, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab.«
Rione griff nach Fensins Hand. »Was war geschehen?«
»Was nicht hätte geschehen dürfen.« Fensin starrte das gegenüberliegende Schott an, sein Blick war in die Ferne gerichtet. »Sie haben uns verraten, Vic. Diese drei haben uns verraten.«
»Und wie?«, wollte Geary wissen.
»Es gab einen Plan. Wir wollten ein Versorgungsshuttle der Syndiks kapern, zum Raumhafen fliegen und dort ein Raumschiff in unsere Gewalt bringen. Nur gut zwanzig Leute hätten es schaffen können, aber sie hätten der Allianz jede Menge Informationen mitbringen können. Wer im Lager ist, was wir über die Situation im Syndik-Gebiet wissen und so weiter.« Fensin schüttelte den Kopf. »Vermutlich war es eine völlig verrückte Idee. Die Chancen standen vielleicht eins zu einer Million, wenn überhaupt. Aber einige von uns fanden, dass das immer noch besser war als ein Leben im Arbeitslager. Diese drei Offiziere sagten uns, wir sollten das sein lassen. Wir aber wiesen auf den Befehl der Flotte hin, im Fall einer Gefangennahme jeden erdenklichen Widerstand zu leisten. Also erzählten sie es den Syndiks. Sie sagten, das sei der einzige Weg, um diesen Plan zu verhindern, weil die Syndiks sonst die restlichen Gefangenen dafür büßen lassen würden. Schließlich hätten sie sich einverstanden erklärt, uns in Zaum zu halten, weil die Syndiks dann allen im Gegenzug gewisse Privilegien gewähren würden. Ha! Privilegien! Genug Essen, medizinische Versorgung – also nur das, wozu die Syndiks aus humanitärer Notwendigkeit ohnehin verpflichtet waren!«
Fensin kniff die Augen zu. »Als die Syndiks von dem Plan erfuhren, verhörten sie uns so lange, bis sie zehn Gefangene identifiziert hatten, die das Shuttle entführen wollten. Alle zehn wurden daraufhin erschossen.«
»War das ein einzelner Vorfall?«, fragte Geary. »Oder ein typisches Verhaltensmuster?«
»Es war ein Verhaltensmuster, Sir. Ich könnte den ganzen Tag hier sitzen und ein Beispiel nach dem anderen liefern. Sie machten das, was die Syndiks verlangten, und dann erzählten sie, sie würden das für uns tun. Seid ruhig, verhaltet euch unauffällig, und ihr werdet dafür belohnt. Leistet Widerstand, und die Syndiks werden auf euch einprügeln.«
Desjani machte ein Gesicht, als wollte sie angewidert ausspucken. »Die drei haben sich nur auf einen Aspekt ihrer Mission konzentriert, auf das Wohlergehen ihrer Mitgefangenen. Aber alle übrige Verantwortung haben sie einfach vergessen.«
Fensin nickte bestätigend. »Das ist richtig, Captain. Manchmal konnte ich es sogar fast nachvollziehen. Immerhin waren die drei zusammengerechnet schon mehr als ein Jahrhundert Kriegsgefangene.«
»Ein Jahrhundert ist nicht lange genug, um die wirklich wichtigen Dinge zu vergessen«, konterte Desjani und sah zu Geary.
Der schlug mit der Faust auf den Tisch, um Fensins Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ihm behagte nicht, was Desjani gesagt hatte, obwohl – oder gerade weil? – es der Wahrheit entsprach. »Was ist das Ziel dieser Verschwörung des Schweigens? Warum hat uns niemand sofort gesagt, was diese drei verbrochen haben?«
»Wir wollten sie selbst umbringen«, antwortete Fensin ganz selbstverständlich. »Wir beriefen heimlich ein Kriegsgericht ein und kamen in allen drei Fällen zu dem Urteil, dass sie Verrat begangen hatten. Die Strafe für Verrat in Kriegszeiten ist der Tod. Wir wollten sicherstellen, dass diese Urteile vollstreckt werden, bevor es den dreien gelingen konnte, sich einen Anwalt zu nehmen, um eine formelle Anklage zu erreichen und dabei auf geringfügigere Vergehen zu plädieren. Und ehrlich gesagt wollten wir auch diejenigen rächen, die ihretwegen gestorben waren.« Er sah sich im Konferenzraum um. »Sie können sich nicht vorstellen, was für ein Gefühl das ist. Ich … Haben wir hier Zugriff auf Bilder des Lagers? Bevor Sie uns rausgeholt haben?«
»Ja, natürlich.« Desjani tippte ein paar Befehle ein. Über dem Tisch tauchte eine Draufsicht des Arbeitslagers auf dem dritten Planeten auf, wie es ausgesehen hatte, bevor es beim Kampf um die Befreiung der Gefangenen in einen Trümmerhaufen verwandelt worden war. Als das Bild vergrößert wurde, fiel Geary ein weitläufiges freies Feld auf, auf dem teilweise Steinblöcke in langen Reihen angeordnet waren. »Ein Friedhof.«
»Ja«, bestätigte Fensin. »Dieses Arbeitslager existierte rund achtzig Jahre lang. Eine ganze Generation Gefangener ist dort alt geworden und gestorben. Allzu viele ältere Insassen gab es nicht, dafür waren die Bedingungen zu rau und die medizinische Versorgung zu schlecht.« Sein Blick ruhte auf den Grabsteinen. »Wir alle waren davon überzeugt, dass jeder von uns früher oder später dort enden würde. Es fand nie ein Gefangenenaustausch statt, warum sollten wir also damit rechnen, der Krieg könnte jemals ein Ende nehmen? Nach fünf, zehn oder zwanzig Jahren bleibt selbst von der festesten Überzeugung nichts anderes übrig als Resignation. Wir würden niemals unsere Familien wiedersehen, wir würden niemals heimkehren. Wir hatten nur noch einander – und das, was wir als Mitglieder des Allianz-Militärs noch an Würde vorweisen konnten.«
Er schaute Rione eindringlich an, als sei sie diejenige, die er vor allem überzeugen wollte. »Und das haben sie verraten. Uns haben sie verraten. Es war alles, was wir noch hatten, und sie nahmen es uns. Da ist es doch klar, dass wir sie umbringen wollten.«
Eine Weile saßen sie alle schweigend da, schließlich deutete Desjani auf das Bild, das immer noch über dem Tisch schwebte. »Haben die Marines Aufzeichnungen über diese Gräber bekommen, als sie unten waren? Die Namen derjenigen, die dort beerdigt wurden?«
»Das bezweifle ich.« Fensin tippte mit einem Finger an seine Stirn. »Das war auch nicht nötig. Jeder von uns musste sich einen Teil der Namen merken. Meine Aufgabe war es, alle Namen auswendig zu lernen, die mit F anfangen. Die Liste der Toten steckt in unseren Köpfen. Wir konnten sie nicht mit nach Hause nehmen, weil sie sich bereits den Vorfahren angeschlossen hatten. Aber wir werden ihre Namen zu ihren Familien mitnehmen.«
Einen Moment lang stellte sich Geary lebhaft vor, wie diese Gefangenen penibel die Namen derer durcharbeiteten, die gestorben waren, wie sie die Listen untereinander abglichen, wie sie sich die Namen auf die einzige Weise einprägten, die ihnen zur Verfügung stand. Jahr um Jahr wurden die Listen länger und länger, und keiner wusste, ob jemals irgendjemand in der Allianz all diese Namen zu hören bekommen würde. Und dennoch lernten sie sie weiter auswendig. Geary konnte sich nur zu gut vorstellen, wie die Gefangenen sich in diesem Lager gefühlt haben mussten. Sie hatten allen Grund, davon auszugehen, dass dieses Lager ihr Grab werden würde. Und genauso verstand er ihr Bedürfnis nach Ritualen und ihr Gefühl, verraten worden zu sein. »Also gut.« Geary sah Rione fragend an.
Sie senkte den Blick und nickte schließlich. »Ich glaube ihm.«
»Ich auch«, fügte Desjani prompt hinzu.
Geary berührte die Komm-Kontrolle. »Captain Tulev, setzen Sie die drei Senioroffiziere in ein Shuttle mit Marines als Bewacher. Bringen Sie sie zur …« Er zögerte, da er ein Schiff benötigte, auf dem sich keine ehemaligen Kriegsgefangenen von Heradao befanden, doch die waren auf alle Kriegsschiffe verteilt worden.
Genau. Alle Kriegsschiffe.
»Zur Titan. Bringen Sie sie zur Titan mit dem Befehl, dass sie bis auf Weiteres in ihrem Quartier bleiben und bewacht werden müssen. Alle drei stehen unter Arrest.«
Tulev nickte, da ihn diese Mitteilung nicht zu überraschen schien. »Wie lautet die Anklage? Wir sind verpflichtet, ihnen den Grund zu nennen, wenn wir sie unter Arrest stellen.«
»Verrat und Pflichtversäumnis im Angesicht des Feindes. Die drei hatten mir angekündigt, dass sie einen Bericht zusammenstellen wollten. Sorgen Sie dafür, dass ihnen die Mittel zur Verfügung stehen, um diesen Bericht verfassen zu können. Ich will ihn lesen.« Das stimmte allerdings nicht so ganz, denn wenn Commander Fensin die Wahrheit gesagt hatte, dann wollte er eigentlich nicht lesen, wie diese Offiziere ihr Verhalten rechtfertigten. Andererseits war es seine Pflicht, sich mit dem auseinanderzusetzen, was sie zu ihrer Verteidigung vorbrachten.
Nachdem Tulev die Verbindung beendet hatte, wandte sich Geary wieder an Fensin. »Vielen Dank, Commander Fensin. Ich glaube, wenn Ihre Schilderung von Ihren ehemaligen Mitgefangenen bestätigt wird, dann kann ich wohl versprechen, dass ein Kriegsgericht der Allianz zum gleichen Urteil kommen wird.«
»Müssen wir so lange warten?«, fragte Fensin mit erschreckender Gelassenheit. »Sie könnten doch ihre Erschießung sofort anordnen.«
»So verfahre ich nicht, Commander. Wenn Ihre Aussagen zutreffen, dann werden die drei sich mit ihrem eigenen Bericht keinen Gefallen tun, weil dann niemand die Notwendigkeit anzweifeln wird, dass das Urteil nur so und nicht anders lauten kann.«
»Aber Captain Gazin ist schon so alt«, wandte Fensin ein. »Möglicherweise überlebt sie die Rückkehr ins Allianz-Gebiet nicht, und dann entgeht sie ihrem verdienten Schicksal.«
Desjani antwortete darauf in ihrem energischen Befehlston: »Wenn sie stirbt, dann werden die lebenden Sterne über sie urteilen, Commander. Diesem Urteil kann sich niemand entziehen. Sie sind Offizier der Allianz-Flotte, Commander Fensin. Daran haben Sie während Ihrer Gefangenschaft festgehalten, und jetzt, da Sie zurück in der Flotte sind, sollten Sie es nicht vergessen.«
Riones Miene war wie versteinert, aber Fensin sah Desjani nur sekundenlang an, dann nickte er. »Ja, Captain. Verzeihen Sie mir.«
»Es gibt nichts, was Ihnen verziehen werden müsste«, versicherte sie ihm. »Sie sind durch die Hölle gegangen, und Sie haben Ihre Pflicht erfüllt, indem Sie uns die Wahrheit gesagt haben. Tun Sie weiter Ihre Pflicht, Commander. Sie waren immer ein Teil der Flotte, aber jetzt sind Sie tatsächlich wieder bei ihr.«
»Ja, Captain«, wiederholte er und setzte sich etwas gerader hin.
Rione hob den Kopf und blickte Geary an. »Wenn sonst nichts mehr ist, würde ich gern etwas Zeit mit Commander Fensin verbringen und mich dann darum kümmern, dass seine medizinische Untersuchung abgeschlossen wird.«
»Ja, natürlich.« Geary und Desjani standen gleichzeitig auf und verließen den Konferenzraum. Als sich die Luke hinter ihnen schloss, drehte sich Geary um und sah noch, dass Rione nach wie vor Fensins Hand hielt. »Verdammt«, murmelte er.
»Verdammt«, wiederholte Desjani bestätigend. »Und wir sollen sie wirklich nicht jetzt schon erschießen? Ganz sicher?«
Also hatte sie sich auch versucht gefühlt, aber vor den anderen nichts gesagt, damit nicht der Eindruck entstand, sie könnte seine Position untergraben. »Ganz sicher? Nein, das nicht. Aber es muss ordentlich verhandelt werden. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass ein Lynchmob seinen Willen durchgesetzt hat. Das haben Sie übrigens gut gemacht, wie Sie Fensin zum Reden gebracht haben. Woher wussten Sie, dass Sie Verrat ins Spiel bringen mussten?«
Sie verzog den Mund. »Aus einigen Unterhaltungen mit Lieutenant Riva. Er sprach ein paar Mal von solchen Dingen, aber da verstand ich eigentlich nicht so richtig, um was es ging. Allerdings konnte ich mich daran erinnern, wie wütend er wurde, wenn die Rede auf jemanden kam, der seiner Meinung nach zu sehr auf die Syndiks hörte. Das war mir im Gedächtnis geblieben.« Sie schaute den Korridor entlang und fügte ein wenig tonlos hinzu: »Es ist nicht so, als würde ich an Riva denken. Für gewöhnlich überhaupt nicht.«
»Verstehe.« Zu seinem Erstaunen verspürte Geary einen Anflug von Eifersucht. Er musste das Thema wechseln. »Ich frage mich, ob ich nicht vielleicht auf diesen Irrweg geraten wäre, hätten die Syndiks mich gefangengenommen.«
Desjani warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Nein, das wären Sie nicht. Ihnen sind die Leute wichtig, die Ihnen unterstellt sind, aber Sie kennen auch die Risiken, die sie einzugehen haben. Sie waren bislang immer in der Lage, diese beiden Dinge im Gleichgewicht zu halten.«
»Die Leute sind mir so wichtig, dass ich sie in den Tod schicke«, gab er zurück und bemerkte, welch verbitterter Tonfall sich dabei eingeschlichen hatte.
»Das ist richtig. Bei zu viel Kaltblütigkeit werden ihre Leben vergeudet, aber bei zu viel Vorsicht sterben sie auch, und zwar ohne dass sie etwas erreicht haben. Ich will gar nicht erst so tun, als könnte ich verstehen, warum die Dinge so sind, aber Sie wissen das.«
»Ja.« Er spürte, dass seine momentane schlechte Laune sich prompt besserte, und lächelte sie an. »Danke, dass Sie hier sind, Tanya.«
»Es ist nicht so, als könnte ich irgendwo anders sein als hier.« Sie erwiderte sein Lächeln, dann aber wurde sie ernst und salutierte. »Ich muss mich um mein Schiff kümmern, Sir.«
»Dann will ich Sie davon nicht abhalten.« Er salutierte ebenfalls und sah ihr nach, wie sie wegging.
Sie musste sich um ihr Schiff kümmern und er musste die Titan rufen, um Commander Lommand wissen zu lassen, welch unerfreuliche Fracht zu ihm unterwegs war. Die Last des Kommandos wog mal schwerer und mal nicht so schwer, aber sie war immer da.
Am nächsten Morgen fühlte er sich besser. Der dritte Planet von Heradao war angenehm weit entfernt, die Flotte war wieder mit den zurückgelassenen Einheiten vereint, und inzwischen war der gesamte Tross auf dem Weg zum Sprungpunkt nach Padronis. Sogar der alte Syndik-Verpflegungsriegel, den er zum Frühstück ausgewählt hatte, schien gar nicht so schrecklich zu schmecken wie sonst üblich.
Auf einmal summte die Komm-Einheit in seinem Quartier. »Sir, wir haben hier eine dringende Bitte um ein Gespräch mit Ihnen. Sie kommt von Commander Vigory.«
»Commander Vigory?« Vergeblich versuchte er, den Namen einem Gesicht oder einem Schiff zuzuordnen, also schlug er in der Datenbank nach. Ein weiterer ehemaliger Kriegsgefangener von Heradao. Kein Wunder, dass er mit dem Namen nichts anfangen konnte. Er war auf die Spartan gebracht worden, und nach der Zusammenfassung in der Datenbank hatte er eine ziemlich routinemäßige Karriere hinter sich gebracht, als er in Syndik-Gefangenschaft geraten war. »Na gut, dann stellen Sie ihn durch.«
Der schmale, hagere Commander Vigory sah aus wie viele andere Gefangene auch, die sie aus dem Arbeitslager befreit hatten. »Captain Geary«, begann er in förmlichem Tonfall. »Ich möchte mich bei Ihnen melden, um dem Befehlshaber der Flotte den gebührenden Respekt zu erweisen.«
»Vielen Dank, Commander.«
»Und ich möchte Sie davon in Kenntnis setzen, dass ich immer noch auf ein neues Kommando warte.«
Immer noch? Geary sah auf die Uhr. Nicht mal ein Tag war vergangen, seit die Flotte den Orbit um den dritten Planeten verlassen hatte. Erst dann wurde ihm bewusst, was Vigory noch gesagt hatte. »Ein neues Kommando?«
»Jawohl, Sir.« Vigory schaute ihn mit einem fordernden Ausdruck in den Augen an. »Eine Durchsicht der Flottenaufzeichnungen hat ergeben, dass zahlreiche Schiffe dieser Flotte für einen Offizier von meinem Dienstgrad geeignet sind, aber derzeit von Offizieren befehligt werden, die jünger sind als ich.«
»Sie erwarten von mir, dass ich irgendeinem meiner Offiziere das Kommando entziehe, damit Sie sein Schiff bekommen können?«
Diese Frage schien für Vigory völlig überraschend zu kommen. »Ja, natürlich, Sir.«
Geary kämpfte gegen den Wunsch an, diesen Mann so zusammenzustauchen, dass ihm Hören und Sehen verging. Er versuchte, so ruhig wie möglich zu klingen. »Wie würden Sie sich fühlen, wenn man Ihnen unter solchen Umständen Ihr Schiff wegnehmen würde, Commander?«
»Das ist ohne Bedeutung, Sir. Das hier ist eine Frage der Ehre und der angemessenen Würdigung meines Dienstgrads und meiner Position. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass jedes Schiff in der Flotte von meinen Erfahrungen und meinen Kommandofähigkeiten profitieren würde.«
O ja, Vigory hatte wahrscheinlich in seinem ganzen Leben noch nie an etwas gezweifelt, was seine Person anging, überlegte Geary, während er das Gesicht des Mannes betrachtete. Laut Datenbank war Vigory vor fünf Jahren in Gefangenschaft geraten. Er war das Produkt einer Flotte, in der die individuelle Ehre Vorrang vor allem anderen hatte und in der Schiffe ins Gefecht zogen, ohne einer halbwegs brauchbaren Taktik zu folgen. Vielleicht war dieser Mann trotzdem ein ganz brauchbarer Offizier, aber Geary konnte sich nicht die Zeit nehmen, in dieser Phase des Rückflugs den Befehlshaber eines seiner Schiffe erst noch umzuerziehen – ganz zu schweigen davon, dass das gegenüber jedem befehlshabenden Offizier in dieser Flotte äußert unfair gewesen wäre.
»Commander, ich werde Ihnen das jetzt so erklären, wie ich kann. Jeder Befehlshaber in dieser Flotte begleitet mich seit dem Heimatsystem der Syndiks, jeder von ihnen hat sich in zahlreichen Gefechten mit dem Feind bewährt und seinen Mut und seine Ehre unter Beweis gestellt.« Das war zwar in einigen Fällen völlig übertrieben, aber auf solche Feinheiten schien Vigory ohnehin nicht zu achten. »Ich werde keinem meiner momentanen Befehlshaber das Kommando entziehen, solange er kein grobes Fehlverhalten an den Tag legt. Diese Flotte ist auf dem Weg ins Allianz-Gebiet. Wenn wir dort angekommen sind, können Sie darum bitten, das Kommando über ein neugebautes Kriegsschiff zu erhalten oder ein vorhandenes Schiff zu übernehmen, dessen Befehlshaber auf einen anderen Posten versetzt wird.«
Vigory schien nicht zu begreifen, was Geary gesagt hatte. »Sir, ich erwarte, dass ich in allernächster Zeit ein Kommando in dieser Flotte zugeteilt bekomme, das meinem Dienstgrad und meinen Fähigkeiten angemessen ist.«
»Dann muss ich Ihnen leider mitteilen, dass sich Ihre Erwartungen nicht erfüllen werden.« Geary versuchte, nicht wütend zu werden, doch er merkte, dass sein Tonfall energischer wurde. »Sie werden den Dienst verrichten, den die Allianz von Ihnen einfordert, so wie jeder Offizier in dieser Flotte.«
»Aber … ich …«
»Vielen Dank, Commander Vigory. Ich weiß Ihre Bereitschaft zu schätzen, den Dienst zu verrichten, den die Allianz benötigt.«
Nachdem das Gespräch beendet war, lehnte sich Geary zurück und legte eine Hand über seine Augen. Im nächsten Moment wurde die Türglocke zu seinem Quartier betätigt. Na, wunderbar. Kann dieser Morgen noch schlimmer werden? Er ließ die Luke öffnen und setzte sich etwas gerader hin, als Victoria Rione eintrat. »Captain Geary.«
»Madam Co-Präsidentin.« Sie waren in genau diesem Raum viele Male körperlich intim gewesen, doch diese Zeit lag hinter ihnen. Sie würden beide nicht versuchen, aus dieser früheren Beziehung noch irgendeinen persönlichen Nutzen zu ziehen.
»Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte sie.
»Nein, überhaupt nicht. Ich habe nur gerade überlegt, weshalb ich eigentlich diese Kriegsgefangenen retten wollte«, gestand er ihr.
Rione lächelte flüchtig. »Weil Sie die lästige Angewohnheit haben, unbedingt das Richtige tun zu wollen, auch wenn der gesunde Menschenverstand etwas ganz anderes sagt.«
»Besten Dank. Was führt Sie zu mir?«
»Die befreiten Kriegsgefangenen von Heradao.«
Es gelang ihm nicht, ein Aufstöhnen zu unterdrücken. »Was ist denn jetzt schon wieder?«
»Das könnten gute Neuigkeiten sein, oder zumindest nützliche.« Rione deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung des Konferenzraums. »Nachdem Sie gestern gegangen waren, gestand mir Commander Fensin, das Beste, was man ihm hatte sagen können, sei das gewesen, was Ihr Captain ihm an den Kopf geworfen hat. Sie wissen schon, dass sie ihn an seine Verantwortung als Allianz-Offizier erinnert und ihn aufgefordert hat, dieser Verantwortung gerecht zu werden.« Einen Moment lang hielt sie inne. »Nach allem, was Kai Fensin gesagt hat, sieht es so aus, dass ihm und den anderen Gefangenen eine feste Hand gefehlt hat, jemand, den sie respektieren konnten und der ihnen sagte, was zu tun war. Er ist der Ansicht, dass sie alle von einem Verhalten profitieren würden, wie Ihr Captain es ihm zuteil werden ließ.«
Geary widerstand der Versuchung zu betonen, dass sein »Captain« einen Namen hatte und dass Desjani ohnehin nicht »sein« Captain war. »Das klingt logisch. Sie sind es nicht gewöhnt, ihre vorgesetzten Offiziere zu respektieren oder sich um deren Befehle zu kümmern.«
»Kai schlug vor, dass Sie andere in der Flotte davon in Kenntnis setzen, damit alle wissen, wie sie mit den Gefangenen umgehen sollten. In dieser Hinsicht sind diese Leute nicht so wie die, die wir bei Sutrah befreit haben.«
»Danke«, sagte er. »Ich glaube, er hat damit recht.«
»Ja, und Ihr Captain hatte ebenfalls recht. Mein Instinkt, Commander Fensin zu beschützen, war ein Irrtum.«
»Machen Sie sich deshalb keine Vorwürfe. Desjani und Fensin gehören beide zur Flotte.« Rione nickte nur stumm. »Wie geht es Ihnen?«
Sie sah ihn forschend an. »Warum fragen Sie?«
»Sie scheinen sehr glücklich darüber zu sein, dass Sie Commander Fensin gefunden haben.«
Riones Augen blitzten auf. »Wenn Sie damit andeuten wollen …«
»Nein, nein!« Geary hob entschuldigend die Hände hoch. »Das habe ich damit nicht gemeint. Ich habe nur das Gefühl, dass das Wiedersehen mit ihm Ihnen gut getan hat.«
Ihr Ärger verschwand so rasch wieder, wie er hochgekocht war. »Ja. Er erinnert mich an viele Dinge. An das Leben, das ich einmal hatte.«
»Das habe ich gemerkt.« Er hielt es für das Beste, wenn er nicht erwähnte, dass Desjani es ebenfalls bemerkt hatte.
»Tatsächlich?« Sie ließ den Kopf ein wenig sinken. »Manchmal frage ich mich, was geschehen wird, falls mein Mann noch lebt und wir beide wieder vereint werden. In all den Jahren, seit er weg ist, habe ich mich in vieler Hinsicht verändert. Ich … ich bin nicht mehr die Frau, die er gekannt hat.«
»Ich habe diese Frau gesehen, als Sie mit Kai Fensin auf dem Hangardeck redeten.«
»Wirklich?« Rione seufzte. »Dann gibt es ja doch noch Hoffnung für mich. Vielleicht ist sie ja gar nicht tot.«
»Das ist sie nicht, Victoria.«
Sie sah ihn an und setzte ein schiefes Lächeln auf. »Das ist eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen Sie mich noch immer so anreden dürfen, John Geary. Ich danke Ihnen. Ich musste das hören, was Sie mir zu sagen hatten.« Sie ging zur Luke, blieb aber noch einmal stehen und fügte an, während sie ihm den Rücken zuwandte: »Danken Sie bitte auch Ihrem Captain in meinem Namen für das, was sie zu Commander Fensin gesagt hat. Ich bin ihr dafür wirklich dankbar.« Dann verließ sie sein Quartier, und die Luke schloss sich hinter ihr.
Er schrieb eine Nachricht an die Captains seiner Flotte, die ehemaligen Kriegsgefangenen von Heradao nicht mit Samthandschuhen anzufassen und ihnen schnellstmöglich irgendwelche Aufgaben zuzuweisen, damit sie sich sinnvoll betätigen konnten. Nachdem er die Nachricht abgeschickt hatte, lehnte sich Geary zurück und betrachtete wieder das Sternendisplay.
Nur noch etwas mehr als zwei Tage, dann erreichte die Flotte den Sprungpunkt nach Padronis. In dem System sollten keine Überraschungen auf sie lauern, war doch nichts über eine Präsenz der Syndiks bekannt. Das Gleiche sollte auch für Atalia gelten, das letzte Syndik-System, das sie durchqueren mussten, auch wenn sich dort Menschen angesiedelt hatten. Wenn die Geheimdienstinformationen der Allianz annähernd zutrafen, dann hatten die Syndiks so gut wie alles gegen die Allianz-Flotte aufgeboten und verloren. Demnach konnten sie über keine ausreichend große Zahl an Kriegsschiffen mehr verfügen, um sie seiner Flotte in den Weg zu stellen.
Sollte er sich tatsächlich endlich entspannen können?
Fünf Minuten später meldete sich Lieutenant Iger vom Geheimdienst mit einer sehr dringenden Mitteilung.