DER ZAUBERBANN WEICHT

Nun zurück zu Herrn und Frau Biber und den drei Kindern. Sowie der Biber sagte: »Es ist höchste Zeit«, schlüpften alle in ihre Mäntel, nur die Frau Biberin nicht. Sie holte Rucksäcke, legte sie auf den Tisch und bat: »Lieber Mann, reich mir jetzt den Schinken herunter, und dort ist ein Päckchen Tee, da Zucker, hier Zündhölzer, und einer soll mir aus dem irdenen Topf in der Ecke zwei oder drei Brote langen.«

»Was tun Sie da, Frau Biberin?« erkundigte sich Suse.

»Ich packe uns allen etwas zum Essen ein, mein Kind«, meinte die Biberin sehr gelassen. »Oder glaubst du vielleicht, wir machten uns ohne Essen auf den Weg?«

»Aber wir haben doch keine Zeit«, klagte Suse und knöpfte ihren Mantelkragen zu. »Sie kann ja jede Minute hier sein.«

»Das sage ich auch«, stimmte ihr der Biber zu.

»Nun regt euch nur nicht auf«, sagte seine Frau.

»Überleg dir doch, lieber Mann, sie kann frühestens in einer Viertelstunde hier sein.«

»Aber sollten wir nicht schon einen möglichst weiten Vorsprung haben?« meinte Peter, »damit wir vor ihr am Steintisch sind?«

»Ja das sollten Sie sich überlegen, Frau Biberin«, sagte Suse. »Wenn die Hexe hereinschaut und merkt, wir sind gerade erst fort, wird sie uns mit Windeseile nachjagen.«

»Das wird sie wohl«, antwortete die Biberin. »Aber was wir auch tun, wir können keinesfalls vor ihr dort sein, denn sie fährt im Schlitten, und wir gehn zu Fuß.«

»Dann haben wir ja gar keine Hoffnung!« rief Suse.

»Mach nur jetzt keinen Kuddelmuddel, mein Kind, sondern nimm lieber ein halbes Dutzend saubere Taschentücher aus der Schublade. Natürlich haben wir genug Hoffnung. Wir können nicht vor ihr dort sein, aber wir können uns im Dickicht verbergen und Pfade wählen, die sie nicht kennt. Vielleicht kommen wir so durch.«

»Das ist schon richtig, liebe Frau«, sagte ihr Mann, »aber es ist trotzdem höchste Zeit, hier rauszu­kommen.«

»Jetzt verliere nicht auch du noch den Kopf, lieber Mann«, beruhigte ihn seine Frau. »Da, das ist besser. Hier sind vier Rucksäcke, der kleinste ist für die Kleinste von uns. Das bist du, mein Kind«, setzte sie hinzu und schaute auf Lucy.

»Ach bitte, bitte, kommt«, bettelte Lucy.

»Schon gut, ich bin fast fertig«, antwortete die Biberin und ließ sich von ihrem Mann in die Schneestiefel helfen.

»Die Nähmaschine wird wohl zu schwer sein zum Mitnehmen?« ,Ja, die ist viel zu schwer«, sagte der Biber. »Und du glaubst doch selbst nicht, daß du sie unterwegs brauchen kannst.«

»Nein, aber ich krieg' den Gedanken nicht los, daß die Hexe daran herumpfuscht, sie ruiniert oder stiehlt, das wäre nämlich gut möglich.«

»Oh, bitte, bitte, bitte, beeilt euch«, drängten die drei Kinder.

Schließlich waren sie glücklich draußen, und der Biber versperrte die Tür.

»So, das wird sie ein bißchen aufhalten«, brummelte er.

Sie hängten sich die Rucksäcke über die Schultern und marschierten ab. Es hatte aufgehört zu schneien, und der Mond ließ sich wieder einmal sehn, als sie ihren Weg antraten. Sie gingen im Gänsemarsch, zuerst der Biber, dann Lucy, dann Peter, dann Suse, und zum Schluß kam die Biberin. Der Biber führte sie über den Damm ans rechte Flußufer und dann zwischen den Bäumen die Uferböschung hinab. Die Talseiten waren vom Mond beschienen, sie türmten sich zu beiden Seiten hoch auf.

»Halten wir uns soweit wie möglich hier unten«, bat der Biber. »Sie muß mit ihrem Schlitten oben auf der Höhe bleiben. Sie kann ja nicht herunterschlittern.«

Was für ein schönes Bild wäre es gewesen, hätte man es durch ein Fenster vom bequemen Stuhl aus betrachtet.

Und selbst so hatte Lucy zunächst ihre Freude daran, doch als sie weiter und immer weiter gingen und gingen, wurde der Rucksack schwer und schwerer, und sie fragte sich, wie das alles wohl enden solle. Sie blieb stehn und sah sich die flimmernde Helle des gefrorenen Flusses mit seinen erstarrten Wasserfällen, die weißen Schneelasten der Baumwipfel, den großen klaren Mond und die unzähligen Sterne an. Sie beobachtete Herrn Bibers kurze Beinchen, die vor ihr, pitsch – patsch – pitsch – patsch, durch den Schnee watschelten, als würden sie niemals stillestehn. Dann versteckte sich der Mond wieder, und es fing von neuem an zu schneien. Lucy war so müde, daß sie fast im Laufen eingeschlafen wäre, da bemerkte sie plötzlich: Der Biber wandte sich vom Ufer ab nach rechts, führte sie steil aufwärts in dichtes Strauchwerk, und hast du nicht gesehn, verschwand er in einem kleinen Loch das fast unsichtbar war unter dem Gebüsch, und erst wenn man ganz nahe stand, entdeckte man es. Bevor sich Lucy überhaupt klar wurde, was geschah, sah sie nur noch seinen kurzen breiten Schwanz herausragen.

Sofort bückte sie sich und krabbelte ihm nach. Dann hörte sie Stoßen und Strampeln und Scharren hinter sich und in wenigen Minuten waren alle fünf drinnen.

»Wo um alles in der Welt sind wir?« fragte Peter.

Seine Stimme klang müde und blaß. (Ich hoffe, ihr versteht, was ich mit einer Stimme, die blaß klingt, sagen will?)

»Das ist ein alter Biberschlupfwinkel für gefährliche Zeiten, ein großes Geheimnis. Wir haben nicht viel Platz, aber wir brauchen ein paar Stunden Schlaf«, erklärte der Biber.

»Hättest du beim Abmarsch nicht so gedrängelt, dann hätte ich einige Kissen mitgenommen«, klagte die Biberin.

Die Höhle war nicht halb so hübsch wie die von Herrn Tumnus, stellte Lucy fest. Es war ein sandiges, aber immerhin trockenes Erdloch. Es war sehr eng, und nachdem alle sich niedergelegt hatten, bildeten sie nur ein einziges Pelz- und Kleiderbündel, aber dadurch wärm­ten sie einander, und nach dem langen Marsch fehlte nicht viel, so wäre es geradezu heimelig gewesen.

Der Boden der Höhle hätte allerdings ein wenig weicher sein können. Nun reichte die Frau Biberin im Dunkeln eine kleine Flasche herum, und jeder nahm einen Schluck. Der Trank brannte in der Kehle. Jeder mußte husten und ein bißchen krächzen, aber als sie ihn unten hatten, wurde ihnen wundervoll warm, sie streckten sich aus und schliefen ein.

Lucy dünkte es nur eine Minute, obgleich Stunden und Stunden vergangen waren. Als sie wieder erwachte, fröstelte sie ein wenig, fühlte sich ganz steif und hätte schrecklich gern ein heißes Bad gehabt. Die langen Haare eines Biberbartes kitzelten ihre Wange. Sie sah das Tageslicht vor dem Höhleneingang, und gleich darauf war sie wie alle die andern auch – völlig munter. Sie saßen plötzlich alle mucksmäuschenstill, sperrten Mund und Augen auf und lauschten einem Geräusch, an das sie die ganze Zeit über gedacht hatten, das sie auf ihrer nächtlichen Wanderung mehr­mals zu hören geglaubt: »Kling, klang kling, klang« ertönte es.

Der Biber hatte es kaum gehört, da fuhr er wie ein Blitz aus der Höhle. Wahrscheinlich denkt ihr genau wie Lucy im ersten Augenblick: Wie dumm, so was zu tun.

Aber handelte er denn nicht vernünftig? Er wußte, daß er im Schutz der Büsche höher hinaufklettern konnte, ohne gesehn zu werden. Er wollte unbedingt wissen, welchen Weg der Hexenschlitten nehmen würde. Die andern in der Höhle warteten voll Spannung. Sie warteten beinahe fünf Minuten. Was sie dann hörten, erschreckte sie gar sehr. Sie vernahmen Stimmen! O weh, o weh, dachte Lucy. Man hat ihn gesehn. Sie hat ihn gefangen. Wie groß war aber ihre Überraschung, als der Biber sie gleich darauf hinausrief.

»Alles in Ordnung«, schrie er, »kommt nur heraus, liebe Frau, Söhne und Töchter Adams! Alles in Ordnung! Es ist nicht dieselbige.« (Das war natürlich keine gute Umgangssprache, aber so reden die Biber, wenn sie aufgeregt sind, wenigstens in Narnia. In unse­rer Welt sprechen sie ja gewöhnlich überhaupt nicht.) Die Biberin und die Kinder buddelten sich aus der Höhle heraus und blinzelten, über und über mit Sand und Erde bedeckt, in das Tageslicht. Sie sahen ganz zerdrückt, ungebürstet, ungekämmt und verschlafen aus.

»Kommt her, kommt alle her!« Der Biber tanzte geradezu vor Vergnügen. »Das ist ein schwerer Schlag für die Hexe. Ihre Macht scheint bereits gebrochen.«

»Was meint Ihr denn, Herr Biber?« keuchte Peter, während sie alle zusammen den Abhang hinauf­kletterten.

»Erzählte ich euch nicht«, antwortete der Biber, »daß sie immerzu Winter macht und wir niemals Weihnachten haben? Erzählte ich euch das nicht? Kommt her und seht!«

Als sie alle auf der Anhöhe waren, sahen sie es: Da stand ein Schlitten und Rentiere mit Glocken am Zaumzeug. Aber sie waren viel größer als die Rentiere der Zauberin. Sie waren nicht weiß, sie waren braun. Und im Schlitten saß einer, den jeder auf den ersten Blick erkennt: ein riesenhafter Mann in leuchtendrotem Rock (rot leuchtend wie Ebereschen) mit einer Pelzmütze, ein großer weißer Bart fiel wie ein Wasserfall über seine Brust. Selbst wenn man Leute wie ihn nur in Narnia mit Augen schauen kann, so kennt man doch genug Bilder von ihm und hat auch in unserer Welt auf dieser Seite der Wandschranktür von ihm gehört. Aber in Narnia ist es ganz anders. In unserer Welt zeigen viele Bilder ihn nur lustig und drollig. Aber jetzt, wo die Kinder ihn wirklich vor sich sahen, stand er so hoheitsvoll, zugleich so freudestrahlend, so lebenswirklich vor ihnen, aber auch sehr feierlich.

»Endlich kann ich kommen«, sagte er. »Sie hat mich lange Zeit ferngehalten, aber nun bin ich wieder da, Aslan ist unterwegs, und der Hexe Macht vergeht.«

Lucy fühlte einen Schauer von Glück, wie ein Mensch ihn nur in ganz feierlich stillen Stunden erlebt.

»Und da«, sagte der Weihnachtsmann, »sind eure Geschenke. Hier ist eine neue und bessere Nähmaschine für Euch, liebe Biberin. Ich bringe sie im Vorbeifahren in Euer Haus.«

»Entschuldigen Sie, Herr Weihnachtsmann«, die Biberin machte einen Knicks, »das Haus ist verschlossen.«

»Schlösser und Riegel hindern mich nicht«, antwortete der Weihnachtsmann. »Und Ihr, lieber Biber, werdet einen fertig gebauten Damm vorfinden, alle Löcher verstopft und ein neues Schleusengitter davor.«

Der Biber war entzückt. Er riß vor Freude sein Maul so weit auf, daß er kein Wort herausbringen konnte.

»Du, Peter, Adamssohn«, setzte der Weihnachts­mann fort.

»Hier bin ich, Herr Weihnachtsmann«, meldete sich Peter.

»Da sind deine Geschenke, Werkzeuge, keine Spiel­sachen, denn die Zeit, sie zu benutzen, ist vielleicht nahe. Bewahre sie gut.« Mit diesen Worten übergab er Peter ein Schwert und einen Schild. Der Schild leuchtete wie Silber.

Auf dem Wappen glänzte ein aufrechtstehender roter Leu.

Der Schwertgriff war von Gold. Schwertgurt und Scheide und alles, was dazu gehörte, wogen genau so viel, daß Peter sie gut tragen und handhaben konnte. Er blieb still und stumm und war feierlich bewegt, als er dies Geschenk entgegennahm, denn er fühlte, daß es ganz besondere Gaben waren.

»Suse, Evastochter«, sagte der Weihnachtsmann. »Dies ist für dich.«

Er gab ihr einen Bogen, einen Köcher mit Pfeilen und ein kleines Elfenbeinhorn. »Den Bogen darfst du nur in höchster Not benutzen, denn du sollst nicht in Schlachten kämpfen. Er verfehlt selten sein Ziel. Und wenn du das Horn an deine Lippen setzt und hineinbläst, wird dir Hilfe zuteil werden, wo immer du auch bist.«

Zuletzt sprach er: »Lucy, Evastochter«, und sie trat vor.

Ihr gab er ein Fläschchen. Es sah wie Glas aus, aber später hieß es, es sei ein Diamant gewesen. Er reichte ihr außerdem einen kleinen Dolch. »In dieser Flasche ist Lebenswasser, es kommt aus der Feuerblume, die in den Sonnengebirgen wächst. Wirst du oder einer deiner Freunde verwundet, so werden euch wenige Tropfen sofort heilen. Der Dolch soll dich in äußerster Not verteidigen. Auch du sollst am Kampf nicht teilneh­men.«

»Warum nicht, Herr Weihnachtsmann?« fragte Lucy.

»Ich glaube, ich weiß es genau, ich könnte tapfer sein.«

»Darum geht es nicht, aber Schlachten, wo Frauen mitkämpfen, sind die häßlichsten. Und nun gebe ich euch das, was ihr gerade nötig habt.«

Er holte – ich vermute, aus dem großen Sack auf seinem Rücken, aber niemand sah recht, wie es geschah – ein großes Tablett mit Tassen und Unter­tassen, einer Schale Würfelzucker, einem Krüglein Rahm und einer großen Kanne mit siedendheißem Tee. Dann rief er: »Fröhliche Weihnachten! Lang lebe der wahre König!« und knallte in der Ferne mit der Peitsche, ehe sie noch erfaßten, daß er entschwunden war. Peter hatte schon sein Schwert aus der Scheide gezogen und schwang es vor dem Biber, da sagte die Biberin: »Aber, aber, steht da nicht schwatzend herum, bis der Tee kalt wird. Das sieht den Männern ähnlich. Wir wollen frühstücken. Wie gut, daß ich mein Brotmesser mitgenommen habe.«

So kletterten sie wieder den Abhang hinunter in ihre Höhle. Der Biber schnitt Brot und belegte es mit Schinken. Die Biberin schenkte Tee ein, und jeder freute sich über Speise und Trank. Sie hätten gerne noch länger verweilt, aber der Biber rief: »Höchste Zeit aufzubrechen!«



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