WAS MIT DEN VERSTEINERTEN FIGUREN GESCHAH

»Welch merkwürdiger Ort!« rief Lucy. »All dies steinerne Getier und auch menschliche Figuren! Es ist wie in einem Museum.«

»Pst, pst«, warnte Suse. »Sieh doch, was Aslan tut.« Und wirklich! Er sprang zu einem Steinlöwen hin und blies ihn mit seinem Atem an. Ohne innezuhalten, strich er von einem zum andern, wedelte wie eine Katze mit dem Schweif um alle herum und blies gleich den Steinzwerg an, der – ihr erinnert euch doch noch –, nur wenig vom Löwen entfernt, diesem den Rücken zukehrte. Dann eilte er zu einer hohen steinernen Dryade, die hinter dem Zwerg stand, wandte sich blitzschnell seitlich zu einem steinernen Kaninchen auf der rechten Seite und lief zu zwei Zentauren hin. Doch da rief Lucy: »Oh, Suse, schau dir den Löwen an!«

Ihr habt sicher schon einmal gesehn, wie jemand ein brennendes Zündholz an das Papier hält, das zum Feuerfangen unter dem Holz im Ofen liegt. Erst scheint gar nichts zu geschehen, dann aber zuckt ein feiner Flammenstreifen am Rande des Papiers entlang. Und genau so geschah es hier. Eine Weile, nachdem Aslan den Steinlöwen angeblasen hatte, blieb er unverändert starr, dann begann ein dünner Streifen Gold an seinem weißen Marmorrücken entlangzuzüngeln, er verbreiterte sich und beleckte ihn, wie eine Flamme das Papier entzündet. Während sein Hinterteil noch versteinert war, schüttelte er schon die Mähne, und eine Steinfalte nach der andern wurde zu lebendigem Haar. Dann öffnete er seinen großen roten Rachen und ließ warm und lebendig ein beachtliches Gähnen hören. Nun erwachten seine Hinterbeine zum Leben, er hob eines und kratzte sich. Schließlich erblickte er Aslan, lief zu ihm hin, tanzte einen Freudentanz vor Entzücken, sprang an ihm empor und leckte sein Angesicht.

Selbstverständlich folgten die Kinder mit ihren Augen dem Löwen, aber es gab so viele Wunder zu sehn, daß sie ihn bald vergaßen. Überall begannen die Steingebilde zu leben. Der Hof glich nicht länger einem Museum, sondern viel eher einem zoologischen Garten. Allerhand Tiere eilten zu Aslan und umringten ihn, zeitweilig verschwand er gänzlich im Gedränge. Das unheimlich farblose Grau des Hofes verwandelte sich in lebendigen Farbenglanz. Das warme Kastanien­braun der Zentaurenleiber, das Indigoblau des Hornes der Einhörner, das Rostbraun der Füchse, Hunde und Satyre, die gelben Strümpfe und knallroten Mützen der Zwerge, Eiben und Buchen mit ihrem silbrigen Grün, das Lärchengrün, das fast noch gelblich schimmerte, dazwischen gestreut das Silber der Birkenstämme, und nicht zu vergessen das flammend farbige Gefieder der Vögel.

Aus dem tödlichen Schweigen des Hofes war ein Mordslärm geworden, ein glückliches Bellen, Kläffen, Winseln, das Posaunen der Esel, ein Girren, Gurren, Trillern, Zwitschern, Pfeifen und Tremolieren, ein Stampfen, Wiehern und ein Hurraschreien, ein Jubilieren, Singen und Lachen.

»Oh«, rief Suse ängstlich, »jetzt bin ich begierig, ob das gut ausgeht!«

Lucy blickte auf und sah, wie Aslan die Füße eines versteinerten Riesen anblies.

»Nur keine Angst!« rief Aslan freudestrahlend. »Sobald die Beine sich bewegen, kommt das andere nach.«

»Ja, das eben fürchte ich«, flüsterte Suse in Lucys Ohr.

Aber es war zu spät, es zu verhindern, selbst wenn Aslan es gehört hätte. Das Erwachen krabbelte schon an den Riesenbeinen hoch, und da bewegte er seine Füße, und einen Augenblick später hob er seine Keule auf die Schulter, rieb sich die Augen und sagte: »Lieber Himmel, ich muß eingeschlafen sein. Aber wo steckt die vermaledeite kleine Hexe? Sie war doch eben zum Greifen nahe, zwischen meinen Füßen war sie.«

Alle schrien ihm etwas zu und versuchten ihm zu erklären, was inzwischen tatsächlich geschehen war. Aber erst nachdem der Riese seine Hand ans Ohr gelegt hatte und sie es nochmals wiederholten, verstand er es endlich, zog seine Kappe vor Aslan und beugte seinen Kopf zwei Stockwerke tief zu Boden; dabei strahlte er über sein häßliches, aber gutmütiges Gesicht. Riesen seiner Art sind heute sehr selten, und nur wenig Riesen sind gutmütig.

Ich wette mit euch, ihr habt noch niemals einen »strahlenden« Riesen gesehen. Das ist wirklich ein lohnender Anblick.

»Nun ins Haus hinein!« befahl Aslan. »Schaut euch überall nach Lebendigem um – treppauf, treppab, auch in den Zimmern der Hexe! Untersucht jede Ecke! Ihr ahnt gar nicht, wo noch arme Gefangene verborgen sein können.«

Da rannten alle in das Schloß hinein, und für einige Minuten hallte durch das schrecklich alte dunkle Gebäude das Öffnen der Fenster, und aus jedem hörte man sie einander zurufen: »Vergeßt das Burgverlies nicht!« »Laßt mich diese Tür öffnen.« – »Da ist eine kleine Wendeltreppe.« – »Hört mal, da ist ein Känguruh, ruft Aslan!«

»Pfui, wie das hier stinkt.« – »Sucht nach Falltüren!«

»Hier hinauf!« – »Dort auf dem Treppenabsatz gibt's noch eine Menge.«

Aber das allerbeste war, als Lucy die Treppe heraufgerannt kam und schrie: »Aslan, Aslan, ich habe Herrn Tumnus gefunden, oh, komm schnell!«

Gleich darauf hielten sich Lucy und der kleine Faun bei den Händen und tanzten vor Freude Ringelreihen. Dem kleinen Kerl war die Versteinerung nicht weiter schlecht bekommen, und er war natürlich sehr gespannt auf alles, was sie ihm zu erzählen hatten.

Doch endlich war diese Herumrennerei beendet und das ganze Schloß der Hexe durchstöbert. Nun stand es leer, mit geöffneten Türen und Fenstern, und die Frühlingsluft durchflutete den dunklen ekelhaften Ort, der das so nötig hatte.

Die erlösten Steinfiguren kamen in den Hof zurück, und da geschah es, daß irgend jemand – ich glaube es war Tumnus – zum erstenmal frage: »Aber wie kommen wir denn hier heraus?« Denn Aslan war mit einem Satz über die Mauer gekommen, und das Tor war noch immer verschlossen.

»Das wird schon gehn«, beruhigte Aslan. Dann schrie er dem Riesen zu: »He, du dort oben! Wie heißt du?«

»Riese Rumbelbuffel, mit Verlaub, Euer Gnaden«, antwortete der Riese und zog abermals seine Kappe.

»Nun denn, Riese Rumbelbuffel«, sagte Aslan, »schaff uns einen Ausgang! Willst du?«

»Natürlich, Euer Gnaden, soll mir ein Vergnügen sein«, antwortete der Riese Rumbelbuffel. »Tretet nur vom Tor zurück, ihr kleinen Kribskrabse.« Dann schritt er breitbeinig zum Tor, und: bäng-bäng-bäng, schlug seine ungeheure Keule zu. Die Tore knirschten beim ersten Schlag, knackten beim zweiten, und beim dritten Schlag zersplitterten sie.

Dann machte er sich an die beiden Seitentürme, und nach wenigen Minuten Krachen und Splittern fielen auch diese und ein gut Teilchen der Burgmauer dazu donnernd in sich zusammen und bildeten einen trostlosen Trümmerhaufen. Der Staub verzog sich, und nun war es höchst seltsam, in diesem grimmigen, grauen Steinhof zu stehn und durch die Bresche ins Freie zu schaun. Da sahen sie Gras und wogende Bäume, sie sahen funkelnde Ströme und die Wälder, dahinter blaue Hügel und jenseits der Hügel den Himmelsrand.

»Alle Wetter, ich bin ja ganz in Schweiß gebadet.« Der Riese schnaufte wie eine große Lokomotive. »Ich bin ja ganz aus der Form gekommen. Hat vielleicht eine der jungen Damen so etwas wie ein Taschentuch bei sich?«

»Ja, ich habe eins!« rief Lucy, stellte sich auf die Zehenspitzen und hielt ihr Taschentuch, so hoch sie reichen konnte.

»Vielen Dank, Fräuleinchen«, sagte der Riese Rumbelbuffel und beugte sich nieder. Im nächsten Augenblick bekam Lucy einen Schrecken, denn sie fühlte sich zwischen Zeigefinger und Daumen des Riesen aufgehoben.

Doch als sie schon fast vor seinem Gesicht war, starrte er verwundert und setzte sie sanft auf den Boden zurück.

»Du lieber Himmel«, murmelte er. »Hab' ich doch jetzt das kleine Mädchen erwischt. Entschuldigung, Fräuleinchen, hab' gedacht, Sie seien das Taschen­tuch.«

»Nein, nein«, sagte Lucy. »Das hier ist es.« Diesmal gelang es ihm richtig, es zu fassen, aber es war zwischen seinen Fingern so klein wie eine Saccharin­tablette für uns.

Als Lucy sah, wie er feierlich damit über sein großes, rotes Gesicht fuhr, sagte sie: »Es tut mir leid, Herr Rumbelbuffel, Sie haben nicht viel davon.«

»Aber nein, aber nein«, sagte der Riese höflich. »Hab' noch nie so ein hübsches Tüchlein gehabt! Es ist so fein, so praktisch, so… ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.«

»Was für ein reizender Riese«, meinte Lucy zu Herrn Tumnus.

»O ja«, entgegnete der Faun. »Die Rumbels waren immer so. Die sind die angesehenste Riesenfamilie in Narnia. Nicht besonders gescheit (ich weiß nicht, ob es gescheite Riesen gibt), aber eine alte Familie, weißt du, eine mit Tradition. Andernfalls hätte ihn die Hexe niemals in Stein verwandelt.«

Da klatschte Aslan in die Pfoten und befahl Schweigen.

»Unser Tagwerk ist noch nicht zu Ende«, sagte er.

»Wenn die Hexe vor dem Zubettgehn noch endgültig besiegt werden soll, müssen wir sofort zum Kampf aufbrechen.«

»Und daran teilnehmen, hoffe ich, Herr«, fügte der größte der Zentauren hinzu.

»Selbstverständlich«, bestätigte Aslan. »Jetzt müssen diejenigen, die sonst nicht mitkämen, die Kinder, Zwerge, kleinen Tiere, auf den Rücken der Großen reiten, also der Löwen, Zentauren, Einhörner, Pferde, Riesen und Adler. Diejenigen, die gute Nasen haben, müssen mit uns Löwen vorauseilen, um das böse Gesin­del aufzuspüren. Macht schnell und ordnet euch!«



Das taten sie denn auch mit viel Getöse und Beifall.

Der Zufriedenste von allen war der andere Löwe. Der lief überall herum und tat so, als sei er mächtig beschäftigt. In Wirklichkeit aber erzählte er jedem, dem er begegnete: »Hast du gehört, was er sagte? Wir Löwen! Das sind er und ich. Wir Löwen! Das hab' ich so gern an Aslan. Kein Dünkel, keine Überheblichkeit, wir Löwen! Er meint damit sich und mich.«

Er lief so lange herum und wiederholte das, bis Aslan ihm drei Zwerge, eine Dryade, zwei Kaninchen und einen Igel aufgeladen hatte. Das brachte ihn ein bißchen zur Vernunft.

Ein großer Schäferhund half Aslan am meisten, die Schar in Reih und Glied zu ordnen. Als alles bereit war, zogen sie durch die neue Öffnung in der Schloßmauer aus. Zuerst kamen die Löwen und Hunde, nach allen Richtungen mit der Nase auf dem Boden schnuppernd, und da witterte auch schon ein großer Hund plötzlich die Fährte und schlug an. Nun war keine Zeit mehr zu verlieren. Alle Hunde, Löwen, Wölfe und alle anderen Jagdtiere verfolgten in schnellem Lauf, die Nasen auf der Erde, die Fährte. Die übrigen folgten, so schnell sie konnten. Es war ein Lärm wie auf einer englischen Fuchsjagd. Und gerade als sie um die letzte Windung eines engen, verschlungenen Tales kamen, hörte Lucy zwischen all dem Lärm noch einen anderen Laut. Das klang so gänzlich anders, daß sie ein unheimliches Gefühl überkam. Es war ein Schreien und Rufen, und Metall schlug an Metall.

Nun waren sie aus dem engen Tal heraus und sahen, was geschah. Peter und Edmund kämpften verzweifelt mit dem Rest von Aslans Getreuen gegen einen Haufen scheußlicher Gestalten. Suse und Lucy kannten sie aus der vergangenen Nacht, nur sahen sie jetzt im Tageslicht noch seltsamer, übler und mißgestalteter aus. Es schienen auch ihrer viel mehr zu sein. Peters Getreue deckten ihm den Rücken, aber es waren erschreckend wenige, und der ganze Kampfplatz war übersät mit Steinfiguren. Offenbar hatte die Hexe ihren Zauberstab benutzt. Augenblicklich jedoch gebrauchte sie ihn nicht, sondern focht mit ihrem Steinmesser. Sie kämpfte mit Peter, und beide schlugen so hart aufeinander ein, daß Lucy nur schwer begriff, was eigentlich geschah. Sie sah bloß das Steinmesser und Peters Schwert. Beide schwangen es so schnell hin und her, daß sie drei Messern und drei Schwertern glichen. Das kämpfende Paar stand in der Mitte. Wohin Lucy auch blickte, auf allen Seiten geschahen die schrecklichsten Dinge.

»Herunter von meinem Rücken, Kinder!« schrie Aslan.

Die beiden purzelten zu Boden, und mit einem Donner, der ganz Narnia von der westlichsten Straßenlaterne bis zum östlichen Meeresstrand erschütterte, stürzte sich die mächtige Gestalt des Löwen auf die böse Hexe.

Ihr Gesicht wandte sich ihm zu. Einen Augenblick lang sah Lucy ihren Ausdruck von Schrecken und Entsetzen, dann prallten Löwe und Hexe aufeinander.



Aber die Hexe unterlag, und gleich darauf durch­brachen die Kämpfer, die Aslan aus dem Schloß der Hexe befreit hatte, die feindlichen Linien. Die Zwerge mit ihren Äxten, die Hunde mit gebleckten Zähnen, der Riese mit seiner Keule – und auch seine Füße zertraten, was ihm in den Weg kam –, Einhörner mit spitzem Horn und die Zentauren mit Schwert und Huf. Peters ermüdete Heerschar jubelte auf, die Neuangekom­menen brüllten jauchzend, und die Feinde wimmerten und heulten, daß der Wald vom Lärm dieses Schlacht­getümmels widerhallte.

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