ZURÜCK AUS NARNIA

Die andern spielten noch immer Verstecken, so brauchten Lucy und Edmund einige Zeit, um sie zu finden, und als sie endlich alle beisammen waren – in dem Saal mit den Rüstungen –, sprudelte Lucy los.

»Peter, Suse, es ist alles wahr. Edmund hat es nun auch gesehn. Man kommt wirklich durch den Wandschrank in ein anderes Land. Wir beide trafen uns dort im Wald. Los, Edmund, erzähl es ihnen.«

»Was soll das heißen, Ed?« fragte Peter.

Und jetzt sind wir an der unangenehmsten Stelle unserer Geschichte. Bis zu diesem Augenblick hatte sich Edmund verdrießlich, elend und verärgert gefühlt, weil Lucy recht gehabt hatte; nun wußte er sich nicht mehr zu helfen, weil Peter ihn so plötzlich fragte, und so entschloß er sich zum denkbar Häßlichsten und Gemeinsten, nämlich Lucy im Stich zu lassen.

»So erzähl doch schon, Ed«, drängte Suse.

Edmund tat sehr überlegen, als sei er der viel Ältere dabei war bloß ein Jahr Unterschied zwischen Lucy und ihm –, dann sagte er von oben herab: »Nun ja, Lucy und ich spielten zusammen. Wir taten so, als gäbe es wirklich ein Land im Wandschrank. Nur so zum Spaß natürlich. Es ist natürlich nichts da.«

Die arme Lucy warf ihm einen Blick zu und rannte aus dem Zimmer. Edmund, der jeden Augenblick unausstehlicher wurde, bildete sich ein, großen Erfolg zu haben, und fügte noch hinzu: »Da läuft sie wieder weg. Was hat sie denn nur? Man hat seine liebe Not mit so kleinen Gören, weil sie immer…«

»Hör einmal«, rief Peter wütend, »mach jetzt Schluß damit! Du hast dich geradezu ekelhaft gegen Lucy benommen schon von dem Augenblick an, wo sie den Unsinn mit dem Schrank aufbrachte. Nun spielst du auch noch so dummes Zeug mit ihr und setzt ihr den Blödsinn aufs neue in den Kopf. Ich glaube, du tust es aus lauter Bosheit.«

»Aber es ist ja doch alles Unsinn«, sagte Edmund bestürzt.

»Selbstverständlich ist es Unsinn«, bestätigte Peter.

»Das ist es eben. Als wir von daheim abreisten, war Lucy völlig in Ordnung, aber seitdem wir hier sind, scheint sie entweder übergeschnappt zu sein und es geht alles in ihrem Kopf durcheinander, oder sie hat sich in eine Lügnerin verwandelt. Nun, wie dem auch sei, was versprichst du dir davon: An einem Tag ver­höhnst du sie und am nächsten ermutigst du sie noch.«

»Ich dachte, ich dachte…«, stammelte Edmund.

»Du hast dir überhaupt nichts gedacht«, schalt Peter.

»Es ist lediglich Gemeinheit. Du benimmst dich gegen Jüngere immer ekelhaft. Das kennen wir von der Schule her.«

»Hört bitte auf«, bat Suse. »Streit zwischen uns macht die Sache nicht besser. Wir wollen uns um Lucy kümmern.«

Sie waren nicht überrascht, als sie bald darauf Lucy in Tränen aufgelöst fanden. Was sie auch sagten, sie hielt an ihrer Geschichte fest und erklärte: »Mir ist es ganz gleich, was ihr denkt, und mir ist es auch gleich, was ihr sagt. Ihr könnt es dem Professor erzählen oder an Mutter nach Hause schreiben. Ihr könnt machen was ihr wollt. Ich weiß, ich bin einem Faun begegnet, ach ich wünschte, ich wäre in jenem Land geblieben! Ihr seid alle Ekel, Ekel seid ihr!«

Es war ein unerfreulicher Abend. Lucy war unglücklich, und Edmund sah ein, daß es mit seinem Plan nicht so ging, wie er erwartet hatte. Die zwei älteren Geschwister glaubten tatsächlich, Lucy sei nicht mehr richtig im Kopf.

Sie standen im Flur und sprachen darüber, und noch lange, nachdem Lucy zu Bett gegangen war, flüsterten und tuschelten sie miteinander.

Am nächsten Morgen beschlossen sie, dem Professor die ganze Geschichte zu erzählen. »Wenn er glaubt, daß mit Lucy irgend etwas nicht stimmt, wird er an Vater schreiben«, sagte Peter, »denn was verstehn wir schon davon!« Sie begaben sich also vor das Studierzimmer und klopften an die Tür.

Der Professor rief: »Herein«, erhob sich, holte Stühle für sie und sagte, er stünde ganz zu ihrer Verfügung.

Dann setzte er sich, legte die Fingerspitzen aneinander, hörte ihnen zu und unterbrach sie nicht ein einziges Mal, bis sie die ganze Geschichte erzählt hatten. Dann schwieg er lange, räusperte sich und fragte endlich genau das, was sie am wenigsten erwartet hatten: »Warum soll die Geschichte eurer Schwester nicht wahr sein?«

»Ja, aber…« Suse stockte. Das Gesicht des alten Mannes war tiefernst. Sie nahm sich zusammen, und dann sagte sie: »Edmund erklärte doch, sie hätten nur so getan.«

»Eben darauf kommt es an. Das muß sorgfältig überlegt werden. Erlaubt mir die Frage, wem glaubt ihr mehr, eurem Bruder oder eurer Schwester? Wer von beiden hält sich genauer an die Wahrheit?«

»Ach, Herr Professor«, antwortete Peter, »das ist gerade das Komische dabei. Bis jetzt hätte ich immer gesagt: Lucy.«

»Und du, mein liebes Kind, was meinst du?« fragte der Professor und wandte sich an Suse.

»Ach! Eigentlich dasselbe wie Peter, aber das kann ja gar nicht wahr sein. Es gibt doch keinen Wald im Kleiderschrank und keinen Faun darin.«

»So, so«, sagte der Professor. »Da weißt du ja mehr als ich. Und einen Menschen der Lüge zu bezichtigen, der bisher immer die Wahrheit gesagt hat, ist eine sehr ernste Sache.«

»Darum befürchten wir auch, daß es keine Lügen sind«, sagte Suse, »vielleicht ist Lucy überge­schnappt.«

»Verrückt geworden?« fragte der Professor gelassen.

»Macht euch keine Sorgen, man braucht Lucy nur anzusehn oder mit ihr zu sprechen und merkt sofort, daß sie es nicht ist.«

»Aber dann…«, rief Suse und stockte. Sie hatte sich nicht träumen lassen, daß ein Erwachsener so reden könnte, wie es der Professor jetzt tat, und wußte nun überhaupt nicht mehr, was sie denken sollte.

»Logik«, murmelte der Professor, so halb zu sich selbst. »Warum lernen sie auf der Schule keine Logik? Es gibt nur drei Möglichkeiten: Entweder lügt eure Schwester, oder sie ist verrückt, oder sie berichtet die Wahrheit. Ihr wißt, sie lügt nie, sie ist offensichtlich auch nicht verrückt, also: Ehe es sich nicht anders erweist, müssen wir annehmen, daß sie die Wahrheit sagt.«

Suse blickte ihn aufmerksam an. Sie konnte ganz deutlich sehn, daß er sie nicht zum besten hielt.

»Aber, Herr Professor«, rief Peter, »das kann doch nicht wahr sein!«

»Und warum nicht?« fragte der Professor.

»Aus einem ganz einfachen Grund«, erklärte Peter.

»Wenn es die Wahrheit wäre, warum findet dann nicht jeder dieses Land im Wandschrank? Als ich hineinschaute, war nichts drin, selbst Lucy konnte es nicht mehr finden.«

»Was bedeutet das schon?« fragte der Professor.

»Nun, Herr Professor, was da ist, ist da und bleibt auch für immer da.«

»Stimmt das?« fragte der Professor. »Für immer?« Peter schwieg, denn er wußte nicht, was er darauf antworten sollte.

»Und außerdem«, rief Suse, »hatte sie gar keine Zeit! Lucy konnte nicht irgendwohin gehen, selbst wenn ein solches Land dagewesen wäre. Wir waren kaum aus dem Zimmer, da kam sie schon hinter uns hergerannt, keine Minute war vergangen, aber sie behauptete, viele Stunden lang fort gewesen zu sein.«

»Das macht die Geschichte gerade so glaubwürdig«, sagte der Professor. »Falls es nämlich in diesem Haus eine Tür gibt, die in eine andere Welt führt, und ich möchte auch darauf aufmerksam machen, daß es ein ganz ungewöhnliches Haus ist – sogar ich weiß nur wenig davon –, also nehmen wir einmal an, Lucy sei durch diese Tür gegangen, dann würde es mich gar nicht überraschen, wenn die andere Welt auch eine andere Zeit hätte, ihre eigene Zeit. Man kann so lange dort bleiben, wie man will, niemals wird es unsere Zeit sein. Jedenfalls glaube ich nicht, daß Mädchen ihres Alters derartige Dinge erfinden. Selbst wenn sie es sich nur ausgedacht hätte, würde sie sich hüten, es zu erzählen.«

»Ja aber glauben Sie denn wirklich, Herr Professor«, fragte Peter, »andere Welten sind überall zu finden, und einfach nur so um die Ecke herum?«

»Nichts ist wahrscheinlicher«, antwortete der Professor. Er nahm seine Brille von der Nase und putzte sie sorgfältig. Dabei murmelte er: »Ich frage mich wirklich, was sie ihnen eigentlich auf den Schulen beibringen.«

»Aber was soll denn nun geschehn?« klagte Suse. Sie merkte, daß die Unterredung abschweifte.

»Mein liebes kleines Fräulein«, sagte der Professor und sah die beiden sehr eindringlich an, »es gibt etwas, woran niemand bisher gedacht hat und das einen Versuch lohnte.«

»Was denn?« fragte Suse.

»Jeder kümmere sich nur um das, was ihn selbst angeht.«

Damit war die Unterredung beendet.

Es wurde wirklich ein wenig besser für Lucy. Peter sorgte dafür, daß Edmund nicht länger seinen Spott mit ihr trieb, und alle, sogar Lucy, vermieden es, den Wandschrank zu erwähnen. Er war unheimlich gewor­den. Eine Weile sah es so aus, als hätten die Abenteuer ein Ende genommen. Das war aber nicht der Fall.

Das Haus des Professors, das sogar er nicht zur Genüge kannte, war so alt und berühmt, daß aus ganz England Leute herbeikamen, um es zu besichtigen. Es war in Reiseführern, ja sogar in Geschichtsbüchern beschrieben, und man hörte allerhand Gerüchte und sonderbare Geschichten im ganzen Land, noch sonderbarer als die Geschichte, die ich hier erzähle. Wenn solche Besucher kamen und um Erlaubnis baten, das Haus zu besichtigen, dann erteilte der Professor sie ihnen, und Frau Macready, die Wirtschafterin, übernahm die Führung. Sie erklärte ihnen die Gemälde, die Waffen und die seltenen Werke in der Bibliothek. Frau Macready mochte Kinder nicht besonders, und sie wollte nicht gestört werden, wenn sie vor den Fremden ihr Wissen ausbreitete. Bereits am ersten Morgen hatte sie darum zu den Kindern unter andern Ermahnungen gesagt: »Und laßt euch ja nicht blicken, wenn ich Fremde durchs Haus führe.«

»Die tut gerade, als hätten wir unsern Spaß daran, einen halben Vormittag lang mit einem Haufen Erwachsener durchs Haus zu gondeln«, brummte Edmund, und seine Geschwister dachten genau wie er.

Und damit begannen die Abenteuer aufs neue.

Einige Tage später – an einem Vormittag –, eben als sich Peter und Edmund die Rüstungen anschauten und überlegten, ob sie sie ein bißchen anprobieren könnten, kamen die zwei Mädchen ins Zimmer gestürzt und riefen: »Achtung, dort kommt die Macready mit einer ganzen Horde hinter sich.«

»Haltet die Klappe!« rief Peter, und alle vier stürzten durch die Tür bis ans Ende des nächsten Zimmers. Doch als sie ins grüne Zimmer kamen und darüber hinaus in die Bibliothek, hörten sie plötzlich dicht vor sich Stimmen.

Das mußte Frau Macready mit den Besuchern sein. Sie waren offenbar die Hintertreppe heraufgekommen. Ob die Kinder nun dadurch den Kopf verloren, ob Frau Macready sie zu verscheuchen suchte oder ob ein Zauber sich in dem Haus zu regen begann, der sie nach Narnia trieb sie hatten die Empfindung, es verfolge sie jemand, so daß Suse schließlich flüsterte: »Zum Kuckuck mit dieser Plage! Laufen wir ins Wand­schrankzimmer, bis sie vorüber sind, dorthin kommt keiner.« Doch sowie sie drinnen waren, hörten sie im Flur Stimmen, und dann fummelte jemand an der Tür, und sie sahen, wie sich die Klinke bewegte.

»Rasch«, stieß Peter hervor, »es kommt wer!«, riß die Schranktür auf, und alle vier krochen in den Schrank hinein. Da saßen sie, laut schnaufend, im Dunkeln. Peter hielt die Tür fest, ohne sie einschnap­pen zu lassen, denn er war ja nicht so töricht, sich in einem Schrank einzuschließen.

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