NOCH TIEFERER ZAUBER AUS DER ZEITEN DÄMMERUNG

Während die beiden kleinen Mädchen noch in den Büschen kauerten, das Gesicht in den Händen, hörten sie die Hexe rufen: »Mir nach und auf in den letzten Kampf! Noch eine kurze Weile, und wir haben das Menschengezücht ausgerottet, jetzt, da der große Narr, diese Riesenkatze, tot ist.«

Da schwebten die beiden Kinder einige Sekunden lang in großer Gefahr, denn mit wildem Geschrei, gellendem Pfeifen und schrillem Hörnerklang fegte das gemeine Pack gerade an ihrem Versteck vorbei hügelabwärts. Sie fühlten die Gespenster wie einen kalten Wind an sich überstreichen. Der Boden bebte vom Galoppieren der Stiermenschen, und über ihren Köpfen schwirrte der garstige Flügelschlag schwarzer Geier und riesenhafter Fledermäuse. Zu jeder andern Zeit hätten sie vor Furcht gezittert, aber ihr Herz war zu voll von Trauer, Schrecken und Scham über Aslans Tod, und sie achteten kaum auf etwas anderes.

Sobald der Wald wieder still geworden war, erkletterten Suse und Lucy den Hügel. Der Mond war im Untergehn, leichte Wolken glitten über ihn hin, aber sie sahen gleich die Gestalt des toten Löwen in seinen Fesseln. Sie knieten beide im nassen Gras, sahen sein kaltes Gesicht und streichelten sein schönes Haar, soviel davon übriggeblieben war, und weinten, bis sie keine Tränen mehr hatten. Dann blickten sie sich an, faßten sich aus lauter Einsamkeit an den Händen, weinten aufs neue und verstummten abermals. Endlich sagte Lucy: »Ich kann den häßlichen Maulkorb nicht ertragen, können wir ihn nicht abnehmen?«

Sie versuchten es, und nach vielen Anstrengungen, ihre Finger waren starr vor Kälte, und es war stockfinstere Nacht, gelang es schließlich. Aber als sie sein Gesicht frei sahen, brachen sie von neuem in Tränen aus und liebkosten und hätschelten ihn abermals. Blut und Schaum wischten sie, so gut sie konnten, weg, und alles war unsagbar gottverlassen, unsagbar hoffnungslos, unsagbar grauenvoll.

»Ob wir ihm nicht auch die Fesseln abnehmen könnten?« fragte Suse.

Doch seine Gegner hatten aus purer Bosheit die Stricke so fest angezogen, daß sie keinen Knoten lösen konnten.

Ich hoffe, keiner, der dieses Buch liest, ist jemals so unglücklich und traurig gewesen wie Suse und Lucy in jener Nacht, aber wenn er jemals eine Nacht lang aufgeblieben ist und geweint hat, bis ihm die Tränen versiegten, dann wird er wissen: zu guter Letzt tritt Friede ein, so als ob niemals wieder irgend etwas geschehn könnte. Jedenfalls fühlten die beiden kleinen Mädchen es so.

Stunde um Stunde verstrich in tödlicher Stille. Sie spürten kaum, daß sie froren und daß es kälter und kälter wurde, aber endlich merkte Lucy, wie die Dunkelheit des Himmels sich im Osten erhellte. Es war nicht mehr ganz so schwarz wie vor einer Stunde, und an ihren Füßen sah sie im Gras etwas Winziges hin und her huschen. Zuerst achtete sie nicht darauf. Was bedeutete das schon? Jetzt war nichts mehr wichtig. Doch da sah sie, wie dieses Etwas sich dem Steintisch näherte, und was es auch sein mochte, es krabbelte jetzt sogar auf Aslans Leib herum. Sie betrachtet es genauer, es war etwas Kleines, Graues.

»Ihhh, ihh«, rief Suse über den Tisch hinüber. »Wie ekelhaft! Da krabbeln wirklich kleine Mäuse über ihn hin. Weg mit euch, Geziefer!«, und sie erhob die Hand, um sie zu verscheuchen.

»Warte«, bat Lucy, sie hatte die Tierchen genauer beobachtet. »Siehst du nicht, was sie tun?«

Beide Mädchen beugten sich nieder. »Ich glaube fast…« begann Suse. »Ach, wie sonderbar! Sie nagen die Fesseln durch.«

»Das schien mir auch so«, sagte Lucy, »und ich glaube, es sind gute Mäuse. Ach, die armen kleinen Dinger wissen noch gar nicht, daß er tot ist. Sie denken, es nützt etwas, wenn sie ihn befreien.«

Es wurde nun wirklich heller, und auf einmal merkten die Kinder, wie blaß sie beide aussahen. Sie sahen, die Mäuse knabberten und nagten weiter. Viele, viele Hundert Feldmäuse nagten ein Seil nach dem andern durch, indes die Sterne verblaßten und der Himmel weiß wurde.

Nur ein großer Stern schwebte noch tief am östlichen Horizont. Suse und Lucy froren jetzt noch mehr als in der Nacht. Die Mäuse huschten lautlos davon, und die Mädchen räumten die zernagten Stricke beiseite. Befreit von ihnen, glich Aslan wieder mehr sich selbst. Ja, von Minute zu Minute sah sein Antlitz edler aus, und jetzt, da es lichter wurde, konnten sie ihn deutlicher erkennen.

Hinter ihnen im Wald ließ ein Vogel einen lachenden Ruf ertönen. Es war viele Stunden lang so still gewesen, daß sie bei diesem Laut erschraken. Dann antwortete ein anderer Vogel, und bald erscholl allüberall Vogelsang.

Der Morgen war angebrochen, die Nacht war vergangen.

»Mich friert«, klagte Lucy.

»Mich auch«, sagte Suse. »Laufen wir ein wenig auf und ab.«

Sie liefen bis zum östlichen Hügelrand und schauten hinab. Der eine große Stern war fast verschwunden. Das Land war noch tief in Grau, doch dahinter, am Rand der Welt, schimmerte das fahle Meer. Der Himmel rötete sich. Die beiden Mädchen liefen ungezählte Male hin und her, um sich zu erwärmen. Ach, wie müde waren alle ihre Glieder. Dann standen sie einen Augenblick still und schauten auf das Meer und Feeneden, das sie eben erst erkennen konnten. Dort, wo Meer und Himmel sich berührten, wandelte sich das Rot in Gold, und langsam stieg der Sonnenball empor. Da hörten sie hinter sich ein lautes Krachen.

Es war ein geradezu ohrenbetäubendes Geräusch, als zerschmetterte ein Riese eine riesige Platte.

»Was war das?« fragte Lucy und griff nach Suses Arm.

»Ich… ich… habe Angst, mich umzudrehn«, stammelte Suse.

»Sie tun ihm noch mehr Böses an!« schrie Lucy.

Und sie wandte sich um, Suse dabei mit sich reißend.

Der Sonnenaufgang hatte alle Farben und Schatten verändert, so daß sie zunächst das Wichtigste nicht bemerkten. Plötzlich sahen sie es: Der Steintisch war bei dem lauten Krachen in zwei Teile geborsten, und ein klaffender Sprung lief quer durch. Aslan war nicht mehr da.

»Oh, oh, oh«, klagten die beiden Mädchen und rannten zum Tisch zurück.

»Das ist zu gräßlich«, schluchzte Lucy. »Seinen Leichnam hätten sie doch in Frieden lassen können.«

»Wer hat das getan?« schrie Suse. »Was bedeutet das? Noch mehr Zauber?« »Jawohl«, sprach eine volle Stimme hinter ihrem Rücken. »Ein noch tieferer Zauber!«

Sie schauten sich um. Leuchtend in der aufgehenden Sonne, gewaltiger denn je vorher, stand Aslan da. Er selbst!

- Und er schüttelte seine Mähne, die anscheinend wieder gewachsen war.

»Oh, Aslan!« schrien die Kinder und starrten ihn beglückt und erschrocken an.

»Du bist also nicht tot, lieber Aslan?« fragte Lucy.

»Nicht mehr«, antwortete er.

»Und du bist kein Ge… Ge…?« fragte Suse mit zitternder Stimme. Sie brachte das Wort »Gespenst« nicht über die Lippen.

»Sehe ich so aus?« fragte Aslan. Er neigte sich und berührte mit den Lippen ihre Stirnen.

»Oh, du bist, du bist ganz wirklich, Aslan!« rief Lucy.

Und die beiden Mädchen umarmten ihn und bedeckten sein mächtiges Haupt mit Küssen.

Sobald sie sich etwas beruhigt hatten, fragte Suse: »Aber was bedeutet das?«

»Es bedeutet, daß die Hexe vom Urzauber wohl Kenntnis hatte, aber keine Ahnung von jenem tieferen Zauber, der noch weit hinter dem Urzauber waltet. Ihre Kenntnis reicht nur bis zum Anfang der Zeit; hätte sie ein wenig weiter dahinter schauen können, in das Schweigen und in die Finsternis vor der Zeiten Dämmerung, dann hätte sie den andern Zauberbann erspäht und hätte erkannt: wenn sich einer, der nichts verbrochen hat, freiwillig für einen Schuldigen opfert, dann bricht der Steintisch entzwei, und der Tod weicht zurück. Und nun…«

»Oh, fein«, rief Lucy. »Und was nun?« Sie sprang auf und klatschte in die Hände.

»Oh, Kinder«, rief der Löwe, »ich fühle meine Kräfte wieder! Fangt mich, wenn ihr könnt!« Seine Augen strahlten auf, und seine Glieder erbebten. Er schlug mit dem Schweif um sich. Dann duckte er sich, sprang hoch über ihre Köpfe und landete auf der andern Seite des Tisches.

Jauchzend, ohne recht zu wissen, warum, rannte Lucy zu ihm hinüber und versuchte ihn zu fassen, aber Aslan sprang wieder hoch, und eine tolle Jagd begann. Er hetzte sie rings um den Hügel herum. Es war aussichtslos, ihn zu fangen, nur seinen Schweif erwischten sie beinahe. Dann war er plötzlich dicht bei ihnen, schleuderte sie mit seinen mächtigen und schönen Samtpfoten in die Luft und fing sie wieder auf, und ebenso unvorhergesehen hielt er plötzlich inne, so daß sie übereinanderpurzelten. Ach, es war ja ein solch glücklich lachendes Durcheinander von Armen und Beinen, eine Ausgelassenheit, wie es sie eben nur in Narnia gibt. Und das merkwürdigste dabei war: Die Mädchen fühlten keinerlei Müdigkeit mehr, und als sie bald darauf schnaufend in der Sonne lagen, waren ihnen auch Hunger und Durst vergangen.

Da sagte Aslan: »Nun aber zu ernsteren Dingen! Ich habe das Bedürfnis, zu brüllen. Stopft euch lieber die Finger in die Ohren!« Dann erhob er sich und öffnete seinen Rachen.

Sein Anblick wurde so schrecklich, daß sie ihn kaum anzusehn wagten. Er brüllte! Die Bäume beugten sich vor seiner Stimme, wie das Gras auf der Wiese im Winde zittert. Dann sprach er: »Wir haben einen weiten Weg vor uns. Ihr dürft auf mir reiten.«

Er bückte sich, und so konnten die Kinder auf seinen warmen, goldenen Rücken steigen. Vorn saß Suse, die sich an seiner Mähne festhielt. Lucy saß dahinter und klammerte sich fest an Suse. Mit einem ungeheuren Satz erhob sich Aslan mit ihnen, und dann schoß er, schneller als das schnellste Roß, hügelabwärts in das Dickicht des Waldes hinein.

Dieser Ritt war wohl das Wunderbarste, was sie in Narnia erlebten. Seid ihr jemals auf einem Pferd Galopp geritten? Nun, stellt es euch vor, denkt daran, aber statt an klappernde Hufe und knirschendes Zaumzeug an den lautlosen Fall der riesigen Samtpfoten. Sie saßen nicht auf einem grauen, schwarzen oder kastanienbraunen Pferderücken, sondern auf goldenem Fell, und die Mähne flog rückwärts im Winde. Er lief doppelt so schnell wie das schnellste Rennpferd, aber dieses Pferd mußte man nicht zügeln, und es wurde niemals müde, über keinen Berg ging es langsamer. Er stürmte vorwärts, glitt niemals aus, strauchelte nie, fand sicher seinen Weg zwischen dichten Baumstämmen, sprang über Büsche und Hecken, er watete durch die schmalen Flüsse, den größten durchschwamm er.

Und sie ritten weder auf einer Straße noch in einem Park, noch am Strand oder in den Dünen, sondern sie ritten quer durch Narnia, mitten im Frühling, Buchenalleen hinunter und über Lichtungen von Eichen, durch wilde Obstgärten, an weißblühenden Kirschbäumen vorbei, an tosenden Wasserfällen vorüber, an bemoosten Felsen, an widerhallenden Höhlen, schwindelnde Grate hinauf und Steilhänge hinunter, in verwilderte Täler und über weite Flächen mit leuchtend blauen Blumen. Es war fast schon Mittag, als sie von einem steilen Berghang aus ein Schloß erblickten. Von dieser Höhe gesehn, glich es einem Spielzeugschloß mit lauter kleinen, spitzen Türmchen, aber der Löwe stürmte in solchem Tempo bergab, daß es jeden Augenblick größer und größer wurde, und bevor sie noch Zeit hatten, sich zu fragen, was das wohl für ein Schloß sein könnte, standen sie schon vor seinen Mauern. Nun sah es nicht mehr wie ein Spielzeug aus, sondern erhob sich finster drohend vor ihnen. Kein Menschengesicht schaute über den Festungswall, und die hohen Tore waren fest verschlossen. Aslan verringerte seinen Lauf nicht, sondern rannte wie aus der Kanone geschossen darauf zu. »Der Hexe Haus! Nun, Kinder, haltet euch fest.« Im nächsten Augenblick schien die ganze Welt kopfzustehn, und den Kindern war es, als drehe sich ihnen der Magen um. Der Löwe hatte sich zum gewaltigsten Sprung gesammelt, den er bisher mit ihnen gewagt hatte, und sprang, ach nein, wir wollen es lieber fliegen nennen, er flog regelrecht über die Schloßmauer.

Die beiden Mädchen waren atemlos, aber unversehrt.

Als er auf dem Boden landete, purzelten sie von seinem Rücken herab und befanden sich mitten in einem weiten gepflasterten Hof voll Steinfiguren.

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