5

Caramon stand in der Türöffnung des Arbeitszimmers und spähte in die Dunkelheit des Korridors – eine Dunkelheit, die von Geflüster und Augen belebt war. Neben ihm war Raistlin, eine Hand ruhte auf dem Arm seines Bruders, die andere hielt den Stab des Magus.

»Es wird alles gut, mein Bruder«, sagte Raistlin leise. »Vertrau mir.«

Caramon sah seinen Bruder aus einem Augenwinkel an.

Raistlin lächelte daraufhin sarkastisch. »Einer von ihnen wird dich begleiten«, fuhr er fort.

»Lieber nicht!« brummte Caramon finster, als ein Paar körperloser Augen, das sich in seiner Nähe aufhielt, näher kam.

»Begleitet ihn«, befahl Raistlin den Augen. »Er steht unter meinem Schutz. Erkennt ihr mich? Ihr wißt, wer ich bin?«

Die Augen senkten sich ehrfürchtig, dann richteten sie ihren kalten, geisterhaften Blick auf Caramon. Der große Krieger erschauerte und sah Raistlin zum letzten Mal an.

»Die Wächter werden dich sicher durch den Eichenwald führen. Du wirst jedoch bei weitem mehr zu fürchten haben, wenn du ihn hinter dir gelassen hast. Sei vorsichtig, mein Bruder! Diese Stadt ist nicht der wunderschöne, friedliche Ort, wie es in zweihundert Jahren der Fall sein wird. Nun ist sie von Flüchtlingen voll, die in den Straßen, wo immer sie können, leben. Jeden Morgen rollen Karren über das Pflaster, um die Körper jener zu entfernen, die in der Nacht gestorben sind. Männer sind unterwegs, die dich wegen deiner Stiefel umbringen würden. Kauf dir zuerst ein Schwert und trag es offen in der Hand!«

»Ich werde mir schon Gedanken über die Stadt machen«, sagte Caramon. Er ging in den Korridor davon und versuchte dabei, ohne viel Erfolg, die blassen, glühenden Augen zu übersehen, die dicht an seiner Schulter schwebten.

Raistlin blieb stehen und beobachtete seinen Bruder und den Wächter, bis sie aus dem magischen Lichtkreis des Stabes verschwunden und von der Dunkelheit verschluckt waren. Er wartete noch, bis sich das Echo der schweren Schritte seines Bruders verlor, dann kehrte er in das Arbeitszimmer zurück.

Crysania saß auf einem Stuhl und versuchte erfolglos, mit den Fingern ihr wirres Haar zu kämmen. Raistlin ging lautlos über den Boden, um neben sie zu treten, ohne daß sie es merkte, griff in eine Tasche seiner Roben und zog eine Handvoll feinen weißen Sand hervor. Als er hinter ihr stand, hob er die Hand und ließ den Sand über das dunkle Haar der Frau rieseln.

»Ast tasark simiralan krynawi«, flüsterte Raistlin, und fast unverzüglich ließ Crysania den Kopf sinken, ihre Augen schlossen sich, und sie sank in einen tiefen magischen Schlaf. Er stellte sich vor sie und starrte sie lange an.

Obgleich sie ihr tränen- und blutverschmiertes Gesicht gewaschen hatte, waren die Zeichen der Reise durch die Dunkelheit an den Schatten unter ihren langen Wimpern, an einem Schnitt an ihrer Lippe und an ihrer blassen Hautfarbe sichtbar. Raistlin streckte die Hand aus und strich behutsam das Haar zurück, das in dunklen Strähnen über ihre Augen fiel.

Crysania hatte, als das Zimmer von dem Feuer erwärmt war, den Samtvorhang zur Seite geworfen, den sie als Decke benutzt hatte. Ihre weißen Roben, zerrissen und blutbeschmiert, hatten sich um ihren Hals gelöst.

Raistlin konnte die weichen Kurven ihres Busens unter dem weißen Stoff sehen. »Wäre ich wie andere Männer, würde sie mir gehören«, sagte er leise. Seine Hand verweilte dicht an ihrem Gesicht, ihr dunkles, lockiges Haar kräuselte sich um seine Finger. »Aber ich bin nicht wie andere Männer«, murmelte er und zog den Samtvorhang um ihre Schultern.

Crysania lächelte im Traum.

Als Raistlins Hand über die glatte Haut ihres Gesichtes strich, kamen ihm lebhafte Erinnerungen. Er begann zu zittern. Am liebsten hätte er den Schlafzauber rückgängig gemacht, sie in seine Arme genommen, sie gehalten, so wie er sie gehalten hatte, als er den Zeitreisezauber geworfen hatte, der sie zu diesem Ort gebracht hatte. Sie wären eine Stunde allein gewesen, bevor Caramon zurückkehrte... »Ich bin nicht wie andere Männer!« knurrte er und ging davon; sein mürrischer Blick begegnete den wachsamen Augen der Wächter. »Wacht über sie, während ich fort bin«, sagte er zu mehreren halb unsichtbaren, schwebenden Geistern, die im Schatten einer Ecke des Arbeitszimmers lauerten. »Ihr zwei«, befahl er den beiden, die bei ihm gewesen waren, als er wach wurde, »begleitet mich.«

»Ja, Meister«, murmelten sie. Als das Licht des Stabs auf sie fiel, wurden die Umrisse von schwarzen Roben sichtbar.

Als Raistlin in den Korridor trat, verschloß er sorgfältig die Tür zum Arbeitszimmer hinter sich. Er klammerte sich an den Stab, sprach leise einen Befehl und wurde unverzüglich in das Laboratorium oben im Turm der Erzmagier befördert.

Er hatte noch nicht einen Atemzug getan und materialisierte sich gerade aus der Dunkelheit, als er angegriffen wurde.

Zorniges Gekreisch und Geheul ertönte um ihn. Dunkle Formen schossen aus der Luft, trotzten dem Licht des Stabes, während knochenweiße Finger nach seiner Kehle griffen, seine Roben packten und den Stoff zerrissen.

Raistlin schwang den Stab in einen weiten Bogen und schrie heisere Worte der Magie, um die Geister zurückzutreiben. »Sprecht zu ihnen!« befahl er den zwei Wächtern, die bei ihm waren. »Sagt ihnen, wer ich bin!«

»Fistandantilus«, hörte er sie durch ein Tosen in seinen Ohren sagen, »obgleich seine Zeit noch nicht gekommen ist, wie vorhergesagt wurde...«

Geschwächt taumelte Raistlin zu einem Stuhl und ließ sich auf ihn fallen. Sich bitter verfluchend, daß er auf den Angriff nicht vorbereitet gewesen war, und seinen zerbrechlichen Körper verwünschend, der ihn im Stich ließ, wischte er Blut von einer Schnittwunde in seinem Gesicht und rang darum, das Bewußtsein nicht zu verlieren.

Das ist dein Tun, meine Königin! Seine Gedanken kamen durch einen Schmerzensnebel. Du wagst nicht, mich offen zu bekämpfen. Ich bin zu stark für dich auf dieser meiner Existenzebene. Du hast bereits den Fuß auf diese Welt gesetzt. Gerade jetzt erscheint der Tempel in seiner entstellten Form in Neraka. Du hast die bösen Drachen geweckt. Sie stehlen die Eier der guten Drachen. Aber die Tür bleibt verschlossen, der Grundstein wird durch eine sich selbst aufopfernde Liebe blockiert. Und das war dein Fehler. Denn jetzt, durch dein Eintreten auf unsere Ebene, hast du es uns ermöglicht, deine zu betreten! Ich kann dich noch nicht erreichen, du kannst mich nicht erreichen... Aber die Zeit wird kommen...

»Geht es dir nicht gut, Meister?« ertönte eine verängstigte Stimme neben ihm. »Es tut mir leid, daß wir sie nicht davon abbringen konnten, dir zu schaden, aber du hast dich zu schnell bewegt! Bitte, verzeih uns. Laß uns dir helfen...«

»Ihr könnt nichts tun!« fauchte Raistlin und hustete. Er fühlte den Schmerz in seiner Brust nachlassen. »Laßt mich in Frieden, laßt mich ausruhen! Vertreibt diese anderen von hier!«

»Ja, Meister.«

Raistlin schloß die Augen und wartete darauf, daß der fürchterliche Schwindel und Schmerz aufhörte. Er saß eine Stunde in der Dunkelheit und ging seine Pläne durch. Er brauchte zwei Wochen der ungestörten Ruhe und des Studiums, um sich vorzubereiten. Diese Zeit würde er hier mühelos finden. Crysania gehörte ihm – sie würde ihm bereitwillig folgen und die Macht Paladins herabflehen, ihr beim Öffnen des Portals zu helfen und ihre schauderhaften Wächter zu bekämpfen.

Er verfügte über das Wissen von Fistandantilus, über das jahrhundertelang angehäufte Wissen des Magiers. Zusätzlich hatte er sein eigenes Wissen und die Stärke seines jüngeren Körpers. Wenn er zum Eintreten bereit war, hatte er den Gipfel seiner Kräfte erreicht – er war dann der größte Erzmagier, der jemals auf Krynn gelebt hatte!

Der Gedanke tröstete ihn und verlieh ihm erneute Energie. Der Schwindel löste sich schließlich auf, und der Schmerz schwand. Er erhob sich und warf einen schnellen Blick in das Laboratorium. Er erkannte es natürlich. Es sah genauso aus, wie er es damals in einer Vergangenheit betreten hatte, die jetzt zweihundert Jahre in der Zukunft lag. Dann würde er mit Macht kommen – wie vorausgesagt. Die Tore würden sich öffnen, die Wächter würden ihn ehrfürchtig grüßen und nicht angreifen.

Als er mit dem Stab des Magus in der Hand durch das Laboratorium ging, sah er sich neugierig um. Er bemerkte seltsame, verwirrende Veränderungen. Alles sollte genau so sein wie in der Zeit, wenn er zweihundert Jahre später eintreffen würde. Aber ein jetzt unversehrter Rechner war zerbrochen gewesen, als er ihn gefunden hatte. Ein Zauberbuch, das nun auf dem großen Steintisch ruhte, hatte er auf dem Boden entdeckt.

»Bringen die Wächter Dinge in Unordnung?« fragte er die zwei, die bei ihm waren. Seine Roben raschelten um seine Knöchel, als er zum äußersten Ende des riesigen Laboratoriums ging, zu der Tür, die niemals offen stand.

»O nein, Meister«, sagte einer schockiert. »Uns ist nicht gestattet, etwas anzurühren.«

Raistlin zuckte die Achseln. In zweihundert Jahren konnte eine Menge passieren. Vielleicht ein Erdbeben, sagte er sich und verlor das Interesse an dieser Angelegenheit, als er den Schatten erreichte, der von dem riesigen Portal geworfen wurde.

Den Stab des Magus erhebend, ließ er das magische Licht über seinem Kopf leuchten. Die Schatten flüchteten in die weitentlegene Ecke des Laboratoriums, die Ecke, wo sich das Portal mit seinen Platinschnitzereien der fünf Drachenköpfe und seiner riesigen Silberstahltür befand, die sich von keinem Schlüssel auf Krynn aufschließen ließ.

Raistlin hielt den Stab hoch.

Lange Zeit konnte er lediglich starren, sein Atem kam pfeifend, seine Gedanken glühten und brannten. Dann riß sich sein schriller Schrei schäumenden Zornes durch die lebende Dunkelheit des Turms.

So furchterregend war der Schrei, der durch die dunklen Korridore des Turms hallte, daß die bösen Wächter in ihre Schatten zurückwichen und sich fragten, ob vielleicht ihre gefürchtete Königin angekommen sei.

Caramon hörte den Schrei, als er an die Tür unten am Turm trat. Vor plötzlichem Entsetzen erbebend, ließ er die Pakete fallen, die er trug, und mit zitternden Händen zündete er eine Fackel an, die er mitgebracht hatte. Mit der blanken Klinge seines neuen Schwertes in der Hand eilte der große Krieger die Stufen hinauf und nahm immer zwei auf einmal. Er stürzte in das Arbeitszimmer und sah Crysania, die sich ängstlich umblickte.

»Ich habe einen Schrei gehört...«, sagte sie, rieb sich die Augen und erhob sich.

»Ist alles mit dir in Ordnung?« keuchte Caramon.

»Ja«, sagte sie mit einem verwirrten Blick, als sie erkannte, was er gedacht hatte. »Ich war es nicht. Ich muß eingeschlafen sein. Ich bin von dem Geschrei wach geworden...«

»Wo ist Raist?« herrschte Caramon sie an.

»Raistlin?« wiederholte sie beunruhigt.

»Darum hast du geschlafen«, sagte er grimmig und strich feines, weißes Pulver aus ihrem Haar. »Schlafzauber.«

Crysania blinzelte. »Aber warum...«

»Das werden wir herausfinden.«

»Krieger«, sagte eine kalte Stimme fast in seinem Ohr.

Caramon wirbelte herum und hob sein Schwert, als eine Geistergestalt sich aus der Dunkelheit materialisierte.

»Du suchst den Zauberer? Er ist oben im Laboratorium. Er benötigt Beistand, und uns wurde befohlen, ihn nicht zu berühren.«

»Ich gehe«, sagte Caramon, »allein.«

»Ich komme mit dir«, sagte Crysania.

Caramon wollte Einwände erheben, aber als er sich dann erinnerte, daß sie eine Klerikerin Paladins war, zuckte er die Schultern und gab, wenn auch widerwillig, nach.

»Was ist mit ihm geschehen, wenn euch befohlen wurde, ihn nicht zu berühren?« fragte Caramon die Geistererscheinung schroff, als er und Crysania ihr aus dem Arbeitszimmer in den dunklen Korridor folgten. »Bleib dicht bei mir«, murmelte er Crysania zu.

Wenn die Dunkelheit zuvor lebendig zu sein schien, so pochte und pulsierte sie jetzt vor Leben, als die Wächter, aufgebracht durch den Schrei, durch die Korridore drängten. Obgleich er inzwischen warm angezogen war, da er auf dem Markt Kleidung gekauft hatte, zitterte Caramon krampfhaft von der Eiseskälte, die aus den untoten Körpern strömte.

Neben ihm schüttelte sich Crysania so, daß sie kaum laufen konnte. »Laß mich die Fackel halten«, sagte sie.

Caramon reichte ihr die Fackel, dann legte er seinen rechten Arm um sie. Beide fanden Trost in der Berührung, als sie hinter der Geistererscheinung die Stufen hinaufstiegen.

»Was ist geschehen?« fragte Caramon wieder, aber der Geist gab keine Antwort. Er zeigte lediglich auf die Wendeltreppe.

Sein Schwert in der linken Hand haltend, folgte Caramon mit Crysania dem Geist, der die Stufen hochschwebte; das Licht der Fackel tanzte und flackerte.

Nach einer scheinbar endlosen Kletterei erreichten die zwei die Spitze des Turms der Erzmagier.

»Wir müssen uns ausruhen«, sagte Caramon.

Crysania lehnte sich an ihn, ihre Augen waren geschlossen, ihr Atem kam mühsam: »Wo ist Raist – Fistandantilus?« stammelte sie, als sie wieder halbwegs normal atmen konnte.

»Hier drin.« Der Geist zeigte auf eine geschlossene Tür. Diese öffnete sich lautlos.

Kalte Luft strömte in einer dunklen Welle aus dem Zimmer, zerzauste Caramons Haar und wirbelte Crysanias Umhang beiseite. Einen Augenblick konnte sich Caramon nicht rühren. Das Gefühl des Bösen, das aus dieser Kammer kam, war überwältigend. Aber Crysania, die ihre Hand entschlossen um das Medaillon von Paladin hielt, begann weiterzugehen.

Caramon zog sie zurück. »Laß mich zuerst gehen.«

Crysania lächelte ihn erschöpft an. »In jeder anderen Situation, Krieger«, sagte sie, »würde ich dir dieses Vorrecht einräumen. Aber hier ist das Medaillon in meiner Hand eine ebenso furchteinflößende Waffe wie dein Schwert.«

»Ihr habt überhaupt keine Waffe nötig«, bemerkte der Geist kalt. »Der Meister hat uns befohlen, Sorge zu tragen, daß euch nichts zustößt. Wir gehorchen seinem Wunsch.«

»Was ist, wenn er tot ist?« fragte Caramon, der spürte, wie sich Crysania vor Angst versteifte.

»Wenn er tot wäre«, erwiderte der Geist mit glänzenden Augen, »wäre euer warmes Blut schon längst an unseren Lippen. Tretet nun ein!«

Zögernd betrat Caramon das Laboratorium; Crysania war dicht an seiner Seite. Sie hob die Fackel, und beide sahen sich um.

»Dort«, flüsterte Caramon. Die angeborene Verbundenheit der Zwillinge führte ihn zu der dunklen Gestalt, die kaum sichtbar auf dem Boden im hinteren Teil des Laboratoriums lag.

Ihre Angst vergessend, eilte Crysania voran, während Caramon langsamer folgte; seine Augen durchforschten wachsam die Dunkelheit.

Raistlin lag auf der Seite, seine Kapuze war über sein Gesicht gezogen. Der Stab des Magus lag etwas entfernt von ihm, sein Licht war erloschen, als ob Raistlin ihn im bitteren Zorn von sich geschleudert hätte. Dabei war offensichtlich ein Becher zerbrochen und ein Zauberbuch auf den Boden geworfen worden.

Crysania überreichte Caramon die Fackel, kniete sich zu dem Magier und fühlte seinen Puls. Er war schwach und unregelmäßig, aber Raistlin lebte. Sie seufzte vor Erleichterung auf, dann schüttelte sie den Kopf. »Es geht ihm gut. Aber was ist mit ihm geschehen?«

»Er ist körperlich unversehrt«, erklärte der Geist, der in ihrer Nähe schwebte. »Er kam zu diesem Teil des Laboratoriums, als ob er etwas suchte. Er murmelte etwas von einem Portal. Den Stab hochhaltend, stand er dort, wo er jetzt liegt, und starrte geradeaus. Dann schrie er auf, schleuderte den Stab von sich und fiel auf den Boden. Er fluchte vor Zorn so lange, bis er das Bewußtsein verlor.«

Verwirrt hielt Caramon die Fackel hoch. »Ich frage mich, was passiert sein könnte«, murmelte er. »Nun, hier ist nichts. Nichts außer einer nackten, kahlen Wand!«

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