7

»Ich bin tot«, sagte Tolpan Barfuß. Einen Augenblick verharrte er erwartungsvoll. »Ich bin tot«, sagte er wieder. »Das muß das Leben nach dem Tod sein.« Wieder verstrich kurze Zeit. »Nun«, sagte er, »eins kann ich jedenfalls sagen – es ist auf alle Fälle dunkel.«

Es passierte immer noch nichts. Tolpans Interesse am Totsein begann zu schwinden. Er lag, wie er herausfand, mit dem Rücken auf etwas äußerst Hartem und Ungemütlichem, Kaltem und Steinigem. »Vielleicht liege ich auf einer Marmorplatte wie Huma«, sagte er. »Autsch!« Er spürte einen stechenden Schmerz in den Rippen und gleichzeitig einen im Kopf. Allmählich wurde ihm auch bewußt, daß er zitterte, ein scharfer Stein in seinen Rücken stach und er einen steifen Hals hatte.

»Nun, so etwas habe ich bestimmt nicht erwartet«, sagte er gereizt. »Ich meine, nach allem, was man hört, soll man, wenn man tot ist, nichts spüren.« Er sagte das ganz laut, für den Fall, daß jemand zuhörte. »Verdammt!« brummte er. »Vielleicht bin ich tot, und es hat sich noch nicht in meinem ganzen Körper herumgesprochen. Ich bin sicherlich noch nicht steif, und ich bin mir sicher, daß das eintritt. Ich warte also einfach weiter.«

Tolpan drehte sich in eine gemütlichere Lage, nachdem er den Stein unter seinem Rücken entfernt hatte, legte die Hände über die Brust und starrte in die undurchdringliche Dunkelheit. Nach einigen Minuten runzelte er die Stirn. »Wenn das Totsein so ist, dann steht fest, daß es auch nicht das Wahre ist«, bemerkte er streng. »Und jetzt bin ich nicht nur tot, sondern auch noch gelangweilt. Nun«, sagte er nach einigen weiteren Augenblicken, in denen er in die Dunkelheit starrte, »ich vermute, gegen das Totsein kann ich nicht viel ausrichten, aber gegen die Langeweile. Ich muß mich einfach nur mit jemandem darüber unterhalten.«

Er setzte sich auf und entdeckte, daß er offenbar auf einem Steinboden lag. »Wie primitiv!« bemerkte er beleidigt. »Warum mich nicht gleich in irgendeinem Wurzelkeller abladen!« Er stolperte auf die Füße, tat einen Schritt nach vorne und stieß gegen etwas Hartes und Festes. »Ein Stein«, stellte er düster fest, als er mit seinen Händen darüberfuhr. »Pah! Flint stirbt und bekommt einen Baum! Ich sterbe und bekomme einen Stein. Es ist klar, daß jemand alles vermasselt hat. He!« schrie er und tastete sich in der Dunkelheit herum. »Ist jemand... Na so was! Ich habe immer noch meine Beutel! Sie haben mich alles mitnehmen lassen, sogar das magische Gerät. Zumindest war das taktvoll. Dennoch«, Tolpans Lippen strafften sich entschlossen, »jemand sollte etwas gegen diesen Schmerz unternehmen. Damit werde ich mich auf keinen Fall abfinden.«

Da er in der Dunkelheit nichts erkennen konnte, tastete Tolpan neugierig über den großen Stein. Er schien mit geschnitzten Bildern verziert zu sein – vielleicht Runen? Und das kam ihm vertraut vor. Auch die Form des riesigen Steins war merkwürdig. »Es ist überhaupt kein Stein! Es ist anscheinend ein Tisch«, sagte er verwirrt. »Ein Steintisch mit Runen...« Dann kehrte seine Erinnerung zurück. »Ich weiß!« rief er triumphierend.

»Das ist der große Steintisch im Laboratorium, in das ich gelaufen bin, um Raistlin, Caramon und Crysania aufzuspüren, und wo ich herausgefunden habe, daß sie alle verschwunden waren und mich zurückgelassen hatten. Ich stand dort, als das feurige Gebirge direkt auf mich fiel. In der Tat ist das der Ort, an dem ich gestorben bin.«

Er fühlte an seinem Hals. Ja, das Eisenband war immer noch da – das Band, das sie ihm angelegt hatten, als er als Sklave verkauft wurde. Sich weiter durch die Dunkelheit tastend, trat er auf etwas. Er griff nach unten und schnitt sich an etwas Scharfem. »Caramons Schwert«, sagte er, als er den Griff befühlte. »Ich erinnere mich. Und das bedeutet«, sagte Tolpan mit wachsender Entrüstung, »daß sie mich nicht einmal begraben haben! Sie haben meinen Körper einfach dort liegen gelassen, wo ich gestorben bin. Ich bin im Keller dieses zerstörten Tempels.« Grübelnd saugte er an seinem blutenden Finger. Ein Gedanke kam ihm. »Und vermutlich haben sie auch noch entschieden, daß ich hinlaufen soll, wo das auch ist, wo ich im Leben nach dem Tod hinlaufen soll. Sie haben sich nicht einmal um Transportmittel gekümmert. Jetzt reicht es mir aber wirklich!« Er erhob seine Stimme zu einem Schrei. »Hört zu!« rief er und schüttelte seine kleine Faust. »Ich will mit der verantwortlichen Person reden, egal, wer das ist!«

Aber es kam keine Antwort.

»Kein Licht«, brummte er, als er wieder über etwas fiel. »Im Keller eines zerstörten Tempels festhängen – tot! Wahrscheinlich am Grund des Blutmeeres von Istar... Nun«, sagte er, »vielleicht treffe ich ein paar Meerelfen, von denen Tanis mir erzählt hat. Aber nein, ich bin tot, und dann kann man nicht, so weit ich in der Lage bin, das zu verstehen, Leute treffen. Soweit man kein Untoter wie Fürst Soth ist.«

Tolpan rappelte sich wieder auf und schaffte es, dorthin zu kommen, wo er den vorderen Teil des Zimmers unter dem Tempel vermutete. Er dachte gerade über das Blutmeer von Istar nach und wunderte sich über das fehlende Wasser, als ihm plötzlich etwas anderes einfiel. »O je!« murmelte er. »Der Tempel ist nicht im Blutmeer untergetaucht! Er wurde nach Neraka gebracht! Ich war doch in dem Tempel, als ich die Königin der Finsternis besiegte.«

Er erreichte den Türeingang – und spähte in die Dunkelheit. »Neraka«, sagte er und fragte sich, ob das besser oder schlechter war, als sich am Grunde eines Meeres zu befinden.

Vorsichtig tat er einen Schritt nach vorne und spürte etwas unter seinem Fuß. Er streckte seine kleine Hand aus, sie schloß sich um etwas – »Eine Fackel! Das muß diejenige über dem Türeingang gewesen sein. Nun, irgendwo habe ich doch eine Zunderbüchse.« Er wühlte sich durch mehrere Beutel und fand schließlich eine. »Seltsam«, sagte er, als er sich im Korridor umschaute, während die Fackel im Licht erstrahlte. »Es sieht genauso aus, wie ich es verlassen habe – alles zerbrochen und zerstört nach dem Erdbeben. Man könnte doch annehmen, daß die Königin alles ein bißchen aufgeräumt hätte. Ich erinnere mich nicht, daß es so unordentlich war, als ich damals im Tempel in Neraka war. Ich frage mich, wie man hier rauskommt.«

Er sah zu den Stufen, die er auf seiner Suche nach Crysania und Raistlin hinuntergestiegen war. Lebhafte Erinnerungen an berstende Wände und einstürzende Säulen kamen ihm. »Das ist nicht gut, das steht fest«, murmelte er und schüttelte den Kopf. »Aber das war der einzige Weg nach draußen, soweit ich mich erinnere.« Er seufzte. Aber seine für Kender typische Fröhlichkeit gewann bald die Oberhand. »Es gibt sicherlich eine Menge von Spalten in den Wänden. Vielleicht bietet sich da eine Möglichkeit.«

Er trat langsam in den Korridor hinaus und überprüfte sorgfältig jede Wand, ohne etwas Vielversprechendes zu sehen, bis er das Ende des Flurs erreichte. Hier entdeckte er einen Spalt im Marmor, der, anders als die anderen, eine tiefere Öffnung aufwies.

Nur ein Kender konnte sich durch diesen Spalt quetschen, und selbst für Tolpan war er knapp bemessen. »Ich kann lediglich sagen, daß Totsein eine Menge Ärger bedeutet!« brummte er, während er sich durch den Spalt zwängte und sich ein Loch in seine blaue Hose riß. Einer seiner Beutel verfing sich an einem Stein, und er mußte anhalten und an ihm ziehen, bis er endlich frei war. Dann wurde der Spalt so eng, daß er sich überhaupt nicht mehr sicher war, daß er es schaffen würde. Er nahm seine Beutel ab, hielt sie und die Fackel über seinen Kopf, und nachdem er seinen Atem angehalten hatte, schlängelte er sich weiter durch. Aber alles tat ihm weh, ihm war heiß, und er war schlechter Laune.

Er verschnaufte kurz, um wieder Atem zu schöpfen und seine Beutel zu sortieren, und war entschieden froh, als er am anderen Ende des Spaltes Licht erspähte. Er leuchtete mit der Fackel umher und entdeckte, daß der Spalt breiter wurde. Er setzte seinen Weg fort und erreichte bald das Ende, die Quelle des Lichts.

Als er die Öffnung erreichte, spähte er hinaus, holte tief Luft und sagte: »Das entspricht eher dem, was ich mir vorgestellt habe!«

Solch eine Landschaft hatte er noch nie in seinem Leben gesehen. Sie war flach und öde, erstreckte sich immer weiter und ging schließlich in einen riesigen, leeren Himmel über, der von einer seltsamen Glut erleuchtet war, als ob die Sonne gerade untergegangen wäre oder ein Feuer in der Ferne brennt. Aber der ganze Himmel hatte eine seltsame Farbe, auch über ihm. Und trotz dieser Helligkeit war alles in Dunkelheit getaucht. Das Land schien aus schwarzem Papier geschnitten und unter den schaurig aussehenden Himmel geklebt zu sein. Und der Himmel selbst war leer – keine Sonne, keine Monde, keine Sterne. Nichts.

Tolpan tat vorsichtig einen oder zwei Schritte nach vorne. Der Boden fühlte sich nicht anders an als jeder andere Boden. Nur wies er die gleiche Farbe wie der Himmel auf, wie er beim Laufen bemerkte. Nach einigen weiteren Schritten hielt er an, um zu den Ruinen des großen Tempels zurückzublicken.

»Beim Barte des großen Reorx!« keuchte Tolpan und ließ fast seine Fackel fallen. Hinter ihm war nichts! Was es auch war, aus dem er gekommen war, es war verschwunden! Der Kender drehte sich im Kreis herum. Nichts war vor ihm, nichts hinter ihm, nichts, egal, in welche Richtung er sah.

»Das kann nicht das Leben nach dem Tod sein«, sagte der Kender jämmerlich. »Das kann nicht stimmen! Es muß ein Fehler vorliegen. He, ich sollte hier doch Flint treffen! Das hat Fizban gesagt. Fizban war wohl bei den anderen Dingen ein wenig durcheinander, aber bei diesem Punkt schien er nicht durcheinander zu sein!... Mal sehen – wie war das noch mal? Da ist ein großer Baum, ein wunderschöner Baum, und unter ihm sitzt ein mürrischer, alter Zwerg, der Holz schnitzt und – He! Da ist ja ein Baum! Nun, woher kommt der denn plötzlich?«

Der Kender blinzelte vor Verblüffung. Vor ihm, wo einen Augenblick zuvor nichts gewesen war, stand nun ein großer Baum. »Nicht genau meine Vorstellung von einem wunderschönen Baum«, murrte Tolpan, als er auf ihn zuging und bemerkte, daß der Boden eine merkwürdige Angewohnheit entwickelt hatte, nämlich zu versuchen, unter seinen Füßen wegzugleiten. »Aber Fizban hatte einen komischen Geschmack und, wenn wir schon dabei sind, Flint auch.«

Er näherte sich dem Baum, der schwarz – wie alles andere auch —, verkrümmt und zusammengekauert wie eine Hexe war, die er einmal gesehen hatte. Er trug keine Blätter. »Dieses Ding ist mindestens hundert Jahre alt!« Tolpan rümpfte die Nase. »Wenn Flint denkt, daß ich mein Leben nach dem Tod verbringe, indem ich mit ihm unter einem toten Baum sitze, muß er sich schon etwas anderes ausdenken. Ich... He, Flint!« schrie der Kender, als er an den Baum herantrat und sich umsah. »Flint, wo bist du? Ich... Oh, da bist du ja«, sagte er, als er eine kurze, bärtige Gestalt auf der anderen Seite des Baumes sitzen sah. »Fizban hat mir gesagt, daß ich dich hier finde. Ich wette, du bist überrascht, mich zu sehen! Ich...«

Der Kender ging um den Baum, dann blieb er stehen. »Donnerwetter«, schrie er wütend, »du bist nicht Flint, sondern Arak!« Er taumelte zurück, als der Zwerg, der der Meister der Spiele in Istar gewesen war, plötzlich den Kopf wandte und ihn mit einem so bösartigen Grinsen in dem entstellten Gesicht ansah, daß das Blut des Kenders gefror – eine ungewöhnliche Empfindung; er konnte sich nicht erinnern, so etwas erlebt zu haben.

Aber bevor er Zeit hatte, sich darüber Gedanken zu machen, sprang der Zwerg auf die Füße und stürzte sich mit einem Knurren auf den Kender.

Mit einem Aufschrei schwang Tolpan seine Fackel, um Arak zurückzuhalten, während er mit seiner anderen Hand nach dem kleinen Messer an seinem Gürtel suchte. Aber gerade als er sein Messer hervorzog, verschwand Arak. Der Baum verschwand. Wieder stand Tolpan inmitten des Nichts unter dem feuerhellen Himmel. »In Ordnung«, sagte er, und ein leises Beben schlich sich in seine Stimme, obgleich er sein Bestes tat, es zu verbergen. »Ich finde das alles gar nicht lustig. Es ist erbärmlich und entsetzlich, und auch wenn Fizban mir nicht genau versprochen hat, daß das Leben nach dem Tod eine niemals endende Party ist, bin ich mir sicher, daß er so etwas nie im Sinn hatte!« Er drehte sich mit gezogenem Messer langsam um und hielt die Fackel nach vorne. »Ich weiß, ich war nie besonders religiös«, fügte Tolpan schniefend hinzu, sah in die düstere Landschaft und versuchte, seine Füße auf dem unheimlichen Boden zu halten, »aber ich denke schon, daß ich ein recht gutes Leben geführt habe. Und ich habe die Königin der Finsternis besiegt. Natürlich mit ein wenig Hilfe«, ergänzte er, »und ich bin ein persönlicher Freund von Paladin und...«

»Im Namen Ihrer Dunklen Majestät«, ertönte eine leise Stimme hinter ihm, »was tust du hier?«

Tolpan sprang in die Luft – ein sicheres Zeichen, daß er völlig entnervt war – und wirbelte herum. Dort, wo einen Augenblick zuvor nichts gewesen war, stand eine Gestalt, die ihn stark an einen Kleriker Paladins, Elistan, erinnerte; nur trug diese Gestalt schwarze klerikale Roben statt weiße, und um seinen Hals hing statt des Medaillons von Paladin das Medaillon des Fünfköpfigen Drachen.

»Verzeihung, Herr«, stammelte Tolpan, »aber ich bin mir nicht so sicher, was ich hier tue. Ich bin mir überhaupt nicht sicher, wo hier ist, um die Wahrheit zu sagen, und – oh, nebenbei, mein Name ist Tolpan Barfuß.« Er streckte höflich seine kleine Hand aus. »Wie heißt du?«

Aber die Gestalt übersah die Hand des Kenders, warf ihre schwarze Kapuze zurück und trat einen Schritt näher. Tolpan war ziemlich erschrocken, langes eisengraues Haar unter der Kapuze hervorfließen zu sehen; ein langer grauer Bart schien plötzlich aus dem Gesicht hervorzusprießen.

»Donnerwetter, das ist recht... bemerkenswert«, stotterte Tolpan; sein Mund war sperrangelweit geöffnet. »Wie hast du das geschafft? Vermutlich kannst du mir das nicht sagen, aber was hast du gesagt, wo ich bin? Du siehst...« Die Gestalt trat einen weiteren Schritt näher. »Ich... ich bin tot«, fuhr Tolpan fort und versuchte zurückzuweichen, aber aus einem unerklärlichen Grund hinderte ihn etwas daran, »und... übrigens« – Empörung machte sich immer besser als Angst – »bist du hier verantwortlich? Weil ich nämlich finde, daß die Sache mit dem Tod hier nicht gut gehandhabt wird. Ich bin verletzt!« sagte Tolpan und funkelte die Gestalt anklagend an. »Mein Kopf schmerzt und meine Rippen auch. Und dann mußte ich den ganzen Weg laufen, vom Keller des Tempels...«

Die Gestalt hielt nun an, nur einige Zentimeter von Tolpan entfernt. Ihr graues Haar schwebte umher, als ob es von einem heißen Wind berührt würde. Tolpan konnte nun erkennen, daß die Augen die gleiche rote Farbe wie der Himmel hatten, das Gesicht war grau wie Asche.

»Ja!« Tolpan schluckte. Abgesehen von allem anderen verbreitete die Gestalt auch noch den entsetzlichsten Gestank. »Ich... ich folgte Crysania, und sie folgte Raistlin und...«

»Raistlin!« Die Gestalt sprach den Namen in einen Tonfall aus, daß Tolpans Haar buchstäblich zu Berge stand. »Komm mit!«

Die Hand der Gestalt, eine höchst merkwürdig aussehende Hand, schloß sich um Tolpans Handgelenk.

»Aua!« quietschte Tolpan, als der Schmerz durch seinen Arm schoß. »Du tust mir weh...«

Aber die Gestalt schenkte ihm keine Beachtung. Sie schloß ihre Augen, wie in tiefer Konzentration verloren, hielt den Kender in festem Griff, und der Boden um ihn begann sich plötzlich zu heben und zu senken. Der Kender war erstaunt, als die Landschaft selbst in eine schnelle, fließende Bewegung geriet. »He«, sagte er leise, »was hast du gesagt, wo ich bin?«

»Du bist in der Hölle«, antwortete die Gestalt mit Grabesstimme.

»O je«, sagte Tolpan kummervoll, »ich habe nicht gedacht, daß ich so schlecht war. Das ist also die Hölle. Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich dir sage, daß ich fürchterlich enttäuscht bin. Ich habe immer vermutet, die Hölle sei ein faszinierender Ort. Aber das ist sie nicht, nicht im geringsten. Es ist hier furchtbar langweilig und häßlich, und, ich will ja nicht grob sein, aber hier ist ein höchst merkwürdiger Geruch. Was hast du gesagt, wohin wir gehen?«

»Du wolltest die verantwortliche Person sprechen«, entgegnete die Gestalt, und ihre Knochenhand schloß sich um das Medaillon an ihrem Hals.

Die Landschaft veränderte sich. Es war, als erschiene jede Stadt, in der sich Tolpan aufgehalten hatte, und dann war sie es doch wieder nicht. Er konnte nichts sehen und hören, dennoch waren um ihn Geräusche und Bewegung.

Tolpan starrte auf die Gestalt neben sich, auf die sich bewegenden Ebenen, die sich im Jenseits oder über und unter ihm befanden, und er war völlig sprachlos.

Wenn jeder Kender auf dem Antlitz Krynns aufgefordert werden würde, die Plätze, die er am liebsten besuchen würde, aufzulisten, würde die Existenzebene, auf der die Königin der Finsternis lebte, auf vielen Listen zumindest an dritter Stelle rangieren. Aber nun war Tolpan Barfuß hier und stand im Warteraum der großen und schrecklichen Königin, befand sich an einem der interessantesten Plätze, die Menschen und Kendern bekannt waren, und er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie unglücklicher gefühlt.

Erstens war das Zimmer, in dem er bleiben sollte, wie der grauhaarige, schwarzgekleidete Kleriker ihm befohlen hatte, völlig leer. Es gab keine Tische mit interessanten kleinen Gegenständen, es gab keine Stühle, es gab nicht einmal Wände! In der Tat wußte er überhaupt nur, daß er sich in einem Zimmer befand, weil der Kleriker ihn angewiesen hatte, »im Wartezimmer zu bleiben«, und Tolpan plötzlich spürte, daß er in einem Zimmer war.

Aber soweit er es beurteilen konnte, stand er im völligen Nichts. Er war sich nicht einmal im klaren, wo es nach oben oder nach unten ging. Alles sah gleich aus – eine unheimliche, glühende, flammengleiche Farbe.

Er versuchte sich zu trösten, indem er sich immer wieder sagte, daß er die Dunkle Königin kennenlernen würde. Er rief sich Geschichten ins Gedächtnis, die ihm Tanis über seine Begegnung mit der Königin im Tempel von Neraka erzählt hatte.

»Ich war von unermeßlicher Dunkelheit umgeben«, hatte Tanis gesagt, und obgleich das Erlebnis schon Monate zurücklag, zitterte seine Stimme immer noch, »aber es schien sich mehr um eine Dunkelheit meiner eigenen Vorstellung zu handeln als um eine tatsächliche, körperliche Erscheinung. Ich konnte nicht atmen. Dann hob sich die Dunkelheit, und sie sprach zu mir, obgleich sie kein Wort sagte. Ich hörte sie in meinem Geist. Und ich sah sie in all ihren Gestalten – dem Fünfköpfigen Drachen, der Finsteren Kriegerin, der Schwarzen Verführerin der Nacht —, denn sie war auf der Welt noch nicht vollständig da. Sie hatte noch nicht die Kontrolle gewonnen.«

Tolpan erinnerte sich, wie Tanis den Kopf geschüttelt hatte. »Dennoch waren ihre Erhabenheit und ihre Macht groß. Sie ist immerhin eine Göttin, einer der Schöpfer der Welt. Ihre dunklen Augen starrten in meine Seele, und ich konnte nicht anders – ich sank auf die Knie und huldigte ihr...«

Und jetzt würde er, Tolpan Barfuß, die Königin kennenlernen, so wie sie auf ihrer eigenen Existenzebene war – stark und mächtig. »Vielleicht erscheint sie mir als Fünfköpfiger Drache«, sagte sich Tolpan, um sich aufzuheitern. Aber selbst diese wundervolle Aussicht half nicht, obwohl er noch niemals etwas Fünfköpfiges gesehen hatte, geschweige denn bei einem Drachen.

»Ich singe ein bißchen«, sagte er sich, nur um den Klang seiner eigenen Stimme zu hören. »Das hebt im allgemeinen meine Stimmung.«

Er begann das erste Lied zu summen, das ihm in den Sinn kam – eine Hymne an die Morgendämmerung, die Goldmond ihn gelehrt hatte. Er wollte gerade die zweite Strophe anstimmen, als er sich zu seinem Entsetzen bewußt wurde, daß dieses Lied zu ihm zurückhallte – nur waren die Worte jetzt verzerrt und furchterregend...

»Hört auf«, schrie er in das unheimliche Schweigen, das nach dem Lied einsetzte. »Ich habe es nicht so gemeint! Ich...«

Mit erschreckender Plötzlichkeit materialisierte sich der schwarzgekleidete Magier vor Tolpan, schien sich aus der düsteren Umgebung zu schälen. »Ihre Dunkle Majestät will dich jetzt sehen«, sagte er, und bevor Tolpan blinzeln konnte, fand er sich an einem anderen Ort wieder.

Er wußte, daß es ein anderer Ort war, nicht weil er sich einen Schritt bewegt hatte oder weil sich dieser Ort von dem anderen unterschied, sondern weil er spürte, daß er sich woanders befand. Hier war immer noch das gleiche unheimliche Glühen, die gleiche Leere, nur hatte er jetzt den Eindruck, nicht allein zu sein.

Als ihm das klar wurde, sah er einen schwarzen, glatten Holzstuhl erscheinen – mit dem Rücken zu ihm. Auf ihm saß eine schwarzgekleidete Gestalt; eine Kapuze war über ihr Gesicht gezogen.

Tolpan, der dachte, daß der Kleriker ihn an den falschen Ort gebracht hatte, umklammerte nervös seine Beutel und ging vorsichtig um den Stuhl herum, um das Gesicht der Gestalt zu sehen. Oder vielleicht drehte sich der Stuhl um, um sein, Tolpans, Gesicht zu sehen. Der Kender war sich nicht sicher. Aber als sich der Stuhl bewegte, wurde das Gesicht der Gestalt sichtbar.

Tolpan sah nicht einen Fünfköpfigen Drachen. Es war keine riesige Kriegerin in schwarzer, brennender Rüstung. Es war auch nicht die Schwarze Verführerin der Nacht, die Raistlin in seinen Träumen heimgesucht hatte. Es war eine Frau, völlig in Schwarz gekleidet, mit einer schwarzen, engsitzenden Kapuze über dem Haar, die ihr Gesicht einrahmte. Ihre Haut war weiß und glatt und zeitlos, ihre Augen groß und dunkel. Ihre Arme, eingehüllt in engen schwarzen Stoff, ruhten auf den Armlehnen des Stuhls, ihre weißen Hände lagen auf den Enden der Armlehnen.

Der Ausdruck ihres Gesichts war nicht entsetzlich, auch nicht beängstigend; in der Tat trug es überhaupt keinen Ausdruck. Dennoch war sich Tolpan bewußt, daß sie ihn aufmerksam musterte, in seine Seele tauchte, Teile von ihm studierte, von denen er keine Ahnung hatte, daß sie existierten.

»Ich... ich bin Tolpan Barfuß, Majestät«, sagte der Kender und streckte automatisch seine kleine Hand aus. Zu spät erkannte er seinen Fehler und wollte die Hand zurückziehen und sich verbeugen, als er die Berührung von fünf Fingern in seiner Hand spürte. Es war eine kurze Berührung, aber Tolpan hätte genauso gut in eine Handvoll Nesseln greifen können. Fünf stechende Schmerzkurven schossen durch seinen Arm und bohrten sich in sein Herz, ließen ihn aufkeuchen.

Aber so schnell, wie sie ihn berührt hatten, verschwanden sie auch wieder. Er stand auf einmal dicht bei der schönen, blassen Frau, und so mild war der Ausdruck in ihren Augen, daß Tolpan bestimmt bezweifelt hätte, daß sie die Ursache des Schmerzes war, wenn nicht das Zeichen eines fünfzackigen Sterns in seiner Handfläche gewesen wäre.

»Erzähl mir deine Geschichte!«

Schwitzend, seine Beutel nervös umklammernd, machte Tolpan Barfuß an diesem Tag Geschichte – zumindest was das Geschichtenerzählen der Kenderrasse betraf. Er erzählte die gesamte Geschichte seiner Reise nach Istar in weniger als fünf Sekunden. Und jedes Wort stimmte.

»Par-Salian hat mich zufällig mit meinem Freund Caramon in die Vergangenheit zurückgeschickt. Wir wollten Fistandantilus umbringen, mußten aber entdecken, daß es Raistlin war. Darum haben wir es nicht getan. Ich wollte die Umwälzung mit einem magischen Gerät verhindern, aber Raistlin ließ es mich zerbrechen. Ich folgte einer Klerikerin namens Crysania in ein Laboratorium unterhalb des Tempels von Istar, um Raistlin zu finden und ihn zu veranlassen, das Gerät zu reparieren. Die Decke stürzte ein, und ich wurde bewußtlos. Als ich wieder erwachte, hatten sie mich alle verlassen. Dann kam die Umwälzung, und jetzt bin ich tot und wurde in die Hölle geschickt.«

Tolpan holte zitternd Luft und wischte sein Gesicht mit dem Ende seines langen Haarzopfs ab. Dann erkannte er, daß seine letzte Bemerkung wenig schmeichelhaft war, und fügte eilig hinzu: »Nicht, daß ich mich beklagen will, Majestät! Ich bin mir sicher, wer das getan hat, muß einen guten Grund gehabt haben. Immerhin habe ich eine Kugel der Drachen zerstört, und ich glaube mich zu erinnern, daß mir jemand einmal sagte, daß ich etwas genommen hätte, was mir nicht gehöre, und... und ich war gegenüber Flint nicht so respektvoll, wie ich hätte sein sollen, vermute ich, und einmal habe ich aus Spaß Caramons Kleider versteckt, während er ein Bad genommen hat, und er mußte völlig nackt nach Solace gehen. Aber« – Tolpan konnte ein Schniefen nicht unterdrücken – »ich habe Fizban immer geholfen, seinen Hut zu finden!«

»Du bist nicht tot«, sagte die Stimme, »noch bist du hierhergeschickt worden. Du solltest überhaupt nicht hier sein.«

Bei dieser verblüffenden Enthüllung sah Tolpan direkt in die dunklen Augen der Königin. »Bin ich nicht tot?« rief er. Unwillkürlich legte er eine Hand an seinen Kopf, der immer noch schmerzte. »Damit ist das erklärt! Ich war wirklich überzeugt, daß jemand die Sache verpfuscht hat...«

»Kender sind hier nicht erlaubt«, fuhr die Stimme fort.

»Das überrascht mich nicht«, erwiderte Tolpan traurig, der sich wieder wie er selbst fühlte, da er nicht tot war. »Es gibt recht viele Orte auf Krynn, an denen Kender nicht erlaubt sind.«

Die Stimme schien nicht einmal das zu hören. »Als du das Laboratorium von Fistandantilus betreten hast, wurdest du von dem magischen Zauber beschützt, der über dem Platz lag. Das übrige Istar wurde tief unter den Erdboden versenkt, als die Umwälzung erfolgte. Aber ich war in der Lage, den Tempel des Königspriesters zu retten. Wenn ich bereit bin, werde ich auf die Welt zurückkehren, als ich selbst.«

»Aber du wirst nicht gewinnen«, sagte Tolpan, ohne nachzudenken. »Ich... weiß... es«, stotterte er, als die dunklen Augen direkt durch ihn schossen. »Ich war dabei.«

»Nein, du warst nicht dort, denn das ist noch nicht eingetreten. Verstehst du, Kender, indem du Par-Salians Zauber unterbrochen hast, hast du die Veränderung der Zeit ermöglicht. Fistandantilus – oder Raistlin, wie du ihn kennst – hat dir das gesagt. Darum hat er dich in deinen Tod geschickt – das war jedenfalls seine Absicht. Er wollte die Zeit nicht verändert haben. Die Umwälzung war für ihn notwendig, damit er diese Klerikerin Paladins in eine Zeit in der Gegenwart bringen kann, in der er die einzige wahre Klerikerin im ganzen Land hat.«

Tolpan kam es vor, als sähe er zum ersten Mal ein Aufflackern finsterer Belustigung in den Augen der Frau, und er erbebte, ohne den Grund zu verstehen.

»Wie bald wirst du schon diese Entscheidung bereuen, Fistandantilus, mein ehrgeiziger Freund! Aber es ist zu spät. Armer, kümmerlicher Sterblicher, dir ist ein Fehler unterlaufen – ein teurer Fehler. Du bist in deiner eigenen Zeitschleife gefangen. Du eilst auf deinen eigenen Untergang zu.«

»Ich verstehe nicht«, schrie Tolpan.

»Doch, du verstehst«, antwortete die Stimme gelassen. »Dein Kommen hat mir die Zukunft gezeigt. Du hast mir die Möglichkeit gegeben, sie zu verändern. Und in deiner Zerstörung hat Fistandantilus seine einzige Möglichkeit des Ausbrechens zerstört. Sein Körper wird wieder umkommen, so wie er vor langer Zeit umgekommen ist. Nur dieses Mal, wenn seine Seele einen anderen Körper sucht, werde ich ihn aufhalten. Also wird sich der junge Magier Raistlin in der Zukunft der Prüfung im Turm der Erzmagier unterziehen und dort sterben. Er wird nicht leben, um meine Pläne zu vereiteln. Die anderen werden einer nach dem anderen sterben. Denn ohne Raistlins Hilfe wird Goldmond nicht den blauen Kristallstab finden. Folglich ist das der Beginn des Endes der Welt.«

»Nein!« wimmerte Tolpan von Grauen gepackt. »Das – das kann nicht sein! Das war nicht meine Absicht. Ich wollte nur mit Caramon auf dieses Abenteuer gehen. Er hätte es allein nicht geschafft. Er brauchte mich!«

Der Kender starrte hektisch umher, suchte eine Fluchtmöglichkeit. Aber obgleich es schien, daß man überallhin laufen konnte, gab es nichts, wo er sich hätte verbergen können. Er warf sich vor der schwarzgekleideten Frau auf die Knie und starrte zu ihr hoch. »Was habe ich getan? Was habe ich getan?« schrie er verzweifelt.

»Dein Handeln könnte selbst Paladin in Versuchung bringen, sich von dir abzuwenden, Kender.«

»Was wirst du mit mir anstellen?« Tolpan schluchzte jämmerlich. »Wohin werde ich gehen?« Er hob sein tränenverschmiertes Gesicht. »Glaubst du, daß du mich zu Caramon zurückschicken könntest? Oder zurück in meine Zeit?«

»Deine Zeit existiert nicht mehr. Und dich zu Caramon zu schicken, das ist völlig unmöglich, wie du sicher verstehen wirst. Nein, du wirst hier bei mir bleiben, auf diese Weise kann ich sicherstellen, daß nichts schief geht.«

»Hier?« Tolpan keuchte. »Wie lange?«

Die Frau begann vor seinen Augen zu verblassen, und schließlich löste sie sich in nichts auf. »Nicht lange, stelle ich mir vor, Kender. Nicht allzu lange. Oder vielleicht für immer...«

»Was... was meint sie?« fragte Tolpan den grauhaarigen Kleriker, der hervorplatzte, um die Leere zu füllen, die die Dunkle Majestät hinterlassen hatte. »Nicht lange oder immer?«

»Obwohl du nicht tot bist, befindest du dich im Sterben. Deine Lebenskraft schwindet, so wie es jedem Lebewesen ergeht, das sich irrtümlicherweise auf diese Ebene wagt und nicht die Kraft hat, das Böse zu bekämpfen, von dem es innerlich verschlungen wird. Wenn du tot bist, werden die Götter über dein Schicksal entscheiden.«

»Ich verstehe«, sagte Tolpan. Er ließ den Kopf hängen. »Ich vermute, das verdiene ich. O Tanis, es tut mir so leid! Ich habe das wirklich nicht beabsichtigt...«

Der Kleriker ergriff Tolpans Arm. Die Umgebung veränderte sich, der Boden bewegte sich unter ihren Füßen. Aber Tolpan bemerkte es nicht. Seine Augen füllten sich mit Tränen, er gab sich düsterer Verzweiflung hin und hoffte, daß sein Tod schnell eintreten werde.

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