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Langsam fuhr die Tina in der Dunkelheit die Kette ab. Leise, beinahe unhörbar senkten sich die Ruder ins Wasser und wurden wieder emporgehoben.

»Irgendwo dort draußen lauern sie«, sagte Callimachus.

Zwei Schiffslaternen waren an Stangen links und rechts des Bugs über die Bordwand geschoben worden und verbreiteten ein gelbliches Licht. Im Schein der Steuerbordlaterne waren hier und dort die schwarzen Rundungen der Kette sichtbar, die sich vor allem in der Nähe eines Stützpfostens über das Wasser erhoben.

»Still!« sagte Callimachus. »Halt!« rief er dem Rudermeister leise zu, der unmittelbar hinter dem Bugkastell Aufstellung genommen hatte. Die Ruder der Tina wurden abgehoben und ein Stück eingezogen. Vom eigenen Schwung getrieben, glitt das Schiff in südlicher Richtung an der Kette entlang. Gleich darauf knirschte die Kette unterhalb des Steuerbord-Scherblatts an der Schiffshülle entlang.

»Was hast du gehört?« fragte ich.

Wir blickten über die Bordwand auf die Kette, die hier etwa sechs Zoll über dem Wasser hing. »Sie waren hier«, sagte Callimachus. »Ich bin ganz sicher. Geh aus dem Licht!«

Ich zuckte zurück.

»Hoffnungslos«, sagte er betrübt. »Sie kommen und gehen, wie es ihnen gefällt – und ziehen sich zurück, wenn wir anrücken.«

»Dagegen können wir kaum etwas tun«, bemerkte ich.

»Löscht die Laternen!« befahl Callimachus. »Nein, halt! Schilde und Schwerter! Schilde und Schwerter, Leute!«

Kaum war dieser Ruf ertönt, da flogen auch schon Enterhaken über die Bordwand herauf und gruben ihre Spitzen in das Holz. Die Eisenhaken standen sichtlich unter Spannung: Männer stiegen an den Tauen empor, die daran befestigt waren. Aber sie trafen auf Widerstand: Schreiende und fluchende Verteidiger trieben die dunklen Gestalten mit Schilden und spitzem Stahl zurück. Die Piraten waren mit Beibooten angerückt und mußten die steile Bordwand erklimmen; sie konnten nicht aus gleicher Höhe von Deck eines großen Schiffes zu uns herüberspringen. So lag der Vorteil ganz bei uns, und nur ein Mann erreichte das Deck. Seinen starren Körper, an einem Dutzend Stellen durchbohrt, warfen wir in den Vosk zurück, hinter seinen zurückweichenden Kameraden her.

Callimachus wischte sein Schwert an der Tunika ab. »Welch eine Kränkung!« sagte er grinsend. »Glauben die Kerle ernsthaft, wir sind ein wehrloses Handelsschiff, das sie ungestraft so tollkühn angreifen können?«

Ich zuckte die Achseln.

»Löscht die Laternen!« sagte Callimachus zu einem seiner Männer. »Vielleicht lauern die Piraten noch in der Nähe.«

»Wir sollten das Beiboot aussetzen«, sagte ich zu ihm. »Mit umhüllten Rudern könnten wir unseren Abschnitt der Kette besser bewachen.«

»Wieso?«

»Unser Schiff, selbst wenn wir alle Lichter löschen, kann sich der Kette niemals so leise nähern wie ein kleines Boot. Die Piratenboote brauchen sich nur von der Kette zurückzuziehen.«

»Das Beiboot«, entwickelte Callimachus meinen Gedanken weiter, »müßte westlich der Kette unterwegs sein, um sich den Piratenbooten noch unauffälliger nähern zu können.«

»Richtig«, sagte ich.


»Wer da?« rief eine Stimme aus der Dunkelheit.

Wir legten die Ruder still.

»Fertig!« flüsterte ich den Männern in meiner Begleitung zu. Wir näherten uns der Kette aus westlicher Richtung. Unser Ruderboot war vor einer Viertel-Ahn über die Kette hinweg zu Wasser gelassen worden. Inzwischen waren wir in wenigen Metern Abstand an einigen im Fluß ankernden Piratenschiffen vorbeigekommen.

»Wer da?« rief die Stimme.

»Jetzt!« sagte ich. Jäh richteten sich fünf Männer hinter der Bordwand auf. Aus unmittelbarer Nähe wurden die Pfeile auf das andere Boot abgeschossen, das wir im gleichen Moment berührten. Ich hörte Männer schreien und Werkzeuge ins Boot poltern. Mit gezogenen Schwertern stürmten wir das andere Boot. Wir sagten kein Wort. Geschrien wurde nur von den Piraten. So mancher rettete sich durch einen schnellen Sprung ins Wasser.

»Was ist da los?« rief eine Stimme von einem der größeren Piratenschiffe, die weiter entfernt von der Kette beigedreht lagen.

Doch schon waren wir weitergeglitten.


»Zurück! Zurück!« rief eine Stimme angstvoll in der Nacht.

»Rückwärtsrudern«, sagte ich. »Und halten.«

Das Ruderboot verharrte dümpelnd im Wasser.

»Wir wissen, daß ihr da seid!« rief ein Mann aus der Nähe der Kette. »Wir sind bewaffnet! Es ist euer Risiko, wenn ihr euch heranwagt! Gebt euch zu erkennen!«

Die Angst des Mannes war deutlich zu spüren, und ich lächelte. Befehle gab ich nicht.

»Gebt euch zu erkennen!« wiederholte die Stimme.

Wir schwiegen.

In einem Angriff sah ich keinen Sinn. Den Überraschungsmoment hatten wir verloren, denn wir hatten im Schutze der Nacht bereits drei Ruderboote erobert. Die Piraten wußten längst, daß an der Kette eine Gefahr umging. Sie hatten kühn vorgehen wollen, mußten nun aber feststellen, daß wir das nicht zuließen.

Wir schwiegen.

»Zurück zum Schiff!« sagte die Stimme in der Nacht. »Zurück zum Schiff!«

Wir ließen das Boot an uns vorbeigleiten; nach den Geräuschen zu urteilen, war es einige Meter entfernt.

Anschließend ließ ich unser Boot zur Kette vordringen, wo ich die Eisenglieder abtastete. An einem der schweren Eisenstücke machte ich eine konkave Unebenheit aus, die in eine kantige, geometrisch präzise Vertiefung überging, zu schmal, um den Finger hineinzustecken. Ich tastete den Einschnitt in das Kettenglied nach beiden Seiten ab. Er war diagonal geführt und reichte etwa einen Zoll tief.

»Was ist?« fragte einer meiner Begleiter.

»Sie müssen hier etwa eine Viertel-Ahn lang am Werk gewesen sein«, bemerkte ich.

»Wie schlimm steht es?« wollte er wissen.

»Die Kette ist geschwächt.«

»Was tun wir?«

»Wir setzen unsere Patrouillenfahrt fort.« »Hast du das gehört?« fragte einer meiner Männer.

»Ja«, antwortete ich.

»Ein Fisch?«

»Eher ein Taucher, würde ich sagen.«

»Was machst du?«

»Holt mich in fünf Ehn hier wieder ab«, sagte ich.

Ich legte meine Waffe mitsamt der Scheide unten ins Boot. Dann zog ich Sandalen und Tunika aus.

»Gebt mir ein Messer!« forderte ich.

»Hier!« sagte jemand. Ich steckte mir die Klinge zwischen die Zähne und rollte stumm über die Reling des Ruderboots, das sich beinahe lautlos entfernte.

Es war kalt und dunkel im Wasser des Vosk-Flusses.

Einige Ehn später kehrte das Boot zurück, und ich wurde an Bord gezerrt.

»Hier ist dein Messer«, sagte ich.

»War es ein Fisch?« fragte jemand.

»Nein.«

»Die Klinge ist ja klebrig«, sagte der Mann, der mir die Waffe geliehen hatte.

Ich spuckte in den Vosk. »Spül sie ab!« sagte ich.

»Wie viele waren es?« wollte jemand wissen.

»Zwei«, sagte ich. »Sie hatten keine Geduld. Sie wollten zu schnell weiterarbeiten.«

»Was tun wir jetzt?«

»Wir kehren zur Tina zurück«, sagte ich. »Wir brauchen unseren Schlaf, denn morgen wird es zu Kämpfen kommen.«

»Ist die Kette beschädigt?« fragte ein Mann.

»Ja, ziemlich«, gab ich zurück.

»Das hätte auch an hundert anderen Stellen passieren können.«

»Das meine ich auch.«

»Morgen wird die Kette also nicht halten«, sagte ein Mann zögernd.

»Ich gehe davon aus.«

»Vielleicht sollten wir fliehen, solange es noch möglich ist«, meinte er.

Ich zuckte die Achseln. »Darüber müssen die Besatzungen und ihre Kapitäne bestimmen«, meinte ich.

»Die Taucher – hast du sie beide umgebracht?«

»Ja«, sagte ich.

»Dann wird Ragnar Voskjard also nicht erfahren, daß die Kette gerade an jener Stelle besonders schwach ist.«

»Nein.«

»Aber es wird andere Stellen geben.«

»Natürlich«, bestätigte ich.

»Es ist unmöglich, die Kette zu beschützen«, sagte jemand.

»Früher oder später, wenn nicht schon diese Nacht, wird sie durchschnitten.«

»Voskjard ist bei seinen Plänen schon sehr behindert worden«, sagte einer der Männer. »Es heißt, er sei nicht sehr geduldig.«

»Wir sind keine Seeleute«, meinte ein anderer. »Bei einem offenen Kampf auf dem Fluß haben wir gegen Voskjards schnelle Schiffe keine Chance.«

»Mit uns kämpfen die Schiffe aus Port Cos«, bemerkte jemand.

»Das sind zu wenige. Und ist die Kette erst einmal durchbrochen, ziehen sie sich möglicherweise zurück, um Port Cos zu schützen.«

»Wenn es Voskjard gelingt, sich mit Policrates zusammenzutun«, sagte ein Mann, »und wenn dann die Streitkräfte von Port Cos und Ar-Station gespalten sind, kann sich keine Stadt am Fluß mehr in Sicherheit wiegen.«

»Dann würde den Piraten der ganze Vosk gehören.«

»Wir müssen fliehen!« rief jemand.

»Hierüber kann morgen früh durch die Kommandeure und ihre Besatzungen entschieden werden«, sagte ich.

»Aber man kann auch einzeln fliehen.«

»Den ersten, der seinen Posten verläßt, bringe ich um!« rief ich.

»Gib uns deine Befehle!« rief jemand.

»Dreht bei!« sagte ich. »Wir wollen zur Tina zurückkehren.«

»Aber wir müssen an der Kette bleiben.«

»Nein«, sagte ich.

Langsam wendete das Ruderboot und bewegte sich in nördlicher Richtung an der Kette entlang. Ich war zu dem Schluß gelangt, daß das Schicksal des Flusses nicht vom Schicksal der Kette abhing.

Auf dem Rückweg wurden wir mehrmals von Piraten angerufen, antworteten aber nicht.

»Wir haben keine weiteren Hinweise auf Arbeiten an der Kette gefunden«, sagte ein Mann, als wir uns der Tina näherten, die östlich der Kette lag und an einer der Bugkastell-Leinen eine Laterne präsentierte.

»Vielleicht hat Voskjard aufgegeben«, meinte jemand.

»Vielleicht ist die Arbeit längst zu seiner Zufriedenheit getan«, sagte ein anderer.

»Die Kette muß halten!« rief einer unserer Ruderer.

»Was meinst du, Jason?« fragte jemand.

»Wollen wir inbrünstig hoffen, daß sie hält«, sagte ich.

»Aber du glaubst nicht mehr daran?«

»Nein.«

»Wir müssen fliehen!« rief jemand.

»Würdest du den Fluß Männern wie Policrates und Ragnar Voskjard überlassen wollen?«

»Nein.«

»Bist du es, Jason?« rief Callimachus von Bord der Tina.

»Ja.«

Das große Schiff tauchte vor uns auf, und wir warfen eine Leine hinüber.

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