Als der Sparkassenangestellte Pieter van Brouken an jenem Freitagnachmittag im Juni 1923 gegen einhalb fünf Uhr seiner Wohnung zustrebte und eiligen Schrittes in die Nieuwe Heerengracht am Botanischen Garten von Amsterdam einbog, war er ein unbescholtener, 35 Jahre alter, lustiger, mittelgroßer und treuherziger Mann und Familienvater, für den die Welt in erster Hinsicht nur aus seiner Frau Antje und seinem Sohn Fietje bestand. Bescheiden in allen Bedürfnissen des Lebens, ein gewissenhafter Sparkassenbeamter, dem das ruhevolle und ausgeglichene Dasein im Gesicht stand, wäre ihm nie der Gedanke gekommen, etwas anderes zu sein als Pieter van Brouken mit einem mäßigen Monatsgehalt und der stillen Sehnsucht nach einem Siedlungshäuschen am Oberlauf der trägen Amstel.
Es war ein sonniger, drückendheißer Juni-Nachmittag. Die Luft über den Asphaltstraßen flimmerte und zitterte, überscharf waren die Konturen der großen Häuser, und wenn man auf die Straße blickte, blendete sie, und die Augen schmerzten. Wohl lockten vom Botanischen Garten herüber die Schatten der hohen Bäume mit den weißangestrichenen Bänken darunter, aber Pieter van Brouken hatte es eilig.
Etwas Wichtiges, etwas ganz Wichtiges mußte er Antje berichten! Er war gestiegen, jawohl, im Gehalt um 35 Gulden monatlich gestiegen! Sein nie erlahmender Fleiß, seine peinliche Genauigkeit hatten endlich Frucht getragen, und er fühlte sich stolz, daß er es mit Ausdauer und einem geregelten Leben zu etwas gebracht hatte. Er freute sich schon auf dem langen Weg zur Noorderstraat auf den Freudenschrei der zierlichen Antje, und in seiner Tasche verwahrte er für den eineinhalbjährigen Fietje ein neues, großes Gummitierchen, das laut aufquietschte, wenn man ihm auf den Bauch drückte.
Als Pieter van Brouken die Nieuwe Heerengracht herabeilte und am Ende des Botanischen Gartens angelangt war, fühlte er plötzlich einen merkwürdigen Druck im Hinterkopf und einen leichten Schwindel. Seine hurtig ausgreifenden Beine pendelten auf einmal, und ein leichter Schleier zog über seine Augen.
Tief atmend stützte er sich an einem Baum und senkte den Kopf.
»Zu dumm«, murmelte er. »Immer das Herz! Ich muß doch mal zu einem Facharzt gehen. So eine blöde Hitze - das hält das stärkste Herz nicht aus!«
Den Brustkorb in tiefem Atem dehnend, lehnte er einen Augenblick an den Baum und schloß die Augen. In seinem Kopfe schwankte es, er fühlte sich schlapp, unendlich müde, und dieser schwere Druck im Hinterkopf fühlte sich an wie eine kaum überstandene Betäubung. Eine prickelnde Übelkeit kletterte in seiner Brust empor und würgte in der Speiseröhre ... ein Brechreiz machte sich bemerkbar und ließ ihn heftig schlucken.
»Zu blöd«, murmelte van Brouken. »Zu blöd! Wird doch wohl kein Sonnenstich sein?! Woher bloß dieser Druck im Kopf kommt?! Das darf Antje gar nicht wissen, sonst ist der Teufel los und der Arzt Stammgast!«
Er drückte den Kopf an die rauhe Rinde des Baumes und wartete, bis der Anfall sich legen würde. Mit geschlossenen Augen, leicht schwankend, stand er da.
Ein junges Mädchen blieb erstaunt stehen, sah sich um, zögerte einen Augenblick und kam dann zurück.
»Ist Ihnen unwohl?« fragte es besorgt und berührte leicht den schwankenden Mann.
»Ein wenig«, antwortete van Brouken mit schwerer Zunge. »Nur ein wenig, mein Fräulein. Ich danke Ihnen. Die Hitze bekommt mir nicht.«
»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte es und trat näher. »Soll ich Ihnen Wasser holen, oder einen Arzt? Um die nächste Ecke wohnt ein Doktor. Am besten ist, Sie setzen sich. Dort steht ja eine Bank.«
Pieter van Brouken nickte. Sein glattes Beamtengesicht war blaß und ein wenig verzerrt. »Eine Bank, das ist sehr gut«, murmelte er. »Bitte, führen Sie mich hin. Meine Beine sind plötzlich so gefühllos - ich kann nicht auftreten ... allein könnte ich stürzen ...«
Fest packte ihn das Mädchen unter den Arm und führte ihn langsam Schritt für Schritt zu einer der weißgestrichenen Bänke. Es dauerte lange, ehe sie den kurzen Weg zurückgelegt hatten und sich Pieter van Brouken auf die Bank sinken ließ. Kalter Schweiß tropfte von seiner Stirn in den weißen, steif gestärkten Kragen.
»Haben Sie herzlichen Dank«, stammelte er und lehnte sich weit zurück. Doch da er sah, daß das Mädchen nicht ging, sondern sich nach Hilfe umsah, log er: »Es geht schon wesentlich besser. Der Druck ist schon wieder weg. Lassen Sie sich durch mich nicht aufhalten, mein Fräulein. Sicherlich wartet Ihr Bräutigam dort hinten an der Ecke. Und Männer warten nie gern ... Und nochmals besten Dank.«
Zögernd entfernte sich das Mädchen. Ab und zu blieb es stehen und blickte sich nach der Bank um. Endlich bog es um die Ecke der Heerengracht. Erleichtert atmete van Brouken auf. Nur keinen Skandal, dachte er, nur keinen Auflauf. Gerade jetzt nicht, wo ich befördert bin und mein Gehalt steigt. Antje soll sich freuen und von dem Anfall nichts erfahren, und zum Arzt wird auch einmal gegangen. Erst das Siedlerhäuschen an der Amstel, drei oder vier Zimmerchen mit einem Blick auf den Fluß und einer kleinen Spielwiese für Fietje. Vielleicht auch ein Obst- und Gemüsegärtchen hinten dran ... na ja, kommt Zeit, kommt Rat ...
Wenn dieser ekelhafte Druck im Hinterkopf nicht wäre! Und vor den Augen liegt noch immer der Schleier, die Glieder sind schwer wie Blei, und müde ist er, schrecklich müde.
Überarbeitung, dachte van Brouken, absolute Überarbeitung. Immer rechnen, immer diese Zahlen, zigtausend Gulden täglich ... und die Verantwortung ... das reibt auf.
Er schloß wieder die Augen und legte den schmerzenden Kopf seitlich auf die Rückenlehne der Bank.
Dann wußte er nichts mehr.
Er schlief. Mit langen, tiefen Atemzügen.
Über die Nieuwe Heerengracht brandete lärmend der Großstadtverkehr, die Schritte der vorübergehenden Menschen klapperten auf dem Asphalt.
Pieter van Brouken hörte es nicht.
Sein Schlaf war bleiern, abgrundtief, entführend ...
In ihrer engen Kochnische, die sich an die helle, geräumige Wohnküche anschloß, hantierte Antje van Brouken mit Tellern und Tassen. Sie spülte das Mittagsgeschirr und stellte das Kaffeegedeck für den erwarteten Pieter zurecht. In seinem hölzernen Lauf stall, der in einer Ecke der Küche stand, krähte der kleine Fietje und boxte im Freistil mit einem arg zerzausten, dicken, hellbraunen Teddybären.
Antje van Brouken war der Typ eines >lieben Frauchensc. Weder hübsch noch häßlich, weder schlank noch drall, weder klug noch dumm, aber peinlich sauber, anständig, mit einem goldenen Herzen und stolz auf ihre hausfraulichen Kenntnisse vertrat sie die Menge der stillen, unablässig arbeitenden Frauen.
Antjes Haare waren von einem unwahrscheinlichen Blond, und die Stupsnase gab dem alltäglichen Gesicht die Note einer Pfiffigkeit, von der Gebrauch zu machen sie nie in die Gelegenheit gekommen war.
Der kleine Fietje, der einen vollendeten Kinnhaken bei Teddy gelandet hatte, jauchzte auf und brüllte vor Freude. Lächelnd blickte Antje aus ihrer Kochnische und nickte dem Kleinen zu. In diesem Augenblick war sie die Schönste aller Frauen.
»Gleich kommt der Papi«, rief sie. »Sei schön brav und mach den Teddy nicht kaputt!«
Dann trocknete sie weiter die Teller ab und sang mit einem dünnen, hellen Stimmchen ein altes Volkslied, das die Fischer ihrer Heimat des Abends am rauchenden Ofen gröhlten.
Als sie fertig war, deckte sie für Pieter den Tisch, setzte Brot und Butter zurecht, schüttete frischen Malzkaffee auf und blickte auf die Uhr. Sie wunderte sich, daß die minuziöse Pünktlichkeit Pieters bereits um fünfeinhalb Minuten überschritten war, dann ging sie zum Fenster, setzte sich in einen alten Lehnstuhl und nahm ein Kopfkissen auf, dessen Inlett sie gerade flickte.
Der kleine Fietje, etwas stiller geworden, zerlegte gewissenhaft ein großes Holzauto.
Als es von der nahen Kirche des hl. Willebrordus sechs Uhr schlug, wurde Antje ein wenig unruhig und setzte den Kaffee in der Kochnische warm. Die Unpünktlichkeit Pieters war ihr unbegreiflich. Soweit sie sich erinnern konnte, war es in ihrer fünfjährigen Ehe bisher nur dreimal vorgekommen, daß er eine halbe Stunde später von der Sparkasse kam: einmal beim Jahresabschluß, einmal bei einer Direktionsvisite und einmal bei einem Unterschlagungsfall einer untergeordneten Angestellten. Immer aber hatte Pieter bei der Nachbarin angerufen und Bescheid gegeben, so daß sie nie im Ungewissen blieb.
Das Ungewohnte der Verspätung machte Antje ratlos und nachdenklich. Sie kochte für Fietje einen dicken Grießbrei und fütterte ihn, badete ihn dann in einer kleinen Wanne und brachte ihn in das neben der Küche liegende Schlafzimmer zu Bett. Damit er schnell einschlief, sang sie ein leises, wehmütiges
Schlafliedchen und schlüpfte dann auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.
Als sie in die Küche trat, schlug es halb sieben Uhr.
Von Pieter keine Spur.
Unruhig setzte sie sich ans Fenster und blickte auf die am Abend stark belebte Noorderstraat. Sie dachte dabei eigentlich an nichts als an die Frage, warum Pieter so spät käme und warum er nicht wie immer vorher angerufen habe.
Als es sieben Uhr schlug, stand sie auf und ging hinüber zur Nachbarin. Schüchtern fragte sie, ob sie einmal telefonieren könne. Ihr Mann sei noch nicht da, und das beunruhige sie.
Die Nachbarin, eine joviale, dickliche Postinspektorswitwe, nickte ihr lächelnd zu und öffnete die Stubentür.
»Aber selbstverständlich, Frau van Brouken«, sagte sie freundlich. »Ich kenne das von meinem Mann. Sie reiben sich an der Arbeit auf, denken nicht an ihre Frauen und sterben früh. Das einzige Andenken, das sie hinterlassen, ist dne leidlich anständige Pension.«
Sie warf einen schnellen, wehmütigen Blick auf das Bild ihres dicken Mannes und schob Antje vor den schwarzen Telefonkasten.
Schüchtern blickte die junge Frau auf die glitzernde Drehscheibe, nahm zögernd den Hörer ab und wählte mit unsicheren Fingern die Nummer der Sparkasse. Nach einer Weile des Wartens meldete sich eine Stimme. Antje stotterte in die Muschel:
»Ja ... hier Antje van Brouken ... Ist mein Mann noch da? ... Brouken ... Ja! - Nein? Wieso nein?! Mein Mann ist richt da? Wieso? Ja ... er ist noch nicht hier ... Was? - Er ist pünktlich weggegangen? Ja - danke ... «
Klick!
Der Hörer lag auf der Gabel. Ratlos blickte sich Antje nach der Inspektorswitwe um.
»Er ist nicht da«, stammelte sie. »Er ist pünktlich weggegangen ...«
Die alte, joviale Dame lächelte und streichelte ihr über das helle Haar.
»Nur keine Sorge, kleines Frauchen. Wird schon einen Freund getroffen haben oder einen früheren Schulkameraden, und nun sind sie ... «
Antje schüttelte den Kopf.
»Pieter hat keinen Freund«, unterbricht sie. »Er ist immer pünktlich!«
»Vielleicht ein Kollege.«
»Dann hätte er angerufen.«
»Oder er ist auf dem Weg hierher durch irgend etwas aufgehalten worden«, wagte die Dame einzuwenden.
»Pieter läßt sich nicht abhalten!« sagte Antje fest und setzte sich neben das Telefon auf einen dunkelblauen Plüschstuhl. Und plötzlich wurden ihre hellen, blauen, gütigen Augen starr und groß, und sie stammelte: »Da ist etwas geschehen - ein Unglück, irgend etwas Schreckliches ... ich fühle es - mein Gott ...«
Ohne daß sie es wollte, weinte sie lautlos. Die Tränen rannen ihr einfach aus den Augen, und sie hatte keine Kraft, sie zurückzuhalten.
Die Postinspektorswitwe sah ratlos auf Antje hinab und wußte nicht, was sie sagen sollte. Wenn ein Mann eine Stunde später nach Hause kommt, brauchte ja nicht gleich ein Unglück geschehen zu sein. Die Sorge der jungen Frau schien ihr übertrieben und kindisch.
»Uns bleibt nichts übrig, als geduldig zu warten«, sagte sie nach einer langen Pause. »Wenn Ihr Mann bis 10 Uhr noch nicht gekommen ist, bleibt uns noch ein Weg: die Polizei!«
»Die Polizei?« fragte Antje erschreckt und zuckte auf.
»Wir müssen ihn suchen lassen ... «
»Sie glauben auch, daß ...« Antjes Augen waren weit aufgerissen. Sie wagte nicht, den Satz zu Ende zu sprechen.
»Ich glaube nichts«, sagte die joviale Dame. »Man muß nur auch damit rechnen.« Dann beugte sie sich über die wieder weinende Antje und legte den Arm tröstend um ihre Schulter. »Warten wir eben noch ein Weilchen. Wenn er dann kommt, ist ja alles gut. Ihr Mann hat Sie verwöhnt, kleine Frau - Sie müssen ihm auch einmal eine Stunde Freiheit lassen.«
Und sie warteten zusammen, tranken Kaffee und knabberten Plätzchen.
Warteten geduldig und wurden stiller und stiller.
Sie warteten, bis es vom Turme des hl. Willebrordus 10 Uhr schlug.
»Das Leben ist stinklangweilig geworden«, sagte der Kriminalinspektor Felix Trambaeren und legte die Zeitung auf seinen breiten Schreibtisch. »Die Menschen scheinen besser geworden zu sein!
Kriminalassistent Ferdinand Brox nickte und gähnte.
»Seit einem Jahr kein Mord mehr! 7 Gewaltverbrechen, 14 Überfälle, 4 einwandfreie Selbstmorde, 217 Einbrüche, 19 Erpressungen, eine Entführung und 397 kleinere Sachen. Man wird in Amsterdam äußerst sittsam!«
Das Zimmer, in dem diese Statistik mit süßsaurer Miene heruntergeleiert wurde, lag im Amsterdamer Gerichtsgebäude an der Prinsengracht. Es war dem diensttuenden Kommissar zur Verfügung gestellt worden, um bei Verhaftungen gleich mit dem Untersuchungsrichter Fühlung zu nehmen und mit dem nahegelegenen Gefängnis an der Lijnbaansgracht in direkter Verbindung zu stehen.
Ferdinand Brox, ein 28 Jahre alter Mann, dessen Frechheit in Kollegenkreisen berühmt und in der Verbrecherwelt gefürchtet war, blickte seinen Chef mit zusammengekniffenen Augen an und seufzte tief auf.
»Ich weiß nicht«, sagte er, »was in Sie gefahren ist, lieber Trambaeren! Seien Sie froh, daß unser Dezernat so ruhig ist! Es geht nichts über die Geruhsamkeit des Beamten! Oder wünschen Sie sich jeden Tag einen Mord mit wilder Jagd nach dem Täter?«
»Immer noch besser als dieses Herumsitzen und Warten«, knurrte Trambaeren und steckte sich eine Zigarette an. Dann hielt er die Schachtel über den Tisch zu Brox. »Nehmen Sie auch eine?«
»Bin so frei«, nickte Brox und nahm sich eine Zigarette heraus.
Da klopfte es.
»Nanu?« sagte Trambaeren erstaunt und sah Brox an. »Es klopft.«
»Es scheint so«, nickte Brox.
»Um 22:11 Uhr abends?«
»Vielleicht Ihr ersehnter Mord?«
»Herein!« rief der Inspektor und setzte sich hinter dem Schreibtisch zurecht.
Ein Polizeibeamter, der unten als Pförtner Nachtdienst machte, trat ein und pflanzte sich an der Tür auf. Sein gutmütiges Gesicht war voller Diensteifer.
»Unten stehen zwei Frauen«, meldete er. »Sie möchten den Herrn Inspektor sprechen. Es ist eilig, sagen sie.«
»So? Sagen sie? Um was handelt es sich denn?«
Trambaeren hatte eine Abneigung gegen nächtliche Frauenbesuche. Meistens waren es Eifersuchtsszenen oder versuchte Notzüchtigungen.
Der Polizist zuckte die Achseln.
»Das haben die Frauen nicht gesagt. Sie sind nur sehr aufgeregt, eine von ihnen weint andauernd und redet von verschwunden ...«
Der Polizist salutierte und verließ das Zimmer.
Zögernd, befangen von der gefürchteten Nähe der Polizei, mit geröteten, verweinten Augen traten wenig später Antje van Brouken und die dickliche Postinspektorswitwe ins Zimmer.
Trambaeren sprang auf, bot den beiden Damen Platz an und fragte sie, was sie zu so später Stunde noch zu ihm führte. Brox hielt sich im Hintergrund und machte sich stenographische Notizen.
Stockend, oft unterbrochen durch die ausbrechenden Tränen und heftiges Schluchzen, erzählte Antje das Verschwinden ihres Mannes Pieter.
Inspektor Trambaeren sah zunächst erstaunt in die Ecke zu Brox, der ihm frech zulächelte.
»Sie heißen Antje van Brouken?« fragte er nach einer Weile. »Sie geben zu Protokoll, daß Ihr Ehemann Pieter van Brouken, von Beruf Sparkassenkassierer, um 5 Uhr heute nachmittag nicht nach Hause kam und bis zur Stunde noch nicht eingetroffen ist?«
Antje schluchzte und nickte.
»Aber von der Sparkasse ist er pünktlich wie immer weggegangen!« weinte sie.
»Das ist noch lange kein Grund zur Beunruhigung.« Trambaeren Versuchte, die kleine Frau zu trösten und lächelte schwach. »Vielleicht haben ihn unterwegs Freunde oder Bekannte aufgehalten, und Ihr Mann sitzt jetzt zu Hause, ein wenig angeheitert, und wartet auf sein spätes Abendessen.«
Empört blickte Antje hoch und sah den Inspektor feindselig an.
»So etwas tut mein Pieter nicht!« rief sie laut und stand auf.
»Ich fühle, ihm ist etwas zugestoßen.«
»Das läßt sich sofort feststellen«, sagte Trambaeren und griff zum Telefon. Er wählte eine Nummer und rief in den surrenden Apparat: »Ja! Hier Inspektor Trambaeren! Haben Sie schon die heutige Unfalliste vorliegen? Ja! Sehr gut! Sehen Sie doch bitte einmal nach, ob ein Pieter van Brouken darunter ist.«
Eine Weile war es still im Raum. Gespannt, zitternd vor Erwartung und innerer Erregung, hingen die Blicke der beiden Frauen auf den Lippen Trambaerens. Endlich krächzte eine Stimme im Apparat, und der Inspektor nickte. »Danke! Das war alles! Nichts!« sagte er langsam. »Ihr Mann ist nicht verunglückt. Es liegt keine Meldung vor!«
»Aber er ist nicht nach Hause gekommen!« rief Antje verzweifelt und klammerte sich an die Lehne des Stuhles. Sie fühlte, wie ihre Beine schwach wurden. »Er muß doch irgendwo sein.«
Inspektor Trambaeren zuckte die Achseln.
»Hatten Sie eine Auseinandersetzung?« fragte er dann.
»Nein! Wir zankten uns nie! Wir lebten glücklich miteinander.«
Die joviale Postinspektorswitwe nickte und stützte die schwankende Antje.
»Das kann ich bezeugen«, sagte sie und legte den Arm um die junge Frau. »Für Herrn van Brouken gab es nur zweierlei, das er liebte: seine Frau und sein Kind. Er war ein gewissenhafter Beamter, der nicht trank, mit Maß rauchte und keine Leidenschaften kannte. Er sammelte Briefmarken und besuchte jeden Sonntag das Kino.«
Die Schilderung des biederen Bürgers Pieter van Brouken ließ Trambaeren ein leichtes Lächeln über das Gesicht fliegen. Gleichzeitig aber verstärkte sich auch in ihm der Verdacht, daß das Nicht-nach-Hause-Kommen eines solch gewissenhaften und pedantischen Menschens tiefere und für ihn unabwendbare Ursachen haben mußte. An ein Verbrechen wagte er zunächst nicht zu denken, denn Feinde hatte Pieter van Brouken nicht besessen, ein Mord lohnte sich nicht, eine Entführung als Erpressungsgeißel war völlig unfruchtbar ... blieb also nur eine Flucht übrig, eine wohlüberlegte oder auch plötzlich notwendige Flucht.
Felix Trambaeren begann blitzschnell im Kopf die Situation durchzudenken und daraus logische Schlüsse zu ziehen. Van Brouken war Sparkassenkassierer. Angenommen, es stände eine Kassenrevision bevor, und der kleine Beamte hätte hie und da einmal in die Kasse gegriffen, um seiner kleinen Frau ein Kleid oder dem Kind ein Spielzeug zu kaufen, so wäre ein kopflose Flucht schon denkbar. Plötzlich erinnerte sich Trambaeren, daß vor sechs Wochen in Amsterdam eine große Briefmarkenauktion gewesen war, für die er als Überwachung fünf Detektive stellen mußte. Sagte nicht die dicke Witwe, daß van Brouken Briefmarken sammelte? Vielleicht war er ein leidenschaftlicher Sammler, der die fehlenden Gulden für die Auktion aus der Kasse nahm, sie nicht voll zurückzahlen konnte und nun flüchtig war?! Immerhin ein Motiv, das denkbar und gar nicht so selten war.
Trotzdem wagte es Trambaeren nicht, Antje van Brouken diesen Verdacht mitzuteilen. Ihm tat die kleine, blonde, schluchzende Frau auf einmal leid. Ihre Hilflosigkeit und ihr unerschütterlicher Glaube an Pieter schienen ihm zu stark, um sie durch einen bloßen Verdacht vollends zu zerbrechen, und so stand er auf und trat mit einer beruhigenden Geste auf Antje zu.
»Liebe Frau van Brouken, es besteht gar kein Anlaß, jetzt schon den Kopf hängen zu lassen. Vielleicht klärt sich alles als ein harmloser Scherz auf. Vor Ablauf von 24 Stunden nach dem Verschwinden kann und darf die Polizei sowieso nichts unternehmen, wenn keinerlei Anhaltspunkte vorhanden sind, die auf ein Verbrechen oder ein deutliches Motiv hinweisen. Sollte
Ihr Gatte bis morgen abend 5 Uhr noch nicht zurück sein, so kommen Sie bitte wieder zu mir. Ich werde in der Zwischenzeit vorsorglich Erkundigungen einholen.«
Dankbar drückte Antje van Brouken dem Inspektor die Hand. Mitleidvoll geleitete Trambaeren sie hinaus und wandte sich dann mit einem Ruck an den bisher stillen Ferdinand Brox in der Ecke.
»Was sagen Sie dazu, Brox?« fragte er erstaunt. »Ist das nun ein Ehemann auf Abwegen oder das Opfer eines Verbrechens?«
»Untergeordnete Beamte, mit Ausnahme der Polizei, werden selten umgebracht«, sagte Brox gemütlich. »Auf Abwegen ist der Mustergatte aber auch nicht!«
»Also - wie ich schon seit Beginn denke - auf der Flucht! Motiv: kleine Unterschlagung!«
Brox sah seinen Chef einen Augenblick erstaunt an, dann schüttelte er den Kopf.
»Daran habe ich gar nicht gedacht. Alle Achtung! Aber ich glaube es nicht! Mir scheint eher, wir hätten hier einen Fall, der in der Kriminalgeschichte äußerst selten ist: ein Verschwinden ohne Motiv!«
»Ausgeführt von van Brouken selbst?«
»Ja.«
»Dann wäre das ja ein Fall von Schizophrenie! Ein Komplex, eine Wahnvorstellung!« rief Trambaeren. »Sie glauben, daß van Brouken Pathologe ist?«
»Das will ich nicht gesagt haben«, erwiderte Brox. »Aber sehen Sie sich einmal das bisherige Leben dieses Mannes an. Wie eine Maschine, pünktlich, peinlich genau, auszirkuliert, fast wie ein Roboter. Selbst im häuslichen Kreise verliert er nicht den wohlausgewogenen Rhythmus. Sicherlich ist van Brouken sehr sensibel und trotz seiner - sagen wir einmal -beamtenhaften Dickfelligkeit äußerst nervenschwach und mit
Komplexen behaftet. Ein kleiner Anstoß von außen, der einen dieser Komplexe nach oben trägt, kann schlagartig das ganze Leben dieses Menschen wandeln.«
Trambaeren hatte mit sichtlicher Spannung zugehört und dachte nun einen Augenblick scharf nach.
»Eure moderne Psychologie hat etwas Frappantes«, meinte er nach einer Weile. »Aber ob Komplexe so stark sind, um einen unbescholtenen, völlig realen Menschen mir nichts dir nichts ins Blaue flüchten zu lassen? Das scheint mir eine unwahrscheinlich kühne Kombination.«
»Komplexe können zum Mord führen«, sagte Brox ernst. »Die Leidenschaften, die verborgen im Menschen schlafen, sind ungeheuer. Wir dürfen jedenfalls bei dem Fall van Brouken keine Möglichkeit außer acht lassen. Fangen wir zunächst damit an, die realste Seite aufzurollen: die Unterschlagung.«
Trambaeren nickte und nahm den Telefonhörer ab.
Der große Polizeiapparat begann anzulaufen ...
Am nächsten Tag, gegen 6 Uhr abends, saß Antje van Brouken wieder vor Inspektor Trambaeren. Dieses Mal war Ferdinand Brox an seiner Seite und blätterte in einem dünnen Aktenstück.
»Wir haben in der Zwischenzeit alle notwendigen Erkundigungen eingezogen«, sagte er mit einer fast bedauernden Stimme, »und müssen leider gestehen, daß wir keinen Schritt weitergekommen sind. Die Auskünfte, die wir von der Direktion der Sparkasse erhielten, waren sehr lobend, die Bücher und Kassenabrechnungen stimmen bis auf den letzten Cent, Ihr Gatte war beliebt im Kollegenkreis, und es stimmt auch, daß er gestern pünktlich das Gebäude der Sparkasse verließ. Von der Ridderstraat bis zur Uilenburg begleiteten ihn sogar zwei Kollegen, bis Ihr Gatte in Richtung auf die Heerengracht abbog. Wir tappen also völlig im dunkeln und haben kein Motiv, warum Ihr Gatte verschwunden sein sollte.«
Antje van Brouken hatte mit bewundernswürdiger Fassung zugehört. Jetzt senkte sie den Kopf und begann leise zu weinen.
»Aber ein Mensch kann doch nicht einfach verschwinden«, schluchzte sie. »Sie müssen ihn doch finden, wenn er weg ist -dafür sind Sie doch die Polizei ...«
Die Naivität Antjes rührte das Herz der beiden Kriminalisten. Brox stand auf, holte ein Glas Wasser und reichte es ihr hin.
»Wir müssen jetzt vor allem die Ruhe behalten«, sagte er fest. »Es heißt hier, nüchtern zu denken und keine unnützen Schritte zu machen.«
»Ich habe bereits mit der Chefbehörde in Amsterdam und Den Haag gesprochen und die Erlaubnis erwirkt, alles nur Erdenkliche zu unternehmen«, berichtete Felix Trambaeren. »Der Fall wurde mir persönlich übertragen. Es heißt jetzt vor allem, die Bevölkerung aufzurufen, um festzustellen, wo Herr van Brouken zuletzt gesehen worden ist. Wir müssen seine Spuren aufrollen und jeden seiner Schritte zurückverfolgen. Daraus lassen sich dann schon bestimmte Schlüsse ziehen. Dafür brauchen wir ein gutes Bild Ihres Gatten.«
Antje nickte und nestelte aus ihrer Handtasche eine Fotografie Pieter van Broukens. Die beiden Kriminalisten beugten sich sofort darüber und blickten auf ein glattrasiertes, typisches Alltagsgesicht mit dem zufriedenen, lächelnden Ausdruck eines hoffnungsvollen Beamten.
»Hatte Ihr Gatte besondere Kennzeichen?« fragte Tambaeren. »Eine Narbe? Eine Verwachsung? Ein Leberfleck?«
Antje nickte und wischte sich mit einem kleinen Taschentuch die Tränen aus den Augen
»Er hatte auf dem Rücken eine kleine Narbe, etwa auf dem linken Schulterblatt. Er war als Junge bei einer Radtour gestürzt und hatte sich den Rücken aufgerissen.«
»Eine Narbe? Das könnte uns schon helfen.«
Und dann folgte die übliche Beschreibung der Person mit allen Einzelheiten, mit den kleinen Details, die wichtig für eine Identifizierung sind. Seine besonderen Eigenheiten wurden notiert, sein bisheriger Lebenswandel wurde Punkt für Punkt durchleuchtet, bis vor den beiden Kriminalisten das Bild eines Menschen entstand, der kein Geheimnis mehr besaß außer seinem plötzlichen Verschwinden.
»Ich danke Ihnen herzlich, Frau van Brouken«, sagte Felix Trambaeren nach einer guten Stunde Verhör. »Gehen Sie jetzt nach Hause und vertrauen Sie auf uns. Wir werden alles, was in unseren Kräften steht, versuchen. Sollten wir etwas erfahren, so geben wir Ihnen durch einen unserer Beamten umgehend Nachricht.«
Als Antje van Brouken gegangen war, begannen die beiden Kriminalisten eine fieberhafte Tätigkeit.
Alle Amsterdamer Zeitungen wurden benachrichtigt.
An die Polizeidruckereien wurde Pieter van Broukens Signalement weitergegeben.
Nach einer Stunde schon surrten die Druckmaschinen mit den großen Steckbriefen.
Der Rundfunk wurde alarmiert und in Kenntnis gesetzt. Er unterbrach mit der Suchmeldung sofort sein Programm.
Doch trotz Steckbrief, Rundfunk und Zeitung blieb Pieter van Brouken verschwunden!
Dagegen meldete sich um die Mittagszeit des nächsten Tages, als Brox allein war und Trambaeren schnell in einem nahen Lokal zu Mittag aß, ein junges Mädchen, welches angab, den Mann, den das Bild in der Zeitung zeige und der nun plötzlich verschwunden sei, um 1/2 5 Uhr am Botanischen Garten auf der Heerengracht gesehen und sogar gesprochen zu haben.
Ferdinand Brox triumphierte. Endlich eine Spur. Endlich ein Fingerzeig!
Mit Elan stürzte er sich auf die Aussage des Mädchens.
»Sie heißen Hendrikje Varens?« fragte er freundlich. »Beruf Stenotypistin, Alter 19 Jahre, ledig, wohnhaft in Amsterdam, Bloemstraat 5.«
»Ja«, nickte das Mädchen. Sie war erfreut, einen so liebenswürdigen Beamten zu sehen, und die Angst vor der Polizei fiel langsam von ihr ab. Freier und gewandter begann sie zu sprechen.
»Sie haben Pieter van Brouken gestern abend gesehen?« fragte Brox weiter.
»Ja, auf der Heerengracht. Er lehnte sich gegen einen Baum; ihm schien übel oder schwindelig zu sein. Ich half ihm, sich auf eine Bank zu setzen.«
Ferdinand Brox blickte auf. In seine Augen trat ein Leuchten.
»Schwindelig war er, sagten Sie?« fragte er lebhaft und beugte sich interessiert vor. »Bitte, erinnern Sie sich an jede Einzelheit, jede Wahrnehmung kann Licht in das rätselhafte Dunkel bringen. Wie sah Herr van Brouken aus? Leidend, elend, oder schwitzte er?«
»Nein.« Das Mädchen dachte kurz nach. »Bleich war er, sehr bleich. Und schwitzen tat er auch - ja - ich führte ihn zur Bank und berührte dabei seine Wange. Es war kalter Schweiß. Man liest, daß so die Toten schwitzen oder die Sterbenden ... so genau weiß ich das nicht mehr ... Ich weiß nur noch, wie ich bei der Berührung zusammenschauderte.«
»Gut! Sehr gut!« Ferdinand Brox machte sich einige Notizen. Eine unbändige Freude durchrann seinen Körper.
»Kalter Schweiß und Schwindelanfälle. Was haben Sie sonst noch bemerkt?«
Fräulein Varens schaute vor sich auf die Diele rnd dachte nach.
»Ja«, sagte sie nach einiger Zeit, in der Brox den Fall logisch durchdachte. »Er klagte über einen Druck im Hinterkopf und sagte wörtlich: >Die Hitze bekommt mir nicht!<«
»Aha! Hatten Sie den Eindruck, daß es sich um einen Hitzschlag handelte?«
»Ich weiß nicht - ich kenne keinen Hitzschlag.«
»Natürlich.« Ferdinand Brox machte sich wieder Notizen. Mit größter Freundlichkeit diktierte er einem herbeigerufenen Polizisten das Protokoll und schob es dann Fräulein Varens zu. Langsam las sie das Schriftstück durch und unterschrieb es dann mit sichtlichem Ernst.
Brox strahlte und drückte dem Mädchen die Hand.
»Ich danke Ihnen«, rief er. »Ich glaube, mit Ihrer Aussage haben wir den Fall van Brouken auf die schnellste Art gelöst. Sollten Sie Ihre Aussage noch vervollständigen müssen, erhalten Sie von uns Nachricht.«
Mit diesem Verhör begann für Ferdinand Brox eine Glückssträhne, die ihm den Mittag vergoldete. Denn kaum hatte Fräulein Varens das Zimmer verlassen, meldete der diensttuende Wachtmeister weitere Zeugen in Sachen van Brouken.
Einer nach dem anderen betrat das Zimmer und beeidete schriftlich im Protokoll, daß er den abgebildeten Pieter van Brouken gestern abend von 1/2 5 bis 1/2 7 Uhr auf einer Bank am Botanischen Garten sitzend oder wie schwindelig oder übel an einem Baum lehnend gesehen hatte. Sie waren auf der Straße vorübergegangen und hatten nicht sonderlich auf den Mann geachtet. Einige sogar behaupteten, sie hätten gedacht, er sei betrunken.
Es waren acht Zeugen aller Altersklassen und Berufe.
Die Aussage Fräulein Varens war achtmal bestätigt.
Als der letzte Zeuge gegangen war, atmete Ferdinand Brox tief auf, lehnte sich zurück und schloß die Augen.
Das Rätsel war gelöst. Anders, als er erwartet hatte, aber immerhin noch auf einer psychologischen Basis.
Als Felix Trambaeren vom Mittagessen zurückkam, legte ihm Brox stumm die Protokolle vor. Erstaunt und immer wieder mit Kopfschütteln las der Inspektor die Aussagen und blickte dann fragend zu Ferdinand Brox.
»Und was folgern Sie aus diesen Aussagen?« fragte er leise in die Stille.
»Für mich ist der Fall klar. Auf Grund sensibler Komplexe plötzlich eintretender Trübsinn und Selbstmord durch Gift. Der in der Aussage von Fräulein Varens erwähnte Druck im Hinterkopf beweist es deutlich. Ich denke an Strychnin.«
Felix Trambaeren nickte.
»Und seine Leiche?«
»Ich vermute, er hat sich wieder von der Bank erhoben, ist zu einer Seitengracht gestolpert und hat sich mit letzter Kraft in das tiefe Wasser fallen lassen.«
Der Inspektor nickte wieder. Sein Gesicht war ernst.
»Benachrichtigen Sie bitte die unglückliche Gattin. Und an den Chefinspektor melden Sie: Fall Pieter van Brouken erledigt. Selbstmord. Motiv: Trübsinn.«
Ferdinand Brox nahm das Aktenstück auf und drückte Trambaeren die Hand.
»Wir dürfen uns gratulieren«, sagte er, aber sein Gesicht war ernst. »Das war ein schneller Fall und der merkwürdigste Selbstmord, den ich bisher kenne ...«
Die Morgenzeitungen brachten die Lösung des Rätsels um Pieter van Brouken schamhaft auf der Lokalseite. Ein Selbstmord eines kleinen Beamten war nicht sonderlich interessant und ging in erster Linie die trauernden Hinterbliebenen an.
Die Steckbriefe mit dem großen Bild wurden abgerissen oder durch Plakate überklebt. Wer achtet denn auf das lächelnde,
wohlgenährte Gesicht eines Sparkassenbeamten!?
Die Gesprächsthemen in der Straßenbahn gingen wieder auf die große Inflation in Deutschland über. Wenn die Deutschen das Jahr 1923 überleben, seien sie gerettet, hieß es.
Auch um Antje van Brouken und den kleinen Fietje machte man sich keine Sorgen.
Die Sparkassendirektion hatte in einer Sondersitzung beschlossen, aufgrund des besonderen und einmaligen betrüblichen Umstandes der jungen Witwe ausnahmsweise die im Falle eines regulären Ablebens des Beamten van Brouken zustehende Vollpension zu gewähren, womit der Lebensunterhalt der hinterlassenen Familie gesichert und ein leidlich sorgenfreies Auskommen garantiert war.
Zwar hatte man die Leiche noch nicht gefunden, aber das schien auch aussichtslos, denn die engen Seitengrachten waren zum Teil tief und am Boden verschlammt und ließen ihre Opfer vom Grund nicht los. Die Polizei hatte wohl die in Betracht kommenden Grachten mit Stangen und Netzen abgesucht, aber ohne Erfolg.
Die Akte Pieter van Brouken war geschlossen.
Trübsinn mit nachfolgendem Selbstmord.
Na ja ...
Pieter van Brouken wurde vergessen ...