Chefkommissar Antonio de Selvano saß mißgestimmt in seinem Sessel und starrte auf ein umfangreiches rotes Aktenbündel. Im Vorzimmer unterhielten sich flüsternd die Sekretärinnen und wehrten alle Besucher, die den Kommissar sprechen wollten, mit erschreckten Mienen ab., Es war dicke, äußerst dicke Luft in der Zentralabteilung zar Bekämpfung des Rauschgiftschmuggels von Lissabon. Antonio de Selvano, einer der fähigsten und gewandtesten Köpfe der portugiesischen Kriminalpolizei, tappte seit einem Jahr, seit er das Rauschgiftdezernat übernommen hatte, nicht nur völlig im dunkeln, sondern mußte sich heute sagen, daß sich der grandiose Rauschgiftschmuggel trotz aller Abwehrmaßnahmen, trotz aller Überwachung der Land- und Seegrenzen an Umfang verdreifacht hatte. Aus Amsterdam, Bilbao, Antwerpen, Hamburg, Bremen, Kopenhagen, Oslo, Stockholm, aus Athen, Syrakus, Istanbul, ja sogar aus Kairo trafen Alarmnachrichten ein, die den Chefkommissar zu einem brüllenden Berserker werden ließen.
»Hier!« schrie er gerade und warf eine Handvoll Radiogramme auf den breiten, mit Papier überladenen Schreibtisch. »Hier, sehen Sie sich das an! Aus Belgrad und Algier melden sie sich auch! Kokain in rauhen Mengen! Kisten mit portugiesischen Zeichen! Bei Razzia in Fez allein 350 unheilbare Giftsüchtige! Packungen, die man fand, kamen aus Portugal!« Er brüllte. »Eine Schweinerei ist das! Seid ihr denn alle Holzköpfe?! Habe ich nur Idioten als Detektive?! Ich will etwas sehen - eine Spur nur, einen Anhaltspunkt, ein Licht - das genügt mir schon! Ich will wissen, wo ich den Hebel ansetzen kann!«
Primo Galbez, Portugals berühmte >Spürnase<, krauste die
Stirn und wiegte den schwarzlockigen Kopf hin und her.
»Eine unangenehme Sache, gebe ich zu! Aber was soll man machen? Die Kokainburschen sind mit allen Ölen gesalbt! Ich hätte schon eine Spur, aber ...«
»Was aber?!!« Selvano sprang auf. »Mensch, Galbez, reden Sie doch! Sie haben etwas entdeckt?!«
»Entdeckt? So kann man das nicht nennen! Ich habe etwas festgestellt!«
»Was?!! - Sie haben eine Art, die einen wahnsinnig macht!«
Galbez lächelte verzeihend.
»Ich habe lediglich festgestellt, daß bei Professor Destilliano in der Rua do Monte Castello seit über einem Jahr ein uns unbekannter Mann wohnt! Er ist auch nicht gemeldet!«
Chefkommissar Selvano verzog das Gesicht, als habe er in eine unreife Zitrone gebissen. Heftig winkte er ab.
»Galbez, Sie pietätloses Geschöpf! Sie wollen doch nicht etwa Portugals berühmtesten Bakteriologen des Kokainschmuggels bezichtigen?! Von mir aus kann er zehn Jahre lang Besuch haben, ohne daß ich auf den Gedanken komme, auch nur eine Sekunde etwas Verbotenes dabei zu finden!«
»Der Gast scheint der Liebhaber der netten Anita Almiranda zu sein«, bemerkte Primo Galbez trocken. »Man sah sie öfters per Arm in der Stadt.«
»Eifersüchtig?« Selvano lächelte schwach. »Galbez, Sie lassen nach! Sie fangen schon an, Privatleben mit Beruf zu vermischen! Das ist der Anfang der Zylinderlaufbahn! Im übrigen ist damit die Begründung des langen Aufenthaltes dieses Herrn klar! Ein Alibi wie in einem Roman! Außerdem ist Professor Destilliano so korrekt, daß er mich über diesen Besuch längst orientiert hat. Der Herr kommt aus Spanien und heißt« -er dachte einen Augenblick nach -, »na, wie war der Name doch ... ich glaube: Jose Biancodero oder so ähnlich. Diese >Spur< war also ein Windei, Galbez!«
Der Detektiv ließ sich durch die sarkastische Art Selvanos nicht stören, sondern kramte aus seiner Aktentasche ein abgegriffenes Notizbuch hervor. Bedächtig blätterte er darin und lehnte sich dann auf seinen Stuhl zurück. Gespannt blickte ihn Selvano an. Er wußte, wenn Primo Galbez sein altes Notizbuch zog, sprudelten die Überraschungen nur so heraus.
»Zunächst möchte ich feststellen«, sagte Galbez mit ruhiger Stimme, »daß besagter Jose Biancodero - so heißt er wirklich, alle Achtung vor Ihrem Gedächtnis, Chef - vor über einem Jahr, im Juli 1923, nach Lissabon kam. Professor Destilliano begleitete ihn. Ich habe nachgeforscht, daß der Dampfer >Espana< sie in Marseille aufgenommen hat.«
»Na und?«
»Biancodero stammt doch angeblich aus Sevilla!«
»Deswegen kann er doch in Marseille an Bord gehen!«
»In Marseille ist aber ein Umschlaghafen der Rauschgiftschmuggler!«
»Das war Marseille immer! Diese Kombination ist Fantasterei! Dann müßte man alle Fremden verhaften, die in Marseille an Bord eines Schiffes gehen!«
»Mag sein! Weiter! Wie kommt es, daß Jose Biancodero von Anita Almiranda privat Fernando genannt wird?!«
»Was?!« Selvano zuckte auf und strich sich über die Augen. Doch dann lächelte er. »Fernando, sagten Sie?«
»Ja. Ich dachte schon an einen Kosenamen. Aber das trifft hier nicht zu! Kosenamen werden aus dem Wortstamm des richtigen Namens gebildet! Anita aber nennt Ihren Freund Fernando, während sie ihn in Gegenwart Dritter mit Jose betitelt.«
»Vielleicht eine kleine Marotte, die Fernando schöner findet als Jose. Sie kennen die Frauen nicht, Galbez. Wenn Sie den schönen Namen Primo haben und ihrem Mädel gefällt Max besser, heißen Sie ab morgen unweigerlich nur noch Mäxchen!«
»Grauenvoll! - Aber was sagen Sie dazu, Chef?! Professor Destilliano kaufte vor drei Jahren das Haus neben seiner Villa.«
»Sein gutes Recht!«
»Dieses Haus gehörte dem Schriftsteller Doktor Fernando Albez!«
Antonio de Selvano nickte. Er erinnerte sich genau.
»Ich weiß. Das war damals vor drei Jahren der tragische Fall, wo Doktor Albez bei einem Sonntagsspaziergang einen Herzschlag bekam. Ich war selbst beim Begräbnis zugegen!«
Galbez nickte ernst. Dann sagte er langsam: »Und Anita Almiranda nennt den Fremden Fernando ...«
»Sie sind verrückt!« Der Chefkommissar war aufgesprungen und warf das dicke Rauschgiftaktenstück auf einen nahe stehenden Schreibmaschinentisch. »Wollen Sie damit sagen, daß dieser Doktor Albez gar nicht gestorben ist?«
»Vielleicht ...«
»Galbez, Mensch, Idiot, ich habe sein Begräbnis mitgemacht! Ich habe ihn in der Totenhalle während der Messe im offenen Sarg aufgebahrt gesehen! Ich saß in der ersten Reihe! Wollen Sie behaupten, daß ich wahnsinnig bin?!«
»Noch nicht«, antwortete Galbez frech. »Aber vielleicht werden Sie es, wenn ich Ihnen weiterberichte. Als ich nämlich soweit vorgedrungen war, ließ mir der Fall keine Ruhe mehr und ich setzte mich auf die Spur. Erfolg: besagter Jose Biancodero schreibt ein Buch.«
»Wenn es Sie beruhigt: Ich schreibe auch eins!« schrie Selvano. »Wer Bücher schreibt, braucht nicht der vor drei Jahren gestorbene Doktor Albez zu sein!«
»Man nennt Sie ja auch nicht Fernando! Doch weiter! Dieser
Jose Biancodero ist seit einem Jahr dauernd auf Reisen! Er benutzt dazu eine elegante kleine Privatjacht Professor Destillianos und bevorzugt die Route Lissabon, Las Palmas, Amsterdam! Von Amsterdam aber wissen wir, daß es der Hauptplatz der Rauschgiftschmuggelei für Westeuropa ist!«
»Und im Hafen von Las Palmas hat man kürzlich einen Segler mit Morphium-Ampullen sichergestellt«, sagte Selvano leise. »Als die Polizei das Schiff enterte, entfloh die Besatzung in einer Motorbarkasse in die Nacht.«
»Paßt wundervoll in unseren Ring, Chef. Doch es wird noch lustiger! Ich habe durch den alten Gärtner Destillianos ein Manuskriptblatt des neuen Romans dieses Jose Biancodero erhalten. Das Blatt war unterzeichnet mit Dr. F. A.!«
Für Antonio de Selvano war dieses Wiederkehren Dr. Albez' mehr als Wahnsinn. Schon der Gedanke, daß ein Toter, den er selbst mitbegraben hatte, nach drei Jahren wiederauftaucht und weiterlebt, brachte ihn außer Verstand.
»Hören Sie mit diesem dummen Doktor Albez auf!« schrie er deshalb Primo Galbez an und hieb die Faust auf den Tisch. »Er ist tot! Ich lasse mich nicht zum Narren halten!«
»Gut, wie Sie wollen, Chef - er ist tot! Aber bitte, setzen Sie sich, denn jetzt kommt etwas, wo Sie umfallen!«
»Reden Sie!« meinte Selvano barsch.
»Ich habe die neue, soeben erst, das heißt vor fünf Tagen geschriebene Manuskriptseite der Auswertungsstelle gegeben. Heute erhielt ich das Ergebnis!«
»Und?«
»Die Schrift des neuen Manuskriptes ist die Schrift des verstorbenen Doktor Albez!«
Mit einem lauten Plumps ließ sich Selvano in seinen Sessel fallen. Entgeistert starrte er Primo Galbez an.
»Was?« stotterte er. »Die Schrift Doktor Albez'?«
»Ich habe Ihnen ja gesagt,. Sie sollen sich hinsetzen!« Galbez blickte gemütlich lächelnd auf den noch immer starren Chefkommissar. »Ich glaube, Chef, daß damit der Fall Biancodero eine ganz andere Richtung und Bedeutung bekommt. Wenn Tote weiterleben ...«
»Blödsinn!« Selvano hatte sich gefaßt und brüllte auf. »Absoluter Blödsinn, Galbez! Ich lasse mich fressen: Ich habe Doktor Albez im Sarg gesehen! In den Akten liegt ein richtiger Totenschein!«
»Von wem ausgestellt?«
»Von Professor Destilliano!«
»Aha!«
»Was heißt hier aha? Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß der Professor über jeden Verdacht erhaben ist! Einer der größten Gelehrten Portugals ... «
Primo Galbez winkte ab.
»Wenn schon«, sagte er geringschätzig. »Es gibt Kaiser, die keinen Schuß Pulver wert sind! Der Name ist kein Schild der Tugend. Wie schön klingt Messalina - und welch ein Aas war sie!«
»Sie Nihilist!«
»Danke! Aber für die Polizei sollte alles verdächtig sein. Um so mehr freut sie sich, wenn das Gegenteil der Fall ist! Denken wir einmal nüchtern, ohne uns an Namen zu stören! Ein nichtgemeldeter Mann mit zwei Namen fährt auf einer Privatjacht zwischen den Hauptrauschgiftlagern hin und her. Er ist seit einem Jahr im Lande, und seit diesem Jahr hat sich der Schmuggel verdreifacht! - Was würden Sie da tun?«
Chefkommissar Selvano zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Dann sagte er langsam, während er sich von dem plötzlich harten Blick Galbez' abwandte:
»Ich würde mit Hochdruck den Fall untersuchen!«
Primo Galbez atmete hörbar auf. »Na also«, sagte er. »Wann geht's los?!«
Selvano schielte zur Seite auf den Detektiv und tippte an die Stirn.
»Verrückt, Galbez! Ohne Beweise bei Professor Destilliano erscheinen! In einer Stunde bin ich vom Ministerium persönlich entlassen. Wo Sie hinkommen, ist gar nicht auszudenken! - Aber was Sie sagen, leuchtet mir ein!« Er sann einen Augenblick nach. »Man müßte wirklich einmal vortasten ...«
»Das müßte man«, nickte Galbez.
»Aber wie?« Selvano zuckte die Achseln. »Wie komme ich unverfänglich an Destilliano heran?«
»Ich wüßte einen Weg«, lächelte die >Spürnase<.
»Und der wäre?«
»Sie lassen sich von Destilliano untersuchen. Er ist ein guter Arzt.«
»Woher wissen Sie denn das?«
Galbez lächelte schwach.
»Weil ich selbst schon bei ihm war ...«
Eine warme Sommernacht lag drückend über Lissabon. In den Gassen am Fuße des Monte do Castello brütete die heiße Luft, durchsetzt mit dem Geruch verfaulender Küchenabfälle, und machte den Kopf schwer und schwindelig. Träge ließ diese Hitze das Blut durch die Adern klopfen, es war, als läge Blei auf dem Herzen und hemme jeden Schlag.
Auch im Garten Destillianos drückte die heiße Luft. Welkend bog sich das hohe Gras, die harten Blätter raschelten an den Bäumen und Sträuchern. Saftlos zitterten die eingehenden Blumen auf den Beeten.
Mit kleinen Schritten trippelte Professor Destilliano durch sein verwildertes Grundstück. Er hatte die Hände auf den Rücken gelegt und starrte auf den von der Sonne ausgetrockneten rissigen Boden. Seine langen weißen Haare hingen ihm über die Stirn.
Seit vier Tagen war Dr. Albez mit der Jacht Anita von Amsterdam aus überfällig. Konsul Don Manolda hatte wie immer die pünktliche Ankunft und Abfahrt der Jacht telefonisch durchgegeben, und seitdem fehlte von Dr. Albez jede Nachricht. Tag für Tag hatten Destilliano und Anita am Kai gestanden und auf das Auftauchen des schlanken weißen Rumpfes gewartet, und jeden Tag waren sie mit immer größeren Rätseln und Fragen zurückgekehrt.
Vier Tage lang!
Professor Destilliano wurde unruhig. Für ihn bedeutete die Aufbringung der Jacht durch die Polizei nicht nur einen materiellen Verlust, sondern die Tatsache, daß Kokain an Bord war, bedeutete für ihn den völligen Zusammenbruch.
Ein Jahr lang fuhr nun Dr. Albez die gefährliche Route Lissabon-Amsterdam, die gefährlichste Strecke aller Schmuggelwege. Die Hoffnungen, die Destilliano in ihn gesetzt hatte, waren nicht enttäuscht worden. Vielmehr hatte Dr. Albez die schwierigsten Hafen- und Dreimeilenzonen-Kontrollen mit einer fabelhaften strategischen und kaltblütigen Übersicht gemeistert und die Jacht Anita glücklich zwischen den Häfen hin- und hergesteuert.
Destilliano lachte leise. Wenn der gute Fernando wüßte, was er wirklich an Bord hatte! Noch lebte er in dem Glauben, das probate Mittel gegen Tuberkulose zu schmuggeln, und der Professor vermied es mit allen Mitteln, daß Dr. Albez die Kisten früher sah, als bis sie verladen wurden. Auch Anita ahnte nichts von dem gefährlichen Beruf ihres Bräutigams, sondern war nur wunschlos glücklich, wenn sie Fernando nach langer Fahrt für ein paar Tage in seine Arme nehmen konnte.
Ach ja - Anita und Fernando!
Vor einem halben Jahr hatten sie ihre Verlobung gefeiert, prunklos im engsten Kreise, den sogar der Konsul Manolda persönlich bereicherte. Nun saß Anita Tag um Tag und stellte ihre Aussteuer zusammen, bestickte jedes Wäschestück mit Monogrammen und war glücklich in ihrer seligen Ahnungslosigkeit.
Doch die vier Tage, die Dr. Albez überfällig war, hatten das Mädchen völlig verändert. Es fiel sichtlich zusammen, sah ständig verweint und vergrämt aus und hatte einen fiebrigen, flackernden Glanz in den Augen.
Dieser Glanz war es, der Professor Destilliano keine Ruhe ließ! Daß ein Mädel sich um den Liebsten ängstigt, ist klar, und daß sie die Nächte durchweint, ist bei dieser schrecklichen Ungewißheit verständlich, aber dieser rabiat schnelle Verfall der Kräfte und die fieberglänzenden Augen lagen außerhalb dieser Sorge um Fernando.
Tbc? Sollte dieses herrliche, blühende Mädchen lungenkrank sein? Ihre manchmal fahle Haut und die in letzter Zeit öfter auftretende, plötzliche körperliche Schwäche ließen darauf schließen. Auch war das Mädchen nervös und leicht erregbar geworden, alles Dinge, die vor zwei Jahren noch nicht in Erscheinung traten und Destilliano daher verblüfften.
»Ich bin ein schlechter Arzt«, murmelte er und schritt langsam dem Hause zu. »Tausenden helfe ich, und die eigene Nichte verwelkt unter meinen Händen ...«
Er trat ins Haus, ging leise die Treppen hinauf und klinkte nach kurzem Anklopfen die Tür von Anitas Wohnzimmer auf.
Als er eintrat, sah er noch, wie das Mädchen schnell unter der Sofadecke etwas versteckte. Dann blickte sie ihn mit erstaunten, aber auch maßlos erschreckten Augen an.
»Du, Onkel?« fragte sie stockend. »Um diese Zeit?!« Und plötzlich sprang sie auf und rief: »Du hast Nachricht von Fernando! Ihm ist etwas passiert!«
Professor Destilliano schüttelte den Kopf und trat näher. Das schnelle Verstecken und die erschreckten Augen Anitas gefielen ihm nicht und machten ihn irgendwie mißtrauisch.
»Komm einmal näher, Anita«, sagte er mit leiser, gütiger Stimme und blieb unter der hellen Deckenlampe stehen. Verwundert kam das Mädchen heran und blieb drei Schritte vor Destilliano stehen. Der Professor winkte. »Nein, Anita, noch näher«, sagte er gütig. »Ganz nahe, hier unter das Licht. - So!«
Er stellte sie unter die Lampe und hob ihren Kopf empor zu der starken Glühbirne.
»Du gefällst mir in letzter Zeit nicht«, meinte er dabei. »Deine Augen sind so anders. Laß mich mal sehen.«
Schnell senkte Anita den Kopf und nestelte an ihrem Kleid.
»Es ist nichts«, sagte sie stockend. »Ich fühle mich ganz wohl. Die Sorge um Fernando, die Nachtarbeit an der Aussteuer ... sonst nichts. Mir ist bestimmt ganz wohl.«
Mit dem feinen Gefühl des Arztes, der alle seelischen Schwingungen aufnimmt, fühlte Destilliano, daß sie log. Wieder nahm er ihren Kopf und richtete ihre Augen zum Licht empor.
»Dann laß mich einmal sehen«, sagte er dabei und spürte, wie das Mädchen zu zittern begann. »In den Augen der Menschen liegt oft ein halbes Leben ...«
Aufmerksam blickte er in ihre flackernden, wie im Fieber glänzenden Augen und wandte sich dann plötzlich ab. Unmöglich! schoß es durch seinen Kopf. Das ist doch unmöglich!
Immer und immer wieder starrte er in die Augen. Er fühlte, wie es ihm trotz der Hitze eiskalt über den Rücken lief.
Ein Schwindel drohte ihn umzuwerfen.
Die Pupillen von Anitas Augen waren groß. Unnatürlich groß.
Und starr! Fast leblos ... Groß und starr ...
In Destillianos Schläfen rauschte es, während er das zurückweichende Mädchen losließ.
»Was hast du da eben versteckt?« fragte er leise und heiser. Das ungeheuerliche Bewußtsein, das er eben aus diesen Augen las, machte ihn starr.
Anita war zum Sofa zurückgewichen und zitterte. Schützend stellte sie sich vor das Versteck.
»Nichts«, sagte sie trotzig und duckte sich ein wenig, als erwarte sie einen Schlag.
Das Wort >nichts< riß in Destilliano eine Schleuse auf. Eine irre Angst brach über seine Seele herein.
»Das ist doch unmöglich ... unmöglich ... unmöglich ...«, stammelte er. Und plötzlich brüllte er, daß Anita wie unter einem Schlag zusammenzuckte und sich krümmte: »Was du da versteckt hast, will ich wissen!«
»Ich bin es nicht gewöhnt, angeschrien zu werden«, rief das Mädchen und setzte sich auf die Decke, die den versteckten Gegenstand verbarg. Trotzig schlug sie die Beine übereinander.
Destilliano stürzte vor und riß Anita am Handgelenk empor. Sie wollte beißen und kratzen, doch der Greis schleuderte sie von sich. Er war von Sinnen, die Augen quollen aus den Höhlen, und seine weißen Haare flatterten um seine Stirn.
»Dort, unter der Decke - was ist das?!«
»Nichts!«
»Du lügst!«
»Ja!!«
»Gib es heraus!«
»Nein.«
»Weg!« brüllte Destilliano und schleuderte das wieder vor dem Sofa stehende Mädchen zur Seite. Ehe sie sich wieder fangen konnte und auf den Professor stürzte, hatte dieser die Decke zur Seite gerissen.
Ein flacher, länglicher Kasten lag auf dem Sofa.
Ein unscheinbarer, grauer Kasten.
Mit einem Röcheln taumelte Destilliano zurück und lehnte sich an die Wand. Mit beiden Händen bedeckte er das verzerrte Gesicht.
Eine unheimliche Stille lag in dem Zimmer. An die Lehne des Sofas gepreßt, starrte Anita zu ihrem Onkel herüber.
Nach langem Schweigen ließ Destilliano die Hände sinken. Das faltige Gesicht eines müden, zerbrochenen Mannes kam zum Vorschein. Stockend quälte er die Worte hervor.
»Seit wann nimmst du Kokain ...«
»Seit einem Jahr ...«
»Täglich?«
»Ja, täglich.«
»Wo hast du das Gift her?« röchelte Destilliano. Anita blickte zu Boden. Ein heftiges Zittern durchfuhr ihren sichtlich abgemagerten Körper.
»Ich fand im Hause Fernandos, nebenan, eine kleine Kiste mit diesen Schachteln. Ich nahm sie mit, machte sie hier auf und sah, daß es Kokain war. Zuerst fürchtete ich mich - ich habe so viel Schreckliches von Kokain gelesen und gehört -, doch dann, als Fernando zum erstenmal fortfuhr, da hatte ich so schreckliche Angst um ihn. Da machte ich ein Paket auf.«
»Und du nahmst ein Pulver?« stammelte Destilliano. »Ja. Und ich schlief herrlich und wurde so ruhig danach. Wie ein Wunder war es, das in den Körper dringt. Jeden Abend sehnte sich mich nach diesen Träumen, dürstete nach der Nacht, zitterte, bis ich das Pulver nahm. Und dann war alles so leicht und herrlich, so voll Glück wie im Märchen.«
»Es ist der Tod!« schrie Destilliano. Eine irrsinnige Angst stieg in ihm empor. Er stürzte auf Anita zu und schüttelte sie. »Der Tod! Der Tod! Der Tod!« brüllte er dabei, und ihre schwarzen Locken, die vor seinen starren Augen flatterten, machten ihn vollends irr. »Wer das Gift nimmt, ist verloren!« schrie er gellend. »Du darfst es nicht mehr nehmen, hörst du -du darfst nicht!!«
Anita hatte die Augen geschlossen. Willenlos ließ sie sich schütteln.
»Ich kann nicht mehr«, stammelte sie. »Ich muß.«
»Nein!« Destilliano taumelte zurück. »Du bist dem Gift noch nicht verfallen!« Eine kindische Furcht warf ihn in die Knie. Zitternd umschlang er Anitas Beine und winselte ihr zu Füßen. »Anita, sag doch ... du bist ihm nicht verfallen ... du kannst es vergessen ... du bist ihm nicht verfallen ...«
Anita streichelte die weißen, schweißverklebten Haare ihres Onkels. Der zitternde, winselnde Greis tat ihr unendlich leid. Doch sie konnte nicht anders - eine fremde, gewaltige Macht hatte ihren Willen in Besitz genommen.
»Doch«, sagte sie leise in das Schweigen. »Ich brauche das Gift zum Leben ...«
Stöhnend richtete sich Destilliano auf. Dann aber stürzte er mit einem Satz auf den grauen Kasten, warf ihn zu Boden und zertrat ihn, stampfte das Pulver in den Teppich, trat und hieb mit den Füßen darauf, wild, wie ein Amokläufer, und rannte dann aus dem Zimmer, als hetze ihn eine Meute blutdürstiger Hunde.
In seiner Bibliothek sank er vor einem alten, geschnitzten, in einer dunklen Ecke hängenden Kruzifix nieder und hieb mit dem Kopf auf den Boden.
»Vergib mir!« schrie er mit heiserer Stimme. »Herr ... vergib mir ... vergib mir ... Strafe mich nicht so ... Fluche nicht der Unschuld ... fluche mir ... o Herr, Herr ... vergib mir ...!«
Sein Schreien ging in ein Wimmern über, bis es vor Erschöpfung erstarb.
Ohnmächtig lag Professor Destilliano vor dem dunklen Kruzifix.
Es war dieselbe Zeit, in der unten im Hafen die Jacht Anita, von Amsterdam kommend, einlief und Dr. Albez verwundert auf die leere Kaimauer schaute, auf der nur ein Mann stand.
Die >Spürnase< Primo Galbez.
Antonio de Selvano saß über zwei Fotografien gebeugt und schüttelte zum wiederholten Male heftig den Kopf. Es sah aus, als käme er gerade aus dem Wasser und schüttelte nun die Tropfen ab. Und wirklich versuchte der Chefkommissar auch etwas abzuschütteln: die Verwunderung nämlich, die ihm das klare Denken hemmte.
Vor ihm lag ein Bild Dr. Fernando Albez' mit Anita Almiranda, aufgenommen von Primo Galbez auf dem Terreiro do Paco am Tejo, und darunter lag das ein Jahr alte Plakat der Amsterdamer Polizei, welche einen plötzlich verschwundenen Sparkassenkassierer Pieter van Brouken suchte.
Selvano war ganz plötzlich auf diese Gegenüberstellung gestoßen. Als ihm die >Spürnase< die gutgelungene Straßenfotografie übergab, fiel ihm das Gesicht dieses Jose Biancodero gleich merkwürdig bekannt auf. Er schien es schon einmal gesehen zu haben, und zwar vor nicht langer Zeit. Sinnend war er mit der Fotografie zum Kriminal-Bildarchiv gefahren und stieß direkt im Vorraum in der langen Reihe der neusten Steckbriefe auf das Bild Pieter van Broukens.
Antonio de Selvano war sich im Augenblick noch unschlüssig, ob seine Vermutung richtig war. Die Fahrten Biancoderos nach Amsterdam besagten an sich nichts, und doch war da eine gefährliche Gedankenkette, geknüpft mit Logik und Indizien, die nicht zu übersehen war. Im Juni 1923 verschwand Pieter van Brouken aus Amsterdam, im Juli 1923 tauchte ein völlig unbekannter Schriftsteller Jose Biancodero aus Sevilla in Lissabon auf! Beide Personen hatten eine große Ähnlichkeit miteinander, wenn auch das Gesicht Biancoderos dunkler und besser genährt aussah!
»Hier steckt etwas dahinter«, murmelte Selvano und verglich zum wiederholten Male die beiden Fotografien. »Galbez scheint doch recht zu behalten: Der Name ist kein Schild der Tugend! Man müßte die Rua do Monte do Castello etwas genauer betrachten!«
Er griff zum Telefonhörer und meldete ein Blitzgespräch mit dem Polizeipräfekten von Sevilla an. Dann rief er nacheinander die dem Monte do Castello benachbarten Gendarmeriestationen an und ordnete eine scharfe, aber diskrete Untersuchung in Form einer unsichtbaren Überwachung der Villa Destillianos an. Selbst entschloß er sich, morgen früh den Vorstoß zu wagen und den Professor als Arzt aufzusuchen.
Es dauerte nicht lange, so schellte das Telefon.
Die Polizeipräfektur Sevilla war am Apparat.
Und nach wenigen Minuten wußte Selvano, daß es einen kleinen, unbekannten Schriftsteller Jose Biancodero in Sevilla gab, der vor einem Jahr ins Ausland - wie es hieß - verreist sei. Ein Bild war nicht vorhanden - der Mann war zu unbedeutend. Außerdem besaß er keine Vorstrafen und war unbescholten.
Enttäuscht legte Selvano den Hörer zurück in die knackende Gabel. Seine schöne Gedankenkette hatte einen kleinen Riß erhalten. Wenn es einen seit einem Jahr ins Ausland verreisten Jose Biancodero gab, so konnte es nur der Gast Professors Destillianos sein! Seine verblüffende Ähnlichkeit mit dem vermißten Pieter van Brouken war also ein großer, gar nicht einmal so seltener Zufall.
Und doch ließ Selvano den Gedanken nicht fallen, daß hier irgendwo ein Geheimnis steckte. Er hatte das merkwürdige Gefühl, einem Verbrechen auf der Spur zu sein, das so einmalig, so grandios, so entsetzlich war, daß ihm schon bei dem Gedanken leise schauderte.
Er zögerte ein wenig, ehe er den Hörer wieder abnahm und eine Blitzverbindung mit dem auf dem Steckbrief erwähnten
Amsterdamer Kollegen Kommissar Felix Trambaeren verlangte.
Das Gespräch, das er dann in französischer Sprache mit Trambaeren führte, war mehr als merkwürdig.
»Hallo - hier Kriminalpolizei Lissabon. Chefkommissar Selvano.«
»Hier Kommissar Trambaeren, Amsterdam.«
»Ich habe hier einen Steckbrief liegen von einem Pieter van Brouken.«
»Alter Schinken! Ist längst erledigt!«
»Wieso? Ist er gefunden?«
»Gefunden nicht!« Trambaerens Stimme klang gelangweilt. »Aber der Fall ist laut einwandfreier Zeugenaussagen klar. Selbstmord durch Gift und Ertränken in der Heerengracht. Leichnam auf Grund verschlammt und deshalb nicht auffindbar.«
»Und man ist in Amsterdam sicher?«
»Ganz sicher! Aber warum fragen Sie?«
»In Lissabon ist ein Fremder, ein Spanier, aufgetaucht, der van Brouken täuschend ähnlich sieht.«
Trambaeren lachte ins Telefon. »Alle Achtung! Ihr seid in Portugal genau! Laßt den armen Kerl laufen. Alltagsgesichter wie van Brouken gibt es Tausende. Übrigens können Tote nicht leben - klar?!«
»Ich danke Ihnen, Kollege!«
»O bitte, bitte.«
Knack! Wütend warf Selvano den Hörer in die Gabel und lehnte sich zurück.
Wieder ein Glied in der Beweiskette zerbrochen, dachte er. Und sogar das wichtigste! Pieter van Brouken hat einwandfreien Selbstmord begangen. Er ist also tot! Logisch! Und dieser Biancodero sieht ihm ungeheuer ähnlich und hat die Handschrift
Dr. Fernando Albez'! Und der ist auch tot!
Wahnsinn! Ein Lebender, der zwei Tote repräsentiert! So etwas kann auch nur aus dem Gehirn eines Primo Galbez kommen!
Und doch - Antonio de Selvano schüttelte den Kopf. Das Gefühl des geborenen Kriminalisten ließ ihn nicht los: Da steckt ein Geheimnis, das vielleicht eine der größten Sensationen der modernen Kriminalgeschichte wird!
Nachdenklich schob er die Bilder in die Schublade eines Schreibtisches. Noch tappte er im dunkeln, aber irgendwo begann es zu dämmern. In den Fingerspitzen fühlte er ein Kribbeln.
»In einer Woche weiß ich, was gespielt wird«, sagte Selvano laut und fest. »In einer Woche - oder es wird uns allen für immer ein großes, schreckliches Rätsel bleiben.«
Als die Jacht >Anita< am Pier des Lissaboner Hafens vertäut wurde, sprang Primo Galbez mit der Leichtigkeit eines Sportsmannes an Bord.
Erstaunt trat ihm Dr. Albez entgegen.
Die Anwesenheit eines Fremden auf der Jacht und das Fehlen Anitas am Kai erweckte in ihm ein merkwürdiges Gefühl von Angst und kommender, unbegreiflicher Gefahr. Höflich nickte er dem kecken Besucher zu und stellte sich ihm in den Weg.
»Was führt Sie zu mir?« fragte er und betrachtete ihn aufmerksam.
Ein Sportsmann, dachte er dabei. Kräftig, elastisch - muß Muskeln wie Stahl haben.
Primo Galbez, der blitzschnell erkannte, daß er dem Gesuchten gegenüberstand, lächelte sein blendendstes Lächeln.
»Mein Name ist Traverno. Reporter der Portugaler Staatszeitung, Lissabon. Ich hätte gern ein Interview mit Ihnen.«
»Mit mir?« Dr. Albez staunte ehrlich. »Ich wüßte nicht, was an mir so interessant ist!«
»Oh, nicht diese Bescheidenheit!« Primo Galbez klappte sein geheimnisvolles Taschenbuch auf und begann zu schreiben. Dabei redete er in einem fort. »Bescheidenheit ist eine Zier, doch sie nützt nichts! Gar nichts, Senor! Sie sind doch Schriftsteller?!«
»Allerdings!«
»Na also! Nichts geht über die Reklame eines guten Interviews! Was meinen Sie dazu?«
»Ich meine, daß es im Augenblick wichtiger ist, meine Jacht in den Hafen zu steuern, nach Hause zu fahren und auszuschlafen«, antwortete Dr. Albez etwas schroff. »Morgen stehe ich Ihnen dann zur Verfügung.«
»Morgen, morgen! Wer verschiebt, schädigt seine Börse! Morgen stehen Sie schon in den Blättern. Mit Bild: Jose Biancodero zurück von der Weltreise!«
Dr. Albez lächelte und schüttelte den Kopf.
»Gut gebrüllt, Löwe, sagte Shakespeare. Aber Weltreise ist Illusion. Ich komme von Amsterdam.«
»Aha! Amsterdam!« Primo Galbez notierte. »Sie kennen Amsterdam gut?«
»Es geht. Ich war einige Male dort.«
»Was macht eigentlich Pieter van Brouken?«
Galbez beobachtete die Wirkung seiner Überrumpelung von unten herauf wie ein Raubtier und wartete auf eine blitzschnelle Reaktion des Gesichtes. Doch nichts geschah - nur großes Staunen drückten die Züge Dr. Albez' aus.
»Pieter van Brouken? Fangen Sie mit der dummen Affäre auch wieder an? Wie soll ich wissen, was der macht?! Er ist doch tot!«
»So sagt man.« »Und er geht mich auch nichts an!«
»Eben, eben! Schwamm drüber! Was machen Sie in Amsterdam?«
Dr. Albez wurde bei dieser beiläufig gesagten Frage vorsichtig und hellhörig. Einen Augenblick dachte er daran, daß dieser Reporter ein Kriminalbeamter sei, der dem Medikamentenschmuggel auf der Spur war, doch dann verwarf er den Gedanken- und lächelte Primo Galbez an. Diesem gefiel dieses Lächeln gar nicht, und ihm wurde ungemütlich.
»Was macht man schon in einer fremden, schönen Stadt? Was würden Sie dort tun?«
Galbez sann einen Augenblick nach. Raffinierter Hund, dachte er. Er will mich fangen. Na warte, Bürschchen!
»Ich würde vielleicht nach netten Mädchen Ausschau halten«, sagte er dann.
»Sie Genießer!«
»Oder Freunde und Bekannte besuchen.«
»Nicht übel.«
»Und Sie, Senor Biancodero?«
Dr. Albez klopfte Galbez auf die Schulter und blickte ihm schelmisch in die Augen.
»Ich würde genau das tun, was Sie auch in einer fremden Stadt machten. Darin gleichen wir Männer uns alle wie Zwillinge. Eine Verbeugung im voraus vor Ihrer Fantasie. Schreiben Sie, was Sie wollen. Geglaubt wird ja doch nur die Hälfte! Und die genügt völlig. Und im übrigen muß ich an Land!«
Damit drückte er Galbez sanft zur Seite und eilte die Laufbrücke hinunter auf den Kai. In einer Telefonzelle nahe einem Lagerschuppen verschwand er.
Der Detektiv, der sich völlig entgeistert plötzlich allein sah, begriff im selben Augenblick die günstige Situation. Mit einigen großen Sprüngen rannte er zu der Tür der Laderäume, knipste eine kleine Taschenlampe an, stolperte die steile Treppe hinab und stand in einigen weiten, leeren Sälen, die mit Blech ausgeschlagen waren und deutlich die Spuren vor kurzem ausgeladener Waren zeigten. Schnüffelnd wie ein Spürhund eilte Galbez durch die Laderäume und stieß in einem kleinen Nebenraum auf eine kleine, geöffnete Kiste mit grauen, flachen Schachteln aus Pappe. Als er sie öffnete, pfiff er leise durch die Zähne und steckte einige Schachteln in die weiten Taschen seines Sommersakkos. Nachdenklich knipste er die Taschenlampe aus.
Dann hastete er den Weg zurück, sprang mit langen Sätzen über den Laufsteg an Land und verschwand zwischen dem Gewirr der Schuppen und Holzkontore.
Im gleichen Augenblick öffnete sich die Telefonzelle und Dr. Albez stürzte heraus.
Er schien erschreckt, verwirrt und ziemlich ratlos zu sein. Sein Gesicht war blaß, die Haare hingen ihm in die Stirn. Er schaute sich nicht nach dem Reporter um, sondern rannte zur Kommandobrücke und befahl, die Jacht vom Pier abzulegen.
Während die kleine, verschworene Mannschaft das Schiff abtaute und es rückwärts aus dem Hafen manövrierte, saß Dr. Albez in dem kleinen Kartenhaus auf der Kommandobrücke und stützte den Kopf in beide Hände.
Er fühlte einen dumpfen Druck im Herzen. Als er vorhin anrief, war Professor Destilliano am Apparat. Seine Stimme klang zitterig und brüchig, als er befahl, die Jacht 40 Kilometer weiter oberhalb Lissabons in einer Privatbucht anzulegen. Dann drang Anitas Stimme dazwischen, er wollte ihren Namen rufen -da hörte er ein Röcheln, und die Verbindung brach ab.
Es ist etwas geschehen, jagte es durch seinen Kopf. Schon daß sie nicht am Hafen stand, war merkwürdig! Aber was geschehen sein mochte, konnte er sich nicht erklären. Er fühlte nur eine große Angst im Herzen, eine drückende, bleierne Angst.
Langsam glitt die Jacht aus dem Hafen.
Hinter einem Segelschiff in einem starken Motorboot wartete Primo Galbez.
Als Anita nach einiger Zeit hinunter in das Arbeitszimmer ihres Onkels ging, fand sie Professor Destilliano betend in der dunklen Ecke vor dem Kruzifix. Sein langes weißes Hiar war nach vorn gefallen, seine Gestalt war zusammengesunken und zerfallen.
Ein unendliches Mitleid stieg in Anita auf. Sie wollte zu ihm hinstürzen, ihn um Verzeihung bitten, ihn küssen, ihm alles, alles versprechen, sie wollte mit sich ringen und den Zauber des Giftes vergessen. Doch sie kam nicht dazu. Als Professor Destilliano sie in das Zimmer treten hörte, sprang er auf und schoß auf Anita zu. Kurz vor dem Mädchen blieb er stehen und suchte zitternd Halt an einer Sessellehne.
Er ist ein Greis, mußte Anita plötzlich denken, ein Greis ... ein alter, klapperiger Mann innerhalb von zwei Stunden.
»Ich wollte dir nicht weh tun, Onkel«, sagte sie leise und senkte die Augen, doch sie wagte es auch nicht, näher zu treten. »Ich habe nicht gewußt, daß das Mittel so schlimm ist!«
»Du hast es nicht gewußt, nein, du konntest es auch nicht wissen. Aber ich ... ich ...!« Er schrie. »Ich habe es gewußt und Millionen damit in das Unglück gestürzt! Ja, ja ... das ist der Fluch Gottes ... die Vergeltung des Himmels ... O Anita, kleine, liebe, reine Anita ... ich bin ein Schuft ...«
»Onkel!« Das Mädchen schrie auf und legte entsetzt die Hand auf den Mund.
Destilliano schüttelte den Kopf und winkte gebrochen ab.
»Nicht nur ein Schuft ... Anita ... ein Mörder, ein tausendfacher, heimlicher, schleichender, gemeiner, hinterlistiger, feiger Mörder!« Er setzte sich und schob Anita einen Stuhl zu. Bebend, mit starren, entsetzt aufgerissenen Augen fiel das Mädchen auf den Sitz und war stumm vor Angst und Grauen. »Ich habe heute eine Rechnung zu begleichen«, sagte Professor Destilliano leise. »Eine Rechnung, die du mir überreichtest. Gott straft langsam, doch gerecht. Doch daß Er dich als Preis einsetzt, ist mehr als alle Höllen. Anita ... wenn du jemals eine Bestie unter den Menschen sahst, so ist es hier dein Onkel ... Seit 10 Jahren, Anita, ist dein Onkel Ricardo, der bekannte Gelehrte Professor Destilliano, der größte Rauschgiftschmuggler Westeuropas! Um dir einmal ein Leben ohne Sorge zu hinterlassen, um mir die letzten Jahre wie ein Märchen zu vergolden, verkaufte ich die Seelen von Millionen und mordete Tausende durch die viehische Kraft des schleichenden Giftes des Rausches. Meine Verbindungen zum Ausland als führender Bakteriologe Portugals verschafften mir die Möglichkeiten, mein logisches Gehirn wurde die Zentrale eines weiten Netzes. Nach 3 Jahren kleinlichster Vorarbeit, nach einem mörderischen Kampf mit der Konkurrenz um den Absatzmarkt begann im großen Stile der >Import<. Kokain aus Peru, Opium aus Indien, China und Iran, Morphium aus Italien, Heroin aus der Türkei. Aber das alles genügte mir noch nicht! Ich hatte Blut gerochen, Blut in Form von Geld, und dieses Geld lockte ... lockte ... Es war ein Taumel, eine Trance des Verbrechens, in den ich hineinglitt. Da vollbrachte ich meine größte Leistung - die Einfuhr und Herstellung neuer Rauschgifte in Europa! Ich lieferte das gefährliche Haschisch aus dem Libanon, das schreckliche Dagga aus Afrika, das teuflische Takruri aus Thunis und meine Glanzleistung - das Elixier der Hölle: Marihuana aus Mexiko! Damit war ich konkurrenzlos, einmalig, der König der Rauschgiftschmuggler. Auf den Kisten aber stand harmlos ein chemisches Präparat! Ja, das war ein Triumph - auf den Knien lagen sie vor mir, diese Menschen, und beteten mich an. Ich wurde ein Gott für die Süchtigen, ein Heiliger für die Verfallenen.« »Entsetzlich ... «
»Ja, entsetzlich, Anita! Ich kaufte nach dem Tode Doktor Albez' ... «
»Was?!« Anita war emporgezuckt und schrie auf. Ihr Körper schwankte, ihre Augen waren wie leblos. »Fernando ist tot ...?!«
Destilliano nickte.
»Ja, Anita ... seit drei Jahren.«
»Aber Fernando ist doch vor zwei Wochen ...«
»Er ist nicht Doktor Albez«, sagte Destilliano langsam. »Doktor Fernando Albez starb vor drei Jahren an Herzschlag durch Angina pectoris. Du lebtest damals in Teneriffa. Der Mann, der seit einem Jahr das Leben Doktor Albez' weiterlebt, seine Sprache spricht und seine Schrift schreibt, ist ein Holländer, Pieter van Brouken.«
Fassungslos, das Ungeheuerliche nicht begreifend, sank Anita auf ihren Stuhl zurück.
»Pieter van Brouken?« stammelte sie abwesend. »Fernando ...« Sie stockte. Sie begriff nicht, sie bebte, sie fühlte sich taumeln und in einen Nebel untertauchen.
»Dein Fernando ist van Brouken. Er fiel an einem heißen Junitag 1923 in Amsterdam in Ohnmacht und erwachte als Doktor Albez. Er ist der Mann, der sein Leben vergaß - er lebt im Unterbewußtsein, er ist nicht mehr sein Ich, sondern ein Fremder - sein Bewußtsein spaltet sich ... er ist ein Rätsel psychologischer Wissenschaft!«
»Und Fernando ...« Das Mädchen schrie es und wollte das Ungeheuerliche nicht begreifen.
»Nur ein Name, Anita. Den du liebst und Fernando nennst, ist Pieter. Der richtige Fernando, den du kaum kennst, ist längst zu Erde geworden.«
»Und er weiß nichts davon - mein Fernando?«
»Er kann es nicht wissen, denn er hat ja die Seele Doktor
Albez' in sich.«
»Und Jose Biancodero?« Anitas Augen waren gläsern vor Grauen.
»Lebt auch! Verzeih - er lebte! Er war ein kleiner, armer Schriftsteller in Sevilla, den ich durch einen - Freund einlud, eine kleine Reise zu machen. Auf dieser - Reise ist er leider verschollen! Es war um die Zeit, als dein Fernando in Lissabon eintraf - wie gut konnte er da den Namen Biancodero tragen.«
»Mörder!« Grauenvoll klang das Wort aus Anitas Mund.
»Ja, Mörder! Doch du mußt anerkennen, daß meine Klugheit nicht zu schlagen war. Ich hatte einen Menschen, der drei Leben lebt und den ich drehen konnte, wie ich ihn brauchte. Als Irrer ist er auf jeden Fall unangreifbar, unfehlbar, tabu! Er war der beste Mann, das Schmugglerschiff zu führen.«
»Das Schiff ...« Anita zitterte und hielt sich mit beiden Händen den Mund zu. »Die Jacht, die meinen Namen trägt, die Fernando fährt ... «
»... enthält nicht Medikamente für Tuberkulose, sondern Rauschgift vom Acedicon bis zum Marihuana! Und Doktor Albez, der Pieter van Brouken ist und Biancodero heißt, führt es seit einem Jahr zwischen Lissabon, Las Palmas und Amsterdam hin und her!«
»Ahnungslos?«
»Ahnungslos!«
»O du, du ...« Anita war aufgesprungen und rannte im Zimmer hin und her. »Und du bist mein Onkel ... dich liebte, dich verehrte ich?! Zu dir blickte ich empor ... du warst mir Vater, Mutter ... alles ... du ... du ... Satan!«
»Anita!« Destilliano stand auf und trat näher. »Hör mich an.«
»Rühr mich nicht an!« schrie das Mädchen gellend auf. »An deinen Fingern ist Blut! Und er fährt hin und her, seit einem Jahr, ahnungslos und denkt, ein gutes Werk zu tun! Und fährt den Tod! O wie ekelhaft, wie grauenvoll ...« Und plötzlich zuckte sie auf und rannte zur Tür. Doch Destilliano war schneller und stellte sich ihr entgegen.
»Wohin?« sagte er mit einer unheimlichen Ruhe.
»Zur Polizei!« schrie Anita. »Ich kann mit keinem Teufel leben!«
In Destilliano kehrte die alte Kraft der Überlegung und der Selbstbeherrschung zurück. Das verhaßte Wort Polizei machte ihn nüchtern, klar und eiskalt. Mit einer Bewegung seines Armes schleuderte er Anita ins Zimmer zurück und verriegelte die Tür.
»Ich habe dir mehr gesagt, als ich sollte«, sagte er ernst. »Doch ich habe vor dem Kreuz geschworen, alles von mir zu werfen, wenn du dem Gift entsagen würdest. Ich besitze noch so viel Charakter, diesen Schwur zu halten. - Anita, um unser aller willen - schweig! Es war die letzte Fahrt, von der Fernando jetzt zurückkehrt. Wir haben Geld genug, das Leben nicht zu fürchten. Schweig, Anita, ich bitte dich, schweig! Sage ihm nichts, laufe nicht zur Polizei. Zeigst du mich an, so wird auch Fernando angeklagt, und das, wofür ich alles tat, ist von deiner Hand vernichtet: dein Glück!«
»Ich will kein Glück aus Blut und Tränen!« schrie Anita auf und wich bis zu dem Kruzifix in der Ecke zurück. »Eher will ich den Tod, als mit dieser Schuld leben!«
»Anita ... «
»Ich muß es ihm sagen! Ihm allein!«
»Er würde mich erschlagen.«
»Und ich würde zuschauen und bei jedem Hieb jauchzen!« Unbändiger Haß flammte aus ihren Augen. Ihre kleine, schlanke
Gestalt spannte sich wie ein Bogen. »Bist du zu feige, deine Strafe zu büßen?«
»Ich bin ein alter, müder Mann«, sagte Professor Destilliano leise. »Und meine Strafe« - er stockte -, »Anita, nimm kein Kokain mehr ... bitte, bitte ... nimm kein Kokain ...«
Der Gedanke an die Vergiftung Anitas zerbrach in seinem Innern wieder die Kraft des Selbstbewußtseins. Aufstöhnend sank er in seinen tiefen Sessel und bedeckte die Augen mit beiden Händen. Aus dem Mörder und kühlen Gelehrten war wieder der verfallene, einsame, bebende Greis geworden.
Eine lange Zeit war es still im Raum.
Da schreckte das schrille Klingeln des Telefons die Ruhe auf. Rasch ergriff Destilliano den Hörer.
Die Stimme Destillianos zitterte, als er sich meldete. Doch dann zog ein Leuchten über seine Augen.
»Fernando ... du? Soeben eingetroffen?«
Anita war bei dem Namen zusammengezuckt.
»Wir haben eine Umstellung nötig. Laß die Jacht in unseren Privathafen fahren. Ich komme dann hinaus. Ich habe dir Wichtiges zu sagen.«
Da stürzte sich Anita auf das Telefon und klammerte sich wild an den abwehrenden Destilliano.
»Fernando!« schrie sie ... »Fernando, er will dich ...«
Mit aller Kraft schleuderte Destilliano das Mädchen von sich, sah, wie sie einen silbernen Leuchter vom Tisch riß und auf ihn zustürzte. Sprachlos vor Staunen und Nichtbegreifen hob er den Arm zur Abwehr - da krachte der schwere Leuchter schon auf seinen Schädel. Laut aufstöhnend sank Destilliano um und riß den Telefonapparat mit sich vom Tisch. Sein Körper drückte die Gabel herunter, und die Verbindung riß ab.
Starr stand Anita einen Augenblick vor dem leblosen Körper ihres Onkels. Dann riß sie sich los und hetzte aus dem Zimmer. Sie rannte in die Garage, stieß die großen Flügeltüren auf, schob ihren kleinen Sportwagen heraus, prüfte schnell den Benzinstand und sprang dann hinter das Steuer.
Heulend setzte der Motor an. Tief drückte Anita den Gashebel herunter, und der kleine Wagen schoß vorwärts, sauste wie ein glühender Pfeil in die warme Sommernacht und verschwand knatternd in den Straßen Lissabons.
Als Professor Destilliano aus seiner tiefen Ohnmacht erwachte, war dunkle Nacht um ihn. Aus einer tiefen Stirnwunde rann ihm das Blut über die Augen, die weißen Haare waren rot und verklebt.
Schwankend tastete er sich um den Schreibtisch herum, setzte sich ächzend in den Schreibsessel und öffnete eine Tischlade.
Das Spiel war verloren, das Leben wertlos! Seine eigene, geliebte Nichte wurde zum Rächer der Millionen Verdammten. Seine Nichte Anita, selbst in den Klauen des Kokains, wurde das fordernde Gewissen. Der Ring hatte sich geschlossen! Die Schuld machte ihn wehrlos.
Aus! Destilliano - das ist das Ende!
Anita!
Langsam nahm er einen Revolver aus der Schublade und lud den Lauf. Dann lehnte er sich weit zurück, legte den Kopf mit der blutenden Stirn auf die hohe Rückenlehne und steckte den kalten Lauf des Revolvers zwischen die Zähne.
Es war ein leiser, dumpfer Schuß, der in der Nacht verflatterte
Heulend raste der kleine, schwarze Sportwagen durch die Nacht. Nachdem sie die Vorstädte Lissabons verlassen hatte und in die gerade Landstraße eingebogen war, die entlang der Küste zu den berühmten portugiesischen Badeorten führte, fuhr Anita Höchstgeschwindigkeit und raste in mörderischem Tempo die gepflegte Straße entlang.
Sie merkte nicht, daß ihr eine starke Limousine mit gedrosseltem Motor in weitem Abstand folgte und sich bemühte, diesen Abstand beizubehalten.
Chefkommissar Antonio de Selvano lehnte sich in den dicken Polstern bequem zurecht und steckte sich eine Zigarette an.
Er hatte Zeit - die Gelegenheit zum Handeln würde sich erst im Privathafen ergeben.
Durch die am Hafeneingang patrouillierenden Polizei- und Zollboote war er von der Ankunft der Jacht Anita aus Amsterdam unterrichtet worden und hatte seine>Spürnase Selvano hatte mit Professor Destilliano selbst gerechnet. Als er Anita mit ihrem Zweisitzer an sich vorbeirasen sah, hatte er zunächst nur den Kopf geschüttelt und keine Erklärung gefunden. Doch er folgte ihr. Anitas Augen zuckten. Vor ihrem Blick begann die Straße im Licht der Scheinwerfer zu flimmern und zu schwanken. Fest preßte sie die Lippen aufeinander und klammerte sich an das Steuerrad. Das Kokain! Wenn sie jetzt nur eine Tablette davon hätte! Sie spürte, wie die Spannkraft ihres Körper nachließ, wie sie zusammenfiel, wie eine träge Müdigkeit in ihre Glieder kroch. Jetzt zwei Pervitin, dachte sie, zwei dieser kleinen, weißen Pillen - und das Leben wäre wieder herrlich, der Körper frisch, und die Augen leuchteten. Wie herrlich doch dieses Gift ist, wie weit und frei die Welt wird, wenn die Seele sich erhebt. Zwei Pillen nur, und das Blut jagt durch die Adern, der Kopf wird klar, der Druck der Hände fester. Einmalig ist dieses Gift, einmalig ... einmalig ... einmalig. Sie hatte Sehnsucht nach dem Gift. Sie dürstete nach den kleinen weißen Pillen. Nach einem Häufchen weißen Staubes. Kokain! Ob Fernando auf der Yacht noch einige liegen hat? Vielleicht im Verbandskasten?! Sie lachte. Ein ganzes Schiff voll Gift und doch unerreichbar. Das Leben ist nur ein Gaukelspiel. Um Gift tötete sie den Onkel ... und nun hat sie Sehnsucht nach diesem Pulver und wollte doch nur Fernando warnen - vor dem Gift! Wahnsinn! Wie sage ich es nur Fernando, grübelte Anita. Wie sage ich ihm, daß er nicht Dr. Albez ist, sondern Pieter van Brouken? Ich kann ihm doch nicht sagen, daß er sein Leben vergaß, daß er irr ist und fremdes Leben, das Leben eines Toten, im Unterbewußtsein weiterlebt. Er wird mich auslachen, er, Dr. Fernando Albez, denn Pieter van Brouken ist ja gestorben, in diesem Körper gestorben, der Pieter van Brouken ist, aber die Seele des Dr. Albez aufnahm. Wie sage ich das bloß Fernando? Er wird mich nicht begreifen. Er wird lachen. Und dieses Lachen liebe ich so ... ach, ich liebe ihn ganz, ob Fernando oder Pieter. Ich liebe ihn. Wie die Augen brennen, wie die Straße schwankt. Die Hände am Steuer zittern auch! Zusammenreißen, Anita, du mußt dich zusammenreißen! Oh, nur zwei Pillen Pervitin ... nur zwei kleine Pillen. Weiße Pillen. Herrliches, befreiendes Gift. Gift. Der Motor dröhnte. Grell durchschnitten die Scheinwerfer die schwarze, mondlose Nacht. Irgendwo in der Dunkelheit ahnte Anita die Felsen, die den kleinen Hafen in der Privatbucht Professor Destillianos einschlössen. Langsam rückte nun auch die schwarze, große Limousine näher. Ihre abgeblendeten Scheinwerfer erleuchteten schwach die gerade Straße. Mit gedrosseltem Motor jagte sie ruhig durch die Nacht. Als Anita den Wagen etwas zurückhielt und das Gas einen Augenblick wegnahm, weil sie in die in die Felsen eingesprengte Nebenstraße zu der kleinen Bucht einbog, warf sie ohne Gedanken einen schnellen Blick zurück auf die Chaussee. Zwei schwache Lichter näherten sich den Felsen. Ein Auto! Ein eisiger, im Moment lähmender Schreck durchzuckte den zarten Körper des Mädchens. Verwirrt nahm sie den Fuß vom Gaspedal und lehnte sich in den Sitz zurück. Sie wurde verfolgt. Lebte vielleicht der Onkel noch und versuchte, ihr zuvorzukommen? Aber er lag doch auf dem Teppich, blutete aus einer großen Wunde über der Stirn und atmete nicht mehr! Die Polizei? Krampfhaft unterdrückte Anita einen Aufschrei. Die Polizei war hinter ihnen her! Fernando war in Gefahr, der unschuldige, ahnungslose Fernando! Der Gedanke gab ihr plötzlich neue Kraft und einen nie gekannten, verbissenen Mut. Wir sind verloren - der Onkel, ich ... es gibt nun kein Zurück, dachte sie schnell. Aber ihn muß ich retten, er darf nicht in das Zuchthaus oder in die Hölle der Strafkolonie. Ihn kann ich retten- er weiß ja von nichts ... ihn muß ich retten. »Fernando!« schrie sie laut. »Leb wohl, Fernando!« Dann riß sie den kleinen Wagen herum, drückte das Gaspedal tief herab und schoß aus der Felsenstraße heraus, gerade in dem Augenblick, in dem Selvano mit seiner Limousine vorsichtig in den Seitenweg einbog. Verblüfft und im Moment ratlos sah Selvano plötzlich einen leuchtenden Pfeil an sich vorüberschießen und in der Dunkelheit verschwinden. »Was war denn das?« sagte er laut und erstaunt. »Der Sportwagen!« schrie der Fahrer. »Er hat gewendet!« »Zurück!« Selvano brüllte und beugte sich vor. »Zurück und mit äußerster Kraft ihr nach!« Und als der Fahrer den schweren Wagen wieder auf der Straße hatte, kletterte der Kommissar über die Sitze nach vorn und drückte den Sergeanten zur Seite. »Lassen Sie mich ans Steuer!« Aufheulend schoß der schwere Wagen vorwärts, Selvano blendete die starken, doppelten Scheinwerfer auf. Der Kommissar starrte auf die Straße. Die Scheinwerfer des kleinen Sportwagens vor ihm waren verschwunden. »Ein Aas!« murmelte Selvano und hieb das Gaspedal herunter. »Ein tolles Aas! Hat die Scheinwerfer aus und rast blind durch die Nacht.« Anita blickte in den Rückspiegel. Sie konnte das Näherrücken der starken Scheinwerfer beobachten. Sie wußte, daß ein Entkommen unmöglich war. In spätestens zehn Minuten mußte der starke Wagen sie überholt und gestellt haben. Als Mörderin ihres Onkels hatte sie keine Hoffnung mehr - ihr einziger und letzter Gedanke war nur die Rettung Fernandos. Plötzlich fühlte sie eine große Leere in ihren Gedanken. Eine Leere, die alles gleichgültig und merkwürdig lächerlich werden ließ. Die Selbstverständlichkeit ihres rasend näherrückenden Todes machte sie zur Fatalistin, es war so selbstverständlich, jetzt zu sterben, daß sie lächelnd den Kopf schütteln mußte über die bisherige Mühe, das Leben zu behalten. Steil führte die Straße in das nahe Gebirge. Sie wurde eng und schmal, bog vom nahen Strand ab und schlängelte sich über ein weites Felsplateau. Zur See hin fielen die Felsen abrupt ab. Fernando, dachte Anita, wenn du morgen alles erfährst, so verfluche mich nicht. Was hättest du auch von einer Frau gehabt, die Kokain und Morphium nimmt und ohne Gift nicht mehr leben kann? Es ist besser, Fernando, glaube es mir, es ist besser so ... du wirst glücklicher sein in deinem zweiten Leben ... Und auch ich, ich bin glücklich ... so glücklich.« Mit starren Augen riß sie das Steuer herum und jagte auf den zum Meer hin abfallenden Felsen zu. »Sie stürzt sich ins Meer!« brüllte Selvano und bremste. »So habe ich mir das Ende nicht vorgestellt.« Mit geschlossenen Augen hockte Anita hinter dem Steuer, während der Wagen auf den Abgrund zuraste. »Fernando«, flüsterte sie. »Verzeih ... bitte, verzeih ...« Sie fühlte, wie der Wagen über den Steilhang hinausschoß, die Räder mahlten in der Luft, sie fiel ... fiel ... es brauste um sie ... »Oh«, schrie sie ... »oh ...«, und dann war alles nur Dunkelheit, aus der ein heißer, stechender Schmerz durch den Körper jagte ... Oben auf dem Plateau hörte Antonio de Selvano den Aufprall des Autos auf die Felsen, ein Aufklatschen auf dem Wasser und ein langsam ersterbendes, helles Zischen. Erschüttert stieg er aus der Limousine und schaute in die schwarze Nacht. Er konnte sich Anitas Selbstmord nicht erklären. Im Zentralkommissariat zur Bekämpfung des Rauschgiftschmuggels herrschte eine gedrückte und dumpfe Stimmung. Antonio de Selvano und Primo Galbez saßen sich seit einer Stunde gegenüber und sprachen nicht miteinander. Das dicke Aktenstück vor ihnen war aufgeschlagen und schien schuld an der tiefen Verstimmung zu sein. »Was nützen mir Ihre dummen Schachteln mit Dilandid, Dolantin, Dicodid und Acedicon - wir können niemals den Nachweis erbringen, daß sie geschmuggelt wurden«, sagte Selvano endlich ärgerlich und schielte zu Galbez hinüber. »Aber ich fand sie auf der Jacht Anita!« »Wieviel denn - eine halbe Kiste! Ein halbes Kistchen! Acedicon und Dolantin! Wenn schon! Das bekommen Sie in jeder Apotheke!« »Aber nur auf Rezept. Der freie Besitz dieser Medikamente ist strafbar!« Selvano winkte ab. »Nicht der Rede wert! Außerdem war Destilliano Arzt und berechtigt, eine bestimmte Menge Narcotica zu besitzen.« »Aber die Laderäume zeigten außerdem deutlich Spuren einer großen Ladung!« »Können Sie nachweisen, daß Biancodero Rauschgift lud?« fragte der Kommissar ironisch. Primo Galbez zögerte. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Aber ...« »Kein Aber!« Selvanos Hand schlug durch die Luft. »Bei der Polizei sind Logik und Tatsachen interessant. Sonst nichts. Auf Verdächtigungen können wir nichts geben! Und hier liegt der Hund begraben, wie man sagt! Seit Anita Almiranda und Professor Destilliano Selbstmord begingen, ist nichts mehr da, was angreifbar wäre! Die Haussuchung verlief ergebnislos! Biancodero brach bei der erschütternden Nachricht von Anitas und des Professors Tod zusammen und st noch nicht wieder vernehmungsfähig, und außerdem ist mit ihm ja doch nichts anzufangen, denn schmuggelte Destilliano Rauschgift, so ohne Wissen Biancoderos. Was wollen Sie also noch?! Wir können die Akte schließen und darüber schreiben: Große Blamage!« Primo Galbez teilte nicht ganz die Ansicht und den Pessimismus seines Chefs. Wenn er auch einsah, daß nach dem Tode der Familie Destilliano kein einziger Beweis mehr zu erbringen war, ließ ihn doch die geheimnisvolle Person dieses Jose Biancodero nicht los, den Anita im trauten Kreise nur Fernando nannte. »Man sollte sich mehr um diesen Biancodero kümmern«, bohrte er weiter. Doch jetzt stieß er auf einen harten Widerstand seines Chefs. »Lassen Sie mich mit Ihrem Spleen in Ruhe!« schrie Selvano erregt. »Ich habe mich in Sevilla erkundigt! Jose Biancodero ist auf unbestimmte Zeit verreist. Er ist bis heute noch nicht nach Sevilla zurückgekehrt! - Logisch: er liegt mit einem Nervenzusammenbruch im Lissaboner Krankenhaus.« »Für Sie ist also der Fall erledigt?« Selvano nickte. »Ich lege meinen Bericht morgen dem Präfekten vor und lasse dann die Akten schließen.« »Und was wird aus Jose Biancodero?« Selvano winkte ab. »Um den brauchen wir uns keine Sorgen zu machen! Im Nachlaß Destillianos wurde bei der Haussuchung auch das neueste Testament des Professors gefunden. Alleinerben des gesamten liegenden und Bar-Vermögens sind seine Nichte Anita und Jose Biancodero. Da Anita Almiranda Selbstmord ohne Testament beging, fällt ihm das ganze riesige Vermögen zu.« »Beneidenswert!« »Wie man's nimmt. An dem Geld klebt Blut - ich fühle mich wohler!« Primo Galbez antwortete darauf nichts. Er steckte sein altes Taschenbuch ein und erhob sich. »Ich gehe, Chef«, sagte er gleichgültig. »Heute abend kommt ja doch nichts mehr.« Selvano schüttelte den Kopf und sah Galbez kritisch an. »Mir scheint, Ihnen gefällt die Auflösung des Falles nicht. Sie haben einen Narren an diesem Jose Biancodero gefressen! Von mir aus jagen Sie einem Phantom nach - mehr als blamieren können Sie sich nicht! Und noch eins, Galbez: Von mir erwarten Sie bitte keine Unterstützung! Ihren Privatspleen zu decken, bin ich nicht bereit!« »Wie Sie wünschen, Selvano«, sagte er höflich. »Aber wenn ich den Kerl zur Strecke bringe, verlange ich eine Extraprämie oder eine Beförderung.« Als Dr. Fernando Albez aus dem Lissaboner Krankenhaus nach fünf Tagen entlassen wurde, war er ein mehrfacher Millionär. Aber er fühlte, daß ihn Rätsel umgaben. Was mochte Professor Destilliano bewegen haben, sich zu erschießen, nachdem er kurz vorher noch am Telefon war und versprach, zu dem Felsenhafen hinauszukommen? Wer hatte ihm den Leuchter an den Kopf geworfen?! Mit wem hatte er gekämpft?! Warum?! Hatte er nicht am Telefon aufgestöhnt, ehe die Verbindung abriß?! Und seine Stimme klang brüchig und zitterig! War er etwa ermordet worden?! Und dann der Tod Anitas! War es Unfall oder auch Selbstmord gewesen?! Anita war eine verwegene, aber durchaus sichere Fahrerin gewesen, die mit Bewußtsein nie so weit von der Straße abkommen konnte, auch in der finsteren Nacht nicht! Was war in der Rua do Monte do Castello geschehen? Warum verunglückte Anita in der Nähe des Felsenhafens, zu dem doch Professor Destilliano kommen wollte?! Rätsel über Rätsel! Wohlweislich hatte ihm Kommissar Antonio de Selvano die geahnten Zusammenhänge verschwiegen. Und auch der Konsul Condes de Manolda, der zum Begräbnis seines Freundes von Amsterdam herüberkam, verschwieg Dr. Albez die für ihn bis zu einem gewissen Punkt bekannten Motive. Manoldas Trauer am Grabe Professor Destillianos war schwer und echt. Wenn auch seine zerknirschte Miene weniger dem Toten, sondern dem Sterben des guten Schmuggelgeschäftes galt, so machte seine Rührung doch einen guten Eindruck und verschaffte dem alten Halunken einen blendenden Abgang. Denn nach Destillianos und des Kokainschmuggels Scheiden reichte Condes de Manolda seine Demission als portugiesischer Konsul ein, wurde Privatier, zog von Amsterdam weg nach Den Haag, kaufte sich ein Landhaus und hielt als stiller Edelmann den Gedanken an seinen edlen Freund Destilliano in seinem Herzen wach. Allein zurück mit allen Besitzungen in Portugal und auf den Kanarischen Inseln blieb Dr. Fernando Albez, der als Jose Biancodero der reichste Mann von Lissabon wurde. Zurückgezogen in einem Landhaus an der Felsenküste von Cintra, in der Nähe von Azenhas do Mar, lebte er weltfern, einsam, stumm und ernst. Oft stand er stundenlang auf dem steil ins rauschende Meer abfallenden Felsen, ließ den Wind durch seine Haare wehen und starrte hinaus in die unendliche Weite des brausenden Atlantik. Das Glück seines Lebens war mit Anita gestorben.