Kapitel 7

Über die Küstenstraße nach Azenhas do Mar raste eine große, starke Limousine.

Kriminalkommissar Selvano saß weit zurückgelehnt hinter dem Steuer, nagte an der Unterlippe und sagte sich zum ungezählten Male, daß er kein Kriminalist, sonder nur ein riesengroßer Trottel sei. In der Hand hielt er das neueste Telegramm aus Santa Cruz und die Meldung des Polizeifunks Dakar.

Knirschend hielt der Wagen unterhalb der Felsenvilla von Dr. Albez. Sofort sprang Selvano heraus und rannte gegen Primo Galbez, der den Kommissar geschickt auffing.

»Na, na, Chef«, sagte er gutgelaunt. »Sie brauchen mir vor Freude nicht gleich um den Hals zu fallen!«

»Freude?!« Selvano holte tief Luft. »Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß Sie, Primo Galbez, und ich, Antonio de Selvano, die größten Idioten unserer Zeit sind! - Genügt das?!«

»Vollauf! Das genügt!« antwortete Galbez trocken. »Und wenn ich auch nicht weiß, woher diese plötzliche Erkenntnis kommt, glaube ich doch, daß es besser ist, wenn wir erst einmal ins Haus gehen und uns die Galgenvögel, die ich gefangen habe, ansehen!«

»Mich interessieren Ihre kleinen Spiönchen gar nicht - hier« -Selvano schwenkte das Telegramm durch die Luft -, »hier, Galbez kommt es knüppeldick über uns! Hier können Sie Ihre Pensionierung lesen!«

»Ach nee!«

»Ach ja! Oder wissen Sie, wo die Leiche des Verunglückten hin ist?!«

»Die Leiche des angeblichen Manolda?«

»Ja!«

»Im Bullerloch, natürlich. Ich war doch bei dem Begräbnis dabei. War ein trauriges Begräbnis. Anwesende: die Polizei und drei Ärzte, die bis zuletzt um den Körper für ihre Anatomie gerungen hatten und nun ihren Traum mitbegruben.«

»Ihr Galgenhumor wird gleich verflogen sein«, schrie Selvano, während sie den steilen Felsweg zu der weißen Felsenvilla emporkletterten. »Die Leiche ist fort!«

Primo Galbez blieb entgeistert stehen.

»Fort? Wieso?« fragte er geistreich.

»Ja, fort!« äffte Selvano ihm nach. »Gestohlen!«

»Eine verbrannte Leiche gestohlen?«

»Genau das! Das Grab ist in der Nacht geöffnet worden, und der Tote ist verschwunden! Und wissen Sie - warum?! Weil ich heute den Toten exhumieren wollte, weil mir der Gedanke kam, daß es doch Manolda ist, weil ich eine sichere Spur hatte! Weil ... weil ... weil.. Der Tote ist weg! Man kennt genau unsere Pläne, ja, man weiß genau, wie unsere Untersuchung läuft! Und, Galbez - jetzt, wo die Leiche gestohlen ist, weiß ich, daß der Tote der Konsul Manolda war und daß - Galbez, Sie Höllenhund hatten doch recht - Konsul Manolda ein Mitglied, wenn nicht sogar das Haupt einer internationalen

Rauschgiftschmugglerbande war!«

Galbez' Augen leuchteten auf. Sein Schritt wurde schneller.

»Sie werden staunen, Chef«, rief er, »was ich aus den Burschen, die mich als Jose Biancodero bewachen sollten, herausgequetscht habe! Genau das Gegenstück, das Ihnen für den vollen Beweis noch fehlt!«

Doch Selvano schien sich im Augenblick noch nicht für die Aktionen Primo Galbez' zu interessieren. Er hielt schwer atmend von dem steilen Weg im Gehen inne und reichte Galbez das neueste Telegramm aus Santa Cruz hin.

»Hier, lesen Sie! Das haut Sie vollends um: Juan Permez ist tot!«

»Permez? - Er begleitete doch Biancodero!«

»Er wurde gestern auf der Jacht Anita durch einen Dolchstoß in den Rücken ermordet! Der Mörder, ein großer, brauner Herr in guter Tropenkleidung mit einem englischen Akzent - wie der

2. Offizier mitteilt - ist unbekannt. Der Mord geschah zu der gleichen Zeit, in der Biancodero mit Baron v. Pottlach auf dessen Plantage verhandelte.«

Galbez zuckte hoch.

»Chef«, rief er, »ich würde sofort den Baron v. Pottlach verhaften lassen!«

Selvano lächelte. Er schwenkte das Telegramm aus Dakar.

»Ist bereits geschehen! Der Gute war auf der Flucht nach Dakar, wohin auch Biancodero fuhr. Wahrscheinlich wollte er seinen Geschäftspartner in den dunklen Hafenvierteln still und gefahrlos für ihn verschwinden lassen! Von Pottlach wurde in dem Augenblick verhaftet, als er an Land ging. Biancodero ist auf der Fahrt zurück nach Lissabon. Die Kette scheint mir klar: Erst Manolda, dann der Spürhund Permez, zuletzt sollte Biancodero fallen. Manolda und v. Pottlach hätte den größten Obsthandel West- und Südeuropas gehabt!«

Sie waren vor dem Hause angelangt, traten in die weite Säulenhalle ein und wandten sich links dem Arbeitszimmer zu, wo

Selvano an dem breiten Fenster, das zum Meer hinausführte, in einem der Sessel Platz nahm.

»Ich habe eine Überraschung für Sie, Selvano«, sagte Galbez nach einer Zeit des Schweigens. »Es gelang mir doch, mit einem Zug sieben meiner Bewacher - die ganze Kolonne, wie sich später herausstellte - zu fangen und hier in der Eremitenklause unterzubringen. Nach einem langen Verhör habe ich folgendes zu Protokoll gegeben, was Sie, unterschrieben von der ganzen Bande, gleich in den Akten nachlesen können: Die Bewachung wurde angeordnet von einem Auftraggeber in Santa Cruz.«

Selvano zuckte auf.

»Von Pottlach?!« rief er fragend.

»Ja! Mittels verschlüsselter Kabelgramms standen sie mit ihm in direkter Verbindung und erhielten von Santa Cruz aus ihre genauen Anweisungen. Somit steht also fest, daß v. Pottlach ein Interesse an Biancodero hatte, das über das geschäftliche hinausgeht. Zwei von der Bewachung waren direkt aus Las Palmas nach Lissabon transportiert und gestanden, daß sie an der Aushöhlung der Äpfel mitgeholfen hatten. Sie fand statt in einer Faktorei des Barons von Pottlach!«

»Fabelhaft!« schrie Selvano.

»Über den Sinn der Überwachung konnte ich nichts erfahren, da der Auftrag der Burschen lediglich darin bestand, das Haus und Biancodero zu beobachten und alles, was im Haus geschah, zu melden. Das ist aber auch nicht wichtig! Wichtig ist allein das Kabelgramm, das Pottlach gestern an die Brüder schickte und in dem es heißt, daß die Leiche Manoldas aus dem Grabe fortgeschafft werden soll!«

»Galbez!« schrie Selvano und sprang auf. »Galbez, Sie Genie, Sie Lausekerl: Das ist das letzte Kettenglied: Der Tote ist Manolda! Sie haben es schriftlich, von dem guten Pottlach sogar! Die Zusammenhänge sind somit klar! Wir können zugreifen!«

»Nicht mehr nötig!« Galbez lächelte. »Von Pottlach haben Sie schon, Biancodero ist unschuldig, die sieben Bewacher spielen im Keller mit leeren Weinflaschen Kegel, und die Lager in Las Palmas und Santa Cruz stehen unter Polizeibewachung. Das habe ich bereits angeordnet, weil ich Sie in den letzten zwölf Stunden nicht erreichen konnte. Was uns nur noch fehlt, ist die

Lösung eines Rätsels: Warum beging Anita Almiranda Selbstmord und versuchte vorher, ihren Onkel mit einem Leuchter zu erschlagen? Daß sie von dem Schmuggel gewußt hat, halte ich für ausgeschlossen, denn sonst würde es auch Biancodero von ihr erfahren haben, und die Konsequenzen wären radikal gewesen! Irgendwie ist in diesen fünf Jahren eine Lücke ... «

»Das steht jetzt auch nicht zur Debatte.« Selvano hob den Hörer des Telefons vom Schreibtisch ab. »Ich rufe den Präfekten an und werde ihm melden, daß Sie, Primo Galbez, den größten Rauschgiftschmugglerring Europas gesprengt haben. Im voraus gratuliere ich zur Beförderung zum Kommissar, die Ihnen sicher ist. Am meisten aber wird der gute Biancodero staunen, wenn er sieht, daß er nur eine Puppe war, mit der man nach Gutdünken spielte. Tut mir leid, der arme Kerl, er sieht das Leben nicht real genug. Und staunen wird er, wenn er erfährt, was sein Freund Manolda wirklich war. Seine Leiche haben Sie doch auch, Galbez?!«

»Ja. Sie liegt, in einem Sack vernäht, in einer Felsenhöhle ganz in der Nähe. Man wollte sie anscheinend ins Meer werfen, denn in dem Sack befinden sich ungefähr drei Zentner Steine.«

Zu der gleichen Stunde zog in schneller Fahrt die Jacht Anita durch den Atlantik, Lissabon entgegen. In seiner Kabine saß Dr. Albez, hatte den Panamahut in den Nacken geschoben und schüttelte zum wiederholten Male den Kopf.

»Die Welt ist total verrückt geworden«, sagte er dabei und spielte mit den Fingern an einem kleinen Papier, das allein auf der blanken Platte des Schreibtisches lag.

Dann stand er auf und öffnete die Klappe des Sprachrohres zur Kommandobrücke.

»Kapitän«, sagte er, »nehmen Sie äußerste Kraft. Ich muß heute nacht noch in Azenhas do Mar sein.«

Langsam trat Dr. Albez von dem Sprachrohr zurück und ging wieder unter die Tischlampe. In der Hand hatte er noch immer den kleinen Zettel.

Es war ein Telegramm aus Amsterdam.

Aufgegeben vor vier Stunden.

In Amsterdam.

Ein Telegramm von Konsul Manolda ...

Eine drückende Schwüle lag über Dakar. Zwar war das Klima dieses Hafens schon immer berüchtigt gewesen, und eine Versetzung in dieses Fieberloch galt in der französischen Armee als eine Strafe, doch das Wetter an diesem Oktobertag des Jahres 1929 übertraf selbst die dunkelsten Ahnungen pessimistischer Poilus, die am Hafen standen und ein Fallreep bewachten, über das vor ein paar Minuten ein deutscher Kaufmann aus Santa Cruz in Begleitung dreier Beamter der Sürete geschritten war.

»Merde«, sagte einer der Soldaten und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Steht man da wegen eines Lumpen in der Sonne! Was hat er eigentlich gemacht?«

Der andere Poilu zuckte die Schultern.

»Was wird's schon sein? Hat ein bißchen mit >Schnee< gehandelt. Als ob das ein Verbrechen wäre! Was wäre das Leben in dieser Fieberhölle, wenn man nicht des Abends sein Pfeifchen mit den braunen Kugeln hat oder das nette Pülverchen des Vergessens. Was bedeutet es, daß man zehn Jahre früher als sonst vor die Hunde geht, das Leben ist eine grande cocotte!«

Der erste blickte seinen Kameraden scheel von der Seite an. Philosophie am Rande der Wüste ist die einzige Unterhaltung, dachte er. Kenne ich von der Fremdenlegion her. Da liegen sie auf ihren Matten in den Wüstenforts, die Knarre im Arm, und träumen. Wie gut, daß die Mischlingsmädchen nicht so spröde sind ... man könnte sonst irrsinnig werden ...

Aber er antwortete nicht. Achselzuckend drehte er sich wieder

um und blickte weiter auf das weiße Schiff.

Im Inneren des Kahns saß in einer verschlossenen Kabine, deren Bullauge von außen zugeschraubt war, Baron v. Pottlach und spielte mit den Fingern. Sein Monokel hatte er eingebüßt, aber sein weißer Anzug und seine ganze Haltung hatten das Aristokratenhafte behalten, und auch, als er jetzt aufstand und mit kleinen Schritten den Raum durchmaß, wirkte er wie ein Luxusreisender, nicht aber wie ein Gefangener, zehn Stunden vor seiner Auslieferung und seinem Urteil von etlichen Jahren Zwangsarbeit in den Steinbrüchen von Portugals Küste.

Sinnend blieb Baron v. Pottlach stehen und betrachtete den in der Kabine aufgestellten Schreibtisch. Er war herausklappbar in die Kabinenwand eingelassen und enthielt eine Feder, einen Stapel Papier und ein Fläschchen Tinte. Ferner lagen neben einem kleinen Petroleumkocher Siegellack und ein Siegelpetschaft.

Baron v. Pottlach mußte lächeln. »Man denkt an alles«, murmelte er. »Das Geständnis des Verbrechers, geschrieben in der verriegelten Luxuskabine des Dampfers Liberte!« Er lachte laut und setzte sich dann doch an den Schreibtisch, spielte mit dem Papier und drehte den Federhalter in den Fingern.

Dann schrieb er in flotten Schriftzügen mitten über ein Blatt:

»Mein Geständnis.«

Als die beiden Worte auf dem Papier standen, hielt er wie erschreckt inne und betrachtete die Worte, indem er sie wie ein Bild weitab von seinen Augen mit ausgestreckten Armen hielt.

Mein Geständnis! Was habe ich überhaupt zu gestehen? Ist mein Geständnis nicht gleich meine Anklage? Was weiß man denn schon in Lissabon von mir? Meine Freundschaft zu Manolda? Der Gute ist tot - er kann nicht mehr aussagen. Meine Rauschgiftaffären? Es wird schwer sein, mir da etwas nachzuweisen. Die Beobachtung Biancoderos in Azenhas do Mar? Auch dafür werde ich eine Erklärung finden. Der Mord an

Juan Permez? Hier stockte Baron v. Pottlach und starrte wieder auf das Wort >Geständnis<.

Wer kann mir den Auftrag nachweisen? Wer hat den Mörder erkannt?! Ist er nicht längst in Timbuktu, im dunkelsten Afrika, in der Filiale, die das Dagga, das noch ziemlich unbekannte, viehische Rauschgift, in den Orient schleust?!

Oder ob man doch etwas weiß?! Ob dieser Dr. Albez weiß, daß in Timbuktu das Dagga hergestellt wird?!

Baron v. Pottlach wurde unsicher. Er spielte wieder mit dem Federhalter und kaute auf seiner Unterlippe. Man müßte das alles bagatellisieren. Man müßte dastehen wie ein Gezwungener, wie ein Erpreßter, wie ein Willenloser. Doch dieser >wahre Schuldige< dürfte nicht mehr sprechen. Und das wäre eine blendende Rolle für den Konsul Manolda ...

Baron v. Pottlach lachte vor sich hin. Es war doch gut, dachte er weiter, daß ich sofort nach der Abfahrt Dr. Albez' unserer westeuropäischen Zentrale in Amsterdam telegrafisch den Auftrag gab, im Namen des Konsuls Manolda ein Telegramm an Dr. Albez nach Dakar zu schicken. So wird man in Lissabon den Eindruck haben, daß man sich die ganze Zeit auf falscher Fährte befand, daß der Konsul Manolda noch lebt und daß man mich zu Unrecht festgenommen hat. Man könnte dann auch schön alles auf den >Mann in der Ferne< abschieben und selbst den Antrag auf Freiheitsberaubung stellen.

Von Pottlach ergriff das Papier mit den Worten: >Mein Geständnis< und drehte den Petroleumkocher an. Dann hielt er das Blatt über die kleine, flackernde Flamme und beobachtete mit einem lächelnden Wohlbehagen, wie sich das Blatt unter der Hitze wölbte, sich braun färbte und schließlich nach einer blassen Flamme zu weißer Asche zerfiel.

In diesem Augenblick klopfte es an der Tür, und die drei Beamten der Sürete traten ein.

»Monsieur«, sagte der eine. »Ich habe den Auftrag, Sie davon zu unterrichten, daß die Leiche des Verunglückten in Lissabon als die Leiche des Konsuls Manolda identifiziert worden ist.«

»Nein!« Baron v. Pottlach verfärbte sich und setzte sich auf das Bett. Seine Hände zitterten. Das ist Bluff, schrie es in ihm. Laß dir nichts anmerken - man will dich weich machen..

»Leider doch«, sagte der Beamte. »Leider - für Sie! - Die Leiche wurde, nachdem man sie in einen Sack genäht hatte, in der Nähe von Monsieur Biancoderos Villa in einer Höhle gefunden. - Sie wissen doch, daß die Leiche aus dem Grab gestohlen wurde?«

Baron v. Pottlach schüttelte den Kopf. Seine Augen waren unnatürlich weit aufgerissen. Plötzlich fühlte er, daß er auch schwitzte, und wußte, daß es kalter Schweiß war, ekliger, kalter Angstschweiß vor der Gerechtigkeit ...

»Ich weiß von nichts«, sagte er stockend. »Ich habe Manolda zum letztenmal ...«

Der Beamte schnitt ihm mit einer großen Armbewegung die Rede ab.

»Sie singen uns das alte Lied vor, Monsieur«, sagte er schroff. »Es wird langsam langweilig. Erfinden Sie eine besser klingende Melodie - sagen Sie einfach die Wahrheit!«

»Es ist die Wahrheit!« schrie v. Pottlach plötzlich grell und sprang auf. Die Tünche seiner Erziehung und seiner Stellung fiel jäh ab. »Es ist die Wahrheit - aber ihr wollt ein Opfer haben! Ein Opfer, das ihr für eure dumme Gerechtigkeit abschlachten könnt! Sucht euch doch den Schuldigen, aber laßt mich in Ruhe!

- Ich werde kein Wort mehr sprechen!«

Damit drehte er den Beamten den Rücken zu und beschäftigte sich anscheinend angestrengt mit dem Federhalter.

Achselzuckend verließen die Beamten der Sürete die Kabine und riegelten sie hinter sich hörbar ab.

Was tun? schoß es v. Pottlach durch den Kopf. Ist das wahr, daß man die Leiche wiedergefunden hat, so bin ich rettungslos verloren. Plötzlich überdachte er mit einer erschreckenden Logik seine Lage und fragte sich, warum er überhaupt verhaftet worden sei. Und da gab es nur eine Möglichkeit: Die Bewacher vor Dr. Albez' Villa mußten von Selvano oder Primo Galbez gefangen worden sein und hatten den Namen des Auftraggebers genannt. Waren sie aber in den Händen der Polizei, so war auch die Leiche wieder in deren Besitz, denn nur wenige Stunden vorher war sie von den gleichen Männern aus dem Grabe entfernt worden!

Plötzlich wußte v. Pottlach, daß man ihn nicht geblufft hatte, daß die Leiche vorhanden war, daß er sein Spiel zu Ende gespielt hatte!

Baron v. Pottlach stand auf und trat vor den großen Anziehspiegel, der an einer Seite des eingebauten Kleiderschrankes eingelassen war. Mit Wohlgefallen betrachtete er seine große, massige Gestalt mit dem scharfen Gesicht.

Er verbeugte sich vor sich selbst, ging dann langsam zum Bett und riß das Bettlaken heraus. Aus ihm drehte er ein Seil, knotete es unter der Deckenlampe fest, indem er den Lampenhaken benutzte, stieg dann auf einen Stuhl und legte sich das Ende des Lakens, das zu einer Schlinge gedreht war, um den Hals. Plötzlich besann er sich, stieg vom Stuhl herunter, legte Schlips und Kragen ab und kletterte dann wieder auf den Stuhl. Dort blickte er noch einmal in den Spiegel und sah nur noch seine Beine auf dem Stuhl. Da mußte er lachen.

»Ja, ja, wir Pottlachs - wir wollten immer hoch hinaus«, sagte er lustig - dann trat er den Stuhl unter sich mit einem kräftigen Stoß weg.

Dr. Albez hatte sich auf der ganzen Rückfahrt nach Lissabon überlegt, ob er Selvano von dem Telegramm Manoldas etwas sagen sollte. Schließlich war er zu dem Entschluß gekommen, darüber zu schweigen und zunächst einmal persönlich in

Amsterdam zu sehen, was eigentlich hinter seinem Rücken in der Stille gespielt wurde.

Daß Manolda in so kurzer Zeit von Dakar nach Amsterdam zurückgekehrt sein sollte, kam Dr. Albez selber etwas unwahrscheinlich vor, aber andererseits hatte man Baron v. Pottlach in Dakar verhaftet, weil man seine Angaben als unwahr bewiesen hatte. Zudem war das Telegramm derart kurz und präzise, daß man glauben konnte, Manolda habe in einer wichtigen Angelegenheit schnell handeln müssen.

Das Telegramm lautete :

»Sofort nach Amsterdam kommen stop Wichtige Mitteilung unter vier Augen notwendig stop Achtet auf Konkurrenz und deren Beauftragten stop Wohne im Hotel Continental stop Erwarte Sie bestimmt nächste Woche stop Manolda.«

Dr. Albez stand von seinem Schreibtischsessel auf und wanderte sinnend in der Kajüte hin und her.

»Was tun?« fragte er leise und spielte an dem Verschluß des Fensters. »Fahre ich nach Amsterdam und tappe in eine Falle, dann habe ich keinen behördlichen Schutz zu erwarten. Verständige ich Selvano, und der bietet in Holland seine Kollegen von der Kriminalpolizei auf, so kann unter Umständen eine wichtige Geheimbesprechung zunichte gemacht werden. Außerdem wird dann die Konkurrenz aufmerksam!«

Es klopfte. Dr. Albez drehte sich um. Ein Bote von der Brücke trat ein.

»Ein Telegramm aus Lissabon«, sagte er und gab Dr. Albez einen Zettel. Dann entfernte er sich wieder.

Mit größtem Erstaunen las Dr. Albez die Meldung, die ihm Selvano durchgab:

»Von Pottlach beging Selbstmord stop Hinterließ kein Geständnis stop Laufen Sie in Lissabon erst in der Nacht ein stop Selvano.«

Baron v. Pottlach Selbstmord?!

Dr. Albez starrte vor sich hin.

In die Enge getrieben, ohne Ausweg - und dann Selbstmord ...

Prof. Destilliano fiel ihm ein.

Wurde auch er in die Enge getrieben, ehe er die Pistole in den Mund steckte?

Was hatte Destilliano zu verbergen? Was konnte ihn, den großen Wissenschaftler, in die Verzweiflung hetzen? Wer war es, der ihn dazu trieb, das letzte Mittel zu ergreifen, um ein Geheimnis zu hinterlassen?

Welch eine Verbindung besteht zwischen Destilliano und Baron v Pottlach?! War es etwa Pottlach, der den Professor mit einem Geheimnis erpreßte, bis der Alte an seiner Schuld zusammenbrach?!

Aber welche Schuld?!

Dr. Albez wischte sich mit der Hand über die Augen. Dann ging er zum Schreibtisch und nahm ein Blatt Papier aus der Lade.

Die Möglichkeiten und die Tatsachen mußten zusammengefaßt werden. Aus ihnen mußte sich herausschälen, was der Kern dieser Kette von Mord, Selbstmord und scheinbaren Unfällen gewesen war.

Und Dr. Albez schrieb :

1. Destilliano hat einen heimlichen Medikamentenschmuggel

2. Lager ist in Las Palmas

3. Geschäftsfreund ist v. Pottlach

4. Wohnung Vera Cruz auf Teneriffa

5. Destillianos Selbstmord nach einer Auseinandersetzung mit Anita

6. Anita verunglückt auf der Fahrt in den Hafen

7. Manolda verschwindet

8. v. Pottlach weiß von nichts. Wird wenig später in Dakar verhaftet, wo er mich umbringen sollte (sagt Selvano!)

9. Manolda taucht in Amsterdam wieder auf

10. Im Hafen verunglückt ein fremder Mann mit einem Wagen und gefälschter holländischer Nummer. Selvano denkt, es ist Manolda

11. Die Leiche des fremden Mannes wird aus dem Grab auf Befehl v. Pottlachs gestohlen.

Dr. Albez starrte auf die Schriftreihen und stützte den Kopf in beide Hände.

Eine Zusammenstellung ohne Sinn, dachte er. Da gibt es keine Ordnung, da gibt es keine Zusammenhänge, da gibt es weder einen Verdacht noch einen Beweis einer wohlgeknüpften Kette.

Und doch : da taucht der Name v. Pottlach immer wieder auf. Und Manolda geistert dazwischen wie ein Irrlicht - mal dort -mal hier - aber immer mit allen Beteiligten verbunden!

Manolda!

Dr. Albez nickt. Er muß die Zusammenhänge kennen. Er allein!

Wo auch immer Destilliano und v. Pottlach auftauchten -Manoldas Schatten war dabei - er war der Kurier ihrer Wünsche und ihrer Aktionen.

Manolda allein mußte wissen, warum Destilliano, Anita und v. Pottlach sterben mußten!

Auf einmal fühlte Dr. Albez, daß er selbst sich auch in Gefahr befand, denn er allein war der Erbe Destillianos und damit in der grauenhaft logischen Reihe der nächste Todeskandidat, falls Manolda wirklich die unkenntliche, verbrannte Leiche im Polizeischauhaus war!

Wer aber hatte dann das Telegramm aus Amsterdam geschickt?!

Dr. Albez starrte auf seinen Zettel. Er sah plötzlich, daß er einem Abgrund entgegengegangen wäre, wenn er nicht die Mühe auf sich genommen hätte, den Fall zu zergliedern.

Mit eiligen Schritten ging er an das Bordtelefon und nahm den Hörer ab.

»Funkkabine«, rief er mit einer leicht vor Erregung zitternden

Stimme in die Muschel. Er wartete, bis der Funker sich meldete, mit dem Hörer am Ohr und diktierte dann:

»Riez, schreiben Sie und geben Sie das Telegramm sofort durch an Konsul Don Manolda, Den Haag, Holland, Parkstraße. Haben Sie? Ja? Es folgt der Telegramm text:

Drahtet sofort ob Besprechung so wichtig stop Eintreffen erst im Laufe der nächsten Woche möglich stop Kann Verlegung nicht nach Lissabon stattfinden stop Rückantwort an Jacht Anita auf bekannter Welle stop Biancodero

Haben Sie, Riez? Sehr gut! Geben Sie den Text

unverschlüsselt sofort durch. Sollte eine schnelle Antwort

kommen, reichen Sie mir den Zettel sofort zur Kabine 5 herein. Danke.«

Er hängte ein und ging mit langen Schritten im Zimmer hin und her.

Manolda! Sollte er eine Doppelrolle spielen?! Und wenn -was hatte dann Anita, die kleine, unschuldige, lustige Anita mit dem allen zu tun?! War ihr Unfall etwa auch ein Selbstmord oder gar ein Mord?!

Dr. Albez fühlte, wie es ihm eiskalt über den Rücken lief. Auf einmal wußte er, daß, wenn Manolda seine Hand beim Tode

Anitas im Spiel hatte, er, der ruhige Dr. Albez, selbst ohne

Mitleid und Reue, ohne Skrupel oder Überlegung zum Mörder an Don Manolda würde! Mochte dann kommen, was die sogenannte rechtliche Gerechtigkeit für gut befand - mit Anita war sein Leben als Mensch, als fühlender, lebenshungriger

Mensch gestorben - was sie dann mit der Hülle machten, die übriggeblieben war, war ihm gleichgültig ...

Er setzte sich an seinen Schreibtisch und betrachtete stumm das Bild Anitas, das auf einem kleinen Marmorsockel mitten auf der Tischplatte stand. Ihre kecken schwarzen Augen lachten ihm entgegen, ihr roter, üppiger Mund schien zu locken, die schwarzen langen Locken ringelten sich wild und ungebändigt über die Stirn ...

Dr. Albez wandte sich ab und bedeckte einen Augenblick die Augen mit der Hand.

Da klopfte es.

Erschreckt fuhr er empor. Nacht lag im Zimmer. Er ging zum Schalter, drehte die Deckenlampe an und öffnete. Der Funker Riez stand im Gang und hielt einen Zettel hin.

»Antwort aus Den Haag, Senor«, sagte er. »Schon?«

»Soeben durchgekommen.« Er grüßte und rannte wieder den Gang hinab in seine Funkbude.

Dr. Albez trat mit dem Telegramm unter die Lampe und las: »Konsul Don Manolda seit sechs Wochen nicht mehr in Den Haag stop Aufenthalt Manoldas unbekannt stop

Nachrichtenübermittlung daher unmöglich stop Sollte Nachricht kommen Weiterleitung sofort stop van Bercken.«

Eine Weile starrte Dr. Albez auf den schicksalhaften weißen Zettel.

Van Bercken. Der Sekretär. Manolda seit sechs Wochen unbekannt verreist.

Sah das nach Flucht aus?

Nach einem Untertauchen in die Anonymität?! Was wurde hier gespielt?!

Dr. Albez beschloß, sofort nach seiner Ankunft in Lissabon weiter nach Amsterdam zu fahren.

Er fühlte, daß er einem großen Abenteuer entgegenfuhr. Und er entschloß sich, diese Reise zu wagen, ohne Kommissar Selvano davon zu unterrichten.

Kommissar Antonio de Selvano saß Primo Galbez gegenüber und schüttelte zum wiederholten Male den Kopf.

»Verstehen Sie das, Galbez«, fragte er und reichte ihm einen Zettel über den Tisch. »Das hat Biancodero vor einer Stunde aus Den Haag bekommen.«

Primo Galbez las und schaute erstaunt auf.

»Ein Telegramm von Manolda! Alle Wetter! Sollte unsere Theorie doch nicht stimmen? Sollte der Tote doch ein anderer sein? Vielleicht nur ein Agent des ganzen Gaunerklubs?«

Selvano zuckte die Achseln. Er betrachtete die Aufnahme der verkohlten, unkenntlichen Leiche, die in dem dicken Aktenbündel lag.

»Theorien können durch Tatsachen immer widerlegt werden! Aber hier glaube ich einfach an meine Gedanken! Und ich gehe keinen Schritt von meinen Mutmaßungen weg! Eins ist jedenfalls klar: Biancodero wird nicht nach Amsterdam fahren, sondern Sie, Galbez!«

»Ich?«

»Ja, Sie. In der Maske Biancoderos. Wir müssen die Burschen ausheben, wenn wir Ruhe im Rauschgiftdezernat haben wollen. Dabei sind die Mittel gleichgültig - es geht um die Sache allein!«

Primo Galbez rieb sich die Hände und lehnte sich weit im Stuhl zurück.

»Die Gesichter der Kollegen in Amsterdam möchte ich sehen, wenn extra einer aus Lissabon durch halb Europa kommt, um einen angeblichen Konsul zu fangen! Na, die Herren werden nicht schlecht fluchen! Und den Fall van Brouken werde ich an Ort und Stelle einmal beschnüffeln! Wer hatte den eigentlich bearbeitet?« »Ich glaube, Chefkommissar Trambaeren und ein Ferdinand Brox - das Gegenstück zu Ihnen, Galbez. Was Sie an Frechheit haben, hat er an Intelligenz.«

»Danke, Chef.« Galbez grinste. »Es kann nicht jeder den Geist eines Chefkommissars haben! - Wann soll ich fahren?«

Selvano blickte nach rückwärts auf eine Tafel mit Zug- und See-Verbindungen.

»Am besten ist, Sie steigen noch in den 23-Uhr-Zug nach Madrid ein. Danri können Sie morgen abend in Amsterdam sein.«

Galbez stand auf und ergriff seine Aktentasche.

»Und was wird mit Biancodero?«

»Den hole ich am Hafen persönlich ab. Ist Ihr Aufenthalt in Amsterdam ergebnislos, ist auch Biancodero für mich ohne Interesse. Wir können dann zur Tagesordnung übergehen.«

Galbez nickte und verließ das Zimmer. Draußen auf dem Flur pfiff er leise durch die Zähne und steckte sich dann eine Zigarette an.

»Ich glaube, er verkennt den Jungen«, sagte er leise vor sich hin. »Man sollte ihn nie aus den Augen verlieren ...«

Ein Kollege vom Erpresserdezernat kam ihm entgegen und klopfte ihm auf die Schulter.

»Na, alte Spürnase«, rief er. »Wieder auf Tour? Hast wieder Wind bekommen? Wo geht's denn hin?«

Primo Galbez grinste über das ganze Gesicht.

»Zur Schwiegermutter«, sagte er lustig. »Will mich beschweren! Meine Frau hat Zwillinge bekommen ...«

Die Reise Primo Galbez' nach Amsterdam war ein völliger Fehlschlag. Konsul Don Manolda war im Hotel gar nicht angemeldet, in Den Haag wußten der Diener und der Sekretär nur, daß der Konsul seit sechs Wochen auf unbekannten Reisen war, eine Haussuchung in der Villa war negativ, und was

Trambaeren und Ferdinand Brox über die Affäre Pieter van Brouken erzählten, über diesen einwandfreien Selbstmord des kleinen Sparkassenbeamten, war so klar und im Vergleich zu der Person Biancoderos dermaßen absurd und verschieden, daß Primo Galbez genickt und leicht beschämt nach Lissabon zurückfuhr.

Selvano entschloß sich endlich, die unbekannte Leiche wieder begraben zu lassen und machte damit einen Strich unter ein Aktenstück, das zu den geheimnisvollsten Fällen der Kriminalgeschichte überhaupt gehörte: drei bekannte und ein unbekannter Toter, Motive in Massen, Indizien von erdrückender Fülle, Kombinationen von völliger Klarheit - aber kein einziger Beweis, kein Licht in das Dunkel der Mutmaßungen, und vor allem in der Folge der Geschehnisse im Grunde genommen kein Sinn.

Und dann die Gestalt dieses Jose Biancodero! Unantastbar, unwissend um alle Dinge, die um ihn herum geschahen, mißbraucht zu einem ekelhaften Schmuggel und selbst in der Gefahr, ein Ende zu nehmen wie alle, die in diesen Fall verwickelt waren. Er stand weit außerhalb jeglichen Verdachtes und war doch der Drehpunkt des ganzen Geschehens - wenn es überhaupt ein Geschehen gab!

Das war es, was Selvano so aus der Fassung brachte! Ein Aktenbündel Material, nach dem jeder Staatsanwalt ein >Schuldig< beantragen würde, und doch kein handgreiflicher Grund, Anklage gegen eine der verdächtigen Personen zu erheben.

Jose Biancodero saß wieder auf seinem Felsennest bei Azenhas do Mar und starrte den Sonnenuntergang auf dem Meer an, wartete auf den Tag, an dem er von diesem Leben einmal erlöst würde - wie er einmal zu Selvano sagte - und begann wieder um ein Mädchen zu trauern, das in den Akten der Polizei eine dunkle und mehr als geheimnisvolle Rolle spielte. Ihr Tod war für Selvano das größte Fragezeichen des ganzen Falles, und seine Kombinationen, daß sie das Doppelleben ihres Onkels entdeckt hatte und deshalb vor Scham in den Tod gegangen war, trafen zwar den Kern der Sache, ließen sich aber - wie alles in diesem großen Rätsel - nicht im geringsten beweisen.

So schloß Selvano einen Fall ab, der die größte Blamage seiner Laufbahn wurde und der ihn mit dem Gedanken spielen ließ, seinen Abschied zu nehmen. Aber der Polizeipräsident, den er mit dem Antrag um Ruhestellung besuchte, redete ihm seinen Entschluß aus, und so saß Selvano, vergrämt und verschlossen selbst vor Primo Galbez, in seinem Dezernat und zeigte eine Strenge, die ihn bald zu dem Schrecken der kleinen Kokainschmuggler werden ließ.

Nur eine Befriedigung hatte er: Seit dem Tode Baron v. Pottlachs und dem Verschwinden des Konsuls Manolda war es ruhig im Rauschgiftdezernat. Selvano buchte diese Tatsache wieder zu den Pluspunkten, die er für die Erhärtung seiner Theorien und seiner inneren Beruhigung ständig im stillen suchte.

Primo Galbez durchschnüffelte unterdessen alle Hauptstädte Südund Westeuropas nach Spuren eines Schmugglernetzes anhand der Liste, die man bei Baron v. Pottlach im Büro fand und die sich deckte mit der Kundenliste, die Manolda an Jose Biancodero gab. Aber wo auch Galbez hinkam, ob nach London oder Madrid, nach Brüssel oder Paris, nach Berlin oder Aachen, nach Vaduz oder Rom, überall traf er angesehene, alteingesessene Obstexportfirmen an, deren Leumund derart gut und einwandfrei war, daß Galbez nach seiner Rundreise müde und voller Resignation Selvano seinen Bericht auf den Tisch warf und sich sechs Wochen Urlaub nach Estoril nahm.

Anders ging es Dr. Albez.

Er war durch den Mißerfolg Primo Galbez' ungeheuer hellhörig geworden. Da es nun feststand, daß man ihn mit dem fingierten Telegramm nach Amsterdam locken wollte, um ihn dort unschädlich zu machen, mußte es doch eine Gruppe geben, die Interesse an seiner Person hatte und alles versuchen würde, nach dem Fehlschlag in Amsterdam in einer anderen Form seiner habhaft zu werden.

Dr. Albez dachte zunächst an einen Überfall auf sein Felsenschloß. Aber dann verwarf er den Gedanken, da der Gegner damit rechnen mußte, daß die Villa von der Polizei heimlich bewacht würde. Man mußte also auf eine andere Weise versuchen, ihn unschädlich zu machen. So blieb Dr. Albez stets in seinen Räumen oder betrat den Garten nur in Begleitung zweier bewaffneter Diener.

Das Rätselhafteste an dieser ganzen Sache war, daß er nicht wußte, was man von ihm wollte. Seine Exportfirma hatte er aufgelöst, Geheimsachen und Formeln von Professor Destillianos illegalen Tbc-Mitteln gab es nicht, und sonstige Wertsachen wie Patente oder auswertbare Erfindungen gab es ebensowenig.

So lebte Dr. Albez auf seiner Felsenvilla abgeschlossener und einsamer als je zuvor.

Kaum ein Jahr später fuhr ein dunkler Reisewagen den steilen Felsweg von dem Landhaus bei Azenhas do Mar herunter und bog auf die Hauptchaussee nach Lissabon ein. Weit zurückgelehnt in die dicken Lederpolster saß Dr. Albez im Wagen und las noch einmal den Brief durch, den er vor wenigen Stunden von Konsul Manolda aus Den Haag erhalten hatte. Es war ein kurzer, prägnanter Brief, der in keiner Weise den wahren Grund des Schreibens durchblicken ließ. Dieses Schreiben hatte - so glaubte Dr. Albez zu folgern - auch nur den einen Grund, ihn aus der Villa zu locken.

Dr. Albez war in den verflossenen Monaten zu der Überzeugung gekommen, daß es eigentlich sinnlos sei, sich hier auf seiner Felseninsel vor allen Menschen zu verschließen und daß alles, was kommen würde, ja doch nur eine vorher vom

Schicksal geknüpfte Kette sei, der er nie auf die Dauer entrinnen könnte.

Er hatte deshalb Selvano nicht von dem Schreiben aus Den Haag unterrichtet, sondern hatte seinem Personal die Anweisung gegeben, seine Sachen und den großen Reisewagen für eine längere Fahrt herzurichten. Er hatte die Komödie sogar so weit mitgespielt, daß er nach Den Haag an Manolda ein Telegramm richtete, in dem er seine Ankunft auf die Stunde genau angab und seine Freude über das Wiedersehen nach so langer Zeit bekundete.

Der Brief lautete:

»Lieber Freund Albez!

So geht das Leben nicht weiter! Nachdem ich es für dringend notwendig hielt, eine Zeitlang in die Dunkelheit zu tauchen, um für uns einige große Geschäfte unter Dach und Fach zu bringen, ist heute die Zeit gekommen, wo wir an die Auswertung meiner Bemühungen gehen müssen.

Ich habe Ihnen zunächst viel zu erklären, ehe ich zu Ihnen mit meinen Erfolgen kommen kann. Sie werden mit Recht über das Ihnen unbekannt anmutende Spiel der verschiedenen Interessengruppen erbost sein. Aber glauben Sie mir, daß all dies sein mußte, um das Erbe unseres Freundes Destilliano vor fremden Händen zu retten. Erklärungen darüber kann ich Ihnen aus verständlichen Gründen in diesem Brief nicht geben. Es ist nur so viel zu sagen, daß die Zeit des Wartens und der Ungewißheit nutzbringend angelegt wurde.

Die Konkurrenz ist in diesen Monaten so stark geworden, daß wir den Gedanken unserer Obst-Export-Firma in aller Stille begraben müssen. Dagegen ist uns durch den Tod unseres Freundes Destilliano und durch die Übernahme seines großen Erbes durch Sie eine Aufgabe erwachsen, die wir nicht übersehen dürfen. Wir haben das Werk Ricardos zu krönen und seinen Geist auf ewig für die Menschheit wachzuhalten. Mehr denn je braucht heute die Menschheit in der Not den Segen der Wissenschaft und daher auch uns, die wir sie in das Volk tragen.

Ich möchte Sie daher bitten, zu mir nach Amsterdam ins >Europäische Haus< zu kommen, wo ich Ihnen einen Plan vorlegen werde, der ganz im Sinne unseres Ricardo ist und der bereits bis ins einzelne vorbereitet ist: die Gründung der Pharmazeutischen Export-Company Manolda & Co. Ich darf Sie in den nächsten Tagen in Amsterdam erwarten. Immer Ihr Manolda.«

Dr. Albez war sich vollkommen darüber im klaren, daß dieser Brief eine Falle war. Er gab sich von Beginn an nicht der Illusion hin, Manolda würde wirklich noch leben und hätte dieses Schreiben geschickt in der Absicht, dem Zustand des Rätselratens ein Ende zu bereiten.

Jetzt geht es um das Ganze, dachte er sich. Und jetzt wird es sich vor allem auch zeigen, was hinter den geheimnisvollen Toten verborgen liegt und warum Anita sterben mußte!

Anita! Sie war noch immer der Drehpunkt seiner Gedanken, und es verging kein Tag, an dem er nicht den Vorwurf gegen sich selbst bestärkte, irgendwie an dem Tode des geliebten Mädchens mitschuldig zu sein.

Und so saß er in seiner Limousine in den dicken Polstern, blaß, vergrämt, zusammengefallen - ein Millionär, den seine Millionen fraßen.

Brummend bog der schwere Wagen um die Ecke und schoß dann mit großer Geschwindigkeit auf der Straße nach Lissabon dahin.

Als er um die Ecke der Felsenstraße bog, trat ein kleiner, unscheinbarer Mann aus einer Gesteinsnische und blickte dem Auto nach. Dann schob er ein Motorrad aus einer Felsspalte, trat den Anlasser herunter und ratterte mit springenden Rädern in entgegengesetzter Richtung davon.

Der Kreis um Dr. Albez hatte sich geschlossen.

Er schien es zu ahnen und lächelte in seinen dicken Polstern, als der Wagen sich den Vororten Lissabons näherte.

In der kleinen Villa Konsul Manoldas in Den Haag saßen um die gleiche Zeit zwei Männer vor einem kleinen, tickenden Kurzwellenempfänger und nahmen eine Meldung auf, die sie sichtlich befriedigte.

»Er kommt also«, sagte der eine mit einem südländischen Typus und einer leicht singenden Sprache. »Sie müssen versuchen, ihn entweder zu überzeugen oder ihn einfach kaltzustellen. Sie wissen, wer dieser Dr. Albez ist.«

»Pieter van Brouken.«

»Richtig. Er lebt seit sieben Jahren in einer Bewußtseinsspaltung. Will er auf unsere Vorschläge nicht eingehen, so betäuben Sie ihn mit Chloroform und bringen ihn hierher. Wir werden ihn dann mittels Schrecktherapie und durch ein Nervenserum wieder als Pieter van Brouken auf die Beine stellen.«

Der andere nickte lächelnd.

»Womit ein Dr. Albez aufgehört hat zu leben und wir einfach aufgrund eines plötzlich aufgefundenen Testaments, in dem er sich als Selbstmörder bekennt, das schöne Erbe antreten. Nicht übel, mein Freund.«

»Man muß Ideen haben«, sagte der andere selbstbewußt, »um im Leben etwas zu werden ... «

Dann bauten sie gemeinsam den Empfänger ab und versteckten die Teile in verschiedenen Kelleräumen unter Kohlen und altem Gerumpel.

Um die gleiche Zeit wurde Chefkommissar Selvano von der alarmierenden Meldung überrascht, daß sich der Rauschgiftschmuggel wieder stabilisiert habe, und zwar in Westeuropa. Man hätte große Organisationen in Aachen, Paris und Brüssel festgestellt, die Kokain, Marihuana und vor allem das neu eingeführte Dagga aus Afrika in katastrophaler Menge unter die Leute brächten. Die Spur führe nach wie vor nach Las Palmas, das als der Umschlaghafen dieser Organisation angesehen werden müsse.

Für Selvano war es somit klar, daß Biancodero und Manolda nicht die Köpfe dieser Organisation sein konnten, wie auch Destilliano vielleicht hie und da einmal ein Rauschgiftpaket verkauft haben mochte, aber niemals der Initiator dieser Verbrechen gewesen sein konnte. Das Aufleben der neuen großen Schmuggelfahrten war nun wieder ein Beweis, daß man sein Interesse auf einen völlig falschen Punkt konzentriert und die Spürnase Primo Galbez dieses Mal kläglich versagt hatte.

Kommissar Selvano war es unangenehm, daran zu denken. Niemand erinnert sich gern an einen großen Fehlschlag, und so nahm er sich vor, nie mehr an diesen Fall zu denken.

Es war der 20. Juni 1930, als die dunkle Limousine mit knirschenden Bremsen am Kai des Lissaboner Hafens hielt und Dr. Albez in einem weiten Reisemantel und mit zwei hellen Schweinslederkoffern über die Laufbrücke an Bord der >Espana< ging, die in wenigen Minuten in Richtung Marseille auslauten mußte. In dem Gedränge achtete Dr. Albez nicht auf die anderen Menschen, die zwischen Kisten, Ballen, verschalten Autos und Bergen von Koffern sich zur Paßkontrolle schoben, sondern mit dem Selbstbewußtsein des geachteten Mannes schritt er an dem Kontrolleur vorbei und reichte ihm kurz seinen Paß hin.

Der Polizist grüßte und ließ Dr. Albez passieren. In diesem Augenblick hob Primo Galbez in dem Telefonhäuschen am Kai den Hörer ab und sagte mit einer leicht ironischen Stimme :

»Lieber Selvano - unser Vogel geht an Bord der >Espana< in Richtung Marseille. Ich nehme an, daß er nach Sevilla will, um dort hinzugehen, wo er herkam. Was soll ich machen?«

Antonio de Selvano lehnte sich am anderen Ende des Drahtes in seinen Sessel zurück und spielte mit dem Bleistift.

»Sie sind ein unverbesserlicher Kauz, Galbez«, antwortete er. »Sie wissen, daß ich jede Unterstützung ablehne. Biancodero wird ein wenig in die Ferien fahren. Die Trauer strengt an! Überhaupt ein Wunder, wie Sie das wieder ausgeknobelt haben ... Aber machen Sie, was Sie wollen. Am besten ist, Sie lassen Biancodero in aller Ruhe fahren und kümmern sich lieber um den Mord in der Rua Carcalla.«

Ärgerlich hieb Primo Galbez den Hörer auf die Gabel, stieg in seinen Wagen, blickte noch einmal sehnsüchtig auf den mächtigen Leib der >Espana<, schüttelte den Kopf und brauste dann trotzig mit einem verkehrswidrigen Tempo dem Innern Lissabons zu.

Unter mächtigem Tuten der Schiffssirenen wurde das Fallreep eingezogen, die kleinen Schlepper stießen zischend Qualm aus ihren Schloten, und langsam, gezogen von den Booten, schob sich das Riesenschiff aus dem Hafen, dem spiegelnden, weiten, in der Sonne flimmernden Atlantik entgegen.

Oben an der Reling, auf dem Laufgang der Kabinen erster Klasse, stand Dr. Albez und blickte zurück auf die weiße, herrliche Stadt Lissabon.

Dort, umflossen von goldener Sonne, lag der Monte do Castello. Die alte Burg stand in scharfen Konturen gegen den lichtblauen Himmel.

Der Monte do Castello. Und unter ihm lag ein Haus mit einem weiten, verwilderten Garten, der einmal widertönte von dem hellen, jubelnden Lachen einer perlenden Stimme ...

Dr. Albez wandte sich ab und ging zurück in die Kabine. Die Arme auf die Knie gestützt und die Hände vor die Augen gelegt, saß er auf dem Bettrand und zwang sich, zu vergessen.

Er saß noch so da, als der Steward die Kabinen abging und die Herrschaften zum Abendessen einlud.

Er saß so die ganze Nacht ...

Als Dr. Albez, von Marseille mit dem Flugzeug kommend, in Amsterdam eintraf und verabredungsgemäß im >Europäischen Haus<, dem größten Hotel, ab stieg, war Konsul Condes de Manolda zwar schon angemeldet, aber noch nicht aus Den Haag herübergekommen.

Dr. Albez nahm sich ein Apartment nach der Straße zu, bezahlte für eine Woche im voraus und bat, ihn sofort bei der Ankunft des Konsuls zu verständigen. Den Boy, der die Koffer auspacken wollte, schickte er mit einem guten Trinkgeld wieder weg und hängte die Anzüge selbst in den Schrank. Ganz zuletzt nahm er ein Bild Anitas in einem schweren Goldrahmen aus dem Koffer und stellte es auf den Schreibtisch des Herrenzimmers, legte einen im Foyer des Hotels gekauften Orchideenstrauß davor und nahm dann ein heißes Bad.

Am Nachmittag dieses 29. Juni 1930 ging er grüßend an dem Portier vorbei, hinaus in den strahlenden Sonnenschein. Sein hellgrauer, nach neuester Mode geschnittener Freskoanzug und sein weißer Panamahut leuchteten noch lange auf der geraden Straße, bis er mit energischen Schritten in Richtung des Botanischen Gartens abbog.

Unter den Bäumen des Parkes verlangsamte er seinen Schritt und bummelte vergnügt an den schönen, breiten Grachten entlang, beobachtete die Angler an den kleinen Fußgängerbrücken, das Leben in den reich dekorierten Geschäften und schlenderte dann weiter die Nieuwe Heerengracht hinab.

Kurz am Ende der Straße, wo sie auf das Entrepot-Dock mündet und das Park-Theater steht, fühlte er plötzlich ein heftiges Unwohlsein und ein Schwindelgefühl, das ihn einen Augenblick wanken ließ. Verwundert sah er sich um, rückte den Panama ein wenig aus der Stirn und fühlte dabei, daß ihm kalter Schweiß auf der Stirn stand.

»Zu dumm!« murmelte Dr. Albez und blieb stehen, weil seine

Beine schwer wie Blei wurden und die Kniegelenke einzuknicken drohten. »Jahrelang lebt man in der größten Hitze, und gerade hier muß einem schlecht werden. Man wird alt, lieber Fernando, und die Nerven ... ja, die Nerven ...«

Er versuchte weiterzugehen, aber seine Füße schienen auf dem Asphalt festzukleben. Ein Brausen und Summen kreiste durch seinen Kopf, es war, als habe er einen festen Schlag auf den Hinterkopf bekommen, bunte Sterne tanzten vor seinem sich trübenden Blick, die Straße, die Häuser, die Docks, die Grachten wurden wie von einem Nebel überzogen, der Lärm der Straße klang fern und fremd an sein Ohr.

Sprachlos über diesen ungewohnten Zustand versuchte er, einen in der Nähe einer Bank stehenden Baum zu erreichen. Mit ungeheurer Mühe gelang es ihm, die wenigen Schritte zu gehen. Dann lehnte er sich an den rissigen Stamm, nahm den Hut ab und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Es war ihm, als würde ihm der Kragen seines Seidenhemdes zu eng, mit zitternden Fingern wollte er die Krawatte etwas lösen, da begann er zu taumeln, sah noch einige Passanten hinzuspringen, fühlte mehr, als daß er es sah, wie man ihn zu der nahen Bank führte und dort hinsetzen ließ ... dann flimmerte es wieder vor seinen Augen, die nebelige Straße begann sich zu drehen, die Gesichter der Menschen wurden zu Fratzen und die Fahrzeuge auf den Grachten zu widerlichen Ungeheuern. Er wollte schreien, um Hilfe rufen, wollte vor diesen ekeligen Fratzen weglaufen, wollte um sich schlagen und spürte doch, daß sein Körper wie mit Blei gefüllt war und immer tiefer in die Bank einsank ... in das Holz ... durch das Holz hindurch ... und dann fiel er ... endlos ... ewig ... ein Abgrund ohne Boden saugte ihn auf ... bis die tiefe Dunkelheit alles Bewußtsein aufsaugte ...

»Er ist ohnmächtig geworden«, sagte ein Mann und legte den Oberkörper des Fremden in dem vornehmen Freskoanzug so an die Lehne der Bank, daß er nicht nach vorn übersank. »Die Hitze ist heute aber auch unvorstellbar.«

Dann zerstreuten sich die Menschen. Die nach ihnen kommenden Passanten sahen nicht sonderlich interessiert auf den schlafenden Mann auf der Bank des Botanischen Gartens ... man war dies an Sommertagen gewöhnt, es gehörte gewissermaßen zum Straßenbild. Und man lächelte sogar, daß die Sommermüdigkeit die feinen Herren genauso überkam wie den Dockarbeiter, der zwei Bänke weiter sein Schläfchen nach der schweren Schicht herunterschnarchte.

Dr. Fernando Albez verschlief das Zusammentreffen mit Konsul Don Manolda.

Die Abendschatten glitten schon über die Grachten und fingen sich in den Bäumen des Botanischen Gartens, als Dr. Albez endlich erwachte. Gähnend rieb er sich die Augen, zuckte dann empor, schaute auf die Uhr am Park-Theater und sah sich auf der Bank nach einem Gegenstand um.

»Meine Aktentasche«, sagte er plötzlich laut. »Wo ist meine Aktentasche?!« Die Passanten blieben stehen und kamen näher. »Meine Aktentasche ist gestohlen worden!« sagte Dr. Albez laut. »Hier, hier hat sie gelegen! Ich habe sie neben mich gestellt

- mir wurde schlecht, ich habe mich auf diese Bank gesetzt und muß wohl geschlafen haben! Und da hat man sie gestohlen.«

Er wollte in die Tasche greifen, um ein Taschentuch zu holen, da blieb er wie versteinert stehen, kniff die Augen zusammen, riß sie wieder auf, blickte an sich herunter, betastete sich und den hellen Feskoanzug, befühlte sein Hemd, seine Schuhe, sah einen wundervollen Panamahut auf der Bank liegen und fuhr mit zitternden Fingern über den wertvollen Brillantring an seiner linken Hand.

»Was ist das?« stammelte er. »Was ist denn das?« Er blickte sich um, sah in erstaunte, zum Teil belustigte Gesichter und fühlte, daß man ihn für einen Betrunkenen hielt. »Glauben Sie mir, meine Herrschaften - ich bin bestohlen worden! Ich hatte einen anderen Anzug an, ein anderes Hemd - hier dieser Ring gehört mir gar nicht ... und dieser Hut da ... ich habe mir nie einen Panama leisten können. Glauben Sie mir doch ... ich schlafe hier vor einer Stunde ein, und wie ich jetzt erwache, habe ich fremde Sachen an und bin bestohlen.«

Er fuhr mit der Hand in die innere Rocktasche.

»Nichts!« rief er. »Auch meine Brieftasche ist weg! Mein Paß, meine neue Gehaltsbescheinigung! Und das Gummipüppchen ...«, er faßte in die Tasche ... »Auch das Gummipüppchen ist weg! Ich habe es vorhin noch gekauft, bei Vermeeren an der Ecke, ein Gummiäffchen für meinen Fietje ... «

Die Passanten lachten und gingen weiter. Man hielt ihn für einen leichten Fall von Blödheit, harmlos, witzig - lachend sah man sich um und weidete sich an der Ratlosigkeit des Irren.

Dr. Albez tastete sich von neuem ab und sah sich dann um. Verwundert sah er an der Ecke der Heerengracht ein neues, großes Geschäft, das vor einer Stunde noch nicht dagewesen war, sah auf den Straßen völlig neue Autotypen und eine Mode, die vor einer Stunde noch nicht getragen wurde.

Völlig aus der Bahn geworfen, ratlos, verwirrt, erschüttert und ein wenig ängstlich setzte er sich wieder auf die Bank und spielte mit dem Panamahut.

»Was wird Antje sagen, wenn ich so nach Hause komme«, fuhr es ihm durch den Kopf. »Antje, die so sparsam ist, die jeden Gulden dreimal herumdreht, ehe sie ihn ausgibt.« Und er schlief am hellen Nachmittag auf der Bank ein, ließ sich bestehlen und sogar umziehen.

Dr. Albez schüttelte den Kopf und starrte vor sich auf die Straße. Die Abendschatten hatten mittlerweile die Bank erreicht und umspielten die Gestalt in dem hellen Freskoanzug. Der Brillantring am kleinen Finger der linken Hand glitzerte.

Was soll ich tun, dachte Dr. Albez. Soll ich so nach Hause gehen? Oder soll ich erst die Polizei um Hilfe anrufen? Aber man hat doch keinen Anhaltspunkt. Solch einen Anzug, wie ich ihn hatte, gibt es in Amsterdam zu Tausenden. Und was will man ausgerechnet mit einem solch abgetragenen Anzug? Wenn man stiehlt, dann sucht man sich doch Werte aus! Was wollte man an mir stehlen? Das Gummipüppchen?! Er mußte lächeln trotz seiner Ratlosigkeit. Das Gummipüppchen für Fietje ... gestohlen ...

Das Rätsel um ihn wurde riesengroß und wuchs über ihn hinaus. Er kam sich klein und armselig vor. Und er wagte nicht, nach Hause zu Antje zu gehen ...

Plötzlich hatte er einen Gedanken. Er stand auf, ging zum Park-Theater und bat den Portier, einmal telefonieren zu dürfen. Dann wählte er die Nummer der gutmütigen Postinspektorswitwe, der Etagennachbarin, und wartete, bis sich ihre Stimme im Apparat meldete.

»Ja? Ist dort Noorderstraat? Ja? Hier ist Pieter van Brouken ... kann ich meine Frau ...«

Erschreckt hielt er inne. Aus dem Apparat kam mit erhobener Stimme eine Menge von Schimpfworten und Frechheiten, die ihn verstummen ließ. Hilflos hörte er die Worte »Flegel, Unverschämtheit, Polizei benachrichtigen, Lümmel« und legte dann zitternd den Hörer auf die Gabel. Als er sich umdrehte, sah er, wie der Portier sich in eine Ecke gedrückt hatte und ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Auf seine Frage gab er keine Auskunft, sondern stierte ihn stumm an. Kopfschüttelnd verließ Pieter van Brouken - so wollen wir ihn wieder nennen -das Parktheater und machte sich schweren Herzens auf, Antje unvorbereitet von dem ungeheuerlichen Geschehen zu unterrichten.

Je näher er der Noorderstraat kam, um so langsamer wurde sein Schritt. Wie sage ich es nur Antje, grübelte er, wie kann ich es vermeiden, daß sie bei meinem Erscheinen, bei meinem neuen Anzug und dem Panamahut nicht gleich vor Schreck in

Ohnmacht fällt? Antje ist doch so zart und fein, und sie regt sich immer so auf ... der Arzt sagte doch mal, man müßte sie schonen ... Ob man erst den Kopf durch die Tür steckt und sagt: »Antje, bitte erschrick nicht ... ich habe eine ganz große Überraschung für dich ... aber keine gute ...« Dann wird sie vorbereitet sein und nicht gleich losweinen ...

Vor seinem Hause hielt Pieter van Brouken an. Er blickte empor und wunderte sich, daß Antje andere Gardinen an den Fenstern hatte. Heimlich gekauft, dachte er sich, vom Wirtschaftsgeld abgespart, die gute Antje. Und er lächelte glücklich.

Zögernd ging er die zwei Treppen empor und stand dann vor der Tür. >Van Brouken< stand da auf einem billigen Emailleschild. Drinnen in der Wohnung hörte er Antje laufen ... eine Kinderstimme rief dazwischen, dann polterte etwas zu Boden ... Fietje, dachte von Brouken, er hat etwas fallen lassen. Jetzt wird Antje herbeispringen und es schnell wegräumen, damit er, der Papa Pieter, wenn er nach Hause kommt, nichts merkt. Oh, er kannte jeden Handgriff seiner Antje, alle kleinen und großer! Geheimnisse ... die kleine, blonde Antje.

Mit ein wenig zitterndem Zeigefinger drückte er auf die Klingel. Schrill klang der Ton in der Wohnung. Durch die Zimmer kam ein leichter Schritt, ein Schlüssel drehte sich von innen im Schloß, die Klinke ging herunter.

Da drückte Pieter van Brouken die Tür einen Spalt auf und steckte den Kopf hinein.

»Antje«, sagte er, »ich habe ...«

Ein schriller, nie gehörter, das Blut erstarrender Schrei gellte durch die Wohnung, mit leblosen Augen starrte ihn Antje an und sank dann an der Tür zu Boden.

Mit einem Satz war Pieter van Brouken in der Wohnung, hob die kaum atmende Antje auf, trug sie in das Wohnzimmer, legte sie auf das alte Sofa, rannte in die Küche, wo ihn ein ihm unbekannter achtjähriger Junge erstaunt und erschreckt anstarrte, holte ein Glas Wasser und ein Handtuch, rannte zurück in das Zimmer, knöpfte Antje die Bluse auf, legte ihr eine Kompresse auf die Stirn und begann dann, ihr Herz unter der zarten, kaum noch atmenden Brust zu massieren.

An der Tür schellte es. Van Brouken rannte auf den Flur und öffnete. Die dicke Postinspektorswitwe stand davor, sah ihn an, wurde zu Stein, schrie dann auf und rannte mit fliegenden Röcken zurück in ihre Wohnung. Ärgerlich schloß Pieter die Tür, rannte zurück ins Zimmer, erneuerte die Kompresse und massierte weiter das Herz der wie tot daliegenden Antje.

Alles wegen eines Diebstahls, dachte er. Ich werde doch die Polizei rufen. Und Antje hätte ich doch vorher anrufen sollen, aber die dicke Witwe war ja so ungezogen am Telefon. Und wie zart Antje ist. Keine Aufregung kann sie vertragen. Man müßte sich einmal einen Sonderurlaub nehmen und mit ihr an die Badeküste fahren. Zwei Wochen Erholung würden Antje bestimmt guttun.

Dabei massierte er und küßte immer wieder die kalten Lippen und die weiße Stirn, über die wirr die blonden Haare hingen.

Unten auf der Straße knirschten die Bremsen eines Autos. Harte Männerstiefel donnerten die Treppe hinauf. Sie machten auf seiner Etage halt. Dann schellte es wieder.

Der Arzt, dachte Pieter. Die Witwe hat sofort den Arzt angerufen. Sie ist doch nicht so böse, wie ich dachte.

Er stand auf, legte die Kompresse noch einmal zurecht und ging dann hinaus.

Als er öffnete, standen drei Männer vor der Tür und gingen an ihm vorbei in die Wohnung. Der dritte schloß die Tür und stellte sich davor.

»Wer sind Sie?« fragte der eine in einem harten Befehlston.

»Pieter van Brouken! - Und Sie?«

Eine helle Marke blinkte unter seinen Augen.

»Kriminalpolizei!«

Als man Pieter van Brouken abführte, war Antje wieder aus ihrer tiefen Ohnmacht erwacht und saß weinend in der Küche. Fietje stand ungelenk um sie herum und fragte hundertmal, warum der Vater denn wieder fortging.

Unten im Wagen des Kommissars Trambaeren setzte sich Ferdinand Brox neben van Brouken und legte ihm die Hand auf den schlaff herunterhängenden Arm.

»Haben Sie keine Angst«, sagte er in einem sanften Ton. »Es ist nur eine Formsache. Sie werden staunen, wenn man Ihnen auf dem Präsidium ein Aktenstück zeigt. Und dann müssen Sie sich erinnern, verstehen Sie, Sie müssen sich erinnern, wo Sie sieben Jahre lang gesteckt haben?!«

»Sieben Jahre?! Aber ich bin doch um fünf Uhr auf der Bank an der Nieuwe Heerengracht eingeschlafen, bestohlen worden, in einen fremden Anzug wurde ich gesteckt ... ich habe es Ihnen schon zehnmal gesagt ... «

Ferdinand Brox lächelte.

»Es hat keinen Zweck, den Unzurechnungsfähigen zu spielen. Sie haben uns vor sieben Jahren einen tollen Streich gespielt, den müssen Sie jetzt bekennen. Sonst nichts. Wegen der Akten und der Schließung des Falles. Alles andere ist Ihre Privatangelegenheit. - Aber um eines kommen Sie nicht herum: Wo waren Sie von Juni 1923 bis Juni 1930?!«

Pieter van Brouken starrte den Beamten an. Seine Augen wurden starr, aller Glanz wich aus ihnen.

»Welchen Tag schreiben wir heute?« sagte van Brouken leise. Seine Stimme war heiser, rissig.

»Den 29. Juni 1930 ...«

Da sackte Pieter van Brouken zusammen. Sein Kopf fiel zur Seite auf den Schoß Ferdinand Brox'.

»Schnell zum Präsidium!« schrie Felix Trambaeren. »Wir haben ihn soweit!«

Amsterdam und mit ihm die ganzen Niederlande hatten ihre Sensation! Die Morgenzeitungen wurden den Trägern und Verkäufern noch druckfeucht aus der Hand gerissen, in den Nachrichten nahm die Meldung des Falles Pieter van Brouken die erste Stelle vor den politischen Meldungen ein - etwas, was es seit Bestehen des Rundfunks noch nicht gegeben hatte! -, und die Bildreporter aller großen europäischen Illustrierten belagerten die kleine Wohnung in der Noorderstraat oder die Sparkasse von Amsterdam, um wenigstens ein kleines Bild des Mannes zu erjagen, der zum größten Rätsel seiner Zeit geworden war.

Die >Nieuwe Rotterdamsche Courant< brachte auf der Titelseite mit einem roten Balken die Überschrift und den grundlegenden Artikel dieses einmaligen Falles in Kriminalität und Psychologie:

»Der Mann, der sein Leben vergaß!

Unsere Leser erinnern sich vielleicht noch des Rätsels um den Sparkassenbeamten Pieter van Brouken, der vor sieben Jahren, am 29. Juni 1923, auf der Nieuwe Heerengracht auf einer Bank einschlief und dann nicht mehr gesehen wurde. Die Nachforschungen der Polizei ergaben, daß Pieter van Brouken Selbstmord verübt habe, indem er sich nach Einnahme eines starken Giftes in eine der Grachten stürzte.

Gestern nun, nach sieben Jahren, genau am 29. Juni, erwacht auf derselben Bank auf der Nieuwe Heerengracht ein dort eingeschlafener eleganter Fremder südländischen Typus und gibt an, der verschwundene Pieter van Brouken zu sein. Er kann sich an die Zwischenzeit von sieben Jahren nicht erinnern, weiß nicht, wo er gewesen ist, unter welchem Namen er gelebt hat und ist zutiefst erstaunt, daß der Schlaf, in den er 1923 gefallen ist, sieben Jahre gedauert haben soll. Seine Frau und seine

Nachbarn, die Direktion der Sparkasse und alle Bekannten bekunden, daß es sich wirklich um den vermißten Pieter van Brouken handelt, der sich irgendwo unter anderem Namen im Süden aufgehalten haben muß, worauf seine braune Hautfarbe und der typisch südländische Schnitt seines Anzuges hinweisen. Er selbst weiß von nichts, wurde von der Nachricht seines zweiten Lebens dermaßen erschüttert, daß er mit einem Nervenfieber in der Amsterdamer Klinik liegt. Er kann sich diesen Vorfall nicht erklären. Professor Ratkoff von der Psychologischen Forschungsstelle Den Haag hat uns auf Befragen mitgeteilt, daß es sich hier um einen ungeheuer seltenen Fall von komplettem Spaltungsirrsinn handelt, einer Bewußtseinsspaltung, die es ermöglicht, zwei Leben zu führen, an die jegliche Rückerinnerung fehlt. Die Sparkasse hat sich bereit erklärt, Pieter van Brouken, der immer als ein korrekter Beamter bekannt war, wieder einzustellen und ihm den Ausfall seines Verdienstes in Anbetracht des einmaligen Falles nachzuzahlen. Außerdem wird er auf Kosten des Staates und unter dem Protektorat der Königin für sechs Wochen in ein Bad zur Kur geschickt werden. Damit dürfte der sensationelle Fall Hollands eine überraschende Pointe erhalten haben und uns zeigen, daß es wirklich Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die sich unsere Weisheit nicht träumen läßt.«

Als Chefkommissar Selvano wenig später diesen Bericht in seiner Lissaboner Illustrierten las, wurde er zunächst ganz still und nachdenklich, dann schämte er sich und rief Primo Galbez an.

»Galbez«, sagte er mit leiser Stimme. »Haben Sie den Bericht von Pieter van Brouken gelesen?«

»Ja, Chef.« Weiter sagte Primo Galbez nichts. Doch dieses »Ja, Chef«, sagte Selvano mehr als alle anderen Worte.

»Ich habe Ihnen vieles abzubitten, Galbez«, sagte er deshalb nach einer Weile. »Sie hatten recht mit Ihrem Verdacht. Sie hatten recht mit den vertauschten Vornamen, Sie hatten in allem recht! Galbez - Sie verdammte Spürnase -, ich werde Sie noch heute zum Kommissar vorschlagen. - Und vergessen Sie manches harte Wort, das ich mit Ihnen über diesen Fall sprach.« Dann hängte er schnell ein.

Unterdessen lag Pieter van Brouken am Strand der Nordsee, spielte in dem weißen, heißen Sand der Dünen und tollte mit Fietje durch das Watt, wenn die See bei Ebbe den langen Streifen der mit Muscheln und Quallen übersäten Schlammfelder freigab.

Abends saßen dann Pieter und Antje eng umschlungen im Strandkorb am rauschenden Meer und schauten hinaus in die Unendlichkeit der flimmernden Weite.

»Es ist herrlich, wieder bei dir zu sein«, sagte Pieter leise und drückte Antjes blonden Lockenkopf fest an seine braune Brust. »Es ist so herrlich, dich zu fühlen. Und das alles soll ich sieben Jahre lang vergessen haben? Ich kann es nicht glauben, Antje ... «

»Du sollst nicht mehr daran denken«, sagte sie und streichelte ihn über die Augen, als wolle sie ihm die suchenden Gedanken wegwischen. »Du bist ja wieder da, und ich bin bei dir, immer, Pieter, und du wirst auch nicht wieder weggehen, weil ich dich fest, ganz fest halten werde ...«

Damit drückte sie ihn an sich, so, als könne er ihr wieder entlaufen, und küßte ihn auf seine zuckenden Lippen. »Du hast geträumt, Pieter, einen langen, bösen Traum, und es ist gut, daß du vergessen hast, was du träumtest ... Sieh, wie das Meer leuchtet und flimmert, als wäre es aus lauter Silber. Und dort, das Schiff ... siehst du das Schiff, Pieter ...? Wie hell es erleuchtet ist. Dort fahren viele Menschen in die Welt, aber ich möchte nicht mit ihnen tauschen, ich möchte nicht mit ihnen fahren ... wenn ich dich habe ...«

Und sie küßte ihn wieder und lehnte die blonden Locken an seine Brust und träumte mit ihm am Rand des Meeres bis in die

Nacht hinein. Erst als der kalte Nachtwind vom Meer herüber über die Dünen wehte, gingen sie über das harte Gras den kleinen, strohgedeckten Fischerhütten zu.

Langsam gingen sie, eng aneinandergeschmiegt, Hand in Hand - Antjes blonde Locken flatterten im kühlen Wind und spielten Pieter über die Augen.

Ein Mann ging in sein Leben zurück.

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