Kapitel 5

Fünf Jahre gingen ins Land.

Eines Nachmittags, am 7. August 1929, hielt unten auf der Uferstraße am Felsen ein großer, schwarzer Tourenwagen, und ein gepflegter, breiter Herr in dunkelgrauem Reiseanzug und Sportmütze stieg aus. Musternd schaute er den Felsen hinauf, gab in das Innere des Wagens einige Anweisungen und machte sich dann brummend daran, den steilen Felsenweg emporzuklettern.

Der Wagen fuhr an die Seite und hielt dann wartend in einer halbkreisförmigen Einbuchtung der steilen Steinwand.

Mit hochrotem Gesicht, ein wenig außer Atem und schwitzend, trat der Besucher nach einer Weile auf das Steingartenplateau. Musternd blickte er auf das weitläufige, flache Landhaus. Er wollte gerade den Kiesweg entlang zur Tür des Baues gehen, als er aus einem der Büsche zu seiner Seite angesprochen wurde.

»Ist es möglich? Sie in Cintra?!«

Erschreckt fuhr der Fremde herum, doch dann zog ein breites Lächeln über sein wohlgenährtes Gesicht.

»Doktor Fernando Albez! Sie haben eine verteufelte Art, Ihre Gäste zu begrüßen!« Lachend gab er ihm die Hand. »Nach fünf Jahren Einsamkeit wollte ich Sie einmal in Ihrer Eremitenhöhle besuchen! Wie's scheint, läßt es sich in dieser Höhle ganz gut wohnen!« Er lachte und klopfte Albez auf die Schulter. »Auch Eremitentum kann etwas Reizvolles sein!«

»Wie kommen Sie nach Cintra, Konsul Manolda?« fragte Albez lächelnd und geleitete den Gast über den Kiesweg dem Hause zu. »Sie waren nach dem - Unglück wie verschollen!«

»Man wird alt, mein Bester. Die Geschäfte reiben die Nerven auf, die Tätigkeit als Konsul mit ihrer ständigen Repräsentation engt das private Leben ein - da habe ich mir kurz entschlossen in Den Haag eine kleine Villa gekauft und bin ein lebenslustiger Privatier geworden.« Er gluckste. »Das Los der alten Männer, Doktor Albez. Ich beneide Sie um Ihre 42 Jahre und Ihre jugendliche Spannkraft. Wenn man erst 60 ist, wird das Blut ruhig und dickflüssig ... und wenn man wie ich erst 64 ist, o je -, dann ist der größte Wunsch Ruhe und Sorglosigkeit!«

»Und trotzdem machten Sie die beschwerliche Reise nach Azenhas do Mar?«

»Rein aus Vergnügen, Doktor Albez. Ich besuchte in Lissabon den letzten übriggebliebenen Jugendfreund und dachte mir: Mußt doch einmal sehen, wie es dem netten Fernando Albez geht. Das heißt: ich fragte nach Jose Biancodero. Verschwunden, hieß es. Das Haus in der Rua do Monte do Castello ist mittlerweile umgebaut und ein Säuglingsheim geworden, und der geheimnisvolle Jose Biancodero soll in Cintra, oben auf einem Felsen direkt am Meer, einsam und menschenscheu schon seit Jahren leben. Verrückt, sagte ich -den Knaben suchst du auf! Und so bin ich losgefahren und habe Sie in Ihrer Eremitenklause aufgestöbert.«

Dr. Albez lächelte und blieb vor den Stufen des Hauseinganges stehen.

»Selbstverständlich sind und bleiben Sie auch mein Gast«, sagte er.

»Ich wollte nur auf ein Stündchen ...«

Manolda hob den Arm, aber Albez winkte ab.

»Für eine Stunde brauchten Sie gar nicht zu kommen! Sie sind jetzt hier, und ich lasse Sie erst wieder weg, wenn ich es will!« Er lächelte. »Wissen Sie nicht, daß mein Zaubergarten durch einen Hexenspruch verschließbar ist und niemand mehr ohne meinen Willen von den Felsen herunterkommt?! Sie sind mein lieber und willkommener Gefangener!«

Mit gespieltem Erstaunen nahm Manolda seinen Hut ab. Resignierend zuckte er die Achseln.

»In die Falle gegangen! Das hat man von seiner Menschenfreundlichkeit! Aber das eine sage ich Ihnen, Doktor Albez: Wenn Sie mir nicht in einer halben Stunde einen saftigen Braten auffahren und eine Pulle des bestens Weines, versuche ich, Ihr Zauberreich mit entschiedener Gewalt und unter Absingen schmutziger Lieder zu verlassen!«

Lachend traten sie in das Haus und kamen in die breite, langgestreckte, glaswandige Halle, die im Hintergrund einen wundervollen Blick auf das weite, schaumige, grünschillernde Meer freigab.

»Gehen wir in die Bibliothek«, sagte Dr. Albez, während sich Manolda erstaunt und ergriffen von der Schönheit des durch Säulen und Rundbogen gehaltenen Baues umsah. »Dort haben wir die Klippen und die Brandung unter uns, und die untergehende Sonne wirft ihr blutiges Gold voll durch die Fenster. Ich sitze dort jeden Abend und starre in den versinkenden Feuerball. Dann habe ich immer nur den einen Wunsch, selbst einmal bei einem solchen Sonnenuntergang zu sterben.«

Stumm gingen sie durch die weite Halle und traten in ein gewölbtes, bis an die Decke dunkel getäfeltes Zimmer ein, in dessen Längswände große Regale eingelassen waren. Ein breites Fenster führte zum Meer hinaus. Vor dem Fenster standen tiefe, weiche Sessel und ein geschwungener, ausziehbarer Club- und Spieltisch.

»Machen Sie es sich bequem, Manolda«, sagte Dr. Albez und wies auf die Sessel am Fenster. »Ich möchte nur schnell der Küche Ihre Wünsche weitergeben und mich selbst von der guten Flasche überzeugen. Für die Zwischenzeit: eine alte Flasche Martell und Gläser finden Sie in der Hausbar unter dem Fensterbrett. Fühlen Sie sich wie zu Hause und bedienen Sie sich. - Sie sind mit Ihrem Wagen gekommen?«

»Ja.«

»Ist es Ihnen recht, wenn ich ihn in meiner Garage einstellen lasse und Ihren Chauffeur der Obhut meines Hausmeisters übergebe? Unser Stubenmädchen Mira wird sich über den seltenen männlichen Zuwachs sehr freuen!«

»Ordnen Sie an, mein Bester«, lachte Manolda und warf sich in einen Sessel. »Ich bin in Ihrer Gewalt, und da ich jetzt weiß, daß Sie einen alten Martell haben, bekommen Sie mich sowieso nicht so schnell wieder los! Erst muß der Keller leer sein!«

»Hoffentlich, lieber Manolda, hoffentlich ...«

Lächelnd entfernte sich Dr. Albez. Konsul Manolda klappte die Hausbar auf.

Nach dem Essen, das Manolda seinen gewünschten Braten bescherte und eine Flasche feurigen Tarragona, lehnten sich der Konsul und Dr. Albez in ihren Sessel zurück und rauchten eine der starken Virginiazigarren. Schweigend blickte Albez eine Weile über das grüne Meer.

»Sie werden wenig Abwechslung bei mir haben«, sagte er nach einer Pause. »Das Schönste, was ich Ihnen bieten kann, Manolda, ist Ruhe. Dann vielleicht ioch etwas Angeln, kleine Küstenfahrten mit dem Motorboot und ein Ausflug nach unserem Bad Estoril. Hier ist die Einsamkeit.«

»Ich bringe Ihnen das Leben, Albez.«

Erstaunt blickte Dr. Albez auf. Der Ton in Manoldas Stimme war klar und bewußt. Es hatte sich nicht bloß um eine Redensart gehandelt.

»Wie soll ich das verstehen, Konsul?« fragte er. Manolda blickte hinaus auf das Meer.

»Ich habe Sie belogen, Doktor Albez. Ich kam nicht zum Vergnügen nach Portugal. Ich habe das Rentnerleben satt und möchte wieder etwas Produktives aufziehen. Und zwar mit

Ihnen, Albez. Sie haben von unserem lieben Freund Destilliano her noch die blendenden Verbindungen - ich kenne Mitteleuropa wie mich selbst! Und es tut sich etwas in Deutschland! Die Inflation ist längst überwunden, der Deutsche Stresemann ist dabei, die Karre seines Vaterlandes aus dem Dreck zu zerren -es geht aufwärts mit dem alten Germania! Damit ist seine Aufnahmefähigkeit äußerst gestiegen, vor allem, nachdem der Hunger der Volksmassen größer ist als die Eigenerzeugung des Landes. Wissen Sie, woran ich dachte, Albez?«

»Nein.«

»An eine internationale Obst-Export-Gesellschaft. Obst aus aller Welt hinein in das alte Europa. Unbekannte Früchte aus dem Malaiischen Archipel, aus Südamerika, aus dem Kongobecken auf den Markt werfen und eine neue Geschmacksrichtung einführen - da liegt noch ein Geschäft, bester Albez, da liegt das Geld auf der Straße - auf den Bäumen wächst es uns zu.«

»Ich habe Geld genug«, sagte Dr. Albez leise. Es klang nicht protzenhaft, sondern voll Resignation und fast traurig.

»Das ja! Aber wollen Sie Ihr ganzes Leben auf einem Felsen versauern?!«

»Leben zu müssen, ist sauer genug ...« Albez blickte auf das Meer. Seine Gedanken schienen fern, in einer anderen Welt zu sein. Doch dann besann er sich und wandte sich an Manolda zurück. »Brauchen Sie Geld, Konsul? Diese Frage ist rein freundschaftlich ...«

»Papperlapapp! Wir beide haben Geld genug. Aber das Leben muß irgendwie einen Sinn haben, sonst wird es zu blöd! Immer nur Geld ausgeben, wird auch langweilig. Der Reiz des Verdienens fehlt dabei! Das Leben muß eben einen Zweck haben.«

»Einen Sinn, einen Zweck - dieses Leben ...« sagte Dr. Albez bitter. Etwas wie Hohn schwebte in seiner Stimme. »Aber wie

Sie wollen - bauen Sie Ihre Obst-Export-Gesellschaft auf -soweit sie mich nicht persönlich belästigt, können Sie mit mir rechnen. Organisation und alles Geschäftliche überlasse ich Ihnen.« Er griff in die Tasche und holte ein Scheckbuch heraus. »Wieviel brauchen Sie, Konsul Manolda?«

Manolda hob beide Arne und lehnte sich weit in den Sessel zurück.

»Sie verstehen mich falsch, Doktor Albez«, sagte er leidenschaftlich. »Geld ist das sekundäre Problem. Wichtiger sind mir Ihre Verbindungen.«

»Sie sind aber nur pharmazeutischer Natur.«

»Vielleicht kann man sie für einen Obsthandel verwerten.« Er stockte und verbesserte sich schnell. »Ich meine, vielleicht ist dies eine Brücke zu anderen wertvollen Verbindungen ...«

»Vielleicht. - Ich gebe Ihnen die Adressen.«

»Sie mißverstehen mich noch immer.« Manolda beugte sich vor und schob die im Wege stehende Flasche Martell etwas zur Seite. »Ich brauche Ihre Aktivität! Ich brauche Sie und Ihre Jacht, Ihren Mut und Ihr Draufgängertum, Ihren Scharfblick und Ihre Intelligenz. Alles in allem: ich brauche Sie!« Dr. Albez hob die Hand, aber Manolda winkte ab. »Bitte, sagen Sie jetzt nichts! Ich möchte keinen Entscheid - jetzt nicht! Ich will nicht in Sie dringen, ich will keine Zusage oder Zurückweisung! Überlegen Sie es sich. Die Welt steht Ihnen offen wie noch nie. Nicht die Welt eines reichen Bummlers, sondern die Welt eines Mannes mit großen Plänen und einer großen, lohnenden, die Menschheit nährenden Aufgabe! - Ich werde warten, bis Sie von selbst mit Ihrem endgültigen Entschluß zu mir kommen. - Wo kann ich telefonieren?«

»In der Halle«, antwortete Dr. Albez leise und versank in ein tiefes Nachdenken. Schnell entfernte sich Manolda.

In der Halle wählte er eine Lissaboner Nummer, wartete und sagte dann halblaut in den Apparat:

»Ich bin bei Albez. Habe ihn eben angeschossen. Ich glaube, daß unser Plan gelingt! In einer Woche gebe ich Nachricht! Sorgt bis dahin, daß genügend >Stoff< vorhanden ist!«

Schnell hängte er dann wieder ein und ging in die Bibliothek zurück.

Als Kommissar Antonio de Selvano sechs Wochen später wie jeden Morgen die Zentralstelle zur Bekämpfung des Rauschgiftschmuggels betrat, sah er als erstes voller Verwunderung, daß Primo Galbez eine kleine Obstkiste vor sich stehen hatte und mit liebevoller Sorgfalt einen Apfel aufschnitt.

»Viel Vergnügen«, sagte Selvano und blickte Galbez reichlich dumm an. »Wußte nicht, daß Sie Vegetarier geworden sind und sich für Obstsalat erwärmen. - Angenehme Beschäftigung?«

»Hm - es geht!« Primo Galbez lächelte seinen Chef an und schnitt gleichzeitig den siebenundzwanzigsten Apfel durch. »Man lernt nie aus, Selvano. Und übrigens lohnt es sich, sich einmal näher mit dem Export-Obst Portugals zu beschäftigen. -Wissen Sie, daß die Jacht Anita wieder fährt?«

»Anita? Das ist doch das Schiff dieses Biancoderos?«

»Und früher gehörte es Professor Destilliano. Ich fand auf ihr ein halbes Kistchen Dolantin!«

Selvano schob den Hut in den Nacken und ließ sich hinter seinem Schreibtisch auf den Stuhl fallen. Ärgerlich schob er die neuen Aktenbündel von sich weg.

»Galbez«, rief er. »Fangen Sie schon wieder mit diesem dummen Verdacht an?! Halten Sie Professor Destilliano noch immer für einen Rauschgiftschmuggler?! Der Präsident von Portugal in eigener Person hielt die Grabrede! Sie machen sich langsam lächerlich, mein Bester!«

»Destillianos Selbstmord und das Unglück Anita Almirandas wir wollen es vorsichtig ein Unglück nennen - sprechen eine reichlich mysteriöse Sprache.« »Seelische Konflikte bläst man nicht auf einer Posaune.«

»Das nicht, aber seit Destillianos Tod ist der Rauschgiftschmuggel um 70 % zurückgegangen.«

»Ein dummer Zufall, Galbez.« Selvano nahm seinen Hut ab und warf ihn auf einen Aktenstapel. »Genauso könnten Sie folgern: Seit Destillianos Tod haben wir in Lissabon nur noch 17 Raubüberfälle gehabt, im Gegensatz zu 27 im gleichen Zeitraum vorher! Alles kalter Kaffee, Galbez - Ihre Leidenschaft für die Jacht Anita wird langsam eine Psychose!«

Primo Galbez, der gerade einen neuen Apfel aus der Kiste nahm und ihn aufschnitt, nahm die beiden Hälften vorsichtig in seine Hände und trat zu Selvano hin. Triumphierend hielt er dem Kommissar den Apfel hin.

»Bitte, was sagen Sie dazu?« fragte er mit breitem Lächeln.

Selvano blickte widerwillig auf den aufgeschnittenen Apfel, doch dann stutzte er. Dort, wo sich sonst das Gehäuse mit den Kernen befand, stak eine kleine runde Kapsel aus Leichtmetall. Mit einem Gehäusestecher war das Innere des Apfels kunstvoll ausgestochen, die Kapsel hineingelegt und dann mit den oberen und unteren Apfeldeckenstücken wieder unsichtbar geschlossen worden.

Mit spitzen Fingern nahm Selvano die Kapsel aus dem Apfel und öffnete sie vorsichtig. Eine kleine Ampulle, gefüllt mit einer wasserklaren Flüssigkeit, kam zum Vorschein.

Erstaunt blickte Selvano zu dem grinsenden Primo Galbez.

»Reines Morphium«, sagte er dann langsam.

»Ja - das ist die fünfte Ampulle aus dieser Apfelkiste.«

»Toll! - Und wo haben Sie die Äpfel her?«

»Von der Jacht Anita!«

Eine ganze Weile war es still im Zimmer. Stumm starrte Selvano auf die kleine Rauschgiftampulle zwischen seinen Fingern.

»Wenn das wihr ist, Galbez«, sagte er endlich leise. »Wenn das von uns hundertprozentig bewiesen werden kann, daß diese Äpfel von der Jacht kommen, dann können wir zugreifen! Dann aber« - er blickte den Detektiv an -, »habe ich Ihnen vieles abzubitten, und Ihre sprichwörtliche Spürnase hat wieder einmal den richtigen Wind aufgefangen! Wie kamen Sie überhaupt zu den Äpfeln?«

Primo Galbez setzte sich und legte die beiden Apfelhälften neben den Aktenstoß, der den Schreibtisch überhäufte.

»Seit fünf Jahren beobachtete ich diesen Jose Biancodero. Ich tat es ohne Ihr Wissen, Chef, denn Sie hätten mich ja doch ausgelacht ...«

»Bestimmt!«

»Sehen Sie! Ich ließ mich nicht beeindrucken von der Einsamkeit Biancoderos - ich lag auf der Lauer, hatte meine Spitzel in Cintra, Estoril und Azenhas do Mar, beobachtete ohne Unterlaß die Lebensweise des einsamen, vergrämten Mannes und kam - wie Sie - vor einigen Monaten zu der Überzeugung, daß ich gegen Schatten kämpfe. Du bist ein Narr, sagte ich mir -rennst einem dummen Gedanken nach, nur weil er dir so gut gefällt und du ein alter Dickkopf bist, und siehst täglich, wie sich das absolute Gegenteil bewahrheitet! - Ich baute meine Zelte ab, zog meine Spitzel aus Cintra und Azenhas do Mar zurück und sagte mir: Schluß! Irren ist das Vorrecht des Menschen! Da bekam ich die Meldung, daß Biancodero seit fünf Jahren zum erstenmal Besuch erhalten habe! - Besuch auf dem Felsenschloß! Das machte mich munter! Wer es war, konnte ich nicht feststellen - das einzige, was mir auffiel, war die holländische Autonummer. Der Gast blieb volle zehn Tage bei Jose Biancodero. Am elften Tage in der Nacht - wie paradox -fuhr er wieder ab, so plötzlich, daß eine Verfolgung ausgeschlossen war.«

Selvano starrte vor sich hin und kaute nachdenklich an der

Unterlippe.

»Wissen Sie die Nummer, Galbez? Man könnte in Holland nachforschen.«

»Habe ich bereits! Der Wagen kam aus Amsterdam. Aber die Nummer war falsch - 077915 gibt es in Amsterdam und in ganz Holland nicht!«

»Aha!« Selvano sprang auf. »Wenn einer mit einer falschen Nummer im Ausland einen Besuch macht, muß er irgend etwas zu verbergen haben. Das ist eine faule Sache!« rief er. »Galbez, warum haben Sie mir das nicht früher gesagt?!«

»Sie hätten mich ausgelacht.«

»Kindskopf! Das ist doch ein Beweis!. Das verschafft uns doch das Recht, einmal zwanglos das Felsennest zu besichtigen.«

»Das ist noch nicht alles«, fuhr Primo Galbez mit seinem Bericht fort. »Ich wollte tiefer in diese geheime Zusammenkunft dringen und wartete weiter. Was folgte, ging Schlag auf Schlag: Gründung einer Obst-Export-GmbH unter Leitung Biancoderos. Mitgesellschafter der Konsul Manolda, merkwürdigerweise in Den Haag, also Holland, wohnend. Die Jacht Anita, die fünf Jahre still im Hafen lag, wurde wieder flott und seetüchtig gemacht und fuhr zunächst nach Las Palmas. Das fiel mir auf, denn auch Professor Destilliano pendelte zwischen Las Palmas und Lissabon hin und her. Las Palmas wiederum ist ein Umschlaghafen für Obst. - Ich erkundigte mich weiter, ließ mir die Prospekte der neuen Obst-Export-Gesellschaft schicken, kaufte selbst eine Kiste Obst ... alles negativ, nirgends ein Anhaltspunkt - die Äpfel und Apfelsinen waren köstlich, mehr aber auch nicht. - Da kam mir plötzlich ein verwegener Gedanke: Ich ließ mir die Akten des Rauschgiftschmuggelringes geben. Sie wissen, Selvano, auf einer Karte von Europa sind alle bekannten Plätze verzeichnet, an denen im Laufe der letzten 15 Jahre Rauschgift in größeren Mengen gehandelt wurde. Diese

Karte verglich ich mit der Karte der Niederlassungen im Prospekt der neuen Obst-Export-Gesellschaft ... wie Schuppen fiel es mir da von den Augen. Selvano, fast 70 Niederlassungen stimmten mit den Städten des Rauschgifthandels überein!«

»Wunderbar!«

»Das sage ich auch! Aber Primo Galbez ist gewöhnt, ganze Arbeit zu leisten. Ich brauchte noch einen Beweis, nicht einen theoretischen, sondern einen praktischen, einen Beweis in flagranti! - Ich jagte meine Spitzel durch Lissabon mit dem Auftrag, einen Rauschgiftsüchtigen zu entdecken. Nach knapp drei Tagen hatten wir ihn: im Vertrauen - Direktor Bonheas von der portugiesischen Nationalbank! Ich ließ ihn beobachten und stellte fest, daß in seinem Hause seit einigen Wochen auffallend viel Obst gegessen wurde ... kistenweise wurden die Äpfel, Pampelmusen, Bananen und Apfelsinen in die Villa gefahren ... die Familie Bonheas mußte in Obst ersticken. Die gedankliche Folgerung war klar: Las Palmas - Obst - Jacht Anita -Niederlassungen decken sich mit Rauschgifthandelsstellen -Bonheas ist Rauschgiftler und ißt neuerdings viel Obst, das aus Las Palmas kommt ... mein Plan stand fest! Vorgestern nacht machte ich unseren schweren Jungens Konkurrenz und brach bei Direktor Bonheas kunst- und gewerbegerecht ein. Die gute Polizei stand draußen Schmiere und sorgte dafür, daß mich niemand störte. Alles mußte rasend schnell gehen. Mit drei kräftigen Polizisten in Zivil schleppte ich aus der großen Küche je eine Kiste Pampelmusen, Äpfel und Apfelsinen heraus und begann dann, Frucht um Frucht aufzuschneiden. Bei den Pampelmusen und Apfelsinen muß ch mich vergriffen haben, die >wertvolle< Kiste scheint besonders gezeichnet zu sein ... das Ergebnis war Null! Aber bei den Äpfeln, da hatte ich Glück. Bis jetzt schon fünf Ampullen - und fast 40 ungeprüfte Äpfel sind noch in der Kiste. - Eins ist jedenfalls klar: Die Obst-ExportGesellschaft ist die frechste und tollste Rauschgiftschmuggelbande, die es überhaupt gibt!«

Selvano betrachtete wieder die kleine Ampulle Morphium und zog die Mundwinkel herab. Es sah aus, als wolle er resignieren.

»Eine meisterhafte Arbeit, die Sie da geleistet haben, Galbez«, sagte er anerkennend. »Aber eine Lücke hat Ihre Beweiskette: Wissen Sie, daß die Obstkisten in Bonheas Haus von der Jacht Anita kamen?«

Erstaunt blickte Primo Galbez auf und schwieg einen Augenblick.

»Es ist doch klar, daß die Kisten ...« meinte er. Doch Selvano winkte ab.

»Klar ist nur, was wir beweisen können«, sagte er. »Haben Sie Beweise?«

»Es ist doch logisch ...«

»Mit Logik allein können Sie nichts, aber auch gar nichts anfangen! Alle Indizien sind Seifenblasen, dumme Windeier, wenn der reale Beweis fehlt! Und haben Sie den? Haben Sie eine Rechnung Biancoderos an Bonheas? Haben Sie einen Bestellzettel? Sind die Kisten irgendwie signiert?«

»Nein«, sagte Primo Galbez kleinlaut. »Nichts von alledem ... «

Selvano betrachtete wieder die Ampulle Morphium und blickte dann mit einem Lächeln auf den traurigen Detektiv.

»Galbez, seien Sie nicht entmutigt.«

»Danke.«

»O bitte! - Ich werde morgen selbst die Jacht Anita untersuchen und anschließend der Felsenfestung Biancoderos einen Besuch abstatten. Die Akten des Handelsregisters über die Gründung der Obstfirma lasse ich mir gleich kommen -vielleicht erfahren wir, wer der>stille Teilhaben in Las Palmas und weiterer Interessent an dem Geschäft ist!«

»Und was soll ich tun?« fragte Galbez kleinlaut. Er spielte mit den Apfelstücken.

»Für Sie habe ich etwas ganz Entzückendes.« Selvano begann seine Fröhlichkeit wiederzugewinnen. »Sie werden heute nacht noch einmal bei Direktor Bonheas einbrechen. Unsere Polizei wird wieder fachmännisch Schmiere stehen. Aber diesmal brechen Sie nicht in die Küche, sondern in das Arbeitszimmer ein. Vielleicht finden Sie im Schreibtisch etwas, was uns gegen Biancodero vorgehen läßt. - Sie verstehen es doch, einen Schreibtisch lautlos aufzuknacken?«

»Mit allen Raffinessen«, nickte Galbez. »War doch in Ihrer Schule, Chef! Und wenn man mich überrascht? Man wird durch den ersten Einbruch gewarnt sein.«

»Dann wird die Polizei, die draußen Schmiere steht, kommen und Sie pro forma verhaften wie einen echten Dieb. Das ist überhaupt der beste Trick! Sie machen absichtlich Lärm, Bonheas holt die Polizei, und man führt Sie sicher ab! Einen gefahrloseren Einbruch gibt es gar nicht! Außerdem schöpft Bonheas keinen Verdacht und hält Sie für einen richtigen kleinen Dieb. - Viel Glück, lieber Galbez.«

Es war eine ziemlich helle Nacht, als Antonio de Selvano mit drei Beamten der Zentralstelle zur Bekämpfung des Rauschgiftschmuggels im Hafen von Lissabon erschien und sich dem dritten Becken näherte, wo, am Pier vertäut, mit gelöschten Positionslichtern und wie ausgestorben, die schlanke, weiße Luxusjacht Anita ankerte. Selvano war sich der Tragweite bewußt, die eine ergebnislose Untersuchung mit sich bringen mußte, denn die kühne Gedankenkette Primo Galbez' rechtfertigte noch lange nicht einen Eingriff in das geheiligte Privatleben. Hinzu kam, daß auch die Auskunft des Handelsregisters mehr als dürftig war und nichts Unbekanntes zu bieten hatte: Gesellschafter der Firma waren Jose Biancodero in Azenhas do Mar und Konsul Manolda aus Lissabon, Hotel Espana. Manolda wiederum, dem Kommissar bestens bekannt und als ehemaliger Konsul des Landes ein Ehrenmann ohne jeglichen Verdacht, schied von vornherein als Teilhaber eines

Rauschgiftschmuggels aus und war über jeden leisen Zweifel erhaben. Undenkbar war es auch, daß sich Konsul Condes de Manolda mit einem zweifelhaften Geschäftsmann assoziierte oder diese dunklen Geschäfte duldete. Allein seine Teilhaberschaft mußte für die Unbescholtenheit des Unternehmens bürgen!

Selvano war es gar nicht wohl in seiner Haut, als er das dritte Hafenbecken betrat und die Jacht Anita im Ungewissen milchigen Mondlicht liegen sah.

Das rohe Kopfsteinpflaster des Ufers blinkte schwach, als sei es mit Silber überstrichen. Tiefe Stille lag über dem Hafen, nur das leise Plätschern und Klatschen der Wellen an die Bordwand des Schiffes oder das ächzende Knacken der Taue unterbrachen die lautlose Nacht.

Selvano gab sich einen innerlichen Ruck. Er nickte den begleitenden drei Beamten zu und wollte aus dem Schatten der langgestreckten Lagerschuppen hinauf auf die Uferstraße treten, als er plötzlich mitten im Schritt innehielt und zurück in den deckenden Schatten der Schuppen sprang.

Auf der Straße, nahe an die Baracken und in den Schatten gefahren, parkte mit abgeblendeten Lichtern eine breite, dunkle Limousine.

Ein Wagen fremder Bauart und Nationalität, das hatte Selvano im Zurückspringen noch mit einem Blick erfaßt. Blitzschnell erinnerte er sich an den fremden Besuch bei Biancodero in Azenhas do Mar und cfer falschen Amsterdamer Autonummer des unbekannten Wagens.

Was hatte des Nachts ein ausländischer Wagen am Pier der Jacht Anita zu suchen?

Sollte hier doch irgendwie ein geheimnisvoller Zusammenhang bestehen, von dem selbst Konsul Manolda nichts wußte? Sollte sein guter Name etwa als Schutzschild für dunkle Geschäfte mißbraucht werden?

Selvano wechselte mit seinen drei Begleitern einen schnellen Blick. Dann glitt er an der Längswand des Schuppens entlang, immer im Schatten bleibend, und näherte sich langsam der großen, dunklen Limousine. Mit entsichertem Revolver beobachteten die drei Beamten das Anschleichen ihres Kommissars.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis Selvano so nahe an den Wagen herangeschlichen war, daß er im trüben Mondlicht mit viel Mühe das Nummernschild erkennen konnte.

Erstaunt pfiff er leise durch die Zähne.

077915!

Es war der Wagen, den Primo Galbez in Cintra bei der Felsenvilla Jose Biancoderos gesehen hatte!

Der Wagen mit der gefälschten holländischen Nummer!

Katzenhaft schob sich Selvano an den Wagen heran, trat dann mit einem schnellen Schritt aus dem schützenden Schuppenschatten und sprang auf die Limousine zu.

In dem gleichen Augenblick sprang die breite, schwere Tür des Autos auf und krachte mit voller Wucht gegen den Kopf des anspringenden Selvano. Der Kommissar wankte, vor seinen Augen wirbelte der Hafen durcheinander, er hörte noch das Aufheulen eines schweren Kompressormotors und sank dann auf dem Pflaster zusammen.

Die drei Begleiter Selvanos erfaßten in der Schnelligkeit nicht, wis geschehen war. Sie sahen plötzlich die Lichter des dunklen Wagens voll aufblitzen, hörten einen dumpfen Schlag, der im aufdonnernden Motorengeräusch unterging, und dann schoß der Wagen in Richtung Estoril davon, ein flimmernder Pfeil, der in dem Gewirr der Schuppen verschwand.

Mit ein paar Sprüngen waren sie an der Stelle, wo Selvano sein mußte, und sahen ihn betäubt und aus einer Stirnwunde stark blutend auf dem Pflaster liegen.

Drei starke, durchdringende Trillerpfeifen gellten durch die Nacht.

In den Ecken und Winkeln des Hafens wurde es lebendig. Neue Pfeifen antworteten und alarmierten die nächsten Polizeiposten. Wie ein Stein, der ins Wasser fällt, immer neue, weitere Kreise erzeugt, so pflanzte sich das Trillern der Pfeifen fort und jagte die Streifen der Polizei heraus.

Alarm im Hafen!

Großalarm in Lissabon!

Im Polizeipräsidium fuhren die Streifenwagen vor.

Die ersten Meldungen wurden telefonisch durchgegeben.

Oberfall auf Kommissar Selvano im Hafen, drittes Becken!

Sucht große, schwarze Limousine mit holländischer Nummer. 077915!

Nummer ist falsch ... Wagen floh in Richtung Estoril - Cintra

- Azenhas do Mar!

Die Telegrafen tickten. Die Streifenwagen heulten durch die Stadt, den Ausfallstraßen Lissabons zu.

»Sperrt alle Chausseen ...« tickte der Telegraf ... »Haltet alle Wagen an! Sucht große schwarze Limousine mit Nummer 077915! ... 077 915 ... Schwarze Limousine ... Richtung Estoril ... Sperrt alle Straßen ...«

Durch die Nacht jagte die schwarze Limousine.

Mit zusammengekniffenen Augen hockte Konsul Manolda hinter dem Steuer und umklammerte mit beiden Händen das Steuer. Von der Stirne aus liefen kleine Bäche über sein Gesicht ... Schweiß aus Angst und Anstrengung.

Eine Schweinerei, dachte er. Mußte gerade jetzt dieser Spürhund kommen?!

Wo soll man hinfahren? Nach Cintra zu Dr. Albez ist unmöglich! Er weiß von nichts, und außerdem muß der

Verdacht von ihm und seiner Jacht Anita abgelenkt werden. Auf dem Schiff sind 17 Apelsinenkisten mit Opium und Kokain.

Manolda wischte sich den Schweiß aus den Augen Seine Hände zitterten.

Nur fort, dachte er weiter, ganz gleich, wohin ... Wenn nur die Stadt schon hinter einem läge ... es gibt in Portugal so viele Stellen, wo man sich sicher und gefahrlos verstecken kann.

Fest preßte er seinen Fuß auf den Gashebel. Die Gärten und Villen der Vorstadt flogen an ihm vorbei. Schnurgerade lag die Chaussee vor ihm, ein im Mondlicht silbern flimmerndes Band. Leicht fiel die Straße ab, sie neigte sich der Küste zu ... dem unendlichen Meer.

Knirschend rasten die Raser über den spiegelnden Asphalt. Weit beugte sich Manolda über das Steuer vor und zuckte plötzlich zurück. Maßloses Entsetzen verzerrte sein Gesicht und sprang dann über in eine jämmerliche, kopflose, zitternde Angst.

Weit vorn auf der Straße schwenkte man rote Laternen!

Halt! hieß das! Anhalten! Polizei - Kontrolle! Die Straße ist gesperrt ...

Manoldas Augen irrten von der Straße ab und blickten zur Seite.

Ein Ausweichen gab es nicht, ein Zurück noch weniger ... das Leben war verspielt ... die Kugel war auf Schwarz gefallen ... das letzte, was ihm blieb, war das ewige Geheimnis seines Lebens ... auch über den Tod hinaus ...

Mit starren Augen griff Manolda hinter sich, hob einen kleinen Benzinkanister zu sich heran und schüttete den Inhalt in den Wagen. Dann legte er seine Papiere in die ölige Lache, holte eine Ampulle aus der Tasche, biß das dünne Glas auf und schluckte mit verzerrtem Gesicht die Flüssigkeit. Im gleichen Augenblick ließ er sein Feuerzeug aufflammen und in das hochauflodernde Benzin fallen.

Ein brennender Wagen raste in den Sperrgürtel der Polizei und zerschellte nicht weit von ihm an einem Baum. Geborgen wurde eine unbekannte, verkohlte Leiche.

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