Dritter Teil. Isfahan

Die letzte Etappe

Trotz seines veränderten Aussehens fühlte er sich immer noch wie Rob Jeremy Cole, als er zu Mittag die Karawanserei aufsuchte. Ein großer Troß nach Jerusalem wurde gerade zusammengestellt, und der weite, offene Platz war ein verwirrender Mahlstrom von Treibern, die bela-dene Kamele und Esel führten, Männer, die ihre Wagen in die Reihe zurückfahren wollten, Reitern, die einander bedenklich nahe kamen, während die Tiere protestierend brüllten und überanstrengte Menschen Tiere und Mitreisende beschimpften. Ein Trupp normannischer Ritter hatte den einzigen Schatten an der Nordseite der Lagerhäuser mit Beschlag belegt. Dort lümmelten sie betrunken auf dem Boden und riefen den Vorübergehenden Schimpfworte zu. Rob wusste nicht, ob sie die Männer waren, die Mistress Buffington getötet hatten, doch es war durchaus möglich, und er ging ihnen angeekelt aus dem Weg. Er setzte sich auf einen Ballen Gebetsteppiche und beobachtete den Leiter der Karawanen. Der kervanbashi war ein stämmiger türkischer Jude, der auf den graumelierten Haaren, die noch Spuren der ursprünglichen roten Farbe aufwiesen, einen schwarzen Turban trug. Meier hatte ihm gesagt, dass dieser Mann, der Zevi hieß, sehr nützlich sei, wenn es darum ging, eine sichere Reise zu planen. Natürlich zitterten alle vor ihm.

»Verdammt nochmal!« brüllte Zevi einen unglückseligen Viehtreiber an. »Verschwinde, du Dummkopf! Führe deine Tiere weg, sie sollten doch den Tieren der Kaufleute vom Schwarzen Meer folgen! Habe ich dir das nicht schon zweimal gesagt? Kannst du dir denn nie deinen Platz in der Marschlinie merken, du Mißgeburt?« Rob hatte den Eindruck, dass Zevi überall zugleich war, Streitigkeiten zwischen Kaufherren und Fuhrleuten schlichtete, mit dem Anführerder Karawane über die Route beriet und die Frachtunterlagen überprüfte. Während Rob zusah, machte sich ein Perser an ihn heran, ein kleiner Mann, der so mager war, dass er hohle Wangen hatte.

Er hatte einen

kümmerlichen Bart und trug einen schmutzigen, orangefarbenen Turban, der für seinen Kopf zu klein war.

»Wohin reist Ihr, Hebräer?«

»Ich hoffe, dass ich bald nach Isfahan aufbrechen kann.« »Ah, Persien! Braucht Ihr einen Führer, Effendi? Denn ich bin in Qum geboren, in der Gegend von Isfahan, und kenne jeden Stein und Busch auf dem Weg.« Rob zögerte.

»Jeder andere wird Euch den langen, schwierigen Weg an der Küste entlang führen und dann durch die persischen Berge, weil sie alle die kürzeste Route durch die Große Salzwüste vermeiden, vor der sie Angst haben. Ich aber kann Euch geradewegs durch die Wüste bis zum Wasser führen und dabei allen Räubern aus weichen.« Rob war in Versuchung, den Mann anzuheuern und sofort aufzubrechen, denn er erinnerte sich daran, wie gut Charbonneau ihm gedient hatte. Aber der Mann hatte etwas Hinterhältiges an sich, und schließlich schüttelte Rob den Kopf.

Der Perser zuckte mit den Achseln. »Wenn Ihr es Euch überlegt, Meister, mit mir macht Ihr als Führer ein gutes Geschäft, ich bin sehr billig.«

Einen Augenblick später ging einer der hochgeborenen normannischen Pilger an dem Ballen vorbei, auf dem Rob saß. Er stolperte und fiel gegen ihn.

»Du Scheißkerl«, sagte er und spuckte vor ihm aus. »Du Jude!« Rob stand mit rotem Gesicht auf. Der Normanne griff bereits nach seinem Schwert.

Plötzlich stand Zevi zwischen ihnen. »Ich bitte tausendmal um Vergebung, Mylord, zehntausendmal! Ich werde mich mit dem Kerl befassen.« Schon schob er den erstaunten Rob vor sich her. Als sie in Sicherheit waren, hörte sich Rob den Wortschwall an, den Zevi von sich gab, und schüttelte den Kopf.

»Ich beherrsche die Sprache nicht sehr gut. Aber ich habe dem Franzosen gegenüber Eure Hilfe nicht gebraucht.« Rob suchte nach den entsprechenden Worten in Parsi. »Meint Ihr? Man hätte Euch umgebracht, junger Ochse!« »Es war meine Angelegenheit.« »Nein und nochmal nein! In einem Ort voller Mohammedaner und

betrunkener Christen tötet man einen einzelnen Juden genauso, wie man eine Dattel ißt. Sie hätten viele von uns getötet, und deshalb war es durchaus auch meine Angelegenheit.« Zevi starrte ihn wütend an. »Was für einjahud seid Ihr, der Persisch spricht wie ein Kamel, seine eigene Sprache nicht beherrscht und Streit sucht? Wie heißt Ihr und woher kommt Ihr?«

»Ich bin Jesse, Sohn des Benjamin, ein Jude aus Leeds.« »Wo zum Teufel liegt Leeds?« »In England.«

»Ein Ingkili!« staunte Zevi. »Noch nie im Leben habe ich einen Juden kennengelernt, der ein Inghili war.«

»Wir sind nur wenige und leben verstreut. Es gibt dort keine Gemeinde. Keinen rabbenu, keinen schocket, keinen maschgiot. Kein Studierhaus und keine Synagoge. Daher hören wir die Sprache nur selten, und deshalb spreche ich sie so schlecht.«

»Schlimm, seine Kinder an einem Ort aufziehen zu müssen, wo sie ihren eigenen Gott nicht spüren und ihre eigene Sprache nicht hören.« Zevi seufzte. »Es ist oft schwer, ein Jude zu sein.« Als Rob fragte, ob er vielleicht von einer großen Karawane mit Begleitschutz erfahren habe, die Isfahan zum Ziel habe, schüttelte er den Kopf.

»Ein Führer hat mich angesprochen«, erwähnte Rob. »So ein persischer Gauner mit einem kleinen Turban und schmuddeligem Bart?« schnaubte Zevi. »Der würde Euch geradewegs Halsabschneidern ans Messer liefern. Ihr würdet mit durchschnittener Kehle in der Wüste liegenbleiben, und Eure Habseligkeiten würden gestohlen werden. Nein, Ihr seid in einer Karawane unseres Volkes besser dran.« Er dachte lange nach. »Reb Lonzano«, erklärte er endlich. »Reb Lonzano?«

Zevi nickte. »Ja, möglich, dass Lonzano die beste Lösung darstellt,« In der Nähe brach ein Streit unter Treibern aus, und jemand rief Zevis Namen. Er verzog.das Gesicht. »Diese Nachkommen von Kamelen, diese räudigen Schakale! Ich habe jetzt keine Zeit. Ihr könnt wiederkommen, wenn diese Karawane aufgebrochen ist. Kommt am späten Nachmittag in meine Hütte hinter der Hauptherberge. Dann können wir alles besprechen.«

Als Rob einige Stunden später wiederkam, fand er Zevi in der Hütte, die ihm in der Karawanserei als Bleibe diente. Drei Juden waren ebenfalls anwesend. »Das ist Lonzano ben Era«, stellte er Rob einen Mann vor, den ältesten von ihnen, der sichtlich der Anführer war. Er hatte braunes Haar und einen braunen Bart, in dem noch kein grauer Faden zu finden war, doch der dadurch entstehende Eindruck von Jugendlichkeit wurde von seinem zerfurchten Gesicht und seinen ernst blickenden Augen Lügen gestraft.

Loeb ben Kohen und Arieh Askari waren vielleicht um zehn Jahre jünger als Lonzano. Loeb war groß und schlank, Arieh ziemlich untersetzt und breitschultrig. Beide hatten das dunkle, wettergegerbte Gesicht reisender Kaufleute, enthielten sich aber jeder Meinungsäußerung und warteten Lonzanos Entscheidung ab. »Sie sind Kaufleute und unterwegs nach Masqat jenseits des Persischen Golfes, wo sie zu Hause sind«, erklärte Zevi und wandte sich dann an Lonzano. »Dieser bedauernswerte Jüngling ist wie ein goj vollkommen unwissend in einem christlichen Land aufgezogen worden, und man muss ihm zeigen, dass Juden einander helfen.« »Was habt Ihr denn in Isfahan vor?« fragte Reb Lonzano. »Ich will studieren, um Arzt zu werden.«

Lonzano nickte. »Die madrassa in Isfahan. Reb Ariehs Vetter, Reb Mirdin Askari, studiert dort Medizin.«

Rob beugte sich interessiert vor und hätte gern eine Frage gestellt, doch Reb Lonzano duldete kein Abschweifen.

»Seid Ihr zahlungsfähig und imstande, einen angemessenen Teil der Unkosten zu tragen?«

»Ja.«

»Bereit, Euch während der Reise an der Arbeit zu beteiligen und

Verantwortung mitzutragen?«

»Mehr als bereit. Womit handelt Ihr, Reb Lonzano?« Lonzano runzelte die Stirn. Er war sichtlich der Meinung, dass nur er berechtigt war, Fragen zu stellen. »Mit Perlen«, antwortete er widerwillig.

»Wie groß ist die Karawane, mit der Ihr reist?« Die Andeutung eines Lächelns spielte um Lonzanos Mundwinkel. »Wir sind die Karawane, mit der wir reisen.«

Rob war verwirrt. Er wandte sich an Zevi. »Wie sollen mir drei Männer Schutz vor Räubern und anderen Gefahren bieten?«

»Hört auf mich«, antwortete Zevi. »Das sind reisende Juden. Sie wissen, wann sie etwas wagen können und wann nicht. Sie wissen, wann sie sich verkriechen müssen, wohin sie sich um Schutz oder Hilfe wenden können, sie kennen jeden Ort auf ihrem Weg.« Er wandte sich an Lonzano. »Was meint Ihr, mein Freund? Werdet Ihr ihn mitnehmen oder nicht?«

Reb Lonzano sah seine Gefährten an. Sie schwiegen, und ihr unbeteiligter Gesichtsausdruck änderte sich nicht, und doch mussten sie sich irgendwie verständigt haben, denn als Lonzano Rob wieder ansah, nickte er.

»Also gut, Ihr könnt Euch uns anschließen. Wir segeln morgen bei Sonnenaufgang vom Schiffsanlegeplatz am Bosporus ab.« »Ich werde mit meinem Pferd und meinem Wagen zur Stelle sein.« Arieh schnaubte, und Loeb seufzte.

»Kein Pferd und keinen Wagen«, lehnte Lonzano ab. »Wir segeln mit kleinen Booten über das Schwarze Meer, um eine lange und gefährliche Landreise zu vermeiden.«

Zevi legte Rob seine riesige Hand aufs Knie. »Wenn sich diese Männer bereit erklären, Euch mitzunehmen, bietet sich Euch eine ausgezeichnete Gelegenheit. Verkauft Pferd und Wagen!« Rob nickte schnell entschlossen.

»Masel-tow!« sagte Zevi zufrieden und schenkte roten türkischen Wein ein, um das Abkommen zu besiegeln.

Von der Karawanserei ging Rob geradewegs zum Stall, wo Ghiz nach Luft schnappte, als er ihn so gekleidet sah.

»Ihr se\d]ahnd?« »Ja, ich bmjabud.«

Ghiz nickte ängstlich, als sei er davon überzeugt, dass dieser Magier ein djinni war, der seine Identität nach Belieben ändern konnte. »Ich habe es mir überlegt, ich werde Euch den Wagen verkaufen.« Der Perser machte ihm mürrisch ein schlechtes Angebot, einen Bruchteil vom tatsächlichen Wert des Wagens. »Nein, Ihr werdet mir einen angemessenen Preis bezahlen.« »Ihr könnt Euren klapprigen Wagen behalten. Aber wenn Ihr das Pferd verkaufen wollt...«

»Das Pferd mache ich Euch zum Geschenk.« Ghiz kniff die Augen zusammen und versuchte, eine Finte zu erkennen.

»Ihr müßt für den Wagen einen anständigen Preis bezahlen, aber das Pferd mache ich Euch zum Geschenk.«

Er ging zu der Stute und rieb ihr zum letzenmal die Nüstern, dankte ihr stumm für die Treue, mit der sie ihm gedient hatte. »Vergeßt das nie: Diese Stute arbeitet willig, aber sie muss gut und regelmäßig gefüttert und saubergehalten werden, damit sie niemals wund wird. Treffe ich sie gesund an, wenn ich zurückkomme, geht alles in Ordnung. Aber wehe, sie wurde mißhandelt...«

Er sah Ghiz in die Augen, und der Stallbesitzer wurde blaß und blickte zur Seite. »Ich werde sie gut behandeln, Hebräer. Ich werde sie sehr gut behandeln.«

Der Wagen war all diese Jahre Robs einziges Zuhause gewesen. Und ihm war, als nehme er erst jetzt endgültig Abschied vom Bader. Er musste den Großteil seines Besitzes zurücklassen, was für Ghiz sehr vorteilhaft war.

Rob nahm nur seine chirurgischen Instrumente und verschiedene Heilkräuter mit, die kleine Kiefernschachtel mit dem durchlöcherten Deckel, seine Waffen und sonst lediglich noch ein paar Dinge. Er fand, dass er sich auf das Wichtigste beschränkt hatte, war aber am nächsten Morgen nicht mehr so sicher, als er einen großen Stoffsack durch die noch dunklen Straßen trug. Er erreichte den Anlegeplatz am Bosporus, als der Morgen graute, und Reb Lonzano musterte ungnädig das Bündel auf Robs Rücken.

Sie wurden in einem langen, niedrigen Ruderboot, das eigentlich nur ein ausgehöhlter Baumstamm war, den man eingeölt und mit einem einzigen Paar Ruder ausgestattet hatte, von einem schläfrigen Jungen über den Bosporus gesetzt. Am anderen Ufer gingen sie in Uskular an Land, einer Stadt aus Bretterbuden, die sich um den Hafen drängte. Zu Robs Bestürzung erfuhr er, dass sie einen einstündigen Marsch zu einer kleinen Bucht vor sich hauen, in der das Boot vertäut lag, mit dem sie durch den Bosporus und an der Küste des Schwarzen Meeres entlangfahren würden. Er schulterte sein gewichtiges Bündel und folgte den drei Männern.

Plötzlich ging Lonzano neben ihm.

»Ich habe von Zevi von Eurer Auseinandersetzung mit dem Normannen in der Karawanserei gehört. Ihr müßt Euer Temperament besser im Zaum halten, sonst gefährdet Ihr uns alle.«

»Ja, Reb Lonzano.«

Nach einiger Zeit stieß er einen Seufzer aus und schob seinen Sack auf die andere Seite.

»Ist etwas nicht in Ordnung, Inghili?«

Rob schüttelte den Kopf. Er hielt das Bündel auf seiner schmerzenden Schulter fest, der salzige Schweiß rann ihm in die Augen, und er dachte grinsend an Zevi.

»Es ist oft schwer, ein Jude zu sein«, antwortete er.

Schließlich erreichten sie eine verlassene, enge Bucht, in der ein breites, flaches Frachtschiff mit einem Mast und drei Segeln, einem großen und zwei kleinen, auf den Wellen schaukelte. »Was für ein Boot ist das?« fragte er Reb Arieh. »Eine keseboy. Ein gutes Boot.«

»Endlich!« rief der Kapitän. Er hieß Ilias und war ein friedlicher, blonder Grieche mit sonnengebräuntem Gesicht, der beim Lachen schneeweiße Zähne mit einigen Lücken dazwischen blitzen ließ. Rob fand, dass er allerdings für einen Geschäftsmann zu sorglos war, denn an Bord warteten schon neun Vogelscheuchen, die sich Kopfhaare und Augenbrauen und Wimpern abrasiert hatten. Lonzano stöhnte. »Derwische, mohammedanische Bettelmönche.« Ihre Kutten waren dreckige Lumpen. An dem Strick, den sie als Gürtel um die Taille gebunden hatten, hingen ein Napf und eine Schleuder. Auf der Stirnmitte trugen sie ein rundes, dunkles Mal wie eine verhärtete Schwiele. Reb Lonzano erklärte Rob später, dass es sich um die zabiba handelte, weil fromme Mohammedaner fünfmal am Tage während des Gebets den Kopf gegen den Boden drücken. Einer von ihnen, vielleicht ihr Anführer, legte die Hände auf die Brust und verbeugte sich in die Richtung der Juden. »Salam.«

Lonzano verbeugte sich ebenfalls. »Salam aleikum.« »Kommt, kommt!« rief der Grieche, und sie wateten durch das angenehm kühle Wasser, weil die Bootsbesatzung, zwei Jungen in Lendentüchern, bereits wartete, um ihnen die Strickleiter hinauf in die flache keseboy zu helfen. Es gab weder ein Deck noch Aufbauten, nur einen offenen Laderaum für die Fracht, die aus Bauholz, Pech und Salz bestand. Da Ilias verlangte, dass ein Gang in der Mitte freiblieb, damit die Besatzung die Segel bedienen konnte, blieb wenig Raum für die Passagiere, und nachdem ihre Bündel verstaut waren, sahen sich Juden und Mohammedaner zusammengepfercht wie Salzheringe. Als die beiden Anker gelichtet wurden, begannen die Derwische zu schreien. Ihr Anführer, der Dedeh hieß - er hatte ein Greisengesicht und außer der zabiba noch drei dunkle Male auf der Stirn, die offenbar Verbrennungen waren, - warf den Kopf zurück und schrie zum Himmel: »Allah Ek-beer!« Der gedehnte Vokal schien über dem Meer zu schweben.

»La ilah illallah!« schrien seine Schüler im Chor. »Allah Ek-beer!«

Die keseboy trieb von der Küste weg, fand mit flatternden Segeln den Wind und steuerte dann stetig nach Osten.

Rob steckte zwischen Reb Lonzano und einem mageren jungen Derwisch. Der Mohammedaner lächelte ihn an, griff in die Tasche und zog vier armselige Stücke Brot heraus, die er an die Juden verteilte. »Dankt ihm in meinem Namen«, sagte Rob. »Ich will das Brot nicht.«

»Wir müssen es essen«, widersprach Lonzano, »sonst sind sie zutiefst beleidigt.«

»Es ist aus feinem Mehl«, erklärte der Derwisch zwanglos auf Persisch. »Wirklich ein ausgezeichnetes Brot.«

Lonzano sah Rob gereizt an, weil er die Sprache nicht verstand. Der junge Derwisch sah zu, als sie das Brot aßen, das wie kalter Schweiß schmeckte.

»Ich bin Melek abu Ishak«, stellte sich der Derwisch vor. »Ich bin Jesse ben Benjamin.«

Der Derwisch nickte und schloss die Augen. Bald schnarchte er, was Rob für einen Beweis seiner Weisheit hielt, denn die Reise in einer keseboy war überaus langweilig. Weder das Meer noch der nahe Küstenstrich schienen sich jemals zu verändern. Doch dies bot Rob Gelegenheit zum Nachdenken. Als er Ilias fragte, warum sie sich nahe der Küste hielten, lächelte der Grieche. »Im seichten Wasser können sie uns nicht überfallen«, erklärte er.

Rob blickte in die Richtung, in die Ilias zeigte, und sah weit draußen winzige Wölkchen, die aber die großen Segel eines Schiffes waren. »Die Seeräuber«, erklärte der Grieche. »Sie warten darauf, dass wir aufs Meer hinausgetrieben werden. Dann würden sie uns umbringen und meine Fracht und Euer Geld rauben.«

Als die Sonne höherstieg, breitete sich allmählich der Gestank von ungewaschenen Körpern aus. Die Meeresbrise hatte ihn zuvor zerstreut, aber nun, da das nicht mehr der Fall war, machte er sich unangenehm bemerkbar. Rob stellte fest, dass er von den Derwischen stammte, und er versuchte, Distanz zu Melek abu Ishak zu halten, aber dafür reichte der Platz nicht aus. Doch brachte die Reise mit Mohammedanern auch Vorteile, denn Ilias brachte die keseboy fünfmal am Tag an den Strand, damit sich die Derwische in der Richtung nach Mekka niederwerfen konnten. Diese Pausen nützten die Juden, schnell etwas zu essen und hinter den Büschen und Dünen Blase und Darm zu entleeren.

Robs helle englische Haut war auf der Reise längst gebeizt worden, doch nun spürte er, wie Sonne und Salz sie zu Leder gerbten. Wenn es Nacht wurde, war das Fehlen der Sonne ein Segen, aber im Schlaf rutschten die Sitzenden aus ihrer aufrechten Haltung, und Rob wurde zwischen dem schnarchenden Melek zu seiner Rechten und dem selbstvergessenen Lonzano zur Linken eingezwängt. Als er es schließlich nicht mehr ertragen konnte, setzte er seine Ellbogen ein, wofür er wilde Verwünschungen auf beiden Seiten erntete. Die Juden beteten im Boot. Rob legte jeden Morgen die tefillin an, wenn es die anderen taten, und wand den Lederstreifen um seinen linken Arm, wie er es im Stall von Tryavna mit dem Strick geübt hatte. Er schlang den Lederriemen um jeden zweiten Finger, neigte den Kopf und hoffte, dass niemand merken würde, dass er nicht wusste, was er tat.

Zwischen den Landgängen betete Dedeh seinen Derwischen auf dem Wasser vor: »Gott ist der Größte! Gott ist der Größte! Gott ist der Größte!«

»Ich bekenne, dass es keinen anderen Gott gibt als Gott! Ich bekenne, dass es keinen anderen Gott gibt als Gott!«

»Ich bekenne, dass Mohammed der Prophet Gottes ist! Ich bekenne, dass Mohammed der Prophet Gottes ist!«

Sie seien Derwische von der Bruderschaft Selmans, des Barbiers des Propheten, und hätten gelobt, ein Leben in Armut und Frömmigkeit zu führen, belehrte Melek Rob. Die Lumpen, die sie trügen, stellten den Verzicht auf die Genüsse der Welt dar. Sie zu waschen wäre eine

Verleugnung ihres Glaubens, was auch den Gestank erklärte. Das Abrasieren aller Körperhaare symbolisierte die Entfernung des Schleiers zwischen Gott und seinen Dienern. Die an ihrem Gürtel hängenden Schalen seien das Zeichen für den tiefen Brunnen der Meditation, die Schleudern dienten dazu, den Teufel zu vertreiben. Die Verbrennungen auf der Stirn verstärkten die Bußfertigkeit, und sie verschenkten an Fremde Brot, weil der Erzengel Gabriel Adam Brot ins Paradies gebracht habe.

Die Derwische befanden sich auf einer ziaret, einer Pilgerfahrt zu den heiligen Stätten in Mekka.

»Warum windet ihr jeden Morgen Lederriemen um den Arm?« fragte ihn Melek.

»Es ist ein Gebot des Herrn«, antwortete Rob und erzählte Melek, wie das Gebot im 5. Buch Mose erteilt worden war. »Warum bedeckt ihr eure Schultern mit Schals, wenn ihr betet, manchmal aber nicht?«

Rob wusste zu wenige Antworten; er besaß nur oberflächliche Kenntnisse, die er aus der Beobachtung der Juden in Tryavna gewonnen hatte. Er bemühte sich, seine Verlegenheit angesichts des Verhörs zu verbergen. »Weil der Unaussprechliche, Er sei gesegnet, uns angewiesen hat, Seine Gebote einzuhalten«, sagte er ernst, und Melek nickte lächelnd.

Als Rob sich von dem Derwisch abwandte, sah er, dass Reb Lonzano ihn aus halbgeschlossenen Augen beobachtete.

Salz


Die ersten Tage vergingen ruhig, aber dann frischte der Wind auf, was schweren Seegang zur Folge hatte. Ilias lavierte die keseboy geschickt zwischen den gefährlichen Seeräuberschiffen und der donnernden Brandung. Bei Sonnenuntergang tauchten schlanke, dunkle Gestalten im blutroten Wasser auf, die um ihr Boot kreisten, neben ihm herschwammen, hochsprangen und unter ihm durchtauchten. Rob schauderte und bekam richtig Angst, doch Ilias meinte lachend, es seien nur Delphine, harmlose, verspielte Geschöpfe.

Bei Morgengrauen schwollen die Wellen zu steilen Hügeln an, und die Seekrankheit suchte Rob heim wie ein alter Bekannter. Sein Würgen wirkte selbst auf abgehärtete Seefahrer ansteckend, und bald war das Boot voller seekranker, sich übergebender Männer, die in den verschiedensten Sprachen Gott anflehten, ihrem Elend ein Ende zu bereiten.

Als es am schlimmsten war, bat Rob, man möge ihn an Land aussetzen. Doch Reb Lonzano schüttelte den Kopf.

»Ilias wird jetzt nicht mehr anlegen, damit die Mohammedaner beten können, denn hier leben die turkmenischen Stämme. Wen sie nicht töten, versklaven sie, und in jedem ihrer Zelte gibt es herabgewürdigte Unglückliche, die ihr Leben in Ketten verbringen.«

Lonzano erzählte die Geschichte seines Vetters, der gemeinsam mit zwei kräftigen Söhnen versucht hatte, eine Karawane mit Weizen nach Persien zu führen. »Sie wurden gefangen, gefesselt und bis zum Hals in ihren eigenen Weizen eingegraben, bis sie verhungerten; keine schöne Todesart. Schließlich verkauften die Turkmenen unserer Familie die entstellten Leichen, damit wir sie nach jüdischem Ritus begraben konnten.«

Also blieb Rob auf dem Boot und durchlitt vier endlose Tage, die ihm wie eine Reihe von üblen Jahren vorkamen.

Neun Tage, nachdem sie Konstantinopel verlassen hatten, steuerte Ilias die keseboy in einen winzigen Hafen, der von etwa vierzig Häusern umgeben war, von denen einige nur windschiefe Holzbauten waren. Die meisten jedoch waren aus in der Sonne getrockneten Lehmziegeln errichtet. Es war ein ungastlicher Hafen, nicht jedoch für Rob, der sich später immer dankbar an den Ort Rize erinnerte. »Imshallah! Imshallah!" riefen die Derwische, als die keseboy anlegte. Reb Lonzano sprach einen Segen. Mit dunkel gebräunter Haut, magerem Körper und leerem Bauch sprang Rob aus dem Boot und ging vorsichtig über den schwankenden Boden, weg von dem verhaßten Meer.

Dedeh verbeugte sich vor Lonzano, Melek zwinkerte Rob lächelnd zu, und die Derwische brachen auf.

»Kommt«, sagte Lonzano. Die Juden stapften davon, als wüßten sie, wohin sie sich begaben. Rize war ein erbärmlicher Ort. Gelbe Hunde

kamen aus den Häusern und kläfften die Reisenden an. Sie kamen an kichernden Kindern mit entzündeten Augen vorbei. Eine schlampige Frau kochte etwas über einem offenen Feuer, zwei Männer schliefen im Schatten so eng beieinander wie ein Liebespaar. Ein alter Mann spuckte aus, als sie vorbeigingen.

»Ihr Hauptgeschäft ist der Verkauf von Vieh an Reisende, die mit dem Schiff hier ankommen und dann den Weg durch die Berge nehmen«, belehrte Lonzano Rob. »Loeb kennt sich mit Tieren ausgezeichnet aus und wird für uns alle einkaufen.«

Rob gab also Loeb Geld, als sie eine kleine Hütte neben einem großen Pferch mit Eseln und Maultieren erreichten. Auch der Händler hatte entzündete Augen. Der dritte und vierte Finger an seiner linken Hand fehlten; jemand hatte sie stümperhaft entfernt, aber er benützte die Stümpfe, um an den Halftern zu ziehen und die Tiere herauszuholen, die er Loeb zeigen wollte.

Loeb handelte nicht und machte auch nicht viel Aufhebens. Oft schien er kaum einen Blick auf das Tier zu werfen. Nur gelegentlich blieb er stehen und prüfte Augen, Zähne, Widerrist und Fesseln. Er wollte nur ein Maultier kaufen, und der Verkäufer schnappte bei seinem Angebot nach Luft. »Nicht genug!« schrie er zornig, doch als Loeb die Schultern hob und wegging, hielt ihn der aufgebrachte Mann zurück und nahm das Geld an.

Bei einem anderen Händler kauften sie drei Tiere. Der dritte Händler, den sie aufsuchten, betrachtete lange die Tiere, die sie bei sich führten, und nicke langsam, ehe er aus seiner Herde Tiere für sie aussuchte. »Jeder kennt den Bestand des anderen Händlers, und er sieht, dass Loeb nur die besten Tiere nimmt«, sagte Arieh. Bald besaßen alle vier Mitglieder der kleinen jüdischen Reisegesellschaft einen zähen, ausdauernden Esel zum Reiten und ein kräftiges Maultier, das als Packtier diente.

Lonzano meinte, wenn alles gutgehe, würden sie nur einen Monat benötigen, um Isfahan zu erreichen, und diese Aussicht verlieh Rob neue Kraft. Sie brauchten einen Tag zur Durchquerung der Küstenebene und drei Tage für das Vorgebirge. Dann hatten sie die Berge erreicht. Rob hatte Berge gern, doch diese hier waren unfruchtbar und voll kahler Felsspitzen; Laubbäume waren eine Seltenheit. »Der

Grund dafür ist, dass es den größten Teil des Jahres über kein Wasser gibt«, erklärte Lonzano. »Im Frühjahr kommt es zu wilden, gefährlichen Überschwemmungen, und während der übrigen Zeit herrscht Dürre. Wenn es hier einen See gibt, besteht er mit großer Wahrscheinlichkeit aus Salzwasser, aber wir wissen, wo man Süßwasser findet.« Am Morgen beteten sie. Anschließend spuckte Arieh aus und sah Rob verächtlich an. »Ihr versteht einen Dreck. Ihr seid ein blöder go;'.« »Und du bist ein Dummkopf und redest wie ein Schwein«, wies ihn Lonzano zurecht.

»Er weiß nicht einmal, wie man die tefillin anlegt!« murrte Arieh. »Er wurde unter Fremden aufgezogen, und wenn er es nicht weiß, haben wir jetzt Gelegenheit, es ihm beizubringen. Ich, Reb Lonzano ben Ezra ha-Levi aus Masqat, werde ihm die Sitten seines Volkes beibringen.«

Lonzano zeigte Rob, wie man die Gebetsriemen richtig anlegt. Die Lederriemen wurden dreimal um den linken Oberarm gewunden, so dass sie den hebräischen Buchstaben shin bildeten, dann wurden sie siebenmal über den Unterarm, die Handfläche und derart um die Finger gelegt, dass zwei weitere Buchstaben entstanden, nämlich aalet und jod, die zusammen mit dem ersten das Wort »Shaddaj« bildeten, einen der sieben Namen des Unaussprechlichen. Während die Riemen angelegt wurden, wurden Gebete gesprochen, darunter die Stelle aus Hosea 2.21-22: »Und ich traue dich mir an auf ewig... um den Brautpreis von Gerechtigkeit und Recht, von Liebe und Erbarmen. Ich traue dich mir an um den Brautpreis der Treue: Dann wirst du den Herrn erkennen.«

Als er die Worte nachsprach, begann Rob zu zittern, denn er hatte Jesus gelobt, dass er ihm trotz seiner Verkleidung als Jude im Glauben treu bleiben würde. Dann fiel ihm ein, dass Christus Jude gewesen war und zweifellos während seines Lebens tausende Male die Gebetsriemen angelegt hatte, während er die gleichen Gebete gesprochen hatte. Die bedrückende Last auf seinem Herzen wich, ebenso seine Furcht, und er sprach Lonzano die Worte nach, während die Riemen um seinen Arm seine Hand eigenartig purpurrot färbten, weil das Blut in den Fingern von den engen Schlingen abgeschnürt wurde. Rob fragte sich, woher das Blut wohl gekommen war und wohin es aus der Hand fließen würde, wenn die Riemen entfernt wurden.

»Noch etwas«, ermahnte ihn Lonzano, als sie die Gebetsriemen lösten. »Ihr dürft nicht versäumen, nach göttlicher Führung zu streben, nur weil Ihr die Sprache nicht beherrscht. Es steht geschrieben, wenn ein Mensch ein vorgeschriebenes Gebet nicht sprechen kann, soll er zumindest an den Allmächtigen denken. Auch das ist ein Gebet.«

Die Reisegruppe bot keinen kühnen Anblick, zumal Rob nicht, denn wenn jemand groß ist, stimmen die Proportionen nicht mehr, sobald er auf einem Esel reitet. Robs Füße berührten daher fast den Boden, aber der Esel konnte sein Gewicht trotzdem leicht tragen; er war ein behendes Tier, das sich ausgezeichnet dafür eignete.

Berge zu überwinden. Lonzanos Tempo gefiel Rob nicht, denn der Anführer hielt eine Dornenrute in der Hand, mit der er seinen Esel auf die Flanken schlug, um in anzutreiben.

»Warum so eilig?« brummte er schließlich, doch Lonzano drehte sich nicht einmal nach ihm um.

Loeb antwortete. »In der Nähe leben bösartige Menschen. Sie töten alle Reisenden und hassen besonders die Juden.« Die drei hatten die Route im Kopf; Rob kannte sie nicht. Wenn seinen Gefährten etwas zustieß, war es zweifelhaft, ob er in dieser öden, feindseligen Umgebung überleben würde. Der Pfad stieg steil an und fiel jäh ab, während er sich zwischen den dunklen, drohenden Gipfeln der Osttürkei hindurchwand. Am Spätnachmittag des fünften Tages erreichten sie einen kleinen Fluss, der träge zwischen steinigen Ufern dahinfloß.

»Der Fluss Coruh«, stellte Arieh fest.

Robs Wasserflasche war beinahe leer, aber Arieh schüttelte den Kopf, als er zum Fluss wollte.

»Er ist salzig«, warnte er scharf, als hätte Rob dies wissen müssen. In der Dämmerung kamen sie um eine Wegbiegung und stießen auf einen Jungen, der Ziegen hütete. Er rannte davon, als er sie erblickte. »Sollen wir ihn verfolgen?« fragte Rob. »Vielleicht will er den Räubern melden, dass wir hier sind.«

Nun sah ihn Lonzano lächelnd an, und Rob merkte, dass die Spannung aus seinem Gesicht verschwunden war.

»Das war ein jüdischer Junge. Wir kommen nach Bayburt.« In dem Dorf lebten nicht einmal hundert Menschen, von denen aber

ein Drittel Juden waren. Sie wohnten hinter einer mächtigen, hochragenden Mauer, die am Berghang errichtet worden war. Als sie das Tor in der Mauer erreichten, stand es bereits offen. Es wurde sofort hinter ihnen geschlossen und versperrt, und als sie abstiegen, genossen sie Sicherheit und Gastlichkeit innerhalb der Mauern des Judenviertels. »Shalom!« begrüßte sie der rabbenu von Bayburt ohne sonderliche Überraschung. Er war ein kleiner Mann, der aber auf einem Esel vollkommen selbstverständlich ausgesehen hätte. Er trug einen Vollbart, und um seinen Mund spielte ein wehmütiger Zug. »Shalom aleikhum«, grüßte Lonzano.

Rob hatte schon in Tryavna von dem jüdischen Reisewesen gehört, doch nun erlebte er es als Beteiligter. Jungen führten die Tiere fort, um sie zu versorgen, andere Jungen sammelten ihre Flaschen, um sie zu waschen und mit Süßwasser aus dem Brunnen des Ortes zu füllen. Frauen brachten nasse Tücher, damit sie sich reinigen konnten; sie wurden mit frischem Brot, mit Suppe und Wein verwöhnt, bevor sie sich mit den Männern in der Synagoge zum ma'ariw versammelten. »Ich kenne Euer Gesicht, nicht wahr?« fragte der rabbenu Lonzano. »Ich habe Eure Gastfreundschaft schon früher genossen. Ich war vor sechs Jahren mit meinem Bruder Abraham und unserem Vater Jere-miah ben Label, seligen Angedenkens, hier. Unser Vater wurde uns vor vier Jahren durch den Tod entrissen, als eine kleine Schramme an seinem Arm brandig wurde und sein Blut vergiftete. Es war der Wille des Allerhöchsten.«

Der rabbenu nickte seufzend. »Möge er in Frieden ruhen!« Ein grauhaariger Jude kratzte sich am Kinn und mischte sich eifrig ins Gespräch ein. »Erinnert Ihr Euch vielleicht an mich? Josel ben Samuel aus Bayburt? Es werden im Frühjahr zehn Jahre, dass ich bei Eurer Familie in Masqat gewohnt habe. Ich hatte mit einer Karawane von dreihundertvierzig Kamelen Kupferkies gebracht, und Euer Onkel -hieß er Issachar? - half mir, den Kies an einen Schmelzer zu verkaufen, eine Ladung Meeresschwämme zu erstehen und sie mitzunehmen.

Ich habe einen schönen Gewinn damit erzielt.« Lonzano lächelte. »Mein Onkel Jehiel ben Issachar.« »Jehiel, genau! Es war Jehiel. Ist er wohlauf?«

»Er war bei guter Gesundheit, als ich Masqat verließ«, antwortete Lonzano.

Der rabbenu meldete sich wieder. »Die Straße nach Erzurum wird von einer Bande türkischer Räuber beherrscht.

Die Pest soll sie treffen, und alle denkbaren Katastrophen mögen über sie hereinbrechen! Sie morden, verlangen Lösegeld, was immer ihnen paßt. Ihr müßt ihnen ausweichen und einen schmalen Pfad durch die höchsten Berge nehmen. Ihr werdet euch nicht verirren, denn einer unserer Jungen wird euch führen.«

Daher schwenkten ihre Tiere am nächsten Morgen kurz nach Bayburt von der vielbegangenen Straße ab und kletterten einen steinigen Pfad empor, der stellenweise nur wenige Fuß breit war und an steilen Abhängen entlangführte. Der Junge aus Bayburt blieb bei ihnen, bis sie die Hauptstraße erreicht hatten.

Die nächste Nacht verbrachten sie in Karakose, wo ein Dutzend jüdische Familien lebte, wohlhabende Kaufleute, die unter dem Schutz eines mächtigen Kriegsherrn, Ah al-Hamid, standen. Hamids Burg war als Siebeneck auf einem hohen, die Stadt beherrschenden Berg erbaut. Sie sah wie eine riesige abgetakelte, mastlose Kriegsgaleone aus. Das Wasser musste auf Eseln aus der Stadt in die Burg gebracht werden, und die Zisternen waren immer voll, falls es zu einer Belagerung kommen sollte. Als Gegenleistung für Hamids Schutz hatten sich die Juden von Karakose verpflichtet, die Vorratshäuser der Burg stets mit Hirse und Reis zu füllen. Rob und die drei Juden bekamen Hamid nicht zu Gesicht, verließen aber Karakose gern wieder, denn sie wollten nicht an einem Ort verweilen, wo ihre Sicherheit von der Laune eines einzigen mächtigen Mannes abhing. Sie zogen durch ein Gelände, das äußerst schwierig und gefährlich war, aber das Reisenetz funktionierte. Jeden Abend erhielten sie einen neuen Vorrat an Süßwasser, ausreichende Nahrung und Unterkunft sowie Angaben über die vor ihnen hegende Wegstrecke. Die Sorgenfalten in Lonzanos Gesicht waren fast verschwunden. An einem Freitagnachmittag erreichten sie das kleine Bergdorf Igdir. Sie blieben einen zusätzlichen Tag in den kleinen Steinhäusern der dortigen Juden, um nicht am Sabbat reisen zu müssen. In Igdir wurde Obst angebaut, und sie stopften sich dankbar mit schwarzen Kirschen und kandierten Quitten voll. Nun entspannte sich sogar Arieh, und Loeb zeigte Rob großzügig eine geheime Zeichensprache, mit der jüdische Kaufleute im Osten Verhandlungen führten, ohne zu sprechen. »Es wird mit den Händen geredet«, erklärte Loeb. »Der gestreckte Finger gilt zehn, der gekrümmte Finger fünf. Wenn der Finger so umfaßt wird, dass nur die Spitze sichtbar ist, bedeutet es eins, die ganze Hand hundert und die Faust tausend.«

An dem Morgen, an dem sie Igdir verließen, ritten Rob und Loeb nebeneinander. Sie handelten stumm mit den Händen, schlössen Geschäfte über nicht existierende Ladungen ab und kauften und verkauften Gewürze, Gold und Königreiche, um sich die Zeit zu vertreiben. Der Pfad war steinig und schwierig. »Wir befinden uns nicht weit vom Berg Ararat«, stellte Arieh fest. Rob betrachtete die hohen, abweisenden Gipfel und das verdorrte Gebiet ringsum. »Was muss Noah gedacht haben, als er die Arche verließ?« fragte er, und Arieh zuckte mit den Achseln. In Nazik, der nächsten Stadt, kam es zu einer Verzögerung. Der Ort lag in einem langen, felsigen Engpaß, und in ihm lebten vierundachtzig Juden und vielleicht dreißigmal so viele Anatolier. »In der Stadt wird eine türkische Hochzeit abgehalten«, erzählte ihnen der rabbenu, ein hagerer alter Mann mit gebeugten Schultern und scharfen Augen. »Sie haben schon mit der Feier begonnen und sind bösartig und erregt. Wir wagen es nicht, unser Viertel zu verlassen.«

Ihre Gastgeber behielten sie vier Tage lang im jüdischen Viertel. Sie hatten reichlich Nahrung und eine ergiebige Quelle. Die Juden von Nazik waren liebenswürdig und höflich, und obwohl die Sonne heiß vom Himmel brannte, schliefen die Reisenden in einer kühlen, aus Steinen errichteten Scheune auf sauberem Stroh. Aus der Stadt hörte Rob den Lärm der Schlägereien und Gelage, das Splittern von Möbeln, und einmal kam ein Steinhagel von der anderen Seite der Mauer herüber, doch es wurde niemand verletzt.

Nach vier Tagen war alles ruhig. Einer der Söhne des rabbenu wagte sich hinaus und stellte fest, dass die Türken vom Feiern erschöpft und als Folge des wilden Gelages verträglich waren. Am nächsten Morgen konnte Rob mit seinen Reisegefährten Nazik guten Mutes verlassen. Nun folgte ein Treck durch einen Landstrich ohne jüdische Siedlungen und deren Schutz. Drei Tage, nachdem sie Nazik verlassen hatten, erreichten sie eine Hochebene mit einem großen stehenden Gewässer, das von einem breiten, weißen, von Sprüngen durchzogenen Schlammrand umgeben war. Sie stiegen von ihren Eseln ab.

»Das ist der Urmiasee«, erklärte Lonzano, »ein seichtes Salzgewässer. Im Frühjahr schwemmen die Bäche Minerale von den Berghängen an. Aber es gibt keinen Wasserlauf, der den See entwässert. Nur die Sommersonne trocknet das Wasser aus, und das Salz lagert sich dann am Rand ab. Nehmt eine Prise Salz und legt sie Euch auf die Zunge!«

Rob kostete vorsichtig und verzog das Gesicht. Lonzano grinste. »So schmeckt Persien.«

Es dauerte einen Moment, bis Rob begriff. »Wir sind in Persien?«

»Ja. Hier verläuft die Grenze.«

Rob war enttäuscht. Es war eine so lange Reise gewesen... und das war alles?

Lonzano begriff. »Macht Euch nichts daraus. Ihr werdet bestimmt von Isfahan begeistert sein. Wir sollten lieber aufsitzen, wir haben noch tagelang zu reiten.«

Doch vorher pißte Rob in den Urmiasee, um dem Salz Persiens einen Schuß englischen Spezificums beizufügen.

Der Jäger

Arieh zeigte seine Abneigung deutlich. Zwar hielt er vor Lonzano und Loeb seine Zunge im Zaum, doch wenn die beiden außer Hörweite waren, galten seine bissigen Bemerkungen Rob. Selbst wenn er zu den beiden Juden sprach, war er oft alles andere als freundlich. Rob war größer und stärker. Manchmal kostete es ihn seine ganze Willenskraft, Arieh nicht zu schlagen. Lonzano bemerkte es. »Ihr müßt ihn übersehen.« »Arieh ist ein...« Das persische Wort für Bastard fiel Rob nicht ein. »Nicht einmal zu Hause ist Arieh ein angenehmer Mensch, aber besonders schlimm ist er auf Reisen. Als wir Masqat verließen, war er erst ein knappes Jahr verheiratet. Er hat einen neugeborenen Sohn und wollte nicht von daheim weg. Seither ist er die ganze Zeit verdrossen.« Er seufzte.

»Wir alle haben eine Familie, und es ist oft hart, auf Reisen und fern von zu Hause zu sein, besonders am Sabbat und an Feiertagen.« »Seit wann seid ihr von Masqat fort?« fragte Rob.

: »Es sind jetzt siebenundzwanzig Monate.«

»Wenn das Leben eines fahrenden Kaufmanns so entbehrungsreich und einsam ist, warum bleibt Ihr dann dabei?« Lonzano sah ihn an. »Ein Jude überlebt eben auf diese Weise.«

Sie umritten den Urmiasee im Nordosten und befanden sich bald wieder zwischen hohen, baumlosen Bergen. Sie übernachteten bei Juden in Tebria und Takestan. Rob merkte kaum einen Unterschied zwischen den Orten und den Dörfern in der Türkei. Es waren öde, auf steinigem Geröll erbaute Bergdörfer, in denen die Menschen im Schatten schliefen und Ziegen beim Gemeindebrunnen herumstreunten. Kashan war auch so, aber Kashan hatte einen Löwen über dem Tor. Einen wirklichen, riesigen Löwen.

»Das ist ein berühmtes Tier, es mißt fünfundvierzig Spannen von der Schnauze bis zum Schwanz«, erklärte Lonzano stolz, als wäre es sein Löwe. »Er wurde vor zwanzig Jahren von Abdallah Schah, dem Vater des jetzigen Herrschers, erlegt. Er richtete sieben Jahre lang großen Schaden unter den Viehherden dieses Gebietes an, und schließlich brachte ihn Abdallah zur Strecke. In Kashan findet jedes Jahr am Jahrestag der Jagd eine Feier statt.«

Nun hatte der Löwe getrocknete Aprikosen statt der Augen und ein Stück roten Filzes als Zunge, und Arieh wies verächtlich darauf hin, daß er mit Lumpen und trockenem Unkraut ausgestopft sei. Generationen von Motten hatten das von der Sonne getrocknete Fell stellenweise bis auf die nackte Haut abgefressen, aber die Beine des Löw6n waren wie Säulen, und er hatte noch immer seine großen Zähne, die scharf wie Lanzenspitzen waren, so daß Rob eine Gänsehaut bekam, als er sie sah.

»Ich möchte so einem Tier nicht gern begegnen.« Arieh lächelte überlegen. »Die meisten Menschen gehen durch das Leben, ohne jemals einen Löwen zu sehen.«

Der mbbenu von Kashan war ein vierschrötiger Mann mit rotblondem Haar und Bart. Er hieß David ben Sauli der Lehrer, und Lonzano sagte, daß er schon einen Ruf als Gelehrter besitze, obwohl er noch jung sei. Er war der erste rabbenu, den Rob sah, der einen Turban anstelle eines jüdischen Lederhutes trug. Als er sprach, zeigten sich wieder die Sorgenfalten in Lonzanos Gesicht.

»Es ist gefährlich, die Route nach Süden durch die Berge zu nehmen«, warnte sie der rabbenu. »Ein großer Verband von Seldschuken versperrt dort den Weg.« »Wer sind die Seldschuken?« fragte Rob.

»Sie sind ein Hirtenvolk, das statt in Dörfern in Zelten lebt«, antwortete Lonzano. »Mörder und wilde Kämpfer.

Sie fallen in den Gebieten zu beiden Seiten der Grenze zwischen Persien und der Türkei ein.« »Ihr könnt nicht durch die Berge ziehen«, beschied der rabbenu traurig. »Die Krieger der Seldschuken sind wilder als Straßenräuber.« Lonzano sah Rob, Loeb und Arieh an. »Dann bleiben uns nur zwei Möglichkeiten. Wir können hier in Kashan warten, bis die Schwierigkeiten mit den Seldschuken vorbei sind, was viele Monate, vielleicht ein Jahr dauern kann, oder wir können die Berge und die Seldschuken umgehen und durch die Wüste und dann durch die Wälder nach Isfahan gelangen. Ich bin noch nie durch die Wüste Dasht-i-Kavir gezogen, habe aber andere Wüsten durchquert und weiß, wie furchtbar das ist.« Er wandte sich an den rabbenu. »Kann man sie durchqueren?«

»Ihr müßt nicht durch die ganze Dasht-i-Kavir, das verhüte der Himmel«, meinte der rabbenu bedächtig. »Ihr müßt nur einen Teil davon durchqueren, eine Reise von drei Tagen nach Osten und dann nach Süden. Ja, manche wagen es. Wir können euch die Route beschreiben, die ihr reiten sollt.«

Die vier blickten einander an. Schließlich brach Loeb, der nicht gerne viele Worte machte, das bedrückte Schweigen. »Ich will nicht ein Jahr lang hierbleiben«, entschied er und sprach damit den anderen drei aus dem Herzen.

Jeder kaufte einen großen Wassersack aus Ziegenleder und füllte ihn vor der Abreise aus Kashan. Der volle Sack wog schwer. »Brauchen wir soviel Wasser für drei Tage?« fragte Rob.

»Man muss mit unvorhersehbaren Zwischenfällen rechnen, wir werden uns vielleicht länger in der Wüste aufhalten«, gab Lonzano zu bedenken. »Und Ihr müßt Euren Wasservorrat mit Euren Tieren teilen, denn wir durchqueren die Dasht-i-Kavir mit unseren Eseln und Maultieren und nicht mit Kamelen.« Ein Führer aus Kashan begleitete sie auf einem alten Schimmel bis zu

der Stelle, an der ein fast unkenntlicher Pfad von der Straße abzweigte. Die Dasht-i-Kavir-Wüste begann mit einer lehmigen Hügelkette, auf der man leichter vorankam als in den Bergen. Zuerst machten sie gute Fortschritte, und für einige Zeit stieg ihre Laune. Die Beschaffenheit des Bodens änderte sich so unmerklich, daß sie nicht beunruhigt waren, aber zu Mittag, als die Sonne glühend auf sie niederbrannte, kämpften sie sich bereits durch tiefen Sand vorwärts, der so fein war, daß die Hufe der Tiere darin einsanken. Sie stiegen ab, und Männer und Tiere quälten sich gleichermaßen mühsam weiter. Rob erschien es wie ein Traum: Ein Ozean aus Sand erstreckte sich in alle Richtungen, so weit er sehen konnte. Manchmal bildete der Sand Hügel, die wie die großen, von Rob gefürchteten Meereswellen aussahen, dann wieder war er wie das spiegelglatte Wasser eines stillen Sees, das der Westwind nur leicht kräuselte. Rob entdeckte nicht die Spur von Leben, keinen Vogel in der Luft, keinen Käfer oder Wurm auf der Erde, aber am Nachmittag kamen sie an bleichenden Knochen vorbei, die wie der unordentlich aufgeschichtete Haufen Brennholz hinter einer englischen Hütte aussahen, und Lonzano erzählte Rob, daß Nomaden die Überreste von Tieren und Menschen sammelten und hier als Wegmarkierung aufschichteten. Dieser Hinweis auf Menschen, die an so einem Ort daheim waren, wirkte zermürbend, und sie versuchten ihre Tiere ruhig zu halten, denn sie wussten, wie weit das Brüllen eines Esels in der regungslosen Luft zu hören war. Die Dasht-i-Kavir war eine Salzwüste. Mitunter wand sich der Sandpfad, auf dem sie gingen, zwischen Sümpfen aus salzigem Schlamm hindurch, der dem am Ufer des Urmiasees glich. Nachdem sie sechs Stunden so marschiert waren, fühlten sie sich vollkommen erschöpft, und als sie zu einem kleinen Sandhügel kamen, der vor der niedrig stehenden Sonne einen Schatten warf, drängten sich Menschen und Tiere auf dem verhältnismäßig kühlen Platz zusammen. Nach einer Stunde im Schatten waren sie imstande, bis zum Sonnenuntergang weiterzumarschieren.

»Vielleicht sollten wir nur bei Nacht reisen und während der Tageshitze schlafen«, schlug Rob vor.

»Nein«, entgegnete Lonzano rasch. »Als ich jung war, habe ich einmal mit meinem Vater, zwei Onkeln und vier Vettern die Dasht-i-Lut durchquert. Mögen die Toten in Frieden ruhen! Die Dasht-i-Lut ist eine Salzwüste wie diese hier, und wir beschlossen, nur bei Nacht zu reisen, gerieten aber bald in Schwierigkeiten. In der heißen Jahreszeit trocknen die Salzseen und Sümpfe rasch aus, und stellenweise bleiben Krusten an der Oberfläche zurück. Wir mußten erleben, daß Männer und Tiere durch diese Krusten einbrachen.

Manchmal befindet sich darunter Lake oder Treibsand, und es ist viel zu gefährlich, bei Nacht zu reisen.«

Weitere Fragen über dieses Erlebnis in der Dasht-i-Lut wollte Lonza-no nicht beantworten, und Rob drängte ihn nicht, da er spürte, daß man das Thema lieber nicht vertiefen solle.

Bei Einbruch der Dunkelheit saßen oder lagen sie auf dem salzigen Sand. Die Wüste, in der sie bei Tag gebraten hatten, wurde nachts kalt. Es gab kein Brennholz, und sie hätten auch kein Feuer entfacht, um von keinem feindlichen Auge gesehen zu werden. Rob war so müde, daß er trotz seines Unbehagens in einen tiefen Schlaf fiel, der bis zum Morgengrauen dauerte.

Er bemerkte verblüfft, daß das Wasser, das ihm in Kashan als reichlich bemessen erschienen war, in der trockenen Wüste dahinschwand. Er beschränkte sich auf kleine Schlucke, während er sein Frühstücksbrot aß, und gab seinen Tieren viel mehr. Er schüttete ihre Ration in den ledernen Judenhut und hielt ihn, während sie tranken. Anschließend genoß er es, sich den feuchten Hut auf den heißen Kopf zu setzen. Dann rief Loeb plötzlich: »Reiter kommen!«

Weit im Süden gewahrten sie eine Staubwolke, die von einer großen Menschenschar herzurühren schien, und Rob befürchtete, daß es die Wüstensöhne seien, die die Markierung aus Knochen zurückgelassen hatten. Doch als das Gebilde näher kam, erkannten sie, daß es sich nur um eine Wolke handelte.

Als sie der heiße Wüstenwind erreichte, hatten ihm die Esel und Maultiere instinktiv den Rücken zugekehrt. Rob kauerte sich, so gut er konnte, hinter die Tiere, und der Wind fegte über sie hinweg. Seine erste Wirkung war einem Fieberanfall ähnlich. Er führte Sand und Salz mit sich, und die Haut verbrannte wie unter Flocken heißer Asche. Die Luft wurde noch schwerer und drückender, und die Männer und die Tiere warteten geduldig, während sie der Sturm zu einem Teil der Salzwüste machte und sie mit einer zwei Finger dicken Schicht aus Sand und Salz bedeckte.

In dieser Nacht träumte Rob von Mary Cullen. Er saß neben ihr und empfand süße Ruhe. Auf ihrem Gesicht lag ein glücklicher Ausdruck, und er war die Ursache für ihre Erfüllung, was ihn froh machte. Sie begann eine Stickerei, und ohne daß er verstand, wie oder warum, stellte sich heraus, daß sie seine Mutter war. Er wurde von einem Gefühl der Wärme und Sicherheit überflutet, das er seit seinem neunten Lebensjahr nicht mehr erlebt hatte.

Dann erwachte er, hustete und spuckte trocken. Sein Mund und seine Ohren waren voll Sand und Salz, und als er sich erhob, um ein paar Schritte zu machen, scheuerten ihn Sand und Salz zwischen den Hinterbacken.

Es war der dritte Morgen. Rabbenu David ben Sauli hatte Lonzano angewiesen, zwei Tage nach Osten und dann einen Tag nach Süden zu ziehen. Sie hatten sich in die Richtung bewegt, die Lonzano für Osten hielt, und nun schwenkten sie in die Richtung ein, die Lonzano für Süden hielt.

Rob war nie imstande gewesen, Osten von Süden oder Norden von Westen zu unterscheiden. Er fragte sich, was aus ihnen werden würde, wenn Lonzano nicht wirklich wußte, wo Süden oder Osten war, oder wenn die Angaben des rabbenu von Kashan nicht stimmten. Das Stück der Dasht-i-Kavir, das sie durchquerten, war wie eine kleine Bucht in einem großen Ozean. Der Hauptteil der Wüste war unermeßlich und für sie nicht zugänglich. Wenn sie aber geradewegs ins Zentrum der Dasht-i-Kavir unterwegs waren, statt die Bucht zu durchqueren? Wenn das der Fall war, waren sie verloren.

Rob fragte sich, ob der Gott der Juden sein Leben forderte, weil er sich verkleidet hatte. Aber Arieh war, wenngleich kaum liebenswürdig, kein schlechter Mensch, und Lonzano und Loeb waren höchst achtbare Männer. Es war nicht wahrscheinlich, daß ihr Gott sie vernichten würde, um einen gojischen Sünder zu bestrafen. Doch war er nicht der einzige, der verzweifelte. Lonzano spürte die Stimmung seiner Reisegefährten und versuchte, sie zum Singen anzuregen. Aber Lonzano blieb der einzige, dessen Stimme sich erhob, und schließlich verstummte auch er.

Rob goß den kümmerlichen Rest Wasser aus dem Sack für seine Tiere in den Hut und ließ sie trinken. In seiner Lederflasche befanden sich noch ungefähr sechs Schluck Wasser.

Wenn sie sich dem Ende der Dasht-i-Kavir näherten, spielte das keine Rolle, wenn sie aber in die falsche Richtung gingen, reichte diese geringe Wassermenge nicht aus, um am Leben zu bleiben. Also trank er sie. Er zwang sich, das Wasser in kleinen Schlucken zu sich zu nehmen, aber es war rasch getrunken.

Sobald der Vorrat verbraucht war, wurde Robs Durst ärger denn je. Das Wasser schien ihn innerlich zu verbrühen, und darauf folgten schreckliche Kopfschmerzen. Er zwang sich, weiterzugehen, doch seine Schritte wurden unsicher. Ich kann nicht mehr, erkannte er entsetzt.

Lonzano begann heftig in die Hände zu klatschen. »Ai, di-di-di-di-di-di-di, ai, di-di-di-di-di!« sang er, begann zu tanzen, schüttelte den Kopf, drehte sich und hob die Arme und Knie im Rhythmus der Melodie.

In Loebs Augen glänzten Zornestränen. »Hör auf, du Narr!« schrie er. Doch im nächsten Augenblick zog er eine Grimasse und begann ebenfalls zu singen und zu klatschen und sprang hinter Lonzano herum.

Dann folgte auch Rob, und schließlich sogar der mißmutige Arieh. »Ai, di-di-di-di-di-di, ai, di-di-di-di!«

Sie sangen mit trockenen Lippen und tanzten, obwohl sie in den Füßen kein Gefühl mehr verspürten. Schließlich verstummten sie und hörten mit dem verrückten Tanzen auf, aber sie gingen nun mühsam weiter, setzten einen gefühllosen Fuß vor den anderen und wagten nicht, der Möglichkeit ins Auge zu sehen, daß sie sich tatsächlich verirrt hatten.

Am frühen Nachmittag hörten sie Donner. Er grollte lange Zeit in der Ferne, bevor ein paar Regentropfen fielen.

Kurz darauf sahen sie eine Gazelle und dann ein paar Wildesel.

Ihre Tiere wurden plötzlich schneller. Sie bewegten ihre Beine rascher und begannen aus eigenem Antrieb zu traben, da sie spürten, was vor ihnen lag. Die Männer bestiegen die Esel und ritten wieder, während sie den letzten Sandstreifen verließen, nachdem sie sich drei Tage lang durch die Wüste gequält hatten.

Das Land weitete sich zur Ebene, die zuerst mit nur spärlichem Pflanzenbewuchs und dann immer dichter mit Grün bedeckt war.

Vor Sonnenuntergang kamen sie zu einem schilfbestandenen Tümpel, über dem Schwalben herabstießen und ihre Kreise zogen. Arieh kostete das Wasser und nickte. »Es ist gut.«

»Wir dürfen die Tiere nicht zuviel auf einmal trinken lassen, sonst werden sie lahmen«, warnte Loeb.

Sie tränkten die Tiere mit Vorsicht und banden sie an Bäume, dann tranken sie selbst, rissen sich die Kleider vom Leib und legten sich ins Wasser, um sich im Schilf durchtränken zu lassen.

»Habt Ihr in der Dasht-i-Lut Leute verloren?« fragte Rob.

»Wir haben meinen Vetter Calman verloren«, sagte Lonzano. »Er war damals zweiundzwanzig Jahre alt.«

»Ist er durch eine Salzkruste gebrochen?«

»Nein. Er hat die Beherrschung verloren und sein Wasser auf einmal ausgetrunken. Dann ist er verdurstet.«

»Möge er in Frieden ruhen«, sagte Loeb.

»Wie sehen die Symptome aus, wenn ein Mensch verdurstet?«

Lonzano war sichtlich ungehalten. »Ich will nicht mehr daran denken.«

»Ich frage, weil ich Arzt werden will, nicht aus Neugier«, erklärte Rob, und Arieh starrte ihn voll Widerwillen an. Lonzano überlegte kurz, dann nickte er. »Mein Vetter Calman war von der Hitze verwirrt und trank hemmungslos, bis nichts mehr von seinem Wasser übrig war. Wir hatten uns verirrt, und jeder teilte sich sein Wasser selbst ein. Wir durften nicht teilen. Nach einer Weile begann er zu erbrechen, aber es kam keine Flüssigkeit. Seine Zunge wurde ganz schwarz, und sein Gaumen war weißlichgrau. Seine Gedanken verwirrten sich, und er glaubte, er sei im Haus seiner Mutter. Seine Lippen waren eingeschrumpft, man sah seine Zähne, und sein Mund stand offen wie bei einem Tier. Er keuchte und schnarchte abwechselnd. In dieser Nacht setzte ich mich im Schutz der Dunkelheit über die Abmachung hinweg, goß ein wenig Wasser auf einen Lappen und drückte ihn über seinem Mund aus. Aber es war zu spät. Nach dem zweiten Tag ohne Wasser starb er.« Sie lagen schweigend in dem braunen Wasser.

»Ai, di-di-di-di-di-di, ai, di-di-di-di!« sang Rob schließlich. Er blickte Lonzano in die Augen, und sie grinsten einander vielsagend an. Auf Loebs ledrige Wange setzte sich ein Moskito, und er schlug sich ins Gesicht. »Jetzt können die Tiere mehr Wasser vertragen«, meinte er. Sie verließen den Tümpel und kümmerten sich wieder um ihre Tiere.

Am nächsten Tag saßen sie bei Sonnenaufgang auf ihren Eseln, und zu Robs großer Freude kamen sie bald an zahlreichen kleinen Seen vorbei, die von Wiesen umgeben waren. Die Seen heiterten ihn auf. Das Gras reichte einem bis ans Knie und duftete köstlich. Es war voller Heuschrecken und Grillen, aber auch voller kleiner Mücken, deren Stiche brannten und sofort juckende Schwellungen hinterließen. Ein paar Tage zuvor hätte er sich gefreut, überhaupt ein Insekt zu sehen, doch jetzt schenkte er nicht einmal den großen, herrlichen Schmetterlingen auf den Wiesen einen Blick, während er auf die Quälgeister schlug und alle Mücken und Moskitos verfluchte. »O Gott, was ist das?« rief Arieh.

Rob folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger und erblickte im vollen Sonnenlicht eine riesige Wolke, die sich im Osten erhob. Er beobachtete mit zunehmender Besorgnis, daß sie näher kam, denn sie sah wie jene Staubwolke aus, die über sie gekommen war, als der heiße Wind sie in der Wüste überraschte.

Doch aus dieser Wolke drang deutlich das Geräusch von Hufen, als würde eine große Armee auf sie zusprengen.

»Die Seldschuken?« flüsterte Rob, doch niemand antwortete ihm. Blaß und angstvoll warteten sie, während die Wolke näher kam und der Lärm ohrenbetäubend wurde.

In einer Entfernung von etwa fünfzig Schritten klapperten die Hufe, als hätten tausend geübte Reiter auf einen Befehl hin gleichzeitig angehalten.

Zuerst konnten sie nichts erkennen. Dann legte sich der Staub, und sie erblickten zahllose Wildesel, die sich in bestem Zustand befanden und eine präzise Ordnung einhielten. Die Esel starrten die Männer aufmerksam und neugierig an, und die Männer starrten zurück. »Hai!« schrie Lonzano, und schon machte die gesamte Herde kehrt und zog weiter, diesmal nach Norden.

Sie kamen auch an kleineren Eselherden und riesigen Rudeln von Gazellen vorbei, die manchmal gemeinsam grasten und offensichtlich selten gejagt wurden, weil sie den Menschen wenig Beachtung schenkten.

Bedrohlicher wirkten die Wildschweine, die es im Überfluß gab.

Gelegentlich erblickte Rob eine behaarte Bache oder einen Eber mit gefährlichen Hauern, und er hone von allen Seiten die Tiere grunzen, während sie im hohen Gras raschelten und wühlten. Nun sangen sie alle, wenn Lonzano es vorschlug, um die Schweine auf sich aufmerksam zu machen, so daß sie nicht erschreckt wurden und angriffen. Rob bekam eine Gänsehaut; seine langen Beine, die an den Flanken des kleinen Esels herabhingen und am tiefen Gras streiften, erschienen ihm ungeschützt und verwundbar. Aber die Schweine trollten sich vor den lauten Männerstimmen und bereiteten ihnen keine Schwierigkeiten.

Sie kamen an einen rasch strömenden Fluß, der einem tiefen Graben glich und dessen Ufer fast senkrecht anstiegen und von Fenchel überwuchert waren. Obwohl die vier stromauf- und abwärts zogen, fanden sie keine Stelle, wo sie ihn mühelos überqueren konnten. Schließlich trieben sie ihre Tiere emiach ms Wasser. Es wurde sehr schwierig für die Esel und Maultiere, auf dem gegenüberliegenden, überwachsenen Ufer hinaufzuklettern und dabei nicht abzurutschen. Die Luft war von Flüchen und dem scharfen Geruch des zertretenen Fenchels erfüllt, und es dauerte einige Zeit, bis sie alle am anderen Ufer waren. Jenseits des Flusses kamen sie in einen Wald. Sie folgten einem Pfad, wie ihn Rob von zu Hause kannte. Das Land war wilder als die englischen Wälder; das hohe Dach der ineinander verflochtenen Baumkronen hielt die Sonne ab, doch das Unterholz wucherte üppig, und es wimmelte von Tieren. Rob erkannte Rehe, Kaninchen und Stachelschweine, und in den Bäumen nisteten Tauben und kleine Vögel, die er für eine Art Rebhühner hielt. So ein Weg wäre so recht nach des Baders Geschmack gewesen, und Rob fragte sich, was die Juden gesagt hätten, wenn er sein Sachsenhorn geblasen hätte.

Nach einer Wegbiegung, als Rob die Führung übernommen hatte, scheute sein Esel. Auf einem großen Ast über ihnen duckte sich ein Panther.

Der Esel wich zurück, und das Maultier hinter ihnen nahm den Raubtiergeruch wahr und schrie. Vielleicht spürte der Panther die überwältigende Angst. Noch während Rob nach seiner Waffe griff, sprang ihn das Tier, das ihm ungeheuer groß erschien, an. Da drang ein langer, schwerer, mit gewaltiger Kraft abgeschossener Pfeil dem Tier ins rechte Auge. Die großen Klauen rissen den armen Esel auf, als die Katze auf Rob stürzte und ihn dabei aus dem Sattel warf. Im nächsten Augenblick lag er auf dem Boden und glaubte, an dem Moschusgeruch der Katze zu ersticken. Das Tier lag quer über ihm, so daß er das Hinterteil vor sich hatte, das glänzend schwarze Fell sah, den verfilzten After und die große rechte Hintenatze, die sich wenige Zentimeter vor seinem Gesicht befand und beinahe obszön große, geschwollen wirkende Ballen hatte. Die Kralle der zweiten der vier Zehen war erst kürzlich abgerissen worden. Die Wunde war offen, blutete und machte Rob klar, daß sich am Kopf dieser Katze Augen befanden und keine getrockneten Aprikosen und eine Zunge, die nicht aus rotem Filz bestand.

Aus dem Wald kamen Leute. In der Nähe stand ihr Anführer, der noch seinen Langbogen m der Hand hielt. Er trug eine einfache rote, mit Baumwolle gefütterte Kattunjacke, eine Hose aus grobem Stoff, Schuhe aus Eselshaut und einen nachlässig gewickelten Turban. Er war etwa vierzig Jahre alt, kräftig gebaut, hielt sich gerade, hatte einen kurzen, dunklen Bart, eine Adlernase, und in seinen Augen blitzte noch die Jagdleidenschaft, während er zusah, wie seine Diener den toten Panther von dem hochgewachsenen jungen Mann herunterzogen.

Rob kam zitternd auf die Beine und zwang seine Gedärme unter Kontrolle. »Fangt den verdammten Esel ein«, verlangte er von niemand Bestimmten. Weder die Juden noch die Perser verstanden ihn, denn er hatte in der Aufregung Englisch gesprochen. Der Esel kehrte ohnedies infolge des fremdartigen Waldes um, in dem vielleicht noch andere Gefahren lauerten, und trottete, wie sein Besitzer, zitternd zurück, Lonzano trat neben Rob und brummte etwas, als er den Fremden erkannte. Dann knieten alle in der Demutsstellung, die von Rob später als ravi zemin, »Gesicht auf dem Boden«, beschrieben wurde, nieder, und Lonzano zog Rob unsanft mit sich und legte ihm die Hand auf den Nacken, um sich zu vergewissern, daß sein Kopf tief gesenkt war.

Diese Vorkehrung fiel dem Jäger auf; Rob hörte seine Schritte, dann sah er die Schuhe aus Eselshaut, die wenige Zoll vor seinem gesenkten Kopf anhielten.

»Ein großer, toter Panther und ein großer, unwissender Dhimmi«, sagte eine belustigte Stimme, und die Schuhe entfernten sich.

Der Jäger und die Diener, die die Beute trugen, gingen ohne ein weiteres Wort davon. Nach einiger Zeit erhoben sich die knienden Männer.

»Seid Ihr unverletzt?« fragte Lonzano.

»Ja, ja.« Robs Kaftan war zwar zerrissen, aber er war heil geblieben.

»Wer war das?«

»Das war Alä-al-Dawla, Shahansha. Der König der Könige.«

Rob starrte auf die Straße, auf der die Männer sich entfernt hatten.

»Was ist ein Dhimmi?«

»Es bedeutet >ein Mann des Buches<; so nennen sie die Juden hier«, erklärte Lonzano.

Reb Jesses Stadt

Rob und die drei Juden trennten sich zwei Tage später in Kupajeh, einem aus einem Dutzend verfallener Ziegelhäuser bestehenden Dorf an einer Straßenkreuzung. Der Umweg durch die Dasht-i-Kavir hatte sie etwas zu weit nach Osten geführt, aber Rob befand sich nicht einmal eine Tagesreise westlich von Isfahan, während die Juden noch drei anstrengende Wochen nach Süden reisen und die Straße von Hormus überqueren mußten, ehe sie zu Hause waren. Rob war klar, daß er ohne diese Männer und die jüdischen Dorfbewohner, die ihnen Asyl gewährt hatten, Persien niemals erreicht hätte. Er und Loeb umarmten einander. »Geh mit Gott, Reb Jesse ben Benjamin!«

»Geh mit Gott, mein Freund!«

Selbst der griesgrämige Arieh quälte sich ein schiefes Lächeln ab, als sie einander gute Reise wünschten; zweifellos sagte er Rob ebenso gern Lebewohl wie dieser ihm.

»Wenn Ihr die Ärzteschule besucht, müßt Ihr Ariehs Verwandten, Reb Mirdin Askari, unsere Grüße ausrichten«, trug ihm Lonzano auf. »Gern.« Rob ergriff Lonzanos Hände. »Ich danke Euch, Reb Lonzano ben Ezra!«

Lonzano lächelte. »Für einen Mann, der beinahe ein Andersgläubiger ist, wart Ihr ein angenehmer Reisegefährte und ein trefflicher Mann. Geht in Frieden, Inghiliz!« »Geht auch Ihr in Frieden!«

Mit vielen guten Wünschen gingen sie in verschiedene Richtungen auseinander. Rob ritt auf dem Maultier, denn nach dem Angriff des Panthers hatte er sein Bündel auf den Rücken des armen, verängstigten Esels geladen und führte nun das Tier am Zaum. Er kam mit dieser neuen Regelung zwar langsamer voran, aber die Erregung in ihm wuchs, und er wollte die letzte Etappe bewußt reisen, um sie gebührend zu genießen.

Es war gut, daß er es nicht eilig hatte, denn die Straße war verkehrsreich. Er hörte wieder jenes Geräusch, das ihm so gut gefiel, und bald überholte ihn eine Karawane von Kamelen mit Glocken; jedes der Tiere trug zwei große Reiskörbe. Er hielt sich hinter dem letzten Kamel und erfreute sich am melodischen Geklingel der Glocken. Am späten Nachmittag erklomm das Maultier die Kuppe eines Hügels. Rob schaute auf ein kleines Flußtal hinunter und erblickte -zwanzig Monate, nachdem er London verlassen hatte - Isfahan. Sein erster, vorherrschender Eindruck war blendende Weiße mit tiefblauen Schatten. Es war eine blühende Stadt voller Halbkugeln und Kurven, mit großen, gewölbten Gebäuden, die im Sonnenlicht glitzerten, mit Moscheen und Minaretten, die wie hochragende Lanzen aussahen, mit weiten Grünflächen und ausladenden Zypressen und Platanen. Der südliche Teil der Stadt aber leuchtete in warmem Rosa, weil hier die Sonnenstrahlen von Sandhügeln statt von Kalkstein reflektiert wurden.

Nun konnte er sich nicht zurückhalten. »Hai!« schrie er und stieß dem Maultier die Absätze in die Flanken. Der Esel trottete hinterher, als sie aus der Reihe scherten und die Kamele in raschem Trab überholten.

Eine Viertelmeile vor der Stadt verwandelte sich die Straße in eine großartige Allee mit Kopfsteinpflaster - die erste gepflasterte Straße, die er seit Konstantinopel sah. Sie war sehr breit und hatte vier voneinander durch hohe Platanen getrennte Fahrbahnen. Die Allee überquerte den Fluß auf einer Brücke, die in Wirklichkeit ein bogenförmiger Damm war. In der Nähe einer Inschrift, die den Wasserlauf als Zajandeh, den Fluß des Lebens, bezeichnete, spritzten und schwammen braunhäutige Jungen.

Die Allee brachte ihn zur großen, steinernen Stadtmauer und zu einem einzigartigen überwölbten Tor. Hinter der Mauer erhoben sich die großen Häuser der Reichen mit Terrassen, Obstgärten und Weinbergen. Überall sah man Hufeisenbogen: überwölbte Torwege, Bogenfenster, bogenförmige Gartentore. Jenseits des vornehmen Viertels ragten Moscheen und größere Gebäude auf mit weißen runden Kuppeln, die kleine Spitzen hatten, als hätten sich ihre Architekten unsterblich in die weibliche Brust verliebt. Alles war aus weißem Stein, der mit dunkelblauen Fliesen eingefaßt war, die geometrische Muster oder Zitate aus dem Koran bildeten: Es gibt keinen Gott außer Ihm, dem Barmherzigen.

Kämpft für die Religion Gottes! Wehe denen, die ihr Gebet vernachlässigen.

Die Straßen waren voller Männer mit Turbanen, aber man sah keine Frauen. Rob kam an einem riesigen freien Platz vorbei und dann, vielleicht eine Meile weiter, an einem weiteren. Die Geräusche und die Gerüche berührten ihn angenehm. Es war unverkennbar ein munici-pium, eine große menschliche Gemeinschaft, wie er sie als Junge in London erlebt hatte, und aus irgendeinem Grund kam es ihm völlig richtig und logisch vor, daß er langsam durch die Stadt am Nordufer des Flusses des Lebens ritt.

Von den Minaretten begannen nun Männerstimmen, manche von fern, andere nah und deutlich, die Gläubigen zum Gebet zu rufen. Der gesamte Verkehr stockte, während die Männer sich nach Südwesten, offenbar die Richtung nach Mekka, wandten. Alle Männer in der Stadt waren auf die Knie gefallen, strichen mit ihren Handflächen über den Boden und beugten sich so tief, daß ihre Stirnen das Pflaster berührten. Rob hielt das Maultier an und stieg ab.

Als die Gebete vorbei waren, trat er zu einem Mann mittleren Alters, der rasch einen kleinen Gebetsteppich zusammenrollte, den er von seinem Ochsenkarren genommen hatte. Rob fragte, wie er das Judenviertel finden könne. »Ah, es heißt Jehuddijeh. Ihr müßt dieser Allee folgen, bis Ihr den Judenmarkt erreicht. Am anderen Ende des Marktes befindet sich ein Torgewölbe, und dahinter findet Ihr das Judenviertel. Ihr könnt es nicht verfehlen, Dhimmi.«

Der Platz war von Verkaufsständen umgeben, die Möbel, Lampen und Öl, nach Honig und Gewürzen duftendes Brot, Backwerk, Kleidung, alle Arten von Geräten, Gemüse und Obst, Fleisch, Fische, gerupfte oder noch lebende und gackernde Hühner verkauften - alles, was für das physische Leben erforderlich war. Er sah Gebetsschals, Kleidungsstücke mit Fransen, Gebetsriemen. Im Stand eines Briefstellers beugte sich ein alter Mann mit faltigem Gesicht über ein Tintenfaß und Federn, und in einem offenen Zelt wahrsagte eine Frau. Rob wußte, daß er im Juden viertel war, denn hier gab es Frauen, die an den Ständen verkauften und auf dem überfüllten Markt mit Körben am Arm einkauften. Sie trugen lose, schwarze Kleider, und ihr Haar war mit Tüchern bedeckt. Einige trugen einen Gesichtsschleier wie mohammedanische Frauen, aber die meisten waren unverschleiert. Die Männer waren so gekleidet wie Rob und trugen volle, buschige Barte. Er ging langsam weiter und genoß den Anblick und all die Geräusche. So kam er auch an zwei Männern vorbei, die wie erbitterte Feinde über den Preis eines Paars Schuhe feilschten. Andere riefen einander scherzhaft etwas zu. Man mußte hier laut sprechen, um sich Gehör zu verschaffen.

Auf der anderen Seite des Marktes durchschritt er das ihm beschriebene Torgewölbe und wanderte enge, schmale Gassen hinunter. Dann kam er auf einen gewundenen, abschüssigen Weg, der zu einem Areal mit elenden, unordentlichen Häusern führte. Viele dieser Gebäude waren miteinander verbunden, doch da und dort stand ein Haus einzeln in einem kleinen Garten. Obwohl letztere nach englischen Maßstäben bescheiden aussahen, hoben sie sich von den anderen Bauten ab, als seien sie Schlösser.

Isfahan war alt, aber die Jehuddijeh schien noch viel älter zu sein. Die Häuser und Synagogen waren aus Stein oder aus alten Ziegeln, die zu einem blassen Rosa gebleicht waren. Kinder führten eine Ziege an ihm vorbei. Die Leute standen in Gruppen beisammen, lachten und plauderten. Bald war Zeit für das Abendessen, und die Küchengerüche aus den Häusern ließen ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er schlenderte durch das Viertel, bis er einen Stall fand, in dem er die

Tiere einstellen konnte. Bevor er seine Begleiter verließ, reinigte er noch die Kratzspuren an der Flanke des Esels, die gut verheilten. Nicht weit vom Stall fand er einen Gasthof, der von einem hochgewachsenen alten Mann geführt wurde, der freundlich lächelte, einen schiefen Rücken hatte und Salman der Kleinere hieß.

»Warum der Kleinere?« fragte Rob.

»In meinem Geburtsort hieß mein Onkel Salman der Große. Er war ein berühmter Gelehrter«, klärte ihn der Alte auf. Rob mietete sich einen Strohsack in einer Ecke des großen Schlafsaals.

»Wünscht Ihr auch zu essen?«

Kleine, auf Spießen gebratene Fleischstücke, fetter Reis, den Salman pilaw nannte, und kleine, vom Feuer gebräunte Zwiebeln lockten Rob sehr.

»Ist es koscher?« fragte er vorsichtshalber. »Natürlich ist es koscher. Ihr könnt es bedenkenlos essen.« Nach dem Fleisch trug Salman in Honig getränkten Kuchen und ein angenehmes Getränk auf, das er Scherbett nannte. »Ihr kommt von weit her?« fragte er. »Aus Europa.« »Aus Europa. Ah.« »Wie kommt Ihr darauf?«

Der alte Mann grinste. »Nach der Art, wie Ihr unsere Sprache sprecht.« Er sah Robs Gesichtsausdruck. »Ihr werdet sie bestimmt besser sprechen lernen. Wie ist es, in Europa ein Jude zu sein?« Rob wußte nicht, was er darauf antworten sollte, dann dachte er an den Ausspruch Zevis. »Es ist oft schwer, ein Jude zu sein.« Salman nickte ernst.

»Und wie ist es, in Isfahan ein Jude zu sein?«

»Oh, hier ist es nicht übel. Die Menschen werden zwar im Qu'ran angewiesen, uns zu schmähen, und deshalb beschimpfen sie uns, aber sie sind an uns gewöhnt und wir an sie. Es hat in Isfahan schon immer Juden gegeben.

Die Stadt wurde von Nebukadnezar gegründet, der die Juden, so sagt die Legende, hier ansiedelte, nachdem er sie gefangengenommen hatte, als er Judäa eroberte und Jerusalem zerstörte. Dann verliebte sich neunhundert Jahre später ein Schah namens Jas-degerd in eine Jüdin, die hier lebte. Sie hieß Shusha-Dukht, und er machte sie zu seiner Königin. Dank ihrer Hilfe verbesserte sich die Lage ihres Volkes, und es siedelten sich immer mehr Juden an.« Rob sagte sich, er hätte keine bessere Identität wählen können. Hier konnte er untertauchen wie eine Ameise in einem Ameisenhaufen, sobald er die hiesige Lebensweise gelernt hatte.

So begleitete er also nach dem Abendessen den Wirt zum Haus des Friedens, wie eine der Dutzend Synagogen hieß. Es war ein quadratisches Gebäude aus alten Steinen, dessen Sprünge mit weichem, braunem Moos ausgestopft waren, obwohl es nicht feucht war. Die Synagoge besaß nur schmale Sehschlitze statt Fenster und eine so niedrige Tür, daß Rob sich bücken mußte, um hindurchzuschlüpfen. Ein dunkler Gang führte ins Innere, wo er im Lampenlicht Säulen erkannte, die einen Dachstuhl trugen, der zu hoch und dunkel war, als daß man ihn ausmachen konnte. Im Hauptraum saßen die Männer, während die Frauen hinter einer Mauer in einem kleinen Alkoven an der Seite des Gebäudes ihre Andacht verrichteten. Rob fand es leichter, die ma'ariiv-Anbetung in der Synagoge zu verrichten als in Gesellschaft nur weniger Juden. Hier gab es einen Vorbeter und eine ganze Gemeinde, die murmelte oder sang, also schloß er sich dem allgemeinen Vor- und Zurückbeugen an, ohne Hemmungen wegen seiner mangelhaften Hebräischkenntnisse und der Tatsache zu haben, daß er bei den Gebeten oft nicht mithalten konnte.

Auf dem Rückweg zum Gasthof lächelte ihn Salman pfiffig an. »Vielleicht wollt Ihr, da Ihr ein junger Mann seid, ein wenig Unterhaltung, wie? Abends erwachen hier die maidans, das sind die Plätze im mohammedanischen Teil der Stadt, zum Leben. Dort gibt es Frauen und Wein, Musik und Unterhaltungen, wie Ihr es Euch kaum vorstellen könnt, Reb Jesse.«

Doch Rob schüttelte den Kopf. »Vielleicht ein andermal«, erwiderte er, »aber heute will ich einen klaren Kopf bewahren, denn morgen habe ich eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit zu erledigen.«

In dieser Nacht schlief er nicht, sondern er warf und wälzte sich unruhig hin und her und hätte nur allzu gern gewußt, ob Ibn Sina ein zugänglicher Mann war.

Am Morgen suchte er das öffentliche Bad auf, einen Ziegelbau, der über einer natürlichen warmen Quelle errichtet war. Mit kräftiger Seife

und sauberen Tüchern schrubbte er den angesammelten Reiseschmutz herunter, und als sein Haar trocken war, nahm er ein chirurgisches Messer und stutzte seinen Bart, wobei er sich in seinem polierten Stahlwürfel betrachtete. Der Bart hatte nun die nötige Fülle, und er fand, daß er wie ein echter Jude aussah.

Er trug den besseren von seinen beiden Kaftanen und setzte seinen Lederhut auf. Auf der Straße ersuchte er einen Mann mit verkrüppelten Gliedmaßen, ihm den Weg zu der Ärzteschule zu zeigen. »Ihr meint die madrassa, den Ort des Lernens. Sie steht neben dem Krankenhaus«, gab der Bettler Auskunft, »an der Straße Alis bei der Freitagsmoschee in der Mitte der Stadt.« Als Gegenleistung für eine Münze segnete der Krüppel Robs Kinder bis ins zehnte Glied. Es war ein langer Weg. Rob erkannte, daß Isfahan eine geschäftige Stadt war, in der überall Männer ihr Handwerk ausübten: Schuhmacher und Schmiede, Töpfer und Stellmacher, Glasbläser und Schneider. Er kam an mehreren Basaren vorbei, in denen Waren aller Art verkauft wurden. Schließlich erreichte er die Freitagsmoschee, ein massives, quaderförmiges Gebäude mit einem herrlichen Minarett, um das Vögel flatterten. Hinter der Moschee lag ein Marktplatz, auf dem es hauptsächlich Bücherstände und kleine Speiselokale gab, und dann sah er die madrassa.

Am äußeren Rand des Schulgeländes befanden sich zwischen weiteren Bücherständen, die den Bedarf der Studenten deckten, langgestreckte, niedrige Gebäude mit Unterkünften. Hier spielten viele Kinder. Überall sah er junge Männer, von denen die meisten grüne Turbane trugen. Die Gebäude der madrassa bestanden nach der Art der meisten Moscheen aus weißen Kalksteinblöcken. Sie waren weitläufig angelegt, und zwischen ihnen gediehen Gärten. Unter einem Kastanienbaum mit noch geschlossenen, stacheligen Früchten saßen sechs junge Männer im Schneidersitz und hörten einem weißbärtigen Mann, der einen himmelblauen Turban trug, aufmerksam zu. Rob näherte sich ihnen. »...Syllogistik des Aristoteles«, dozierte der Vortragende gerade. »Eine Behauptung gilt als logisch richtig, wenn zwei ihrer Prämissen richtig sind. Zum Beispiel aus der Tatsache, daß erstens alle Menschen sterblich sind, und zweitens, daß Sokrates ein Mensch ist, kann logisch geschlossen werden, daß drittens Sokrates sterblich ist.«

Rob verzog das Gesicht und ging nachdenklich weiter; es gab vieles, das er nicht wußte, zu vieles, das er nicht verstand. Er blieb vor einem uralten Gebäude stehen, an das eine Moschee mit einem schlanken Minarett angebaut war, und er fragte einen Studenten mit grünem Turban, in welchem Gebäude Medizin gelehrt werde.

»Im dritten Gebäude. In dem hier unterrichten sie Theologie, im nächsten islamisches Recht, dort Medizin.« Er deutete auf ein kuppelgekröntes Gebäude aus weißem Stein. Es ähnelte der in Isfahan vorherrschenden Architektur so vollständig, daß Rob es von nun an im Geist als die Große Titte bezeichnete. Daneben befand sich ein mächtiges einstöckiges Gebäude, das eine Inschrift als den maristan, den Ort für Kranke, bezeichnete.

Interessiert schritt er, statt die maärassa zu betreten, die drei Marmorstufen des maristan hinauf, um durch das schmiedeeiserne Tor zu gelangen.

Das Haus der Kranken hatte einen Innenhof mit einem Becken, in dem farbige Fische schwammen; unter Obstbäumen standen Bänke. Von dem Hof gingen wie Sonnenstrahlen Korridore aus, entlang denen sich große Räume befanden. Die meisten waren belegt. Rob hatte noch nie so viele Kranke und Verletzte an einem Ort gesehen, und er ging verwundert umher.

Die Patienten waren nach ihren Leiden zusammengefaßt: Ein langgestreckter Raum war voller Männer, die gebrochene Gliedmaßen hatten; hier Opfer von Fiebern; dort - er rümpfte die Nase, es war offensichtlich der Raum für Patienten mit Durchfall und anderen Krankheiten der Ausscheidungsorgane. Doch nicht einmal in diesem Raum war die Atmosphäre so bedrückend, wie man eigentlich hätte annehmen müssen, denn überall gab es große Fenster, bei denen der Luftzug nur durch leichte Stoffe behindert wurde, die gespannt worden waren, um die Insekten fernzuhalten. Rob bemerkte am oberen und unteren Ende der Fensterrahmen Rinnen, in die im Winter Fensterläden geschoben werden konnten.

Die Wände waren weiß getüncht, die Fußböden aus Stein und somit leicht zu reinigen; im ganzen Gebäude war es im Vergleich zu der beträchtlichen Hitze, die draußen herrschte, angenehm kühl. In jedem Raum plätscherte ein kleiner Springbrunnen.

Rob blieb vor einer geschlossenen Tür stehen, weil ihm das Schild auffiel, das daran hing: äar-al-maraftan, Aufenthaltsort für jene, die

gefesselt werden müssen. Als er die Tür öffnete, erblickte er drei nackte Männer mit rasierten Köpfen und gefesselten Armen, die mit um den Hals gelegten Eisenringen an ein hohes Fenster gekettet waren. Zwei waren schlafend oder bewußtlos zusammengesunken, doch der dritte starrte vor sich hin und begann zu heulen wie ein Tier, während Tränen über seine schlaffen Wangen liefen. »Es tut mir leid«, sagte Rob ruhig und verließ die Verrückten. Er kam zu einer Halle mit operierten Patienten und wäre gern an jedem Bett stehengeblieben, um die Verbände abzunehmen und die Stümpfe und die Wunden zu untersuchen.

Die Vorstellung, jeden Tag so viele interessante Patienten untersuchen zu können und von großen Gelehrten unterrichtet zu werden - das war, als verbrächte man seine Jugend in der Dasht-i-Kavir und entdeckte dann, daß einem eine Oase gehörte.

Das Schild am Eingang zur nächsten Halle überforderte seine beschränkten Persischkenntnisse, doch als er eintrat, erkannte er rasch, daß dieser Raum für die Krankheiten und Verletzungen der Augen reserviert war. In der Nähe stand ein kräftiger Krankenpfleger zitternd vor einem scheltenden Mann. »Es war ein Irrtum, Meister Karim Harun«, beteuerte der Pfleger. »Ich dachte, Ihr hättet mir aufgetragen, Eswed Omars Verbände abzunehmen.«

»Du Eselsschwanz«, schimpfte der andere angewidert. Er war jung und athletisch schlank, und Rob sah zu seiner Überraschung, daß er den grünen Turban eines Studenten trug, obwohl sein Benehmen so selbstbewußt war wie das eines Arztes, dem das Krankenhaus gehörte, in dem er arbeitet. Er wirkte wie ein gutaussehender Edelmann und war der schönste Mann, den Rob je zu Gesicht bekommen hatte, keine Spur feminin, mit glänzendem schwarzem Haar und tiefliegenden braunen Augen, die jetzt vor Zorn blitzten. »Es war dein Fehler, Rumi. Ich habe dir aufgetragen, die Verbände von Kuru Jesidi zu wechseln, nicht die von Eswed Omar. Ustad Juzjani hat Eswed Omar persönlich den Star gestochen und mir befohlen, dafür zu sorgen, daß seine Verbände fünf Tage lang nicht angerührt werden. Ich habe den Befehl an dich weitergegeben, und du hast ihn nicht befolgt, du Scheißkerl. Wenn nun Eswed Omar nicht vollkommen klar sehen wird, und wenn al-Juzjanis Zorn auf mich fällt, werde ich dir deinen fetten Arsch aufschneiden wie einen Lammbraten.«

Er bemerkte Rob, der wie angewurzelt neben ihm stand, und runzelte die Stirn. »Was wollt Ihr?«

»Mit Ibn Sina darüber sprechen, wie ich in die Ärzteschule kommen kann.«

»Ihr seid schon drin. Erwartet Euch der Arzt aller Ärzte?« »Nein.«

»Dann müßt Ihr ins erste Stockwerk des nächsten Gebäudes gehen und Hadschi Davout Hosein aufsuchen, den stellvertretenden Leiter der Schule. Der Leiter ist Rotun ben Nasr, ein entfernter Vetter des Schahs und General der Armee, dem es um die Ehre geht und der nie die Schule betritt. Hadschi Davout Hosein leitet sie, an ihn müßt Ihr Euch wenden.« Dann wandte sich der Student Karim Harun wieder verärgert an den Pfleger: »Glaubst du jetzt, du grüne Scheiße auf einem Kamelhuf, daß du Kuru Jesidis Verbände wechseln kannst?«

Zumindest einige Medizinstudenten wohnten in der Großen Titte, denn entlang des Korridors des düsteren Erdgeschosses lagen viele kleine Zellen. Durch eine offene Tür in der Nähe des Treppenaufganges sah Rob zwei Männer, die offenbar einen gelben Hund aufschnitten, der auf dem Tisch lag und wohl schon tot war. Im ersten Stockwerk ersuchte er einen Mann mit einem grünen Turban, ihm den Weg zum hadschi zu zeigen, und so wurde er schließlich in das Dienstzimmer Davout Hoseins geführt.

Der stellvertretende Schulleiter war ein kleiner, magerer, noch nicht alter Mann, der sich wichtigtuerisch gab, ein Gewand aus gutem, grauem Stoff und den weißen Turban des Mannes trug, der die Pilgerfahrt nach Mekka hinter sich hat. Er hatte kleine, dunkle Augen, und auf seiner Stirne zeugte eine deutlich sichtbare zahiha von seiner Frömmigkeit.

Nachdem sie salams ausgetauscht hatten, hörte er sich Robs Gesuch an und musterte ihn eingehend. »Ihr sagt, daß Ihr aus England gekommen seid. Aus Europa! Ah, welcher Teil von Europa ist das?« »Der Norden.« >•.

»Der Norden Europas. Wie lange habt Ihr gebraucht bis zu uns?« • »Nicht ganz zwei Jahre, Hadschi.«

»Zwei Jahre? Wie außergewöhnlich! Euer Vater ist ein Medicus, ein Absolvent unserer Schule?«

»Mein Vater? Nein, Hadschi.« »Hm. Vielleicht war es ein Onkel?«

»Nein. Ich werde der erste Medicus in meiner Familie sein.« Hosein zog die Stirn in Falten. »Wir haben hier nur Studenten, die aus alten Arztfamilien stammen... Besitzt Ihr Empfehlungsschreiben, Dhimmi?«

»Nein, Meister Hosein.« In Rob stieg Panik auf. »Ich bin ein Baderchirurg. Ich habe bereits eine gewisse Ausbildung...« »Keine Empfehlung von einem unserer berühmten Absolventen?« fragte Hosein erstaunt.

»Nein.«

»Wir nehmen nicht jeden erstbesten, der hier auftaucht, als Schüler auf.«

»Es handelt sich aber um keine vorübergehende Laune. Ich bin schrecklich weit gereist, weil ich fest entschlossen bin, die Medizin zu lernen. Ich habe aus diesem Grund sogar Eure Sprache erlernt.« »Nicht sehr gut, würde ich meinen.« Der hadschi rümpfte die Nase. »Wir bilden nicht einfach Ärzte aus. Wir bringen keine Handwerker hervor, wir erziehen gebildete Männer. Unsere Studenten lernen neben der Medizin auch Theologie, Philosophie, Mathematik, Physik, Astrologie und Rechtswissenschaft, und wenn sie die Schule als allseits gebildete Wissenschaftler abschließen, können sie eine Laufbahn als Lehrer, Medicus oder Jurist wählen.« Rob wartete beklommen.

»Ihr werdet sicherlich begreifen. Es ist unmöglich.« Rob begriff. Fast zwei Jahre!

Er hatte sich von Mary Cullen abgewendet. Er hatte in der glühenden Sonne geschwitzt, im eisigen Schnee gezittert, war von Sturm und Regen gepeitscht worden. Er war durch Salzwüsten und gefährliche Wälder gezogen. Wie eine verdammte Ameise hatte er sich über ein Gebirge nach dem anderen gequält.

»Ich gehe erst weg, wenn ich mit Ibn Sina gesprochen habe«, erklärte er entschlossen.

Hadschi Davout Hosein öffnete den Mund, doch er sah einen Ausdruck in Robs Augen, der ihn veranlaßte, den Mund wieder zu schließen. Er wurde blaß und nickte rasch. »Wartet bitte hier!« Damit verließ er den Raum.

Rob blieb allein zurück.

Nach einiger Zeit kamen vier Soldaten. Keiner war so groß wie er, aber sie waren alle sehr kräftig. Sie trugen kurze Schlagstöcke. Einer hatte ein pockennarbiges Gesicht und schlug seinen Stab immer wieder auf die linke Handfläche.

»Wie heißt Ihr, Jude?« fragte der Pockennarbige nicht unhöflich.

»Ich heiße Jesse ben Benjamin.«

»Ein Ausländer, ein Europäer, sagte der Hadschi?«

»Ja, aus England. Ein Land, das sehr weit entfernt ist.«

Der Soldat nickte. »Habt Ihr Euch geweigert, Euch auf Ersuchen des Hadschi zu entfernen?«

»Das stimmt, aber...«

»Es ist jetzt Zeit, Jude, daß Ihr geht. Und zwar mit uns.«

»Ich werde nicht weggehen, ohne mit Ibn Sina gesprochen zu haben.«

Der Wortführer holte mit seinem Stock aus.

Nur nicht auf meine Nase! dachte Rob voller Angst.

Aber schon begann sie zu bluten, denn die vier wußten, wo und wie sie die Stöcke sparsam und wirkungsvoll einsetzen mußten. Ein Schlag traf ihn oberhalb der Schläfe, und er war plötzlich betäubt; Brechreiz quälte ihn. Er versuchte, im Dienstzimmer des hadschi zu erbrechen, aber der Schmerz war zu groß.

Sie verstanden ihr Geschäft sehr gut. Als Rob keine Bedrohung mehr darstellte, hörten sie auf, ihn mit den Stöcken zu traktieren, und verprügelten ihn geschickt mit den Fäusten.

Sie führten ihn aus der Schule, wobei ihn zwei unter den Armen stützten. Draußen hatten sie vier große, braune Pferde angebunden. Langsam ritten sie, während er zwischen zwei Tieren dahinstolperte. Wenn er stürzte, was dreimal der Fall war, stieg einer ab und trat ihn kräftig in die Rippen, bis er wieder auf die Beine kam. Der Weg schien endlos lang zu sein, doch sie verließen nur das Gelände der madrassa und gelangten zu einem kleinen Ziegelgebäude, das schäbig und wenig anziehend aussah und das zu der niedrigsten Stufe der islamischen Gerichtsbarkeit gehörte, wie er noch erfahren sollte. Drinnen stand nur ein Holztisch, hinter dem ein mürrischer Mann mit dichtem Haar und Vollbart saß, der ein schwarzes, offensichtlich geistliches Gewand trug, das dem Kaftan Robs nicht unähnlich war. Er war gerade im Begriff, eine Melone durchzuschneiden.

Die vier Soldaten führten Rob vor den Tisch und blieben ehrerbietig stehen, während der Richter mit einem schmutzigen Fingernagel die Kerne aus einer Melonenhälfte kratzte und in eine irdene Schüssel fallen ließ. Dann schnitt er die Hälfte in Spalten und aß sie langsam. Als er fertig war, wischte er sich die Hände und dann das Messer an dem Gewand ab, wandte sich in die Richtung von Mekka und dankte Allah für die Speise.

Als er sein Gebet beendet hatte, seufzte er und blickte die Soldaten an.

»Ein verrückter europäischer Jude, der die öffentliche Ruhe gestört hat, Mufti«, meldete der Soldat mit dem pockennarbigen Gesicht. »Auf Veranlassung von Hadschi Davout Husein festgenommen, dem er mit Gewaltanwendung gedroht hat.«

Der mufti nickte und stocherte mit dem Fingernagel ein Stück Melone zwischen seinen Zähnen hervor. Er sah Rob an. »Ihr seid kein Mohammedaner und werdet von einem Mohammedaner angeklagt. Das Wort eines Ungläubigen gilt nichts gegen das Wort eines Gläubigen. Kennt Ihr einen Mohammedaner, der bereit ist, zu Eurer Verteidigung zu sprechen?«

Rob versuchte zu sprechen, brachte aber keinen Ton hervor, obgleich seine Beine vor Anstrengung einknickten.

Die Soldaten zogen ihn wieder in die Höhe.

»Warum benehmt Ihr Euch wie ein Hund! Natürlich, ein Ungläubiger, der unsere Sitten nicht kennt. Daher ist Barmherzigkeit am Platz. Ihr werdet ihn dem kelonter übergeben, damit er nach dessen Gutdünken im carcan bleibt«, befahl der mufti den Soldaten. So wurde Robs persischer Wortschatz um zwei Wörter erweitert, über die er nachdachte, während ihn die Soldaten aus dem Gebäude schleppten und wieder zwischen ihre Reittiere stellten. Er erriet den einen Begriff richtig; obwohl er es noch nicht wußte, war der kelonter, den er für eine Art Gefängnisaufseher hielt, der Profos der Stadt. Als sie zu einem großen, düsteren Gefängnis kamen, nahm Rob an, daß carcan die Bezeichnung für Kerker war. Drinnen übergab ihn der pockennarbige Soldat zwei Wächtern, die ihn an übelriechenden, widerlich feuchten Verliesen vorbeistießen, bis sie schließlich aus dem fensterlosen Dunkel in einen hellen Innenhof traten, in dem zwei lange Reihen von Elenden ächzend oder bewußtlos im Block saßen.

Die Wächter führten ihn eine Reihe entlang, bis sie zu einer leeren Vorrichtung kamen, die der eine aufsperrte.

»Steckt Euren Kopf um den rechten Arm in den carcan«, befahl er. Instinkt und Angst ließen Rob zurückschrecken, aber seine Bewacher legten dies als Widerstand aus. Sie schlugen ihn, bis er zu Boden fiel, dann versetzten sie ihm Fußtritte wie die Soldaten. Rob konnte sich nur zusammenrollen, um seinen Unterleib zu decken, und die Arme über dem Kopf schützend verschränken.

Als sie mit den brutalen Schlägen aufhörten, schoben und stießen sie ihn wie einen Sack Mehl, bis sie seinen Hals und den rechten Arm in die erforderliche Lage gebracht hatten, dann klappten sie den carcan zu und nagelten ihn zusammen. Fast bewußtlos und ohne Hoffnung ließen sie Rob vollkommen hilflos in der prallen Sonne hängen.

Der Calaat

Es waren ganz besondere Blocks, die aus einem Rechteck und zwei Quadraten aus Holz bestanden, die dreieckig angeordnet waren. Das Dreieck umschloß Robs Kopf, so daß sein Körper halb in der Luft hing. Seine rechte Hand, die zum Essen diente, war über das Ende der langen Rechteckseite gelegt und mit einer hölzernen Manschette über dem Handgelenk festgenagelt worden, denn ein Gefangener erhielt keine Nahrung, solange er im carcan steckte. Die linke Hand, die zum Abwischen diente, war nicht gefesselt, denn der kelonter war ein zivilisierter Mensch.

Von Zeit zu Zeit kam Rob zu sich und starrte auf die lange Doppelreihe von Blöcken, die sämtliche mit einem Unglücklichen besetzt waren. In seinem Gesichtsfeld befand sich am anderen Ende des Hofes ein großer hölzerner Richtblock.

Einmal träumte er von Menschen und Dämonen in schwarzen Gewändern. Ein Mann kniete nieder und legte seine rechte Hand auf den Block; einer der Dämonen schwang ein Schwert, das größer und schwerer war als ein englisches Entermesser, und die Hand wurde am Handgelenk abgetrennt, während die übrigen Gestalten beteten.

Dieser Traum wiederholte sich in der heißen Sonne immer wieder.

Dann veränderte er sich. Ein Mann kniete nieder, so daß sein Nacken auf dem Block lag und seine Augen zum Himmel starrten. Rob befürchtete, daß sie ihm den Kopf abschlagen würden, doch sie schnitten ihm die Zunge heraus.

Als Rob das nächste Mal die Augen aufschlug, sah er weder Menschen noch Dämonen, aber auf dem Boden und dem Richtblock befanden sich frische Flecken, die nicht aus seinen Träumen stammten.

Er spürte beim Atmen Schmerzen. Man hatte ihm die schlimmste Tracht Prügel seines Lebens verabreicht, und er wußte nicht, ob man ihm dabei Knochen gebrochen hatte.

Er hing in dem carcan und weinte leise, versuchte still zu sein und hoffte, daß ihn niemand beobachtete.

Schließlich versuchte er, seine Qual zu mildern, indem er seine Nachbarn anredete, die er gerade noch sehen konnte, wenn er den Kopf drehte. Dies war eine Anstrengung, die er bald nur noch aus triftigem Grund unternahm, denn die Haut an seinem Hals scheuerte sich an dem rauhen Holz, das ihn festhielt, schnell wund.

Links von ihm befand sich ein Mann, den man bewußtlos geschlagen hatte und der sich nicht rührte. Der Junge zu seiner Rechten betrachtete ihn neugierig, doch er war entweder taubstumm, unglaublich dumm oder unfähig, Robs gebrochenes Persisch zu verstehen. Nach mehreren Stunden bemerkte ein Wächter, daß der Mann links von Rob tot war. Er wurde weggebracht, und ein anderer kam an seine Stelle. Zu Mittag war Robs Zunge rauh, und sie schien den gesamten Mund auszufüllen. Er hatte weder den Drang zu urinieren noch den, seinen Kot zu entleeren, denn alle Ausscheidungen hatte die Sonne längst aus ihm herausgedörrt. Zeitweise dachte er, er sei wieder in der Wüste, und in lichten Momenten erinnerte er sich sehr lebhaft an Lonzanos Beschreibung, wie ein Mensch verdurstet; an die geschwollene Zunge, die schwarz wurde, und die Vorstellung, daß er sich anderswo befinde.

Dann wandte Rob den Kopf und begegnete dem Blick des neuen Gefangenen. Sie schätzten einander ab, und Rob sah das geschwollene Gesicht und die aufgeplatzten Lippen des anderen. »Gibt es niemanden, den wir um Gnade bitten können?« flüsterte er. Der andere zögerte, vielleicht wunderte er sich über Robs Akzent.

»Es gibt Allah«, meinte er endlich. Wegen seiner geplatzten Lippe war auch er nicht leicht zu verstehen. »Aber hier niemanden?« »Du bist ein Fremdling, Dhimmi?« »Ja.«

Der Mann schüttete seinen Haß über Rob aus. »Du hast mit einem mullah gesprochen, Fremder. Ein heiliger Mann hat dich verurteilt.« Er schien das Interesse an Rob zu verlieren und wandte das Gesicht ab. Der Sonnenuntergang erwies sich als Segen. Der Abend brachte eine Kühle, die Rob beinahe als angenehm empfand.

Sein Körper war taub, und er fühlte keinen Schmerz mehr in den Muskeln; vielleicht lag er schon im Sterben.

In der Nacht sprach der Mann neben ihm wieder. »Es gibt noch den Schah, fremder Jude.« Rob wartete.

»Gestern, der Tag unserer Marter, war Mittwoch, Chaban Shanbah. Heute ist Panj Shanbah. Und jede Woche hält am Morgen des Panj Schanbah Alä-al-Dawla Shahansha Audienz, um vor Jom'a, dem Sabbat, seine Seele möglichst vollkommen zu reinigen. Dabei kann sich jeder seinem Thron in der Halle der Säulen nähern, um sich über Ungerechtigkeiten zu beklagen.«

Rob konnte die aufkeimende Hoffnung nicht unterdrücken. »Jeder?« »Jeder. Sogar ein Gefangener kann verlangen, seinen Fall dem Schah unterbreiten zu dürfen.«

»Nein, du darfst es nicht tun«, rief jemand in die Dunkelheit. Rob konnte nicht sagen, aus welchem carcan die Stimme kam. »Das mußt du dir aus dem Kopf schlagen«, fuhr die unbekannte Stimme fort, »denn der Schah stößt fast nie das Urteil oder die Entscheidung eines mufti um. Und die mullahs warten ungeduldig auf die Rückkehr jener, die mit ihrer schwatzhaften Zunge dem Schah die Zeit stehlen. Dann werden Zungen herausgeschnitten und Bäuche aufgeschlitzt, wie dieser Teufel sicherlich weiß, dieser verfluchte Hurensohn, der dir schlechte Ratschläge erteilt. Du mußt auf Allah vertrauen und nicht auf Alä Shahansha.«

Der Mann zu seiner Rechten lachte verschmitzt, als hätte man ihn bei einem lustigen Streich ertappt. »Es gibt keine Hoffnung«, sagte die Stimme aus der Dunkelheit.

Die Heiterkeit seines Nachbarn hatte sich in einen Husten- und Niesanfall verwandelt. Als er wieder zu Atem kam, meinte der Mann boshaft: »Ja, wir können unsere Hoffnung aufs Paradies setzen.« Niemand sagte darauf ein Wort.

Vierundzwanzig Stunden, nachdem Rob in den carcan gesperrt worden war, wurde er freigelassen. Er versuchte zu stehen, fiel aber hin und blieb schwerzverkrümmt liegen, während das Blut nur langsam wieder in seine Muskeln drang.

»Geh schon!« schrie ein Wärter und versetzte ihm einen Tritt. Er rappelte sich auf, hinkte aus dem Gefängnis und rannte davon. Er ging zu dem großen Platz mit den Platanen und dem plätschernden Brunnen, aus dem er trank und wieder trank, um seinen großen Durst zu stillen. Dann tauchte er den Kopf ins Wasser, bis ihm die Ohren klangen und er das Gefühl hatte, daß er einen Teil des Gefängnisgestanks weggewaschen hatte.

Die Straßen von Isfahan waren voller Menschen, und die Vorübergehenden sahen ihn an. Er war während seiner Bewußtlosigkeit bestoh-len worden. Er fluchte wild und wußte nicht, ob der Soldat mit den Pockennarben oder ein Gefängniswächter der Dieb gewesen war. Die Bronzemünze, die man ihm gelassen hatte, war ein Hohn oder ein schlimmer Scherz des Diebes. Er gab sie einem Essenverkäufer, der ihm eine kleine Portion fetten pilaw reichte. Das Gericht war gewürzt und enthielt auch ein paar Bohnen. Rob verschlang es zu schnell, vielleicht war aber auch sein Körper durch die Entbehrungen, die Sonne und den carcan überfordert worden. Fast sofort erbrach er seinen Mageninhalt auf die staubige Straße. Sein Hals blutete, wo er von dem Block aufgescheuert war, und hinter seinen Augen pochte es hart. Er trat in den Schatten einer Platane und dachte an das grüne England, an sein Pferd, an den Wagen mit dem Geld unter den Bodenbrettern und an Mistress Buffington, die neben ihm gesessen und ihm Gesellschaft geleistet hatte.

Die Menge wurde jetzt dichter; unzählige Menschen strömten durch die Straße, alle in die gleiche Richtung.

»Wohin gehen all die Leute?« fragte er den Essenverkäufer. »Zur Audienz des Schahs.« Der Mann blickte den zusammengesunkenen Juden mißtrauisch an, bis Rob sich trollte.

Warum nicht? fragte er sich. Blieb ihm eine andere Wahl? Er schloß sich dem Menschenstrom an, der der All-und Fatima-Allee folgte, die vierbahnige Allee der tausend Gärten überquerte und in die großartige Prachtstraße, die Tore des Paradieses hieß, einbog. Menschen aller Altersstufen, hadschis mit weißen Turbanen, Studenten mit grünen Turbanen, mullahs, gesunde und verkrüppelte Bettler in Lumpen, abgetragene Turbane in allen Farben auf dem Kopf, junge Väter mit Säuglingen, Träger mit Sänften, Reiter auf Pferden und Eseln. Rob hinkte hinter einer Gruppe von Juden in schwarzen Kaftanen her. Sie näherten sich einer großen, grünen Wiese, die von zwei Steinpylonen an jedem Ende portalartig flankiert wurde. Als das erste Haus der königlichen Hofhaltung in Sicht kam, hielt Rob es für den Palast selbst, denn es war größer als das Schloß des Königs in London. Aber hier folgte Haus auf Haus in der gleichen Größe; die meisten waren aus Ziegeln und Steinen erbaut, viele besaßen Türme und überdachte Portale, und jedes war mit Terrassen und weitläufigen Gärten ausgestattet. Sie kamen an Weingärten, Ställen, zwei Rennbahnen, Obstgärten und Gartenpavillons von solcher Schönheit vorbei, daß er am liebsten die Menge verlassen hätte und in der duftenden Pracht gelustwandelt wäre. Aber er dachte, daß das zweifellos verboten war. Und dann kam er zu einem so gewaltigen und zugleich so überaus gegliederten Bau, wie er ihn nie für möglich gehalten hätte. Er bestaunte die Tittenkuppeln und die Brustwehre mit Zinnen, auf denen Wachen mit glitzernden Helmen und Schilden unter farbigen, in der Brise flatternden Wimpeln auf und ab patrouillierten. Rob zupfte den Mann vor ihm am Ärmel, einen untersetzten Juden, dessen fransenbesetztes Unterkleid unter dem Kaftan hervorsah. »Was ist das für eine Festung?«

»Das Haus des Paradieses natürlich, der Wohnsitz des Schahs.« Der Mann sah ihn besorgt an. »Ihr blutet, Freund.« »Es ist nichts, nur ein kleiner Unfall.«

Sie drängten sich die lange Zufahrtsstraße hinunter, und als sie näher kamen, erkannte Rob, daß das Hauptgebäude des Palastes von einem breiten Graben geschützt wurde. Die Zugbrücke war hochgezogen, aber diesseits des Grabens, in der Nähe eines öffentlichen Platzes, der als Hauptzugang zum Palast diente, stand eine Halle, durch deren Tore die Menge eintrat.

Das Innere war ein Raum, der halb so groß war wie die Kathedrale der heiligen Sofia in Konstantinopel. Der Boden bestand aus Marmor; die Wände und die hohe Decke waren aus Stein und so geschickt mit Spalten versehen, daß sanftes Tageslicht im Gebäude herrschte. Es war die Halle der Säulen, denn entlang der vier Wände befanden sich geschmackvoll bearbeitete, kannelierte Steinsäulen, deren Basen in der Form von Beinen und Tatzen verschiedener Tiere gemeißelt waren.

Die Halle war halb voll, als Rob eintraf, doch sofort traten Leute hinter ihm ein, die ihn in die Gruppe der Juden drängten. Abschnitte der Halle waren durch Seile abgegrenzt, so daß dazwischen Gänge freiblieben. Rob sah sich um und registrierte alles mit einer neuen Intensität, denn die Stunden im carcan hatten ihm deutlich gemacht, daß er ein Ausländer war: Handlungen, die er für natürlich hielt, mochten den Persern seltsam und bedrohlich erscheinen, und ihm war bewußt, daß sein Leben davon abhängen konnte, daß er richtig erahnte, wie sie sich verhielten und was sie dachten. Er bemerkte, daß die Männer aus der oberen Klasse, die gestickte Hosen, Tuniken, Seidenturbane und Schuhe mit Brokatmuster trugen, durch einen gesonderten Eingang hoch zu Roß in die Halle einritten. Jeder wurde etwa hundertfünfzig Schritte vor dem Thron von Dienern angehalten, die sein Pferd für ein Geldstück übernahmen, und von dieser privilegierten Stelle an gingen sie zu Fuß zwischen den Armen weiter.

Untergeordnete Beamte, die graue Kleidung und Turbane trugen, gingen nun durch die Menge und forderten die Leute, die Bitten vorzubringen hatten, auf, ihre Namen zu nennen. Rob drängte sich zum Gang durch und buchstabierte seinen Namen mühsam einem dieser Schreiber, der ihn auf merkwürdig dünnem Pergament notierte.

Ein hochgewachsener Mann hatte das erhöhte Podest an der Front der Halle betreten, auf dem ein großer Thron stand. Rob war zu weit vom Podest entfernt, um Einzelheiten erkennen zu können, aber der Mann war nicht der Schah, denn er setzte sich auf einen kleineren Thron rechts vom Herrscherthron.

»Wer ist das?« fragte Rob den Juden, mit dem er vorher gesprochen hatte.

»Es ist der Großwesir, der heilige Imam Mirza-abul Qandrasseh.« Der Jude blickte Rob beunruhigt an, denn es war nicht unbemerkt geblieben, daß es sich bei ihm um einen Bittsteller handelte. Alä-al-Dawla Shahansha schritt auf das Podest zu, nahm sein Schwert-gehenk ab, legte die Schneide auf den Boden und nahm auf dem Thron Platz. Alle Anwesenden verrichteten den ravi zemin, während der Imam Qandrasseh die Gunst Allahs auf diejenigen herabrief, die beim Löwen von Persien Gerechtigkeit suchen würden. Die Audienz begann sofort.

Rob konnte trotz der plötzlich eingetretenen Stille weder die Bittsteller noch die beiden Thronenden deutlich vernehmen. Aber wann immer eine wichtige Persönlichkeit sprach, wurden deren Worte von Leuten, die an akustisch günstigen Stellen in der Halle postiert waren, mit lauter Stimme wiederholt, und auf diese Weise erreichten die Worte der Teilnehmer getreulich alle Anwesenden.

Der erste Fall betraf zwei wettergegerbte Schäfer aus dem Dorf Ardistan, die zwei Tage gegangen waren, um ihren Streit in Isfahan vor dem Schah auszutragen. Sie konnten sich über den Besitzanspruch an einem jungen Zicklein nicht einigen.

Dem einen Mann gehörte die Mutterziege, die lange unfruchtbar gewesen war. Der andere erklärte, er habe die Geiß für die erfolgreiche Besteigung durch den Ziegenbock bereit gemacht und betrachte sich daher jetzt als halber Besitzer des Zickleins. »Hast du Zauberei angewendet?« fragte der Imam. »Eure Exzellenz, ich habe nur eine Feder eingeführt und sie hitzig gemacht«, erklärte der Mann, worauf die Menge vor Lachen brüllte und stampfte. Darauf verlautbarte der Imam, daß der Schah zugunsten des Mannes mit der Feder entschieden habe.

Für die meisten Anwesenden war die Audienz eine Unterhaltung. Der Schah sprach nie selbst. Vielleicht übermittelte er Qandrasseh seine Wünsche durch Zeichen, aber alle Fragen und Entscheidungen schienen von dem Imam auszugehen, der nichts für Dummköpfe übrig hatte.

Der nächste Fall war weniger vergnüglich. Er wurde von zwei ältlichen Adeligen in kostbaren Seidengewändern vorgebracht, die eine geringfügige Meinungsverschiedenheit wegen irgendwelcher Weiderechte hatten. Er führte zu einer scheinbar endlosen Diskussion im Flüsterton

über uralte Vereinbarungen zwischen längst Verstorbenen. Die Zuhörer gähnten und beklagten sich leise über die schlechte Luft in der überfüllten Halle und die Schmerzen in ihren müden Beinen. Sie zeigten keine Gefühlsregung, als das Urteil gesprochen wurde. »Laßt Jesse ben Benjamin, einen Juden aus England, vortreten«, rief jemand.

Sein Name hing in der Luft, dann hallte er durch den Saal wider, als er immer wieder gerufen wurde. Rob hinkte den langen, teppichbelegten Gang entlang. Ihm war bewußt, daß er den schmutzigen, zerrissenen Kaftan und den schäbigen ledernen Judenhut trug, der zu seinem mißhandelten Gesicht paßte.

Endlich näherte er sich dem Thron und führte dreimal den ravi zemin aus, denn er hatte beobachtet, daß dies von einem Bittsteller erwartet wurde.

Als er sich aufrichtete, sah er den Imam, m»//rt/>-schwarzgekleidet. Eine schmale Hakennase beherrschte sein eigenwilliges Gesicht, das von einem eisengrauen Bart umrahmt war.

Der Schah trug den weißen Turban eines frommen Mannes, der in Mekka gewesen ist; in seinen Falten steckte ein schmales, goldenes Krönchen. Die lange, weiße Tunika bestand aus glattem, leichtem Stoff, der mit blauen und goldenen Fäden durchwirkt war. Dunkelblaue Gamaschen bedeckten seine Unterschenkel, und seine spitzen, blauen Schuhe waren blutrot bestickt. Er wirkte unbewegt, und sein Blick war leer - das Bild eines Mannes, der unaufmerksam ist, weil er sich langweilt.

»Ein Inghiliz«, bemerkte der Imam. »Ihr seid derzeit unser einziger Inghiliz, unser einziger Europäer. Warum seid Ihr nach Persien gekommen?«

»Ich suche die Wahrheit.«

»Wollt Ihr die wahre Religion annehmen?« fragte Qandrasseh nicht unfreundlich.

»Nein, denn wir sind uns bereits darüber einig, daß es keinen Allah gibt als Ihn, den Barmherzigsten«, antwortete Rob und segnete die langen Stunden, in denen ihn Simon ben Levi, der gelehrte Händler, unterrichtet hatte. »Es steht im Qu'ran geschrieben: >Ich werde nicht das anbeten, was du anbetest, und du wirst nicht das anbeten, was ich anbete... Du hast deine Religion, und ich habe meine Religion.<«

Du mußt dich kurzfassen, rief er sich ins Gedächtnis. Leidenschaftslos und mit sparsamen Worten erzählte er, wie er sich im Dschungel des westlichen Persien befunden habe, als ihn plötzlich ein wildes Tier ansprang.

Der Schah begann langsam, genauer zuzuhören. »In meinem Heimatland gibt es keine Panther. Ich hatte keine Waffe und wußte auch nicht, wie man sich vor einem solchen Tier wehrt.« Er erzählte, wie Alä-al-Dawla Shahansha, gleich seinem Vater Abdal-lah, der den Löwen von Kashan erlegt hatte, ein Jäger von Großkatzen, ihm das Leben gerettet hatte. Die Menschen, die dem Thron am nächsten standen, begannen ihrem Herrscher mit lauten Zurufen Beifall zu spenden. Gemurmel durchlief die Halle, als die Sprecher die Geschichte den Massen weitergaben, die vom Thron zu weit entfernt waren.

Qandrasseh rührte sich nicht, aber Rob schloß aus seinem Blick, daß dem Imam weder die Geschichte noch die Reaktion zusagte, die sie bei der Menge ausgelöst hatte.

»Beeile dich, Inghiliz«, forderte er ihn kühl auf, »und erkläre, was du zu Füßen des einzigen wahren Schahs erbittest.« Rob holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Da auch geschrieben steht, daß jemand, der ein Leben rettet, für dieses verantwortlich ist, bitte ich den Schah um Hilfe, um aus meinem Leben das Bestmögliche zu machen.« Er berichtete von seinem vergeblichen Versuch, als Student in Ibn Sinas Schule für Ärzte aufgenommen zu werden. Die Geschichte von dem Panther hatte sich jetzt bis in die entfernteste Ecke der Halle herumgesprochen, und das große Auditorium erbebte unter dem andauernden Donner stampfender Füße.

Zweifellos war Alä-al-Dawla an Furcht und Gehorsam gewöhnt, aber vielleicht war es lange her, daß er so spontanen Beifall erhalten hatte. Nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen war dieser Lärm für ihn süße Musik.

»Ha!« Der einzige wahre Schah beugte sich vor, seine Augen strahlten, und Rob wußte, daß er sich nun an ihn und den Vorfall mit dem Panther erinnerte.

Der Schah sah Rob einen Augenblick lang in die Augen, dann wandte er sich an den Imam und sagte zum erstenmal seit Beginn der Audienz etwas.

»Gib dem Hebräer einen calaat«, befahl er.

Aus einem unerfindlichen Grund lachten die Zuschauer.

»Ihr kommt mit mir!« forderte ihn ein ergrauter Offizier auf. Er würde in wenigen Jahren ein alter Mann sein, aber jetzt war er noch mächtig und stark. Er trug einen flachen Helm aus poliertem Metall, ein Lederwams über einer braunen Militärtunika und Sandalen mit Lederriemen. Seine Narben sprachen für ihn: die Schwielen von geheilten Schwertwunden leuchteten weiß auf den kräftigen braunen Armen, sein linkes Ohr war plattgedrückt und sein Mund war wegen einer alten Stichwunde unter seinem rechten Backenknochen verzerrt.

»Ich bin Khuff«, stellte er sich vor, »Hauptmann der Stadtwache. Mir überträgt man Fälle wie den Euren.« Er betrachtete Robs wunden Hals und lächelte. »Der carcan?« »Ja.«

»Der carcan ist schon eine Sache«, stellte Khuff bewundernd fest. Sie verließen die Halle der Säulen und gingen zu den Ställen. Auf der großen, grünen Wiese mit den Pylonen galoppierten jetzt Männer auf Pferden aufeinander zu, wirbelten herum und schwangen lange Lanzen wie umgekehrte Hirtenstäbe, doch keiner stürzte aus dem Sattel. »Versuchen sie einander zu treffen?«

»Sie versuchen einen Ball vor sich herzutreiben. Es ist ein Ball- und Stockspiel für Reiter.« Khuff musterte ihn.

»Es gibt vieles, was Ihr nicht wißt. Wißt Ihr über den calaat Bescheid?« Rob schüttelte den Kopf.

»Wenn früher jemand die Gunst eines persischen Herrschers errang, nahm der Monarch einen calaat ab, eines seiner Kleidungsstücke, und verlieh es ihm als Zeichen seiner Zufriedenheit. Der Brauch hat sich durch die Zeiten als Zeichen höchster Gunst erhalten. Heute besteht dieses königliche Kleidungsstück aus einer regelmäßigen finanziellen Zuwendung, einem Gewand, einer Wohnstatt und einem Pferd.« Rob war wie benommen. »Dann bin ich reich?« Khuff lächelte, als wäre Rob verrückt. »Ein calaat ist eine einzigartige Auszeichnung, die aber in ihrem Wert sehr unterschiedlich ausfallen kann. Der Gesandte einer Nation, die im Krieg Persiens enger Verbündeter war, würde kostbare Kleidung, einen Palast, der fast so prächtig wie das Haus des Paradieses wäre, und einen feurigen Hengst erhalten, dessen Geschirr und Putz mit Edelsteinen verziert sind. Aber Ihr seid kein Gesandter.«

Hinter den Ställen befand sich ein großer Pferch, in dem sich zahllose Pferde tummelten. Der Bader hatte immer gepredigt, daß man, wenn man ein Pferd aussucht, nach einem Tier mit dem Kopf einer Prinzessin und dem Hinterteil einer fetten Hure Ausschau halten solle. Rob erblickte eine Grauschimmelstute, auf die diese Voraussetzungen zutrafen und aus deren Augen außerdem Stolz sprach. »Kann ich diese Stute haben?« fragte er und zeigte auf sie. Khuff versuchte erst gar nicht, ihm zu erklären, daß es sich bei der Stute um ein Pferd für einen Fürsten handelte, aber ein spöttisches Lächeln verlieh seinem entstellten Mund ein seltsames Aussehen.

Der Stadthauptmann band ein gesatteltes Pferd los und schwang sich darauf. Er ritt in die bewegte Herde und holte geschickt einen ansprechenden, aber recht temperamentlosen braunen Wallach mit kurzen, stämmigen Beinen und kräftigen Schultern heraus.

Khuff zeigte ihm ein großes Brandmal in Form einer Tulpe auf dem Schenkel des Pferdes. »Alä Shahansha ist der einzige Pferdezüchter in Persien, und das ist sein Brandzeichen. Dieses Pferd kann gegen ein anderes, das ebenfalls die Tulpe trägt, eingetauscht, aber nie verkauft werden. Sollte es sterben, schneidet das Stück mit dem Brandzeichen heraus, und ich werde Euch dafür ein anderes Pferd geben.« Khuff überreichte ihm eine Börse, die weniger Münzen enthielt, als Rob durch den Verkauf des Spezificums bei einer einzigen Vorstellung verdient hätte. In einem Lagerhaus in der Nähe suchte der Stadthauptmann, bis er einen brauchbaren Sattel aus Armeebeständen fand. Die Kleidung, die er Rob gab, war gut gearbeitet, aber einfach. Sie bestand aus einer losen Hose, die man an der Taille mit einer Schnur festhielt, leinenen Wickelgamaschen, die über die Hose um die Beine gewunden wurden und wie Bandagen vom Knöchel bis zum Knie reichten, einem losen Hemd, dem khamisa, das bis zu den Knien über die Hose herabhing, einer Tunika, die äurra hieß, zwei Mänteln für die verschiedenen Jahreszeiten - einem kurzen, leichten und einem langen, mit Schaffell gefütterten -, einer qalansuwa genannten kegelförmigen Turbanstütze und einem braunen Turban. »Gibt es den auch in Grün?«

»Dieser ist besser. Der grüne Turban ist aus schlechtem, schwerem Stoff; er wird nur von Studenten und den Ärmsten der Armen getragen.«

»Ich will dennoch so einen«, beharrte Rob. Khuff gab ihm einen billigen grünen Turban und warf ihm einen scharfen, verächtlichen Blick zu.

Diener mit wachsamen Augen beeilten sich, den Befehl des Hauptmanns auszuführen, als er sein persönliches Pferd verlangte. Es war ein arabischer Hengst, der der grauen Stute ähnelte, die sich Rob ausgesucht hätte. Rob trug einen Stoffsack mit seinen neuen Kleidern und ritt auf dem frommen braunen Wallach wie ein Edelmann den ganzen Weg bis zur Jehuddijeh hinter Khuff her. Sie ritten lange durch die engen Straßen des Judenviertels, bis Khuff endlich bei einem kleinen Haus aus alten, dunkelroten Ziegeln anhielt. Zum Haus gehörten ein kleiner Stall, der nur aus einem Dach auf vier Pfosten bestand, und ein winziger Garten, in dem eine Eidechse Rob anblinzelte und dann in einer Spalte der Steinmauer verschwand. Vier verwilderte Aprikosenbäume warfen ihren Schatten auf Dornenbüsche, die ausgeschnitten gehörten. Drinnen gab es drei Räume: einen mit einem Fußboden aus gestampftem Lehm und zwei mit Böden aus den gleichen roten Ziegeln wie die Wände, in denen die Füße vieler Generationen flache Mulden' ausgetreten hatten. Die vertrocknete Mumie einer Maus lag in einer Ecke des Raumes mit dem Lehmboden, und ein schwacher, widerlicher Fäulnisgestank hing in der Luft.

»Es gehört Euch«, verkündete Khuff. Er nickte einmal und ging dann fort.

Noch bevor das Geräusch der Hufe seines Pferdes verklungen war, gaben Robs Knie nach. Er sank auf den Lehmboden, legte sich dann auf den Rücken und wußte im nächsten Augenblick genauso wenig wie die tote Maus.

Er schlief achtzehn Stunden lang. Als er erwachte, waren seine Glieder verkrampft; sie schmerzten wie bei einem alten Mann mit steifen Gelenken. Das Haus befand sich nicht gerade im besten Zustand -Sprünge durchzogen den Lehmverputz der Wände, und eines der Fensterbretter zerbröckelte - aber seit seine Eltern gestorben waren, stellte dies die erste Behausung dar, die wirklich ihm gehörte.

Entsetzt fiel ihm ein, daß sein neues Pferd ungetränkt, ungefüttert und noch immer gesattelt in dem kleinen Stall stand. Nachdem er den Sattel abgenommen und in seinem Hut Wasser von dem nahen öffentlichen Brunnen geholt hatte, eilte er zu der Stallung, in der sein Maultier und der Esel untergebracht waren. Er kaufte Holzeimer, Hirsestroh, einen Korb Hafer und brachte alles auf dem Rücken des Esels nach Hause.

Als die Tiere versorgt waren, zog er seine neuen Kleider an und ging ins öffentliche Bad, vorher aber noch zum Gasthaus von Salman dem Kleineren.

»Ich komme wegen meiner Habseligkeiten«, sagte er zum Wirt. »Sie wurden sicher aufbewahrt, obwohl ich schon um Euer Leben bangte, als zwei Nächte vergingen und Ihr nicht zurückkamt.« Salman sah ihn besorgt an.

»Man spricht über einen fremden Dhimmi, einen europäischen Juden, der zur Audienz kam und vom Schah ein calaat erhalten hat.« Rob nickte.

»Ihr wart es also wirklich!« flüsterte Salman.

Rob setzte sich schwerfällig. »Ich habe nichts in den Magen bekommen, seit Ihr mir das letzte Mal zu essen gegeben habt.« Salman tischte ihm eilfertig Essen auf. Rob probierte zunächst vorsichtig Brot und Ziegenmilch, weil er aber so großen Hunger verspürte, ging er bald zu vier gekochten Eiern, noch mehr Brot, einem kleinen harten Käse und einem Teller pilaw über. Allmählich kehrte Kraft in seine Glieder zurück.

Im Bad lag er lange im Wasser, um seine Blutergüsse zu pflegen. Als er seine neue Kleidung anlegte, fühlte er sich wie ein Fremder, wenn auch weniger fremd als damals, als er den Kaftan zum erstenmal angezogen hatte.

Es gelang ihm zwar mühsam, die Wickelgamaschen anzulegen, aber um den Turban zu wickeln, dazu würde er Unterricht brauchen, weshalb er vorläufig den ledernen Judenhut aufbehielt. Wieder zu Hause angelangt, entledigte er sich der toten Maus, dann überdachte er seine Lage. Er verfügte nun über einen bescheidenen Wohlstand, aber das war es ja nicht, worum er den Schah gebeten hatte, aber noch während er sich in Gedanken seiner Zukunft zuwandte, wurde er durch Khuffs Ankunft unterbrochen, der mürrisch, wie zuvor, ein dünnes Pergament aufrollte und ihm laut vorlas.

Erlaß des Königs der Welt, Alä-al-Dawla, des hoben und majestätischen Gebieters, unvergleichlich erhaben und angesehen, prächtig in Titeln, die unerschütterliche Grundlage des Königreichs, ausgezeichnet, edel und großmütig, der Löwe von Persien und mächtigste Herrscher der Welt. Gerichtet an den Gouverneur, den Verwalterund andere königliche Offiziere der Stadt Isfahan, des Sitzes der Monarchie und des Ortes der Wissenschaft und Medizin. Es wird ihnen kund und zu wissen getan, daß Jesse, Sohn des Benjamin, Jude und Baderchirurg aus der Stadt Leeds in Europa, in unser Königreich gekommen ist, das bestregierte der ganzen Welt und ein wohlbekannter Zufluchtsort der Unterdrückten, und die Gelegenheit und die Ehre hatte, vor den Augen des Allerhöchsten zu erscheinen und mit demütigem Gesuch um die Hilfe des wahren Statthalters des wahren Propheten, der im Paradies ist, nämlich unserer erlauchten Majestät, zu bitten. Sie sollen wissen, daß Jesse, Sohn des Benjamin aus Leeds, königliche Gunst und Wohlwollen zugesichert wird und er hiermit ein königliches Gewand mit den damit verbundenen Ehren und Privilegien erhält, und daß alle ihn dementsprechend behandeln sollen. Ihr müßt auch wissen, daß dieser Erlaß unter der Androhung strenger Strafen ergeht unddaß jeder Verstoß dagegen mit dem Todgeahndet wird. Gegeben am dritten PanjShanbah des Monats Rejab im Namen unserer allerhöchsten Majestät durch seinen Pilger zu den erhabenen und heiligen Orten und seinen Leiter und Oberaufseher des Palastes der Frauen des Allerhöchsten, den Imam Mirza-abul Qandrasseh, Großwesir. Es ist notwendig, sich in allen weltlichen Angelegenheiten mit der Hilfe des allerhöchsten Gottes zu waffnen.

»Aber die Schule?« Rob konnte nicht an sich halten, er mußte heiser fragen.

»Mit der Schule habe ich nichts zu schaffen«, winkte der Stadthauptmann ab und entfernte sich ebenso eilig, wie er gekommen war. Kurze Zeit später brachten zwei stämmige Träger eine Sänfte vor Robs Tür, in der sich der hadschi Davout Hosein befand nebst einer Menge Feigen, die als Zeichen süßen Glücks in dem neuen Haus gedacht waren. Sie saßen zwischen den Ameisen und den Bienen auf dem Boden in dem vernachlässigten kleinen Aprikosengarten und aßen die Feigen. »Die Aprikosenbäume sind noch erstklassig«, stellte der hadschi fest

und musterte sie mit Kennermiene. Er erklärte eingehend, wie die vier Bäume durch fleißiges Beschneiden, Wässern und Düngen mit Pferdemist wieder zum Tragen gebracht werden konnten. Schließlich verstummte Hosein. »Noch etwas?« murmelte Rob.

»Ich habe die Ehre, die Grüße und Glückwünsche des ehrenwerten Abu Ali al-Hussein Ibn Abdullah Ibn Sina zu überbringen.« Der haäschi schwitzte und war so blaß, daß die zabiba auf seiner Stirn besonders deutlich hervortrat. Er tat Rob leid, aber nicht so leid, daß dies die köstliche Freude des Augenblicks beeinträchtigt hätte, die süßer und wertvoller war als der betäubende Duft der kleinen Aprikosen, die den Boden unter seinen Bäumen bedeckten. Denn Hosein überreichte Jesse, Sohn des Benjamin, die Einladung, sich in der madrassa einzuschreiben und im maristan Medizin zu studieren, so daß er schließlich den Stand eines Medicus anstreben konnte.

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