Sie überquerten den großen Kanal am 24. März im Jahr des Herrn 1043 und landeten am späten Nachmittag in Queen's Hythe. Es war kaum Platz vorhanden, um an Land zu gehen; Rob zählte allein mehr als zwanzig fürchterliche schwarze Kriegsschiffe, die in der Dünung vor Anker lagen, und dazu gab es zahllose Handelsschiffe. Sie waren alle vier von der Reise erschöpft. So begaben sie sich zu einem der Gasthöfe von Southwark, an die sich Rob erinnerte, aber die Unterkunft erwies sich als erbärmlich, und es wimmelte auch noch von Ungeziefer. Am nächsten Morgen machte er sich beim ersten Tageslicht auf die Suche nach einem besseren Logis. London war gewachsen; wo es einst Wiesen und Obstgärten gegeben hatte, sah er unbekannte Gebäude und Straßen, die so verrückt verwinkelt waren wie die in der Jehuddijeh. In einer Taverne erkundigte er sich nach leerstehenden Häusern, und man nannte ihm eines in der Nähe des Walbrook. Es lag neben der kleinen Kirche St. Asaph, und er vermutete, daß es Mary gefallen würde. Im Erdgeschoß wohnte der Besitzer, Peter Lound. Das erste Stockwerk war zu vermieten, es bestand aus einem kleinen Raum und einem großen Wohnzimmer, das mit der belebten Straße darunter, der Thames Street, durch eine steile Treppe verbunden war.
Er fand keine Spuren von Wanzen, und der Preis war annehmbar. Die Lage war gut, denn auf den Straßen nördlich davon wohnten reiche Kaufleute und hatten dort auch ihre Geschäfte. Rob kehrte sofort nach Southwark zurück, um seine Familie zu holen. Sobald sie sich eingerichtet hatten, eilte er zu einem Schildermacher und bestellte bei dem Mann ein Eichenschild. Als es fertig war, geschnitzt, die Buchstaben schwarz eingefärbt, befestigte er es neben der Eingangstür des Hauses an der Thames Street, damit alle sahen, daß es das Heim von Robert Jeremy Cole, Medicus, war.
Zuerst fand es Mary angenehm, unter Briten zu leben und Englisch zu sprechen, obwohl sie mit ihren Kindern weiterhin Gälisch sprach, da sie wollte, daß sie die Sprache der Schotten beherrschten. Die Möglichkeit, in London einzukaufen, war berauschend. Sie fand eine Näherin und bestellte ein Kleid aus unaufdringlichem braunen Stoff: lang, mit Gürtel, hochgeschlossen und mit so losen Ärmeln, daß sie in verschwenderischen Falten herabfielen.
Für Rob bestellte sie eine schöne graue Hose und einen Kittel. Obwohl er gegen diese Verschwendung protestierte, kaufte sie ihm zwei schwarze Arztgewänder, eines aus leichtem, ungefüttertem Stoff für den Sommer, das andere dicker und mit einer mit Fuchsfell verbrämten Kapuze. Er hatte seinen buschigen Bar., zu einem Spitzbart zurechtgestutzt und kleidete sich westlich. Seit sie sich auf der Rückreise einer Karawane angeschlossen hatten, gab es keinen Jesse ben Benjamin mehr. An seiner Stelle reiste Robert Jeremy Cole, ein Engländer, der seine Familie nach Hause brachte.
Die immer sparsame Mary hatte den Kaftan behalten und verwendete das Material, um daraus Kleidung für ihre Söhne zu schneidern. Rob James' abgelegte Sachen hob sie für Tarn auf, obwohl dies schwierig war, weil Rob James für sein Alter sehr groß war und Tarn etwas kleiner als die meisten Jungen, zumal er während ihrer Reise nach dem Westen schwer erkrankt war. In der Bischofsstadt Freising waren beide Kinder von einer schweren Halsentzündung mit tränenden Augen befallen worden. Sie bekamen so hohes Fieber, daß Mary die schreckliche Angst hatte, sie könne ihre Söhne verlieren. Die Kinder hatten tagelang gefiebert; bei Robert James war keine sichtbare Schädigung zurückgeblieben, aber die Krankheit hatte sich in Tams linkem Bein festgesetzt, das blaß wurde und leblos wirkte. Die Familie Cole war mit einer Karawane nach Freising gekommen, die bald weiterziehen sollte, und der Karawanenleiter erklärte, er könne die Genesung der Kinder nicht abwarten. »Geht zum Teufel«, hatte ihm Rob zugerufen, weil sein Sohn Pflege brauchte und diese auch erhalten sollte. Er machte Tarn feuchtwarme Umschläge auf das Bein und schlief so gut wie nie, um sie ständig zu wechseln. Er umfaßte das kleine Bein mit seinen großen Händen, bog das Knie und massierte die Muskeln immer wieder, drückte, knetete und rieb das Bein mit Bärenfett ein.
Tarn erholte sich, aber nur langsam. Er hatte, ein Jahr bevor die Krankheit ihn befiel, zu gehen begonnen. Nun mußte er wieder kriechen und krabbeln, und als er diesmal die ersten Schritte wagte, geriet er aus dem Gleichgewicht, da das linke Bein ein wenig kürzer war als das rechte.
Sie warteten in Freising beinahe zwölf Monate auf Tams Genesung und dann auf eine geeignete Karawane.
Obwohl er die Ostfranken niemals lieben lernte, kam Rob so weit, daß er die ostfränkischen Eigenschaften etwas milder beurteilte. Trotz seiner Unkenntnis der Landessprache waren die Kranken zu ihm gekommen, um sich behandeln zu lassen, nachdem sie gesehen hatten, mit welcher Sorgfalt und Hingabe er sein eigenes Kind pflegte. Er hörte nie auf, sich um Tams Bein zu bemühen, und obwohl der Knabe beim Gehen manchmal seinen linken Fuß ein wenig nachzog, gehörte er in London zu den lebhaftesten Kindern.
Die beiden Söhne fühlten sich in London wohler als ihre Mutter, denn sie konnte sich mit ihrer Umgebung nicht anfreunden. Sie fand das Wetter feucht und die Engländer kalt. Wenn sie auf den Markt ging, mußte sie sich davor hüten, in das lebhafte orientalische Feilschen zu verfallen, an das sie sich so sehr gewöhnt hatte. Die Leute waren hier im allgemeinen weniger freundlich, als sie erwartet hatte. Sogar Rob vermißte den blumigen Überschwang persischer Redegewandtheit. »Obwohl diese hübschen Schmeicheleien meist nicht ernst gemeint waren, waren sie doch sehr angenehm«, erinnerte er sich wehmütig. Den beiden kam London wie ein schwarzer Morast vor, in dem sie knöcheltief standen. Der Vergleich war nicht zufällig, denn die Stadt roch schlimmer als jeder Sumpf, den sie auf ihren Reisen gesehen hatten.
Als sie Konstantinopel erreicht hatten und Mary sich wieder inmitten einer mehrheitlich christlichen Bevölkerung befand, hatte sie sich von einer Kirche in die nächste gestürzt, aber das hatte jetzt seinen Reiz verloren. Sie fand Londons Kirchen angsteinflößend. Es gab in London viel mehr Kirchen als in Isfahan Moscheen, über hundert an der Zahl. Sie überragten alle anderen Gebäude - London war eine zwischen Kirchen erbaute Stadt -, und sie lärmten ständig mit einer dröhnenden Stimme, bei der Mary erzitterte. Für Mary symbolisierten die Glocken die Stadt. Und sie haßte diese vermaledeiten Glocken.
Der erste Mann, der aufgrund des neuen Schildes an ihre Tür klopfte, war kein Patient. Er war schmächtig, ging leicht gebückt und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen.
»Nicholas Hunne, Medicus«, stellte er sich vor, neigte seinen kahl werdenden Kopf zur Seite wie ein Spatz und wartete auf die Reaktion. »Von der Thames Street«, fügte er bedeutungsvoll hinzu. »Ich habe Euer Schild gesehen«, sagte Rob. Er lächelte. »Ihr ordiniert am anderen Ende der Thames Street, Master Hunne, und ich lasse mich jetzt hier nieder. Zwischen uns leben genügend leidende Londoner, um ein Dutzend fleißiger Ärzte zu beschäftigen.« Hunne schniefte. »Nicht so viel Kranke, als Ihr vielleicht annehmt. In London sind die Ärzte dicht gesät, und meiner Ansicht nach böte eine etwas abseits liegende Stadt bessere Möglichkeiten für einen Arzt, der gerade beginnt.«
Als er fragte, wo Master Cole ausgebildet worden sei, log Rob wie ein Teppichhändler und behauptete, er habe sechs Jahre lang im ostfränkischen Königreich studiert. »Und was werdet Ihr berechnen?« »Berechnen?«
»Ja. Honorare, Mann. Eure Behandlungskosten!« »Darüber habe ich eigentlich noch nicht nachgedacht.« »Das müßt Ihr aber sofort tun. Ich sage Euch, was hier üblich ist, denn es wäre unangebracht, wenn ein Neuankömmling die ortsansässigen Ärzte unterböte. Die Honorare sind je nach der Vermögenslage des Patienten verschieden - natürlich gibt es keine Grenze nach oben. Doch dürft Ihr nie weniger als vierzig Pence für eine Venenöffnung verlangen, denn der Aderlaß ist die Haupteinnahmequelle unseres Gewerbes, und auch nicht weniger als sechsunddreißig Pence für eine Harnuntersuchung.«
Rob wurde nachdenklich, denn diese Honorare lagen skrupellos hoch. »Ihr sollt Euch nicht um das Gesindel kümmern, das an den Enden der Thames Street wohnt. Die haben ihre Baderchirurgen. Es wird auch nicht von Erfolg gekrönt sein, sich dem Adel anzubieten, denn der wird von einigen wenigen Ärzten betreut: Dryfield, Hudson, Simpson und diese Leute. Aber die Thames Street bietet eine große Auswahl an reichen Kaufleuten. Ich habe mir angewöhnt, die Bezahlung zu verlangen, bevor ich mit der Behandlung beginne, da ist die Angst der Kranken am größten.« Er warf Rob einen listigen Blick zu. »Unsere Konkurrenz kann durchaus ihre guten Seiten haben, denn ich habe festgestellt, daß es Eindruck macht, wenn ich einen zweiten Medicus hinzuziehe, falls der betreffende Patient wohlhabend ist. Wir könnten einander häufig und einträglich unter die Arme greifen, wie?«
Rob ging zur Tür, um ihn hinauszubegleiten. »Ich ziehe es meist vor, allein zu arbeiten«, entgegnete er kalt.
Der andere wurde rot, denn die Ablehnung war unmißverständlich. »Dann könnt Ihr zufrieden sein, Master Cole.
Ich werde Eure Ansichten verbreiten, und kein anderer Medicus wird in Eure Rufweite kommen.« Er nickte kurz und verschwand.
Es kamen Kranke, aber nicht allzu viele.
Das ist zu erwarten gewesen, sagte sich Rob. Ich bin ein neuer Fisch in einem fremden Meer, und es wird Zeit erfordern, bis ich mich eingeführt habe. Besser, man wartet, als man bedient sich der schmutzigen Praktiken von Leuten vom Schlag eines Hunne. Inzwischen lebte er sich ein. Er besuchte mit seiner Frau und seinen Kindern die Familiengräber, und die kleinen Jungen spielten zwischen den Grabsteinen auf dem St.-Botolphs-Friedhof.
Er fand auf dem Cornhill eine Taverne, die ihm zusagte. Sie hieß »The Fox« und war ein Wirtshaus von der Art, bei der sein Vater Zuflucht gesucht hätte, als Rob noch ein Junge war. Dort mied er das Metheglin und trank nur braunes Ale. Einmal entdeckte er einen Bauunternehmer namens George Markham, der mit Robs Vater Mitglied der Zimmermannszunft gewesen war.
Rob erzählte den Leuten im »The Fox«, daß er sich jahrelang im Ausland aufgehalten und im ostfränkischen Königreich Medizin studiert habe.
Von Markham und anderen Gästen des »Fox« erfuhr Rob, was mit Englands Herrschergeschlecht geschehen war. Einen Teil der Geschichte hatte er ja schon von Bostock in Isfahan gehört. Jetzt vernahm er, daß sich Knuts Nachfolger Harold Harefoot als schwacher König erwiesen hatte. Harold hatte sich rasch zu Tode gegessen und getrunken, und Harthacnut, einer seiner Halbbrüder, war ihm nach der Rückkehr von einem Krieg in Dänemark auf dem Thron gefolgt. Harthacnut hatte nur zwei Jahre regiert, als er eines Tages bei einer Hochzeitsfeier tot umfiel, und so war endlich Edward an der Reihe gewesen. Inzwischen hatte dieser Godwins Tochter geheiratet, und auch er wurde von dem sächsischen Grafen beherrscht. Aber das Volk mochte ihn.
»Edward ist ein guter König«, versicherte George Mark-ham. »Er hat eine gehörige Flotte von schwarzen Schiffen gebaut.« Rob nickte. »Ich habe sie gesehen. Sind sie schnell?« »Schnell genug, um die Meeresstraßen von Seeräubern freizuhalten.« Die königlichen Geschichten, die mit Winshaustratsch und Erinnerungen ausgeschmückt wurden, sorgten für durstige Kehlen. Diese wollten geschmiert sein, und sie verlangten auch nach vielen Trinksprüchen auf die toten königlichen Brüder und vor allem auf den noch lebenden Edward, den Monarchen des Reiches. So vergaß Rob an etlichen Abenden, daß er keinen Alkohol vertrug, und er schwankte vom »Fox« zu dem Haus in der Thames Street. Mary fiel dann die undankbare Aufgabe zu, einen mürrischen Trunkenbold zu entkleiden und zu Bett zu bringen. Der traurige Zug in ihrem Gesicht vertiefte sich.
»Liebster, laß uns von hier wegziehen«, bat sie ihn eines Tages. »Warum? Wohin sollen wir denn gehen?«
»Wir könnten in Kilmarnock leben. Dort liegt mein Besitz, und dort leben meine Verwandten, die sich freuen würden, meinen Mann und meine Söhne kennenzulernen.« »Wir müssen es mit London noch einmal probieren.«
Er war kein Narr und gelobte sich, enthaltsamer zu sein, wenn er »The Fox« aufsuchte, und auch weniger oft hinzugehen. Er verschwieg ihr aber, daß ihn mit London eine Vision verband, die Stadt war für ihn viel mehr als nur eine Gelegenheit, als »Blutegel« zu leben. Er hatte in Persien Erfahrungen gesammelt, die nun sein Eigentum waren, ein Wissen, das hier nicht bekannt war. Er sehnte sich nach dem Austausch medizinischer Erkenntnisse, den es in Isfa-han gegeben hatte. Dazu brauchte er aber ein Krankenhaus, und London schien ihm ein ausgezeichneter Standort für eine Einrichtung wie den maristan zu sein.
In diesem Jahr ging der lange, winterlich kalte Frühling in einen feuchten Sommer über. Jeden Morgen verbarg dichter Nebel das Hafenviertel. An den Tagen, an denen es nicht regnete, durchbrach am Vormittag die Sonne die graue Düsternis, und die Stadt erwachte sofort zu neuem Leben. Diesen Augenblick der Wiederkehr der Sonne nutzte Rob am liebsten zu einem Spaziergang, und an einem besonders freundlichen Tag löste sich der Nebel auf, als er an einem Handelskai vorbeikam, auf dem eine große Zahl Leibeigener Eisenbarren zur Verschiffung aufstapelte.
Der Fahrer eines Rollwagens trieb seine schmutzigen Schimmel zu weit und zu schnell rückwärts, so daß der schwere Wagen drohend gegen den Stapel prallte. Der oberste Eisenbarren setzte sich klirrend in Bewegung, hing einen Augenblick über dem Rand und glitt dann, gefolgt von zwei weiteren, herunter.
Jemand schrie warnend, die Leute stoben hastig auseinander, aber zwei Leibeigene wurden von anderen Menschen behindert. Sie stürzten, und ein Barren fiel mit seinem vollen Gewicht auf einen von ihnen, so daß er auf der Stelle tot war.
Das Ende eines anderen Barrens traf den rechten Unterschenkel des zweiten Mannes, und auf seinen Aufschrei hin griff Rob ein. »Hier, hebt den Barren herunter! Schnell und vorsichtig!« befahl er, und ein halbes Dutzend Leibeigener schafften den Eisenbarren weg. Der Verletzte schrie nicht mehr, als man ihn wegtrug, denn er hatte das Bewußtsein verloren. Das war auch besser so: Sein Fuß und Knöchel waren entsetzlich verstümmelt, und Rob sah keine Möglichkeit, die Gliedmaßen wiederherzustellen. Er schickte einen Leibeigenen in die Thames Street, damit er seine chirurgischen Instrumente von Mary holte. Während der Verwundete bewußtlos am Boden lag, machte er einen Einschnitt oberhalb der Verletzung und begann, die Haut abzuheben. Er stellte einen Lappen her, und dann durchtrennte er das Fleisch und den Muskel. »Was zum Teufel treibt Ihr da?«
Er blickte auf und bemühte sich, keine Miene zu verziehen, denn neben ihm stand ein Mann, den er zuletzt als Jesse ben Benjamin in seinem Haus in Persien gesehen hatte. »Ich behandle einen Mann.« »Aber es heißt, Ihr seid ein Medicus.« »Das ist richtig.«
»Ich bin Charles Bostock, Kaufmann und Importeur, Besitzer dieses Lagerhauses und dieses Docks. Und ich bin nicht so verrückt, verdämmt noch mal, daß ich einen Medicus zu einem Leibeigenen körn-men lasse!«
Rob zuckte mit den Achseln. Die Instrumente wurden gebracht, und er machte sich zur Amputation bereit. Er nahm die Knochensäge, schnitt den zerquetschten Fuß ab und nähte den Hautlappen sorgfältig über den Stumpf, aus dem Blut sickerte, so wie al-Juzjani es von ihm verlangt hätte.
Bostock war noch immer da. »Ihr habt meine Worte wohl nicht verstanden«, begann er wieder. »Ich bezahle Euch nichts. Ihr bekommt keinen halben Penny von mir.«
Rob nickte. Er klopfte dem Leibeigenen mit zwei Fingern leicht auf die Wange, und der Mann stöhnte auf. »Wer seid Ihr?«
»Robert Cole, Medicus aus der Thames Street.« »Kennen wir einander, Master?« »Meines Wissens nicht, Master Kaufmann.«
Er sammelte seine Instrumente ein, nickte und entfernte sich. Am Ende des Docks warf er einen Blick zurück.
Bostock sah Rob starr und zutiefst verdutzt nach, während dieser sich entfernte.
Er sagte sich, daß Bostock in Isfahan einen Juden mit Turban, buschigem Bart und in persischer Kleidung kennengelernt hatte: den orientalischen Jesse ben Benjamin. Und auf dem Dock hatte der Kaufmann mit Robert Jeremy Cole, einem freien Londoner Bürger in alltäglicher englischer Kleidung gesprochen, dessen Gesicht durch den kurzgeschnittenen Spitzbart gewiß verändert war.
Es war möglich, daß Bostock sich überhaupt nicht mehr an ihn erinnerte; und ebensogut war möglich, daß dies doch der Fall war. Rob kaute an der Frage herum wie ein Hund auf einem Knochen. Er hatte nicht so sehr Angst um seine Person - obwohl er natürlich Angst hatte —, sondern machte sich Sorgen um die Zukunft seiner Frau und der Kinder, falls er wirklich Schwierigkeiten bekommen sollte. Und als Mary an diesem Abend wieder von Kilmarnock sprach, wurde ihm allmählich klar, was geschehen mußte.
»Ich würde liebend gern dorthin übersiedeln«, gestand sie. »Ich sehne mich danach, über eigenen Grund und Boden zu gehen und wieder unter Schotten und Verwandten zu leben.«
»Es gibt einige Angelegenheiten, die ich hier erledigen muß«, antwortete er langsam. Er ergriff ihre Hände.
»Aber ich glaube, daß ihr, du und die Kinder, ohne mich nach Kilmarnock fahren solltet.« «Ohne dich?« »Ja.«
Sie rührte sich nicht. Die Blässe ließ ihre hohen Backenknochen noch stärker hervortreten und warf Schatten in ihr schmales Gesicht, so daß ihre Augen größer schienen, während sie ihn betrachtete. Ihre sensiblen Mundwinkel, die immer ihre Gefühle verrieten, sagten ihm, wie unmöglich ihr dieser Vorschlag vorkam.
»Wenn du es unbedingt willst, werden wir fahren«, erklärte sie ruhig. In den nächsten Tagen überlegte er sich alles noch ein dutzendmal. Doch schrie niemand empört auf oder schlug Alarm. Es kamen auch keine Bewaffneten, um ihn zu verhaften. Er war Bostock zwar offenbar bekannt vorgekommen, der Kaufmann hatte ihn aber nicht als Jesse ben Benjamin erkannt. Fahre nicht! hätte er am liebsten zu Mary gesagt. Mehrmals war er beinahe soweit, doch immer hielt ihn etwas davon ab. Er trug die schwere Last der Angst mit sich herum, und es konnte nicht schaden, wenn sie und die Jungen eine Zeitlang in einem anderen Ort in Sicherheit waren.
Also sprachen sie wieder darüber. »Wenn du uns zum Hafen Dunbar
bringen könntest«, meinte sie.
»Warum nach Dunbar?«
»Die MacPhees leben dort, Verwandte der Cullens. Sie werden dafür sorgen, daß wir sicher in Kilmarnock ankommen.«
Dunbar, das war kein Problem. Im »The Fox« hörte Rob von einem Lastboot, das in Dunbar anlegte. Es hieß
»Aelfgifu« nach Harold Harefoots Mutter, und sein Kapitän war ein grauhaariger Däne, der sich freute, für drei Passagiere, die nicht viel essen würden, eine Menge Geld zu bekommen.
Die »Aelfgifu* würde in nicht einmal zwei Wochen auslaufen, deshalb mußte man eilig Vorbereitungen treffen, die Kleidung ausbessern, entscheiden, was mitgenommen wurde und was nicht. Plötzlich waren es nur noch wenige Tage bis zum Abschied.
»Ich folge euch nach Kilmarnock, sobald ich kann.«
»Wirklich?« fragte sie.
»Selbstverständlich.«
Am Abend vor der Abreise kam sie wieder darauf zurück. »Wenn du nicht kommen kannst...»
»Ich werde kommen.«
»Aber... wenn du doch nicht kommen kannst. Wenn das Schicksal uns irgendwie trennt, dann sollst du wissen, daß meine Verwandten die Jungen zu rechtschaffenen Männern erziehen werden.«
Sie berührten einander zart an allen vertrauten Körperstellen, wie zwei Blinde, die mit ihren Händen die Erinnerung festhaken wollen. Es war eine traurige Zärtlichkeit, als wäre es das letzte Mal. Danach weinte sie lautlos, und er hielt sie wonlos in seinen Armen. Es gab so vieles, was er sagen wollte, aber es fehlten ihm die Worte.
Im Morgengrauen brachte er die drei an Bord der »Aelfgifu«. Sie war nur sechzig Fuß lang und besaß ein offenes Deck. Der Mast war dreißig Fuß hoch, und das Segel war groß und quadratisch. Der Rumpf war aus dicken, überlappenden Eichenplanken gezimmert. Dank der schwarzen Schiffe des Königs würden die Seeräuber draußen auf offener See bleiben, und die »Aelfgifu« würde sich dicht an der Küste halten, um Fracht abzuliefern oder aufzunehmen, und beim ersten Anzeichen eines Sturms einen Hafen anlaufen. Es war die sicherste Form einer Reise zu Schiff.
Rob stand auf dem Dock. Marys Gesicht war unerschütterlich; sie hatte sich für die feindselige Welt gerüstet. Sie beugte sich hinunter und sagte etwas zu Rob James, als das Segel gehißt wurde. »Leb wohl, Pa!« schrie die dünne Stimme gehorsam, aber deutlich. »Gott sei mit euch!« rief Rob.
Am 9. November desselben Jahres wurde eine Frau namens Julia Swane zum Hauptgesprächsthema Londons, da sie als Hexe verhaftet wurde. Man warf ihr vor, ihre sechzehnjährige Tochter Glynna in ein fliegendes Pferd verwandelt und sie dann so brutal geritten zu haben, daß das Mädchen für immer verstümmelt blieb. »Wenn das wahr ist«, empörte sich Robs Hausherr Peter Lound, »ist es ein abscheuliches,
| verruchtes Verbrechen. Seinem eigenen Fleisch und Blut so etwas anzutun!«
Rob fehlten seine Kinder und ihre Mutter schmerzlich. Der erste Meeressturm kündigte sich über vier Wochen nach ihrer Abreise an. Doch zu diesem Zeitpunkt mußten sie längst in Dunbar gelandet sein. Er betete, daß sie, wo immer sie sich auch aufhalten mochten, an einem sicheren Ort das Abflauen der Stürme abwarten konnten.
Er wurde wieder zu einem einsamen Wanderer, der alle Viertel von London, die er von früher kannte, und die neuen Sehenswürdigkeiten, die seither entstanden waren, besuchte. Als er vor dem Schloß des Königs stand, das ihm einst als die Verkörperung königlicher Prachtentfaltung erschienen war, staunte er über den Unterschied zwischen dessen englischer Schlichtheit und der erhabenen Pracht des Hauses des Paradieses. König Edward hielt sich meist im Schloß von Winchester auf, doch eines Morgens wandelte er schweigend, nachdenklich und in sich gekehrt zwischen seinen Leibwächtern und Gefolgsleuten umher.
Vom Michaelitag an war dieser Herbst kalt, und es wehte ein scharfer Wind. Dann kam der warme und regnerische Winter. Rob dachte oft an seine Lieben und hätte gern gewußt, wann sie in Kilmarnock eingetroffen waren. Aus Einsamkeit verbrachte er so manchen Abend im »Fox«, versuchte aber, beim Trinken Maß zu halten, denn er wollte nicht in eine Rauferei verwickelt werden wie in seiner Jugend. Zur Adventszeit wurde ihm das Herz schwer, denn Weihnachten war ein Fest, das traditionellerweise im Kreise der Familie verbracht wurde.
Am Weihnachtstag nahm er seine Mahlzeit im »Fox« ein: Schweinssülze und eine Hammelpastete, die er mit einer gewaltigen Menge Met hinunterspülte. Auf dem Heimweg stieß er auf zwei Seeleute, die auf einen Mann einschlugen, dessen Lederhut im Straßenkot lag. Rob sah, daß er auch einen schwarzen Kaftan trug. Einer der Seeleute hielt die Arme des Juden hinter seinem Rücken fest, während der andere ihm Faustschläge versetzte, die jedesmal, wenn sie trafen, gräßlich klangen. »Aufhören, verdammte Kerle!«
Der Schläger unterbrach seine Beschäftigung. »Verschwindet, Master, solange ihr könnt!« »Was hat er getan?«
»Ein Verbrechen, das vor tausend Jahren verübt wurde, und jetzt schicken wir den stinkenden französischen Hebräer tot in die Nor-mandie zurück.« »Laßt ihn in Frieden!«
»Ihr liebt ihn wohl, dann wollen wir zuschauen, wie Ihr an seinem Schwanz lutscht.«
Der Alkohol erfüllte Rob immer mit wilder Aggression, und er war zum Kampf bereit. Seine Faust schmetterte in das plumpe, häßliche Gesicht. Der Komplize ließ den Juden los und rannte davon, während der Seemann, den Rob niedergeschlagen hatte, sich aufrappelte. »Bastard! Du wirst das Blut des Erlösers aus dem Becher dieses verdammten Juden trinken!«
Rob verfolgte sie nicht. Der Jude, ein großer Mann mittleren Alters, atmete schwer. Seine Nase blutete, und seine Lippen waren aufgeplatzt, aber er schien eher wegen der Demütigung als wegen der Schmerzen zu weinen.
»Hallo, was geht da vor?« fragte ein Neuankömmling, ein Mann mit krausem rotem Haar, einem Bart und einer großen, von bläulichen Adern durchzogenen Nase.
»Nichts Besonderes. Dieser Mann wurde überfallen.« »Hm. Seid Ihr sicher, daß nicht er der Angreifer war?«
»Ja.«
Der Jude hatte sich gefaßt und seine Stimme wiedergefunden. Es war klar, daß er seine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen wollte, aber er sprach in fließendem Französisch.
»Versteht Ihr diese Sprache?« fragte Rob den Rothaarigen, der verächtlich den Kopf schüttelte. Rob wollte mit dem Juden Hebräisch sprechen und ihm ein friedliches Lichterfest wünschen, wagte dies aber in Gegenwart eines Zeugen nicht. Dann hob der Jude seinen Hut auf. Er und der Zuschauer entfernten sich.
Ich bin nicht ohne Frau und Kinder hiergeblieben, um ein Trunkenbold zu werden, nahm er sich am nächsten Tag ernstlich vor, als sein Kopf wieder klar war. Er war entschlossen, sich um die Heilkunst zu kümmern, und suchte den Laden eines Kräuterhändlers an der unteren Thames Street auf, um seinen Vorrat an Arzneimitteln aufzufüllen, denn es war in London leichter, gewisse Krauter zu erstehen, als sie in der freien Natur zu suchen. Er kannte den Besitzer schon, einen gewissen Rolf Pollard, der ein tüchtiger Apotheker war. »Wie soll ich es anfangen, um Anschluß an andere Ärzte zu finden?« fragte ihn Rob.
»Ich würde das Lyceum vorschlagen, Master Cole. Dort halten die Ärzte der Stadt regelmäßig ein Treffen ab. Ich kenne die Einzelheiten nicht, aber Master Rufus kann Euch bestimmt Auskunft geben.« Er deutete auf einen Mann am anderen Ende des Raumes, der an einem Zweig von getrocknetem Portulak roch, um dessen Aroma zu prüfen. Pollard führte Rob zu ihm und stellte ihn als Aubrey Rufus, Medicus in der Fenchurch Street, vor. »Ich habe Master Cole vom Lyceum der Ärzte erzählt«, sagte er, »konnte mich aber an keine Einzelheiten erinnern.«
Rufus, ein gesetzter Mann, der etwa zehn Jahre älter war als Rob, strich sich mit der Hand durch sein schütter werdendes Haar und nickte recht freundlich. »Es wird an jedem ersten Montag des Monats zur Zeit des Abendessens im Raum über der >Illingsworth's Tavern< auf dem Cornhill abgehalten. Es dient uns hauptsächlich als Vorwand, um zu schlemmen. Jeder bezahlt für sein Essen und Trinken selbst.«
»Muß man eingeladen sein?«
»Keineswegs. Das Lyceum steht allen Londoner Ärzten offen. Aber wenn Euch eine Einladung lieber ist, lade ich Euch hiermit ein.« Rob dankte Rufus lächelnd und verabschiedete sich. So begab er sich also am ersten Montag des nassen neuen Jahres in »Illingworth's Tavern«, wo er zahlreiche Ärzte antraf. Sie saßen an Tischen, unterhielten sich lächelnd, hatten Getränke vor sich stehen, und als er eintrat, blickten sie ihn mit der verstohlenen Neugierde an, die eine Gruppe immer einem Neuankömmling entgegenbringt. Der erste, den er erkannte, war Hunne, der die Stirn runzelte, als er Robs ansichtig wurde, und seinen Kollegen etwas zuraunte.
Aber Aubrey Rufus saß an einem anderen Tisch und bedeutete Rob, sich zu ihm zu setzen. Er stellte ihm die vier anderen Tischgenossen vor und erwähnte, daß Rob erst vor kurzem in die Stadt gekommen sei und sich in der Thames Street niedergelassen habe. »Bei wem habt Ihr studiert?« fragte ein Mann namens Brace. »Ich war bei einem Medicus namens Heppmann in der ostfränkischen
Stadt Freising tätig.« Als Tarn in Freising krank darniederlag, hatte ihr Wirt Heppmann geheißen. »Und wie lang hat die Ausbildung gedauert?« »Sechs Jahre.«
Nach der Mahlzeit stellte sich heraus, daß Brace an diesem Abend der Vortragende war. Er sprach über das Schröpfen und ermähnte seine Kollegen, das Schröpfglas hinreichend zu erwärmen, weil die Wärme im Glas das schlechte Blut an die Hautoberfläche ziehe, wo es durch Aderlassen abgezapft werden könne.
»Die Patienten müssen davon überzeugt sein, daß das wiederholte Schröpfen und Aderlassen Heilung bringt, so daß sie Euren Optimismus teilen«, riet Brace.
Der Vortrag war schlecht vorbereitet, und Rob wurde aus der anschließenden Diskussion klar, daß der Bader ihm, als er elf Jahre alt gewesen war, über Aderlassen und Schröpfen mehr beigebracht hatte, als die meisten dieser Ärzte wußten.
So wurde das Lyceum rasch zu einer Enttäuschung. Die Teilnehmer schienen nur an Honorare zu denken. Rufus zog den Vorsitzenden, einen königlichen Arzt namens Dryfield, sogar neiderfüllt auf, weil dieser jedes Jahr ein Gehalt und ein neues Gewand erhielt. »Man kann für ein Gehalt heilen, ohne dem König zu dienen«, warf Rob ein. Nun wurden sie aufmerksam. »Wie ist das möglich?« fragte Dryfield. »Ein Medicus kann für ein Krankenhaus arbeiten, für ein Haus des Heilens, das den Kranken und der Erforschung der Krankheiten gewidmet ist.«
Manche blickten ihn verständnislos an, aber Dryfield nickte. »Eine Idee aus dem Orient, die langsam an Boden gewinnt. Man hört von einem neuen Krankenhaus in Salerno, und das Hotel Dieu in Paris besteht schon lange.
Aber ich muß Euch warnen: Die Menschen werden ins Hotel Dieu eingeliefert, um zu sterben, und sie werden dort vergessen; es ist ein höllischer Ort.«
»Krankenhäuser müssen nicht so sein wie das Hotel Dieu«, widersprach Rob, den es quälte, daß er ihnen nicht vom maristan erzählen
konnte.
Da mischte Hunne sich ein. »Vielleicht funktioniert dergleichen bei den ungewaschenen Völkern, aber englische Ärzte sind geistig unabhängiger und sollten ihre Geschäfte selbständig führen.«
»Die Medizin ist sicherlich mehr als ein Geschäft«, widersprach Rob sanft.
»Sie ist weniger als ein Geschäft«, konterte Hunne, »wenn die Honorare so niedrig sind wie jetzt und zudem ständig neue Windbeutel in London eintreffen. Wieso haltet Ihr sie für mehr als ein Geschäft?« »Sie ist eine Berufung, Master Hunne«, antwortete Rob, »so wie Geistliche von Gott für die Kirche berufen werden.« Brace meckerte. Doch der Vorsitzende hüstelte, denn er hatte genug von dem Streit. »Wer wird nächsten Monat den Vortrag halten?« fragte er.
Stille trat ein.
Rob wußte, daß es ein Fehler war, sich beim ersten Treffen anzubieten. Aber niemand meldete sich, und schließlich erklärte er: »Ich werde den Vortrag halten, wenn es Euch genehm ist.«
Dryfield zog die Augenbrauen hoch. »Und über welches Thema, Master?«
»Ich werde über die Seitenkrankheit sprechen.« »Über die Seitenkrankheit? Master... Crowe war doch Euer Name?« »Cole.«
»Master Cole, ein Vortrag über die Seitenkrankheit wäre ausgezeichnet«, strahlte der Vorsitzende.
Julia Swane, die als Hexe angeklagt war, gestand. Man hatte das ' Hexenmal im weichen, weißen Fleisch ihres Armes, dicht unterhalb der linken Schulter, gefunden. Ihre Tochter Glynna bezeugte, daß Julia sie festgehalten und gelacht habe, während sie von jemandem sexuell mißbraucht wurde, den sie für den Satan gehalten habe.
Mehrere Opfer beschuldigten Julia, gezaubert zu haben. Während die Hexe an einen Stuhl gefesselt wurde, um in die eisige Themse getaucht zu werden, entschloß sie sich, alles zu gestehen, und nun arbeitete sie mit den kirchlichen Fanatikern des Bösen zusammen, die sie eingehend über die Hexenkunst befragten.
Rob versuchte, nicht an die Hexe zu denken. Er kaufte eine etwas dicke graue Stute und stellte sie im ehemaligen Egglestan-Stall ein, der jetzt einem Mann namens Thorne gehörte. Die Stute war nicht mehr jung und nichts Besonderes, aber er wollte sie auch nicht für das Ball-und-Stock-Spiel benutzen. Er ritt auf ihr zu Patienten, wenn er
gerufen wurde, andere fanden den Weg zu seiner Tür. Es war die Jahreszeit für Krupp, und wenn er auch gern persische Arzneien wie Tamarinde, Granatäpfel und pulverisierte Feigen verwendet hätte, bereitete er Heiltränke aus den Krautern und Mitteln zu, die ihm zur Verfügung standen: in Rosenwasser eingeweichter Portulak zum Gurgeln für entzündete Kehlen, einen Aufguß aus getrockneten Veilchen zur Linderung von Kopfschmerzen und Fieber sowie Fichtenharz mit Honig, das gegen Schleim und Husten eingenommen wurde. Ein Mann, der sich Thomas Hood nannte, suchte ihn auf. Er hatte rötliches Kopf- und Barthaar, eine bläulich geäderte Nase und kam Rob bekannt vor. Plötzlich wurde ihm klar, daß dieser Mann der Zuschauer bei dem Vorfall mit dem Juden und den beiden Seeleuten gewesen war. Hood beklagte sich über unbestimmte Krankheitssymptome im Mund, hatte aber weder Pusteln noch Fieber, noch einen geröteten Hals, und er war auch viel zu vital, um krank zu sein. Er stellte statt dessen unaufhörlich persönliche Fragen: Bei wem Rob gelernt habe. Ob er allein wohne. Was, keine Frau, kein Kind? Wie lang er schon in London sei. Woher er gekommen sei. Selbst ein Blinder hätte bemerkt, daß das kein Patient, sondern ein Schnüffler war. Rob erzählte ihm nichts, verschrieb ihm ein starkes Abführmittel, das Hood bestimmt nicht nehmen würde, und begleitete ihn zur Tür, ohne auf seine weiteren Fragen einzugehen. Aber der Besuch beunruhigte ihn doch sehr. Wer hatte Hood geschickt? In wessen Auftrag erkundigte er sich? Und war es nur Zufall, daß er beobachtet hatte, wie Rob die beiden Seeleute vertrieben hatte?
Am nächsten Tag erhielt er auf einige seiner Fragen Antwort, als.er den Kräuterhändler aufsuchte, um Ingredienzien für seine Heilmittel zu kaufen, und dort Aubrey Rufus traf, der aus dem gleichen Grund gekommen war.
»Hunne hetzt gegen Euch, wo und wann er nur kann«, erzählte ihm Rufus. »Ihr seid ihm zu dreist. Er findet, daß Ihr wie ein Rüpel und ein Gauner ausseht, und er bezweifelt, daß Ihr überhaupt Medicus seid. Er will jedem, der nicht bei englischen Ärzten ausgebildet wurde, die Mitgliedschaft im Lyceum verwehren.« »Was ratet Ihr mir?«
»Ach, tut gar nichts«, meinte Rufus. »Er kann sich offensichtlich nicht damit abfinden, die Thames Street mit Euch teilen zu müssen. Wir alle
wissen, daß Hunne seinem eigenen Großvater für einen Penny die Eier abschneiden würde. Niemand wird sein Geschwätz beachten.« Etwas beruhigt kehrte Rob in das Haus in der Thames Street zurück. Er beschloß, die Zweifel der Kollegen mit Gelehrsamkeit auszuräumen, und machte sich deshalb daran, den Vortrag über die Seitenkrankheit auszuarbeiten, als würde er ihn in der madrassa halten. Immerhin war er von Ibn Sina ausgebildet worden, und er wollte diesen Londoner Ärzten zeigen, wie eine medizinische Vorlesung aussehen kann.
Natürlich waren sie interessiert, denn jeder im Lyceum Anwesende hatte Patienten sterben sehen, die unter heftigen Schmerzen im rechten Teil des Unterbauches gelitten hatten. Aber sie reagierten auch höhnisch.
»Ein kleiner Wurm?« meinte ein schielender Arzt namens Sargent. »Ein kleiner rosa Wurm im Bauch?«
»Ein wurmähnlicher Fortsatz, Master«, verbesserte Rob steif. »Mit dem Blinddarm verbunden. Und eiternd.«
»Glens Zeichnungen zeigen keinen wurmähnlichen Fortsatz am Blinddarm«, behauptete Dryfield. »Celsus, Rhazes, Aristoteles, Dioscuri-des - wer von diesen Größen hat über einen Fortsatz geschrieben?« »Keiner. Was nicht bedeutet, daß es ihn nicht gibt.« »Habt Ihr ein Schwein seziert, Master Cole?« fragte Hunne. »Ja.«
»Dann wißt Ihr, daß die Eingeweide eines Schweines die gleichen sind wie die eines Menschen. Habt Ihr am Blinddarm eines Schweines jemals einen Fortsatz bemerkt?«
»Es war ein Schweinewürstchen, Master!« rief ein Witzbold, worauf allgemeines Gelächter einsetzte.
»Das Innere eines Schweines gleicht scheinbar dem eines Menschen«, erklärte Rob geduldig, »aber es gibt kleine Unterschiede. Einer davon ist der kleine Fortsatz am menschlichen Dünndarm.« Er rollte seine Zeichnung
»Der durchsichtige Mann« auf und befestigte sie mit Eisenstiften an der Wand. »Davon spreche ich. Der Fortsatz ist hier in einem frühen Stadium der Entzündung dargestellt.«
»Angenommen, das Unterleibsleiden wird genau so verursacht, wie Ihr es beschrieben habt«, sagte ein Arzt mit starkem dänischen Akzent. »Welche Behandlung schlagt Ihr vor?«
»Ich kenne keine Behandlung.« Mißbilligendes Murren ertönte.
»Was spielt es dann überhaupt für eine Rolle, ob wir den Ursprung der Krankheit kennen oder nicht?« Andere stimmten zu, und in ihrem eifrigen Bestreben, sich gegen den Neuankömmling zu stellen, vergaßen die anderen sogar, wie sehr sie die Dänen haßten. »Die Entwicklung der Medizin ist wie das langsame Errichten einer Mauer«, dozierte Rob. »Wir können von Glück reden, wenn wir im Lauf eines Lebens imstande sind, einen einzigen Ziegel zu legen. Wenn wir die Krankheit erklären können, wird vielleicht ein jetzt noch Ungeborener ihre Behandlung ersinnen.« Neuerliches Murren.
Sie drängten sich um den »durchsichtigen Mann« und studierten ihn. »Das habt Ihr gezeichnet, Master Cole?«
fragte Dryfield, der die Signatur bemerkte. »Ja.«
»Eine ausgezeichnete Arbeit«, lobte der Vorsitzende. »Was für ein Modell habt Ihr gehabt?« »Einen Mann, dessen Bauch aufgerissen war.« »Dann habt Ihr nur einen einzigen solchen Fortsatz gesehen?« hakte Hunne ein.
»Und zweifellos hat die allmächtige Stimme, die Euch berufen hat, Euch auch mitgeteilt, daß es den kleinen rosa Wurm in den Eingeweiden aller Menschen gibt.«
Es gab wieder Gelächter, und Rob reagierte verärgert. »Ich glaube, daß es den wurmartigen Fortsatz am Blinddarm bei allen Menschen gibt. Ich habe ihn bei mehr als einem Menschen gefunden.« »Bei... sagen wir vier?«
»Bei nicht weniger als einem halben Dutzend.« Sie starrten nun statt der Zeichnung ihn an.
»Ein halbes Dutzend, Master Cole? Wie seid Ihr dazu gekommen, in das Körperinnere von sechs Menschen zu sehen?« »Einige waren bei Unfällen aufgeschlitzt worden, andere bei Kämpfen. Sie waren nicht alle meine Patienten, und die Erfahrung eignete ich mir im Lauf der Jahre an.« Es klang sogar für seine Ohren unwahrscheinlich.
»Waren auch Frauen darunter?« fragte Dryfield. »Darunter waren auch Frauen«, gab er zögernd zu.
»Hmmmph«, machte der Vorsitzende, womit er andeuten wollte, daß er Rob für einen Lügner hielt.
»Hatten sich die Frauen denn duelliert?« fragte Hunne aalglatt, und diesmal lachte sogar Rufus. »Es ist schon ein Zufall, daß Ihr auf diese Weise in das Innere so vieler Leichen blicken konntet«, stellte Hunne fest, und als Rob das widerliche, schadenfrohe Licht in seinen Augen glitzern sah, wurde ihm endgültig klar, welch ein Fehler es gewesen war,
sich freiwillig zu einem Vortrag im Lyceum zu melden.
Julia Swane entging der Themse nicht. Am letzten Tag des Februar hatten sich mehr als zweitausend Menschen bei Tagesanbruch versam-melt, um jubelnd zuzusehen, wie sie zusammen mit einem Hahn, einer Schlange und einem Stein in einen Sack eingenäht und in die Untiefe bei St. Giles versenkt wurde.
Rob wohnte dem Ereignis nicht bei. Statt dessen ging er zu Bostocks Kai, um nach dem Leibeigenen zu sehen, dessen Fuß er amputiert hatte. Aber der Mann war nicht zu finden, und ein unfreundlicher Aufseher teilte ihm nur mit, daß der Leibeigene an einen anderen Ort gebracht worden sei. Rob machte sich Sorgen, da er wußte, daß das Leben eines Leibeigenen von seiner Arbeitsfähigkeit abhing. Er sah ein anderes dieser bedauernswerten Geschöpfe, dessen Rücken kreuz und quer von Peitschenwunden bedeckt war, die sich scheinbar in den Körper fraßen. Rob ging nach Hause und bereitete eine Salbe aus Ziegenfett, Schweinefett, Öl, Weihrauch und Kupferoxyd, dann kehrte er zum Kai zurück und strich sie auf das entzündete Fleisch des Leibeigenen. »Was soll denn das, zum Teufel?«
Ein Aufseher ging auf sie los, und obwohl Rob mit'dem Auftragen der Salbe noch nicht ganz fertig war, floh der Leibeigene. »Das ist Master Bostocks Kai. Weiß er, daß Ihr Euch hier herumtreibt ?« »Das spielt keine Rolle.«
Der Aufseher starrte ihn an, folgte ihm aber nicht, und Rob war froh, daß er Bostocks Kai ohne weitere Unannehmlichkeiten verlassen konnte.
Es war die Jahreszeit, in der viele Abführmittel gebraucht wurden, denn es hatte den ganzen Winter hindurch kein Gemüse gegeben. Rob stellte einen Aufguß aus Rhabarber her, den er in einer Woche restlos verbrauchte.
Die Erfahrung im Lyceum hatte in seinem Mund den
bitteren Geschmack von Asche hinterlassen. Am Montag zwang er sich trotzdem, dem Märztreffen als ein Zuschauer beizuwohnen, der den Mund hielt. Aber die Würfel waren schon gefallen, und er stellte fest, daß sie ihn für einen albernen Aufschneider hielten, dessen Phantasie mit ihm durchgegangen war. Einige lächelten spöttisch, als sie ihn sahen, während andere ihn nur kalt anblickten. Aubrey Rufus fordene ihn nicht auf, sich zu ihm zu setzen, sondern schaute weg, als ihre Blicke sich begegneten, und Rob setzte sich an einen Tisch zu Fremden, die ihn nicht in ihr Gespräch einbezogen. Der Vortrag handelte von Brüchen des Armes, Unterarmes und der Rippen sowie von Luxationen der Kinnlade, der Schulter und des Ellbogens. Er enthielt so viele Fehler in der Behandlung und in der Darstellung, daß er Jalal-al-Din, den Knocheneinrichter, in helle Wut versetzt hätte. Rob aber schwieg.
Sobald der Sprecher geendet hatte, wandte sich das Gespräch dem Ertränken der Hexe zu.
»Es werden noch andere erwischt werden, merkt Euch meine Worte«, meinte Sargent, »denn Hexen üben ihre verwerflichen Künste nie allein aus. Wenn wir Körper von Kranken untersuchen, müssen wir uns bemühen, das Teufelsmal zu entdecken und zu melden.« »Wir müssen dafür sorgen, daß wir über jeden Tadel erhaben sind«, meinte Dryfield nachdenklich, »denn viele halten Ärzte für etwas Ähnliches wie Hexer. Angeblich kann der Hexer-Arzt Kranke dazu bringen, Schaum vor dem Mund zu bekommen und steif zu werden wie ein Toter.«
»Woran erkennt man einen Hexer?« fragte Hunne. »Sie sehen genauso aus wie gewöhnliche Männer«, antwortete Dryfield, »wenn auch manche behaupten, daß sie ihr Glied beschneiden wie Heiden.«
Robs Hodensack zog sich vor Furcht zusammen. Er verabschiedete sich so bald wie möglich und wußte, daß er nicht wiederkommen durfte, denn es war gefährlich, einen Ort aufzusuchen, an dem man sein Leben verwirken konnte, wenn ein Kollege einem beim Urinieren zusah.
Am nächsten Morgen erschien Thomas Hood, der rothaarige Schnüffler, mit zwei bewaffneten Gefährten im Haus in der Thames Street. »Was kann ich für Euch tun?« fragte Rob kühl.
lood lächelte. »Wir sind alle drei Boten des Bischöflichen Gerichtes.« »So?« fragte Rob, kannte aber die Antwort schon. Hood räusperte sich und spuckte auf den sauberen Fußboden. »Wir sind gekommen, um Euch zu verhaften, Robert Jeremy Cole, und Euch vor Gottes Gericht zu stellen«, verkündete er.
»Wohin bringt Ihr mich?« fragte Rob, als sie schon unterwegs waren. »Die Gerichtsverhandlung wird am Südportal von St. Paul abgehalten.«
»Wie lautet die Anklage?«
Hood hob die Schultern und schüttelte den Kopf. Als sie bei der St. Pauls-Kathedrale ankamen, wurde er in einen kleinen, mit Wartenden gefüllten Raum geführt. An der Tür standen Wächter.
Er dankte Gott, daß Mary und die Söhne nicht bei ihm waren. Er wollte um die Erlaubnis bitten, in der Kapelle zu beten, wußte aber, daß man sie ihm nicht erteilen würde, also betete er stumm, wo er war, und bat Gott, ihn davor zu bewahren, mit einem Hahn, einer Schlange und einem Stein in einen Sack eingenäht und in tiefes Wasser geworfen zu werden.
Wenn das Gericht sich bereits ein Urteil gebildet hatte, würden Zeugen keine Rolle mehr spielen. Sie würden ihn ausziehen und seine Beschneidung als Beweis ansehen, und sie würden seinen Körper absuchen, bis sie irgendein Hexenmal gefunden hatten. Zweifellos verfügten sie über ebenso viele Methoden, ein Geständnis zu erpressen, wie die mullahs. Lieber Gott...
Er hatte genügend Zeit, um in immer größere Angst zu geraten, denn es war schon früher Nachmittag, als er endlich vor das geistliche Gericht gerufen wurde. Auf dem Eichenthron saß ein blinzelnder ältlicher Bischof, der eine braune, ausgebleichte Alba, eine Stola und ein Meßgewand trug. Rob wußte aus den Gesprächen der anderen, daß dies Aelfsige, der Ordinarius von St. Paul und ein unbarmherziger Richter war. Rechts vorn Bischof saßen zwei Priester milderen Alters in Schwarz, und links von ihm ein junger Benediktiner in strengem Dunkelgrau.
Ein Büttel brachte die Heilige Schrift, Rob mußte sie küssen und feierlich schwören, daß er die reine Wahrheit sprechen werde. Das Verhör begann sachlich. Aelfsige blickte ihn an. »Wie heißt Ihr?« »Robert Jeremy Cole, Exzellenz.« »Wohnort und Beschäftigung?« »Medicus in der Thames Street.« Der Bischof nickte dem Priester zu seiner Rechten zu. »Habt Ihr am fünfundzwanzigsten Tag des vergangenen Dezember gemeinsam mit einem ausländischen Hebräer Master Edgar Burstan und Master William Smesson, freigeborene Londoner Christen des Pfarrbezirkes St. Olave, ohne Anlaß angegriffen?« Einen Moment lang war Rob verwirrt, dann überkam ihn gewaltige Erleichterung, als er erkannte, daß er nicht der Hexerei angeklagt wurde. Die Seeleute hatten ihn angezeigt, weil er dem Juden zu Hilfe gekommen war. Eine geringfügige Beschuldigung, selbst wenn er deshalb verurteilt werden sollte.
»Mit einem normannischen Juden namens David ben Aharon«, ergänzte der Bischof heftig blinzelnd. Seine Sehkraft schien sehr geschwächt zu sein.
»Ich habe den Namen des Juden noch nie gehört, ebensowenig die der Kläger. Aber die Seeleute haben die Unwahrheit ausgesagt. Sie waren es, die über den Juden hergefallen sind. Deshalb habe ich mich eingemischt.«
»Seid Ihr Christ?« »Ich bin getauft.«
»Ihr besucht regelmäßig den Gottesdienst?« »Nein, Exzellenz.«
Der Bischof schniefte und nickte ernst. »Holt den Zeugen!« befahl er dem grauen Mönch.
Robs Erleichterung verschwand sofort, als er den Zeugen erblickte. Charles Bostock war kostbar gekleidet und trug eine schwere goldene Halskette und einen großen Siegelring. Während der Aufnahme seiner Personalien teilte er dem Gericht mit, daß König Harthacnut ihn in
: den Adelsstand erhoben habe, als Belohnung für drei Reisen als Händler und Weltfahrer, und daß er ehrenamtlich Kanonikus von St. Peter sei. Die Kirchenleute behandelten ihn darauf mit Ehrerbietung.
»Nun, Master Bostock, kennt Ihr diesen Mann?« »Es ist Jesse ben Benjamin, ein Jude und Arzt«, antwortete Bostock entschieden.
Die kurzsichtigen Augen richteten sich auf den Kaufmann. »Ihr seid sicher, daß er Jude ist?«
»Exzellenz, vor vier oder fünf Jahren reiste ich im byzantinischen Patriarchat, kaufte Waren und diente als Bote Seiner gesegneten Heiligkeit in Rom. In der Stadt Isfahan hörte ich von einer Christin, die durch den Tod ihres schottischen Vaters in Persien allein und verlassen zurückgeblieben war und einen Juden geheiratet hatte. Als ich eine Einladung erhielt, suchte ich ihr Haus auf, um die Gerüchte zu überprüfen. Dort erkannte ich entsetzt und voll Abscheu, daß die Geschichten wahr waren. Sie war die Frau dieses Mannes.« Der Mönch ergriff zum ersten Mal das Wort. »Seid Ihr sicher, Hoch-wohlgeboren, daß es sich um denselben Mann handelt?« »Ich bin sicher, ehrwürdiger Pater. Er erschien vor einigen Wochen auf meinem Pier und versuchte, von mir ein hohes Honorar zu erhalten, weil er einen meiner Leibeigenen verpfuscht hatte, wofür ich natürlich die Bezahlung verweigerte.
Als ich sein Gesicht sah, wurde mir klar, daß ich ihn von irgendwoher kannte, und ich dachte darüber nach, bis ich mich erinnerte. Er ist der jüdische Arzt aus Isfahan, darüber besteht kein Zweifel. Ein Schänder christlicher Frauen. In Persien hatte die Christin bereits ein Kind von diesem Juden, und er hatte sie ein zweites Mal geschwängert.«
Der Bischof beugte sich vor. »Bei Eurem heiligen Eid, wie lautet Euer Name, Master?« »Roben Jeremy Cole.«
»Der Jude lügt«, sagte Bostock.
»Hochwohlgeboren«, fragte der Mönch. »Habt Ihr ihn in Persien nur ein einziges Mal gesehen?« »Ja, einmal«, gab Bostock widerwillig zu. »Und Ihr habt ihn fast fünf Jahre lang nicht wiedergesehen?« »Es sind eher vier als fünf Jahre. Aber das ist richtig.«
»Und dennoch seid Ihr sicher?« »Ja. Ich sage Euch, ich hege keinen Zweifel.«
Der Bischof nickte. »Sehr gut, Hochwohlgeboren Bostock. Seid unseres Dankes gewiß.«
Während der Kaufmann hinausgeführt wurde, blickten die Geistlichen Rob an, und er bemühte sich, die Ruhe zu bewahren. »Wenn Ihr ein frei geborener Christ seid, ist es dann nicht merkwürdig«, sagte der Bischof leise, »daß Ihr wegen zweier verschiedener Anklagen vor Gericht gestellt werdet: eine besagt, daß Ihr mit einem Juden andere angegriffen habt, die andere, daß Ihr Jude seid?« »Ich bin Robert Jeremy Cole. Ich wurde eine halbe Meile von hier in St. Botolph getauft. Das muß im Taufregister festgehalten sein. Mein Vater war Nathanael Cole, ein Geselle von der Zunft der Zimmerleute. Er liegt auf dem St. Botolphs-Friedhof begraben, ebenso meine Mutter Agnes, die zu Lebzeiten Näherin und Stickerin war.« Der Mönch wandte sich kalt an ihn. »Habt Ihr die Kirchenschule von St. Botolph besucht?« »Nur zwei Jahre lang.« »Wer unterrichtete dort die Heilige Schrift?«
Rob schloß die Augen und runzelte die Stirn. »Das war Pater... Philibert. Ja, Pater Philibert.«
Der Mönch blickte den Bischof fragend an, der mit den Achseln zuckte und den Kopf schüttelte. »Der Name Philibert ist mir nicht bekannt.« »Dann Latein. Wer lehrte Euch Latein?« »Bruder Hugolin.«
»Ja«, bestätigte der Bischof. »Bruder Hugolin unterrichtete Latein an der St. Botolphs-Schule. Ich erinnere mich gut an ihn.« Er zupfte an seiner Nase und blinzelte Rob kurzsichtig an. Schließlich seufzte er. »Wir werden natürlich das Taufregister überprüfen.« »Ihr werdet feststellen, daß es so ist, wie ich gesagt habe, Exzellenz.«
»Ich werde Euch gestatten, eidlich zu erklären, daß Ihr die Person seid, die Ihr zu sein behauptet. Ihr werdet angewiesen, in drei Wochen wieder vor diesem Gericht zu erscheinen. Euch müssen zwölf freie Männer als Eideshelfer begleiten, von denen jeder bereit ist zu schwören, daß Ihr Robert Jeremy Cole, Christ und frei geboren seid. Habt Ihr verstanden?« Rob nickte und wurde entlassen.
Minuten später stand er vor der Kathedrale und konnte kaum glauben, daß er ihren scharfen, bohrenden Fragen entronnen war. »Master Cole!« rief da jemand. Er drehte sich um und sah den Benediktiner, der hinter ihm herhastete.
»Wollt Ihr mich in ein Wirtshaus begleiten, Master? Ich würde gern mit Euch sprechen.« Was kommt jetzt, dachte Rob.
Aber er folgte dem Mann über die schlammige Straße in eine Taverne, wo sie sich in eine ruhige Ecke setzten.
Der Mönch stellte sich als Bruder Paulinus vor, und beide bestellten Ale. »Ich finde, daß die Verhandlung gut für Euch ausging.« Rob erwiderte nichts, und sein Schweigen veranlaßte den Mönch, die Stirn zu runzeln. »Hört mal, ein ehrlicher Mann kann doch leicht zwölf ehrliche Männer finden!«
»Ich wurde in der Pfarre St. Botolph geboren, habe sie aber als Junge verlassen, da ich als Gehilfe eines Baderchirurgen durch England zog. Es wird mir verdammt schwerfallen, zwölf Männer zu finden, rechtschaffen oder nicht, die sich an mich erinnern und bereit sind, nach London zu reisen, um es vor Gericht zu bestätigen.«
Bruder Paulinus nippte an seinem Ale. »Wenn Ihr nicht alle zwölf findet, ist die Rechtsfrage strittig. Dann wird man Euch Gelegenheit geben, Eure Unschuld durch ein Gottesurteil zu beweisen.« Das Ale schmeckte nach Verzweiflung. »Welche Gottesurteile gibt es?«
»Die Kirche bringt vier Gottesurteile zur Anwendung: kaltes Wasser, heißes Wasser, heißes Eisen und geweihtes Brot. Ich kann Euch verraten, daß Bischof Aelfsige das heiße Eisen bevorzugt. Man wird Euch geweihtes Wasser zu trinken geben und Euch geweihtes Wasser auf die Hand spritzen, die für das Gottesurteil verwendet werden soll. Ihr selbst wählt die Hand. Ihr werdet ein weißglühendes Eisen aus dem Feuer nehmen und es mit drei Schritten neun Fuß weit tragen. Dann werdet Ihr es fallen lassen und zum Altar laufen, wo die Hand eingehüllt und versiegelt wird. Nach drei Tagen wird die Hülle entfernt. Wenn Eure Hand unter der Umhüllung weiß und rein ist, werdet Ihr für unschuldig erklärt. Wenn die Hand nicht rein ist, werdet Ihr exkommuniziert und dem weltlichen Gericht überantwortet.«
Rob versuchte seine Gefühle zu verbergen, war aber vollkommen sicher, daß sein Gesicht blaß geworden war.
»Wenn Euer Gewissen nicht reiner ist als das der meisten Menschen, die von Frauen geboren wurden, müßt Ihr London verlassen«, sagte Bruder Paulinus trocken.
»Warum erzählt Ihr mir das alles? Und warum bietet Ihr mir Euren Rat an?«
Sie musterten einander. Rob war sicher, daß er diesen Mann zum erstenmal in seinem Leben gesehen hatte, als er an diesem Morgen St. Paul betrat.
»Ich weiß, daß Ihr Robert Jeremy Cole seid.« »Woher wißt Ihr es?«
»Bevor ich Bruder Paulinus in der heiligen Gemeinschaft des Benedik-tus wurde, hieß ich Cole. Ich bin mit ziemlicher Sicherheit dein Bruder.«
Rob war sofort bereit, ihm zu glauben. Er war seit zweiundzwanzig Jahren bereit gewesen, es zu glauben, und Jubel stieg in ihm auf, den er aber sofort unterdrückte, weil ihn etwas zur Vorsicht mahnte. Er hatte das Gefühl, daß etwas nicht stimmte. Er wollte schon aufstehen, doch der andere blieb sitzen und beobachtete ihn aufmerksam berechnend, so daß auch er wieder auf seinen Stuhl zurücksank. »Du bist älter, als der kleine Roger heute sein würde«, stellte er fest. »Samuel ist tot. Wußtest du das?« »Ja.«
»Du bist also... Jonathan oder...« »Nein, ich war William.« »William!«
Der Mönch beobachtete ihn weiter.
»Nach Pas Tod wurdest du von einem Priester namens Lovell aufgenommen.«
»Pater Ranald Lovell. Er brachte mich ins Kloster von St. Benedikt in Jarrow. Er hat nur noch vier Jahre gelebt, und dann wurde beschlossen, daß ich Laienbruder werden sollte.«
Bruder Paulinus erzählte kurz seine Geschichte. »Der Abt in Jarrow war Edmund, der der liebevolle Hüter meiner Jugend war. Er forderte mich heraus und formte mich mit dem Ergebnis, daß ich früh Novize, Mönch und Propst wurde. Ich war mehr als sein starker rechter Arm.
Er war abbas etpresbyter, widmete sich vollkommen und ununterbrochen dem Rezitieren des opus dei sowie dem Lernen, Lehren und Schreiben. Ich füngierte als der strenge Verwalter, als Edmunds Vogt. Als Propst war ich nicht beliebt.« Er lächelte säuerlich. »Als er vor zwei Jahren starb, wurde ich nicht zu seinem Nachfolger gewählt, aber der Erzbischof hatte Jarrow beobachtet und forderte mich auf, die Ordensgemeinschaft zu verlassen, die mir die Familie ersetzt hatte. Ich soll nun die Weihen erhalten und als Hilfsbischof von Worcester dienen.«
Ein merkwürdiges, liebloses Gespräch anläßlich eines solchen Wiedersehens, dachte Rob. Diese langweilige Schilderung seiner Berufslaufbahn mit dem unterschwelligen Eingeständnis von Erwartung und Ehrgeiz! »Dich erwartet große Verantwortung«, sagte er müde. Bruder Paulinus hob die Schultern. »Alles liegt bei Ihm.«
»Wenigstens muß ich jetzt nur noch elf Eideshelfer finden. Vielleicht wird der Bischof das Zeugnis meines Bruders als Ersatz für mehrere andere gelten lassen.«
Bruder Paulinus lächelte nicht. »Als ich deinen Namen in der Anklageschrift las, zog ich Erkundigungen ein. Mit etwas Aufmunterung könnte der Kaufmann Bostock interessante Einzelheiten bezeugen. Was ist, wenn man dich fragt, ob du dich als Jude ausgegeben hast, um der Kirche zum Trotz eine heidnische Akademie zu besuchen?«
Die Kellnerin der Taverne trat zu ihnen, und Rob schickte sie weg. »Dann würde ich antworten, daß Gott in Seiner Weisheit mir erlaubt hat, ein Heiler zu werden, weil Er Männer und Frauen nicht nur zum Leiden und Sterben geschaffen hat.«
»Gott besitzt eine gesalbte Armee, die auslegt, was Er mit dem Körper des Menschen und seiner Seele im Sinne hat. Weder Baderchirurgen noch von Heiden ausgebildete Ärzte sind gesalbt, und wir haben Kirchengesetze erlassen, um Frevlern wie dir Einhalt zu gebieten.« »Ihr macht es uns schwer. Zeitweise hemmt ihr den Fortschritt. Ich glaube aber nicht, Willum, daß ihr uns Einhalt gebieten könnt.« »Du wirst London verlassen.«
»Entspringt deine Besorgnis der brüderlichen Liebe oder der Angst, daß ein exkommunizierter Bruder, der als Heide hingerichtet wurde, den zukünftigen Hilfsbischof von Worcester in eine peinliche Lage bringen könnte?«
Einen endlosen Augenblick lang sprach keiner von beiden.
»Ich habe meine Geschwister mein Leben lang gesucht und immer davon geträumt, sie zu finden«, sagte Rob bitter.
»Wir sind keine Kinder mehr. Und Träume sind nicht Wirklichkeit«, stellte Bruder Paulinus fest.
Rob nickte. Er schob seinen Stuhl zurück. »Weißt du etwas von den anderen?«
»Nur von dem Mädchen.«
»Wo lebt sie?«
»Sie ist vor sechs Jahren gestorben.«
»Oh.« Rob stand schwerfällig auf. »Wo kann ich ihr Grab finden?«
»Es gibt kein Grab. Es war ein großer Brand.«
Rob nickte, dann verließ er das Wirtshaus, ohne einen Blick auf den grauen Mönch zurückzuwerfen.
Jetzt hatte er weniger Angst vor der Verhaftung als vor Mördern, die von einem mächtigen Mann gedungen würden, um jemand Lästigen aus dem Weg zu räumen. Er eilte zu Thornes Stall, bezahlte seine Rechnung und nahm sein Pferd mit. Im Haus in der Thames Street hielt er sich nur so lange auf, wie er brauchte, um die Habseligkeiten einzupacken, die ein wesentlicher Teil seines Lebens geworden waren. Er hatte genug davon, Orte in verzweifelter Eile zu verlassen und weite Strecken zu reisen, aber er hatte gelernt, schnell und umsichtig zu handeln.
Als Bruder Paulinus im Refektorium von St. Paul beim Abendessen saß, verließ sein leiblicher Bruder die Stadt London. Rob lenkte das schwerfällige Pferd über die schlammige Lincoln Road, die nach Norden führte. Furien jagten ihn, aber er entkam ihnen nie, weil er einige von ihnen in sich trug.
In der ersten Nacht schlief er weich in einem Heuhaufen neben der Straße.
Am Morgen war er hungrig. Er wollte aber nicht in einem Bauernhaus um eine Mahlzeit bitten, weil man sich gut an ihn erinnert hätte, falls jemand nach ihm gefragt hätte. Er ritt lieber den halben Vormittag mit leerem Magen, bis er zu einem Dorf kam, wo er auf dem Marktplatz Brot und Käse kaufen konnte, um seinen Hunger zu stillen und Vorräte mitzunehmen.
Während er ritt, brütete er vor sich hin. Es war schlimmer, einen solchen Bruder zu finden, als ihn nie zu finden, und er fühlte sich betrogen und zurückgewiesen. Aber er sagte sich, daß er um William getrauert hatte, als sie sich einst aus den Augen verloren, daß er aber froh sein würde, den Paulinus mit den eisigen Augen nie wieder zu Gesicht zu bekommen. »Geh zum Teufel, Hilfsbischof von Worcester!« rief er.
Wenn er verfolgt würde, würden sie ihn auf den Hauptstraßen suchen, deshalb bog er von der Lincoln Road ab und folgte den Uferstraßen, die die an der Küste liegenden Dörfer miteinander verbanden. Er war mehrmals mit dem Bader hiergewesen. Diesmal trommelte er nicht, auch gab er keine Vorstellung noch suchte er Patienten, weil er befürchtete, daß Nachforschungen nach einem flüchtigen Medicus im Gang waren. In keinem Dorf erkannte jemand den jungen Baderchirurgen von damals. Es wäre unmöglich gewesen, in diesen Orten Eideshelfer zu finden. Er wäre verloren gewesen und wußte, daß er sich glücklich schätzen konnte, daß ihm die Flucht gelungen war. Die Trostlosigkeit schwand langsam, als ihm klar wurde, daß das Leben ihm noch unendlich viele Möglichkeiten bot.
Rob ging sparsam mit seinem Geld um. Wann immer man es ihm erlaubte, schlief er in warmen Scheunen auf Stroh und ging den Menschen aus dem Weg, doch wenn es sich nicht vermeiden ließ, übernachtete er in Gasthöfen. Eines Abends sah er in einem Wirtshaus in der Hafenstadt Middlesborough, wie zwei Seeleute sich eine Unmenge Ale zu Gemüte führten. Einer von ihnen, ein untersetzter, breit gebauter Mann mit schwarzem, von einer Zipfelmütze halb verdecktem Haar, schlug auf den Tisch. »Wir brauchen noch einen Mann. Wir segeln die Küste entlang zum Hafen Eyemouth in Schottland und fischen unterwegs Heringe.
Gibt es denn hier keinen Mann dafür?«
Die Taverne war halb voll, aber es herrschte Stille. Einige kicherten, doch keiner rührte sich.
Soll ich es wagen? fragte sich Rob. Ich würde um soviel schneller vorankommen.
Er trat zu ihnen. »Ist es Euer Boot?«
»Ja, ich bin der Kapitän. Ich heiße Nee. Und er Aldus.«
»Ich bin Jonsson«, stellte sich Rob vor. Der Name war so gut wie jeder andere.
Nee blickte zu ihm auf. »Ein großer Kerl.« Er ergriff Robs Hand, drehte sie um und tippte verächtlich auf die weiche Handfläche.
»Ich kann arbeiten.«
»Wir werden ja sehen«, meinte Nee.
Rob schenkte das Pferd am selben Abend in der Taverne einem Fremden, denn er hatte am nächsten Morgen keine Zeit mehr, es zu verkaufen, und das Tier hätte ihm ohnehin nicht viel eingebracht. Als er das verwitterte Heringsboot sah, dachte er, daß es ebenso alt und so jämmerlich war wie das Pferd. Aber Nee und Aldus hatten den Winter gut genutzt. Die Fugen des Bootes waren ordentlich mit Werg gedichtet und geteert, es ritt leicht auf der Dünung.
Bald nachdem sie ausgelaufen waren, wurde Rob übel. Er beugte sich über Bord und erbrach, während die beiden Fischer fluchten und drohten, ihn ins Meer zu werfen. Er zwang sich, trotz der Übelkeit und des Brechreizes zu arbeiten. Nach einer Stunde warfen sie das Netz aus und schleppten es hinter sich her, während sie weitersegelten, und dann holten sie es zu dritt ein. Es war triefend naß und leer. Immer wieder warfen sie es aus und holten es ein, aber sie fingen nur wenige Fische darin, und Nee wurde reizbar und unangenehm. Rob war davon überzeugt, daß nur seine Größe sie davon abhielt, ihn zu
mißhandeln.
Das Abendessen bestand aus hartem Brot, Räucherfisch voller Gräten und Wasser, das nach Hering schmeckte.
Rob versuchte ein paar Bissen hinunterzuwürgen, erbrach sie aber sofort wieder. Zu allem Überfluß bekam Aldus Durchfall und benutzte den Abfalleimer, der zu einer Zumutung für Augen und Nase wurde. Jemanden, der lange in einem Krankenhaus gearbeitet hatte, ließ so etwas freilich kalt, und Rob entleerte den Eimer und spülte ihn mit Meerwasser, bis er sauber war. Vielleicht überraschte diese freiwillig übernommene Dreckarbeit die anderen beiden, denn von da an verwünschten sie ihn nicht mehr. In der Nacht fror er, und während das Boot in der Dunkelheit stampfte und gierte, kroch Rob immer wieder zum Rand des Bootes, bis er nichts mehr im Magen hatte, was er erbrechen konnte. Am Morgen begann die trostlose Routine wieder, aber als sie das Netz zum sechstenmal einholten, hatte sich etwas geändert. Als sie am Netz zogen, schien es sich verhängt zu haben. Langsam und mühevoll holten sie es ein, und endlich ergoß sich aus ihm ein silbriger, zappelnder Strom.
»Jetzt haben wir die Heringe gefunden!« frohlockte Nee. Dreimal kam das Netz voll herein, dann mit geringeren Mengen, und als sie keinen Platz mehr für die Fische hatten, steuerten sie vor dem Wind an Land.
Am nächsten Morgen wurde der Fang von Händlern übernommen, die ihn teils frisch, teils sonnengetrocknet oder geräuchert verkaufen wollten, und sobald das Boot ausgeladen war, stachen sie wieder in See.
Robs Hände bekamen Blasen, sie schmerzten, und schließlich wuchsen ihm Schwielen. Das Netz zerriß, und er lernte, wie man die Knoten richtig knüpfte, um es zu flicken. Am vierten Tag verschwand die unangenehme Übelkeit, ohne daß er es merkte. Sie kam auch nicht wieder. Das muß ich Tarn erzählen, dachte er dankbar, als es ihm klar wurde.
Jeden Tag segelten sie die Küste entlang weiter nach Norden und legten immer wieder an, um den letzten Fang zu verkaufen, bevor er verderben konnte. Manchmal sah Nee in den Mondnächten einen Schwärm von Fischen, die winzig waren wie Regentropfen und aus dem Wasser sprangen, um einem jagenden Heringsschwarm zu entkommen. Dann warfen sie das Netz aus und schleppten es den Mondscheinstreifen entlang, um anschließend das Geschenk des Meeres einzuholen. Nee lächelte oft und sagte zu Aldus, daß Jonsson ihnen Glück gebracht habe. Wenn sie jetzt am Abend in einen Hafen einliefen, spendierte Nee seiner Besatzung Ale und eine warme Mahlzeit, und sie blieben bis spät auf und sangen. Zu den neuen Kenntnissen, die Rob sich als Seemann erwarb, gehörten auch etliche unanständige Lieder. »Du würdest einen guten Fischer abgeben«, lobte ihn Nee. »Wir werden fünf, sechs Tage in Eyemouth bleiben und die Netze ausbessern. Dann kehren wir nach Middlesborough zurück, denn das ist unsere Strecke, wir pendeln zwischen Middlesborough und Eyemouth und fangen Heringe. Möchtest du nicht bei uns bleiben?« Rob dankte ihm herzlich, sagte aber, er müsse sie in Eyemouth verlassen.
Wenige Tage später kamen sie dort an, sie legten in dem überfüllten, hübschen Hafen an, und Nee zahlte Rob mit ein paar Münzen und einem Schlag auf den Rücken aus. Als Rob erwähnte, daß er ein Pferd brauche, führte ihn Nee durch die Stadt zu einem ehrlichen Händler, der ihm zwei seiner Pferde empfahl, eine Stute und einen Wallach. Die Stute war bei weitem hübscher. »Ich hatte einmal Glück mit einem Wallach«, sagte jedoch Rob und beschloß, es wieder mit einem Wallach zu versuchen. Dieser war kein Araber, sondern ein unansehnliches englisches Pferd mit kurzen, zotteligen Beinen und einer verfilzten Mähne. Er war zwei Jahre alt, kräftig und lebhaft. Rob befestigte seinen Packen hinter dem Sattel, schwang sich auf das Tier und verabschiedete sich von Nee. »Ich wünsche dir einen reichen Fang.« »Geh mit Gott, Jonsson«, sagte Nee.
Der drahtige Wallach bereitete Rob Freude. Er war leistungsfähiger, als er aussah, und Rob beschloß, ihn AI Borak zu nennen, nach dem Pferd, das dem muselmanischen Glauben zufolge Mohammed von der Erde in den siebten Himmel getragen hatte.
Solange es warm war, versuchte er jeden Nachmittag bei einem See oder einem Fluß eine Pause einzulegen und AI Borak zu baden. Er bearbeitete die verfilzte Mähne mit den Fingern und bedauerte, daß er keinen kräftigen Holzkamm besaß. Das Pferd war unermüdlich, und die Straßen waren trocken, weshalb sie rascher vorankamen.
Rob folgte fünf Tage lang dem Tweed, dann bog der Fluß nach Süden ab, während Rob sich nach Norden wandte. Hier gab es nur wenige, weit voneinander entfernte Bauernhöfe. Bei manchen handelte es sich um ausgedehnte Besitzungen, andere waren bescheidene Katen. Fast alle aber waren gut instand gehalten, und die schöne Ordnung, in der sie sich befanden, konnte nur durch harte Arbeit erreicht werden.
Es war ein Gebiet, das den Menschen zwar gefallen mochte, eigentlich aber für Schafe und Kühe bestimmt war.
Während die Hügelkuppen meist kahl waren, bestanden die unteren Hänge aus saftigem Weideland. Alle Schäfer hielten hier Hunde, die Rob bald fürchten lernte. Eine halbe Tagesreise hinter Cumnock bat er in einem Bauernhof um die Erlaubnis, in dieser Nacht im Heu schlafen zu dürfen, und er erfuhr, daß am vorhergehenden Tag ein Hund der Bauersfrau eine Brust abgerissen hatte.
»Gott sei gelobt!« flüsterte ihr Mann, als Rob erklärte, daß er Medicus sei.
Die Patientin war eine kräftige Frau mit erwachsenen Kindern und schien vor Schmerzen ganz außer sich zu sein. Es mußte sich um einen wilden Angriff gehandelt haben, denn sie sah aus, als wäre sie von einem Löwen gebissen worden. »Wo ist der Hund?«
»Den Hund gibt es nicht mehr«, knurrte der Mann grimmig. Sie zwangen die Frau, Kornschnaps zu trinken. Er nahm ihr zwar den Atem, half ihr aber, als Rob das zerrissene Fleisch zurechtstutzte und die Wunde nähte. Er nahm an, daß sie auch ohne ihn überlebt hätte, aber es ging ihr dank seiner Hilfe zweifellos besser. Er hätte sie einen oder zwei Tage beobachten müssen, blieb aber eine Woche, bis ihm eines Morgens klar wurde, daß er nicht weiterzog, weil Kilmarnock nahe war und er Angst davor hatte, am Ende seiner Reise anzulangen. Er sagte dem Mann, wohin er reisen wollte, und der Mann zeigte ihm den besten Weg.
Zwei Tage später dachte er wieder an die Wunden der Frau, als ein großer, knurrender Köter seinem Pferd den Weg versperrte. Er hatte schon halb sein Schwert gezogen, als das Tier zurückgerufen wurde.. Der Schäfer sagte auf gälisch etwas Unfreundliches zu Rob. »Ich verstehe Eure Sprache nicht.« »Ihr seid auf dem Besitz der Cullens.« »Hierher wollte ich.« »Ja? Warum denn?«
»Das werde ich Mary Cullen sagen.« Rob blickte ihn abschätzend an. Der Schäfer war noch jung, aber wettergegerbt, hatte graues Haar und war wachsam wie ein Hund. »Wer seid Ihr?«
Der Schotte erwiderte seinen Blick und wußte anscheinend nicht, ob er antworten solle. »Craig Cullen«, sagte er schließlich. »Ich heiße Cole. Robert Cole.«
Der Schäfer nickte und wirkte weder überrascht noch freundlich. »Am besten, Ihr folgt mir«, sagte er und setzte sich in Bewegung. Rob hatte nicht gesehen, ob der Schäfer dem Hund ein Zeichen gegeben hatte, aber das Tier blieb zurück und hielt sich dicht hinter dem Pferd, so daß er zwischen dem Mann und dem Hund ritt, wie ein Landstreicher, den sie in den Hügeln aufgestöbert hatten und ablieferten. Haus und Scheune waren aus Stein, vor langer Zeit fest gebaut. Kinder starrten ihn an und flüsterten, als er in den Hof ritt, und er brauchte einen Augenblick, bis er merkte, daß seine Söhne unter ihnen waren. Tarn sagte leise auf gälisch etwas zu seinem Bruder. »Was hat er gesagt?«
»Er hat gefragt: >Ist das unser Pa?< Und ich habe geantwortet: >Ja.<« Rob lächelte und wollte sie in die Höhe heben, doch sie kreischten und liefen mit den anderen Kindern davon, als er sich aus dem Sattel schwang. Tarn hinkte noch, konnte aber ohne Schwierigkeiten laufen. »Sie sind nur schüchtern. Sie werden zurückkommen«, sagte Mary von der Tür her. Sie hielt das Gesicht abgewendet und wollte seinem Blick nicht begegnen. Er dachte zuerst, sie freue sich nicht, ihn wiederzusehen. Dann aber flog sie in seine Arme, in denen sie sich so wohl fühlte. Hätte sie einen anderen Mann gehabt, hätte er schon im Scheunenhof merken müssen, woran er war.
Rob küßte sie und entdeckte, daß ihr ein Zahn fehlte, vorne rechts im Oberkiefer.
»Ich habe eine Kuh in den Stall bringen wollen und bin ausgeglitten und auf ihre Hörner gefallen.« Sie weinte.
»Ich bin alt und häßlich.« »Ich habe keinen verdammten Zahn geheiratet.« Sein Ton war rauh, aber er berührte die Zahnlücke sanft mit der Fingerspitze, und er spürte die feuchte, warme Geschmeidigkeit ihres Mundes, als sie an seinem Finger saugte. »Ich habe keinen verdammten Zahn in mein Bett genommen«, ergänzte er, und obwohl ihre Augen noch feucht schimmerten, lächelte sie.
»Komm in dein Weizenfeld!« forderte sie ihn auf. »Hinunter auf die Erde zu Mäusen und allerlei kriechendem Gewürm wie ein Bock, der ein Schaf bespringt.« Sie wischte sich die Augen ab. »Du wirst müde und hungrig sein«, lenkte sie ab und führte ihn in das Küchenhaus. Es war merkwürdig für ihn, daß sie hier so daheim waren.
Sie brachte ihm Haferkuchen und Milch, und er erzählte ihr von seinem Bruder, den er gefunden und verloren hatte, und von seiner Flucht aus London.
»Wie seltsam und traurig für dich... Wenn das nicht geschehen wäre, wärst du dann zu mir gekommen?«
»Früher oder später.« Sie lächelten einander immer noch an. »Es ist ein schönes Land«, stellte er fest. »Aber rauh.«
»Bei warmem Wetter ist es freundlicher. Ehe wir es merken, wird es Zeit zum Pflügen sein.«
Er konnte den Haferkuchen nicht mehr schlucken. »Es ist schon jetzt Zeit zum Pflügen.«
Sie errötete noch immer leicht, eine Eigenart, die sie nie ablegen würde. Während sie ihn zum Hauptgebäude führte, versuchten sie, einander umschlungen zu halten, aber das Ergebnis war, daß jeder über die Beine des anderen stolperte. Bald lachten sie so heftig, daß er befürchtete, es würde sie beim Lieben stören, doch es stellte sich schnell heraus, daß es kein Hindernis war.
Am nächsten Morgen zeigte sie ihm den riesigen, hügeligen Besitz, wobei jeder ein Kind vor sich im Sattel sitzen hatte. Überall gab es Schafe, die schwarze Gesichter, weiße Gesichter und braune Gesichter vom frischen Gras hoben, wenn die Pferde vorbeitrabten. Sie führte ihn weit herum und zeigte ihm alles voll Stolz. In der näheren Umgebung des großen Besitzes befanden sich siebenundzwanzig kleine Anwesen. »Alle Kleinbauern sind meine Verwandten.« »Wie viele Männer gibt es insgesamt?« »Einundvierzig.« »Deine ganze Sippe ist also hier versammelt?«
»Die Cullens sind hier. Die Tedders und die MacPhees sind auch mit uns verwandt. Die MacPhees leben einen halben Tagesritt von uns in den niedrigen Hügeln im Osten. Die Tedders leben einen Tagesritt im Norden von uns, jenseits der Schlucht und des großen Flusses.« »Wie viele Männer zählen die drei Familien?« »Vielleicht hundertfünfzig.«
Er schob die Lippen vor. »Du hast eine eigene Armee.« »Ja. Das ist beruhigend.«
Er hatte den Eindruck, daß es hier Schafe wie Sand am Meer gab. »Wir halten die Herden wegen der Wolle und der Häute. Das Fleisch verdirbt schnell, deshalb essen wir alles gleich auf. Du wirst bald genug vom Hammelfleisch haben.«
An diesem Morgen wurde er in den Familienbetrieb eingeführt. »Die Frühjahrsgeburten haben schon begonnen«, erzählte Mary, »und jeder von uns muß Tag und Nacht den Mutterschafen helfen. Die Lämmer für die Häute müssen zwischen dem dritten und dem zehnten Lebenstag getötet werden, weil die Felle da am schönsten sind.«
Sie überließ ihn Craig und verschwand. Nach einigen Stunden hatten ihn die Schäfer akzeptiert, denn er blieb auch bei den schwierigsten Geburten ruhig und wußte, wie man ein Messer schleift und damit umgeht.
Entsetzt war er darüber, wie sie neugeborene männliche Lämmer kastrierten. Sie bissen einfach die zarten Geschlechtsdrüsen ab und spuckten sie in einen Eimer. »Warum tut ihr das?« fragte er. Craig grinste ihn mit blutverschmiertem Mund an. »Man muß die Eier entfernen. Wir können nicht so viele Böcke brauchen.«
»Warum verwendet ihr kein Messer?«
»Es wurde schon immer auf diese Weise gemacht. Es geht am schnellsten und bereitet den Lämmern die wenigsten Schmerzen.« Rob ging zu seinem Packen, nahm ein Skalpell aus gemustertem Stahl heraus, und bald gaben Craig und die anderen Schäfer widerwillig zu, daß diese Methode auch recht gut funktionierte. Er verschwieg ihnen jedoch, daß er vor allem deshalb gelernt hatte, schnell und geschickt zu arbeiten, um Männern, die zu Eunuchen bestimmt waren, unnötige Schmerzen zu ersparen.
Er nahm schnell wahr, daß die Schäfer freie Männer waren, die über unentbehrliche Kenntnisse verfügten.
»Kein Wunder, daß du mich genommen hast«, scherzte er später. »Jeder andere Mann in diesem verdammten Land ist dein Verwandter.«
Sie lächelte müde, denn sie hatte den ganzen Tag Schafe abgehäutet. Der Raum stank nach Schafen, aber auch nach Blut und Fleisch, und das waren für ihn keine unangenehmen Gerüche, weil sie ihn an den maristan und die Krankenzelte in Indien erinnerten. »Jetzt bin ich hier, und du brauchst einen Schäfer weniger«, sagte er zu ihr, und ihr Lächeln verschwand. »Seht!« sagte sie scharf. »Bist du verrückt geworden?« Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn aus dem Abdeckraum zu einem aus Steinen errichteten Nebengebäude. Darin befanden sich drei weißgetünchte Räume. Einer war ein Apothekenraum. Einer war sichtlich als Untersuchungsraum eingerichtet worden, mit Tischen und Schränken wie in seinem Behandlungsraum in Isfahan. Im dritten Raum standen Holzbänke, auf denen die Patienten sitzen würden, während sie darauf warteten, daß der Medicus sie hereinrief.
Er fing an, die einzelnen Leute näher kennenzulernen. Ein Mann namens Ostric war Musiker. Ein Abdeckmesser war abgeglitten und hatte eine Arterie in Ostrics Unterarm durchschnitten. Rob brachte die Blutung zum Stillstand und schloß die Wunde. »Werde ich wieder den Dudelsack spielen können?« fragte Ostric besorgt. »Es ist der Arm, der das Gewicht der Pfeifen trägt.«
»In ein paar Tagen merkt Ihr nichts mehr davon«, versicherte ihm Rob.
Einige Tage später ging er durch den Gerbschuppen, in dem die Felle gebeizt wurden, und er sah Craig Cullens alten Vater Malcolm, einen Vetter Marys. Er blieb stehen, musterte die verdickten, geschwollenen Fingerspitzen des Mannes und sah, daß seine Fingernägel seltsam verkrümmt waren.
»Ihr habt lange Zeit einen schlimmen Husten gehabt. Und häufig Fieber«, sagte er leise zu dem alten Mann.
»Wer hat Euch das verraten?« fragte Malcolm Cullen.
Es war ein Zustand, den Ibn Sina »hippokratische Finger« genannt hatte, und er deutete immer auf eine Erkrankung der Lunge hin. »Ich sehe es an Euren Händen. Eure Zehen sehen genauso aus, nicht wahr?« Der alte Mann nickte. »Könnt Ihr etwas für mich tun?« »Ich weiß es nicht.« Er legte das Ohr an Malcolms Brust und hörte ein rasselndes Geräusch.
»Eure Lunge ist voller Flüssigkeit. Kommt einmal am Morgen in meine Apotheke. Ich werde zwischen zwei Rippen ein kleines Loch bohren und Wasser abzapfen, jedesmal ein wenig. Inzwischen werde ich mir auch Euren Harn ansehen und die Entwicklung der Krankheit beobachten. Ich werde Euch auch Ausräucherungen und eine Diät verschreiben, um Euren Körper auszutrocknen.« An diesem Abend sagte Mary lächelnd zu ihm: »Du hast den alten Malcolm behext. Er erzählt jedem, daß du magische Heilkräfte besitzt.«
»Ich habe noch nichts für ihn getan.«
Am nächsten Tag blieb er der einzige in der Apotheke. Weder Malcolm noch sonst jemand war erschienen. Auch am nächsten Morgen nicht. Als er sich darüber beklagte, schüttelte Mary den Kopf. »Sie werden erst kommen, wenn die Lammzeit zu Ende ist, das ist ihre Art.« Es stimmte. Noch weitere zehn Tage lang kam niemand. Dann während der ruhigen Zeit zwischen dem Lammen und dem Scheren öffnete er eines Morgens die Tür zu seiner Apotheke, und alle Bänke waren mit Kranken besetzt. Der alte Malcolm wünschte ihm einen schönen Tag.
Von nun an kamen sie pünktlich jeden Morgen, denn in den Schluchten und Tälern zwischen den Hügeln verbreitete sich rasch die Kunde, daß Mary Cullens Mann ein wirklicher Heiler war. Es hatte in Kilmarnock noch nie einen Medicus gegeben, und er erkannte, daß er Jahre brauchen würde, um die Selbstbehandlungen abzustellen. Außerdem brachten sie ihre kranken Tiere mit, oder wenn ihnen das nicht möglich war, holten sie ihn unbekümmert in ihre Schuppen. So lernte er die Fußfäule und die Maulseuche der Schafe sehr genau kennen.
Wenn sich die Gelegenheit ergab, sezierte er eine Kuh und einige Schafe, um zu wissen, was er tat. Er stellte fest, daß sie anders aussahen als Schweine und Menschen.
Im Dunkel ihres Schlafzimmers, wo sie die Nächte damit verbrachten, ein weiteres Kind zu zeugen, dankte er ihr für die Einrichtung der Apotheke, denn er hatte erfahren, daß diese das erste gewesen war, was sie bei ihrer Rückkehr nach Kilmarnock in Angriff genommen hatte. Sie beugte sich über ihn. »Wie lange würdest du ohne deine Arbeit bei mir bleiben, Medicus?« In ihren Worten lag kein Stachel, und sie küßte ihn, kaum daß sie sie ausgesprochen hatte.
Rob nahm seine Söhne mit in den Wald und in die Hügel, wo er die Pflanzen und Krauter ausfindig machte, die er benötigte. Sie sammelten zu dritt die heilkräftigen Pflanzen, brachten sie nach Hause, trockneten sie und verrieben manche zu Pulver. Er unterrichtete seine Söhne sorgfältig, zeigte ihnen jedes Blatt und jede Blume. Er erzählte ihnen von den Krautern: welche gegen Kopfschmerzen und welche gegen Krämpfe verwendet wurden, welche bei Fieber und welche bei Katarrh, welche bei Nasenbluten und welche bei Frostbeulen, welche bei Halsentzündung und welche bei Knochenschmerzen angezeigt waren.
Craig Cullen war ein Löffelmacher und verwendete seine Fertigkeit auch dafür, Holzschachteln herzustellen, in denen Arzneikräuter sicher und trocken aufbewahrt werden konnten. Die Schachteln waren wie Craigs Löffel mit geschnitzten Elfen, Kobolden und wilden Geschöpfen aller Art verziert. Als Rob sie sah, kam er auf die Idee, einige der Figuren zu zeichnen, aus denen das Spiel des Schah bestanden hatte.
»Könntet Ihr so etwas anfertigen?« Craig blickte ihn belustigt an. »Warum nicht?«
Rob zeichnete jede Figur und das Schachbrett. Mit sehr wenig Anleitung schnitzte Craig alles, so daß Rob mit Mary jetzt wieder Stunden mit einem Zeitvertreib verbringen konnte, den ihn ein toter Herrscher gelehrt hatte.
Rob war entschlossen, Gälisch zu lernen. Mary besaß keine Bücher, begann aber, ihn zu unterrichten, und fing mit dem aus achtzehn Buchstaben bestehenden Alphabet an. Inzwischen wußte er, wie man vorgehen mußte, um eine fremde Sprache zu lernen, und er arbeitete
während des ganzen Sommers und Herbstes, so daß er zu Winterbeginn schon kurze Sätze auf gälisch schreiben konnte und zur Belustigung der Schäfer und seiner Söhne auch versuchte, gälisch zu sprechen. Wie sie erwartet hatten, war der Winter hart. Die bitterste Kälte setzte kurz vor Lichtmeß im Februar ein. Die Zeit danach gehörte den Jägern, denn der verschneite Boden half ihnen, Wildbret und Vögel aufzuspüren und Wildkatzen und Wölfe zu erlegen, die die Herden plünderten. Am Abend versammelten sich immer Leute in der Halle vor dem großen Kaminfeuer. Craig schnitzte, andere flickten Zaumzeug oder befaßten sich mit anderen häuslichen Arbeiten, die man in Gesellschaft und im Warmen besorgen konnte. Manchmal spielte Ostric auf seinem Dudelsack. In Kilmarnock wurde ein berühmter Wollstoff hergestellt, und sie färbten ihre beste Schurwolle in den Farben des Heidekrauts, indem sie mit von den Felsen gepflückten Flechten eine Lauge herstellten und die Wolle in ihr einweichten. Jeder webte in seinem Haus, doch kamen sie zum Walken, dem Einlaufenlassen des Stoffs, in der Halle zusammen. Der nasse Stoff, der in Seifenwasser getaucht worden war, wurde um den Tisch weitergereicht, und jede Frau klopfte und neb ihn. Dabei sangen sie Walklieder, und Rob fand, daß die Frauenstimmen und Ostrics Dudelsack einen einzigartigen Klang ergaben.
Die nächste Kapelle erreichte man erst nach einem dreistündigen Ritt, und Rob hatte daher angenommen, daß er Priestern leicht aus dem Weg gehen konnte. Doch während seines zweiten Frühjahres in Kilmarnock tauchte eines Tages ein kleiner dicker Mann auf, der müde lächelte.
»Pater Domhnall! Es ist Pater Domhnall!« rief Mary und eilte ihm entgegen.
Die Leute drängten sich um ihn und begrüßten ihn herzlich. Er widmete jedem ein wenig Zeit, stellte lächelnd eine Frage, tätschelte einen Arm, ließ ein ermutigendes Wort fallen - wie ein guter Grundherr, der zwischen seinen Bauern herumgeht, dachte Rob. Pater Domhnall trat zu ihm und musterte ihn. »Ihr seid also Mary Cullens Mann.«
»Ja.«
Rob hatte weitere Fragen erwartet, bemerkte aber, daß es die Art dieses Priesters war, aufmerksam zuzuhören und;zu warten, eine nützliche Eigenschaft, die ihn zu einem gefährlichen Gegner machen würde, falls Rob ihm das Spiel des Schahs beibrachte. »Mary und ich sind nicht kirchlich getraut. Wißt Ihr das?« »Ich hatte so etwas läuten hören.«
»Wir waren all diese Jahre wirklich verheiratet. Aber es war eine mit einem Handschlag besiegelte Ehe.«
Domhnall knurrte.
Rob erzählte dem Geistlichen ihre Geschichte. Er ließ nichts aus und verharmloste auch die Schwierigkeiten in London nicht. »Ich möchte, daß Ihr uns traut, muß Euch aber darauf aufmerksam machen, daß ich vielleicht exkommuniziert bin.«
»Mann, Mann, was haben Eure Befürchtungen mit Jesus Christus zu schaffen? Ich wurde in Prestwick geboren.
Seit meiner Priesterweihe habe ich diese Pfarrgemeinde in den Bergen nicht verlassen. Und ich werde noch immer hier Pastor sein, wenn ich sterbe.%ußer Euch habe ich in meiaem ganzen Leben niemals jemanden aus London oder aus Worcester getroffen. Ich habe nie eine Botschaft von einem Erzbischof oder von Seiner Heiligkeit erhalten, sondern nur von Jesus. Könnt Ihr wirklich glauben, daß es der Wille des Herrn ist, daß ich aus Euch vieren keine christliche Familie mache?« Rob schüttelte lächelnd den Kopf.
Die Söhne erinnerten sich ihr Leben lang an die Hochzeit ihrer Eltern und schilderten sie noch ihren eigenen Enkeln. Die Hochzeitsmesse in der Cullen-Halle war bescheiden und still. Mary trug ein Kleid aus leichtem, grauem Stoff, eine Silberbrosche und einen mit Silber besetzten Rehledergürtel. Sie war eine ruhige Braut, aber ihre Augen glänzten, als Pater Domhnall erklärte, daß sie und ihre Kinder nun für immer unter dem unverbrüchlichen Schutz der Kirche mit Robert Jeremy Cole verbunden seien.
Danach schickte Mary Einladungen an alle ihre Verwandten, damit sie ihren Ehemann kennenlernten. An dem festgesetzten Tag kamen die MacPhees von Westen durch die niedrigen Hügel, und die Tedders überquerten den großen Fluß und kamen durch die Schlucht nach Kilmarnock. Sie brachten Hochzeitsgeschenke, Obstkuchen, Wildpasteten, Fässer mit starken Getränken und die großen Fleisch-und-Hafer-Puddinge mit, die sie so liebten.
Bei der Feier wurden ein
Ochse, ein Stier, acht Schafe, ein Dutzend Lämmer sowie eine Menge Geflügel auf sich langsam drehenden Spießen über dem offenen Feuer gebraten. Harfen, Dudelsäcke, Violen und Trompeten spielten auf, und Mary stimmte ein, wenn die Frauen sangen. Den ganzen Nachmittag über lernte Rob während der sportlichen Wettkämpfe neue Cullens, Tedders und MacPhees kennen. Manche bewunderte er sofort, andere nicht. Er versuchte gar nicht erst, die Vettern genauer unter die Lupe zu nehmen; sie waren zu zahlreich. Viele Männer betranken sich, und manche versuchten, den Bräutigam zu nötigen, es ihnen gleichzutun. Aber er brachte nur Trinksprüche auf seine Braut, seine Söhne und ihren Clan aus, und die übrigen speiste er mit einem Scherzwort und einem Lächeln ab.
Wieso die Frau wieder ein neues Leben in sich trug, blieb ein ungelöstes Rätsel. Nachdem sie zwei Söhne geboren hatte und dann fünf Jahre unfruchtbar gewesen war, wurde Mary nach ihrer kirchlichen Vermählung schwanger. Sie war vorsichtig und ersuchte jetzt öfter einen der Männer, ihr bei der Arbeit zu helfen. Die beiden Söhne waren ihr stets auf den Fersen und besorgten leichte Verrichtungen. Man konnte dabei unschwer erkennen, welches Kind Schafzüchter werden würde. Mitunter schien zwar Rob James diese Arbeit zu gefallen, immer aber war Tarn darauf aus, die Lämmer zu füttern, und er bettelte bei jeder Gelegenheit, sie scheren zu dürfen. Er hatte noch eine Begabung, die man zuerst nur andeutungsweise erkennen konnte, wenn er mit einem Stock Linien in die Erde kratzte. Doch dann gab ihm sein Vater Zeichenkohle und eine Fichtenholztafel und zeigte ihm, wie man Gegenstände und Menschen abbildet. Rob mußte dem Sohn nicht sagen, daß er auch die Fehler wiedergeben müsse. An der Wand über Tams Bett hing der Teppich des Samaniden-Königs, und alle wußten, daß er ihm gehörte, daß er das Geschenk eines Freundes der Familie in Persien war. Nur einmal mußten Mary und Rob sich den Schatten der Vergangenheit stellen, die sie unterdrückt und verdrängt hatten. Als Rob zusah, wie Tarn einem herumirrenden
Mutterschaf nachlief, wußte er, daß es den Jungen bedrücken würde zu erfahren, daß er eine Reihe von orientalischen Brüdern habe, die er nie kennenlernen würde. »Wir werden es ihm niemals erzählen.« »Er ist dein Sohn«, sagte sie. Sie wandte sich um und schloß ihn in die Arme, und zwischen ihnen befand sich ihr anschwellender Bauch, in dem Jura Agnes, ihre einzige Tochter, darauf wartete, auf die Welt zu kommen.
Rob mußte die neue Sprache lernen, denn sie wurde überall um ihn gesprochen. Pater Domhnall lieh ihm eine von irischen Mönchen auf gälisch geschriebene Bibel, und wie er das Persische aus dem Koran gelernt hatte, lernte er nun Gälisch aus der Heiligen Schrift. In seinem Arbeitszimmer hängte er den »durchsichtigen Mann«
und die »schwangere Frau« auf, und er begann, seine Söhne an Hand der anatomischen Zeichnungen zu unterrichten und ihre Fragen zu beantworten. Oftmals, wenn er zu einem Kranken oder einem Tier gerufen wurde, begleiteten ihn einer oder beide. An einem solchen Tag ritt Rob James hinter seinem Vater auf AI Borak zu einem Bauernhaus, in dem es nach Ostrics sterbender Frau Ardis stank.
Der Junge sah zu, wie Rob einen Aufguß einschenkte und ihn Ardis verabreichte. Dann goß der Vater Wasser auf ein Stück Stoff und reichte es seinem Sohn. »Du kannst ihr das Gesicht waschen.« Rob James tat es vorsichtig und betupfte auch die aufgesprungenen Lippen. Als er fertig war, tastete Ardis herum und ergriff die Hände des Jungen. Rob sah, wie sich dessen freundliches Lächeln verwandelte. Er erlebte die Verwirrung der ersten Erkenntnis, die Blässe, die Verkrampfung, mit der der Junge die Hände zurückstieß. »Schon gut«, sagte er, legte den Arm um die schmalen Schultern und drückte Rob James an sich. »Es ist schon in Ordnung.« Erst sieben Jahre war sein Sohn alt, zwei Jahre jünger, als er damals gewesen war. Er stellte staunend fest, daß sich sein Leben in einem großen Kreis vollendet hatte.
Er tröstete und behandelte Ardis. Als sie das Haus verlassen hatten, ergriff er die Hände seines Sohnes, damit Rob James die lebendige Stärke seines Vaters fühlen und sich beruhigen konnte. Er blickte in Rob James' Augen.
»Was du bei Ardis gespürt hast, und das Leben, das du jetzt in mir entdeckst - diese Dinge zu fühlen ist eine Gabe des Allmächtigen. Eine gute Gabe. Befürchte nicht, daß es etwas Böses ist!
Versuche jetzt nicht, es zu verstehen! Du wirst es später verstehen. Hab keine Angst!«
Die Farbe kehrte in das Gesicht seines Sohnes zurück. »Ja, Pa.«
Er stieg auf, half dem Jungen hinter sich aufs Pferd und ritt mit ihm nach Hause.
Ardis starb acht Tage später. Noch Monate danach kam Rob James weder in die Apotheke, noch begleitete er seinen Vater, wenn er
Krankenbesuche machte. Rob drängte ihn nicht. Auch für ein Kind mußte das Mitgefühl am Leiden der Welt eine freiwillige Entscheidung sein.
Rob James versuchte, gemeinsam mit Tam Schafe zu hüten. Als es ihn langweilte, ging er allein fort und pflückte stundenlang Krauter. Er wußte nicht recht, was er tun sollte. Doch er vertraute Rob vollkommen, und so kam der Tag, an dem Rob James seinem Vater nachlief, als dieser aus dem Hof ritt. »Pa! Darf ich dich begleiten?
Ich kann ja auf den Wallach achtgeben oder so.« Rob nickte und zog ihn hinter sich aufs Pferd. Bald begann Rob James, gelegentlich in die Apotheke zu kommen, und der Unterricht ging weiter. Als er neun Jahre alt war, wollte er auf seinen eigenen Wunsch hin seinem Vater jeden Tag als Lehrling assistieren.
Ein Jahr nachdem Jura Agnes zur Welt gekommen war, gebar Mary einen dritten Sohn, Nathanael Robertson.
Ein Jahr später hatte sie eine Totgeburt, einen Knaben, der vor seiner Bestattung auf den Namen Carrik Lyon Cole getauft wurde. Dann folgten zwei schwere Fehlgeburten nacheinander. Obwohl sie sich noch im gebärfähigen Alter befand, wurde sie nicht mehr schwanger. Es schmerzte sie, denn sie hatte ihm viele Kinder schenken wollen, aber Rob war erleichtert, weil sie allmählich ihre Kraft und ihren früheren Schwung wiedererlangte. Eines Tages, als ihr jüngstes Kind in seinem fünften Lebensjahr war, ritt ein Mann, der einen staubigen schwarzen Kaftan und einen glok-kenförmigen Lederhut trug und einen beladenen Esel mitführte, in Kilmarnock ein.
»Friede sei mit dir!« begrüßte ihn Rob auf hebräisch, und der Jude starrte ihn erstaunt an, als er seine eigene Sprache hörte, und antwortete:
»Auch dir Frieden!« Er war ein athletischer Mann mit einem großen, ungepflegten braunen Bart und einer wettergegerbten Haut. Die Linien um seinen Mund und die Fältchen in seinen Augenwinkeln verrieten seine Erschöpfung. Er hieß Dan ben Gamliel, war aus Rouen und weit von daheim entfernt.
Rob sorgte für seine Tiere, gab ihm Wasser, damit er sich waschen konnte, und setzte ihm dann koschere Speisen vor. Er stellte fest, daß er das Hebräische nur noch schlecht beherrschte, denn eine erstaunliche Anzahl von Wörtern war ihm entfallen. Doch über Brot und Wein konnte er den Segen sprechen. »Seid Ihr etwa Juden?«
fragte Dan ben Gamliel. »Nein, wir sind Christen.« »Warum tut Ihr das dann?«
»Wir haben eine große Schuld zu begleichen«, sagte Rob. Seine Kinder saßen am Tisch und starrten den Mann an, der keine Ähnlichkeit mit den Leuten hatte, die sie kannten, und sie hörten verwundert, wie ihr Vater gemeinsam mit ihm seltsame Segenssprüche murmelte, bevor sie aßen.
»Möchtet Ihr vielleicht nach dem Essen mit mir studieren?« In Rob stieg eine fast vergessene Erregung hoch.
»Vielleicht setzen wir uns zusammen und studieren die Gebote«, schlug er vor. Der Fremde sah ihn an. »Ich bedaure. Nein, ich kann nicht.« Dan ben Gamliels Gesicht war blaß. »Ich bin kein Gelehrter«, murmelte er. Rob verbarg seine Enttäuschung und führte den Reisenden zu einem guten Schlafplatz, wie er ihn in einem jüdischen Dorf erhalten hätte. Am nächsten Morgen stand er früh auf. Unter den Dingen, die er aus Persien mitgebracht hatte, fand er den Judenhut, den Gebetsschal und die Gebetsriemen. Er gesellte sich zu Dan ben Gamliel zum Morgengebet.
Der Jude staunte, als Rob sich den kleinen schwarzen Behälter um die Stirn band und die Lederriemen um seinen Arm schlang, um die Buchstaben zum Namen des Unaussprechlichen zu ordnen. Der Jude beobachtete, wie Rob vor und zurück schwankte, und lauschte seinen Gebeten.
»Ich weiß, was Ihr seid«, sagte er heiser. »Ihr wart Jude und seid abtrünnig geworden. Ein Mann, der unserem Volk und unserem Gott den Rücken gekehrt und seine Seele dem anderen Volk gegeben hat.«
»Nein, so ist es nicht«, widersprach Rob und sah mit Bedauern, daß er das Gebet des anderen unterbrochen hatte.
»Ich werde es Euch erklären, wenn Ihr fertig seid.« Damit entfernte er sich. Doch als er zurückkam, um den Mann zum Frühstück zu holen, war Dan ben Gamliel nicht mehr da. Das Pferd war fort, der Esel war fort, die schwere Last war allein aufgehoben und fortgeschleppt worden. Sein Gast war lieber geflohen, als sich der gefürchteten Ansteckung der Abtrünnigkeit auszusetzen.
Dan ben Gamliel war Robs letzter Jude gewesen; nie wieder sah er einen, noch sprach er je wieder ein Wort Hebräisch. Auch die Erinnerung an das Persische entglitt ihm langsam, und er beschloß eines Tages, den
»Kanon« Ibn Sinas ins Englische zu übersetzen, damit er den Arzt aller Ärzte zu Rate ziehen konnte. Er brauchte schrecklich lange dazu. Immer wieder sagte er sich, daß Ibn Sina den »Kanon der Medizin« in viel kürzerer Zeit verfaßt hatte, als er, Robert Cole, zum Übersetzen brauchte.
Manchmal bedauerte er wehmütig, daß er nicht alle Gebote der Juden wenigstens einmal studiert hatte. Oft dachte er an Jesse ben Benjamin, schloß aber immer mehr Frieden mit seiner Vergangenheit: Es war hart gewesen, ein Jude zu sein! Einmal, als Tarn und Rob James an dem Wettlauf teilnahmen, mit dem man jedes Jahr das Fest des heiligen Kolumb in den Hügeln feierte, erzählte er ihnen, daß ein Läufer namens Karim einmal einen langen, schweren Wettlauf, der chatir hieß, gewonnen habe. Und selten - für gewöhnlich, wenn er sich mit den prosaischen Aufgaben befaßte, die typisch für den gleichmäßigen Rhythmus des schottischen Alltags waren, wenn er den Pferch ausmistete, den angewehten Schnee wegschaufelte oder Brennholz hackte -roch er die abkühlende Hitze der Wüste bei Nacht, oder er erinnerte sich an Fara Askari, die Sabbatkerzen anzündete, oder an das zornige Trompeten eines in die Schlacht stürmenden Elefanten oder an das atemberaubende Gefühl, auf einem langbeinigen, schwankenden Rennkamel dahinzufliegen. Aber dann schien es ihm, als habe er schon immer in Kilmarnock gelebt, und alles, was vorher geschehen war, sei nur eine Geschichte, die man am Feuer erzählt, wenn der kalte Wind weht. Seine Kinder gediehen, wuchsen heran und veränderten sich, seine Frau wurde mit zunehmendem Alter noch schöner. Der besondere Sinn, das Feingefühl des Medicus, verließ ihn nie. Ob er nachts an ein einsames Bett gerufen wurde oder morgens in die überfüllte Apotheke eilte, er konnte immer die Leiden der Menschen fühlen. Er bemühte sich, dagegen anzukämpfen, empfand aber - wie schon am ersten Tag im maristan - doch immer staunende Dankbarkeit darüber, daß er es war, den Gottes Hand berührt hatte, und daß die Fähigkeit, den anderen zu helfen und zu dienen, einem Badergehilfen geschenkt worden war.