Vierter Teil. Der Maristan

Ihn Sina

Robs erster Morgen als Student versprach, heiß zu werden, es war ein drückender Tag. Rob zog sorgsam die neuen Kleider an, stellte aber fest, daß es für die Wickelgamaschen zu warm war. Auch der grüne Turban war viel zu schwer, und schließlich nahm er die ungewohnte Last vom Kopf und setzte den ledernen Judenhut auf, den er als Wohltat empfand.

Dadurch war seine Identität leicht erkennbar, als er sich der Großen Titte näherte, wo junge Männer im grünen Turban miteinander plauderten.

»Da kommt dein Jude, Karim«, rief einer von ihnen. Ein Mann, der auf den Stufen gesessen hatte, stand auf und kam auf Rob zu. Der erkannte den gutaussehenden, schlanken Studenten wieder, der während seines ersten Besuchs im Krankenhaus den Pfleger so heftig zur Rede gestellt hatte.

»Ich bin Karim Harun. Und du bist wohl Jesse ben Benjamin.« »Ja.«

»Der hadscbi hat mich angewiesen, dich in der Schule und im Krankenhaus herumzuführen und deine Fragen zu beantworten.« »Du wirst dich in den carcan zurückwünschen, Hebräer!« rief jemand, und die Studenten lachten.

Rob lächelte. »Das glaube ich nicht.« Es war offensichtlich, daß die ganze Schule von dem europäischen Juden gehört hatte, der in den Block genagelt worden war und dann auf Intervention des Schahs hin die Aufnahme an die medizinische Akademie erreicht hatte. Sie begannen die Führung mit dem maristan, und Rob erfuhr dabei, daß das Krankenhaus in eine Männer- und eine Frauenabteilung unterteilt war. Bei den Männern gab es Pfleger, bei den Frauen Pflegerinnen und Krankenträgerinnen. Die Arzte und die Ehemänner der Patientinnen waren die einzigen Männer, die in die Frauenabteilung Einlaß fanden.

Zwei Räume waren der Chirurgie vorbehalten, und ein langes, niedriges Zimmer enthielt Regale voller säuberlich beschrifteter Gefäße und Flaschen. »Das ist das khasanat-al-sharaf, die Schatzkammer der Arzneimittel«, erklärte Karim. »An allen Montagen und Donnerstagen halten die Ärzte in der Schule ein Praktikum ab. Nachdem die Patienten untersucht und behandelt wurden, mischen die Apotheker die Arzneien, welche die Ärzte verschrieben haben. Die Apotheker des maristan sind bis zum letzten Gran genau und ehrlich.

Die meisten Apotheker m der Stadt sind nämlich Huren, die eine Flasche Pisse verkaufen und schwören, daß es Rosenwasser ist.« Im benachbarten Schulgebäude zeigte ihm Karim Untersuchungsräume, Hörsäle und Laboratorien, eine Küche und ein Refektorium sowie ein großes Bad für den Lehrkörper und die Studenten. »Es gibt achtundvierzig Ärzte und Chirurgen, aber nicht alle sind Dozenten. Mit dir sind wir siebenundzwanzig Studenten der Medizin. Die Ausbildungszeit ist unterschiedlich, und daran sind die Beamten schuld. Du wirst als Kandidat zur mündlichen Prüfung erst zugelassen , wenn der verdammte Lehrkörper findet, daß du soweit bist.

Wenn du durchkommst, nennen sie dich einen hakim. Wenn du durchfällst, bleibst du Student und mußt auf eine neuerliche Chance warten.« »Wie lange bist du schon hier?«

Karim blickte finster drein, und Rob wußte, daß er die falsche Frage gestellt hatte.

»Sieben Jahre. Ich bin zweimal zur Prüfung angetreten. Letztes Jahr bin ich in Philosophie durchgefallen. Mein zweiter Versuch hat vor drei Wochen stattgefunden, da waren meine Antworten in Rechtswissenschaft ungenügend. Was kümmern mich die Geschichte der Logik und die Präzedenzfälle des Rechts? Ich bin bereits ein guter Arzt.« Er seufzte bitter. »Außer den Vorlesungen in Medizin mußt du Vorlesungen in Rechtswissenschaft, Theologie und Philosophie besuchen. Du kannst dir deine Dozenten aussuchen. Am besten ist es, möglichst oft die gleichen Dozenten aufzusuchen«, verriet er Rob, »denn manche sind bei der mündlichen Prüfung nachsichtiger, wenn sie jemanden gut kennen. In der maärassa muß jeder die Vormittagsvorlesungen in allen Disziplinen besuchen, und am Nachmittag arbeiten die Medizinstudenten im Krankenhaus. Die Ärzte kommen nachmittags in das Krankenhaus, und die Studenten schließen sich ihnen an, damit sie unter ihrer Aufsicht Patienten untersuchen und Behandlungen vorschlagen können. Die Ärzte stellen ständig Fragen, aus denen man viel lernen kann. Eine großartige Gelegenheit, sich zu bilden oder« - er lächelte sauer -

»einen vollkommenen Narren aus sich zu machen.« Rob musterte das unglückliche Gesicht des gutaussehenden Karim. Sieben Jahre! dachte er entmutigt. Und nichts als Ungewisse Aussichten! Dabei hatte dieser Mann sein Medizinstudium zweifellos unter viel besseren Voraussetzungen begonnen als er mit seiner unvollkommenen Bildung.

Aber alle Befürchtungen und gemischten Gefühle schwanden dahin, als sie die Bibliothek betraten, die das Haus der Weisheit genannt wurde. Rob hätte sich nie vorstellen können, daß es so viele Bücher an einem Ort gab.

Manche Manuskripte waren auf dickes Pergament aus Tierhäuten geschrieben, doch die meisten Bücher waren aus dem gleichen dünnen Material, auf dem sein calaat festgehalten worden war. »In Persien scheint es nur minderwertiges Pergament zu geben«, bemerkte er.

Karim schnaubte. »Das ist überhaupt kein Pergament! Es wird Papier genannt, eine Erfindung der Schlitzaugen im Osten, die sehr kluge Ungläubige sind. Habt ihr in Europa kein Papier?« »Ich habe es dort nie zu Gesicht bekommen.«

»Papier besteht aus alten Stoffetzen, die fein gemahlen, mit Knochenleim vermischt und dann gepreßt werden.

Es ist billig, sogar Studenten können es sich leisten.«

Das Haus der Weisheit beeindruckte Rob wie kein anderes Erlebnis zuvor. Er ging schweigend in dem Raum herum, berührte die Bücher und merkte sich die Autoren, von denen ihm nur wenige Namen geläufig waren.

Hippokrates, Dioscurides, Ardigenes, Rufas von Ephesus, der unsterbliche Galen... Oribasius, Philagrios, Alexander von Tralles, Paul von Ägina...

»Wie viele Bücher stehen hier?«

»Die madrassa besitzt fast hunderttausend Bücher«, erwiderte Karim stolz. Er lächelte über Robs ungläubigen Gesichtsausdruck. »Die meisten davon wurden in Bagdad ins Persische übersetzt. An der Universität in Bagdad befindet sich eine Schule für Übersetzer, an der Bücher in allen Sprachen des Östlichen Kalifats auf Papier übertragen

werden. Bagdads riesige Universität hat sechshunderttausend Bücher in ihrer Bibliothek; sie stehen über sechstausend Studenten und berühmten Lehrern zur Verfügung. Aber eines gibt es, was unsere kleine madrassa besitzt und was ihnen fehlt.«

»Und zwar?« fragte Rob, und der ältere Student führte ihn zu einer Wand im Hause der Weisheit, die den Werken eines einzigen Autors vorbehalten war. »Ihn«, sagte Karim.

An diesem Nachmittag sah Rob dann im maristan jenen Mann, den die Perser als Arzt aller Ärzte bezeichneten.

Auf den ersten Blick war Ihn Sina eine Enttäuschung. Sein roter Ärzteturban war verschossen und nachlässig gewickelt, und seine durra sah schäbig und einfach aus. Er war klein von Statur, und sein Haar lichtete sich, dazu hatte er eine geäderte Knollennase und ein beginnendes Doppelkinn unter dem weißen Bart. Er sah aus wie viele alternde Araber, bis Rob seine durchdringenden braunen Augen bemerkte, die traurig, doch aufmerksam, ernst und seltsam lebendig waren. Rob spürte sofort, daß Ibn Sina Dinge sah, die gewöhnlichen Menschen verborgen blieben. Rob war einer der sieben Studenten, die mit vier Ärzten Ibn Sinas Gefolge bildeten, während er durch das Krankenhaus ging. An diesem Tag blieb der Arzt aller Ärzte nicht weit vom Strohsack eines zusammengeschrumpften Mannes mit mageren Gliedern stehen. »Wer ist der diensttuende Student dieser Abteilung?« »Ich, Herr. Mirdin Askari.«

Das also ist Ariehs Vetter, dachte Rob. Er betrachtete interessiert den dunkelhäutigen jungen Juden, dessen Gesicht aufgrund eines langen Kinns und der kräftigen weißen Zähne einfach und angenehm wirkte wie das eines intelligenten Pferdes.

Ibn Sina deutete auf den Patienten. »Berichte uns von diesem Kranken, Askari!«

»Er heißt Amahl Rahin, ein Kameltreiber, der vor drei Wochen mit heftigen Schmerzen im unteren Rückenbereich ins Krankenhaus kam. Zuerst vermuteten wir, daß er sich in betrunkenem Zustand die Wirbelsäule verletzt hat, aber der Schmerz griff bald auf den rechten Hoden und die rechte Hüfte über.« »Wie sieht sein Urin aus?« fragte Ibn Sina.

»Bis zum dritten Tag war sein Urin klar. Hellgelb. Am Morgen des dritten Tages fand ich im Urin Blut, und am Nachmittag schied er sechs Harnsteine aus: vier winzig wie Sandkörner und zwei von der Größe kleiner Erbsen.

Seither hat er keine Schmerzen mehr, und sein Urin ist wieder klar, aber er will nichts essen.« Ibn Sina runzelte die Stirn. »Was habt ihr ihm angeboten?« Der Student wirkte verwirrt. »Die übliche Kost: verschiedene Arten von pilaw, Hühnereier, Schaffleisch, Zwiebeln, Brot... Er rührt nichts an. Seine Gedärme haben aufgehört zu arbeiten, sein Puls ist schwächer, und er wird immer matter.«

Ibn Sina nickte und sah die ihn Umgebenden der Reihe nach an. »Was fehlt ihm also?«

Ein anderer Student nahm seinen ganzen Mut zusammen. »Ich glaube, Herr, daß seine Eingeweide sich verschlungen haben und den Durchgang der Nahrung durch seinen Körper verhindern. Da er das spürt, nimmt er keine Nahrung zu sich.«

»Danke, Fadil Ibn Parviz«, antwortete Ibn Sina höflich. »Aber bei einer solchen Erkrankung würde der Patient essen, nur würde er die Nahrung wieder erbrechen.«

Er wartete. Als keine weitere Bemerkung fiel, trat er zu dem Mann auf dem Strohsack.

»Amahl«, begann er, »ich bin Hussein, der Arzt, Sohn von Abdullah, dem Sohn von al-Hasan, dem Sohn von Ali, dem Sohn von Sina. Das sind meine Freunde, und sie werden auch deine werden. Woher stammst du?«

»Aus dem Dorf Shaini, Herr«, flüsterte der Mann. »Ah, ein Mann aus Fars! Ich habe glückliche Tage in Fars verbracht. Die Datteln der Oase in Shaini sind groß und süß, nicht wahr?« In Amahls Augen traten Tränen, und er nickte stumm. »Askari, geh und bring unserem Freund Datteln und eine Schale warme Milch!«

Bald darauf wurde das Geforderte gebracht, und die Ärzte und Studenten sahen zu, wie der Mann hungrig die Früchte verschlang. »Langsam, Amahl! Langsam, mein Freund«, warnte ihn Ibn Sina. »Askari, du sorgst dafür, daß die Kost unseres Freundes geändert wird!« »Ja, Herr.« Sie gingen weiter.

»Das müßt ihr euch über die Kranken, die sich in unserer Obhut befinden, merken: Sie kommen zu uns, aber sie werden nicht unseres-gleichen, und sehr oft essen sie nicht das, was wir essen. Löwen mögen kein Heu, auch wenn sie in einem Kuhstall sind. Wüstenbewohner leben hauptsächlich von saurem Quark und ähnlichen Milchprodukten. Die Bewohner des Dar-al-Maraz essen Reis und trockene Speisen. Die Khorasanis wollen nur mit Mehl angedickte Suppe. Die Inder bevorzugen Erbsen, Hülsenfrüchte, Öl und scharfe Gewürze. Die Menschen aus Transoxianien schätzen Wein und Fleisch, besonders Pferdefleisch. Die Leute aus Fars und Arabistan leben hauptsächlich von Datteln. Die Beduinen sind an Fleisch, Kamelmilch und Heuschrecken gewöhnt. Die Menschen aus Gurgan, die Georgier, die Armenier und die Europäer sind gewohnt, zu den Mahlzeiten geistige Getränke zu sich zu nehmen und das Fleisch von Kühen und Schweinen zu essen.« Ibn Sina blickte die um ihn versammelten Männer scharf an. »Wir jagen ihnen Angst ein, junge Herren. Oft können wir sie nicht retten, und manchmal bringt unsere Behandlung sie um; wir dürfen sie aber nicht auch noch verhungern lassen.«

Der Arzt aller Ärzte verschränkte die Hände auf dem Rücken und ließ sein Gefolge stehen.

Am nächsten Morgen besuchte Rob in einem kleinen Amphitheater mit ansteigenden steinernen Sitzreihen seine erste Vorlesung in der madrassa. Aus Nervosität war err schon sehr früh gekommen und saß allein in der vierten Reihe, als ein halbes Dutzend Studenten gemeinsam eintrat.

Zuerst schenkten sie ihm keine Beachtung. Dann, als er Rob bemerkte, fragte der, den Ibn Sina Fadil genannt hatte: »Salam, wen haben wir denn da? Wie heißt du, Dhimmi?« »Jesse ben Benjamin.«

»Ah, der berühmte Gefängnisinsasse! Der jüdische Baderchirurg mit dem calaat des Schahs. Du wirst bald merken, daß man mehr als einen herrscherlichen Erlaß braucht, um Medicus zu werden.« Der Raum füllte sich allmählich. Mirdin Askari ging die Sitzreihen hinauf zu einem leeren Platz, und Fadil rief ihm zu: »Askari! Hier ist noch ein Hebräer, der ein Blutegel werden will.« Rob begann zu ahnen, was sein Drang, Medizinstudent zu werden,

mit sich bringen würde, denn der eben eingetretene Lehrer für Philosophie, Sajjid Sa'di, sah sich im Saal um und entdeckte sein Gesicht, das ihm fremd war.

»Wie lautet dein Name, Dhimmi?« »Ich bin Jesse ben Benjamin, Herr.«

»Jesse ben Benjamin, erzähl uns, wie Aristoteles die Beziehung zwischen Körper und Geist beschreibt.« Rob schüttelte den Kopf.

»Es steht in seinem Werk >Über die Seele<«, ergänzte der Dozent ungeduldig.

»Ich kenne das Buch >Über die Seele< nicht. Ich habe Aristoteles nie gelesen.«

Sajjid Sa'di starrte ihn besorgt an. »Das mußt du sofort nachholen!« Rob verstand nur wenig von dem, was Sa'adi in seiner Vorlesung erzählte. Als sie zu Ende war und das Amphitheater sich leerte, ging Rob zu Mirdin Askari.

»Ich soll dir die besten Wünsche von drei Männern aus Masqat überbringen, von Reb Lonzano ben Ezra, Reb Loeb ben Kohen und von deinem Vetter, Reb Arieh Askari.« »Ah. Verlief ihre Reise gut?« »Ich glaube schon.«

Mirdin nickte. »Du bist ein Jude aus Europa, wie ich höre. Isfahan wird dir merkwürdig vorkommen, aber die meisten von uns kommen aus anderen Ländern.« Unter den Medizinstudenten, berichtete er, gebe es vierzehn Mohammedaner aus Ländern des Östlichen Kalifats, sieben Mohammedaner aus dem Westlichen Kalifat und fünf Ostjuden.

»Dann bin ich also erst der sechste jüdische Student? Ich hätte gedacht, daß wir hier zahlreicher vertreten sind.«

Mirdin sah Rob neugierig an. »Man sagt, du bist ein Baderchirurg. Stimmt das?« »Ja.«

»Ich würde besser nicht darüber sprechen«, riet ihm Mirdin. »Die persischen Ärzte finden, daß Baderchirurgen...« »... nicht gerade bewundernswert sind?« »Sie sind nicht beliebt.«

»Ich kümmere mich nicht darum, wer beliebt ist. Ich entschuldige mich nicht für meinen Stand.«

»Das sollst du auch nicht«, meinte Mirdin. Dann nickte er kühl und verließ das Amphitheater.

Bei der von einem fetten mullah namens Abul Bakr gehaltenen Vorlesung in islamischer Theologie erging es Rob kaum besser als beim Vortrag in Philosophie. Der Qu'ran war in einhundertvierzehn Kapitel unterteilt, die suras hießen. Die Länge der suras variierte von wenigen Zeilen bis zu mehreren hundert Versen, und zu Robs Verzweiflung erfuhr er, daß er die maärassa erst abschließen durfte, wenn er die wichtigen suras auswendig konnte.

Während der nächsten Vorlesung, die der Meisterchirurg Abu Ubaid al'Juzjani hielt, wurde ihm befohlen, die

»Zehn Abhandlungen über das Auge« von Hunam zu lesen. Al-Juzjani war klein, dunkelhäutig und furchterregend. Er sah seine Studenten mit starrem Blick an und schien in der gleichen Stimmung zu sein wie ein aus dem Winterschlaf geweckter Bär. Rob wurde angst und bang, wenn er daran dachte, wie viele wissenschaftliche Bücher er lesen mußte, aber al-Juzjanis Vorlesung über die Trübung, die die Augen so vieler Menschen befiel und ihnen die Sehkraft raubte, gefiel ihm. »Man glaubt, daß diese Blindheit dadurch verursacht wird, daß schädliche Flüssigkeit ins Auge dringt«, dozierte al-Juzjani. »Aus diesem Grund nannten frühe persische Ärzte die Krankheit Nazul-i-ab oder Eindringen von Wasser, was im Volksmund zu Wasserfallkrankheit oder Katarakt wurde.« Rob sah interessiert zu, als al-Juzjani einer toten Katze den Star stach. Bald danach verteilten seine Assistenten Tierleichen an die Studenten, damit sie die Technik an Hunden, Katzen und sogar Hennen üben konnten. Rob erhielt einen scheckigen Köter mit starren Augen und hochgezogenen Lefzen, dem die Vorderpfoten fehlten. Robs Hände zitterten, und er wußte eigentlich nicht, was er tun sollte. Aber er faßte Mut, als er sich daran erinnerte, daß Merlin Edgar Thorpe von seiner Blindheit heilen konnte, weil er diese Operation an dieser Schule, vielleicht sogar in diesem Raum, gelernt hatte. Plötzlich beugte sich al-Juzjani über ihn und betrachtete das Auge seines toten Hundes. »Setz die Nadel an der Stelle an, an der du stechen willst, und mach dort ein Zeichen!« befahl er scharf. »Dann bewege die Nadelspitze zum äußeren Augenwinkel hin, und zwar auf gleicher Höhe mit und nur ein wenig oberhalb der Pupille. Dadurch sinkt die Katarakt unter die Pupille. Wenn du das rechte Auge operierst, hältst du die Nadel in der linken Hand und umgekehrt.« Rob befolgte die Anweisungen und dachte an all die Männer und Frauen, die im Lauf der Jahre mit trüben Augen hinter seinen Wandschirm gekommen waren und denen er nicht hatte helfen können. Zum Teufel mit Aristoteles und dem Qu'ran! sagte er sich frohlok-kend. Dieser Unterricht ist der Grund, weshalb ich die Reise nach Persien gewagt habe.

Am Nachmittag folgte er mit einer Gruppe von diensttuenden Studenten al-Juzjani durch den maristan. Wie Ministranten einem englischen Bischof, dachte er. Al-Juzjani untersuchte Patienten, dozierte, kommentierte und stellte den Studenten Fragen, während er Verbände wechselte und Fäden entfernte. Er war ein geschickter, einfallsreicher Chirurg. Den Patienten, die er an diesem Tag aufsuchte, hatte er entweder den Star gestochen oder einen zermalmten Arm amputiert oder Bubonen geöffnet oder das Glied beschnitten. Im Gesicht eines Jungen, dessen Wange von einem spitzen Stock durchbohrt worden war, hatte er eine Wunde genäht.

Als al-Juzjani fertig war, ging Rob noch einmal durch das Krankenhaus, diesmal hinter hakim Jalal-al-Din, einem Knocheneinrichter, dessen Patienten in komplizierten Apparaten aus Wundhaken, Kupplungen, Seilen und Flaschenzügen steckten, die Rob ehrfürchtig betrachtete.

Er hatte nervös darauf gewartet, aufgerufen oder befragt zu werden, aber die beiden Ärzte hatten seine Existenz nicht zur Kenntnis genommen. Als Jalal fertig war, half Rob den Pflegern, hinfällige Patienten zu füttern und zu reinigen.

Als er mit dieser Beschäftigung im Krankenhaus fertig war, machte er sich auf die Suche nach Büchern. Er fand in der Bibliothek der tnadrassa zahlreiche Exemplare des Qu'ran, und er entdeckte auch das Buch »Über die Seele«. Aber er erfuhr, daß das einzige Exemplar von Hunains »Zehn Abhandlungen über das Auge« schon an jemand ausgeliehen worden war, und eine Anzahl Studenten hatte sich bereits vor ihm angemeldet, um das Buch zu studieren. Der Bibliothekar im Haus der Weisheit war ein freundlicher Mann namens Jussuf-al-Gamal, ein Kalligraph, der seine Freizeit mit Feder

und Tinte verbrachte und in Bagdad gekaufte Bücher kopierte. »Ihr habt zu lange gewartet. Jetzt wird es viele Wochen dauern, bis Ihr die >Zehn Abhandlungen über das Auge< bekommen könnt. Wenn ein Dozent ein Buch empfiehlt, müßt Ihr sofort zu mir kommen, sonst kommen Euch andere zuvor.«

Rob nickte resigniert. Er trug die beiden anderen Bücher nach Hause, blieb unterwegs am Judenmarkt stehen und kaufte von einer mageren Frau mit kräftigem Kinn und grauen Augen eine Lampe und Öl. »Ihr seid Europäer?«

»Ja.«

Sie strahlte. »Wir sind Nachbarn. Ich bin Hinda, die Frau des Großen Isak, drei Häuser nördlich von Euch. Ihr müßt uns besuchen.« Er dankte ihr herzlich.

Im Gasthaus von Salman dem Kleineren aß er einen pilaw, war aber bestürzt, als Salman zwei Nachbarn herbeiholte, die den Juden kennenlernen wollten, der den ca.la.at erhalten hatte. Es waren kräftige junge Männer, Brüder, die von Beruf Steinmetz waren. Die Brüder klopften ihm auf den Rücken, hießen ihn willkommen und wollten ihn zu einem Glas Wein einladen. »Erzählt uns vom calaat, erzählt uns von Europa!« rief der eine.

Eine Freundschaft zu schließen erschien Rob verlockend, aber er flüchtete sich schließlich dennoch m die Einsamkeit seines Hauses. Nachdem er die Tiere versorgt hatte, las er im Garten den Aristoteles. Er fand ihn schwierig, denn der Sinn der Worte entzog sich ihm, und er war betroffen über seine Unwissenheit.

Als es dunkelte, ging er ins Haus, zündete die Lampe an und wandte sich dann dem Qu'ran zu. Die suras waren offenbar entsprechend ihrer Länge geordnet, und die längsten kamen zuerst. Aber welche waren die wichtigen suras, die man auswendig lernen mußte? Er hatte keine Ahnung. Und es gab so viele einleitende Passagen; waren sie auch von Bedeutung?

Er las die Einleitungen immer wieder, hatte aber erst ein paar Verse auswendig gelernt, als ihm die schweren Lider zufielen. Vollkommen bekleidet sank er auf dem von der Lampe beleuchteten Boden in tiefen Schlaf.

Eine Einladung

Rob wurde jeden Morgen von der aufgehenden Sonne geweckt, die durch das schmale Fenster seines Zimmers blinzelte und deren Strahlen sich golden auf den Dächern der windschiefen Häuser der Jehuddijeh spiegelten.

Schon bei Tagesanbruch erschienen die ersten Menschen auf den Straßen: Die Männer gingen zum Morgengebet in die Synagoge, die Frauen eilten auf den Markt, um ihren Platz in einem Stand einzunehmen oder die besten Produkte des Tages möglichst früh einzukaufen. In dem nördlichen Nachbarhaus von Rob wohnten ein Schuhmacher namens Jakob ben Rashi, seine Frau Naoma und ihre Tochter Lea. Das Haus im Süden bewohnten ein Brotbäcker namens Micah Halevi, seine Frau Judith und drei kleine Mädchen. Rob wohnte erst ein paar Tage in der Jehuddijeh, als Micah seine Frau Judith zu ihm schickte. Sie brachte ihm ein rundes Fladenbrot zum Frühstück, das noch ofenwarm und knusprig war. Überall in der Jehuddijeh hatten die Leute ein freundliches Wort für den ausländischen Juden übrig, der einen calaat erhalten hatte.

Weniger beliebt war er in der madrassa: Dort nannten ihn die mohammedanischen Studenten nie bei seinem Namen, und es machte ihnen sichtlich Vergnügen, ihn mit Dhimmi anzusprechen. Sogar die ostjüdischen Studenten nannten ihn Europäer.

Obwohl seine Erfahrungen als Baderchirurg nicht gerade bewundert wurden, waren sie ihm doch im maristan nützlich, wo es innerhalb von drei Tagen klar war, daß er verbinden, zur Ader lassen und einfache Brüche einrichten konnte, letzteres mit einer Geschicklichkeit, die der eines Absolventen der Schule gleichkam. Er mußte deshalb nicht mehr schmutziges Geschirr einsammeln und dergleichen verrichten, sondern man übertrug ihm Aufgaben, die direkt mit der Betreuung von Kranken zu tun hatten, und das gestaltete sein Leben ein wenig erträglicher.

Als er Abul Bakr fragte, welche von den einhundertvierzehn suras des Qu'ran die wichtigen waren, konnte er keine Antwort erhalten. »Alle sind wichtig«, erklärte der dicke mullah. »Manche sind nach Ansicht des einen Gelehrten wichtiger, während andere Gelehrte andere für wichtig halten.«

Die erste Vorlesung, die Rob bei Ibn Sina hörte, war eine Lektion in Anatomie, bei der sie ein großes Schwein sezierten, das den Mohammedanern als Speise verboten, aber als Studienobjekt gestattet ist. »Das Schwein stellt ein besonders gutes Objekt für das Studium der Anatomie dar, weil seine inneren Organe mit denen des Menschen fast identisch sind«, lehrte Ibn Sina, während er die Haut geschickt ablöste. Das Tier vor ihm war voller Tumore.

»Die Wucherungen mit glatter Oberfläche richten wahrscheinlich keinen Schaden an, aber einige andere sind so rasch gewachsen - seht her, wie diese«, Ibn Sina kippte den schweren Kadaver zur Seite, damit sie es besser beobachten konnten, »- daß sich Klumpen von Fleisch aneinander drängen wie die Röschen in einem Blumenkohlkopf. Die Blumenkohltumore aber sind tödlich.« »Treten sie auch bei Menschen auf?« fragte Rob.

»Das wissen wir nicht.« »Könnten wir nicht nachsehen?«

Nun herrschte Stille im Raum. Die anderen Studenten betrachteten den fremden, ungläubigen Kollegen voll Verachtung, während die anwesenden Lehrer aufmerksam wurden. Der mullah, der das Schwein geschlachtet hatte, hob den Kopf vom Gebetbuch. »Es steht geschrieben«, formulierte Ibn Sina vorsichtig, »daß die Toten auferstehen werden und der Prophet sie aufnehmen wird -möge Gott ihn segnen und empfangen -, um sie wieder zum Leben zu erwecken. Für diesen Tag muß ihr Körper unversehrt bleiben.« Nach einem kurzen Augenblick nickte Rob. Der mullah versenkte sich wieder in seine Gebete, und Ibn Sina setzte die Anatomielektion fort.

Am Nachmittag war hakim Fadil Ibn Parviz im maristan. Er trug einen roten Arztturban und nahm die Glückwünsche der anderen Medizinstudenten entgegen, weil er die Prüfung bestanden hatte. Rob hatte zwar keinen Grund, Fadil sympathisch zu finden, aber er war dennoch aufgeregt und froh: Der Erfolg eines Studenten konnte eines Tages auch der seine sein.

Fadil und al-Juzjani waren die Ärzte, die an diesem Tag die Runde bei den Patienten machten, und Rob folgte ihnen gemeinsam mit vier anderen Studenten: Abbas Sefi, Omar Nivahend, Suleiman-al-Gamal und Sabit ben Qurra. Im letzten Augenblick gesellte sich noch Ibn Sina zu ihnen, und Rob spürte die verstärkte Nervosität und die leichte Erregung, die sich immer bei der Anwesenheit des Arztes aller Ärzte einstellte.

Sie kamen bald zu den Tumorpatienten. Auf einem Strohsack neben dem Eingang lag eine stille, hohläugige Gestalt, und sie blieben etwas entfernt von ihr stehen. »Jesse ben Benjamin«, forderte al-Juzjani Rob auf,

»berichte uns von diesem Mann!«

»Er heißt Ismail Ghazali. Er weiß nicht, wie alt er ist, gibt aber an, dass er in Khur während der großen Frühjahrsüberschwemmung geboren wurde. Ich habe erfahren, daß das vierunddreißig Jahre her ist.«

Al-Juzjani nickte anerkennend.

»Er hat Tumore im Hals, unter den Armen und in der Leistengegend, die ihm große Schmerzen bereiten. Sein Vater ist an der gleichen Krankheit gestorben, als Ismail Ghazali ein kleiner Junge war. Das Urinieren verursacht ihm schreckliche Schmerzen. Wenn er es tut, ist sein Urin tiefgelb und enthält Teilchen, die wie kleine rote Fäden aussehen. Er kann nur ein paar Löffel Schleimsuppe essen, ohne zu erbrechen, deshalb wird er mit besonders leichter Kost ernährt.«

»Hast du ihn heute zur Ader gelassen?« fragte al-Juzjani.

»Nein, Hakim.«

»Warum nicht?«

»Es ist überflüssig, ihm noch mehr Schmerzen zu bereiten.« Wenn Rob nicht an das Schwein gedacht und sich gefragt hätte, ob Ismail Ghazalis Körper von Blumenkohlgewächsen zerstört wurde, hätte er sich vielleicht nicht selbst diese Falle gestellt. »Beim Einbruch der Nacht wird er tot sein.«

Al-Juzjani starrte ihn an.

»Warum glaubst du das?« fragte Ibn Sina.

Alle Augen waren auf Rob gerichtet, aber er war nicht so dumm, eine Erklärung abzugeben. »Ich weiß es«, antwortete er schließlich, und Fadil vergaß seine frischerworbene Würde und lachte schallend. Al-Juzjanis Gesicht wurde rot vor Zorn, doch Ibn Sina hob die Hand und zeigte damit an, daß sie weitergehen sollten.

Der Vorfall dämpfte Robs Optimismus sehr. An diesem Abend war es ihm unmöglich zu studieren. Die Schule ist ein Fehler gewesen, dachte er. Es gibt nichts, das dich zu etwas machen kann, was du nicht bist, und vielleicht ist es an der Zeit zuzugeben, daß du nicht dazu bestimmt bist, Medicus zu werden.

Am nächsten Morgen ging er in die Schule, hörte drei Vorlesungen und überwand sich am Nachmittag dazu, al-Juzjam bei seinem Patientenbesuch zu begleiten. Als sie sich auf den Weg machten, schloß sich ihnen zu Robs Verzweiflung wie am Vortag Ibn Sina an. In der Tumorabteilung lag auf dem Strohsack neben der Tür ein junges Bürschchen.«

»Wo ist Ismail Ghazali?« fragte al-Juzjani den Pfleger. »Er ist in der Nacht verstorben, Hakim.«

Al-Juzjani gab keinen Kommentar ab. Als sie weitergingen, behandelte er Rob mit der eisigen Verachtung, die einem fremden Dhimmi gebührt, der zufällig richtig geraten hat.

Nachdem sie jedoch den Rundgang beendet hatten und entlassen worden waren, spürte Rob eine Hand auf seinem Arm. Er drehte sich um und blickte in die beunruhigenden Augen des alten Mannes. »Ihr kommt heute zum Abendessen zu mir«, bestimmte Ibn Sina.

Rob war nervös und voll Erwartung, als er an diesem Abend den Anweisungen des Arztes aller Ärzte folgte und auf seinem braunen Wallach über die Allee der Tausend Gärten zu jener Straße ritt, die zu Ibn Sinas Haus führte.

Er erwies sich als riesiger, aus Steinen errichteter Wohnsitz mit zwei Türmen, der von terrassenförmig angelegten Obst- und Weingärten umgeben war. Auch Ibn Sina hatte vom Schah einen calaat erhalten, aber erst, als er berühmt war. Rob wurde von einem Torhüter, der ihn erwartet hatte und ihm das Pferd abnahm, in den von einer Mauer umgebenen Besitz eingelassen. Der Weg zum Haus bestand aus so fein zermahlenen Steinen, daß seine Schritte wie Flüstern klangen. Als er sich dem Haus näherte, ging eine Seitentür auf, und eine Frau trat heraus. Sie war jung und anmutig, trug einen roten, an der Taille engen, an den Säumen mit Flitterwerk verzierten Samtmantel über einem losen Baumwollkleid mit aufgedruckten gelben Blumen, und obwohl sie sehr klein war, schritt sie wie eine Königin. Mit Perlen besetzte Bänder umschlossen ihre Knöchel, an denen die scharlachrote Hose eng zusammengezogen war und mit Wollfransen über anmutigen, nackten Fersen endete. Ibn Sinas Tochter - falls sie das war - schaute ihn mit großen, dunklen Augen ebenso neugierig an, wie er sie musterte, bevor sie, dem Islam gehorchend, ihr verschleiertes Gesicht von dem Mann abwandte.

Hinter ihr trat eine Gestalt mit einem Turban aus dem Haus, die riesig war wie ein böser Traum. Die Hand des Eunuchen lag auf dem juwelenbesetzten Griff des Dolches in seinem Gürtel, und er wandte seine Augen nicht ab, sondern beobachtete Rob grimmig, bis er seine Schutzbefohlene durch eine Tür in einer Gartenmauer geleitet hatte. Rob sah ihnen noch immer nach, als das Eingangsportal, eine einzige große Steinplatte, auf geölten Angeln aufging und ein Diener ihn in die kühlen Räume einließ.

»Ah, junger Freund, sei in meinem Haus willkommen!« Ibn Sina ging ihm durch eine Reihe großer Räume voraus, deren geflieste Wände mit kostbaren Teppichen in den Farben der Erde und des Himmels geschmückt waren. Die Teppiche auf den Steinböden waren so dicht wie ein Rasen. Im Atriumgarten im Zentrum des Hauses war neben einem plätschernden Brunnen ein Tisch gedeckt. Rob war verlegen, denn noch nie war ihm ein Diener behilflich gewesen, sich zu setzen. Ein anderer brachte ein irdenes Tablett mit flachem Brot, und Ibn Sina sang ungezwungen sein islamisches Gebet. »Möchtest du deinen eigenen Segen sprechen?« fragte er höflich. Rob brach einen der Fladen auseinander und sagte das hebräische Dankgebet, an das er sich gewöhnt hatte, auf:

»Gesegnet seist Du, o Herr, unser Gott, König des Universums, der das Brot aus der Erde hervorbringt.«

»Amen«, schloß Ibn Sina.

Die Mahlzeit war einfach, aber ausgezeichnet: Gurkenscheiben mit Minze und dicker, saurer Milch, ein leichterpilaw mit mageren Lamm-und Hühnerstücken, gedünstete Kirschen und Aprikosen und ein erfrischendes Scherbett aus Obstsäften.

Als sie gegessen hatten, brachte ein Mann, der durch einen Ring in der Nase als Sklave gekennzeichnet war, nasse Tücher für ihre Hände und Gesichter, während andere Sklaven den Tisch abräumten und rauchende Fackeln entzündeten, um die Insekten zu vertreiben. Eine Schale mit großen Pistazien wurde gebracht, und sie knackten die Nüsse mit den Zähnen und kauten gemütlich.

»Nun.« Ibn Sina beugte sich vor, und seine bemerkenswerten Augen, die so viel aussagen konnten, leuchteten aufmerksam im Fackellicht. »Sprechen wir darüber, wieso du wußtest, daß Ismail Ghazali sterben würde!«

Rob erzählte ihm, wie er im Alter von neun Jahren erkannt hatte, daß seine Mutter sterben würde, als er ihre Hand ergriff, und wie er auf die gleiche Weise vom bevorstehenden Tod seines Vaters erfahren hatte. Dann beschrieb er die anderen Fälle, jene Personen, deren Hand er ergriffen und dabei das furchtbare Grauen und die schreckliche Erkenntnis empfunden hatte.

Ibn Sina stellte geduldig Fragen, während Rob über jeden Fall berichtete, erforschte sein Gedächtnis und sorgte dafür, daß keine Einzelheit übersehen wurde. Langsam verschwand der Vorbehalt aus dem Gesicht des alten Mannes. »Zeig mir, was du dabei tust!«

Rob ergriff Ibn Sinas Hände, blickte ihm in die Augen, und bald darauf lächelte er. »Derzeit müßt Ihr keine Angst vor dem Tod haben.«

»Du auch nicht«, antwortete der Arzt leise.

Ein Moment verging, und dann dachte Rob: Grundgütiger Gott! »Ist es wirklich etwas, das auch Ihr fühlen könnt, Arzt aller Ärzte?« Ibn Sina schüttelte den Kopf. »Nicht wie du es fühlst. In mir offenbart es sich irgendwo tief in meinem Innern als Gewißheit - das deutliche Gefühl, ob ein Patient sterben wird oder nicht. Ich habe im Laufe der Jahre mit anderen Ärzten gesprochen, die auch über diese Gabe verfügen, und wir sind eine größere Bruderschaft, als du dir vorstellen kannst. Aber ich habe niemals einen Menschen kennengelernt, bei dem diese Gabe so stark ausgeprägt ist wie bei dir. Du trägst eine Verantwortung, und um ihr gerecht zu werden, mußt du ein hervorragender Medicus werden.«

Damit war die bedrückende Realität wieder da, und Rob seufzte wehmütig. »Vielleicht werde ich gar kein Medicus, ich bin nämlich kein Gelehrter. Eure mohammedanischen Studenten wurden ihr Leben lang mit klassischer Gelehrsamkeit gefüttert, und die anderen jüdischen Studenten wuchsen in der ehrgeizig wissenschaftlichen Atmosphäre ihrer Studierhäuser auf. Hier an der ma.dra.ssa können sie auf diesen Grundlagen aufbauen, während ich nur auf zwei armselige Schuljahre und meine unermeßliche Unwissenheit zurückblicke.« »Dann mußt du eben fleißiger und schneller lernen als die anderen«, erwiderte Ibn Sina mitleidslos. Die Verzweiflung machte Rob kühn. »In der Schule wird zu viel verlangt. Manches davon will ich mir weder aneignen, noch brauche ich es. Philosophie, Qu'ran...«

Der alte Mann unterbrach ihn spöttisch. »Du verfällst in einen verbreiteten Irrtum. Wie kannst du die Philosophie ablehnen, wenn du sie nicht studiert hast? Die Wissenschaft der Medizin befaßt sich mit dem Körper, während die Philosophie sich mit dem Geist und der Seele beschäftigt, und ein Arzt braucht beides wie Nahrung und Luft. Was die Theologie betrifft - ich konnte den Qu'ran im Alter von zehn Jahren auswendig. Es ist mein Glaube und nicht der deine, aber er wird dir nicht schaden, und zehn Qu'rans auswendig zu lernen wäre nur ein geringer Preis, wenn es dir die Kenntnis der Medizin brächte. Du besitzt den Verstand dazu, denn wir sehen, daß du eine neue Sprache erfaßt hast, und wir stellen an einem Dutzend anderer Beispiele fest, daß du zu vielversprechenden Hoffnungen berechtigst. Aber du darfst keine Angst vor dem Lernen haben, es muß ein Teil von dir und selbstverständlich werden wie das Atmen. Du mußt deinen Verstand weit öffnen, um alles aufzunehmen, was wir dir vermitteln können.« Rob hörte schweigend und aufmerksam zu.

»Dank der uns gemeinsamen Gabe, Jesse ben Benjamin, kann ich einen Mann erkennen, in dem ein Arzt steckt, und in dir spüre ich ein so starkes Bedürfnis zu heilen, daß es schmerzt. Aber das Bedürfnis allein genügt nicht.

Man wird nicht durch einen calaat zum Medicus, was ein Glück ist, denn es gibt schon zu viele unwissende Ärzte. Deshalb haben wir die Schule, um die Spreu vom Weizen zu sondern. Und wenn wir einen würdigen Studenten bemerken, prüfen wir ihn besonders streng. Wenn unsere Prüfungen zu schwer für dich sind, mußt du uns vergessen, wieder als Baderchirurg umherziehen und deine Quacksalbereien verkaufen...« »Arzneien«, verbesserte Rob scharf.

»Dann also deine angeblichen Arzneien. Den Titel hakim muß man verdienen. Wenn du ihn anstrebst, mußt du dich um des Lernens willen plagen und alle Fähigkeiten einsetzen, um mit den anderen Studenten Schritt zu halten und sie zu übertreffen. Du mußt mit dem Eifer des Begnadeten oder des Verfluchten studieren.« Rob holte Luft. Er blickte Ibn Sina noch immer leidenschaftlich in die Augen und sagte sich, daß er sich nicht durch die halbe Welt gekämpft hatte, um dann zu scheitern.

Er erhob sich, um sich zu verabschieden, doch da fiel ihm etwas ein.

»Besitzt Ihr Hunains >Zehn Abhandlungen über das Auge<, Arzt aller Ärzte?«

Nun lächelte Ibn Sina. »Ja.« Er holte eilig das Buch und übergab es seinem Studenten.

Der Maidan

Früh an einem Morgen, an dem Rob es eilig hatte, suchten ihn drei Soldaten auf. Er erschrak und machte sich auf alles Mögliche gefaßt, doch diesmal zeigten sie sich äußerst höflich und respektvoll. Ihr Führer, dessen Atem verriet, daß er zum Frühstück grüne Zwiebeln gegessen hatte, verbeugte sich tief.

»Wir wurden ausgesandt, um Euch zu benachrichtigen, Herr, daß morgen nach dem zweiten Gebet ein Empfang bei Hof stattfindet. Die Träger eines calaat werden dazu erwartet.«

Somit befand sich Rob am nächsten Morgen wieder unter den vergoldeten Gewölben der Halle der Säulen.

Diesmal waren keine Menschenmassen anwesend, was Rob bedauerte, denn der Shahansha strahlte in voller Pracht. Alä-al-Dawla trug einen Turban, ein fließendes Gewand, spitze, purpurne Schuhe, eine karmesinrote Hose mit Wickelgamaschen und eine schwere Krone aus getriebenem Gold. Der Großwesir Imam Mirza-abul Quandrasseh saß auf einem niedrigeren Thron neben ihm. Wie gewöhnlich war er in m«//a&-Schwarz gekleidet.

Die Empfänger eines calaat standen als Beobachter abseits vom Thron. Rob konnte Ibn Sina nirgends sehen und erkannte niemanden in der Nähe außer Khuff, den Stadthauptmann.

Der Boden in der Umgebung Aläs war mit Teppichen, in denen Seiden- und Goldfäden glänzten, bedeckt. Zu beiden Seiten der Throne und ihnen zugewandt saß eine Schar prächtig gekleideter Männer. Rob ging zu Khuff und berührte seinen Arm. »Wer sind sie?« flüsterte er.

Khuff blickte den fremden Hebräer verächtlich an, antwortete aber geduldig, wie es seine Pflicht war: »Das Reich ist in vierzehn Provin-zen unterteilt, in denen es fünfhundertvierundvierzig besondere Orte gibt: Städte, ummauerte Ortschaften und Burgen. Dies hier sind die mirzes, chawns, Sultane und beglerbegs, die dort regieren und unter der Herrschaft von Alä-al-Dawla Shahansha stehen.« Der Empfang sollte offenbar bald beginnen, denn Khuff eilte davon und postierte sich unter der Tür.

Der Botschafter Armeniens war der erste Gesandte, der in der Halle einritt. Er war ein noch junger Mann mit schwarzem Haar und Bart, seiner Erscheinung nach jedoch eine graue Eminenz, denn er ritt eine graue Stute und trug Silberfuchsschwänze auf einem grauen Seidengewand. Hundertfünfzig Schritte vor dem Thron wurde er von Khuff angehalten, der ihm beim Absteigen half und ihn den restlichen Weg führte, damit er Aläs Füße küßte.

Nachdem das erledigt war, überreichte der Gesandte dem Schah verschwenderische Geschenke von seinem Landesherrn, darunter eine große Kristallaterne, neun kleine Kristallspiegel mit Goldrahmen, hundertzwanzig Ellen Purpurstoff, zwanzig Flaschen feines Parfüm und fünfzig Zobelfelle.

Alä hieß den Armenier ohne sonderliches Interesse an seinem Hof willkommen und trug ihm auf, seinem gnädigen Herrn für die Geschenke zu danken.

Als nächster ritt der Gesandte der Khasaren ein, wurde von Khuff in Empfang genommen, und die gesamte Zeremonie wurde wiederholt. Das Geschenk des Khasarenkönigs bestand aus drei schönen Araberpferden und einem angeketteten jungen Löwen, der allerdings nicht gezähmt war, so daß das Tier in seiner Angst auf den Teppich mit den Gold- und Seidenfäden schiß.

Die Anwesenden warteten stumm auf die Reaktion des Schahs. Alä runzelte weder die Stirn noch lächelte er, sondern er wartete, bis Sklaven und Diener eilig die beleidigende Substanz, die Geschenke und den Khasaren entfernten. Die Höflinge zu Füßen des Schahs saßen wie leblose Statuen auf ihren Kissen, den Blick auf den König der Könige gerichtet. Sie waren wie Schatten, bereit, sich im Gleichklang mit Aläs Körper zu bewegen.

Endlich erfolgte ein kaum wahrnehmbares Signal, und alles atmete auf, als der nächste Gesandte, der des Emirs von Qarmatien, angekündigt wurde und auf einem rotbraunen Pferd in die Halle ritt.

Rob schaute weiterhin respektvoll zu, aber im Geist verließ er den Hof, um stumm seine Lektionen zu memorieren. Die vier Elemente: Erde, Wasser, Feuer und Luft; die durch Berührung erkennbaren Eigenschaften: Kälte, Hitze, Trockenheit und Feuchtigkeit; die Temperamente: sanguinisch, phlegmatisch, cholerisch und melancholisch; die Fähigkeiten: körperliche, seelische und geistige. Er stellte sich die einzelnen Teile des Auges vor, wie Hunain sie anführte, nannte sieben Heilkräuter und Medikamente, die für Wechselfieber, und achtzehn, die für Fieber empfohlen wurden, und sagte sogar im Geist mehrmals die neun ersten Strophen der dritten sura des Qu'ran mit dem Titel »Die Familie von Imran« auf. Seine Beschäftigung begann ihm eben zu gefallen, als er unterbrochen wurde, weil er sah, daß Khuff in einen Wortwechsel mit einem herrischen, weißhaarigen alten Mann auf einem nervösen dunklen Fuchs verstrickt war.

»Ich werde als letzter vorgestellt, weil ich ein Seldschukentürke bin. Das ist eine absichtliche Beleidigung meines Volkes.« »Jemand muß der letzte sein, Hadad Kahn, und an diesem Tag ist es Eure Exzellenz«, beruhigte ihn der Stadthauptmann. Wütend versuchte der Seldschuke, das große Pferd an Khuff vorbeizutreiben und bis zum Thron zu reiten. Der grauhaarige alte Soldat tat, als wäre der Hengst und nicht der Reiter schuld. »Ho!«

schrie er, packte den Zügel und versetzte dem Pferd mit seinem Stock mehrere kräftige Schläge auf die Nase, worauf das Tier wieherte und zurückwich.

Die Soldaten hielten den Hengst im Zaum, während Khuff dem khan beim Absteigen half, wobei seine Hände nicht übertrieben sanft mit ihm umgingen. Dann führte er den Gesandten zum Thron. Der Seldschuke führte den ravi zemin nur flüchtig aus und entbot mit zitternder Stimme die Grüße seines Fürsten, ohne Geschenke zu überreichen.

Alä-al Dawla vergeudete kein Wort, sondern entließ ihn kalt mit einem Wink seiner Hand, und die Audienz war zu Ende, die nach Ansicht Robs bis auf den Gesandten der Seldschuken und den scheißenden Löwen außerordentlich langweilig verlaufen war.

Bei Hinda, der Händlerin auf dem Judenmarkt, kaufte er drei mesusas, die kleinen, hölzernen Röhrchen, welche winzige, zusammengerollte Pergamente mit Zitaten aus der Heiligen Schrift enthielten. Sie gehörten zu seiner Tarnung. Er befestigte sie an den rechten Pfosten seiner Türen, nicht weniger als eine Handbreite vom oberen Rand, so wie die mesusas in den jüdischen Häusern von Tryavna angebracht gewesen waren.

Einem indischen Tischler beschrieb er, was er wollte, indem er Skizzen auf die Erde zeichnete, und der Mann fertigte ihm ohne Schwierigkeiten einen groben Tisch aus Olivenholz und einen Stuhl aus Kiefernholz im europäischen Stil an. Von einem Kupferschmied erstand Rob ein paar Küchengeräte. Sonst befaßte er sich kaum mit dem wenig gepflegten Haus, so daß er genausogut in einer Höhle hätte wohnen können. Der Winter stand bevor. Die Nachmittage waren noch heiß, aber die Nachtluft, die durch die Fenster drang, wurde rauh und kündigte den Wechsel der Jahreszeit an. Er fand auf dem armenischen Markt mehrere billige Schaffelle und schlief zufrieden unter ihnen. An einem Freitagabend überredete ihn sein Nachbar Jakob ben Rashi, der Schuhmacher, zum Sabbatessen zu ihm zu kommen. Es war ein bescheidenes, aber gemütliches Haus, und Rob genoß zunächst die Gastfreundschaft. Naoma, Jakobs Frau, bedeckte ihr Gesicht und sprach den Segen über die Wachskerzen. Die dralle Tochter Lea trug eine schmackhafte Mahlzeit aus Flußfischen, gedünstetem Geflügel, pilaw und Wein auf. Lea hielt den Blick zumeist sittsam gesenkt, lächelte jedoch Rob einige Male an. Sie war im heiratsfähigen Alter, und ihr Vater machte zweimal während des Essens vorsichtige Andeutungen über ihre beträchtliche Mitgift. Man schien allgemein enttäuscht zu sein, als Rob sich bald zu seinen Büchern zurückzog und sich dankend verabschiedete.

Sein Leben verlief nach einer festen Ordnung. Tägliche religiöse Übungen waren für den Studenten der madrassa obligatorisch. Die Juden durften ihren eigenen Gottesdienst besuchen, weshalb Rob jeden Morgen zur Synagoge ging, die Haus des Friedens hieß. Die Vormittage waren mit Vorlesungen in Philosophie und Religion, die er mit grimmiger Zielstrebigkeit besuchte, und mit einer Unmenge von medizinischen Kursen ausgefüllt. Er machte Fortschritte in der persischen Sprache, doch es kam immer

wieder während einer Vorlesung vor, daß er gezwungen war, nach der Bedeutung eines Wortes oder einer Redewendung zu fragen. Manchmal gaben ihm die anderen Studenten eine Erklärung, oft freilich auch nicht.

Eines Morgens erwähnte Sajjid Sa'di, der Philosophielehrer, das gash-tagh-daftaran. Rob beugte sich zu Abbas Sefi, der neben ihm saß. »Was ist das gashtagh-daftaran?«

Aber der dicke Medizinstudent warf ihm nur einen ärgerlichen Blick zu und schüttelte den Kopf.

Jemand stieß Rob in den Rücken. Als er sich umdrehte, sah er Karim Harun auf dem steinernen Sitz hinter und über ihm. Karim grinste. »Eine Schule von alten Schreibern«, flüsterte er. »Sie haben die Geschichte der Astrologie und der frühen persischen Wissenschaft aufgezeichnet.« Der Sitz neben ihm war frei, und er zeigte darauf. Rob wechselte den Platz. Von nun an sah er sich um, sooft er eine Vorlesung besuchte; wenn Karim anwesend war, saßen sie nebeneinander.

Der liebste Teil des Tages war ihm der Nachmittag, an dem er im maristan arbeitete. Das wurde in seinem dritten Monat an der Schule, als er an die Reihe kam, die Patienten zu untersuchen, noch besser. Der Aufnahmevorgang setzte ihn wegen seiner Kompliziertheit in Staunen, doch al-Juzjani zeigte ihm, wie es gemacht wurde. »Hör gut zu, denn das ist eine wichtige Aufgabe!« »Ja, Hakim.« Er hatte sich angewöhnt, al-Juzjani immer gut zuzuhören, denn er hatte bald gemerkt, daß der Chirurg neben Ibn Sina der beste Arzt am maristan war. Einige Studenten hatten ihm verraten, daß al-Juzjani zwar die längste Zeit seines Lebens Ibn Sinas Assistent und Mitarbeiter gewesen war, daß er jedoch aus eigener Machtbefugnis sprach.

»Du mußt die ganze Geschichte des Kranken aufzeichnen, und bei der ersten Gelegenheit wirst du sie ausführlich mit einem älteren Arzt besprechen.«

So wurde also jeder Kranke nach seiner Beschäftigung, seinen Gewohnheiten, nach ansteckenden Krankheiten, an denen er gelitten hatte, sowie nach Atem-, Magen- und Harnbeschwerden gefragt. Der Patient mußte die gesamte Kleidung ablegen, und die körperliche Untersuchung umfaßte auch eine gehörige Prüfung von Speichel, Erbrochenem, Urin und Exkrementen; auch der Puls wurde gemessen, und man versuchte, anhand der Wärme der Haut festzustellen, ob der Patient Fieber hatte.

Al-Juzjani zeigte ihm, wie er mit je einer Hand gleichzeitig über beide Arme des Patienten, dann über beide Beine, dann über beide Seiten des Körpers streichen mußte, damit jedes Gebrechen, jede Schwellung oder andere Unregelmäßigkeit erkannt wurde, weil sie sich anders anfühlte als das normale Glied oder die normale Seite. Er zeigte ihm auch, wie er mit den Fingerspitzen scharf und kurz auf den Körper des Patienten klopfen mußte, um vielleicht ein abnormales Geräusch zu bemerken und auf diesem Weg eine Krankheit zu entdecken. Vieles davon war für Rob neu und merkwürdig, aber er wurde rasch mit der Routine vertraut, und er fand sich leicht zurecht, weil er schon jahrelang Patienten untersucht hatte.

Seine schwierigste Tageszeit begann am frühen Abend, wenn er in sein Haus in der Jehuddijeh zurückkehrte, denn da begann der Kampf zwischen dem Bedürfnis zu studieren und dem Bedürfnis zu schlafen. Aristoteles erwies sich dabei als weiser alter Grieche, und Rob lernte, daß ein fesselnder Gegenstand das an sich unangenehme Studium zu einem Vergnügen machen konnte. Dies war eine bedeutsame Entdek-kung, vielleicht die einzige, die ihm ermöglichte, so verbissen zu arbeiten, wie es notwendig war, denn Sajjid Sa'di schrieb ihm bald vor, Plato zu lesen; und al-Juzjani trug ihm so nebenbei, als solle er ein Stück Holz ins Feuer legen, auf, die zwölf Bücher über Medizin in der »Historia naturalis« des Plinius zu lesen - »als Vorbereitung für die Lektüre des gesamten Galen im nächsten Jahr«. Rob mußte auch ständig den Qu'ran auswendig lernen. Je mehr er seinem Gedächtnis zumutete, desto gereizter wurde er, zumal das Buch aus Wiederholungen bestand und voller Anschuldigungen gegen Juden und Christen war.

Aber er gab nicht auf. Er verkaufte den Esel und das Maultier, damit er keine Zeit mehr für sie aufwenden mußte. Er aß seine Mahlzeiten schnell und ohne Vergnügen; der Leichtsinn hatte keinen Raum in seinem Leben.

Jeden Abend las er, bis er nicht mehr konnte, und es gelang ihm, winzige Mengen Öl in seine Lampe zu gießen, damit sie von selbst erlosch, wenn sein Kopf auf seine Arme sank und er am Tisch über seinen Büchern einschlief. Jetzt wußte er, warum Gott ihm

einen großen, kräftigen Körper und gute Augen gegeben hatte, denn sein Bemühen, ein Gelehrter zu werden, strengte ihn bis zur Grenze seiner Leistungsfähigkeit an.

Eines Abends, als er nur noch wußte, daß er nicht mehr studieren konnte und ausspannen mußte, floh er aus dem Häuschen in der Jehuddijeh und stürzte sich in das Nachtleben des nächstgelegenen maidan.

Er war die weiten Plätze der Stadt gewöhnt, wie sie ihm tagsüber erschienen: von der Sonne ausgedörrte, freie Räume, auf denen nur wenige Leute umhergingen oder schlafend im Schatten lagen. Doch er stellte fest, daß diese Plätze bei Nacht kühl und lebendig wurden und daß auf ihnen ausgelassene Feste unter den Männern des einfachen Volkes stattfanden.

Rob blieb an einem mit Fackeln beleuchteten Bücherstand stehen, wo der erste Band, den er sich ansah, eine Sammlung von Zeichnungen enthielt. Jede Skizze zeigte im Grunde das gleiche: Mann und Frau, die geschickt in den verschiedenen Stellungen des Liebesaktes abgebildet waren, Stellungen, die ihm nicht einmal in seinen kühnsten Träumen eingefallen wären.

»Alle vierundsechzig sind abgebildet, Herr«, warb der Buchhändler. Rob hatte nicht die geringste Ahnung, was mit den vierundsechzig gemeint war. Er wußte nur, daß es gegen das Gesetz des Islam war, Bilder von der menschlichen Gestalt zu verkaufen oder zu besitzen, denn der Qu'ran besagte, daß Allah - Er sei gepriesen! - der einzige Schöpfer des Lebens war. Aber das Buch fesselte Rob, und er kaufte es. An einem Getränkestand wurde ihm von einem weibischen Kellner ein Lustknabe angeboten. Er winkte aber lieber einer gut instandgehaltenen Kutsche, auf deren Tür eine Lilie gemalt war. Drinnen war es dunkel. Eine Frau wartete, bis die Maultiere die Kutsche in Bewegung setzten, bevor sie sich regte.

Bald sah er sie so gut, um erkennen zu können, daß der füllige Körper gut auch ihn zur Welt gebracht haben könnte. Während des Aktes fand er sie angenehm, denn sie war eine ehrliche Hure; sie täuschte keine Leidenschaft oder angebliches Vergnügen vor, sondern betreute ihn sanft und geschickt. Nachher zog die Frau an einer Schnur, um dem Zuhälter auf dem Kutschbock die Beendigung des Beischlafs anzuzeigen, worauf dieser die Maultiere zügelte.

»Bring mich nach der Jehuddijeh«, rief Rob. »Ich werde die Zeit bezahlen.«

Sie lagen bequem in der schwankenden Kutsche. »Wie heißt du?« fragte er.

»Lorna.« Sie war erfahren genug, um nicht nach seinem Namen zu fragen.

»Ich bin Jesse ben Benjamin.«

»Sei gegrüßt, Dbimmi!« Sie berührte schüchtern die angespannten Muskeln in seinen Schultern. »Warum sind sie wie Seilknoten? Wovor hast du Angst, ein großer junger Mann wie du?«

»Ich fürchte, ich bin ein Ochse, wenn ich ein Fuchs sein müßte.« Er erwiderte ihr Lächeln.

»Du bist kein Ochse, das habe ich gemerkt«, antwortete sie trocken.

»Was machst du hier?«

»Ich studiere am maristan, um Medicus zu werden.«

»Ah. Wie der Arzt aller Ärzte. Meine Kusine ist Köchin bei seiner ersten Frau, seit er in Isfahan weilt.«

»Kennst du den Namen seiner Tochter?« fragte er.

»Es gibt keine Tochter, Ibn Sina hat keine Kinder. Er hat zwei Frauen, Reza, die Fromme, die alt und krank ist, und Despina, die Häßliche, die aber jung und schön ist, aber Allah - Er sei gepriesen! - hat keine von beiden mit Nachkommen gesegnet.«

»Ich verstehe.«

Er nahm sie noch einmal gemächlich, bevor die Kutsche in der Jehuddijeh ankam. Dann dirigierte er den Kutscher bis zu seiner Tür und bezahlte gut dafür, daß er dank dieser Frau wieder fähig war, hineinzugehen, seine Lampe anzuzünden und sich seinen besten Freunden und schlimmsten Feinden, den Büchern, zu stellen.

Die Belustigung des Schahs

Er befand sich in einer großen Stadt inmitten von Menschen, lebte aber dennoch einsam. Jeden Morgen kam er mit den anderen Studenten

zusammen, und jeden Abend verließ er sie wieder. Er wußte, daß Karim, Abbas und noch einige in Zellen innerhalb der madrassa untergebracht waren, und er nahm an, daß Mirdin Askari und die anderen jüdischen Studenten irgendwo in der Jehuddijeh wohnten, aber er hatte keine Ahnung, wie ihr Leben außerhalb der Schule und des Krankenhauses verlief. Vermutlich weitgehend wie das seine, ausgefüllt mit Lesen und Lernen. Er war zu beschäftigt, um sich seiner Einsamkeit bewußt zu werden.

Nur zwölf Wochen lang blieb Rob damit betreut, neue Patienten ins Krankenhaus aufzunehmen, dann wurde ihm eine Aufgabe zugeteilt, die er haßte: Die diensttuenden Studenten waren abwechselnd an den Tagen, an denen vom kelonter Urteile vollstreckt wurden, ans islamischen Gericht befohlen.

Robs Magen revoltierte, als er zum erstenmal ins Gefängnis zurückkam und an den carcans vorbeiging. Ein Wächter führte ihn zu einem Verlies, in dem sich ein Mann stöhnend hin und her warf. An der Stelle, an der sich die rechte Hand des Gefangenen befinden sollte, war ein grober, blauer Lappen mit einer Hanfschnur an den Stumpf gebunden, über dem der Unterarm schrecklich angeschwollen war. »Kannst du mich hören? Ich heiße Jesse.« »Ja, Herr«, murmelte der Mann. »Wie heißt du?« »Ich bin Djahel.«

»Wie lange ist es her, seit sie dir die Hand abgeschlagen haben?« Der Mann schüttelte verwirrt den Kopf. »Zwei Wochen«, antwortete der Wächter an seiner Statt. Rob nahm den Lappen ab und fand eine Einlage aus Pferdemist. Als Baderchirurg hatte er oft gesehen, daß Mist auf diese Weise verwendet wurde, aber er wußte, daß dies selten vorteilhaft und meist schädlich war. Er warf die Einlage weg.

Der Unterarm war hinter der Amputationsstelle mit einer weiteren Hanfschnur abgebunden. Infolge der Schwellung hatte sich die Schnur in das Gewebe eingeschnitten, und der Arm begann bereits schwarz zu werden.

Rob schnitt die Schnur durch und wusch den Stumpf langsam und sorgfältig. Er rieb ihn mit einer Mischung aus Sandelholz und Rosenwasser ein, bedeckte ihn anstelle des Mistes mit Kampfer, so daß Djahel zwar stöhnte, aber Erleichterung empfand.

Das war aber auch schon der beste Teil dieses Tages, denn er wurde von den Verliesen zum Gefängnishof geführt, wo die Bestrafungen begannen.

Sie spielten sich genauso ab, wie er sie während seiner Gefangenschaft hier erlebt hatte, nur daß er, während er im carcan gehangen hatte, sich in Bewußtlosigkeit hatte flüchten können. Jetzt stand er starr zwischen den mullahs, die Gebete sangen, während ein muskulöser Wächter ein übergroßes Krummschwert hob. Der Gefangene, ein Mann mit aschgrauem Gesicht, der wegen Anstiftung zum Verrat und Aufruhr verurteilt worden war, wurde gezwungen, niederzuknien und die Wange auf den Block zu legen.

»Ich liebe den Schah! Ich küsse seine geheiligten Füße!« schrie der kniende Mann in einem vergeblichen Versuch, das Urteil abzuwenden, doch niemand antwortete ihm, und das Schwert sauste herab. Der Schlag war sauber geführt, und der Kopf mit den vor Angst und Qual hervorquellenden Augen rollte bis vor einen carcan.

Die sterblichen Überreste des Hingerichteten wurden fortgeschafft, dann wurde einem jungen Mann, der mit der Frau eines anderen ertappt worden war, der Bauch aufgeschlitzt. Diesmal benutzte der Scharfrichter einen langen, schlanken Dolch, mit dem er den Bauch von links nach rechts aufschnitt, so daß die Gedärme des Ehebrechers rasch herausquollen.

Zum Glück gab es keine Mörder, die gestreckt, gevierteilt und dann ausgelegt worden wären, um von Hunden und Aasgeiern gefressen zu werden.

Ein Dieb, der noch sehr jung war, beschmutzte sich vor Angst und Schmerz, als ihm die Hand abgeschlagen wurde. Es stand zwar ein Krug mit heißem Pech bereit, aber Rob brauchte ihn nicht, denn die Wucht des Schwertschlages verschloß den Stumpf, den Rob nur waschen und verbinden mußte.

Bei einer dicken, weinenden Frau war die Arbeit unangenehmer. Sie war verurteilt worden, weil sie sich zum zweitenmal über den Qu'ran lustig gemacht hatte, und ihr wurde die Zunge herausgeschnitten. Das rote Blut spritzte hervor, während sie heiser und wortlos schrie, bis es Rob gelang, die Blutgefäße abzuklemmen.

Ein wilder Haß auf die mohammedanische Justiz und Qandrassehs Gerichtshof begann sich in ihm zu regen.

»Das ist eines eurer wichtigsten Werkzeuge«, erklärte Ibn Sina den Medizinstudenten feierlich. Er hielt ein Uringlas hoch, das seit den Römern matula genannt wurde. Es war glockenförmig und hatte einen breiten, gebogenen Rand, um den Urin aufzufangen. Ibn Sina hatte einem Glasbläser beigebracht, die matulae für seine Ärzte und Studenten herzustellen.

Rob wußte längst, daß etwas nicht stimmte, wenn der Urin Blut oder Eiter enthielt, Ibn Sina aber hatte bereits zwei Wochen lang nur über den Urin vorgetragen.

War er dünn oder ölig? Die feinen Abstufungen des Geruchs wurden beurteilt und besprochen. Wies süßlicher Duft auf Zucker hin? Oder kreidiger Geruch auf das Vorhandensein von Steinen? Roch er infolge einer verzehrenden Krankheit säuerlich? Oder scharf nach Gras, weil jemand Spargel gegessen hatte? Floß der Harn reichlich, bedeutete das, daß der Körper die Krankheit hinausschwemmte. Floß er spärlich, konnte das bedeuten, daß inneres Fieber die Säfte des Organismus austrocknete.

Was die Färbung betraf, lehrte Ibn Sina seine Schüler, den Urin mit dem Blick eines Künstlers für seine Farbpalette zu betrachten. Einundzwanzig Farbabstufungen von fast Farblos über Gelb, dunklen Ocker, Gelbrot und Braun bis zu Schwarz zeigten die verschiedenen Kombinationen von contenta oder unaufgelösten Bestandteilen an. Warum all dieses Getue über Pisse? dachte Rob müde. Laut fragte er: »Warum ist der Urin denn so wichtig?«

Ibn Sina lächelte. »Er kommt aus dein Körperinneren, wo sich wichtige Dinge abspielen.« Der Arzt aller Ärzte las ihnen einen Ausschnitt aus den Schriften Galens vor, in dem es hieß, daß die Nieren die Organe seien, die den Urin absonderten:

Jeder Schlächter weiß das aufgrund der Tatsache, daß er jeden Tag die Lage der Nieren und die der Harnröhre -

Ureter genannt - sieht, die von jeder der beiden Nieren in die Blase führt, und wenn er die Anatomie betrachtet, schließt er daraus, was der Zweck der Nieren ist und welchen Vorgängen diese dienen.

Die Vorlesung brachte Rob in Harnisch. Ärzte sollten sich nicht mit Schlächtern beraten oder anhand von toten Schafen und Schweinen

lernen müssen, wie Menschen gebaut sind. Wenn es so verdammt wichtig war zu wissen, was in den Körpern von Männern und Frauen vorging, warum schauten sie dann nicht in Männer und Frauen hinein? Wenn man Qandrassehs mullahs bei der Paarung oder einer Sauferei fröhlich vergessen konnte, warum wagten dann die Ärzte nicht, sich über die heiligen Männer hinwegzusetzen, um ihr Wissen zu erweitern ? Niemand sprach von ewiger Verstümmelung oder Wiedererweckung der Toten, wenn ein islamischer Gerichtshof einem Gefangenen den Kopf abschnitt oder den Bauch aufschlitzte.

Früh am nächsten Morgen kamen zwei von Khuffs Palastwächtern mit einem von Maultieren gezogenen Wagen in die Jehuddijeh, um Rob abzuholen.

»Seine Majestät wird heute Besuche abstatten, Herr, und fordert Eure Anwesenheit«, meldete einer der Soldaten.

Was jetzt? fragte sich Rob.

»Der Stadthauptmann ersucht Euch um Eile.« Der Soldat räusperte sich verlegen. »Vielleicht wäre es besser, wenn der Herr seine besten Kleider anlegt.«

»Ich trage meine besten Kleider«, erwiderte Rob. Sie ließen ihn hinten im Wagen auf einigen Reissäcken Platz nehmen und hasteten mit ihm davon.

Sie verließen die Stadt in einer wahren Verkehrskolonne, die aus Höflingen zu Pferde und in Sänften bestand.

Dazwischen fuhren die verschiedensten Wagen, die Geräte und Vorräte beförderten. Trotz seines einfachen Gefährts fühlte sich Rob königlich, denn er war noch nie über frisch geschotterte und mit Wasser besprengte Straßen gefahren. Jener Teil der Straße, auf dem, wie die Soldaten erzählten, nur der Schah reiste, war mit Blumen bestreut.

Die Fahrt endete vor dem Haus von Rotun ben Nasr, einem General der Armee. Der entfernte Vetter des Schahs war Ehrenvorsitzender der madrassa. »Das ist er«, sagte einer der Soldaten zu Rob und zeigte auf einen strahlenden, redseligen, affektierten, dicken Mann. Der stattliche Besitz umfaßte ausgedehnte Ländereien. Die Belustigung des Schahs begann in einem weitläufigen, gepflegten Garten, in dessen Mitte ein großer Marmorbrunnen plätscherte. Rund um das Becken waren Teppiche aus Seide und Goldfäden ausgebreitet worden, die mit

reich bestickten Kissen übersät waren. Diener eilten überall mit Tabletts umher, die mit Zuckerwerk, Bäckereien, parfümierten Weinen und anderen duftenden Getränken beladen waren. Außerhalb eines Tores an der Längsseite des Gartens bewachte ein Eunuch mit blankem Schwert ein drittes Tor, das zum Harem führte. Nach mohammedanischem Gesetz durfte nur der Herr des Hauses die Gemächer der Frauen betreten, und jeder männliche Eindringling mußte damit rechnen, daß ihm der Bauch aufgeschlitzt wurde. Somit hielt sich Rob gern vom dritten Tor entfernt und wanderte aus dem Garten hinaus auf einen angrenzenden offenen Platz voller Tiere, Adeliger, Sklaven, Diener und einem Heer von Gauklern und anderen Unterhaltungskünstlern, die alle zugleich übten.

Eine Schar edler vierbeiniger Geschöpfe war hier versammelt. In jeweils zwanzig Schritt Entfernung voneinander war ein Dutzend der erlesensten Araberschimmelhengste, die er je gesehen hatte, angebunden. Ihre mutigen, dunklen Augen blickten nervös und stolz. Ihr Geschirr war einer näheren Betrachtung wert, denn vier der Zaumzeuge waren mit Smaragden, zwei mit Rubinen, drei mit Diamanten und drei mit verschiedenfarbigen Edelsteinen verziert, die Rob nicht benennen konnte. Die Pferde waren in tief herabhängende, deckenartige Schabracken aus perlenbesetztem Goldbrokat gehüllt und mit geflochtenen Kordeln aus Seide und Gold an Ringe gebunden, die an dicken, goldenen, in den Boden getriebenen Stiften befestigt waren. Dreißig Schritt von den Pferden entfernt sah er wilde Tiere: zwei Löwen, einen Tiger und einen Leoparden; jedes einzelne ein prächtiges Exemplar auf einem eigenen, großen, scharlachroten Teppich. Die Raubtiere waren auf die gleiche Weise angebunden wie die Pferde, vor jedem stand eine goldene Wasserschüssel.

In einem Gehege dahinter stand ein halbes Dutzend weißer Antilopen beisammen, deren lange Hörner - anders als bei den Hirschen in England - vollkommen gerade waren. Sie beäugten ängstlich die Großkatzen, die sie schläfrig anblinzelten.

Doch Rob verbrachte nur wenig Zeit bei diesen Tieren, er kümmerte sich kaum um all die Gladiatoren, Ringer, Bogenschützen und dergleichen, sondern lief an ihnen vorbei zu einem riesigen Geschöpf, das sofort seine Aufmerksamkeit erregte. In Reichweite von ihm blieb er stehen: Es war der erste lebende Elefant, den er sah.

Das Tier war noch massiger, als Rob erwartet hatte, und viel größer als jene Bronzestatue, die er in Konstantinopel gesehen hatte. Der Elefant war um die Hälfte höher als ein hochgewachsener Mann. Jedes seiner vier Beine glich einer dicken Säule, die in einem kreisrunden Fuß endete. Die faltige Haut schien für den Körper zu weit zu sein, war grau und von großen rosa Flecken übersät, die wie Flechten auf einem Felsen aussahen. Der gewölbte Rücken war höher als die Schulter, und vom Rumpf baumelte ein dickes Seil von Schwanz mit ausgefranstem Ende. Im Verhältnis zum riesigen Kopf erschienen die rosa Augen winzig, obwohl sie gar nicht so klein waren. Auf der schrägen Stirn befanden sich zwei kleine Höcker, als würden dort Hörner erfolglos versuchen durchzubrechen. Die sanft schwingenden Ohren waren beinahe so groß wie der Schild eines Kriegers, aber das hervorstechendste Merkmal dieses außergewöhnlichen Geschöpfes war seine Nase, die sich gleich einer riesigen Schlange dem Betrachter entgegenwölbte.

Der Elefant wurde voi> einem feingliedrigen Inder betreut, der eine graue Tunika und dazu einen weißen Turban, eine weiße Schärpe und eine weite Hose trug. Auf Robs Frage sagte er, er heiße Harsha und sei der mahout oder Elefantenwärter. Der Elefant sei Alä-al-Dawlas persönliches Reittier im Kampf und heiße Zi, die Abkürzung für Zi-al-Quarnayn, der Zweihörnige, zu Ehren der gefährlichen, vorstehenden Zähne, die gebogen und so lang waren, wie Rob groß war, und aus dem Oberkörper des Ungeheuers herausragten.

»Wenn wir in die Schlacht ziehen«, erzählte der Inder stolz, »trägt Zi einen eigenen Panzer, und an seinen Stoßzähnen sind lange, scharfe Schwerter befestigt. Er ist für den Kampf geschult, und wenn Seine Exzellenz auf seinem trompetenden Kriegselefanten angreift, lassen dessen Anblick und dieser Laut das Blut jedes Feindes erstarren.« Der mahout ließ die Diener ununterbrochen Eimer mit Wasser bringen. Diese wurden in ein großes Goldgefäß geleert, aus dem das Tier Wasser in seine Schlangennase saugte, das es dann in seinen Mund spritzte.

Rob blieb beim Elefanten, bis ein Wirbel von Trommeln und Zimbeln die Ankunft des Schahs verkündete, dann kehrte er mit den anderen Gästen in den Garten zurück. Alä Shahansha trug im Gegensatz zu den Gästen, die wie für einen

Staatsakt gekleidet waren, einfache, weiße Kleidung. Er erwiderte den ravi zemin mit einem Nicken und nahm auf einem prächtigen Stuhl, der erhöht über den Kissen der anderen Gäste stand, Platz. Die Belustigung begann mit einer Darbietung der Schwertfechter, die ihre Krummsäbel mit solcher Kraft und Anmut schwangen, daß die Zuschauer gebannt den abgezirkelten Bewegungen einer Kampfübung folgten, die so ritualisiert war wie ein Tanz. Rob bemerkte, daß der Krummsäbel leichter war als das englische Schwert und schwerer als das französische; er erforderte beim Stoß die Geschicklichkeit eines Duellanten, beim Schlagen aber starke Handgelenke und Arme. Die aufregende Darbietung war für Rob viel zu früh zu Ende. Akrobatische Zauberer zogen als nächste eine große Schau ab. Sie pflanzten einen Samen in die Erde, bewässerten ihn und bedeckten ihn mit einem Tuch. Hinter einer Wand von durcheinanderwirbelnden Körpern, genau auf dem Höhepunkt ihrer akrobatischen Darbietung, zog einer von ihnen heimlich das Tuch weg, stieß einen belaubten Zweig in den Boden und bedeckte ihn wieder; Sowohl die Ablenkung als auch die Täuschung waren für Rob klar ersichtlich, weil er auf sie gewartet hatte, und so war er belustigt, als das Tuch schließlich entfernt wurde und die Zuschauer

»dem magisch wachsenden Baum« Beifall spendeten.

Alä Shahansha war sichtlich unruhig, als die Ringkämpfe begannen. »Meinen Langbogen«, rief er. Als der Bogen gebracht wurde, spannte und entspannte er ihn und zeigte seinen Höflingen, wie leicht er die schwere Waffe handhaben konnte. Die Menschen in seiner Umgebung bewunderten murmelnd seine Kraft, während andere die entspannte Stimmung nutzten und plauderten. Nun erst erfuhr Rob den Grund, weshalb er eingeladen war: Als Europäer stellte er wie die Tiere oder die Artisten eine zur Schau gestellte Kuriosität dar, und die Perser bestürmten ihn mit Fragen.

»Besitzt Ihr in Eurem Land - wie heißt es doch? - auch einen Schah?« »Es heißt England. Ja, wir haben einen König. Er heißt Knut.« »Sind die Männer Eures Landes Krieger und Reiter?« fragte ein alter Mann mit klugen Augen neugierig. »Ja, ja, große Krieger und hervorragende Reiter.« »Wie ist das Wetter und das Klima?«

»Kälter und feuchter als hier.«

»Und die Nahrung?«

»Anders als die Eure, nicht so stark gewürzt. Wir kennen keinen pilaw.«

Darüber waren alle entsetzt. »Keinen pilaiv!« wiederholte der Alte verächtlich.

Sie umringten ihn, aber eher aus Neugierde als aus Zuneigung, und er fühlte sich in ihrer Mitte allein.

Alä Shahansha erhob sich. »Laßt uns zu den Pferden gehen!« rief er ungeduldig, und die Menge strömte hinter ihm auf das nahe Feld, obwohl die Ringer immer noch knurrend miteinander kämpften.

»Ball-und-Stock, Ball-und-Stock!« rief jemand und wurde sofort mit Beifall belohnt.

»Laßt uns spielen!« stimmte der Schah zu, wählte drei Männer als seine Mannschaft aus und vier Männer als ihre Gegner.

Ihre Pferde, die auf das Feld geführt wurden, waren zähe Ponys, die ein ganzes Stück kleiner waren als die verwöhnten weißen Hengste. Als alle aufgesessen waren, erhielt jeder Spieler einen langen, elastischen Stock, der am Ende gekrümmt war.

An den beiden Schmalseiten des langen Spielfeldes befanden sich je zwei ungefähr acht Schritt voneinander entfernte Steinsäulen. Jede Mannschaft galoppierte auf ihren Pferden zu einem solchen Tor, stellte sich davor in einer Reihe auf, so daß sich die Reiter wie feindliche Armeen gegenüberstanden. Ein Offizier, der als Schiedsrichter eingesetzt war, stand abseits von ihnen und rollte einen Holzball von der Größe eines Apfels in die Mitte des Feldes. Die Zuschauer begannen zu schreien. Die Pferde stürmten in scharfem Galopp aufeinander zu, die Reiter schwenkten schreiend ihre Stöcke.

Mein Gott, dachte Rob entsetzt. Gebt acht, gebt acht! Drei Pferde stießen mit einem widerlichen Geräusch zusammen, eines von ihnen stürzte und überschlug sich, so daß sein Reiter in hohem Bogen davonflog. Der Schah riß seinen Stock herum, traf den Holzball voll, und die Pferde stürmten hinter ihm her, daß aus dem Rasen Fetzen flogen und die Hufe trommelten.

Das gestürzte Pferd wieherte schrill, als es versuchte, auf dem gebrochenen Sprunggelenk zu stehen. Ein paar Reitknechte kamen herbei, schnitten ihm die Kehle durch und schleppten es vom Feld, noch bevor sein Reiter auf die Füße gekommen war. Der hielt sich den linken Arm und lächelte mit zusammengebissenen Zähnen. Rob nahm an, daß der Arm gebrochen war, und näherte sich dem Verletzten.

»Soll ich Euch helfen?« »Seid Ihr ein Medicus?« »Ein Baderchirurg und Student im maristan.«

Der Adelige verzog erstaunt und empört das Gesicht. »Nein, nein! Wir müssen Abu Ubaid al-Juzjani rufen«, wehrte er ab, und sie führten ihn weg.

Sofort wurden ein anderes Pferd und ein frischer Mann ins Spiel genommen. Die acht Reiter hatten anscheinend vergessen, daß sie spielten. Sie trieben, als würden sie eine Schlacht austragen, ihre Pferde mit Peitschenhieben aufeinander zu, und beim Versuch, den Ball zu treffen und ihn zwischen die Torpfosten zu treiben, schlugen sie in gefährlicher Nähe ihrer Gegner und deren Pferden herum. Auf den Schah wurde keine Rücksicht genommen.

Männer, die sonst zweifellos getötet worden wären, wenn sie ihrem Herrscher einen verärgerten Blick zugeworfen hätten, taten jetzt ihr Bestes, um ihn zum Krüppel zu schlagen, und dem Murren und Flüstern der Zuschauer entnahm Rob, daß es ihnen nicht mißfallen hätte, wenn Alä Shah-ansha von einem Stockschlag getroffen oder abgeworfen worden wäre. Doch der Schah entging diesem Mißgeschick. Er ritt rücksichtslos wie die anderen, aber mit verblüffender Geschicklichkeit und lenkte sein Pony, ohne die Hände zu gebrauchen, die den Stock hielten, mit kaum erkennbarem Schenkeldruck. Er saß kräftig und selbstsicher im Sattel und ritt, als wäre er mit seinem Pferd verwachsen. Er beherrschte die Reitkunst auf eine Weise, wie Rob sie noch nie erlebt hatte. Verlegen dachte der an den alten Mann, der ihn nach der englischen Reitkunst gefragt und dem er versichert hatte, daß es um sie vortrefflich bestellt sei.

Die Luft war mit Staub erfüllt, und die Zuschauer schrien sich heiser. Trommeln dröhnten, und Zimbeln wurden ekstatisch aneinander geschlagen, wenn jemand einen Treffer erzielte, und schließlich hatte die Mannschaft des Schahs den Ball fünfmal zwischen die Pfosten getrieben, ihre Gegner jedoch nur dreimal. Das Spiel war zu Ende. Aläs Augen leuchteten zufrieden, als er abstieg, denn allein er hatte zwei Treffer erzielt. Während die Ponys weggeführt wurden, pflockte

man zwei junge Stiere in der Mitte des Feldes an, und zwei Löwen wurden auf sie losgelassen. Der Kampf war erstaunlich ungerecht, denn kaum waren die Großkatzen frei, wurden die Stiere von ihren Treibern niedergerissen. Man schlug ihnen Äxte über die Schädel und ließ dann die Raubtiere das noch zuckende Fleisch zerreißen. Doch Rob begriff, daß hier menschliche Hilfe gewährt wurde, weil Alä Shahansha der Löwe von Persien war. Es wäre ungehörig und ein schlimmes Vorzeichen gewesen, wenn durch einen unglücklichen Zufall während dieser Belustigung ein Stier den Sieg über das Symbol der unerschütterlichen Macht des Königs der Könige errungen hätte.

Im Garten wiegten sich jetzt vier verschleierte Frauen zur Musik von Pfeifen im Takt, während ein Dichter von den buri sang, den blühenden, sinnlichen Jungfrauen des Paradieses. Alä Shahansha erhob sich, verließ die Menschen am Teich, ging an dem Eunuchen mit dem bloßen Schwert vorbei und begab sich in den Harem. Rob starrte als einziger irritiert dem König nach, als Khuff, der Stadthauptmann, zu dem Eunuchen trat, um mit ihm das dritte Tor zu bewachen. Die fröhlichen Gespräche wurden lauter, in der Nähe lachte General Rotun ben Nasr, der Gastgeber der Belustigung des Schahs und Hausherr, laut über seine eigenen Scherze, als hätte Alä nicht soeben angesichts des halben Hofes seine Frauen aufgesucht. Hat man vom mächtigsten Herrn der Welt nichts anderes zu erwarten? fragte sich Rob.

Eine Stunde später kehrte der Schah huldvoll lächelnd zurück. Khuff verließ das dritte Tor, gab ein unauffälliges Zeichen, und das Festmahl konnte beginnen.

Die schönsten weißen Teller wurden auf Brokatdecken gestellt. Vier verschiedene Brotarten und acht verschiedene pilaws wurden gebracht, letztere in so großen Silberschüsseln, daß eine einzige für alle Gäste gereicht hätte. Der Reis besaß in jeder Schüssel eine andere Farbe und ein anderes Aroma, je nachdem er mit Safran, Zucker, Pfeffer, Zimt, Gewürznelken, Rhabarber, Granatapfelsaft oder Zitronensaft zubereitet worden war. Auf vier riesigen Tranchierbrettern lagen jeweils zwölf Hühner, auf zweien geschmorte Antilopenlenden, auf einem war auf dem Rost gebratenes Schaffleisch angehäuft, und vier weitere hatte man mit ganzen Lämmern beladen, die auf dem Spieß zart, saftig und knusprig gebraten worden waren. Bader, Bader, wie schade, daß du nicht hier sein kannst! dachte Rob. Für jemanden, der von einem solchen Meisterkoch gelernt hatte, schmackhafte Speisen zu würdigen, hatte Rob in den letzten Monaten viel zu oft nur hastig spartanische Mahlzeiten zu sich genommen, um sich dem Studieren widmen zu können. Jetzt seufzte er und kostete alles mit Lust und Liebe.

Als die langen Schatten m Dämmerung übergingen, befestigten die Sklaven große Fackeln auf dem Rückenpanzer lebender Schildkröten und zündeten sie an. Vier übergroße Kessel wurden aus der Küche auf Stangen herangeschleppt. Einer war angefüllt mit Hühnereiern, die zu einer Creme geschlagen worden waren, einer enthielt eine nahrhafte klare Suppe mit Krautern, einer war mit kleingehacktem Fleisch gefüllt, das mit scharfen Gewürzen versehen worden war, und der letzte enthielt dicke Scheiben von gebratenem Fisch, den Rob zwar nicht kannte, dessen Fleisch aber weiß und locker war und so köstlich schmeckte wie Forelle.

Aus der Dämmerung wurde Dunkelheit. Nachtvögel schrien. Sonst hörte man nur leises Gemurmel, Rülpsen sowie das Zerreißen und Kauen von Speisen. Denn sie aßen noch immer. Es gab eine Platte mit Wintersalat, in Lake eingelegtes Wurzelgemüse und eine Schüssel Sommersalat, darunter römischer Lattich und bitteres, scharfes Grünzeug, das er noch nie gekostet hatte. Ein tiefer Suppennapf wurde vor jeden gestellt und mit süß-saurem Scherbett gefüllt. Nun trugen Diener Ziegenschläuche mit Wein und Becher herbei sowie Teller mit Bäckereien, Honignüssen und gesalzene Pistazien.

Rob saß allein und trank den guten Wein. Er sprach nicht, noch wendete sich jemand an ihn, er beobachtete und lauschte mit der gleichen Neugierde, mit der er das Essen gekostet hatte. Sobald die Ziegenschläuche geleert waren, wurden volle gebracht; der Vorrat aus dem Lagerhaus des Schahs war unerschöpflich. Gäste standen auf und entfernten sich, um sich zu erleichtern oder zu erbrechen. Einige waren vom Trinken blöd und schlapp.

Schließlich wurde dem Schah übel. Dann verlor er das Bewußtsein und wurde zu seinem Wagen getragen.

Danach schlich sich Rob davon. Es schien kein Mond, und der Weg vom Besitz Rotun ben Nasrs zurück zur Stadt war schwer zu finden. Aus tiefem, erbittertem Ungehorsam ging Rob auf der für den Schah reservierten Straßenseite und blieb einmal stehen, um langsam und voll Befriedigung auf die ausgestreuten Blumen zu pissen. Mitten in Isfahan hielt Rob an und setzte sich auf die niedrige Mauer. Er betrachtete diese seltsamste aller Städte, in der der Qu'ran alles verbot und die Menschen doch alles begingen. Ein Mann durfte bis zu vier Frauen haben, aber die meisten Männer waren bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um mit fremden Frauen zu schlafen, während Alä Shahansha offen herumhurte, mit wem immer es ihm gefiel. Der Prophet hatte das Trinken von Wein als Sünde verboten, doch das gesamte Volk verlangte nach Wein, ein großer Teil der Bevölkerung trank übermäßig, und der Schah besaß ein riesiges Lagerhaus mit den erlesensten Jahrgängen.

Rob dachte über dieses Rätsel, das Persien hieß, nach, und als der Muezzin vom Minarett der Freitagsmoschee rief, ging er auf unsicheren Beinen unter einem perlgrauen Himmel nach Hause.

Die Abordnung

Ibn Sina war daran gewöhnt, daß der fromme Imam Qandrasseh Verderben prophezeite. Er konnte den Schah nicht beeinflussen, hatte aber seine Ratgeber mit zunehmender Schärfe darauf hingewiesen, daß Weintrinken und Unzucht die Vergeltung durch eine Macht, die über dem Thron stehe, bringen würden. Zu diesem Zweck hatte der Großwesir Nachrichten aus dem Ausland gesammelt und Beweise dafür vorgelegt, daß Allah - allmächtig ist Er! - auf der ganzen Erde die Sünder bestrafte.

Das schlimmste Anzeichen für Allahs Mißfallen kam von den königlichen Astrologen, die mit großer Sorge berichteten, daß es innerhalb von zwei Monaten zu einer Konjunktion der drei bedeutendsten Planeten, Saturn, Jupiter und Mars, im Zeichen des Wassermanns kommen würde. Sie stritten über das genaue Datum des Ereignisses, waren sich aber über seine Bedeutung einig. Selbst Ibn Sina hörte sich die Neuigkeit ernst an, denn er wußte, daß schon Ptolemaios über die von der Konjunktion des Mars und des Jupiter ausgehende Bedrohung geschrieben hatte.

Es war also alles längst vorherbestimmt, als Qandrasseh an einem strahlenden Morgen Ibn Sina kommen ließ und ihm mitteilte, daß in Schiras, der größten Stadt im Gebiet von Anshan, eine Seuche ausgebrochen sei.

»Welche Seuche?«

»Der Schwarze Tod«, antwortete der Imam.

Ibn Sina wurde blaß, hoffte aber, daß der Imam unrecht hatte, denn der Schwarze Tod hatte Persien schon dreihundert Jahre lang verschont. Aber sein Verstand befaßte sich sofort mit dem Problem. »Man muß sofort Soldaten auf der Gewürzstraße hinunter beordern, um alle Karawanen und Reisenden, die vom Süden kommen, zurückzuschik-ken. Und wir müssen eine Abordnung von Medizinern nach Anshan entsenden.«

»Wir bekommen nicht gerade viel Steuern aus Anshan«, gab der Imam zu bedenken, aber Ibn Sina schüttelte den Kopf. »Es liegt in unserem eigenen Interesse, die Krankheit einzudämmen, denn der Schwarze Tod schreitet schnell von einem Ort zum anderen fort.«

Während Ibn Sina in sein Haus zurückkehrte, beschloß er, keine Abordnung von Kollegen zu schicken, denn falls die Pest nach Isfahan kam, würden die Ärzte hier benötigt werden. Er wollte statt dessen nur einen Arzt und eine Gruppe von Studenten aussuchen. Die Notlage sollte benutzt werden, um die Besten und Stärksten zu erproben und abzuhärten. Nach kurzer Überlegung nahm Ibn Sina Feder, Tinte und Papier und schrieb: Hakim Fadil Ibn Parviz, Leiter Suleiman-al-Gamal, Student im dritten Jahr Jesse ben Benjamin, Student im ersten Jahr Mirdin Askari, Student im zweiten Jahr

Die Gruppe sollte aber auch einige der schwächsten Kandidaten der Schule enthalten, um diesen eine einmalige, von Allah gesandte Gelegenheit zu geben, ihre ungünstigen Lernergebmse vergessen zu lassen und doch noch Ärzte zu werden. Zu diesem Zweck fügte er der Liste folgende Namen hinzu: Omar Nivahend, Student im dritten Jahr Abbas Sefi, Student im dritten Jahr Ali Rashid, Student im ersten Jahr Karim Harun, Student im siebenten Jahr

Als die acht jungen Menschen versammelt waren und der Arzt aller Ärzte ihnen mitteilte, daß er sie nach Ashan schicken wolle, um die Pest zu bekämpfen, konnten sie weder ihm noch einander in die Augen sehen; es war eine Art von Verlegenheit.

»Jeder von euch muß Waffen tragen«, befahl Ibn Sina, »denn wir können unmöglich voraussehen, wie sich die Menschen verhalten werden, wenn dort die Pest ausgebrochen ist.« Ali Rashid stieß einen langen, bebenden Seufzer aus. Er war sechzehn Jahre alt, ein Junge mit runden Wangen und sanften Augen, der so viel Heimweh nach seiner Familie in Hamadhän hatte, daß er Tag und Nacht weinte und sich seinem Studium nicht widmen konnte. Rob zwang sich, sich auf die Worte Ibn Sinas zu konzentrieren: »... Wir können euch nicht sagen, wie ihr die Seuche bekämpfen sollt, denn zu unseren Lebzeiten ist sie nicht aufgetreten. Aber wir besitzen ein Buch, das Ärzte, die Seuchen an verschiedenen Orten überlebt haben, vor drei Jahrhunderten zusammengestellt haben.

Wir werden euch dieses Buch geben. Zweifellos enthält es vielerlei Theorien und Maßnahmen von geringem Wert, aber darunter könnte es auch zweckdienliche Informationen geben.« Ibn Sina strich sich den Bart.

»Angesichts der Möglichkeit, daß der Schwarze Tod eine Folge atmosphärischer Verseuchung durch faulige Ausdünstungen ist, müßt ihr meiner Ansicht nach mit aromatischen Hölzern große Feuer in der Nähe sowohl der Kranken als auch der Gesunden unterhalten. Die Gesunden sollten sich mit Wein oder Essig waschen und ihre Häuser mit Essig bespritzen, und sie sollten Kampfer und andere flüchtige Substanzen einatmen. Auch ihr, die ihr die Kranken behandeln werdet, solltet das tun. Es wäre gut, wenn ihr euch, sobald ihr euch den Kranken nähert, in Essig getauchte Schwämme vor die Nasen haltet

und jegliches Wasser kocht, bevor ihr es trinkt, um es von allen Verunreinigungen zu befreien. Und ihr müßt jeden Tag eure Hände pflegen, denn der Qu'ran lehrt, daß sich der Teufel unter den Fingernägeln versteckt.« Ibn Sina räusperte sich.

»Wer diese Seuche überlebt, darf nicht sofort nach Isfahan zurückkehren, sonst bringt er sie auch noch hierher.

Ihr sucht ein Haus auf, das eine Tagereise östlich von der Stadt Nain und drei Tagereisen östlich von hier auf Ibrahims Felsen steht. Dort werdet ihr euch einen Monat lang ausruhen, bevor ihr zurückkommt. Verstanden?«

Sie nickten. »Ja, Herr«, antwortete hakim Fadil Ibn Parviz mit unsicherer Stimme, wobei er in einer neuen Stellung für alle sprach. Der junge Ali weinte leise vor sich hin. Karim Haruns Gesicht war von düsterer Vorahnung erfüllt. Schließlich sagte Mirdin Askari: »Meine Frau und die Kinder... Ich muß Vorkehrungen treffen, um sicher zu sein, daß es ihnen an nichts mangelt, wenn...«

Ibn Sina nickte. »Denjenigen von euch, die Verpflichtungen haben, stehen nur wenige Stunden Zeit zur Verfügung, um die entsprechenden Dinge zu erledigen.«

Rob hatte nicht gewußt, daß Mirdin verheiratet war und Kinder hatte. Der jüdische Student war stets verschlossen und selbstbewußt gewesen. Doch nun waren seine Lippen blutleer und bewegten sich in stummem Gebet.

Rob hatte ebensolche Angst wie die anderen vor dieser Aufgabe, von der es vielleicht keine Rückkehr gab, aber er bemühte sich um Beherztheit. Er würde nun wenigstens nicht mehr im Gefängnis als Hilfsarzt dienen müssen, sagte er sich.

»Noch etwas«, ergänzte Ibn Sina, der sie väterlich betrachtete. »Ihr müßt sorgfältig Aufzeichnungen führen, für diejenigen, welche die nächste Seuche zu bekämpfen haben. Und ihr müßt sie an einer Stelle hinterlegen, an der sie gefunden werden können, falls euch etwas zustoßen sollte.«

Als am nächsten Morgen die Sonne die Baumkronen rot färbte, trabten sie über die Brücke, die den Fluß des Lebens überquerte. Jeder hatte ein gutes Pferd und war entweder von einem Packpferd oder einem Maultier begleitet.

Nach einer Weile schlug Rob Fadil vor, daß ein Mann als Kundschafter vorausreiten und ein zweiter als Nachhut zurückbleiben solle. Der junge hakim tat, als überlegte er, dann gab er die entsprechenden Befehle.

Am selben Abend war Fadil sofort einverstanden, als Rob jenes System einander abwechselnder Wachtposten vorschlug, das in Karl Frittas Karawane angewendet worden war. Sie saßen um das Feuer aus Dornbüschen und schwankten zwischen lustiger und düsterer Stimmung.

»Galens bester Einfall war seine Äußerung darüber, was ein Medicus während der Pest tun soll«, behauptete Suleiman-al-Gamal finster. »Er sagte, ein Medicus sollte vor der Pest fliehen, um am Leben zu bleiben und die Kranken behandeln zu können, und genau das tat er auch.« »Der große Arzt Rhazes hat es besser formuliert«, meinte Karim:

»Drei kleine Wörter vertreiben die Pest, Schnell, weit und spät, so man dich nur läßt. Schnell kannst du fort, so weit es nur geht, Und wenn du zurückkehrst, dann möglichst spät. «•

Ihr Gelächter war zu laut. Den ersten Wachtposten machte Suleiman. Es hätte daher die anderen am nächsten Morgen nicht so zu überraschen brauchen, als sie beim Erwachen feststellten, daß er sich während der Nacht aus dem Staub gemacht und seine Pferde mitgenommen hatte. Als sie am folgenden Abend ihr Lager aufschlugen, bestimmte Fadil Mirdin Askari zum Wachtposten, was sich als gute Wahl erwies: Askari bewachte sie gut.

Der Wachtposten bei ihrem dritten Lager war Omar Nivahend, der es Suleiman nachmachte und während der Nacht mit seinen Tieren floh. Als die zweite Flucht entdeckt wurde, hielt Fadil eine Beratung ab. »Es ist keine Sünde, vor dem Schwarzen Tod Angst zu haben, sonst wäre jeder von uns auf ewig verdammt«, begann er. »Und wenn ihr Galens und Rhazes' Ansichten beipflichtet, ist es auch keine Sünde zu fliehen-obgleich ich Ibn Sinas Meinung bin und glaube, daß ein Medicus die Pest bekämpfen sollte, statt Fersengeld zu geben. Doch es ist eine Sünde, seine Gefährten unbewacht zurückzulassen. Und es ist noch schlimmer, sich mit einem Packtier davonzustehlen, das Vorräte trägt,

die von den Kranken und Sterbenden benötigt werden.« Er sah sie ruhig an. »Deshalb meine ich, wenn uns noch jemand verlassen will, dann möge er jetzt gehen. Und ich verspreche bei meiner Ehre, daß er das ohne Schande oder Vorhaltungen tun kann.« Sie konnten einander atmen hören. Keiner trat vor. Da meldete sich Rob zu Wort.

»Ja, jeder sollte gehen dürfen, aber wenn er uns dadurch ohne Wachtposten zurückläßt, oder wenn er Vorräte mitnimmt, die von den Kranken, zu denen wir reisen, gebraucht werden, müssen wir einem solchen Deserteur nachreiten und ihn töten.«

Wieder herrschte Stille.

Mirdin fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich stimme zu.« »Ja«, bestätigte Fadil.

»Ich stimme gleichfalls zu«, sage Abbas Sefi. »Und ich auch«, flüsterte Ali. »Und ich ebenfalls«, sagte Karim.

Jeder von ihnen wußte, daß dies kein leeres Versprechen, sondern ein feierliches Gelübde war.

Zwei Nächte später war Rob als Wachtposten an der Reihe. Gegen Morgen stand er im Schatten eines großen Felsens nicht weit von den schlafenden Männern, als er merkte, daß einer von ihnen wach war und Vorbereitungen für den Aufbruch traf.

Karim Harun schlich durch das Lager und achtete darauf, die Schlafenden nicht zu wecken. Als er draußen war, begann er leichtfüßig den Weg hinunterzulaufen und war bald außer Sichtweite. Harun hatte weder Vorräte mitgenommen noch die Gruppe unbewacht gelassen, und Rob unternahm keinen Versuch, ihn aufzuhalten. Aber er war enttäuscht, denn allmählich hatte er den gutaussehenden, verbitterten Studenten, der seit so vielen Jahren studierte, ins Herz geschlossen.

Etwa eine Stunde später zog er sein Schwert, weil er laute Schritte vernahm, die im grauen Morgenlicht auf ihn zukamen. Da tauchte Karim auf, der vor ihm stehenblieb und auf die blanke Klinge starrte, während seine Brust sich hob und senkte und sein Gesicht und das Hemd schweißnaß waren. »Ich habe gesehen, wie du fortgingst.

Ich dachte, daß du davonläufst.«

»Das bin ich auch.« Karim rang nach Luft. »Ich bin weggelaufen... und ich bin wieder zurückgelaufen. Ich laufe jeden Tag«, sagte er lächelnd, während Rob das Schwert in die Scheide steckte.

Karim lief jeden Morgen und kam immer schweißnaß zurück. Abbas Sefi dagegen erzählte komische Geschichten, sang schlüpfrige Lieder und war ein ironischer Spötter. Hakim Fadil rang gern, und wenn sie abends lagerten, warf ihr Anführer sie alle in den Sand. Nur Rob und Karim machten es ihm schwer. Mirdin war der beste Koch unter ihnen und erklärte sich gutgelaunt bereit, die Abendmahlzeiten zuzubereiten. Der junge Ali, der Beduinenblut in den Adern hatte, war ein gewandter Reiter und tat nichts lieber, als den Kundschafter zu machen und der Abordnung weit voranzureiten. Bald glänzten seine Augen vor Begeisterung statt vor Tränen, und er legte einen jugendlichen Schwung an den Tag, der ihm die Zuneigung seiner Kameraden sicherte.

Ihre zunehmende Vertrautheit war angenehm, und auch der lange Ritt wäre erfreulicher gewesen, wenn ihnen der hakim Fadil nicht während der Ruhepausen immer wieder aus dem Pestbuch vorgelesen hätte, das Ibn Sina ihm anvertraut hatte. Das Buch enthielt Hunderte von Vorschlägen, und die verschiedenen Kapazitäten behaupteten alle, sie wüßten, wie man die Seuche bekämpft.

Schließlich kamen sie überein, die von ihrem Lehrer vorgeschlagene Lebensweise zu befolgen und alle anderen Ratschläge zu vergessen. Während einer Rast am achten Tag las Fadil aus dem Buch vor, daß von fünf Ärzten, die den Schwarzen Tod während der Seuche in Kairo bekämpft hatten, vier an der Krankheit gestorben waren.

Stille Melancholie herrschte, während sie weiterritten, als hätten sie erfahren, daß ihr Schicksal besiegelt war.

Am nächsten Morgen kamen sie zu einem kleinen Dorf und erfuhren, daß es Nardiz hieß und daß sie den Bezirk Anshan bereits betreten hatten. Die Dorfbewohner behandelten sie voll Respekt, als der hakim Fadil verkündete, daß sie Ärzte aus Isfahan seien, die Alä Shahansha entsandt habe, um den von der Seuche Befallenen zu helfen.

»Bei uns gibt es keine Pest, Hakim«, sagte der Dorfvorsteher dankbar, »aber aus Schiras erreichen uns Gerüchte von Tod und Leiden.« Obwohl sie bei der Weiterreise aufmerksam achtgaben, sahen sie nur gesunde Menschen. In einem Gebirgstal bei Naksh-i-Rustam kamen sie zu großen, in den Fels gehauenen Gräbern. Es waren die Ruhestätten von vier Generationen persischer Könige. Dort, mit dem Blick über das vom Wind gepeitschte Tal, ruhten seit fünfzehnhundert Jahren Darius der Große, Xerxes, Artaxerxes und Darius II.

Seither waren zahllose Kriege, Seuchen und Eroberer gekommen und wieder im Nichts verschwunden. Während die vier Mohammedaner zum zweiten Gebet anhielten, standen Rob und Mirdin bewundernd vor einem der Gräber und lasen die Inschrift:

ICH BIN XERXES DER GROSSE KÖNIG, DER KÖNIG DER KÖNIGE, DER KÖNIG ÜBER LÄNDER

UND VIELE VÖLKER, DER KÖNIG DES GROSSEN WELTALLS, DER SOHN VON DARIUS, DEM

ACHAEMENIDEN.

Schließlich kamen sie zu einem schönen Besitz, einem prächtigen Haus inmitten bebauter Felder. Es schien verlassen zu sein, aber sie stiegen trotzdem ab. Nachdem Karim laut und lange geklopft hatte, wurde ein Guckloch in der Mitte der Tür geöffnet, und ein Auge starrte sie an. »Verschwindet!«

»Wir sind eine Abordnung von Ärzten aus Isfahan auf dem Weg nach Schiras«, sagte Karim.

»Ich bin Ishmael, der Kaufmann. Ich kann Euch sagen, daß in Schiras nur mehr wenige Menschen am Leben sind. Vor sieben Wochen kam ein Heer von Seldschuken nach Anshan. Die meisten von uns flohen vor ihnen mit Frauen, Kindern und Tieren in die Mauern von Schiras. Die Seldschuken belagerten uns. Doch da die Pest bereits unter ihnen ausgebrochen war, gaben sie nach wenigen Tagen die Belagerung auf. Aber bevor sie abzogen, schössen sie die Leichen von zwei an der Pest gestorbenen Soldaten mit einem Katapult in die überfüllte Stadt. Sobald sie abgezogen waren, beeilten wir uns, die beiden Leichen aus der Stadt hinauszuschaffen und zu verbrennen, aber es war zu spät. Der Schwarze Tod trat unter uns.«

Erst jetzt fand der hakim Fadil die Sprache wieder. »Ist es eine schreckliche Seuche?«

»Man kann sich nichts Schlimmeres vorstellen«, antwortete die Stimme hinter der Tür. »Manche Menschen scheinen gegen die Krankheit unempfindlich zu sein, wie ich es, Allah - dessen Barmherzigkeit überreich ist - sei Dank, war. Aber die meisten, die sich innerhalb der Mauern von Schiras befanden, sind tot oder liegen im Sterben.« »Was ist mit den Ärzten von Schiras?« fragte Rob. »Es gab noch vier Ärzte und zwei Baderchirurgen in der Stadt, alle anderen Nichtsnutzigen waren geflohen, sobald die Seldschuken abzogen. Die beiden Bader und zwei Ärzte halfen den Menschen, bis auch sie starben, und das ging schnell. Ein Arzt lag mit der Krankheit darnieder, und nur ein einziger Arzt war übriggeblieben, um die Kranken zu behandeln, als ich selbst vor zwei Tagen die Stadt verließ.« »Dann scheint es, daß wir in Schiras dringend gebraucht werden«, stellte Karim fest.

»Ich habe ein großes, sauberes Haus«, erzählte der Mann, »in dem es reichlich Vorräte an Lebensrnitteln, Wein, Essig und Limonen gibt. Auch ein großes Lager an Haschisch ist vorhanden, um die Sorgen zu vertreiben. Ich würde euch dieses Haus öffnen, denn es dient meiner Sicherheit, wenn ich Heilkundige einlasse. Später, wenn die Pest abgeklungen ist, können wir zu unserem gemeinsamen Vorteil Schiras aufsuchen. Wer will meine Sicherheit mit mir teilen?« Stille trat ein.

»Ich«, meldete sich Fadil mit heiserer Stimme. »Tut es nicht, Hakim!« ermahnte ihn Rob. »Ihr seid unser Führer und unser einziger Arzt«, sagte Karim. Fadil schien sie nicht zu hören. »Ich komme zu Euch, Kaufmann.« »Ich werde auch hineingehen«, sagte Abbas Sefi. Die beiden Männer glitten von ihren Pferden. Das Geräusch einer schweren Eisenstange, die weggeschoben wurde, war zu hören. Ein blasses, bärtiges Gesicht tauchte auf, als die Tür so weit geöffnet wurde, daß die beiden Männer hineinschlüpfen konnten, dann wurde die Tür zugeschlagen und versperrt.

Die zurückgebliebenen fühlten sich wie Schiffbrüchige auf dem Meer. Karim blickte Rob an. »Vielleicht haben sie recht«, murmelte er. Mirdin sprach kein Wort, sein Gesicht war verstört und ratlos. Der junge Ali war wieder den Tränen nahe.

»Das Pestbuch«, sagte Rob, dem einfiel, daß Fadil es in einer großen Tasche an einem Riemen um den Hals trug.

Er ging zur Tür und hämmerte dagegen. »Hau ab!« rief Fadil. Seine Stimme klang erschrocken; zweifellos hatte er Angst, die Tür zu öffnen, denn dann konnten sie sich auf ihn stürzen.

»Hört mich an, Ihr Scheißkerl!« Rob war wütend. »Wenn wir Ihn Sinas Pestbuch nicht bekommen, werden wir Holz und Reisig anhäufen und an den Mauern dieses Hauses aufschichten. Und ich werde es mit Vergnügen in Brand setzen, Ihr unwürdiger Vertreter Eures Standes!«

Einen Augenblick später hörten sie, wie die Stange nochmals entfernt wurde. Die Tür ging auf, und das Buch flog heraus und fiel zu ihren Füßen m den Staub.

Rob hob es auf und bestieg sein Pferd. Er ritt lange, bis er sich entschloß, sich im Sattel umzudrehen. Mirdin Askari und Karim Harun lagen weit zurück, aber sie kamen ihm nach. Der junge Ali Rashid bildete die Nachhut und führte Fadils Packpferd und Abbas' Maultier mit.

Der Schwarze Tod

Als sie schließlich am dritten Morgen ins Tal nach Schiras hinabritten, sahen sie von weitem Rauch aufsteigen.

Die Näherkommenden trafen auf Männer, die außerhalb der Mauern Leichen verbrannten. Rob sah Dutzende von schwarzen Vögeln, die über dem Paß hinter Schiras schwebten, und nun wußte er, daß sie endlich auf die Seuche gestoßen waren.

Am Tor stand keine Wache, als sie in die Stadt einritten. »Sind die Seldschuken doch in die Stadt eingedrungen?« fragte Karim, denn Schiras wirkte geplündert. Es war eine schön angelegte Stadt aus rosa Stein mit vielen Gärten, aber überall zeigten rohe Stümpfe, wo früher große Bäume Schatten gespendet hatten, und sogar die Rosenbüsche in den Gärten waren ausgerissen worden, um damit die Scheiterhaufen für die Leichenverbrennungen zu unterhalten. Sie ritten durch menschenleere Straßen.

Da trafen sie auf einen Fußgänger. Sie schlössen ihn mit ihren Pferden ein, als er weglaufen wollte, und Rob zog sein Schwert. »Antworte, und wir tun dir nichts zuleide. Wo sind die Ärzte?«

Der Mann schlotterte vor Angst. Er hielt sich ein kleines Päckchen vor Mund und Nase, vermutlich aromatische Krauter. »Beim kelonter«, keuchte er und zeigte die Straße hinunter.

Auf dem Weg kamen sie an einem Leichenwagen vorbei. Die beiden kräftigen Totengräber, deren Gesichter dichter verschleiert waren als bei einer Frau, hielten an, um den kleinen Leichnam eines Kindes, den man am Straßenrand zurückgelassen hatte, aufzuheben. Auf dem Wagen lagen drei Leichen von Erwachsenen, ein Mann und zwei Frauen.

Im Gemeindehaus stellten sie sich als die Ärzteabordnung aus Isfahan vor und wurden von einem kräftigen, militärisch aussehenden und einem alten, entkräfteten Mann angestaunt. Beide hatten so lange nicht geschlafen, daß ihre Gesichter schlaff und ihre Augen entzündet waren.

»Ich bin Debbid Kafiz, der kelonter von Schiras«, stellte sich der Jüngere vor. »Und das ist Hakim Isfari Sanjar, unser letzter Arzt.« »Warum sind Eure Straßen so leer?« fragte Karim. »Wir waren vierzehntausend Seelen«, antwortete Hafiz. »Als die Seldschuken kamen, flüchteten sich weitere viertausend in den Schutz unserer Mauern. Nach Ausbruch des Schwarzen Todes floh ein Drittel aller Bewohner von Schiras aus der Stadt, darunter alle Reichen und die gesamten Honoratioren, die dem kelonter und seinen Soldaten gern die Bewachung ihres Eigentums überließen. Fast sechstausend sind gestorben. Alle jene, die noch nicht erkrankt sind, hocken in ihren Wohnungen und beten zu Allah - Er ist barmherzig! -, daß sie verschont bleiben mögen.« »Wie behandelt Ihr sie, Hakim ?« fragte Karim. »Gegen den Schwarzen Tod gibt es kein Mittel«, gestand der alte Arzt. »Ein Arzt kann nur hoffen, den Sterbenden etwas Trost zu bringen.« »Wir sind noch keine Ärzte«, erklärte Rob,

»sondern erst Studenten, die von ihrem Lehrer Ibn Sina zu Euch geschickt wurden, und wir werden Eure Anweisungen befolgen.«

»Ich gebe Euch keine Anweisungen, Ihr werdet tun, was Ihr könnt«, sagte hakim Isfari Sanjar rauh. »Ich gebe Euch nur einen Rat: Wenn Ihr am Leben bleiben wollt, so wie ich, müßt Ihr jeden Morgen zum Frühstück ein Stück in Weinessig getauchtes Röstbrot essen, und jedesmal, wenn Ihr mit jemandem sprecht, müßt Ihr zuerst einen

Schluck Wein trinken.« Rob wurde klar, daß das, was er für die Anzeichen von Altersschwäche gehalten hatte, in Wirklichkeit vorgeschrittene Trunkenheit war.

Aufzeichnungen der Medizinerabordnung aus Isfahan:

Wenn diese Zusammenfassung nach unserem Tod gefunden wird, wird derjenige, der sie Abu Ali al-Hussein Ihn Abdullah Ihn Sina, Arzt aller Ärzte, am maristan in Isfahan, überbringt, großzügig belohnt werden. Gegeben am 16. Tag des Monats Rabia I, im 41 j.Jahr nach der Hedschra.

Wir sind seit vier Tagen in Schiras, während denen allem 24} Menschen gestorben sind. Die Pest beginnt als leichtes Fieber, gefolgt von Kopfschmerzen, manchmal sehr schweren. Das Fieber steigt, und kurz danach tritt eine krankhafte Veränderung, für gewöhnlich bubo genannt, m der Leiste, in emer Achselhöhle oder hinter einem Ohr auf. Im Pestbuch werden solche bubos erwähnt, von denen hakim Ihn al-Khatim aus Andalusien meinte, daß sie vom Teufel stammen und immer die Form einer Schlange aufweisen. Die hier beobachteten sind nicht schlangenförmig, sondern rund und voll wie die krankhafte Veränderung eines Geschwürs. Sie können so groß wie eine Pflaume werden, aber die meisten haben die Größe einer Linse. Oft erbricht der Kranke Blut, was immer daraufhinweist, daß der Tod unmittelbar bevorsteht. Die meisten Opfer sterben innerhalb von zwei Tagen nach Auftreten eines bubo. Einige wenige haben Glück, weil das bubo eitert. Wenn dieser Fall eintritt, ist es so, als würde ein schlechter Saft aus dem Patienten entweichen, der dann vielleicht gesundet.

Jesse ben Benjamin Student

Das Gefängnis hatte man in ein Pesthaus umgewandelt, nachdem die Gefangenen freigelassen worden waren. Es war mit Toten, Sterbenden und frisch Erkrankten überfüllt. Es waren so viele, daß es unmöglich war, einen von ihnen zu behandeln. Die Luft barst vom Stöhnen und Schreien, vom Gestank nach blutig Erbrochenem, ungewaschenen Körpern und menschlichen Exkrementen. Nachdem Rob sich mit den anderen drei Studenten beraten hatte, ging

er zum kelonter und ersuchte darum, die Zitadelle benutzen zu dürfen, in der Soldaten untergebracht waren.

Seinem Wunsch wurde stattgegeben, und er ging im Gefängnis von einem Patienten zum anderen, beurteilte sie und faßte sie bei der Hand.

Die Botschaft, die dabei übermittelt wurde, war im allgemeinen schrecklich: Der Lebenskelch fast eines jeden war zu einem Sieb geworden.

Die Sterbenden wurden in die Zitadelle gebracht. Da es sich dabei um die Mehrzahl der Opfer handelte, konnten die noch nicht dem Tod Geweihten an einem sauberen und weniger überfüllten Ort gepflegt werden.

In Persien war Winter, das bedeutete kalte Nächte und warme Nachmittage. Die Bergspitzen glänzten vor Schnee, und am Morgen brauchten die Studenten Schaffellmäntel. Über dem Paß schwebten immer mehr schwarze Geier.

»Eure Leute werfen Leichen die Schlucht hinunter, statt sie zu verbrennen«, meldete Rob dem kelonter.

Kafiz nickte. »Ich habe es verboten, aber Ihr habt wohl recht. Das Holz ist knapp.«

»Jede Leiche muß verbrannt werden, ohne Ausnahme«, erkärte Rob entschieden, denn dies war eine Forderung, die Ibn Sina unnachgiebig vertrat. »Ihr müßt alles Erforderliche unternehmen, damit es auch bestimmt geschieht.«

An diesem Nachmittag wurden drei Männer geköpft, weil sie Leichen die Schlucht hinuntergeworfen hatten, und die Hinrichtung erhöhte die Zahl der Toten. Das hatte Rob nicht gewollt, und Hafiz war ängstlich.

»Woher sollen meine Männer das Holz nehmen? Alle unsere Bäume sind fort.«

»Schickt Soldaten in die Berge, damit sie Bäume fällen«, schlug Rob vor.

»Sie würden nicht mehr zurückkommen.«

Also beauftragte Rob den jungen Ali, Soldaten in die verlassenen Häuser zu führen. Die meisten Gebäude waren aus Stein, aber sie hatten hölzerne Türen, hölzerne Fensterläden und dicke Deckenbalken. Ali ließ die Männer das Holz herausreißen und -brechen, und außerhalb der Stadtmauern prasselten wieder die Scheiterhaufen.

Die Studenten versuchten, Ihn Sinas Anweisungen zu befolgen und durch vorgehaltene essiggetränkte Schwämme zu atmen, aber die Schwämme behinderte sie bei der Arbeit, weshalb sie sie bald wegwarfen. Sie folgten dem Beispiel von dem hakim Isfari Sanjar, würgten jeden Tag in Weinessig getauchtes Röstbrot hinunter und tranken reichlich Wein. Manchmal waren sie bei Einbruch der Nacht so betrunken wie der alte Medicus.

Wenn Mirdin zu tief ins Glas geschaut hatte, erzählte er ihnen von seiner Frau Fara und seinen kleinen Söhnen David und Issachar, die darauf warteten, daß er wohlbehalten nach Isfahan zurückkehrte. Er sprach sehnsüchtig vom Haus seines Vaters am Arabischen Meer, wo seine Familie die Küste bereiste und Zuchtperlen aufkaufte.

»Ich mag dich«, gestand er Rob. »Wie kann jemand wie du mit meinem schrecklichen Vetter Arieh befreundet sein?«

Nun verstand Rob Mirdins anfängliche Zurückhaltung. »Ich bin kein Freund von Arieh. Arieh ist ein Scheißkerl.«

»Das ist er, ein Scheißkerl, genau das!« rief Mirdin, und sie lachten beide herzlich.

Der schöne Karim erzählte Geschichten über seine Eroberungen und versprach, für den jungen Ali das schönste Paar Titten im Östlichen Kalifat ausfindig zu machen, sobald sie nach Isfahan zurückkehrten. Karim lief jeden Tag durch die Stadt des Todes. Überall umgab sie der Tod, doch sie waren jung und lebendig, und sie versuchten, ihr Entsetzen zu verdrängen, indem sie so taten, als seien sie unempfindlich und nicht ansteckbar.

Aufzeichnungen der Medizinerabordnung aus Isfahan: Niedergeschrieben am 28. Tag des Monats Rabia I, im 413. Jahr nach der Hedschra.

Aderlassen, Schröpfen und Purgieren zeitigen wenig Wirkung. Der Zusammenhang zwischen den bubos und dem Tod ist bemerkenswert, denn es erweist sich, daß der Patient wahrscheinlich überlebt, wenn das bubo aufbricht oder seine grüne, übelriechende Absonderung ausscheidet.

Möglicherweise kommen viele durch das erschreckend hohe Fieber ums Leben, das das Fett ihrer Körper frißt.

Aber wenn die bubos aufbrechen, fällt das Fieber jäh, und die Genesung beginnt.

Nach dieser Beobachtung haben wir uns bemüht, die bubos zum Reifen zu bringen, damit sie sich öffnen, indem wir Umschläge von Senf und Lilienknollen, von Feigen und gekochten Zwiebeln, die wir zerstoßen und mit Butter vermischt hatten, aufgelegt haben. Manchmal haben wir die bubos aufgeschnitten und sie wie Geschwüre behandelt, dies aber mit geringem Erfolg. Oft werden diese Schwellungen teils infolge der Krankheit und teils, weil die Wirkung der Zugmittel zu stark ist, so hart, daß man sie mit keinem Instrument aufschneiden kann. Wir haben auch versucht, sie mit Ätzmitteln auszubrennen, aber ohne Erfolg. Viele Patienten sind vor Schmerzen rasend gestorben und manche sogar während der Operation, so daß man uns nachsagen könnte, daß wir diese armen Kreaturen zu Tode gequält haben. Einige wurden jedoch gerettet. Sie wären vielleicht auch ohne uns am Leben geblieben, aber es bringt uns Trost zu glauben, daß wir einigen wenigen helfen konnten.

Jesse ben Benjamin Student

»Ihr Leichenfledderer!« schrie der Mann. Seine beiden Diener ließen ihn unsanft auf den Boden des Pesthauses fallen und flüchteten, zweifellos um sich seine Habseligkeiten anzueignen. Dergleichen war schon fast alltäglich angesichts der Seuche, die die Seelen ebenso schnell verdarb wie die Körper. Kinder mit bubos wurden von ihren vor Angst wahnsinnigen Eltern im Stich gelassen. Drei Männer und eine Frau waren an diesem Morgen geköpft worden, weil sie Plünderer waren, und ein Soldat wurde geschunden, weil er eine Sterbende vergewaltigt hatte. Karim, der die Soldaten die Häuser, in denen es Pestfälle gegeben hatte, mit Eimern voll Kalktünche reinigen ließ, behauptete, daß alle Laster grassierten und daß er Zeuge von unzähligen sexuellen Ausschreitungen geworden sei; offenbar klammerten sich viele mit fleischlicher Wildheit ans Leben.

Kurz vor Mittag schickte der kelonter, der das Pesthaus nie selbst betrat, einen blassen, zitternden Soldaten, der Rob und Mirdin auf die Straße holen sollte. Kafiz roch an einem mit Gewürzen gespickten Apfel, um die Krankheit abzuwehren. »Ich kann Euch mitteilen, daß die Zahl der Toten gestern auf siebenunddreißig zurückgegangen ist«, berichtete er triumphierend. Es war ein eindeutiger Fortschritt, denn am schlimmsten Tag in der dritten Woche nach Ausbruch der Seuche waren zweihundertsiebzig Menschen gestorben. Kafiz erzählte ihnen, daß Schiras nach seiner Zählung 801 Männer, 502 Frauen, 3 193 Kinder, 566

männliche und i 417 weibliche Sklaven, 2 syrische Christen und 32 Juden verloren habe.

Rob und Mirdin tauschten einen verständnisvollen Blick aus, denn ihnen war nicht entgangen, daß der kelonter die Opfer in der Reihenfolge ihrer Bedeutung aufgezählt hatte.

Der junge Ali kam die Straße herunter. Merkwürdigerweise wollte der Junge an ihnen vorbeigehen, ohne sie zu bemerken. Da rief Rob seinen Namen. Als er zu Ali trat, sah er, daß seine Augen verändert waren. Und als er Alis Kopf berührte, erschreckte ihn die wohlbekannte Hitze. Mein Gott! »Ali«, sagte er freundlich, »du mußt jetzt mit mir ins Haus kommen.«

Sie hatten schon viele Menschen sterben sehen, aber als sie miterlebten, wie rasch die Krankheit von Ali Rashid Besitz ergriff, fühlten Rob, Karim und Mirdin die Schmerzen des Jungen mit. Von Zeit zu Zeit krümmte sich Ali in einem plötzlichen Anfall zusammen, als hätte ihn etwas in den Magen gebissen. Er erschauerte zuckend vor Qual, und sein Körper verkrampfte sich zu seltsam verkrümmten Stellungen. Sie wuschen ihn mit Essig, und am frühen Nachmittag faßten sie wieder Hoffnung, denn er fühlte sich beinahe kühl an. Aber es war, als hätte das Fieber sich gesammelt, und als ein neuerlicher Anfall erfolgte, war er noch heißer als zuvor, seine Lippen platzten auf, und er verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße sichtbar war.

Inmitten all des Geschreis und Stöhnens ging das seine beinahe unter, doch die drei Kameraden vernahmen die schrecklichen Geräusche ganz deutlich, weil die Umstände sie sozusagen zu seiner Familie gemacht hatten.

Als die Nacht kam, lösten sie sich an seinem Bett ab. Der Junge lag kraftlos auf dem zerwühlten Lager, als Rob Mirdin vor Morgengrauen ablöste. Rob ergriff Alis Hände und spürte das Dahinschwinden seiner Lebenskräfte.

Als Karim Rob ablösen wollte, war Ali bereits verschieden. Nun konnten sie sich nicht mehr einreden, daß sie unempfindlich und nicht ansteckbar waren. Es wurde ihnen klar, daß bald einer von ihnen nachfolgen würde, und allmählich begriffen sie, was wahre Angst ist.

Sie begleiteten Alis Leiche zum Scheiterhaufen, und während er verbrannte, betete jeder auf seine Weise.

An diesem Morgen wurden sie aber auch Zeugen des Umschwungs: Es war offensichtlich, daß weniger Erkrankte ins Pesthaus gebracht wurden. Drei Tage danach berichtete der kelonter, der die Hoffnung in seiner Stimme kaum unterdrücken konnte, daß nur elf Personen gestorben waren.

Als Rob am Pesthaus vorbeiging, sah er eine große Schar toter und sterbender Ratten, und er bemerkte etwas Außergewöhnliches, als er sie genauer betrachtete: Die Nager hatten die Pest, denn fast alle von ihnen wiesen eine kleine, aber unübersehbare Beule aus. Er fand eine, die vor so kurzer Zeit gestorben war, daß ihr warmer Pelz noch vor Flöhen wimmelte. Er legte sie auf einen flachen Stein und schnitt sie mit einem Messer so fachgerecht auf, als blickte ihm al-Juzjani oder ein anderer Lehrer über die Schulter.

Aufzeichnungen der Medizinerabordnung aus Isfahan: Geschrieben am 5. Tag des Monats Rabia II, im 413.Jahr nach der Hedschra:

Nicht nur Menschen, sondern auch Tiere sind gestorben. Wir haben erfahren, daß Pferde, Kühe, Schafe, Kamele, Hunde, Katzen und Vögel in Ashan an der Seuche gestorben sind. Die Untersuchung von sechs an der Pest gestorbenen Ratten hat interessante Ergebnisse gezeitigt. Die äußeren Symptome sind die gleichen wie bei den menschlichen Opfern: starrende Augen, verkrampfte Muskeln, aufgerissener Mund, heraushängende, schwärzliche Zunge, bubo in der Leistengegend oder hinter dem Ohr.

Wenn man diese Ratten untersucht, wird klar, warum die chirurgische Entfernung der Beule zumeist keinen Erfolg bringt. Die krankhafte Veränderung besitzt meist tiefe, karottenartige Wurzeln, die nach der Entfernung des sichtbaren Teils der Beule im Opfer zurückbleiben und ihr Vernichtungswerk vollenden. Als ich die Bäuche der Ratten öffnete, stellte ich fest, daß die unteren Partien aller sechs Mägen und die oberen Gedärme durch grüneGalle vollkommen verfärbt waren. Die unteren Gedärme waren fleckig. Die Leber war bei allen sechs Nagern verschrumpelt, und bei vier Ratten waren auch die Herzen geschrumpft. Treten diese Veränderungen auch an den Organen menschlicher Opfer der Seuche auf?

Student Karim Harun sagt, Galen habe geschrieben, daß die innere Anatomie des Menschen der des Schweines und des Affen stark ähnle, sich aber von der der Ratte unterscheide. Obwohl wir die kausalen Zusammenhänge des Pesttodes beim Menschen nicht kennen, können wir doch sicher sein, daß sie im Inneren vonstatten gehen und daher unserer Beobachtung entzogen sind.

Jesse ben Benjamin Student

Als Rob zwei Tage später im Pesthaus arbeitete, fühlte er ein Unbehagen, eine Schwere, eine Schwäche m den Knien, Schwierigkeiten beim Atmen und ein inneres Brennen, als hätte er zu viele Gewürze genossen. Dieses Gefühl hörte nicht auf und wurde im Lauf des Nachmittags noch stärker. Rob zwang sich, es nicht zu beachten, bis er einem Opfer ins Gesicht sah. Es war entzündet und verzerrt, die glänzenden Augen quollen dem Mann aus den Höhlen, und Rob hatte das Gefühl, daß er sich selbst sah.

Er suchte Mirdin und Karim auf. In ihren Augen las er die Antwort. Bevor er sich von ihnen zu einem Strohsack führen ließ, bestand er darauf, das Pestbuch und seine Aufzeichnungen zu holen und sie Mirdin zu übergeben.

»Wenn auch ihr beiden nicht überleben solltet, muß dies vom letzten so zurückgelassen werden, daß man es finden und an Ibn Sina schicken kann.« »Ja, Jesse«, versprach Karim.

Rob war ruhig. Eine Last war von seinen Schultern genommen worden; das Schlimmste war eingetreten, aber er war auch von dem schrecklichen Gefängnis der Angst befreit.

»Einer von uns wird bei dir bleiben«, tröstete ihn der bekümmerte Mirdin.

»Nein, es gibt so viele hier, die euch brauchen.« Aber er spürte, daß sie in der Nähe waren und ihn beobachteten.

Er beschloß, jedes einzelne Stadium der Krankheit zu beobachten und es gut im Gedächtnis zu behalten. Doch schon als das hohe Fieber einsetzte und er so ungeheure Kopfschmerzen verspürte, daß die Haut seines ganzen Körpers empfindlich wurde, überwältigte ihn der Schlaf.

Am Morgen wurde er vom Lärm der Soldaten geweckt, die ihre schaurige Last vom Pesthaus zum Leichenwagen schleppten. Für ihn als Medizinstudenten war dies ein vertrauter Anblick, aber aus der Sicht eines Betroffenen sah es etwas anders aus. Sein Herz hämmerte, in seinen Ohren summte es. Die Schwere in all seinen Gliedern war schlimmer geworden, und in ihm tobte ein Feuerbrand.

»Wasser!«

Mirdin holte es eilig herbei, als Rob sich jedoch aufrichtete, um zu trinken, hielt er erschrocken den Atem an. Er zögerte, bevor er die Stelle betrachtete, wo er Schmerzen verspürte. Schließlich deckte er sie auf, und er und Mirdin wechselten einen angstvollen Blick. In seiner linken Armbeuge befand sich eine scheußliche, fahlpurpurfarbene Beule.

Er packte Mirdin am Handgelenk. »Ihr werdet sie nicht aufschneiden! Und ihr dürft sie nicht mit Ätzmitteln verbrennen. Versprichst du es mir?«

Mirdin riß seine Hand los und drückte Rob auf den Strohsack zurück. »Ich verspreche es dir, Jesse«, antwortete er sanft und eilte davon, um Karim zu holen.

Mirdin und Karim zogen seine Hand hinter seinen Kopf und banden sie an einen Pfosten1, so daß die Beule freilag. Sie erhitzten Rosenwasser und tränkten Lappen damit, um Kompressen aufzulegen, und sie wechselten die Umschläge gewissenhaft, wenn sie ausgekühlt waren.

Das Fieber stieg höher, als Rob es je, sei es als Erwachsener oder als Kind, erlebt hatte, und der ganze Schmerz in seinem Körper lief in der Beule zusammen, bis sein Geist der pausenlosen Qual nicht mehr gewachsen war und er phantasierte. Er suchte Kühle im Schatten eines Weizenfeldes und küßte Mary. Er berührte ihren Mund und liebkoste ihr Gesicht. Ihr rotes Haar fiel über ihn wie dunkler Nebel.

Er hörte Karim persisch und Mirdin hebräisch beten. Als Mirdin das »Schema Jisrael« sprach, betete Rob mit:

»Höre, o Israel, der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, mit deinem ganzen Herzen lieben...«

Er wollte nicht mit den heiligen Worten der Juden auf den Lippen sterben und suchte nach einem christlichen Gebet. Das einzige, das ihm einfiel, war ein Kirchengesang der Priester aus seiner Kindheit.

Jesus Christus natus est. Jesus Christus crucifixus est. Jesus Christus sepultus est. Amen.

Irgendwann hörte der Schmerz in seinem Arm so plötzlich auf, daß er die Erleichterung wie einen neuen Schmerz empfand. Er konnte sich keine falschen Hoffnungen erlauben und zwang sich, geduldig zu warten, bis jemand kam. Nach, wie ihm schien, übermäßig langer Zeit beugte sich Kanm über ihn.

»Mirdin! Mirdin! Allah sei gepriesen! Die Beule ist aufgegangen!« Zwei lächelnde Gesichter schwebten über ihm. Das eine war schön und dunkel, das andere schlicht und gütig wie das eines Heiligen. »Ich werde einen Docht anlegen, damit sich der Eiter entleert«, sagte Mirdin, und eine Zeitlang waren die beiden zu beschäftigt, um ein Dankgebet sprechen zu können.

Es war, als hätte Rob das stürmische Meer durchquert und treibe jetzt in einem ruhigen, friedlichen Gewässer.

Seine Genesung erfolgte ebenso rasch und problemlos wie bei anderen Überlebenden. Er war schwach und zittrig, was eine natürliche Folge des hohen Fiebers war. Rob wurde unruhig, weil er sich nützlich machen wollte, doch seine Pfleger zwangen ihn, müßig auf dem Strohsack liegenzubleiben. »Die Medizin bedeutet dir alles«, bemerkte Karim eines Morgens scharfsinnig. »Ich weiß es, und deshalb habe ich keinen Einwand erhoben, als du die Führung unserer kleinen Gruppe in die Hand nahmst.«

Rob öffnete den Mund, um zu widersprechen, schloß ihn aber rasch, denn er merkte, daß es der Wahrheit entsprach. »Ich war wütend, als Fadil ibn Parviz zum Anführer ernannt wurde«, gestand Karim. »Er schneidet bei Prüfungen stets gut ab und wird von

den Lehrern geschätzt, aber als praktizierender Medicus ist er nichts wert. Außerdem hat er das Studium zwei Jahre nach mir begonnen und ist bereits hakim, während ich noch Student bin.« »Wie konntest du dann mich anerkennen, obwohl ich noch nicht einmal ein volles Jahr studiere?«

»Du bist etwas anderes, du stehst unter einer Art Zwang zu heilen und bist deshalb außerhalb des Wettbewerbs.«

Rob lächelte. »Ich habe dich in diesen schweren Wochen beobachtet. Bist du nicht aus dem gleichen Holz?«

»Nein«, antwortete Karim ruhig. »Mißverstehe mich aber nicht! Ich möchte der beste aller Ärzte werden aber zumindest ebenso gern möchte ich reich werden. Reich zu werden ist aber nicht dein großes Ziel, oder, Jesse?«

Rob schüttelte den Kopf.

»Als ich im Dorf Carsh in der Provinz Hamadhän lebte und noch ein Kind war, führte Abdallah Scha, Alä

Sbahanshas Vater, eine große Armee gegen Seldschukenbanden durch unser Gebiet. Wo immer Abdallahs Armee haltmachte, kehrte Elend ein: die Heimsuchung durch die Soldaten. Sie raubten Feldfrüchte und Tiere, Nahrung, die für das Volk Überleben oder Untergang bedeutete. Als die Armee weiterzog, hungerten wir. Ich war fünf Jahre alt. Zuerst starb mein Vater, dann meine Mutter. Ein Jahr lang lebte ich auf den Straßen mit Bettlern; ich war ein Betteljunge. Schließlich wurde ich von Zaki-Omar, einem Freund meines Vaters, aufgenommen. Er war ein bekannter Athlet. Er zog mich auf und lehrte mich zu laufen — und neun Jahre lang fickte er mich in den Arsch.«

Karim verstummte einen Augenblick, die Stille wurde nur vom leisen Stöhnen eines Patienten am anderen Ende des Raumes unterbrochen. »Als er starb, war ich fünfzehn. Seine Familie warf mich hinaus, aber er hatte dafür gesorgt, daß ich in die madrassa eintreten konnte. So kam ich nach Isfahan, zum erstenmal ein freier Mensch.

Wenn ich einmal Söhne bekomme, bin ich fest entschlossen, ihnen eine gesicherte Zukunft zu bieten, und diese Sicherheit gibt nur der Reichtum.« Als Kinder haben wir, eine halbe Welt voneinander entfernt, die gleichen Schicksalsschläge erlebt, dachte Rob. Wenn er etwas weniger Glück gehabt hätte oder der Bader ein weniger guter Mensch gewesen wäre...

Ihr Gespräch wurde durch die Ankunft Mirdins unterbrochen, der sich auf der anderen Seite des Strohsacks auf den Boden setzte. »Gestern ist in Schiras niemand gestorben.« »Allah!« staunte Karim. »Niemand ist gestorben!«

Rob reichte beiden die Hand. Auch Karim und Mirdin faßten einander an der Hand. Sie waren über Lachen und über Tränen hinaus wie alte Männer, die ein ganzes Leben miteinander geteilt haben. Sie blickten einander an und genossen das Bewußtsein, überlebt zu haben.

Es dauerte noch zehn Tage, bis Rob stark genug war, um heimzureisen. Die Kunde, daß die Pest zu Ende war, hatte sich verbreitet. Es würde zwar Jahre dauern, bis wieder Bäume in Schiras wuchsen, aber die Menschen begannen zurückzukommen, und einige brachten Holz mit. Sie kamen an einem Gebäude vorbei, an dessen Fenster Tischler Fensterläden befestigten, und an anderen Häusern, wo Männer Türen einsetzten. Es tat ihnen gut, die Stadt zu verlassen und nach Norden zu reiten.

Sie reisten ohne Hast. Als sie das Haus des Kaufmanns Ishmael erreichten, stiegen sie ab und klopften an. Aber niemand öffnete. Mirdin rümpfte die Nase. »In der Nähe liegen Tote«, erklärte er leise. Als sie das Haus betraten, fanden sie die verwesten Leichen des Kaufmanns und des hakim Fadil. Von Abbas Sefi war keine Spur zu entdecken. Er war zweifellos aus dem »sicheren Zufluchtsort« geflohen, als er sah, daß die beiden anderen von der Seuche befallen waren. So mußten sie noch eine letzte Pflicht erfüllen, ehe sie das Pestgebiet verlassen konnten. Sie sprachen Gebete, entzündeten mit der wertvollen Einrichtung des Kaufmanns ein großes Feuer und verbrannten die beiden Leichen.

Von acht Mann, die Isfahan mit der Medizinerabordnung verlassen hatten, kamen nur drei von Schiras zurück.

Die Gebeine eines Ermordeten

Als Rob zurückkehrte, kam ihm Isfahan unwirklich vor, denn die Stadt war voller gesunder Menschen, die lachten oder stritten. Zwischen ihnen herumzugehen war für Rob ungewohnt, als stünde die Welt schief.

Ibn Sina war betrübt, aber nicht überrascht, als er von der Fahnenflucht und den Todesfällen hörte. Das Buch mit Robs Aufzeichnungen nahm er gespannt in Empfang. Während des Monats, den die drei Studenten in dem Haus auf Ibrahims Felsen zugebracht hatten, um sicherzugehen, daß sie die Pest nicht einschleppten, hatte Rob einen langen, ausführlichen Abschlußbericht über ihre Arbeit in Schiras verfaßt.

Er stellte in seinen Aufzeichnungen unmißverständlich fest, daß die beiden Kameraden ihm das Leben gerettet hatten, und lobte sie wärmstens.

»Auch Karim?« fragte ihn Ibn Sina, als sie allein waren. Rob zögerte, denn er hielt es für anmaßend, einen Studienkollegen zu beurteilen. Doch er holte tief Luft und beantwortete die Frage. »Er hat vielleicht Schwierigkeiten mit seinen Prüfungen, aber er ist bereits ein wunderbarer Arzt, ruhig und entschlossen bei Katastrophen und voll Mitgefühl mit den Leidenden.«

Ibn Sina schien zufrieden. »Und jetzt mußt du das Haus des Paradieses aufsuchen und Alä Shahansha Bericht erstatten, denn der Schah will unbedingt über das Treiben der Seldschuken in Schiras sprechen.«

Der Winter ging dem Ende zu, gab aber noch kräftige Lebenszeichen von sich, und im Palast war es kalt. Khuffs schwere Stiefel hallten auf den Steinböden, als Rob ihm durch die dunklen Korridore folgte. Alä Shahansha saß allein an einem großen Tisch.

»Jesse ben Benjamin, Majestät.« Der Stadthauptmann zog sich zurück, während Rob den ravi zemin ausführte.

»Du kannst dich zu mir setzen, Dhimmi, und ziehe das Tischtuch über deine Knie!« wies ihn der König an. Als Rob der Aufforderung Folge leistete, erlebte er eine angenehme Überraschung. Der Tisch stand über einem Rost am Boden, durch den die Wärme der unterhalb befindlichen Öfen wohlig heraufdrang.

Rob wußte, daß er den Monarchen nicht zu lange oder zu direkt ansehen durfte, aber er hatte bereits die Anzeichen bemerkt, die die am Markt umlaufenden Gerüchte von dem zunehmend ausschweifenden Leben des Schahs bestätigten. Aläs Augen brannten wie die eines Wolfes, und die glatten Flächen seines mageren Raubvogelgesichts wirkten schlaff, zweifellos die Folge des übermäßigen Genusses von Wein.

Vor dem Schah lag ein abwechselnd in helle und dunkle Quadrate unterteiltes Brett, auf dem kunstvoll geschnitzte Elfenbeinfiguren aufgestellt waren. Daneben standen Becher und ein Krug Wein. Alä schenkte für beide ein und stürzte seinen Wein rasch hinunter. »Trink ihn, trink ihn! Der Wein wird dich zu einem fröhlichen Juden machen.« Die geröteten Augen blickten befehlsgewohnt. »Ich ersuche um Eure gütige Erlaubnis, davon Abstand nehmen zu dürfen. Er macht mich nicht fröhlich, Majestät. Er macht mich verdrossen und wütend, deshalb kann ich den Wein nicht genießen wie andere, glücklichere Menschen.«

Damit hatte er die Aufmerksamkeit des Schahs erregt. »Er ist auch daran schuld, daß ich jeden Morgen mit heftigen Schmerzen hinter den Augen und zitternden Händen erwache. Du bist Medicus. Gibt es ein Heilmittel dagegen?«

Rob lächelte. »Weniger Wein, Hoheit, und häufigere Ausritte in der reinen Luft Persiens.«

Die scharfen Augen suchten nach einem Anzeichen von Unverschämtheit in Robs Gesicht, fanden aber keines.

»Dann mußt du mit mir ausreiten, Dhimmi.« »Ich stehe Euch zu Diensten, Majestät.«

Alä winkte mit der Hand, zum Zeichen, daß dies abgemacht war. »Laß uns jetzt über die Seldschuken in Schiras sprechen. Du mußt mir alles erzählen.«

Der Schah hörte aufmerksam zu, während Rob eingehend schilderte, was er über die Streitkräfte wußte, die in Anshan eingefallen waren. Schließlich nickte der Schah. »Unser Feind im Nordwesten hat uns umzingelt und versucht, sich im Südosten von uns festzusetzen. Hätten sie ganz Anshan erobert und besetzt, wäre Isfahan nur ein Häppchen für den großen Appetit der Seldschuken.« Er schlug auf den Tisch. »Allah sei gesegnet, daß er ihnen die Pest geschickt hat. Wenn

sie wiederkommen, werden wir bereit sein.« Dann schob er das große karierte Brett so, daß es zwischen ihnen lag. »Du kennst diesen

Zeitvertreib?« »Nein, Majestät.«

»Unsere alte Beschäftigung. Wenn man verliert, heißt es shahtreng, der Schmerz des Königs. Aber zumeist ist es als Spiel des Schahs bekannt, denn es besteht aus Krieg.« Er lächelte belustigt. »Ich werde dich das Spiel des Schahs lehren, Dhimmi."

Er erklärte Rob das Spiel in großen Zügen, dann schenkte er sich wieder Wein ein, trank ihn und funkelte Rob an. »Hast du es verstanden?«

»Ich glaube ja, Majestät«, antwortete Rob vorsichtig. »Dann wollen wir beginnen.«

Rob beging Fehler, zog mit manchen Figuren falsch, und jedesmal korrigierte ihn A\Ä Shahansha murrend. Die Partie dauerte nicht lang, denn Robs Figuren wurden sehr schnell geschlagen, und sein König wurde mattgesetzt.

»Noch eine Partie!« forderte Alä zufrieden.

Die zweite Partie war fast ebenso schnell zu Ende wie die erste, doch Rob erkannte allmählich, daß der Schah seine Züge voraussah, da er Hinterhalte gelegt hatte und ihn in Fallen lockte, als führten sie einen echten Krieg.

Als die zweite Partie zu Ende war, entließ der Schah Rob mit einer Handbewegung.

»Ein geübter Spieler kann tagelang eine Niederlage abwehren«, erklärte er. »Wer beim Spiel des Schahs gewinnt, ist fähig, die Welt zu regieren. Aber du hast dich für einen Anfänger wacker geschlagen. Es ist keine Schande für dich, shahtreng hinnehmen zu müssen, denn schließlich bist du ja nur ein Jude.«

Wie angenehm, wieder in dem Häuschen in der Jehuddijeh zu weilen und sich wieder in die Routine des maristan und der Vorlesungssäle zu fügen! Zu seiner großen Freude wurde Rob nicht wieder zum Dienst im Gefängnis eingeteilt, sondern statt dessen für eine Zeitlang im Einrichten von Knochenbrüchen unterrichtet; mit Mirdin zusammen arbeitete er unter hakim Jalal-al-Din. Der schlanke, finstere Jalal war ein typischer angesehener und wohlhabender Exponent der Ärztege-Seilschaft von Isfahan. Aber er unterschied sich in vielen Dingen von den meisten Ärzten in Isfahan.

»Du bist also Jesse, der Baderchirurg, von dem ich schon gehört habe?« fragte er, als Rob sich bei ihm meldete.

»Ja, Hakim.«

»Ich kann die allgemeine Verachtung für Baderchirurgen nicht teilen. Es stimmt: Viele sind Diebe und Narren, aber unter ihnen befinden sich auch Männer, die ehrlich und klug sind. Bevor ich Medicus wurde, gehörte ich einem anderen von der persischen Ärzteschaft verachteten Beruf an: Ich war ein reisender Knocheneinrichter, und wenn ich jetzt auch hakim bin, bin ich doch derselbe Mensch geblieben. Auch wenn ich dich als Bader nicht verachte, mußt du dennoch hart arbeiten, um meine Achtung zu gewinnen. Wenn du sie nicht verdienst, werde ich dich mit einem Fußtritt aus meinem Dienst jagen, Europäer!«

Beide, Rob wie Mirdin, waren bei ihrer harten Arbeit glücklich. Jalal-al-Din war als Spezialist für Knochenbrüche berühmt und hatte die verschiedensten gepolsterten Schienen und Streckvorrichtungen erdacht.

Er lehrte sie, die Fingerspitzen zu verwenden, als wären sie Augen, die unter verletztes und gequetschtes Fleisch sehen und sich von der Verletzung ein Bild machen konnten, bis die beste Behandlungsmethode gefunden war.

Jalal war besonders in der Behandlung von Splittern und Bruchstücken geschickt, die er an ihren angestammten Platz zurückschob, wo die Natur sie wieder zu einem Teil des Knochengerüsts machen konnte.

»Er scheint ein merkwürdiges Interesse an Verbrechen zu haben«, brummte Mirdin nach ihren ersten paar Tagen als Jalals Gehilfen. Und das stimmte, denn auch Rob hatte bemerkt, daß der Arzt sich übermäßig lang über einen Mörder verbreitete, der diese Woche vor Imam Qandrassehs Gericht seine Schuld eingestanden hatte. Ein gewisser Fakhr-i-Ayn, ein Hirte, hatte zugegeben, daß er zwei Jahre zuvor einen anderen Hirten namens Qifti al-Ullah mißhandelt und dann erschlagen und sein Opfer in einem flachen Grab vor den Stadtmauern verscharrt hatte. Das Gericht verurteilte den Mörder, der sofort hingerichtet und gevierteilt wurde.

Wenige Tage später, als Rob und Mirdin sich bei Jalal meldeten, erzählte er ihnen, daß die Leiche des Ermordeten aus ihrem unwürdigen Grab exhumiert und auf einem mohammedanischen Friedhof mit Gebeten bestattet werden sollte, damit die Seele Zutritt ins Paradies erlange.

»Kommt!« forderte Jalal sie auf. »Das ist eine seltene Gelegenheit. Heute werden wir Totengräber sein.«

Er verriet ihnen nicht, wen er bestochen hatte, doch bald begleiteten die beiden Studenten und der Medicus mit einem beladenen Maultier einen mullah und einen Soldaten des kelonters zu dem einsamen Hang, den der inzwischen hingerichtete Fakhr-i-Ayn den Behörden angegeben hatte.

»Seid vorsichtig!« ermahnte sie Jalal, als sie ihre Spaten ansetzten. Bald erblickten sie die Knochen einer Hand, und kurz darauf holten sie das ganze Skelett heraus und legten die Knochen des Erschlagenen auf eine Decke.

»Zeit zum Essen«, erklärte Jalal und führte den Maulesel in den Schatten eines in einiger Entfernung vom Grab stehenden Baumes. Der Packen, den das Tier trug, wurde geöffnet, und gebratenes Geflügel, üppiger pilaw, große Wüstendatteln, Honigkuchen und ein Krug Scherbett kamen zum Vorschein. Der Soldat und der mullah begannen eifrig zu essen, und Jalal und seine Studenten überließen sie der üppigen Mahlzeit und einem Nickerchen, das sicherlich folgen mußte. Die drei eilten zu dem Skelett zurück. Die Erde hatte das Ihre getan, und die Knochen waren sauber bis auf einen Rostfleck um die Stelle, an der Fakhrs Dolch das Brustbein durchstoßen hatte. Sie knieten murmelnd neben den Knochen und dachten kaum daran, daß die Überreste einmal ein lebendiger Mann gewesen waren.

»Beachtet den Oberschenkelknochen«, sagte Jalal, »den größten, stärksten Knochen im Körper! Ist es nicht offensichtlich, weshalb es so schwierig ist, einen Bruch am Oberschenkelknochen einzurichten? Zählt die zwölf Rippenpaare. Seht ihr, daß die Rippen einen Korb bilden? Der Brustkorb schützt das Herz und die Lunge, ist das nicht wunderbar?«

Es war ein großer Unterschied, ob man menschliche Knochen oder das Gerippe eines Schafes studierte, fand Rob. »Das Herz und die Lunge des Menschen - habt Ihr sie schon gesehen?« fragte er Jalal. »Nein. Aber Galen sagt, sie ähneln denen eines Schweines. Die Organe des Schweines haben wir alle gesehen.«

»Was ist, wenn sie nicht gleich sind?«

»Sie sind gleich«, entgegnete Jalal ärgerlich. »Wir wollen diese einmalige Möglichkeit zum Studium nicht verstreichen lassen, denn die beiden werden bald wieder kommen. Seht ihr, wie die oberen sieben Rippenpaare durch elastisches Bindegewebe am Brustbein hängen? Die nächsten drei sind durch ein gemeinsames Gewebe verbunden, und die letzten beiden Paare sind überhaupt nicht mit der Vorderseite verbunden. Ist Allah - groß und mächtig ist Er! - nicht der begabteste Schöpfer, ihr Dhimmis? Ist es nicht ein erstaunliches Gerüst, mit dem Er Seine Menschen aufgebaut hat?«

Sie hockten in der heißen Sonne und benutzten mit wissenschaftlichem Genuß den Ermordeten zu einer anatomischen Demonstration. Nachher verbrachten Rob und Mirdin lange Zeit im Bad der Schule, wuschen den Leichengeruch weg und lockerten ihre Muskeln, die das Graben nicht gewohnt waren. Dort fand sie Karim, und Rob las vom Gesicht seines Freundes sofort ab, daß etwas nicht in Ordnung war. »Ich soll wieder geprüft werden.« »Aber das wünschst du dir doch!«

Karim warf einen Blick auf zwei Mitglieder des Lehrkörpers, die am anderen Ende des Raumes miteinander plauderten, und senkte die Stimme. »Ich habe Angst. Ich hatte beinahe die Hoffnung auf eine neuerliche Prüfung aufgegeben. Das wird meine dritte sein. Wenn ich diesmal versage, ist alles vorbei.« Er sah die Kameraden finster an. »Jetzt bin ich wenigstens ein diensttuender Student.« »Du wirst wie ein Rennpferd durch die Prüfung galoppieren«, munterte ihn Mirdin auf.

Karim wehrte jeden Versuch, ihm Unbeschwertheit zu vermitteln, ab. »Ich mache mir keine Sorgen wegen des medizinischen Teils. Es geht um die Philosophie und die Rechtswissenschaft.« »Wann?« fragte Rob. »In sechs Wochen.« »Dann haben wir ja noch Zeit.«

»Ja, ich werde mit dir Philosophie büffeln«, versprach Mirdin ruhig. »Jesse und du, ihr könnt an deinen Jurakenntnissen arbeiten.« Rob stöhnte innerlich, denn er hielt sich kaum für einen Juristen. Aber sie hatten die Pest gemeinsam überstanden und waren durch ähnliche Erlebnisse in der Kindheit verbunden. Er wußte, daß er es versuchen

mußte. »Heute abend fangen wir an«, versprach er und griff nach einem Tuch, um sich abzutrocknen.

»Ich habe nie gehört, daß jemand sieben Jahre lang Student blieb und dann zum Medicus ernannt wurde«, zweifelte Karim und unternahm keinen Versuch, seine schreckliche Angst vor ihnen zu verbergen, was ein neuer Beweis ihrer Vertrautheit war.

»Du wirst durchkommen«, meinte Mirdin, und Rob nickte dazu.

»Ich muß«, sagte Karim.

Das Rätsel

Zwei Wochen lang forderte Ibn Sina Rob jeden Abend auf, mit ihm zu speisen.

»Der Meister hat einen Lieblingsstudenten«, spottete Mirdin, aber in seinem Lächeln lag Stolz und keineswegs Mißgunst. »Es ist gut, daß er sich für dich interessiert«, stellte Karim ernst fest. »Al-Juzjani wurde von Ibn Sina gefördert, seit sie junge Leute waren, und al-Juzjani ist ein großer Medicus geworden.« Rob runzelte die Stirn, denn er wollte die einmalige Erfahrung nicht einmal mit ihnen teilen. Er konnte nicht beschreiben, wie es war, einen ganzen Abend lang als einziger von Ibn Sinas Klugheit zu profitieren. An einem Abend hatten sie über die Himmelskörper gesprochen -oder, um es präzise auszudrücken, Ibn Sina hatte gesprochen, und Rob hatte zugehört. An einem anderen Abend hatte sich Ibn Sina stundenlang über die Theorien der griechischen Philosophen ausgelassen. Er wußte so viel und konnte es mühelos weitervermitteln. Rob hingegen mußte lernen, bevor er Karim beim Büffeln helfen konnte. Er beschloß, sechs Wochen lang keine anderen Vorlesungen zu hören als Rechtslehrgänge, und er holte sich aus dem Haus der Weisheit Bücher über Rechtspflege und Jurisprudenz. Karim in Jura zu helfen würde nicht einfach ein selbstloser Freundschaftsakt sein, denn Jura war ein Gebiet, das Rob vernachlässigt hatte. Wenn er Karim Beistand, bereitete er sich selbst auf den Tag vor, an dem er seine Prüfung ablegen würde. Im Islam gab es zwei Rechtsgrundlagen: Fiqb oder die Gesetzeswis-senschaft und shan'a, das Gesetz, wie es von Allah göttlich offenbart worden war. Als noch die sunna hinzukam, Wahrheit und Recht, wie sie durch das beispielhafte Leben und die Aussprüche Mohammeds offenbart wurden, war das Ergebnis ein komplexes und kompliziertes Wissensgebiet, bei dem selbst Gelehrte verzagten. Karim versuchte, sich diesem Gebiet zu nähern, aber es war klar, daß es ihrri schwerfiel. »Das wächst mir über den Kopf«, klagte er. Die Anstrengung war ihm deutlich anzumerken. Zum erstenmal seit sieben Jahren, mit Ausnahme der Zeit, in der er in Schiras gegen die Pest gekämpft hatte, ging er nicht täglich in den tnanstan, und er gestand Rob, daß er sich ohne die ständige Routine der Behandlung von Kranken seltsam und fehl am Platz fühle.

Jeden Morgen, bevor er mit Rob zusammentraf, um Jura zu studieren, und dann mit Mirdin, um sich den Philosophen und ihren Lehren zu widmen, lief Karim im ersten grauen Tageslicht seine Runden. Einmal versuchte Rob, mit ihm zu laufen, aber er blieb bald weit hinter ihm zurück. Karim rannte, als versuche er, seinen Ängsten zu entkommen. Einige Male ritt Rob den braunen Wallach, um mit dem Läufer Schritt halten zu können. Doch beunruhigte diese tägliche Verausgabung Rob.

»Sie raubt Karim die Kraft«, beklagte er sich bei Mirdin. »Er sollte seine Energien auf das Studium konzentrieren.« Aber der kluge Mirdin zupfte an seiner Nase, strich über sein langes Pferdekinn und schüttelte den Kopf. »Nein, wenn er nicht laufen würde, wäre er nicht imstande, die schwere Zeit durchzustehen«, meinte er, und Rob gab klugerweise nach, denn er vertraute fest darauf, daß Mirdins gesunder Menschenverstand so groß war wie seine Gelehrsamkeit.

Eines Morgens wurde Rob zum Arzt aller Ärzte gerufen, und er ritt mit dem braunen Pferd über die Allee der tausend Gärten, bis er zu der staubigen Gasse kam, die zu Ibn Sinas schönem Haus führte. Der Torhüter nahm sein Pferd in Empfang, und als er zu der Steintüre kam, stand bereits Ibn Sina unter ihr, um ihn zu begrüßen. »Es geht um meine Frau. Ich wäre dankbar, wenn du sie untersuchen würdest.«

Rob verbeugte sich verwirrt; Ibn Sina fehlte es nicht an hervorragenden Kollegen, die es als Freude und Ehre empfunden hätten, seine Frau zu untersuchen. Er folgte Ibn Sina zu einer Tür, hinter der eine steinerne Treppe nach oben führte. Sie sah wie das Innere eines Schneckenhauses aus, und die beiden erstiegen den Nordturm des Hauses.

Die alte Frau lag auf einer Pritsche und starrte teilnahmslos und blicklos durch die zwei Männer hindurch. Ibn Sina kniete neben ihr nieder. »Reza.«

Ihre trockenen Lippen waren aufgesprungen. Er befeuchtete ein Tuch mit Rosenwasser und wischte ihr Mund und Gesicht zärtlich ab. Ibn Sina besaß lebenslange Erfahrung darin, wie man es einem Kranken behaglich machen kann, doch nicht einmal die saubere Umgebung, die frisch gewechselte Kleidung und die duftenden Rauchfahnen, die von Weihrauchtellern aufstiegen, konnten den üblen Geruch ihrer Krankheit überdecken.

Die Knochen schienen ihre durchscheinende Haut zu durchbohren. Ihr Gesicht war wächsern, ihr Haar spärlich und weiß. Ihr Mann war vielleicht der bedeutendste Arzt der Welt, aber sie war eine alte Frau im Endstadium einer Knochenkrankheit. Große bubos waren auf ihren mageren Armen und Unterschenkeln zu sehen. Ihre Gelenke und Füße waren infolge der angesammelten Flüssigkeit geschwollen. Ihre rechte Hüfte war weitgehend zerstört, und Rob wußte, daß er, wenn er ihr Nachtgewand hob, weitere fortgeschrittene Geschwüre finden würde, die sich über ihren Körper ausgebreitet hatten. Auch war dem Geruch nach sicher, daß sie auf ihre Eingeweide übergegriffen hatten. Ibn Sina hatte ihn kaum kommen lassen, damit er eine schreckliche, eindeutige Diagnose bestätigte. Rob wußte jetzt, was von ihm erwartet wurde. Er ergriff ihre zarten Hände und sprach leise auf sie ein. Er ließ sich mehr Zeit als notwendig und blickte in ihre Augen, die einen Moment klar waren.

»Da'ud?« flüsterte sie, und ihr Griff um seine Hände wurde stärker. Rob sah Ibn Sina fragend an. »So hieß ihr Bruder, der seit vielen Jahren tot ist.« Die Leere kehrte in ihre Augen zurück, ihre Finger erschlafften. Rob legte ihre Hände auf die Pritsche zurück, und sie verließen den Turm. »Wie lange noch?«

»Nicht mehr lange, Hakim-hashi. Es ist nur eine Frage von Tagen.« Rob war unbeholfen; der andere war um so vieles älter als er, daß er unmöglich die üblichen Beileidsbezeugungen äußern konnte. »Gibt e-, denn nichts, was man für sie tun kann?«

Ibn Sina verzog den Mund. »Ich kann ihr meine Liebe nur mit immer stärkeren Infusionen beweisen.« Er führte seinen Studenten zur Haustür und dankte ihm, dann kehrte er zu seiner kranken Frau zurück. »Herr«, sprach da jemand Rob an.

Als er sich umdrehte, sah er den riesigen Eunuchen, der zur Bewachung der zweiten Frau diente. »Wollt Ihr mir bitte folgen?« Sie gingen durch eine Tür in der Gartenmauer, deren Öffnung so klein war, daß sich beide bücken mußten, und kamen vor dem Südturm in einen anderen Garten. »Was gibt es?« fragte er den Sklaven kurz.

Der Eunuch antwortete nicht. Aber Robs Blick wurde von etwas angezogen, und er schaute dorthin, wo ein verschleiertes Gesicht durch ein kleines Fenster auf ihn herunterstarrte. Als ihre Blicke einander trafen, verschwand sie mit flatternden Schleiern, und das Fenster war leer.

Rob wandte sich an den Sklaven, und der Eunuch hob lächelnd die Schultern.

»Sie befahl mir, Euch hierher zu bringen. Sie wünschte Euch zu sehen, Herr.«

An diesem Abend studierte Rob gerade das Besitzrecht, als er das Klappern von Hufen hörte, die die Straße herunterkamen und vor seiner Tür hielten. Es klopfte.

Er griff nach seinem Schwert, da er an Diebe dachte. Für einen Besuch war es viel zu spät. »Wer ist draußen?«

»Wasif, Herr.«

Rob kannte keinen Wasif, aber er erkannte die Stimme. Er hielt die Waffe bereit, öffnete die Tür und sah, daß er recht gehabt hatte. Es war der Eunuch, der die Zügel eines Esels hielt. »Wurdest du vom hakim geschickt?«

»Nein, Herr. Ich wurde von ihr geschickt, die wünscht, daß Ihr kommt.« »Warte«, befahl Rob grob und schloß die Tür.

Er trat hinaus, nachdem er sich hastig gewaschen hatte, stieg ohne Sattel auf den braunen Wallach, ritt hinter dem riesigen Sklaven durch die dunklen Straßen und bog in die Gasse ein, deren tiefer Staub das Hufgeklapper dämpfte. Dann kamen sie auf ein Feld, das hinter der Mauer von Ibn Sinas Besitz endete. Der Eunuch öffnete das Tor zum Turm, verneigte sich und ließ Rob allein weitergehen. Als Rob das oberste Stockwerk erreicht hatte, befand er sich im geräumigen Harem.

Im Lampenlicht sah er, daß sie auf einem großen Lager mit Kissen wartete: eine Perserin, die sich für die Liebe geschmückt hatte. Hände, Füße und ihr Geschlechtsteil waren rot mit Henna geschminkt und glatt vor Öl. Ihre Brüste waren für Rob eine Enttäuschung, sie waren kaum gewölbter als die eines Jungen. Er hob ihren Schleier.

Sie hatte schwarzes Haar, das ebenfalls mit Öl getränkt und straff an ihrem runden Kopf zurückgekämmt war. Zu Robs Verwunderung war Ibn Sinas zweite Frau ein bezauberndes junges Mädchen mit zitterndem Mund, den sie jetzt nervös mit einer kurzen Bewegung ihrer rosa Zunge befeuchtete. Sie hatte ein herzförmiges, liebreizendes Gesicht mit spitzem Kinn und einer kurzen, geraden Nase. Im dünnwandigen rechten Nasenflügel hing ein kleiner Metallring, gerade groß genug für den kleinen Finger eines Mannes.

Er lebte schon zu lange in diesem Land: Ihre unverschleierten Gesichtszüge wirkten auf ihn erregender als ihr rasierter Körper. »Warum heißt du Despina die Häßliche?«

»Das hat Ibn Sina angeordnet. Um den bösen Blick abzuwehren«, erklärte sie, während er neben ihr auf das Lager sank.

Am nächsten Nachmittag im maristan folgte Rob al-Juzjani durch die Räume und blieb mit den anderen am Strohsack eines mageren, kleinen Jungen namens Biläl stehen. In der Nähe saß ein Bauer mit stumpfem, resigniertem Blick.

»Eine Krankheit des Leibes«, sagte al-Juzjani. »Ein Beispiel dafür, wie eine Kolik die Seele aussaugen kann.

Wie alt ist er?« Eingeschüchtert, aber geschmeichelt, weil er angesprochen wurde, senkte der Vater den Kopf.

»Er ist im neunten Lebensjahr, Herr.« »Und wie lange krank?«

»Zwei Wochen. Es ist die Seitenkrankheit. Sie hat schon zwei seiner Onkel und meinen Vater umgebracht.

Schreckliche Schmerzen. Sie kommen und gehen. Aber vor drei Tagen ist der Schmerz gekommen und nicht wieder vergangen.«

Der Pfleger, der sich unterwürfig an al-Juzjani wandte und es zweifellos gern gesehen hätte, wenn sie weitergegangen wären, sagte, daß das Kind nur Scherbetts aus gesüßten Säften erhalten habe. »Alles, was er schluckt, spuckt oder scheißt er wieder aus.« Al-Juzjani nickte. »Untersuch ihn, Jesse!«

Rob schlug die Decke zurück. Der Junge hatte eine Narbe unter dem Kinn, die aber vollkommen verheilt war und in keinem Zusammenhang mit seiner Krankheit stand. Er legte eine Handfläche auf die schmale Wange, und Biläl versuchte, sich zu bewegen, hatte aber nicht genug Kraft dazu. Rob streichelte seine Schulter. »Heiß.«

Er strich langsam mit den Fingerspitzen über den Körper des Jungen. Als er zum Bauch kam, schrie der Knabe auf. »Der Bauch ist links weich und rechts hart.«

»Allah hat versucht, die Körperseite, in der sich die Krankheit festgesetzt hat, zu schützen«, erklärte al-Juzjani.

Rob ging mit seinen Fingerspitzen so sanft wie möglich vor, um das Gebiet des Schmerzes vom Nabel ausgehend auf der rechten Bauchhälfte abzugrenzen. Der Junge tat ihm leid, weil er ihm jedesmal, wenn er auf den Bauch drückte, Qualen verursachte. Er drehte Biläl um, und sie sahen, daß der After rot und entzündet war.

Rob legte die Decke wieder an ihren Platz, ergriff die kleinen Hände und hörte wieder den alten, schwarzen Ritter lachen. »Wird er sterben, Herr?« fragte der Vater sachlich. »Ja«, antwortete Rob, und der Mann nickte.

Niemand lächelte über Robs Diagnose. Seit sie aus Schiras zurückgekehrt waren, hatten Mirdin und Karim entsprechende Geschichten erzählt, die sich herumgesprochen hatten. Rob bemerkte, daß jetzt niemand mehr höhnisch johlte, wenn er behauptete, daß jemand sterben würde.

»Aelius Cornelius Celsus hat die Seitenkrankheit in seinen Schriften beschrieben, man sollte das lesen«, sagte Hakim al-Juzjani und wandte sich dem nächsten Strohsack zu.

Als der letzte Patient versorgt war, ging Rob zum Haus der Weisheit und bat Jussuf-al-Gamal, herauszusuchen, was der Römer über die Seitenkrankheit geschrieben hat. Es faszinierte ihn, daß Celsus die Leichen der Toten geöffnet hatte, um sein Wissen zu vervollkommnen. Doch man wußte nicht viel über dieses besondere Leiden, das Celsus als eine Krankheit im Dickdarm in der Nähe des Blinddarms beschrieb, die von einer heftigen Entzündung und von Schmerzen auf der rechten Bauchseite begleitet wird.

Als Rob das Kapitel gelesen hatte, kehrte er zu Biläls Bett zurück. Der Vater war fort. Ein strenger mullah beugte sich wie ein großer Rabe über den Knaben und sprach Verse aus dem Qu'ran, während das Kind auf seine schwarze Kleidung starrte.

Rob schob den Strohsack so, daß der Kleine den mullah nicht mehr anblicken mußte. Auf einem niedrigen Tisch hatte der Pfleger drei Granatäpfel zurückgelassen, die bei der Abendmahlzeit gegessen werden sollten. Rob ergriff sie und schleuderte sie nacheinander in die Luft, bis sie von einer Hand über seinen Kopf zur anderen flogen, genau wie in alten Zeiten. Er war natürlich nicht mehr geübt, aber mit nur drei Gegenständen hatte er keine Schwierigkeiten, und so vollführte er mit den Früchten ein paar Tricks.

Die Augen des Knaben wurden so rund wie die fliegenden Granatäpfel.

»Jetzt brauchen wir nur noch eine Melodie!«

Er kannte kein persisches Lied, aber er wollte etwas Lebhaftes. Schließlich stimmte er heiser des Baders altes Liebeslied an:

»Deine Blicke liebkosten mich einst, Deine Arme umfangen mich jetzt, Drum schwöre keinen sinnlosen Eid, In mein Bett kommst du doch noch zuletzt.«

Das war bestimmt nicht das passende Lied für ein sterbendes Kind, doch der mullah, der ungläubig Robs Possen bestaunte, sorgte für Feierlichkeit und ein Gebet, während Rob etwas Lebensfreude beisteuerte. Die Worte verstanden die beiden ohnehin nicht, also war Robs Benehmen nicht unehrerbietig. Er sang Biläl mehrere Strophen vor und sah dann, wie sich der Körper des Kindes in einem letzten Krampf zu einem Bogen krümmte. Immer noch singend, fühlte Rob, wie der letzte Puls in Biläls Halsschlagader verebbte.

Er schloß ihm die Augen, wischte den Schleim von seiner Nase, streckte die Leiche und säuberte sie. Dann kämmte er Biläls Haar und band sein Kinn mit einem Tuch hoch.

Der mullah sang noch immer mit gekreuzten Beinen aus dem Qu'ran. Seine Augen funkelten; er war imstande, gleichzeitig zu beten und zu hassen. Zweifellos würde er sich darüber beschweren, daß der Dhimmi ein Sakrileg begangen hatte, aber in seinem Bericht würde nicht stehen, daß Biläl kurz vor seinem Tod noch gelächelt hat.

In vier von sieben Nächten holte ihn Wasif, und er blieb bis zu den frühen Morgenstunden im Turmharem. Sie erteilten einander Sprachunterricht. »Der Schwanz.«

Sie lachte. »Nein, dein Ungarn, und das ist meine yoni.« Sie behauptete, daß die beiden gut zueinander paßten.

»Ein Mann ist entweder ein Hase, ein Stier oder ein Pferd. Du bist ein Stier. Eine Frau ist entweder eine Hindin, eine Stute oder eine Elefantenkuh, und ich bin eine Hindin. Das ist gut. Einem Hasen würde es schwerfallen, einer Elefantenkuh Liebesfreude zu bereiten«, sagte sie ernst. Sie war die Lehrerin, er der Schüler, als wäre er wieder ein Junge und hätte nie geliebt. Sie tat Dinge, die er aus den Bildern in dem Buch kannte, das er auf dem maidan gekauft hatte, und etliches mehr, das im Buch nicht enthalten war. Sie zeigte ihm kshiraniraka, die Milch-und-Wasser-Umarmung. Die Stellung von Indras Frau. Die auparishtaka Mund-Begegnung.

Anfangs war er fasziniert und entzückt, als sie vom Karussell über das Klopfen an der Tür zum Beischlaf des Schmiedes gelangten. Er wurdt: ärgerlich, als sie versuchte, ihm die richtigen Laute beim Höhepunkt beizubringen: sut oderplat statt des Stöhnens.

»Entspannst du dich nie und fickst einfach drauflos? Es ist ja schlimmer, alsfiqh auswendig zu lernen.«

»Es ist vergnüglicher, wenn man es erlernt hat«, entgegnete sie beleidigt.

Der Vorwurf in ihrer Stimme beeindruckte ihn nicht. Außerdem zog er es vor, wenn Frauen ihre Körperhaare nicht entfernten.

»Genügt dir der alte Mann nicht?«

»Früher einmal war er mehr als genug. Seine Manneskraft war einmalig. Er liebte das Trinken und Frauen, und in der richtigen Stimmung machte er die Schlange, die weibliche Schlange.« In ihren Augen glänzten Tränen.

»Aber er hat seit zwei Jahren nicht mehr mit mir geschlafen. Als sie krank wurde, hat er damit aufgehört.«

Despina hatte ihr Leben lang Ibn Sina gehört. Sie war die Tochter von zwei seiner Sklaven, einer Inderin und einem Perser, der sein vertrauter Diener gewesen war. Ihre Mutter starb, als sie sechs Jahre alt war. Der alte Mann hatte sie beim Tod ihres Vaters geheiratet - da war sie zwölf gewesen - und sie nie freigelassen.

Rob berührte ihren Nasenring, das Symbol ihrer Sklaverei. »Und warum nicht?«

»Als sein Eigentum und als seine zweite Frau bin ich doppelt geschützt.«

»Was wäre, wenn er jetzt hier heraufkäme?« Er dachte an die einzige Treppe.

»Wasif steht unten, er würde ihn ablenken. Aber er sitzt an Rezas Lager und läßt ihre Hand nicht los.«

Rob blickte Despina an, nickte und empfand Schuld, die unbewußt in ihm gewachsen war. Er mochte das kleine, schöne Mädchen mit der olivfarbenen Haut, den winzigen Brüsten, dem runden Bäuchlein und dem heißen Mund. Er bedauerte sie, weil sie dieses Leben führte, eine Gefangene in einem luxuriösen Gefängnis. Er wußte, daß die islamische Tradition sie die meiste Zeit im Haus und in den Garten einsperrte, und er machte ihr keine Vorwürfe, aber er hatte den verbrauchten alten Mann mit dem glänzenden Verstand und der großen Nase ins Herz geschlossen.

Er stand auf und begann sich anzuziehen. »Ich werde dein Freund bleiben.«

Sie war nicht dumm. Sie beobachtete ihn interessiert. »Du bist fast jede Nacht hier gewesen und bist jetzt gesättigt. Wenn ich in zwei Wochen Wasif schicke, wirst du kommen?« Er küßte sie auf die Nase knapp über dem Ring.

Elf Nächte später klopfte Wasif an seine Tür.

Despina hätte beinahe recht behalten, denn Rob geriet in große

Versuchung und wollte schon zustimmend nicken. Doch dann schür leite er den Kopf. »Sage ihr, ich kann nicht mehr zu ihr kommen.« Drei Tage später starb Reza die Fromme, während die muezzms der Stadt das erste Gebet sangen - eine passende Zeit für das Ende eines frommen Lebens.

In der madrassa und im maristan sprachen die Leute darüber, wie Ibn Sina mit eigenen Händen den Leichnam seiner Frau gewaschen und gesalbt hatte, und über das einfache Begräbnis, zu dem er nur ein paar betende mullaks zugelassen hatte. Ibn Sina betrat weder die Schule noch das Krankenhaus. Niemand wußte, wo er sich aufhielt. Eine Woche nach Rezas Tod traf Rob eines Abends al-Juzjani, der am zentralen maidan trank.

»Setz dich, Dhimmi«, forderte al-Juzjani Rob auf und bestellte weiteren Wein.

»Hakim, wie geht es dem Arzt aller Ärzte?«

Es war, als wäre die Frage nicht gestellt worden. »Er hält dich für etwas Besonderes, für einen besonderen Studenten«, behauptete al-Juzjani verstimmt.

Wäre er nicht diensttuender Student und wäre al-Juzjani nicht der große Medicus gewesen, hätte Rob angenommen, daß der andere auf ihn eifersüchtig war.

»Wenn du kein besonderer Student bist, Dhimmi, mußt du mit mir rechnen.« Al-Juzjani sah ihn mit funkelnden Augen an, und Rob erkannte, daß der Chirurg ziemlich betrunken war. Sie schwiegen, als der Wein gebracht wurde.

»Ich war siebzehn Jahre alt, als wir uns in Jurjän kennengelernt haben. Ibn Sina war nur ein paar Jahre älter als ich, aber Allah! Mir war, als blicke ich geradewegs in die Sonne. Mein Vater hat dann das Abkommen getroffen, daß mich Ibn Sina in Medizin unterrichten soll, ich würde sein Gehilfe sein.« Al-Juzjani trank nachdenklich.

»Ich bediente ihn. Er lehrte mich Mathematik, wobei er den >Alma-gest< als Lehrbuch verwendete. Und er diktierte mir mehrere Bücher, einschließlich des ersten Teils von >Der Kanon der Medizin«, fünfzig Seiten jeden goldenen Tag. Als er Jurjän verließ, folgte ich ihm in ein halbes Dutzend Orte. In Hamadhän ernannte ihn der Emir zum Wesir, aber die Armee rebellierte, und Ibn Sina wurde ins Gefängnis geworfen. Zuerst sagten sie, sie würden ihn töten, aber er wurde freigelassen - der glückliche Sohn einer Stute! Bald wurde der Emir von einer Kolik geplagt, und Ibn Sina heilte ihn, worauf er zum zweitenmal das Wesirsamt erhielt. Ich blieb bei ihm, ob er nun Arzt, Gefangener oder Wesir war. Er war nicht nur mein Meister, sondern auch mein Freund. Jeden Abend versammelten sich Schüler in seinem Haus, während ich abwechselnd laut aus seinem Buch >Heilen< vorlas und jemand anderer aus dem >Kanon< las. Reza sorgte dafür, daß wir immer gutes Essen bekamen. Wenn wir fertig waren, tranken wir eine Menge Wein, gingen aus und suchten uns Frauen. Er war der lustigste Gefährte und beim Feiern ebenso gut wie beim Arbeiten. Er hatte Dutzende schöner Punzen - wahrscheinlich fickte er hervorragend, übertraf er ja in allen Belangen die meisten Männer. Reza wußte immer davon, aber sie liebte ihn dennoch.«

Er schaute weg.

»Jetzt ist sie begraben, und er ist verbraucht. Er schickt alte Freunde weg, und jeden Tag geht er allein durch die Stadt und gibt den Armen Almosen.«

»Hakim«, sagte Rob sanft.

Al-Juzjani starrte ihn an.

»Hakim, soll ich Euch nach Hause bringen?«

»Fremdling, ich möchte, daß du mich jetzt in Ruhe läßt.«

Also nickte Rob, dankte ihm für den Wein und ging.

Rob wartete noch eine Woche, dann ritt er am hellichten Tag zu Ibn Sinas Haus und ließ sein Pferd bei dem Mann am Tor zurück.

Der Alte war allein. Seine Augen blickten sanft. Er saß mit Rob behaglich beisammen, sie sprachen manchmal, dann wieder schwiegen sie.

»Wart Ihr schon Medicus, als Ihr sie geheiratet habt, Herr?«

»Ich wurde mit sechzehn hakim. Verheiratet hatte man uns, als ich zehn war, in dem Jahr, als ich den Qu'ran auswendig lernte und mit dem Studium der Heilkräuter begann.«

Rob war beeindruckt. »In diesem Alter versuchte ich, ein Scharlatan und ein Baderchirurg zu werden.« Er erzählte Ibn Sina, wie der Bader den Waisenknaben als Lehrling aufgenommen hatte.

»Was war der Beruf deines Vaters?«

»Er war Zimmermann.«

»Ich weiß über die europäischen Zünfte Bescheid. Ich habe gehört, daß es in Europa sehr wenige Juden gibt und daß sie nicht in die Zünfte aufgenommen werden.«

Er weiß wirklich Bescheid, dachte Rob verzweifelt. »Ein paar werden zugelassen«, murmelte er.

Ibn Sinas Augen schienen ihn sanft zu durchbohren. Rob war davon überzeugt, daß ihn der alte Mann durchschaut hatte. »Du sehnst dich verzweifelt danach, die Heilkunst und die Wissenschaft zu erlernen.« »Ja, Herr.«

Ibn Sina seufzte, nickte und blickte an ihm vorbei. Rob stellte erleichtert fest, daß seine Angst unbegründet gewesen war, denn sie sprachen bald von anderen Dingen.

Ibn Sina erinnerte sich, wie er als Junge Reza kennengelernt hatte. »Sie stammt aus Buchara, ein Mädchen, das um vier Jahre älter war als ich. Unsere Väter waren beide Steuereinnehmer, und die Hochzeit wurde freundschaftlich vereinbart. Nur eine kleine Schwierigkeit tauchte auf, weil ihr Großvater einwendete, daß mein Vater ein Ismaili war, der während des heiligen Gottesdienstes Haschisch rauchte. Wir wurden aber dennoch getraut. Sie war mir mein Leben lang treu.« Der alte Mann sah Rob an. »Du hast das Feuer noch in dir. Was strebst du an?«

»Ich will ein guter Medicus werden.« Von der Art, wie nur Ihr sie ausbilden könnt, fügte er im Geist hinzu.

Doch Ibn Sina hatte ihn bestimmt verstanden.

»Du bist bereits ein Heiler. Was das Verdienst betrifft...« Ibn Sina zuckte mit den Achseln. »Um ein guter Medicus zu sein, muß man imstande sein, die Lösung eines unlösbaren Rätsels zu finden.« »Und wie lautet die Frage?« erkundigte sich Rob verblüfft. Doch der alte Mann lächelte schmerzlich. »Vielleicht kannst du sie eines Tages herausfinden. Das gehört zu dem Rätsel.«

Die Prüfung

An dem Nachmittag, an dem Karims Prüfung stattfand, verrichtete Rob seine gewohnten Tätigkeiten mit besonderer Energie und Aufmerksamkeit. Er versuchte, nicht an die Szene zu denken, die sich bald im Sitzungsraum neben dem Haus der Weisheit abspielen würde. Er und Mirdin hatten Jussuf-al-Gamal, den freundlichen Bibliothekar, als Komplizen und Spion angeworben. Während er seinen Pflichten in der Bibliothek nachging, konnte Jussuf die Zusammensetzung der Prüfungskommission in Erfahrung bringen. Mirdin wartete draußen auf die Neuigkeiten, die er unverzüglich an Rob weitergab. »Er hat Sajjid Sa'di in Philosophie«, hatte Jussuf Mirdin berichtet, bevor er wieder in den Saal eilte, um mehr zu erfahren. Das war nicht schlecht; der Philosoph war schwierig, würde sich aber nicht bemühen, den Kandidaten durchfallen zu lassen.

Doch von da an waren die Nachrichten niederschmetternd. Nadir Bukh, der autokratische, spitzbärtige Paragraphenreiter, der Karim bei der ersten Prüfung hatte durchfallen lassen, würde in Rechtskunde prüfen. Der mullah Abul Bakr würde die theologischen Fragen stellen, und der Arzt aller Ärzte würde höchstpersönlich in Medizin prüfen. Rob hatte gehofft, daß Jalal-al-Din der Prüfungskommission für Chirurgie angehören würde, aber Rob sah Jalal, der seine üblichen Pflichten erfüllte und Patienten behandelte. Und nun kam Mirdin hereingelaufen und flüsterte, daß das letzte Mitglied eingetroffen sei. Es war Ibn al-Natheli, den keiner von ihnen gut kannte. Rob ging nach der Arbeit ins Haus der Weisheit, setzte sich, las Celsus und versuchte dabei zu hören, was im Prüfungszimmer gesprochen wurde. Er vernahm aber nur ein unverständliches Murmeln. Schließlich gab er seine Bemühungen auf, ging hinaus und wartete auf den Stufen der madrassa, wohin ihm Mirdin nachkam.

»Sie sind noch drinnen.«

»Ich hoffe, es zieht sich nicht allzu sehr in die Länge«, meinte Mirdin. »Karim kann eine überlange Prüfung nicht durchstehen.« »Ich bin nicht sicher, ob er überhaupt eine Prüfung durchsteht. Heute morgen hat er eine Stunde lang erbrochen.«

Nachdem sie länger, als sie es für möglich gehalten hatten, gewartet hatten, stand Rob auf. »Hier kommt er!«

»Kannst du etwas von seinem Gesicht ablesen?« fragte Mirdin. Rob konnte es nicht, aber noch bevor Karim sie erreicht hatte, schrie er die Neuigkeit heraus. »Ihr müßt mich von nun an Hakim anreden, Studenten!«

Sie rannten die Stufen hinunter. Alle drei umarmten einander, tanzten und schrien, trommelten mit den Fäusten aufeinander ein und vollführten einen solchen Krach, daß Hadschi Davout Hosein, der an ihnen vorbeiging, ihnen vorwurfsvoll sein vor Entrüstung erblaßtes Gesicht zuwandte, weil Studenten seiner Akademie sich derart aufführten.

Der Rest des Tages und der Abend wurden zu einem Fest, das sie ihr Leben lang nicht vergaßen.

»Ihr müßt zu mir kommen, damit ich euch bewirten kann«, forderte Mirdin sie auf.

Es war das erste Mal, daß er sie zu sich nach Hause einlud, das erste Mal, daß sie einander Einblick in ihre private Welt gewährten. Mirdins Wohnung bestand aus zwei gemieteten Räumen in einem Haus neben dem Gebäude der Haus-von-Zion-Synagoge, von Robs Domizil aus gesehen auf der anderen Seite. Seine Familie war eine erfreuliche Überraschung. Die schüchterne Frau, Fara, klein, dunkel, mit tiefsitzendem Gesäß und ruhigem Blick. Dazu die zwei Söhne mit rundem Gesicht, David und Issachar, die sich an die Röcke ihrer Mutter klammerten. Fara trug süße Kuchen und Wein auf, sie war offensichtlich auf die Feier vorbereitet, und nach etlichen Trinksprüchen gingen die Freunde wieder fort, zu einem Schneider, der dem frischgebackenen hakim für ein schwarzes Ärztehabit Maß nahm. »Das ist eine Nacht für die maidans!« erklärte Rob, und so trafen sie sich am Abend in einem Speiselokal mit Blick auf den großen Hauptplatz der Stadt. Sie nahmen eine erstklassige persische Mahlzeit ein und bestellten immer von neuem aromatischen Wein, den Karim kaum brauchte, denn er war trunken vor Glück über seine neue Würde.

Sie befaßten sich genau mit jeder Prüfungsfrage und jeder seiner Antworten.

»Ibn Sina stellte mir die Fragen in Medizin. >Was sind die verschiedenen Erkenntnisse, die man vom Schweiß erhält, Kandidat?... Sehr gut, Karim, sehr vollständig... Und was sind die allgemeinen Anzeichen, die wir für eine Prognose verwenden? Würdest du jetzt über die richtige Hygiene für einen Reisenden zu Lande und zur See sprechen ?< £s war fast, als wüßte er, daß Medizin meine Stärke ist und die anderen Wissensgebiete meine Schwäche sind.

Sajjid Sa'di forderte mich auf, über Platos Lehre zu sprechen, nach der alle Menschen das Glück erstreben, und ich war froh, Mirdin, daß wir sie so intensiv studiert haben. Ich antwortete ausführlich, mit vielen Hinweisen auf die Meinung des Propheten, daß Glück Allahs Lohn für Gehorsam und gläubiges Gebet ist. Und damit war diese Gefahr überstanden.«

»Und was war mit Nadir Bukh?« fragte Rob.

»Der Jurist.« Karim schauderte. »Er verlangte von mir, den fiqh hinsichtlich der Bestrafung von Verbrechern zu interpretieren. Ich konnte nicht nachdenken. Also sagte ich, daß jede Bestrafung auf den Schriften Mohammeds beruhe - Er sei gesegnet! -, laut denen wir alle auf dieser Welt aufeinander angewiesen sind, obgleich wir jetzt und immerdar ausschließlich auf Allah angewiesen sind. Die Verfügung über die Seele bleibt somit vollkommen Allah überlassen, der für die Bestrafung aller Sünder sorgt.« Rob starrte ihn an. »Und was bedeutet das?«

»Das weiß ich jetzt nicht. Vorhin wußte ich es auch nicht. Ich merkte, wie Nadir Bukh über die Antwort nachdachte, um zu sehen, ob sie ein Faktum enthielt, das er nicht erkannt hatte. Doch dann stellte mir Ibn Sina die Aufgabe, den Saft des Blutes zu beschreiben, worauf ich mit seinen eigenen Worten aus den beiden Büchern antwortete, die er über das Thema verfaßt hat - und die Prüfung war zu Ende.« Sie brüllten, bis sie weinten, und tranken immer wieder. Als sie schließlich nicht mehr trinken konnten, torkelten sie auf die Straße hinter dem maidan und winkten dem Maultierwagen mit der Lilie auf der Tür. Rob setzte sich neben den Zuhälter auf den Kutschbock, Mirdin schlief mit dem Kopf auf dem stattlichen Schoß der Hure Lorna ein, und Karim legte seinen Kopf auf ihren Busen und sang Schlummerlieder.

Faras sanfte Augen weiteten sich vor Besorgnis, als sie ihren Mann halb in seine Wohnung trugen. »Ist er krank?« »Er ist betrunken. Wie wir alle«, erklärte Rob, und sie kehrten zur Kutsche zurück. Diese brachte sie zu dem kleinen Haus in der Jehuddijeh, wo Rob und Karim auf den Boden sanken, sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, und angekleidet einschliefen. Während der Nacht weckte Rob ein leises, krächzendes Geräusch, und er wußte, daß Karim weinte.

Bei Morgengrauen wurde er wieder geweckt, weil sein Besucher schon aufstand. Rob stöhnte. Ich sollte überhaupt nicht trinken, dachte er verdrossen.

»Es tut mir leid, daß ich dich störe. Ich muß laufen.« »Laufen? Ausgerechnet heute morgen? Nach dem gestrigen Abend?« »Um mich auf den chatir vorzubereiten.« »Was ist der chatir?« »Ein Wettlauf.«

Karim schlüpfte aus dem Haus. Man hörte das Schlapp-schlappschlapp, als er zu laufen begann, ein immer schwächer werdendes Geräusch, das bald verstummte.

Ein Ausritt aufs Land

»Der chatir ist unser nationaler Wettlauf, ein alljährlich stattfindendes Ereignis, das beinahe so alt ist wie Persien«, erklärte Karim Rob. »Er wird abgehalten, um das Ende des ramadan zu feiern, des religiösen Fastenmonats. Ursprünglich - so weit zurück in den Nebeln der Zeit, daß wir den Namen des Königs vergessen haben, der den ersten Lauf veranstaltet hat - war er ein Wettbewerb, um den chatir, das hieß den Läufer des Schahs, zu bestimmen, doch im Lauf der Jahrhunderte rut er die besten Läufer Persiens und anderer Länder nach Isfahan geführt und den Charakter einer großen Lustbarkeit angenommen.« Der Wettlauf begann bei den Toren des Hauses des Paradieses, führte zehneinhalb römische Meilen lang durch die Straßen von Isfahan und endete bei einer Reihe von Pfosten im Hof des Palastes. An den Pfosten waren Schlingen befestigt, von denen jede zwölf Pfeile enthielt und einem bestimmten Läufer zugeteilt war. Jedesmal, wenn ein Läufer die Pfosten erreichte, nahm er einen Pfeil aus der Schlinge und steckte ihn in einen Köcher auf seinem Rücken, dann lief er wieder eine Runde.

Traditionsgemäß begann der Wettlauf mit dem Ruf zum ersten Gebet. Er stellte eine mörderische Belastungsprobe dar. Wenn der Tag heiß und drückend war, wurde der letzte Läufer, der überhaupt noch im Rennen war, zum Sieger erklärt. Rannten sie bei kühlem Wetter, vollendeten die Teilnehmer manchmal die vollen zwölf Runden, also einhundertsechsundzwanzig römische Meilen, und nahmen sich den letzten Pfeil irgendwann nach dem fünften Gebet. Obwohl es hieß, daß früher die Läufer bessere Zeiten erzielt hätten, liefen die meisten die Strecke in ungefähr vierzehn Stunden.

»Seit Menschengedenken kann sich niemand daran erinnern, daß ein Läufer die Strecke in weniger als dreizehn Stunden geschafft hat«, erzählte Karim. »Alä Shahansha hat verkündet, daß derjenige, der sie in zwölf Stunden oder weniger zurücklegt, einen großartigen calaat erhält. Außerdem gewinnt er eine Prämie von fünfhundert Goldstük-ken und die ehrenamtliche Ernennung zum Hauptmann der chatirs, was eine stattliche jährliche Zuwendung bedeutet.« »Deshalb also hast du dich so angestrengt und bist jeden Tag so weit gelaufen? Du glaubst, du kannst dieses Rennen gewinnen?« Karim zuckte mit den Achseln. »Jeder Läufer träumt davon, den chatir zu gewinnen. Natürlich möchte ich den Lauf um den calaat gewinnen. Nur eines scheint mir besser als Medicus zu sein - und das ist, ein reicher Medicus in Isfahan zu sein.«

Das Wetter schlug um, und die Luft wurde so feucht und mild, daß sie Robs Haut liebkoste, als er das Haus verließ. Die ganze Welt war jung, und der Zajandeh, der Fluß des Lebens, toste seit der Schneeschmelze Tag und Nacht. In London war der April neblig, aber in Isfahan war der Monat Shaban milder und schöner als der englische Mai. Die vernachlässigten Aprikosenbäume hinter Robs kleinem Haus blühten in überwältigender weißer Pracht, als eines Morgens Khuff vor seiner Tür hielt und ihm die Nachricht überbrachte, daß Alä

Shahansha an diesem Tag bei einem Ausritt seine Gesellschaft wünsche.

Rob hatte Bedenken, seine Zeit mit dem launischen Monarchen zu verbringen, und er war überrascht, daß der Schah sich an sein Versprechen erinnert hatte, sie würden zusammen ausreiten. Im Stall des Hauses des Paradieses wurde ihm bedeutet, er möge warten. Er geduldete sich eine beträchtliche Weile. Schließlich kam Alä mit einem so großen Gefolge, daß Rob nicht mehr aus dem Staunen kam. »Nun, Dhimmi.« »Majestät.«

Alä Shahansha brach den ravi zemin ungeduldig ab, und sie schwangen sich rasch in den Sattel. Sie ritten tief in das Hügelland, der Schah auf einem weißen arabischen Hengst, der mühelos dahinzufliegen schien, während Rob hinter ihm herritt. Dann legte der Schah einen leichten Galopp vor und winkte Rob neben sich. »Du bist ein ausgezeichneter Arzt, weil du das Reiten verordnest, Jesse. Ich bin im Sumpf des Hofes versunken. Ist es nicht angenehm, fern von den Menschen zu sein?« »So ist es, Majestät.«

Rob warf einen Augenblick später verstohlen einen Blick zurück. Weit hinter ihnen kam der gesamte Hof: Khuff und seine Garde, die ein wachsames Auge auf den Monarchen hatten, Stallmeister mit Ersatzpferden und Packtieren, dazu Wagen, die schwankten und rasselten, während sie über das rauhe, freie Gelände gezogen wurden. »Möchtest du ein lebhafteres Pferd als Reittier?« Rob lächelte. »Es wäre eine Vergeudung der Großzügigkeit Eurer Majestät. Dieses Pferd paßt zu meiner bescheidenen Reitkunst.« In Wirklichkeit hatte er den braunen Wallach längst ins Herz geschlossen. Alä schnaufte. »Es ist klar, daß du kein Perser bist, denn kein Perser würde sich eine Gelegenheit entgehen lassen, ein besseres Pferd zu bekommen. Uns Persern geht das Reiten über alles, und männliche Kinder werden von ihren Müttern mit einem winzigen Sattel zwischen den Beinen geboren.« Er stieß dem Araber die Fersen übermütig in die Flanken. Das Pferd sprang über einen umgestürzten Baum, der Schah drehte sich um, spannte seinen riesigen Langbogen über die linke Schulter hin und lachte schallend, als der große Pfeil sein Ziel verfehlte.

»Kennst du die Geschichte, die hinter dieser Übung steckt?« »Nein, Majestät. Bei Eurer Belustigung haben sie Reiter vorgeführt.« »Ja, man sieht sie oft bei uns, und es gibt Leute, die sie hervorragend beherrschen. Die Übung heißt der parthische Schuß. Vor achthundert Jahren waren die Parther eines der vielen Völker unseres Landes. Sie lebten östlich von Medien in einem Gebiet, das vor allem aus schrecklichen Bergen und einer noch schrecklicheren Wüste, der Dasht-i-jCavir, besteht.«

»Ich kenne die Dasht-i-Kavir. Ich habe einen Teil von ihr durchquert, als ich zu Euch kam.«

»Dann kennst du auch den Menschenschlag, der dort leben kann«, sagte Alä und ziigelte kräftig den Hengst, um neben dem Wallach zu bleiben.

»Es gab einen Kampf um die Herrschaft über Rom. Einer der Bewerber um die Macht war der alternde Crassus, Statthalter von Syrien. Er brauchte einen militärischen Erfolg, um die Taten seiner Rivalen Caesar und Pompeius zu übertreffen, und er beschloß, die Parther herauszufordern. Das parthische Heer, das ein Viertel der gefürchteten römischen Legionen des Crassus ausmachte, wurde von einem General namens Suren angeführt. Es bestand zumeist aus Bogenschützen auf kleinen, schnellen persischen Pferden und einer kleinen Streitmacht von gepanzerten Soldaten, Reitern, die lange, todbringende Lanzen trugen. Die Legionen des Crassus marschierten geradewegs auf Suren zu, der sich in die Dasht-i-Kavir zurückzog. Crassus verfolgte ihn in die Wüste, statt sich nach Norden, nach Armenien zu wenden. Und etwas Wunderbares geschah. Die gepanzerten Reiter griffen die Römer an, bevor diese die Möglichkeit gehabt hatten, ihre klassische Verteidigungsformation zu bilden. Nach dem ersten Angriff zogen sich die Lanzenreiter zurück, und die Bogenschützen griffen ein. Sie verwendeten persische Langbogen, die so aussahen wie meiner und durchschlagskräftiger waren als die römischen. Ihre Pfeile durchbohrten die römischen Schilde, Brustharnische und Beinschienen, und zur Verblüffung der Legionen schössen die Parther ihre Pfeile treffsicher über ihre Schultern ab, während sie sich zurückzogen.« »Der parthische Schuß«, sagte Rob.

»Der parthische Schuß. Zunächst hielt die Kampfmoral der Römer an, weil sie erwarteten, daß den Parthern der Vorrat an Pfeilen bald ausgehen würde. Aber Suren brachte mit Lastkamelen neue Pfeile herbei, und die Römer konnten ihre gewohnte Taktik des Nahkampfes nicht anwenden. Crassus schickte als Ablenkung seinen Sohn auf ein Stoßtruppunternehmen, doch der Kopf des jungen Mannes wurde ihm auf der Spitze einer persischen Lanze zurückgeschickt. Die Römer flohen im Schutz der Nacht - die mächtigste Armee der Welt! Zehntausend Mann entkamen unter der Führung von Cassius, einem der späteren Mörder Caesars. Zehntausend wurden gefangengenommen. Und zwanzigtausend, darunter Crassus, fanden den Tod. Die Verluste der Parther waren unbedeutend, und seit diesem Tag übt jeder persische Schuljunge den parteiischen Schuß.«

Alä ließ dem Hengst die Zügel schießen und versuchte es wieder. Diesmal schrie er vor Freude, als der Pfeil tief in den Stamm eines Baumes drang. Dann hob er den Bogen hoch in die Luft, ein Zeichen für sein Gefolge, daß es zu ihm aufschließen solle.

Ein dicker Teppich wurde herbeigebracht und ausgerollt, und auf ihm stellten die Soldaten das Zelt des Königs auf. Bald wurden die Speisen aufgetragen, während drei Musikanten leise auf Zimbeln spielten. Alä setzte sich und winkte Rob, neben ihm Platz zu nehmen. Man setzte ihnen Brüste von verschiedenem, mit schmackhaften Gewürzen gebratenem Wildgeflügel vor, eine pilaw-Pa.stete, Brot, Melonen, die man über den Winter in einem Keller aufbewahrt haben mußte, und drei verschiedene Weine. Rob aß mit Vergnügen, während Alä nur wenig von den Speisen kostete, dafür beständig von allen drei Weinen trank. Als Alä das Spiel des Schahs verlangte, wurde sofort ein Schachbrett mit Figuren gebracht. Rob erinnerte sich an die verschiedenen Züge, aber der Schah schlug ihn mit Leichtigkeit dreimal hintereinander, obwohl er weiteren Wein verlangte und ihn rasch hinunterstürzte. »Qandrasseh will die Verordnung gegen das Weintrinken mit Gewalt durchsetzen«, sagte Alä

Shahansha. Rob fiel keine unverfängliche Antwort ein.

»Ich will dir von Qandrasseh erzählen, Dhimmi. Qandrasseh nimmt an - zu Unrecht! -, daß die Hauptaufgabe des Herrschers darin besteht, die Übertretung des Qu'ran zu ahnden. Das Königtum dient jedoch der Vergrößerung des Reichs und dazu, es zu einem Machtfaktor zu machen, nicht, um sich um die häßlichen Sünden von Dorfbewohnern zu kümmern. Aber der Imam glaubt, er sei Allahs schreckliche rechte Hand. Es genügt ihm nicht, daß er vom Vorsteher einer kleinen Moschee in Medien zum Großwesir des Schahs von Persien aufgestiegen ist. Er ist nämlich entfernt mit der Abbasidenfamilie verwandt, in seinen Adern fließt das Blut der Kalifen von Bagdad. Er würde allzu gern eines Tages in Isfahan herrschen und von meinem Thron aus mit religiösem Fanatismus zuschlagen.«

Auch wenn ihm eine Antwort eingefallen wäre, hätte Rob diesmal nichts entgegnen können, denn er war starr vor Schreck. Die vom Wein gelöste Zunge des Schahs hatte ihn in höchste Gefahr gebracht, denn wenn Alä

wieder nüchtern war und seine Worte bedauerte, würde es ihm nicht schwerfallen, den Zeugen rasch aus dem Weg zu räumen.

Aber Alä Shahansha zeigte keinerlei Unbehagen. Als ein versiegelter Krug Wein gebracht wurde, warf er ihn Rob zu und führte ihn dann zu den Pferden zurück. Sie machten keinen Versuch zu jagen, sondern ritten einfach durch den trägen Tag, bis ihnen heiß wurde und sie angenehm müde wurden. Die Hügel waren mit Blumen übersät, kelchartige rote, gelbe und weiße Blüten auf dicken Stengeln. Es waren Pflanzen, die Rob in England nie gesehen hatte. Alä konnte ihm ihre Namen nicht nennen, doch er wußte, daß sie keinem Samen entsprossen, sondern einer zwiebelähnlichen Knolle.

»Ich bringe dich nun an einen Ort, den du nie jemandem zeigen darfst«, sagte Alä und führte Rob durch dickes Gebüsch, bis sie sich am farnbewachsenen Eingang einer Höhle befanden. Es stank nach verdorbenen Eiern, doch in der Höhle war die Luft warm, und vor ihnen glänzte ein Teich mit dunklem Wasser, der von grauen Felsblök-ken umgeben war, auf denen purpurfarbene Flechten wuchsen. Alä entkleidete sich bereits. »Zögere nicht! Leg deine Kleider ab, du dummer Dhimmi!«

Rob folgte unsicher und zögernd der Aufforderung und fragte sich, ob der Schah zu den Männern gehörte, die den Körper eines anderen Mannes lieben. Doch Alä war schon im Wasser und betrachtete ihn unverfroren, aber ohne Begierde.

»Bring den Wein! Du bist nicht besonders üppig bestückt, Europäer.« Rob erkannte, daß es unklug wäre, darauf hinzuweisen, daß sein Glied größer war als das des Herrschers.

Der Schah war jedoch feinfühliger, als Rob vermutet hatte, denn er grinste und sagte. »Ich muß nicht wie ein Hengst gebaut sein, denn ich kann jede Frau haben. Ich treibe es nie zweimal mit derselben, weißt du. Deshalb veranstaltet kein Gastgeber mehr als eine Belustigung für mich, es sei denn, er bekommt eine neue Frau.« Rob setzte sich vorsichtig in das heiße, nach Schwefeldämpfen riechende Wasser, und Alä öffnete den Weinkrug und trank. Dann lehnte er

sich zurück und schloß die Augen. Schweiß drang ihm aus den Poren, bis jener Teil seines Körpers, der sich außerhalb des Wassers befand, ebenso naß war wie der untergetauchte. Rob beobachtete ihn und fragte sich, wie man sich als Herrscher wohl fühlen mochte. »Wann hast du deine Unschuld verloren?« fragte Alä mit geschlossenen Augen.

Rob erzählte ihm von der Witwe in England, die ihn in ihr Bett genommen hatte.

»Ich war auch zwölf Jahre alt. Mein Vater trug damals seiner Schwester auf, zu mir ins Bett zu kommen, wie es bei uns jungen Prinzen Brauch ist. Das ist sehr vernünftig. Meine Tante war zärtlich und erfahren, fast wie eine Mutter. Ich dachte jahrelang, daß hinterher jedesmal eine Schale warmer Milch und Zuckerwerk kommen muß.«

Sie lagen zufrieden im Wasser.

»Ich möchte der König der Könige sein, Europäer«, sagte Alä schließlich.

»Ihr seid der König der Könige.« »So werde ich genannt.«

Jetzt schlug er die Augen auf und schaute Rob direkt an, ohne zu blinzeln. »Xerxes. Alexander. Cyrus. Darius.

Alles große Männer, und wenn sie auch nicht alle Perser von Geburt waren, starben sie als persische Könige, als große Herrscher über große Reiche. Jetzt gibt es kein einheitliches Reich mehr. In Isfahan bin ich der König. Im Westen regiert Toghrul-beg über große Stämme von nomadischen Seldschu-ken. Im Osten regiert Sultan Mahmud die Bergfesten von Ghazna. Jenseits von Ghazna herrschen zwei Dutzend schwache Rajahs in Indien, aber sie stellen nur untereinander eine Bedrohung dar. Die einzigen Herrscher, die stark genug sind, um von Bedeutung zu sein, sind Mahmud, Toghrul-beg und ich. Wenn ich hinausreite, stürzen die chawns und beglerbegs, die die Städte und Stadtstaaten regieren, aus ihren Mauern, um mir Tribut zu zahlen und mir kriecherisch Ehrenbezeigungen zu erweisen. Ich weiß aber, daß die gleichen chawns und beglerbegs sowohl Mahmud als auch Toghrul-beg huldigen würden, wenn sie ihr Heer dorthin führten. Früher, in alten Zeiten, kämpften kleine Königreiche und Könige, um ein gewaltiges Reich zu erwerben. Schließlich hielten nur noch zwei Männer die ganze Macht in Händen. Ardashir und Ardewan traten einander im Zweikampf gegenüber, jährend ihre Heere zusahen. Zwei große, gepanzerte Männer umkreisten einander m der Wüste. Der Kampf endete damit, daß Ardewan mit einer Keule erschlagen wurde und Ardashir der erste Mann war, der den Titel Shabansbab annahm. Wärst du nicht gern so ein König der Könige?«

Rob schüttelte den Kopt. »Ich will nur ein Medicus sein.« Er sah das Staunen auf dem Gesicht des Schahs.

»Etwas Neues! In meinem ganzen Leben hat noch niemand eine Gelegenheit versäumt, mir zu schmeicheln.

Doch du würdest mit dem Herrscher nicht tauschen wollen, das ist klar. Ich habe mich über dich erkundigt. Es heißt, daß du als Schüler bemerkenswert bist. Daß große Dinge von dir erwartet werden, wenn du einmal bakim wirst. Ich werde Männer brauchen, die großer Taten fähig sind und nicht meinen Hintern küssen. Ich werde mich der Tücke und der Macht des Thrones bedienen, um Qandrasseh abzuwehren. Die Schahs mußten immer kämpfen, um Persien zu behalten. Ich werde meine Heere und mein Schwert gegen die anderen Könige wenden.

Bevor ich sterbe, wird Persien wieder ein großes Reich sein, und ich werde mich mit Berechtigung Shahanshah nennen.«

Seine Hand faßte Robs Handgelenk. »Willst du mein Freund sein, Jesse ben Benjamin?«

Rob wußte, daß er von einem schlauen Jäger geködert und in die Falle gelockt worden war. Alä versicherte sich seiner zukünftigen Treue für seine Zwecke. Und er ging dabei kühl und berechnend vor. In diesem Monarchen steckte eindeutig mehr als ein betrunkener Wüstling. Rob hätte sich aus eigenem Antrieb nie dazu entschlossen, sich mit Politik zu befassen, und er bedauerte, daß er an diesem Morgen mit aufs Land hinausgeritten war. Aber es war geschehen, und er wußte genau, daß er in der Schuld des Schahs stand.

Er ergriff das Handgelenk des Schahs. »Ich bin Euer Gefolgsmann, Majestät.«

Alä nickte. Er tauchte wieder in den heißen Teich ein und kratzte sich auf der Brust. »So. Und gefällt dir mein Lieblingsort?« »Es stinkt hier so schwefelig wie ein Furz, Majestät.« Alä war kein Mann, der schallend lachte.

Er öffnete nur die Augen und lächelte. Schließlich sagte er wieder etwas: »Du kannst ruhig eine Frau mit hierher bringen, wenn du Lust hast, Dhimmi«, gestattete er träge.

»Mir gefällt das nicht«, meinte Mirdin, als er hörte, daß Rob mit Alä ausgeritten war. »Er ist unberechenbar und gefährlich.« »Es ist eine große Chance für dich«, sagte dagegen Karim. »Aber eine Chance, die ich gar nicht haben will«, erwiderte Rob. Zu seiner Erleichterung vergingen Tage, und der Schah rief ihn nicht wieder zu sich.

Er hatte das Bedürfnis nach Freunden, die keine Herrscher waren, und verbrachte einen großen Teil seiner Freizeit mit Mirdin und Karim.

Karim gewöhnte sich an das Leben eines jungen Arztes und arbeitete wie zuvor im maristan, nur daß ihm jetzt al-Juzjani ein kleines Gehalt für die tägliche Untersuchung und Behandlung seiner Patienten bezahlte. Da er mehr Zeit für sich selbst und etwas mehr Geld zur Verfügung hatte, besuchte er regelmäßig die maidans und die Freudenhäuser. »Komm doch mit!« drängte er Rob. »Ich bringe dich zu einer Hure, deren Haare so schwarz wie Rabenfedern und so fein wie Seide sind.«

Rob schüttelte lächelnd den Kopf. »Was für eine Frau möchtest du?« »Eine mit feuerrotem Haar.«

Karim grinste. »Die laufen einem hier nicht über den Weg.« »Ihr beide braucht Ehefrauen«, erklärte ihnen Mirdin gelassen, aber keiner der beiden hörte auf ihn. Rob widmete seine ganze Energie dem Studium, während Karim seine Schürzenjägerei fortsetzte, und seine Unersättlichkeit wurde für den Stab im Krankenhaus zu einer ständigen Quelle der Heiterkeit.

Karim lief jetzt mehr denn je, zum Auftakt und Abschluß jeden Tages. Er übte hart und ausdauernd und nicht nur, indem er lief, er unterrichtete Rob und Mirdin außerdem im Gebrauch des persischen Krummschwerts, des scimitar.

Nach Einbruch der Dunkelheit sahen sie Karim nur selten, aber mit einem Mal forderte er Rob nicht mehr auf, ihn in die Bordelle zu begleiten. Er vertraute ihm vielmehr an, daß er ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau eingegangen und verliebt sei. Dafür wurde Rob immer häufiger in Mirdins Wohnung neben der Zion-Synagoge zum Abendessen eingeladen.

Zu seiner Überraschung erblickte er auf einer Truhe in Mirdins Wohnung ein Schachbrett. »Ist das das Spiel des Schahs?«

»Ja. Kennst du es? In unserer Familie hat man es seit eh und je gespielt.«

Mirdins Figuren waren nur aus Holz, aber das Spiel war das gleiche, das Rob mit Alä Shabansha gespielt hatte, nur daß Mirdin, statt auf einen schnellen, opferreichen Sieg auszugehen, ihn behutsam unterrichtete. Bald begann Rob unter Mirdins geduldiger Anleitung die Feinheiten des Schachspiels zu begreifen.

Fünf Tagesreisen nach Westen

Aus Anatolien traf eine große Karawane ein, und ein junger Treiber kam mit einem Korb getrockneter Feigen für den Juden namens Jesse in den maristan. Der Treiber hieß Sadi, war der älteste Sohn von Debbid Hafiz, des kelonters von Schiras, und die Feigen waren ein Geschenk, das die Liebe und Dankbarkeit seines Vaters für die Kämpfer gegen die Pest bekunden sollte.

Sadi und Rob saßen beisammen, tranken Tee und aßen die köstlichen Feigen, die groß, fleischig und voller Zuckerkristalle waren. Nun wollte Sadi die Kamele wieder nach dem Osten treiben, nach Schiras, und der Heiler-Dhimmi ersuchte ihn, für seinen ehrwürdigen Vater Debbid Hafiz als Geschenk Isfahan-Weine mitzunehmen. Die Karawanen stellten die einzige Quelle für Nachrichten aus entfernten Gegenden dar, und Rob befragte den Jungen eingehend. Es hatte keine weiteren Anzeichen einer Seuche mehr gegeben. Einmal waren Seldschuken im gebirgigen Ostteil von Medien gesehen worden, aber es war nur ein kleiner Trupp gewesen, und sie griffen die Karawane - Allah sei Dank! - nicht an. Hamadhän war seuchenfrei, aber ein christlicher Ausländer hatte ein europäisches Fieber eingeschleppt, worauf die mullabs der Bevölkerung jeglichen Kontakt mit den ungläubigen Teufeln untersagten. »Wie sehen die Anzeichen für diese Krankheit aus?« Sadi Ibn Debbid zögerte.

Er wußte nur, daß sich niemand außer der Tochter des Christen in seine Nähe wagte. »Der Christ hat eine Tochter?« Sadi konnte weder den kranken Mann noch seine Tochter beschreiben, meinte aber, daß der Kamelhändler Boudi, der zur Karawane gehörte, beide gesehen habe.

Sie suchten gemeinsam den Kamelhändler auf, einen verschrumpelten Mann mit schlauen Augen, der Betelnüsse kaute, so daß seine Zähne geschwärzt waren und er roten Speichel spuckte. Er erinnere sich kaum an die Christen, bedauerte Boudi, als ihm aber Rob eine Münze in die Hand drückte, half diese seinem Gedächtnis auf die Sprünge, und ihm fiel ein, daß er die beiden je fünf Tagesreisen weit nach Westen und einen halben Marschtag jenseits des Ortes Datur gesehen habe. Der Vater sei mittleren Alters, habe lange, graue Haare und keinen Bart. Er trage fremdartige Kleidung, schwarz wie das Gewand eines mullahs. Die Frau sei jung und groß und habe merkwürdiges Haar: ein wenig heller rot als Henna. Rob blickte ihn entsetzt an. »Wie krank wirkte der Europäer?« Boudi lächelte freundlich. »Ich weiß es nicht, Herr. Krank.« »Hatten sie Diener?«

»Ich habe niemanden gesehen, der ihnen behilflich war.« Zweifellos waren die Diener davongelaufen, dachte Rob. »Haben sie über genügend Nahrungsmittel verfügt?«

»Ich selbst habe der Frau einen Korb Hülsenfrüchte und drei Laib Brot gegeben, Herr.«

Rob schaute Boudi so durchdringend an, daß dieser Angst bekam. »Warum hast du ihnen die Lebensmittel gegeben?« Der Kamelhändler zuckte mit den Achseln. Er drehte sich um, stöberte in einem Sack und zog mit dem Griff voran ein Messer heraus. Man konnte auf jedem persischen Markt schönere finden, aber dieser Dolch war der endgültige Beweis, denn als Rob ihn zum letztenmal gesehen hatte, hing er am Gürtel von James Geikie Cullen.

Wenn er sich Kanm und Mirdin anvertraute, würden sie darauf bestehen, ihn zu begleiten. Er aber wollte allein reiten. Er hinterließ ihnen bei Jussuf-al-Gamal eine Nachricht. »Richtet ihnen aus, daß ich in einer persönlichen Angelegenheit abberufen wurde und ihnen bei meiner Rückkehr alles erklären werde«, trug er dem Bibliothekar auf. Nur Jalal weihte er in seine Pläne ein. »Ihr reitet für einige Zeit fort? Aber warum?« »Es ist wichtig. Es handelt sich um eine Frau...«

»Selbstverständlich«, murmelte Jalal. Der Knocheneinrichter war verärgert, bis er überlegte, daß es ja genügend Studenten gab, die ihm in der Klinik helfen konnten. Dann erst nickte er.

Rob brach am nächsten Morgen auf. Es war eine lange Reise, und er wollte unangebrachte Hast vermeiden, doch er hielt den braunen Wallach in Trab, denn er mußte unaufhörlich an Mary denken, die sich allein mit ihrem kranken Vater in einer wilden, fremden Welt befand. Es war Sommerwetter. Die Schmelzwässer des Frühjahrs waren längst unter der kupferfarbenen Sonne verdunstet, so daß ihn der salzige Staub Persiens bedeckte, der auch in seine Satteltasche drang. Er aß ihn mit seiner Nahrung und trank eine dünne Salzschicht mit jedem Schluck Wasser. Überall erblickte er wilde Blumen, die braun geworden waren, aber er kam auch an Menschen vorbei, die den felsigen Boden bestellten. Sie nutzten die geringste Feuchtigkeit, um die Weingärten und Dattelbäume zu bewässern, wie es seit tausend Jahren getan wurde.

Am vierten Tag kam er bei Einbruch der Dämmerung nach Datur. Wegen der Dunkelheit konnte er nichts unternehmen, aber am nächsten Morgen ritt er bei Sonnenaufgang weiter. Am Vormittag nahm ein Kaufmann in einem kleinen Dorf Robs Münze an, biß hinein und berichtete ihm dann, daß jeder hier von den Christen wisse.

Sie lebten in einem Haus in Ahmads wadi, einen kurzen Ritt nach Westen. Das Tal fand er nicht, aber er traf zwei Ziegenhirten, einen alten Mann und einen Jungen. Auf seine Frage nach den Christen spuckte der alte Mann aus.

Rob zog seine Waffe. Eine fast vergessene Bösartigkeit stieg in ihm auf. Der Alte spürte sie, hob, ohne das Breitschwert aus den Augen zu lassen, den Arm und zeigte in eine bestimmte Richtung. Rob ritt los. Als er außer Reichweite war, legte der jüngere Ziegenhirte einen Stein in seine Schlinge und schleuderte ihn. Rob hörte, wie er hinter ihm auf die Felsen prallte.

Plötzlich stieß er auf das wadi. Er folgte dem ausgetrockneten Flußbett ein gutes Stück, bis er das kleine, aus Lehm und Steinen errichtete Haus sah. Mary stand draußen und kochte Wäsche aus. Als sie ihn sah, sprang sie wie ein wildes Tier ins Haus. Bis er vom Pferd gestiegen war, hatte sie drinnen einen schweren Gegenstand vor die Tür geschoben. »Mary?«

»Bist du es?«

»Ja.«

Stille folgte, dann ein scharrendes Geräusch. Offenbar schob sie einen Steinblock weg. Die Tür ging auf,.zuerst nur einen Spaltbreit, dann weiter.

Ihm fiel ein, daß sie ihn nie mit dem Bart oder in persischer Kleidung gesehen hatte, wenn auch der lederne Judenhut derselbe war, den sie kannte.

Sie hielt das Schwert ihres Vaters in der Hand. Die schwere Prüfung stand ihr ins Gesicht geschrieben, das schmaler geworden war, so dass ihre Augen, die breiten Backenknochen und die lange, schlanke Nase noch mehr auffielen. Sie hatte Blasen auf den Lippen, und er erinnerte sich, daß sie sie immer bekam, wenn sie erschöpft war. Ihre Wangen waren rußig und von zwei Linien durchzogen, die von den Tränen am rauchenden Feuer kamen. Als sie blinzelte, sah er, daß sie so vernünftig war, wie er sie in Erinnerung hatte.

»Bitte. Wirst du ihm helfen?« fragte sie und zog ihn schnell ins Haus.

Als Rob James Cullen sah, wurde ihm schwer ums Herz. Er mußte nicht erst die Hände des Schafzüchters ergreifen, um zu wissen, daß er im Sterben lag. Auch Mary mußte es gewußt haben, aber sie sah ihn an, als erwarte sie von ihm, daß er ihren Vater mit der Berührung seiner Hände heilen würde.

In der Luft stand der Gestank von Cullens Eingeweiden. »Hat er Durchfall gehabt?«

Sie nickte müde und berichtete mit tonloser Stimme die Einzelheiten. Das Fieber hatte vor Wochen mit Erbrechen und schrecklichen Schmerzen im Unterleib begonnen. Mary hatte ihren Vater aufopfernd gepflegt.

Nach einiger Zeit war das Fieber zurückgegangen, und zu ihrer großen Erleichterung war es ihm besser gegangen. Einige Wochen lang hatte er ständig zugenommen und sich fast schon wieder erholt, aber dann waren die Symptome wiedergekommen, diesmal in noch schwererer Form.

Cullens Gesicht war blaß und eingesunken, seine Augen blickten trüb. Sein Puls war kaum zu ertasten. Ein Schüttelfrost hatte ihn vollkommen geschwächt, und er litt an Durchfall und ständigem Erbrechen.

»Die Diener dachten, es handle sich um die Pest. Sie sind weggelaufen«, erklärte Mary.

»Nein. Die Pest ist es nicht.« Das Erbrochene war nicht schwarz, und Cullen hatte keine Beulen. Ein geringer Trost. Cullens Unterbauch war auf der rechten Seite hart wie ein Brett. Als Rob darauf drückte, schrie Cullen auf, obgleich er in die tiefe Bewußtlosigkeit des Komas verfallen war.

Rob wußte, was es war. Als ihm die Krankheit das letzte Mal begegnet war, hatte er jongliert und gesungen, damit ein kleiner Junge ohne Angst sterben konnte.

»Eine Krankheit des Dickdarms. Manchmal nennt man sie auch Seitenkrankheit. Es ist ein Gift, das vom Darm ausgeht und sich im ganzen Körper verbreitet.« »Wodurch ist es entstanden?«

Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht kam es zu einem Knick oder einer Verstopfung im Darm.« Beide erkannten, wie trostlos seine Unwissenheit war.

Rob gab sich mit James Cullen große Mühe und versuchte alles, was Abhilfe versprach. Er verabreichte ihm Klistiere mit dem Tee wilder Kamillen, und als sie nicht halfen, versuchte er es mit Rhabarber und Abführsalzen.

Er machte heiße Umschläge auf den Unterbauch, doch da wußte er schon, daß es vergeblich war.

Er blieb am Bett des Schotten. Mary hätte er gern ins Nebenzimmer geschickt, damit sie die Ruhe fand, die sie sich bisher versagt hatte, aber er wußte, daß das Ende nahte, und fand, daß sie später noch genug Zeit zum Ausruhen haben würde.

Mitten in der Nacht machte Cullen eine leichte Bewegung, es war mehr ein Zucken. »Es ist ja schon gut, Dad«, flüsterte Mary und rieb seine Hände. Er glitt so still und leicht hinüber, daß eine Zeitlang weder sie noch Rob erkannten, daß ihr Vater nicht mehr am Leben war.

Sie hatte ein paar Tage vor seinem Tod aufgehört, ihn zu rasieren, weshalb nun der graue Bart abgenommen werden mußte. Rob kämmte das Haar und hielt den Leichnam in den Armen, während sie ihn wusch, ohne Tränen zu vergießen. »Ich bin froh, daß ich ihm den letzten Dienst erweisen kann. Bei meiner Mutter durfte ich seinerzeit nicht helfen«, sagte sie.

Cullen hatte eine lange Narbe auf dem rechten Oberschenkel. »Die hat er bei der Jagd auf einen wilden Eber im Dickicht abbekommen, als ich elf Jahre alt war. Er mußte den Winter im Haus verbringen. Wir haben zusammen eine Krippe für Weihnachten gebastelt, und damals habe ich ihn erst richtig kennengelernt.«

Nachdem ihr Vater zurechtgemacht war, holte Rob Wasser von der Quelle und wärmte es auf dem Feuer.

Während Mary badete, hob er ein Grab aus, was sich als höllisch schwierig erwies, denn der Boden war felsig, und geeignetes Werkzeug stand nicht zur Verfügung. Schließlich benutzte er Cullens Schwert, einen kräftigen, zugespitzten Ast und die Hände zum Graben. Als die Grube fertig war, machte er aus zwei Stöcken, die er mit dem Gürtel des Toten zusammenband, ein Kreuz.

Sie trug das schwarze Kleid, in dem er sie kennengelernt hatte. Er hatte Cullen in eine Wolldecke gewickelt, die sie von daheim mitgebracht hatten und die so schön und warm war, daß es ihm leid tat, sie ins Grab zu legen.

Eigentlich hätte er eine Seelenmesse lesen müssen, aber er konnte nicht einmal ein richtiges Totengebet sprechen, denn er war nicht sicher, ob er den lateinischen Text richtig aufsagen konnte. Doch fiel ihm ein Psalm ein, den ihn seine Mutter gelehrt hatte.

»Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.

Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.

Er erquicket meine Seele, erführet mich aufrechter Straße um seines Namens willen.

Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; Denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.

Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.

Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.

Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Haus des Herrn immerdar.«

Er schaufelte das Grab zu und stellte das Kreuz auf. Als er wegging, verharrte Mary mit geschlossenen Augen auf den Knien. Ihre Lippen bewegten sich und formten Worte, die nur ihr Geist hören konnte.

[•> !u'ß ihr Zeit, im Haus allein zu sein. Sie hatte ihm erzählt, daß sie ihre beiden Pferde freigelassen hatten, damit sie sich selbst unter dem sp.; 'hchen Bewuchs des wadi Nahrung suchen konnten, und er ritt iU;.. .im die Tiere einzufangen.

Er sah, daß sie mit einem Dornbuschzaun eine Koppel eingefriedet hatten. Drinnen fand er die Knochen von vier Schafen, die wahrscheinlich Raubtiere getötet und gefressen hatten. Zweifellos hatte Cullen viel mehr Schafe gekauft, die dann von Menschen gestohlen worden waren.

Dieser verrückte Schotte! Er hätte nie eine Herde bis nach Schottland bringen können. Und nun würde er selbst auch nicht mehr heimkommen, und seine Tochter war in einem unwirtlichen Land allein auf sich gestellt.

An einem Ende des schmalen, steinigen Tales entdeckte Rob die Überreste von Cullens Schimmel. Vielleicht hatte er sich ein Bein gebrochen und war so zu einer leichten Beute geworden; der Kadaver war fast ganz aufgezehrt. Rob erkannte die Spuren von Schakalen, kehrte zu dem frischen Grab zurück und legte schwere, flache Steine darauf, damit die Tiere die Leiche nicht ausgruben. Er fand Marys schwarzes Pferd am hinteren Ende des wadi, so weit von den fressenden Schakalen entfernt, wie es ihm möglich gewesen war. Es war nicht schwer, dem Pferd ein Halfter anzulegen, denn es sehnte sich offensichtlich nach Geborgenheit und Sicherheit.

Als er zum Haus zurückkam, war Mary gefaßt, aber noch sehr blaß. »Was hätte ich getan, wenn du nicht gekommen wärst?« Er lächelte und erinnerte sich an die verbarrikadierte Tür und das Schwert m ihrer Hand.

»Was notwendig gewesen wäre.« Sie war sehr beherrscht. »Ich möchte mit dir nach Isfahan gehen.« »Das möchte ich auch.« Sein Herz tat einen Sprung, doch ihre nächsten Worte ernüchterten ihn. Gibt es dort eine Karawanserei?« Ja. Sie ist sehr gut besucht.«

Dann werde ich mich einer Karawane mit Begleitschutz anschließen, die nach Westen zieht zu einem Haien, von dem aus ich eine Passage nach Hause buchen kann.«

Er trat zu ihr und ergriff ihre Hände, es war das erste Mal seit ihrem Wiedersehen, daß er sie berührte. Ihre Finger waren von der Arbeit

rauh geworden und nicht so glatt wie die Hand einer Haremsdame, aber er wollte sie nicht loslassen. »Mary, ich habe einen schrecklichen Fehler begangen. Ich kann dich nicht wieder gehen lassen.« Ihre Augen ruhten ruhig auf ihm. »Komm mit mir nach Isfahan, aber bleib dort bei mir!« Es wäre leichter gewesen, wenn er nicht gezwungen gewesen wäre, ihr schuldbewußt alles über Jesse ben Benjamin und die Notwendigkeit, sich zu tarnen, zu erzählen.

Es war, als fließe ein Strom zwischen ihren Fingern, aber aus ihren Augen sprach Aufgebrachtheit, eine Art Entsetzen. »So viele Lügen!« tadelte sie ihn ruhig. Sie löste sich von ihm und ging ins Freie. Sie blieb so lange draußen, daß er sich bereits Sorgen machte, da kam sie wieder zurück.

»Erkläre mir, warum die Täuschung der Mühe wert ist.« Er zwang sich, seine Gründe in Worte zu fassen, ein schwieriges Unterfangen, dem er sich unterzog, weil er sie wollte und wußte, daß sie das Recht auf Wahrheit hatte.

»Weil ich berufen bin. Als hätte Gott gesagt: >Bei der Erschaffung des Menschen habe ich Fehler begangen, und ich beauftrage dich, einige meiner Fehler zu beheben.« Es ist nicht meine Entscheidung. Das Schicksal hat mich auserwählt.«

Seine Worte jagten ihr Angst ein. »Es ist eine Gotteslästerung, sich als jemanden hinzustellen, der Gottes Fehler verbessert!« »Nein, nein«, entgegnete er sanft. »Ein guter Arzt ist nur sein Werkzeug.«

Sie nickte, und nun glaubte er einen Schimmer von Verständnis, vielleicht sogar von Neid in ihren Augen zu erkennen. »Ich müßte dich immer mit einer Geliebten teilen.« Irgendwie spürt sie mein Verhältnis mit Despina, dachte er dummerweise und sagte: »Ich will nur dich.«

»Nein, du liebst nur deine Arbeit, und sie wird immer an erster Stelle stehen - vor deiner Familie, vor allem anderen. Aber ich liebe dich so, Rob, und ich will deine Frau sein.« Er schloß sie in die Arme.

»Die Cullens heiraten in der Kirche«, sagte sie, den Kopf an seine Schulter gelehnt. »Selbst wenn wir in Persien einen Priester fänden, würde er eine

Christin nicht mit einem Juden trauen. Wir müssen den Leuten weismachen, wir hätten in Konstantinopel geheiratet. Wenn meine Ausbildung als Medicus beendet ist, werden wir nach England zurückkehren und uns rechtmäßig trauen lassen.« »Und bis dahin?« fragte sie traurig.

»Eine in die Hand gelobte Ehe.« Er nahm ihre Hände in die seinen. Sie sahen einander ernst an.

»Selbst bei einer in die Hand gelobten Ehe sollten Worte gesprochen werden«, verlangte sie.

»Mary Cullen, ich nehme dich zu meiner Frau«, sagte er heiser. »Ich verspreche, für dich zu sorgen und dich zu beschützen, und du bist meiner Liebe sicher.« Er hätte die Worte gern besser gewählt, doch er war so tief gerührt, daß er seine Zunge nicht unter Kontrolle hatte. »Robert Jeremy Cole, ich nehme dich zum Mann«, sprach sie deutlich. »Ich verspreche, dir dorthin zu folgen, wo du hingehst, und immerdar dein Wohlergehen im Auge zu haben. Du besitzt meine Liebe, seit ich dich zum erstenmal sah.«

Sie drückte seine Hände so fest, daß es schmerzte, und er konnte das Pochen ihres Pulses fühlen. Er wußte, daß das frische Grab draußen Freude unschicklich erscheinen ließ, dennoch empfand er ein wildes Gemisch von Gefühlen, und er sagte sich, daß ihrer beider Gelübde besser gewesen sei als viele andere, die in der Kirche gesprochen wurden.

Er packte ihre Habseligkeiten auf sein braunes Pferd, und sie stieg auf den Rappen. Er legte den Packen jeden Morgen einem anderen Tier auf. In den seltenen Fällen, wenn der Weg gut und eben war, saßen er und Mary auf einem Pferd, aber die meiste Zeit ritt nur sie, und er ging zu Fuß voran. Es war eine langsame Reise, aber er hatte es nicht eilig. Sie war schweigsamer, als er sie in Erinnerung hatte, und er unternahm keinen Versuch, sie anzurühren, weil er ihren Kummer achtete. In der zweiten Nacht ihrer Reise nach Isfahan lagerten sie auf einer buschbestandenen Lichtung neben der Straße; er lag wach und hörte, wie sie endlich weinte.

»Wenn du Gottes Helfer bist und Seine Fehler behebst, warum konntest du dann ihn nicht retten?« »Ich weiß nicht genug.«

Es hatte lange gedauert, bis sie zu weinen anfing, und nun konnte sie nicht aufhören. Er schloß sie in die Arme.

Während sie den Kopf an seine Schulter legte, begann er ihr nasses Gesicht zu küssen. Schließlich küßte er ihren Mund, der so weich und nachgiebig war und genauso schmeckte wie in seiner Erinnerung. Er streichelte ihren Rücken und liebkoste die reizende Grube am Ende ihres Rückgrats und dann, als ihr Kuß drängender wurde und er ihre Zunge spürte, griff er unter ihre Kleider.

Sie weinte wieder, ließ aber seine Hände gewähren, und schließlich spreizte sie die Beine, um ihn in sich aufzunehmen. Bei aller Leidenschaft empfand er Dankbarkeit und nahm unendliche Rücksicht auf sie. Ihre Vereinigung war ein zartes, köstliches Schaukeln, bei dem sie sich kaum bewegten. Es ging immer weiter, immer weiter, bis er herrlich zum Höhepunkt gelangte. Beim Versuch zu heilen wurde er selbst geheilt, beim Versuch zu trösten wurde er selbst getröstet. Um aber auch ihr ein wenig Trost zu spenden, mußte er sie mit der Hand zum Höhepunkt führen.

Nachher hielt er sie in den Armen und sprach leise zu ihr, erzählte ihr von Isfahan und der Jehuddijeh, von der madrassa, vom Krankenhaus und von Ibn Sina. Und von seinen Freunden, dem Mohammedaner und dem Juden: Karim und Mirdin. »Haben sie Frauen?«

»Mirdin hat eine Frau. Karim hat viele Frauen.« Ineinander verschlungen schliefen sie ein.

Im trüben, grauen Morgenlicht wurde er von knirschendem Sattelleder und langsamem Hufgetrappel auf staubiger Straße geweckt. Er hörte jemanden husten und die Unterhaltung von Männern, die auf den Tieren saßen.

Er blickte über Marys Schulter durch den dornigen Busch, der ihr Versteck von der Straße trennte, und sah einen Trupp Soldaten vorbeireiten. Sie sahen grimmig aus, trugen die gleichen orientalischen Schwerter wie Aläs Männer, führten aber Bogen mit, die kürzer waren als die persischen. Die Soldaten trugen zerlumpte Kleidung und ehemals weiße Turbane mit dunklen Schweiß- und Schmutzflecken. Ein Gestank ging von ihnen aus, der bis zu Rob drang. Voller Angst wartete er darauf, daß eines seiner Pferde ihn verraten oder ein Reiter durch die Büsche spähen und ihn und die schlafende Frau entdecken könnte.

£jn vertrautes Gesicht kam in Sicht, und er erkannte Hadad Khan, den ungestümen Gesandten der Seldschuken am Hof von Alä Shahansha. pas waren also Seldschuken. Und neben dem weißhaarigen Hadad Khan ritt noch jemand, den er kannte, ein mullah namens Musa Ibn Abbas, persönlicher Gehilfe des Imam Mirza-abul Qandrasseh, des persischen Großwesirs.

Rob sah noch sechs andere mullahs und zählte sechsundneunzig berittene Soldaten. Er konnte unmöglich wissen, wie viele vorbeigeritten waren, während er noch geschlafen hatte.

Weder sein Pferd noch das von Mary wieherte oder gab ein Geräusch von sich, das ihre Anwesenheit verraten hätte. Endlich ritt der letzte Seldschuke vorbei, und Rob wagte wieder zu atmen, während er hörte, wie der Lärm schwächer wurde.

Nun küßte er seine Frau, um sie zu wecken, und dann verlor er keine Zeit mehr. Er brach das primitive Lager ab, und sie machten sich auf den Weg, denn jetzt hatte er jeden Grund zur Eile.

Der Chatir

»Verheiratet?« fragte Karim. Er sah Rob grinsend an.

»Eine Frau! Ich hatte nicht erwartet, daß du meinen Rat annehmen würdest«, strahlte Mirdin. »Wer hat diese Ehe vereinbart?«

»Niemand. Das heißt«, unterbrach sich Rob hastig, »es gab vor einem Jahr eine Heiratsvereinbarung, die aber bis jetzt nicht durchgeführt wurde.«

»Wie heißt sie?« fragte Karim.

»Mary Cullen. Sie ist Schottin. Ich habe sie und ihren Vater in einer Karawane auf meiner Reise nach dem Osten kennengelernt.« Er erzählte ihnen von James Cullen, seiner Krankheit und seinem Tod. Mirdin schien kaum zuzuhören. »Eine Schottin. Sie ist Europäerin?«

»Ja. Sie stammt aus einem Ort nördlich von meiner Heimat.«

»Sie ist Christin?«

Rob nickte.

»Ich muß diese Europäerin kennenlernen«, sagte Karim. »Ist sie hübsch?«

»Sie ist sehr schön!« platzte Rob heraus, und Karim lachte. »Aber ich will, daß ihr euch selbst ein Urteil macht.«

Rob dehnte durch eine Handbewegung die Einladung auf Mirdin aus, merkte aber, daß sein Freund bereits gegangen war.

Rob freute sich nicht gerade darauf, dem Schah zu berichten, was er gesehen hatte, aber er wußte, daß er sich zur Treue verpflichtet hatte und ihm keine andere Wahl blieb. Als er im Palast erschien und verlangte, den König zu sprechen, lächelte Khuff hart. »Was ist Euer Begehr?«

Der Stadthauptmann warf ihm einen eisigen Blick zu, als Rob schweigend den Kopf schüttelte.

Khuff ersuchte ihn zu warten und ging zu Alä, um ihm zu melden, daß der fremde Dhimmi]esse ihn zu sprechen wünsche, und gleich darauf führte der alte Soldat Rob zum König.

Alä roch nach Alkohol, hörte sich aber ziemlich nüchtern Robs Bericht an, daß sein Großwesir frömmelnde mullahs ausgesandt habe, um mit Feinden des Schahs zusammenzukommen und Absprachen zu treffen.

»Es hat keinen Bericht über Angriffe in Hamadhän gegeben«, sagte Alä langsam. »Es war also kein Raubzug der Seldschuken. Sie sind zweifellos zusammengekommen, um Verrat zu planen.« Er betrachtete Rob mit verschleierten Augen. »Mit wem hast du darüber gesprochen?« »Mit keinem Menschen, Majestät.« »So soll es auch bleiben.«

Statt eines weiteren Gesprächs stellte Alä Shahansha ein Schachbrett zwischen sie. Er freute sich sichtlich darüber, daß Rob ein ernstzunehmender Gegner geworden war.

»Ah, Dhimmi, du wirst geschickt und schlau wie ein Perser!« Es gelang Rob, eine Zeitlang Widerstand zu leisten. Am Ende schlug ihn Alä vernichtend, und es war wie immer shahtreng. Aber beide erkannten, daß das Spiel eine neue Dimension gewonnen hatte. Es war jetzt eher ein Kampf, und vielleicht hätte Rob sogar noch länger durchhalten können, wenn er es nicht so eilig gehabt hätte, wieder zu seiner Frau zu kommen.

Isfahan war die schönste Stadt, die Mary je gesehen hatte, oder vielleicht kam es ihr so vor, weil sie mit Rob dort lebte. Sie freute sich

Über das kleine Haus in der Jehuddijeh, obwohl das Judenviertel schäbig war. Das Haus war nicht so groß wie jenes, das sie und ihr Vater im Ahmads wadi in Hamadhän bewohnt hatten, aber es war solider gebaut.

Auf ihr Drängen kaufte Rob Mörtel und ein paar einfache Werkzeuge, und sie versprach, das Haus am ersten Tag, an dem sie allein war, herzurichten. Die volle Hitze des persischen Sommers lastete auf ihr, und das schwarze Trauerkleid mit den langen Ärmeln war bald durchgeschwitzt.

Am Vormittag klopfte der schönste Mann, den sie je gesehen hatte, an die Tür. Er trug einen Korb mit dunklen Pflaumen, den er abstellte, um ihr rotes Haar zu berühren, was sie in Angst versetzte. Er kicherte, sah beeindruckt aus und lächelte sie mit makellos weißen Zähnen im braungebrannten Gesicht an. Er sprach lange; es klang gewandt, angenehm und voll Gefühl, aber es war Persisch. »Es tut mit leid«, bedauerte sie.

»Ah.« Er verstand sofort und berührte seine Brust. »Karim.« Sie verlor ihre Befangenheit und war entzückt. »Ihr seid also der Freund meines Mannes. Er hat von Euch gesprochen.« Karim strahlte und führte sie, während sie mit Worten protestierte, die er nicht verstand, zu einem Stuhl, auf den sie sich setzte und eine süße Pflaume aß, während er den Mörtel zu der genau richtigen Konsistenz mischte, ihn in drei Sprünge an den Innenwänden verteilte und dann ein Fenstersims erneuerte. Sie erlaubte ihm auch ungehemmt, ihr beim Ausschneiden der großen, verwilderten Büsche im Garten zu helfen. Karim war noch da, als Rob nach Hause kam, und Mary bestand darauf, daß er an ihrer Mahlzeit teilnahm, die sie verschieben mußten, bis es dunkel geworden war, denn es war Ramadan, der neunte Monat, der Monat des Fastens.

»Ich mag Karim«, sagte sie, als er gegangen war. »Wann werde ich den anderen - Mirdin - kennenlernen?« Er küßte sie und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

Ramadan erschien Mary als ein höchst merkwürdiges Fest. Es war Robs zweiter Ramadan in Isfahan, und er erklärte ihr, es sei ein düsterer Monat, der vor allem dem Gebet und der Buße geweiht war, aber alle dachten zumeist nur ans Essen, denn es war den Mohammedanern verboten, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang feste Nahrung oder Flüssigkeit zu sich zu nehmen.

Auf den Märkten und den Straßen gab es keine Essenverkäufer, die maidans blieben den ganzen Monat lang dunkel und still, obwohl Freunde und Familien sich abends versammelten, um zu essen und sich für das Fasten des nächsten Tages zu stärken.

»Voriges Jahr hielten wir uns während des Ramadan in Anatolien auf«, erinnerte sich Mary sehnsüchtig.. »Vater kaufte Lämmer von einem Hirten und gab ein Fest für unsere mohammedanischen Diener.«

»Wir könnten anläßlich des Ramadan ein Abendessen geben.« »Das wäre schön, aber ich bin m Trauer«, erinnerte sie ihn. Sie war zwischen widersprechenden Gefühlen hin und her gerissen, manchmal war der Kummer über ihren Verlust so groß, daß sie wie gelähmt war, dann wieder war ihr schwindelerregend bewußt, daß sie in ihrer Ehe die glücklichste Frau war.

Bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen sie das Haus verließ, schien es ihr, daß die Menschen sie feindselig anstarrten. Ihr schwarzes Trauerkleid glich ganz den Kleidern der anderen Frauen in der Jehud-dijeh, aber zweifellos war sie durch ihr unbedecktes rotes Haar als Europäerin kenntlich. Sie versuchte, ihren breitkrempigen Reisehut zu tragen, aber sie sah, daß die Frauen auf der Straße trotzdem mit Fingern auf sie zeigten und ihr gegenüber unvermindert kühl blieben. Während des ganzen Monats Ramadan besuchte sie nur Karim, und sie sah den jungen persischen Arzt auch mehrmals durch die Straßen laufen, ein Anblick, bei dem sie den Atem anhielt, denn es war, als beobachte sie ein elegantes Reh. Rob erzählte ihr von dem Wettlaut, dem chatir, der am ersten Tag des dreitägigen Festes stattfinden sollte, das Bairam hieß und am Ende der langen Fastenzeit gefeiert wurde. »Ich habe versprochen, Karim während des Wettlaufs beizustehen.« »Wirst du sein einziger Helfer sein?«

»Mirdin wird auch hinkommen. Aber Karim wird uns beide brauchen.«

»Dann bist du dazu verpflichtet«, erklärte sie entschieden. »Der Wettlauf selbst ist keine Feier. Es kann kein Verstoß sein, wenn jemand, der Trauer trägt, zusieht.« Sie dachte darüber nach, während der Bairam näherrückte, und

schließlich rang sie sich zu dem Entschluß durch, daß ihr Mann recht hatte und sie dem chatir beiwohnen würde.

Arn ersten Morgen des Monats Shawwa stand Karim früh auf, kochte einen großen Topf Erbsen mit Reis und bestreute den einfachen pilaw mit Selleriesamen, die er mit großer Sorgfalt abmaß. Er aß mehr, als er brauchte, stopfte sich voll, kehrte dann in sein Bett zurück und ruhte sich aus, während der Selleriesamen zu wirken begann. Er betete nicht um Sieg. Als er ein Junge war, hatte ihm Zaki-Omar oft genug gepredigt: »Jeder gelbe Hund von einem Läufer betet um den Sieg. Wie verwirrend für Allah! Es ist besser, wenn man Ihn bittet, einem Schnelligkeit und Ausdauer zu verleihen, um damit selbst die Verantwortung für Sieg oder Niederlage zu übernehmen.« Als er den Drang verspürte, stand er auf, ging zum Eimer und hockte sich lange und befriedigend darüber, um seine Gedärme zu entleeren. Die Menge Selleriesamen war richtig bemessen gewesen: Als er fertig war, war er entleert, aber nicht geschwächt.

Er wärmte Wasser, badete bei Kerzenlicht und rieb sich rasch trocken, denn die abnehmende Dunkelheit brachte Kühle. Dann fettete er sich mit Olivenöl gegen die Sonne ein, und jene Stellen zweimal, an denen durch Reibung offene Stellen entstehen konnten: Brustwarzen, Achselhöhlen, Leiste und Penis, die Gesäßfalte und schließlich die Füße, wobei er darauf achtete, auch die Zehenspitzen einzuölen. Er legte ein leinenes Hüfttuch und ein Leinenhemd an, leichte Laufschuhe und eine schmucke, federgeschmückte Mütze. Um den Hals hängte er den Köcher des Bogenschützen und ein Amulett in einem kleinen Stoffbeutel. Er warf sich einen Umhang über die Schultern, um sich gegen die Kühle zu schützen, und verließ dann das Haus. Er ging zuerst langsam und dann schneller, spürte die Wärme, die seine Muskeln und Gelenke lockerte. Es waren noch wenige Menschen unterwegs. Niemand bemerkte ihn, als er zu einem Busch trat und ein letztes Mal nervös seine Blase entleerte.

Doch als er zum Start bei der Zugbrücke des Hauses des Paradieses kam, hatte sich dort schon eine nundertköpfige Menschenmenge versammelt. Er bahnte sich vorsichtig den Weg hindurch, bis er, wie verabredet, ganz hinten auf Mirdin stieß, und dort gesellte sich etwas später auch Jesse ben Benjamin zu ihnen.

Die Freunde begrüßten einander förmlich. Kanm merkte, daß etwas zwischen ihnen stand. Er schob es aber sofort beiseite. Jetzt durfte man nur an den Wettlauf denken.

Jesse lächelte ihn an und deutete fragend auf den kleinen Beutel an seinem Hals.

»Mein Glücksbringer«, erklärte Karim. »Von meiner Liebsten.« Aber er sollte vor einem Wettlauf nicht sprechen, konnte es nicht. Er lächelte Jesse und Mirdin kurz zu, um anzudeuten, daß er sie nicht beleidigen wollte, schloß die Augen, schuf eine Leere um sich und schloß damit das laute Gerede und das lärmende Gelächter aus. Er betete.

Als er die Augen aufschlug, war der Nebel perlgrau geworden. Er sah durch ihn hindurch als vollkommen runde, rote Scheibe die Sonne. Die Luft war schon drückend warm. Schlagartig wurde ihm klar, daß es ein erbarmungslos heißer Tag werden würde. Dagegen war er machtlos. Imshallah!

Er nahm den Umhang ab und übergab ihn Jesse. Mirdin war blaß. »Allah sei mit dir!« »Lauf mit Gott, Karim!«

sagte Jesse.

Er antwortete nicht. Jetzt war Stille eingetreten. Die Läufer und die Zuschauer starrten zum nächsten Minarett, es war jenes der Freitagsmoschee, hinauf, wo eine winzige Gestalt in einem dunklen Gewand soeben den Umgang betrat.

Einen Augenblick später drang der eindringliche Ruf zum ersten Gebet an ihre Ohren, und Karim warf sich in Richtung Südosten gen Mekka zu Boden.

Als das Gebet zu Ende war, schrien Läufer und Zuschauer aus vollem Hals. Es war beängstigend und ließ Rob erzittern. Einige riefen den Läufern aufmunternde Worte zu, andere riefen Allah an. Viele brüllten einfach den schrecklichen Kampfruf, den Männer ausstoßen, wenn sie eine feindliche Festung angreifen.

Karim stand weiter hinten, wo man die Bewegung unter den vordersten Läufern nur ahnen konnte, denn er wußte aus Erfahrung, daß manche vorsprangen, um in die erste Reihe zu gelangen, kämpften und drängten, ohne sich darum zu kümmern, wer niedergestoßen oder verwundet wurde. Deshalb wartete er voll Verachtung und geduldig in der hintersten

Reihe, während eine Gruppe von Läufern nach der anderen vor ihm startete und ihn mit ihrem Lärm störte. Aber endlich lief auch Karim. Der chatir hatte begonnen, und Mirdins und Jesses Freund lag am Ende einer langen Schlange von Läufern.

Er lief sehr langsam. Für die ersten fünfeinviertel Meilen würde er lang brauchen, doch das gehörte zu seiner Taktik. Die Alternative wäre gewesen, sich in die erste Reihe durchzukämpfen und dann, vorausgesetzt, daß er im Gedränge nicht verletzt wurde, ein Tempo vorzulegen, mit dem er ungefährdet die Spitze vor dem Hauptfeld halten konnte. Aber das hätte schon zu Beginn sehr viel Energie gekostet. Er hatte den sicheren Weg gewählt.

Sie liefen auf der breiten Prachtstraße Tore des Paradieses, bogen nach links ab und folgten über eine Meile der Allee der tausend Gärten, die erst bergab ging und dann anstieg. Die Strecke bog nach rechts in die Straße der Vorkämpfer ein, die nur eine Viertelmeile lang war. Die kurze Straße verlief auf dem Weg stadtauswärts bergab und war dafür auf dem Rückweg anstrengend. Dann schwenkten die Läufer nach links auf die Ali-und-Fatima-Allee ein, der sie bis zur madrassa folgten. Unter den Läufern gab es Männer aus allen möglichen Bevölkerungsschichten. Es war bei jungen Adeligen Mode, eine halbe Runde mitzulaufen, und Männer in seidener Sommerkleidung liefen Schulter an Schulter mit Läufern in Lumpen. Karim blieb nach wie vor zurück, denn zu diesem Zeitpunkt war das Ganze weniger ein Wettlauf als ein laufender Volkshaufen, den das Ende des Ramadan in gehobene Stimmung versetzt hatte. Es war ein guter Beginn für ihn, denn das langsame Tempo ermöglichte seinen Säften, allmählich in Fluß zu geraten.

Sie schlängelten sich durch das Gelände der madrassa und dann zum zentralen maidan, wo zwei große, offene Zelte aufgestellt worden waren. Das eine war für Adelige bestimmt, mit Teppichen ausgelegt und mit Brokat ausgeschlagen. Auf Tischen standen alle möglichen köstlichen Speisen und Weine. Das andere Zelt war für Läufer einfacher Herkunft bestimmt, denen Fladenbrot, pilaw und scherbet angeboten wurde. Es wirkte nicht weniger einladend, so daß für fast die Hälfte der Wettkämpfer hier das Rennen endete, weil sie sich mit begeisterten Rufen über die Erfrischungen hermachten.

Karim gehörte zu jenen, die an den Zelten vorbeiliefen. Sie umrundeten die steinernen Ball-und-Stock-Tore und nahmen dann die Strecke zurück zum Haus des Paradieses in Angriff.

Jetzt waren es weniger Läufer, die auf eine größere Distanz verteilt waren, und Karim hatte genügend Spielraum, um sein eigenes Tempo zu laufen.

Es gab verschiedene Strategien. Manche waren dafür, die ersten Runden rasch zurückzulegen, um die Morgenkühle auszunutzen. Aber Zaki-Omar hatte ihn gelehrt, daß das Geheimnis, Langstrecken durchzustehen, darin bestand, ein Tempo zu wählen und unverändert durchzuhalten, das einem erlaubte, beim Endspurt die letzten Energien einzusetzen. Er konnte so den vollendeten Rhythmus und die Gleichmäßigkeit eines trabenden Pferdes beibehalten. Die römische Meile bestand aus eintausend fünf Fuß langen Schritten, aber Karim brauchte ungefähr zwölfhundert Schritte pro Meile, von denen jeder etwas mehr als vier Fuß lang war. Er hielt seine Wirbelsäule vollkommen gerade und den Kopf hoch erhoben. Das Klopfen seiner Füße auf dem Boden in der von ihm gewählten Geschwindigkeit war wie die Stimme eines alten Freundes.

Er begann jetzt, einige Läufer zu überholen, obwohl er wußte, daß die meisten keine ernsten Konkurrenten darstellten, und lief leichtfüßig zu den Palasttoren, wo er den ersten Pfeil nahm und in seinen Köcher steckte.

Mirdin bot ihm Balsam an, damit er sich gegen die Sonne einreihen konnte. Er lehnte ab. Das Wasser aber nahm er dankbar an, trank jedoch nur mäßig. »Du bist zweiundvierzigster«, sagte Jesse. Karim nickte und lief weiter.

Nun lief er im vollen Tageslicht. Die Sonne stand noch tief, war aber schon kräftig und ließ auf die bevorstehende Hitze schließen. Das kam für ihn nicht unerwartet. Manchmal war Allah den Läufern günstig gesinnt, aber die meisten chatirs wurden wegen der Hitze zu wahren Zerreißproben. Die Höhepunkte von Zaki-Omars leichtathletischer Karriere waren zwei zweite Plätze in zwei chatirs gewesen, einmal, als Karim zwölf, und einmal, als er vierzehn Jahre alt gewesen war. Die Hügel kosteten Karim nicht mehr Kräfte als bei der ersten Runde, und er erklomm sie fast, ohne es zu merken. Die Zuschauermenge vfurde überall dichter, denn es war ein schöner, sonniger Morgen, und Isfahan hatte einen Feiertag, an dem die meisten Geschäfte geschlossen blieben.

Als Karim wieder zum maristan kam und noch immer nicht die Frau sah, die versprochen hatte hinzukommen, versetzte es ihm einen Stich. Vielleicht hatte ihr Mann es ihr schließlich doch verboten. Während er sich dem maidan näherte, merkte er, daß es dort schon so lebhaft zuging, als wäre es Donnerstag abend. Musikanten, Jongleure, Fechter, Akrobaten, Tänzer und Zauberer produzierten sich vor einem dichtgedrängten Publikum, an dem die Läufer beinahe unbemerkt am Rand des Platzes vorbeizogen.

Karim kam an erschöpften Konkurrenten vorbei, die neben der Straße lagen oder saßen.

Als er den zweiten Pfeil holte, versuchte Mirdin wieder, ihm eine Salbe zum Schutz der Haut vor der Sonne zu geben, doch er lehnte ab, obwohl er sich zu seiner Schande eingestehen mußte, daß er es deshalb tat, weil die Salbe häßlich machte und die Angebetete ihn ohne Salbe sehen sollte. Wenn er sie brauchte, würde sie zur Verfügung stehen, da ihm Jesse, wie abgemacht, von dieser Runde an auf dem braunen Wallach folgte. Karim wußte, daß seine erste seelische Prüfung bevorstand, denn nach fünfundzwanzig römischen Meilen war er unabänderlich erschöpft.

Die Schwierigkeiten trafen beinahe programmgemäß ein. Auf halber Steigung der Allee der tausend Gärten bemerkte er eine wundgenebene Stelle an der linken Ferse. Wenn man eine so lange Strecke lief, mußten die Füße Schaden davontragen, und er wußte, daß er die Beschwerden nicht beachten durfte. Doch bald gesellte sich ein stechender Schmerz in der rechten Seite hinzu, der zunahm, bis Karim jedesmal nach Luft schnappte, wenn er den rechten Fuß auf die Straße setzte. Er winkte Jesse, der ein Ziegenfell mit Wasser hinter seinem Sattel befestigt hatte. Aber ein warmer Schluck, der nach Ziegenleder schmeckte, trug wenig zur Linderung seiner Beschwerden bei. Als er sich jedoch der madrassa näherte, erblickte er auf dem Dach des Krankenhauses sofort die Frau, auf die er gewartet hatte, und es war, als falle alles, was ihn belastet hatte, von ihm ab.

Rob, der hinter Karim wie ein Knabe ritt, der seinem Ritter folgt, sah Mary, als sie am maristan vorbeikamen, und sie lächelten einander an. Sie trug ihr schwarzes Trauerkleid und wäre nicht aufgefallen, wenn ihr Gesicht verschleiert gewesen wäre, denn alle anderen Frauen in Sichtweite trugen den schweren, schwarzen Straßenschleier. Die anderen Leute auf dem Dach sonderten sich ein wenig von seiner Frau ab, als fürchteten sie, durch ihre europäischen Sitten verdorben zu werden.

Die Frauen wurden von Sklaven begleitet, und Rob erkannte den Eunuchen Wasif, der hinter einer kleinen Gestalt stand, die in ein weites, schwarzes Kleid gehüllt war. Ihr Gesicht war hinter dem Roßhaarschleier verborgen, doch er erkannte Despinas Augen und sah, worauf sie gerichtet waren. Als er nämlich ihrer Blickrichtung folgte, sah er Karim, und ein Umstand verschlug ihm den Atem. Auch Karim hatte Despina erkannt und bannte sie mit seinem Blick. Als er an ihr vorbeilief, hob er die Hand und berührte das an seinem Hals hängende Säckchen.

Rob war davon überzeugt, daß alle Zuschauer die kleine Szene bemerkt hatten, aber der Jubel blieb gleich. Und obwohl Rob Ibn Sina in der Menge suchte, fand er ihn nicht unter den Zuschauern. Karim lief dem Schmerz in seiner Seite davon, bis er verschwand, und er kümmerte sich nicht um die Beschwerden in seinen Füßen. Jetzt setzte die Zermürbung ein, und an der Laufstrecke waren Männer in Eselwagen damit beschäftigt, Läufer aufzulesen, die nicht weiterkonnten.

Als Karim seinen dritten Pfeil holte, ließ er sich von Mirdin mit der Salbe einschmieren, die aus Rosenöl, Muskatnußöl und Zimt bestand. Sie färbte seine hellbraune Haut gelb, war aber ein guter Sonnenschutz. Jesse knetete seine Beine, während Mirdin ihn mit der Salbe einrieb, dann hielt ihm Rob einen Becher an die aufgesprungenen Lippen und flößte ihm mehr Wasser ein, als er wollte. Karim versuchte zu protestieren. »Ich will nicht pissen müssen.« »Du schwitzt zu stark, um zu pissen.«

Karim wußte, daß es stimmte, und trank. Gleich darauf war er wieder unterwegs und lief und lief.

Jetzt stand die Sonne heiß und hoch am Himmel und erwärmte den Boden so stark, daß die Hitze der Straße durch das Leder seiner

Schuhe drang und seine Sohlen verbrannte. An der Straße standen jVlänner mit Wasserbehältern, und manchmal legte er eine Pause ein, um seinen Kopf zu befeuchten, bevor er ohne Dank oder Segen weiterrannte.

Nachdem er den vierten Pfeil erobert hatte, verließ ihn Jesse, tauchte aber kurz darauf auf dem Rappen seiner Frau auf; zweifellos ließ er den Wallach tränken und sich im kühlen Schatten ausruhen. Mirdin wartete bei dem Pfosten, wo die Pfeile steckten, und beobachtete, wie ausgemacht, die anderen Läufer.

Als Karim während der fünften Runde am maristan vorbeikam, stand Despina nicht mehr auf dem Dach.

Vielleicht hatte sie sein Aussehen erschreckt. Das spielte keine Rolle, denn er hatte sie gesehen, und nun berührte er gelegentlich das Säckchen, das die dichten, schwarzen Locken enthielt, die er ihr mit eigenen Händen abgeschnitten hatte.

Stellenweise wirbelten die Wagen, die Füße der Läufer und die Hufe der begleitenden Tiere dichten Staub auf, der sich in seinen Nasenlöchern und in seiner Kehle festsetzte und ihn zum Husten reizte. Der Ruf zum zweiten Gebet versetzte ihm einen Schock. Überall auf der Rennstrecke warfen sich Läufer und Zuschauer in Richtung Mekka auf den Boden. Er zitterte, sein Körper konnte sich nicht darauf einstellen, daß die Beanspruchung aussetzte, wenn auch nur für kurze Zeit. Karim hätte am liebsten die Schuhe ausgezogen, wußte aber, daß er sie nicht wieder an seine geschwollenen Füße bringen würde. Als das Gebet zu Ende war, rührte er sich einen Moment lang nicht. »Wie viele sind wir noch?«

»Achtzehn. Jetzt beginnt der Wettkampf«, sagte Jesse zu ihm. Karim erhob sich und zwang sich, in der flirrenden Hitze zu laufen. Doch er wußte, daß dies noch nicht der Wettkampf war. Es fiel ihm schwerer als am Vormittag, die Hügel hinaufzulaufen, aber er behielt seinen gleichmäßigen Laufrhythmus bei. Jetzt war die schlimmste Zeit. Die Sonne befand sich direkt über ihm, und die wahre Prüfung stand ihm noch bevor. Er dachte an Zaki-Omar und wußte, daß er, falls er nicht starb, weiterlaufen würde, bis er zumindest den zweiten Platz errungen hatte.

Bisher hatte er diese Erfahrung nicht gemacht, und in einem Jahr würde er vielleicht für eine solche Strapaze zu alt sein. Es mußte

heute sein. Als er den sechsten Pfeil in seinen Köcher schob, wandte er sich sofort an Mirdin. »Wie viele?«

»Es sind noch sechs Läufer im Rennen«, antwortete Mirdin verwundert, und Karim nickte und begann wieder zu laufen. Nun erst begann der Wettkampf.

Er sah drei Läufer vor sich, zwei von ihnen kannte er. Er überholte einen kleinen, zart gebauten Inder. Etwa achtzig Schritte vor dem Inder lief ein Junge, dessen Name Karim nicht geläufig war, in dem er aber einen Soldaten der Palastgarde erkannte. Und weit vorne, aber doch so nahe, daß Karim ihn erkennen konnte, lief ein bedeutender Athlet, ein Mann aus Hamadhän namens al-Harät. Der Inder war langsamer geworden, lief aber schneller, als Karim auf gleiche Höhe kam, und sie zogen Schritt für Schritt miteinander gleich. Die Haut des Inders war sehr dunkel, fast wie Ebenholz, und unter ihr glänzten lange, flache Muskeln in der Sonne, während er sich bewegte.

Auch Zakis Haut war dunkel gewesen - ein Vorteil unter heißer Sonne. Karims Haut brauchte die gelbe Salbe; sie hatte die Farbe von hellem Leder, was, wie Zaki-Omar behauptete, davon kam, daß einer von Alexanders hellhäutigen Griechen eine Vorfahrin gefickt hatte. Ein kleiner, gefleckter Hund war aufgetaucht und lief bellend neben ihnen her.

Als sie an den Besitzungen entlang der Allee der tausend Gärten vorbeikamen, streckten ihnen Leute Melonenschnitten und Becher mit Scherbett entgegen, aber Karim nahm nichts, weil er Angst vor Krämpfen hatte. Er ließ sich Wasser geben, das er in seine Mütze goß, bevor er sie wieder aufsetzte, was ihm eine gewisse Erleichterung verschaffte, bis die Mütze erstaunlich rasch in der Sonne trocknete. Gemeinsam mit dem Inder überholte er den Jungen von der Palastwache. Er stellte keine Konkurrenz mehr dar, denn er lag eine volle Runde zurück, weshalb in seinem Köcher nur fünf Pfeile steckten. Karim bemerkte bestürzt, daß der Inder noch locker lief und daß sein Gesicht gespannt, aber relativ frisch war.

Der gefleckte Hund, der einige Meilen lang neben ihnen her gelaufen war, schwenkte plötzlich herum und lief ihnen quer über den Weg. Karim machte einen Sprung, um ihm auszuweichen, und das warme pell streifte über seine Beine. Dafür prallte das Tier dem anderen Läufer mit voller Wucht gegen die Beine, und der Inder fiel hin.

Als Karim sich zu ihm umdrehte, wollte er gerade aufstehen, doch er setzte sich wieder auf die Straße. Sein rechter Fuß war vollkommen verdreht, und er starrte ungläubig auf seinen Knöchel. Er konnte nicht begreifen, daß das Rennen für ihn zu Ende war.

»Lauf!« feuerte Jesse Karim an. »Ich kümmere mich um ihn. Lauf weiter!«

Karim drehte sich um und lief, als hätte sich die Kraft des Inders in seine Glieder übertragen und als hätte Allah mit der Stimme des Dhimmis zu ihm gesprochen. Er begann wirklich zu glauben, daß jetzt sein Moment gekommen war.

Er lief fast die ganze Runde hinter al-Harät her. Auf der Straße der Vorkämpfer kam er einmal nahe an ihn heran, und sein Gegner warf einen Blick zurück. Sie hatten einander in Hamadhän kennengelernt, und al-Harät erkannte ihn. Er steigerte sein Tempo und führte bald wieder mit zweihundert Schritt Vorsprung.

Karim nahm den siebenten Pfeil, und Mirdin berichtete ihm über die anderen Läufer, während er ihm Wasser gab und ihn mit der gelben Salbe einschmierte.

»Du liegst an vierter Stelle. An erster Stelle befindet sich ein Afghane, dessen Name ich nicht kenne. Ein Mann aus al-Rayy namens Mahdavi ist zweiter. Dann kommen al-Harät und du.«

Eineinhalb Runden folgte er al-Harät, als wisse er, wo er hingehöre. In Ghazna, einem Gebiet mit hohen Bergen, liefen die Afghanen in Höhen, in denen die Luft dünn war, und es hieß, daß sie in niedrigeren Lagen nicht müde wurden. Er hatte auch gehört, daß Mahdavi aus al-Rayy ein sehr guter Läufer sei.

Während er die kurze, steile Strecke auf der Allee der tausend Gärten hinunterlief, sah er einen benommenen Läufer am Straßenrand, der sich die rechte Seite hielt und weinte. Sie liefen an ihm vorbei, aber Jesse brachte bald die Nachricht, daß es Mahdavi gewesen sei. Karim hatte wieder starkes Seitenstechen, und beide Füße schmerzten. Der Ruf zum dritten Gebet erreichte ihn, als er die neunte Runde begann. Das dritte Gebet kam zu einer Zeit, die ihm Sorgen bereitet hatte, denn die Sonne stand nicht mehr hoch am Himmel, und er befürchtete, daß seine Muskeln steif würden. Aber die Hitze hatte nicht nachgelassen und lastete auf ihm wie eine schwere Decke, während er betete, und er schwitzte stark, als er sich erhob und wieder zu laufen begann.

Obwohl er diesmal sein Tempo beibehielt, überholte er al-Harät. Als sie nebeneinander liefen, versuchte al-Harät schneller zu werden, doch bald ging sein Atem laut und rasselnd, und er taumelte. Die Hitze hatte ihr Opfer gefordert: Als Arzt wußte Karim, daß der Mann sterben konnte, wenn es jene Überhitzung war, die ein rotes Gesicht und trockene Haut hervorruft. Aber al-Haräts Gesicht war bleich und naß.

Dennoch blieb Karim stehen, als der andere taumelnd anhielt. Al-Harät funkelte ihn zwar verächtlich an, aber er wollte, daß ein Perser siegte. »Lauf, du Schweinehund!« Karim verließ ihn erleichtert.

Er blickte vom höchsten Punkt des ersten Gefälles auf die gerade Straße hinunter und sah eine kleine Gestalt, die in der Ferne die lange Steigung hinauflief.

Während Karim beim Laufen zusah, stürzte der Afghane, stand wieder auf und begann wieder zu laufen.

Schließlich bog er in die Straße der Vorkämpfer ein und geriet außer Sicht. Es fiel Karim schwer, sich zu beherrschen, aber er behielt sein Tempo bei und sah den anderen Läufer erst wieder, als er die Ali-und-Fatima-Allee hinter sich hatte. Sie waren einander schon viel näher. Der Afghane stürzte wieder und stand auf, lief dann taumelnd weiter. Er war zwar an die dünne Luft gewöhnt, aber die Berge von Ghazna waren kühl, und die Hitze von Isfahan begünstigte Karim, der ihm immer näher kam. Als sie am maristan' vorbeiliefen, sah er weder die Leute noch hörte er sie, weil er sich ganz auf den anderen Läufer konzentrierte. Karim holte den Afghanen nach dem vierten, endgültigen Straucheln ein. Sie hatten dem Gestürzten Wasser gebracht und legten ihm feuchte Tücher auf, während er wie ein an Land gezogener Fisch keuchte; er war ein untersetzter Mann mit breiten Schultern und dunkler Haut. Seine leicht schräg stehenden, braunen Augen sahen ruhig zu, wie Karim an ihm vorbeilief.

Der Sieg brachte mehr Qual als Triumph, denn nun mußte er einen Entschluß fassen. Er hatte das Wettrennen gewonnen; besaß er noch

genügend Kraft, um den calaat des Schahs zu gewinnen? Das »königliche Gewand«, fünfhundert Goldstücke und die ehrenamtliche, aber gut bezahlte Ernennung zum Hauptmann des chatirs würde jenem Läufer zufallen, der die gesamte Strecke in weniger als zwölf Stunden zurücklegte.

Die Sonne berührte beinahe den Horizont. War noch Zeit? Hatte er noch Kraft in seinem Körper? War es Allahs Wunsch? Die Zeit würde sehr knapp werden, und vielleicht konnte er nicht weitere einunddrei-ßig Meilen zurücklegen, bevor der Ruf zum vierten Gebet erklang, das den Sonnenuntergang anzeigte.

Er wußte jedoch, daß ein vollkommener Sieg Zaki-Omar endgültiger aus seinen bösen Träumen verbannen konnte als der Beischlaf mit allen Frauen der Welt.

Als er einen weiteren Pfeil einsteckte, nahm er daher, statt sich dem Zelt der Aufsichtsbeamten zuzuwenden, die zehnte Runde des Rennens in Angriff.

Nachdem das Feld der Läufer auf den letzten Konkurrenten zusammengeschrumpft und der chatir gewonnen war, hatten sie Zuschauer begonnen, sich zu zerstreuen. Doch nun sahen sie Karim allein herankommen, und sie kehrten zurück, weil sie merkten, daß er den calaat des Schahs gewinnen wollte.

Sie kannten sich bei dem alljährlichen chatir sehr gut aus und wußten, was es bedeutete, einen Tag lang in lähmender Hitze zu laufen. Deshalb erhoben sie ein solch heiseres Freudengeheul, daß das Geräusch Karim um die Rennstrecke zu treiben schien, eine Runde, die er beinahe genoß. Beim Krankenhaus konnte er Gesichter erkennen, die vor Stolz strahlten: al-Juzjani, den Pfleger Rumi, den Bibliothekar Jussuf, den Hadscbi Davout Hosein, sogar Ibn Sina. Als er den alten Mann sah, eilte sein Blick sofort zum Dach des Krankenhauses, und er sah, daß sie zurückgekommen war, und er wußte, daß sie der wahre Preis sein würde, wenn er wieder mit ihr allein war. Aber während der zweiten Hälfte der Runde begannen seine größten Schwierigkeiten. Er ließ sich oft Wasser reichen und goß es sich über den Kopf. Aber die Ermüdung machte ihn unaufmerksam, und etwas Wasser spritzte auf seinen linken Schuh, wo das feuchte Leder fast sofort die gereizte Haut an seinem Fuß aufschürfte. Vielleicht hatte

dies eine winzige Änderung in seinem Schritt zur Folge, denn bald bekam er einen Krampf in der rechten Kniesehne. Alles wurde schwerer. Er behielt seine Geschwindigkeit bei, doch seine Füße verwandelten sich in Steine, der Köcher mit den Pfeilen schlug bei jedem Schritt schwer auf seinen Rücken, und sogar das Säckchen mit den Haarlocken stieß beim Laufen merklich gegen seine Brust. Er goß sich öfter Wasser über den Kopf und fühlte, wie er immer schwächer wurde.

Aber die Menschen am Straßenrand hatte ein seltsames Fieber ergriffen. Jeder war zu Karim Harun geworden.

Frauen schrien, wenn er vorbeirannte, Männer legten tausend Gelübde ab, lobten ihn lautstark, riefen Allah an, flehten zum Propheten und zu den zwölf gemarterten Imamen. Sie erwarteten ihn jubelnd, besprengten die Strecke mit Wasser, bevor er kam, streuten ihm Blumen auf den Weg, liefen an seiner Seite mit, fächelten ihm Luft zu oder spritzten ihm parfümiertes Wasser ins Gesicht, auf Schenkel, Arme und Beine. Er spürte, wie sie sein Blut und seine Knochen aktivierten, und wurde von ihrem Feuer angesteckt. Sein Schritt wurde wieder kraftvoller und sicherer. Seine Füße hoben und senkten sich gleichmäßig. Er behielt das Tempo bei, doch jetzt wich er dem Schmerz nicht aus, sondern kompensierte die erstickende Ermüdung, indem er sich auf den Schmerz in seiner Seite, den Schmerz in seinen Füßen, den Schmerz in seinen Beinen konzentrierte.

Als er den elften Pfeil zu sich nahm, begann die Sonne hinter den Hügeln zu verschwinden und nahm die Form einer halben Münze an. Er lief im schwächer werdenden Licht, es war sein letzter Tanz, die erste kurze Steigung hinauf, das steile Gefalle zur Allee der tausend Gärten hinunter, über den ebenen Teil und dann die lange Steigung mit pochendem Herzen hinauf.

Der Schmerz nahm bei jeder Reaktion ab, während er weiterlief. Doch die Füße, die er nicht mehr spürte, hoben und senkten sich weiter, trieben ihn vorwärts, klapp-klapp-klapp.

Diesmal schaute am maidan niemand die Darbietungen an, aber Karim hörte weder das Gebrüll, noch sah er die Leute. Er lief in seiner lautlosen Welt dem Ende eines dahinschwindenden Tages entgegen. Als er wieder auf die Allee der tausend Gärten kam, sah er hinter den Hügeln ein formloses, erlöschendes rotes Licht. Er hatte das Gefühl,

daß er sich ganz langsam, völlig langsam bewegte, über den flachen feil und den Hügel hinauf - den letzten Hügel, den er erklimmen mußte.

Er lief bergab. Das war die gefährlichste Strecke, denn wenn seine gefühllosen Beine ihn zum Stolpern und Stürzen brachten, würde er sich nicht mehr erheben können.

Als er einbog und durch die Tore des Paradieses kam, war die Sonne fort. Er sah jetzt undeutlich Menschen, die über dem Boden zu schweben schienen und ihn lautlos antrieben, doch sein Verstand war vollkommen klar. Er sah, wie ein mullah die enge Wendeltreppe der Moschee betrat, zu dem kleinen Umgang des hohen Turms emporstieg und darauf wartete, daß der letzte Lichtstrahl erstarb. Er wußte, daß ihm nur noch wenige Augenblicke blieben. Er versuchte, mit seinen tauben Beinen größere Schritte zu machen, bemühte sich, das bisherige Tempo zu beschleunigen. Vor ihm riß sich ein kleiner Junge von seinem Vater los und lief auf die Straße hinaus. Der Knirps blieb stehen und starrte auf den Riesen, der sich auf ihn zuschleppte.

Karim hob das Kind hoch und setzte es sich auf die Schultern, während er lief, und tosender Beifall ließ die Erde erbeben. Als er mit dem Jungen die Pfosten erreichte, erwartete ihn Alä Shahansha, und während er den zwölften Pfeil ergriff, nahm der Schah seinen Turban ab und tauschte ihn gegen die federgeschmückte Mütze des Läufers ein. Dem Toben der Menge gebot der Ruf des muezzins von den Minaretten der Stadt Einhalt. Die Menschen warfen sich in Richtung Mekka auf den Boden und versanken im Gebet. Das Kind, das immer noch bei Karim war, begann zu weinen, und er ließ es los. Dann war das Gebet vorüber, und als er sich erhob, stürzten sich der Schah und die Adeligen auf ihn. Hinter ihnen begannen die einfachen Leute wieder zu schreien. Sie drängten sich vor, um ihm näher zu sein, und es war, als gehöre ganz Persien plötzlich Karim Harun.

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