Kapitel Eins Das Jahrhundert-Verbrechen

In den frühen Morgenstunden, wenn die Dunkelheit endlos zu dauern scheint und man gar nicht glauben kann, dass jemals ein neuer Tag aufziehen wird, kommen die Wesen der Nacht heraus, um zu spielen. Sie schwärmen durch die leeren Straßen Londons, ziehen lange, bunte Spuren hinter sich her und schwingen Champagnerflaschen. Sie tragen nur das Allerbeste; selbst wenn Flecken des Alkohols oder des letzten Menüs oder die unterschiedlichsten Arten von Staub darauf sind. Und sie sehen alle wie Filmstars oder Topmodels oder hohe Persönlichkeiten aus.

Nur aus der Nähe sieht man ihre blutigen und abgelaufenen Füße, die gehetzten Augen und das verzweifelte Lächeln, und man hört den verlorenen, einsamen Unterton in ihrem Lachen. Für die Wesen der Nacht dauern die Partys ewig. Es gibt eben verschiedene Arten der Hölle.

Ich hatte gerade die U-Bahn-Station am Leicester Square verlassen und ging gemütlich hinüber zum Covent Garden. Ich war in dieser Nacht nur Shaman Bond, der meine coole, einigermaßen harmlose Tarnidentität ist. Gut, aber lässig angezogen unterschied ich mich in nichts von hundert anderen Nachtschwärmern. Ich war geübt darin, nicht aufzufallen und in einer Menge verschwinden zu können. Ich habe ein Gesicht, an das sich zehn Minuten später schon keiner mehr erinnert. Ein Agentengesicht. Ich komme und gehe und tue, was ich tun muss. Keiner wird je davon erfahren, wenn ich meinen Job gut erledigt habe.

Es war ein früher Morgen im späten September, es war angenehm, draußen auf der Straße unterwegs zu sein. Es war Vollmond, die Sterne waren zu sehen, und die Straßenlaternen leuchteten wie angelaufenes Gold. Lange, schwarze Stretchlimousinen brachten hochklassige Callgirls mit platinblondem Haar und künstlichem Lächeln zu teuren Stelldicheins in den besten Hotels. Kuriere in schwarzer Lederkluft fuhren auf PS-starken Motorrädern wichtige Informationen von einer Botschaft oder einem Unternehmen zum anderen. Und eine Bande knubblig aussehender Kobolde in der Uniform der Palastwachen von Westminster schnatterte und fluchte fröhlich, als sie ein paar tote Trolle aus einem offenen Gully-Schacht zogen und die entstellten Körper auf die Ladefläche eines wartenden Müllwagens warfen. In den Straßen Londons passiert nachts eine Menge, von dem die Londoner besser nichts wissen.

Die Kobolde nickten mir leichthin zu, als ich vorbeikam, und ich lächelte genauso leichthin zurück. Die Wesen der Nacht erkennen einander immer. Kobolde führen notwendige Reparaturen durch, sorgen für die Beseitigung der verschiedenen Arten von nächtlichem Chaos und räumen mit äußerster Strenge mit dem Ungeziefer auf, das sich tief unter den Straßen von London herumtreibt: Trolle, Albino-Alligatoren, intelligente Rattenkolonien, die unmenschliche Brut von asozialen Alien-Gottheiten, sowas in der Art eben.

Sie wären nicht in der Lage, das alles zu sehen, weil Sie nicht das Gesicht haben; die in der Praxis geübte Fähigkeit zu sehen, wie die Welt in ihrer ganzen furchtbaren Herrlichkeit ist. Selbst ich kann das nicht lange aushalten. Das Gesicht ist einer der Vorteile, ein Drood zu sein. Das hat mit dem Halsreif zu tun, den ich trage: ein Torques in der alten Sprache. Der Torques ist die geheime Waffe der Droods. Sie macht uns stark genug, um uns den Monstern und Dämonen gleichzustellen und sie in ihre ekelhaften Ärsche zu treten.

Weiter die Straße herab hatten zwei flaschengrüne Reptiloide einen handgreiflichen Streit um die ungeformte Seele, die sie aus den zermatschten Resten eines totgefahrenen Tiers gerissen hatten. Ganz offenbar machten sie schwere Zeiten durch und nahmen Reißaus, als sie mich kommen sahen. Ich ließ sie in Ruhe. Eddie Drood hätte sich vielleicht verpflichtet gefühlt, etwas zu unternehmen, aber heute Nacht war ich nur Shaman Bond und wollte meine Tarnung nicht auffliegen lassen. Eine Tarnidentität ist für einen Feldagenten der Droods sehr wichtig. Ich habe Jahre damit verbracht, ein Leben und ein Gesicht aufzubauen, die man der Öffentlichkeit präsentieren kann. Droods kommen und gehen, aber niemand bekommt je unser wahres Gesicht zu sehen. Wir beschützen die Welt, aber wir sind nicht so dumm, Dankbarkeit zu erwarten.

Ich bin nur Eddie Drood, wenn ich zu Hause bei meiner Familie bin. Oder wenn ich richtig in Aktion trete. Ansonsten bin ich Shaman Bond und kann wie Sie durch die Welt gehen. Droodsche Feldagenten sind zu neunundneunzig Prozent eine urbane Legende, und wir wollen, dass es so bleibt. Das macht es viel erschreckender, wenn wir uns wirklich mal zeigen.

Also: Wer ist nun dieser Shaman Bond? Ich bin froh, dass Sie fragen. Er ist ein unbekümmerter, eigentlich ziemlich nutzloser Kleinkrimineller und Hansdampf in allen Gassen. Immer ein Teil der Szene, aber nie in Verbindung mit irgendwem oder irgendwas. Jeder kennt ihn irgendwie, selbst wenn man nicht ganz sicher ist, was er wirklich macht, um seine Brötchen zu verdienen. Wenn das jemand fragte, würde Shaman nur abwinken, lächeln und das Thema wechseln. Es gibt eine Menge Leute dieser Art in den Ausläufern der Nacht. Shaman kennt sich aus, er unterhält lose Bekanntschaften mit einer überraschend großen Anzahl von wichtigen Leuten und ist immer bereit, ein nicht ganz astreines Unternehmen oder gewisse Ränke zu schmieden. Besonders wenn er beinahe pleite ist. Die perfekte Cover-Identität, um überall einfach mal aufzutauchen und dem neuesten Klatsch zuzuhören.

Ich glaube, meist bin ich lieber Shaman Bond. Keine Pflichten oder Verantwortung. Kein Druck. Außerdem ist Shaman ein netter Typ. Eddie Drood kann das nicht immer sein.

Ein halbes Dutzend Graualiens drängten sich um ein Stück nichtmenschlicher Technik, das unter dem düsteren Licht der Straßenbeleuchtung schimmerte und funkelte. Die Grauen trugen alle Designer-­Sonnenbrillen, vielleicht vermuteten sie, dass man sie so nicht erkannte. Ansonsten waren sie vollständig nackt, matte graue Haut glitt und rutschte um ihr nichtmenschliches Skelett herum, so als wäre sie nicht ordentlich daran befestigt. Ich machte mir eine gedankliche Notiz, um mit der Familie abzuchecken, ob es mit den Aufenthaltserlaubnissen der Grauen seine Richtigkeit hatte. Außerdem wollte ich wissen, was gerade diese Bande hier plante.

Mit ziemlicher Sicherheit hatte es ein Memo dazu gegeben, aber ich hinke mit dem Lesen dieser Dinger immer einen Monat hinterher. Sie würden nicht glauben, wie viel Papierkram hinter einem sehr geheimen Geheimagentendasein steckt. Und lassen Sie mich bloß nicht mit den Spesen anfangen!

Ich ging tiefer in den Covent Garden hinein, und vor und hinter mir schimmerten immer neue Geister auf. Geister von Leuten und Plätzen, Gebäuden und Ereignissen, die alle in sich immer wiederholenden Zeitschleifen gefangen waren. Erinnerungen und Überbleibsel, Aufnahmen der Vergangenheit, übereinandergeschichtet wie die Lagen einer Zwiebel. Egal, wie viele Lagen Sie abziehen, es gibt darunter immer noch mehr. London ist sehr alt und bis obenhin vollgestopft mit Dingen, die nicht tot bleiben wollen. Selbst wenn man sie mit einer großen Keule totschlägt.

Niemand achtete auf mich. Eines der ersten Dinge, die sie einem als Feldagent beibringen, ist, wie man sich ganz offen bewegt und dabei ungesehen bleibt. Durchschnittlich zu sein und anonym, nur ein weiteres Gesicht in der Menge. Sie könnten auf offener Straße an mir vorbeigehen und würden mich nicht wahrnehmen. Das gehört zum Training. Auch Sie könnten den Eindruck eines Niemands erwecken, der keinen zweiten Blick wert ist, wenn Sie entsprechend auf diese Arbeit vorbereitet würden.

Mein gegenwärtiger Auftrag war wichtig, aber frustrierend-vage formuliert. Die Sicherheit ganz Englands stand auf dem Spiel, aber niemand konnte mir sagen, warum. Fremde Elementargeister planten etwas Großes, ein großes und gefährliches Ereignis mitten in London, aber niemand konnte mir etwas über das Was oder Wer oder Wann sagen. Natürlich konnte »fremd« genau das bedeuten, oder es konnte sich um Elben handeln oder Aliens oder unnatürliche Kräfte außerhalb unserer Realität. Die Familienwahrsager sagen immer das Richtige voraus, aber sie sehen die Zukunft wie durch ein trübes Milchglas. Die Vorhersagen werden immer dann vage, wenn es an die nützlichen Details geht. Einige Warnungen waren so rätselhaft formuliert, dass man sie erst hinterher klar verstehen konnte.

Der Tower von London, hatten sie diesmal gesagt. Unser größter Schatz ist in Gefahr. England gefährdet. Das Verbrechen des Jahrhunderts …

Ist das vage oder was?

Aber die Familie nimmt all dieses Zeug sehr ernst, also wurde ich losgeschickt, um dem nachzugehen. London ist mein Gebiet. London, auch bekannt als Der Rauch - denn jeder weiß, wo Rauch ist, da ist auch Feuer. Also war ich wieder einmal als Shaman Bond unterwegs, um mit den gut informierten Leuten zu sprechen. Dabei würde ich hoffentlich entdecken, was zur Hölle hier abging, und es verhindern. Ich konnte nicht einfach die goldene Rüstung aus meinem Torques erscheinen lassen und überall als Eddie Drood, Feldagent und Beschützer der Unschuldigen und fieser Verfolger der Gottlosen, auftauchen. Die Leute würden einfach davonlaufen und sich im nächsten Mauseloch verstecken. Aber sie würden mit Shaman Bond reden. Sie mögen ihn.

Es hat mich viel Mühe gekostet, ihn liebenswert zu machen.


Sie kommen zu Londons berüchtigter Jobbörse, indem Sie eine Seitenstraße heruntergehen, die nicht immer da ist. Außerdem brauchen Sie die richtigen Passworte, die man auch an den richtigen Stellen sagen muss, damit sich die Wachhunde nicht in Höllenhunde verwandeln und Ihnen die Seele herausreißen. Schließlich gehen Sie noch durch eine Tür zu Ihrer Linken, die sich nur dann öffnen wird, wenn sie Ihr Gesicht mag. Sie werden bald wissen, ob Sie auf der schwarzen Liste stehen, denn die Tür wird Ihnen die Hand abbeißen, wenn das nicht so ist. Und nein, Sie können sich nirgendwo beschweren. Niemand hat Sie gebeten zu kommen.

Die Jobbörse gibt es schon seit der Zeit Elisabeths I. Man nimmt an, dass die ersten Messestände 1589 auf der gefrorenen Themse errichtet wurden. Damals gab es noch richtige Winter. Wie jedes erfolgreiche Unternehmen ist die Jobbörse über die Jahrhunderte hinweg enorm gewachsen. Obwohl die Jobs und Dienstleistungen, die man auf dieser Börse anbietet, sich seit den Gründungstagen geändert haben, sind sie doch im Grunde die gleichen geblieben. Es geht immer noch um Geld, Macht und Einfluss. Liebe, Hass und besonders Sex. In der berüchtigten und ein wenig unheimlichen Jobbörse kriegt man Jobs, Dienstleistungen und Fähigkeiten werden angeboten, Geschäfte gemacht, und Leute werden regelmäßig und professionell über den Tisch gezogen.

Die Jobbörse gehört seit Shakespeares Zeiten schon einer ganz bestimmten Familie. Niemand spricht den Namen laut aus, aber hier haben Sie einen Hinweis: Die Gesellschaft heißt »Ein Pfund Fleisch AG«, und ihr Motto ist »Wir bekommen immer unseren Anteil!«.

Ich ging die Straße hinunter, sagte all die richtigen Worte (einschließlich »braver Hund!«) und schob die angenehm anonyme Tür auf. Der Knauf erkannte Shaman Bond und blieb einfach ein Knauf. In der Halle herrschten unglaublicher Lärm und Chaos und laute Rufe, die mit dem Geschäftemachen einhergehen. Die Jobbörse ist lang und groß. Die wunderlichsten Dinge passieren dort. Jeder, der etwas auf sich hält, hat früher oder später einmal einen Messestand dort gehabt. Die Messestände stehen dicht an dicht, jeder kämpft um ein paar zusätzliche Zentimeter, um seine vier Wände so weit auszudehnen, wie das Auge reicht. Oder noch weiter. Der große, offene Platz in der Mitte war vollgepackt mit einer ohrenbetäubend lauten, dicht gedrängten Menge von Unnatürlichen und Gottlosen - den Kriminellen und Außenseitern und den ganz hartnäckigen Freidenkern. Alle suchten nach einer zeitlich begrenzten, einträglichen Anstellung, einem sehr ausgewählten und geheimen Dienst und der Chance, jemanden fertigzumachen. Der Lärm war beängstigend, der Geruch nicht viel besser, und das schiere Spektakel sowohl von Menschen als auch Anblicken war mehr als genug, den unerfahrenen Besucher einzuschüchtern.

Sie wollen einen Mörder anheuern, um Ihren eigenen Tod zu arrangieren? Ihre Seele oder die eines anderen verkaufen? Haben Sie einen Plan, um sagenhafte Dinge zu stehlen, oder den dringenden Wunsch, diese loszuwerden? Dann sind Sie an der richtigen Stelle. Aber Sie sollten aufpassen, immer das Kleingedruckte lesen und danach Ihre Eier zählen.

Um mich herum waren Geister, die nach passenden Häusern suchen, um darin zu spuken, Werwölfe, die anboten, Vermisste und Gestrauchelte zu finden, Vampire, die sich mit romantischem Glanz selbst als Gigolos oder Attentäter oder auch für die Hilfe zum Selbstmord anboten. Auch die übliche Versammlung von Ghouls, liebenswert wie immer, war bereit, alle natürlichen oder chemischen Katastrophen aufzuräumen (Merke: Ghouls können alles verdauen). Shaman Bond war bekannt dafür, hier den einen oder anderen Gelegenheitsjob abzustauben. Also war auch keiner überrascht, mich hier zu sehen. Shaman ist darauf spezialisiert, Geheimnisse und ungewöhnliche Informationen für eine nur geringfügig unverschämte Gebühr auszuplaudern. Die Forschungsabteilung der Familie sagt mir dabei, was ich wissen muss, ich gebe es an meine Kunden weiter, und alle sind glücklich. Und wenn die Familie hin und wieder falsche Informationen oder üble Propaganda streuen will, wenn es den meisten Schaden anrichtet - nun, jeder weiß, dass man so etwas an der Jobbörse eben riskiert. Shaman Bond hat eine bessere Reputation als die meisten, und das ist es, worauf es ankommt.

Ich bahnte mir einen Weg durch die dichte Menge, nickte bekannten Gesichtern zu und zeigte sowohl Freunden wie Feinden meine freundlichste Miene. Die Jobbörse ist neutraler Boden für alles und jeden. Ungefähr ein Dutzend Golems aus Messing, die an den Wänden stehen, sorgen dafür. (Und auch noch ein paar andere, weniger offensichtliche, aber ganz besonders ekelhafte Gerätschaften, die an ganz unerwarteten Orten versteckt sind.) Es macht keinen Unterschied, ob es sich um Blut- oder Stammesfehden handelt, jahrhundertealte Vendetten oder dogmatische Meinungsverschiedenheiten; das alles bleibt vor der Tür, wenn Sie in der Jobbörse Geschäfte machen wollen.

Ich erlaubte den Strömungen in der Menge, mich dorthin zu tragen, wohin sie wollten, während ich mich genauer umsah. Es schien, als hätte heute Abend jeder einen Messestand hier: Regierungen und Religionen, unabhängige Headhunter und Mittelsmänner, Dienstleister und alle Arten von düsteren Geschäftemachern, die man sich nur vorstellen kann. Es gab sogar ein paar Stände von kleineren Staaten der Welt, die besondere Jobs und Gelegenheiten anboten - und die verzweifelt auf der Suche nach einer Chance waren, bei den Großen mitzumischen.

Selbstverständlich gab es auch Stände für jeden Spion und Geheimdienst der Welt. Keine Droods natürlich. Sie erinnern sich hoffentlich, dass wir nur eine urbane Legende sind, oder?

Aber die CIA war da, der KGB (oder wer auch immer sich heutzutage hinter dieser Abkürzung verbirgt), die Vril-Gesellschaft, der Vatikan (der von einer riesigen Metzgernonne in der Tracht der Schwestern der Heilsarmee vertreten wurde), die Tracey-Brüder, Nation der Druiden (»Für die Rückkehr der Angst an Halloween!«), und ein ziemlich bekanntes Gesicht, das den Stand des MI 13 besetzte. Ich schlenderte hinüber und lächelte Philip McAlpine an, einen von Englands Topspionen. Er war mittelalt und hatte eine beginnende Glatze. Er sah mich kommen und fühlte sich noch ausgenutzter als sowieso schon. Ich blieb vor ihm stehen, und er seufzte doch tatsächlich laut.

»Hallo, Phil!«, sagte ich. »Was machst du denn hier?«

»Das könnte ich dich auch fragen«, knurrte er. »Ich nehme an, dass du als Shaman Bond hier bist und nicht als -«

»Genau«, unterbrach ich ihn. »Bitte lass den Namen bloß nicht über deine Zungenspitze. Sonst müsste ich dir diese Zunge nämlich herausreißen, auf den Boden werfen und darauf herumtrampeln.«

Er schnaubte vernehmlich. »So ist es recht. Einen Mann treten, der am Boden liegt. Das ist alles nur deine Schuld, weißt du das? Ich hatte eine tolle Position beim MI 5, mit automatischer Beförderung und Rente. Ich hatte ein eigenes Büro, mit Fenster! Und dann haben sie mich auf dich angesetzt.«

»Und ich habe dir kräftig in den Arsch getreten«, meinte ich heiter. »Ich erinnere mich.«

Er starrte mich böse an. »Du hast über hundert meiner Leute getötet. Gute Männer und Frauen, die nur ihre Arbeit gemacht haben.«

»Damals haben sie versucht, mich zu töten«, sagte ich. »Ich habe das schon immer sehr persönlich genommen.«

Er schnaubte wieder. »Dank dir und dieser fehlgeschlagenen Mission bin ich zum MI 13 ›befördert‹ worden. Keine Beförderungen, keine Rente und ich muss mein Büro mit drei anderen Beamten und einem Gummibaum teilen. Ich muss all den blöden Mist bearbeiten, mit dem sich kein anderes der MI- Büros befassen will. Weißt du, wer mich hergeschickt hat? Die PR-Abteilung. Ich soll Flugblätter austeilen, Werbebuttons und Bewerbungsformulare. Erschieß mich auf der Stelle, du Bastard!«

»Führe mich nicht in Versuchung.«

»Ich hatte eine Karriere! Ich habe etwas bewirkt! Ich konnte nicht immer allen davon erzählen, aber trotzdem. Das ist nicht fair.«

»Ich habe dich am Leben gelassen, oder?«, fragte ich vernünftig. »Was treibt der MI 13 dieser Tage so? Irgendwas Interessantes?«

Er zuckte mit den Achseln. »Immer das Gleiche. Die Aliens dabei beobachten, wie sie uns beobachten, und sicherstellen, dass sie brav bleiben und nichts außerhalb der Vereinbarungen unternehmen. Es gibt Gerüchte über einen gehäuftes Auftreten von Mothmen in Cornwall. Ich glaube, die Leuchttürme ziehen sie an. Wenn ich hier fertig bin, soll ich ein Team zusammenstellen und mit ihnen reden. Oder ihnen in den Hintern treten. Ich schätze, du bist nicht interessiert.«

»Ich bin schon eingespannt«, erwiderte ich. »Ich vermute mal, du hast nichts von irgendwelchen akuten Drohungen gegen den Tower von London gehört, oder?«

»Nicht in der letzten Zeit.« MacAlpine betrachtete mich nachdenklich. »Irgendetwas, wegen dem ich besorgt sein müsste?«

»Natürlich nicht«, lächelte ich. »Ich bin an dem Fall dran.«

Ich wusste genau, dass er etwas Indiskretes sagen wollte, also nickte ich ihm zum Abschied zu und ließ mich von den Strömungen in der Menge davontragen. Ich mag es nicht, allzu viel Zeit in der Gesellschaft von Geheimdiensten zu verbringen, wenn ich Shaman bin. Die Tarnidentität ist unter anderem deshalb so nützlich, weil Shaman sich nie lange mit einer Sache oder einer Gruppierung gemeinmacht. Genau deshalb ist er überall willkommen. Shaman Bond ist ein Glücksspieler, ein Gauner, eine nützliche, zusätzliche Hand und verlässliche Verstärkung. Immer in der Szene, aber niemals mit der Absicht, in der ersten Liga zu spielen. Ein Mann, der vieles weiß und Leute kennt, aber bei dem man sich darauf verlassen kann, dass er seine Klappe hält. Und der ein wenig langweilig und dumm ist, wenn nötig, sodass keiner ihn zu genau kennenlernen will.

Die üblichen Leute machten sich miteinander bekannt. Ich lief in eine Hauptperson der Szene hinein: den berüchtigten Mittelsmann. Groß und elegant, trug er einen leuchtend grünen Kaftan und rauchte einen dünnen, schwarzen Zigarillo in einer Spitze aus Elfenbein. Er war einigermaßen hübsch, in einer etwas verlebten Art, mit glattem schwarzem Haar und mehr als nur einer Spur Kajal. Seine Fingernägel waren giftgrün lackiert. Zwei in knallrotes Leder gekleidete Thai-Teenager begleiteten ihn, sie hätten Bruder und Schwester oder etwas noch Verwandteres sein können. Der Mittelsmann kannte mich sowohl als Shaman Bond als auch als Eddie Drood, aber er wusste nicht, dass beide ein und dieselbe Person waren. Ich kannte eine Menge solcher Leute. Es hätte die Dinge sicher kompliziert, wenn ich ein komplizierter Mensch gewesen wäre.

»Shaman!«, rief der Mittelsmann und wedelte träge mit einer langen, feingliedrigen Hand. »Wie schön! Wieder für Madame Gelegenheit persönlich auf der Pirsch, was? Sind dir die Kredithaie wieder auf den Fersen? Wie lästig!«

»Du weißt ja, wie das ist«, erwiderte ich. »Das Leben ist teuer für die, die ein wenig Spaß haben wollen.«

»Oh, sicher, ich weiß, mein lieber Junge. Ich schwöre, das Geld diffundiert geradezu aus den Taschen, wenn ich nicht genau hinschaue.«

»Besonders, wenn man so viel spielt wie du. Und vor allem so schlecht.«

Der Mittelsmann warf dem Thaijungen einen bösen Blick zu. »Hast du wieder aus dem Nähkästchen geplaudert, Maurice? Ich werde später sehr streng zu dir sein. Du weißt ja, wie sehr du das magst.«

Wir schwatzten eine Weile, aber als er nicht einmal eine seiner nachgefärbten Brauen hob, als ich den Tower von London erwähnte, entschuldigte ich mich und ging weiter. Das nächste bekannte Gesicht lief geradezu mit Absicht in mich hinein. Leo Morn hätte gute Gesellschaft sein können, aber er ist immer auf Beute aus und schnorrt alle Leute an. Ich schwöre, er war kaum auf der Welt, da hat er seine Hebamme schon um eine Zigarette angeschnorrt. Leo ist groß, schlank, langhaarig, bleich und interessant. Er sieht aus, als spiele er in einem besonders düsteren Tim-Burton-Film die Hauptrolle. Ganz in Schwarz gekleidet, wirkt er so zerbrechlich, dass man fast erwartet, ein Windstoß würde ihn wegwehen. Aber es ist mit ihm wie mit vielen Leuten, die ich kenne, das Aussehen kann in die Irre führen. Leo Morn hat verborgene Stärken und ein Herz aus hartem Granit.

Er suchte nach Arbeit als Teilzeitmusiker in einer Band.

»Spielst du immer noch den Bass in dieser Punkfolk-Band?«, fragte ich.

Er grinste wölfisch. »Ja, klar. Ich habe da ein paar wirklich gute Gigs vor mir.«

»Und ihr müsst immer noch den Namen der Gruppe regelmäßig wechseln, damit ihr ein zweites Mal gebucht werdet?« Meine Stimme klang unschuldig.

Er zog eine Grimasse. »Wir sind unserer Zeit eben voraus! Im Moment nennen wir uns Angel's Son und haben Ende des Monats einen schnuckligen Gig im Moles in Bath. Komm vorbei, wenn du in der Gegend bist. Tu es, solange du kannst! Ich glaube nicht, dass wir lange da sein werden.«

»Ich will dich ja nicht beleidigen, Leo«, meinte ich. »Aber im Großen und Ganzen stecke ich mir lieber Grillspieße in die Ohren.«

»Also, ich muss schon sagen! Für jemanden, der mich nicht beleidigen will, bist du aber verdammt nah dran!«

Ich wünschte ihm Glück und er stakste davon. Die Leute wichen ihm aus, sie konnten den Wolf in ihm riechen.

Der Nächste war Harry Fabelhaft: hübsch, charmant, äußerst modisch und alles davon so falsch wie sein ständiges Lächeln. Harry zeigte überhaupt kein Interesse an den Messeständen, sondern ging einfach von einem potenziellen Kunden zum nächsten, wie ein Hai in reichen Fischgründen. Harry würde einem hinterrücks das letzte Hemd klauen, dabei aber so charmant sein, dass man sich am Ende noch bei ihm für die schlechte Qualität desselben entschuldigte. Harry Fabelhaft: Rosstäuscher, Dieb, Gauner und Ihr Mann der Wahl für alles, was Ihnen ganz bestimmt nicht guttut.

»Shaman, mein Bester!«, rief er und zeigte Zähne in einem sehr professionellen Lächeln. »Schön, dich wieder mal unterwegs zu sehen. Ich hab dich ja nicht mehr getroffen, seit … Na ja, zumindest nicht in der Öffentlichkeit, was? Was treibst du so?«

»Das würdest du mir nie glauben«, antwortete ich ernst. »Was ist mir dir, Harry? Wie laufen die Geschäfte?«

»Ach, ganz gut, wie immer.« Sein Lächeln gefror für einen Moment. Sein Blick ging für einen Sekundenbruchteil an mir vorbei. »Ich hatte ein wenig Pech mit einem Engel auf der dunklen Seite der Nacht. Und auf einmal finde ich mich in der Lage, gute Taten für mein Seelenheil tun zu müssen. Wie das eben so ist. Kann ich dich für etwas Besonderes interessieren, für einen sehr vernünftigen Preis? Ich habe da einen Posten sehr delikates, geräuchertes Schwarzfüßlerfleisch an der Hand. Oder darf es etwas vollmundiger Hyde sein? Ich habe da auch etwas erstklassiges marsianisches Rotkraut, raucht sich sehr cool. Nein? Wie ist es mit ein paar Yeti-Tränen? Oder etwas elektrographischer Beschleunigung? Besonders wirksames Speed, aus dem Hause Blue Lights?«

»Ich glaube, ich verzichte«, sagte ich entschieden.

»Dann muss ich jetzt weiter«, sagte er rasch. »Du weißt ja, wie das ist, alter Junge. Dinge sehen, Leute treffen - ich denke, ich habe da drüben einen Touristen gesehen, der mich geradezu anbettelt, ihn um alles zu erleichtern, was er hat.«

Weg war er und tauchte mit einem Lächeln auf den Lippen und ehrlichem Diebstahl im Sinn so gekonnt durch die Menge, dass diese kaum auswich.

Der Abstrakte stand in der Mitte seines eigenen Personals und seines eigenen sehr privaten Platzes. Jeder ließ ihm eine Menge Raum, weil keiner, der bei klarem Verstand war, ihm zu nahe kommen wollte. Er könnte einen ja bemerken. Der Abstrakte war ein Mann, der sein Menschsein auf seine Essenz reduziert hatte. Oder vielleicht hatte er sich dorthin weiterentwickelt. Man sieht ihn noch am deutlichsten aus dem Augenwinkel, aber selbst dann hat man eher einen Eindruck als eine wirklich definierte Gestalt. Ich weiß nicht, was er zurzeit als Körper benutzt, aber er besteht verflucht nochmal nicht aus Fleisch und Blut. Er ist eine Projektion, die Idee eines Menschen. Unsterblich, unverwundbar und in der Lage, um Ecken zu denken, von denen Sie nicht einmal wissen, dass es sie gibt. Einige sagen, er habe eine Wette verloren, mit Gott oder dem Teufel, und andere sagen, dass er sich das selbst angetan hat und jetzt nicht mehr aus der Nummer rauskommt. Wie auch immer, der Abstrakte kommt und geht, wie es ihm gefällt und keiner weiß, wie oder warum. Ob das nun eine Tragödie ist oder ein Triumph - wahrscheinlich ist es beides. Das Einzige, auf das man sich bei ihm einigen kann, ist, dass er verrückt ist, böse und dass es gefährlich ist, ihn zu kennen. Also sind wir alle sehr höflich zu ihm.

Ich hatte ihn noch nie an der Jobbörse gesehen.

Er wandte seinen abstrakten Kopf zu mir hin, und ich fühlte den Einschlag seines Blicks geradezu körperlich. Er wusste, wer ich in Wirklichkeit war. Er wusste alles, was er wissen wollte. Er ging nicht auf mich zu, er war auf einmal da, direkt vor mir. Ich tat mein Bestes, weder zusammenzuzucken noch zurückzuweichen. So aus der Nähe war er noch verstörender. Es tat meinen Augen weh, ihn direkt anzusehen. Alles an ihm war falsch. Wie ein Kreis mit geraden Linien oder ein Raum mit zu vielen Winkeln. Er hatte Höhe und Breite und Tiefe und noch andere Dimensionen. Ich zitterte.

Seine Stimme explodierte in meinem Kopf, und ich schrie auf. Er war gleichzeitig Ton und Farben und betäubende Bilder. Der Abstrakte hatte sich über die Sprache hinaus zu etwas entwickelt, was sich vielleicht jenseits der Telepathie befand. Alles, was ich verstand, war, dass er jemanden oder etwas suchte, aber er konnte mir nicht verständlich machen, wen oder was. Blut schoss aus meinen Nasenlöchern und kam unter meinen Augenlidern hervorgequollen. Und dann, einfach so, war er wieder da, wo er gewesen war, und die einzige Person in meinem Kopf war ich selbst.

Ein Man in Black kam vorbei und reichte mir ein Papiertaschentuch. Ich nickte dankbar und wischte mir das Blut von den Wangen. Dann drückte ich es gegen meine Nase.

Alles in allem eine recht typische Begegnung mit dem Abstrakten. Die Droods haben bereits ein paar Anfragen erhalten, ihn auszuschalten; sogar aus mehr Gründen als nur des üblichen, extremen Vorurteils, dass er eben sehr irritierend wirkt. Wir ziehen das ernsthaft in Betracht, und sei es nur, weil es eine schöne Herausforderung wäre. Das Problem mit dem Abstrakten ist, dass er schon vom Prinzip her reiner und mächtiger ist als jeder andere und weit jenseits jeglichen menschlichen Verständnisses oder Manipulationsvermögens. Und wer will schon einen Gott, den man weder verstehen oder befriedigen kann und den es nicht die Bohne interessiert, ob man ihn anbetet oder nicht?

Ich sah auf das Taschentuch. Es war kein Blut darauf. Als ich über meine Wangen strich, war auch darauf kein Blut, auch nicht um meine Augen herum. Es trocknete auch keines in meinen Nasenlöchern. Typisch.

Ich spazierte weiter durch die Menge. Tauschte hier ein paar Worte, schüttelte Hände und drückte Küsschen auf Wangen. Ich mag es, Shaman Bond zu sein. Ja, gut, er ist nicht ganz echt, so gesehen, aber ich fühle mich viel wohler, wenn ich er bin, als wenn ich Eddie Drood sein muss. Shaman kann stark oder ein bisschen dumm sein, gerade wie es ihm passt, und keiner kümmert sich einen Dreck darum, wenn er's vermasselt. Auf seinen Schultern lastet nicht das Schicksal der Menschheit.

Er hat Freunde. Ein Drood hat nur seine Familie und seine Feinde.

Shaman Bond ist mehr als nur die Maske, hinter der ich mich in der Öffentlichkeit verstecke. Er ist der Mann, der ich vielleicht wäre, wenn mein Leben mir selbst gehört hätte.

Die CIA hatte ihren eigenen Stand, wie immer. Er war sehr groß und sah proper und bunt aus, komplett ausgerüstet mit Flachbildschirmen, den allerneuesten Erfindungen und technischem Schnickschnack. Auch die stolze amerikanische Flagge fehlte an prominenter Stelle nicht, ebenso wenig wie ein echter Adler, der es sich auf einem Pfahl bequem gemacht hatte und misstrauisch auf die Vorübergehenden herabsah. Die CIA rekrutierte jeden, der Interesse zeigte und betrieb einen schwunghaften Handel mit Souvenirs und Erinnerungsstücken. Niemals fehlte ihr das Geld für Informationen und den neuesten Klatsch - aber in Wirklichkeit war sie nur da, um Präsenz zu zeigen. Sie wollte uns daran erinnern, dass sie uns immer beobachtet. Ich erkannte ein anderes bekanntes Gesicht hinter dem Tisch und schlenderte hinüber.

Nickie Carter ist eine etwas altmodische CIA-Agentin und schon in vierter oder fünfter Generation in der Spionage. Sie ist eine angenehm aussehende Brünette Anfang Zwanzig, trug einen schicken, hellblauen Business-Anzug und ein professionelles Lächeln. Eigentlich sah sie aus wie das erfolgreiche Produkt einer berühmten Wirtschaftsuniversität. Sie kannte außerdem siebenundfünfzig Arten, einen mit dem kleinen Finger zu töten und konnte einige richtig eklige Sachen mit ihrem Mund anstellen. Wir hatten einmal ein Wochenende in Helsinki miteinander verbracht. Wir waren jemandem auf der Spur gewesen, der sich genau genommen als nicht existent herausgestellt hatte. So ist der Job eben manchmal.

Sie kennt mich nur als Shaman Bond. Was sogar gut ist, denn sonst fühlt sie sich vielleicht verpflichtet, mich umzubringen.

Nickie lächelte mich liebenswert an. »Shaman, Liebling, gut siehst du aus! Tut mir leid wegen dieses Auslieferungsantrags letztes Jahr, aber irgendein verrückter Beamter weiter oben in der Hierarchie hatte sich in die Idee verrannt, du würdest im Manifesten Schicksal eine große Rolle spielen. Ich habe versucht, ihm das auszureden, aber keiner hört heutzutage mehr auf eine einfache Agentin. Nur die Computer zählen jetzt, alles Trends und Vorhersagen. Verdammte Erbsenzähler!« Sie sah mich nachdenklich an. »Wie hast du es denn geschafft, uns aus dem Weg zu gehen, Shaman?«

»Schön, dich wiederzusehen, Nickie«, sagte ich nüchtern. »Willst du mich nicht deinem Freund vorstellen?«

Nickie lächelte den älteren Gentleman neben sich, der gedankenverloren in die Ferne starrte, liebevoll an. »Aber ja. Das ist ein Kollege von mir, Shaman. Darf ich dir eine der lebenden Legenden der CIA vorstellen, Stephen Victor. Er befindet sich auf seiner Abschiedsreise durch Europa.«

Ich kannte den Namen. Damals in den Siebzigern war er ganz klar ein Major Player gewesen. Er war für seine Masche bei Frauen bekannt. Eine Ein-Mann-Honigfalle, nach allem, was man so hörte. Frauen aller Parteien des Kalten Krieges konnten es nicht erwarten, mit ihm ins Bett zu springen und ihm alle Geheimnisse zu verraten, die sie kannten. Er konnte erst Anfang Sechzig sein, sah aber ungefähr zwanzig Jahre älter aus. Er hatte einen großen, beinahe adligen Kopf, nur wenig eingefallen, mit einer Mähne silbergrauen Haars; aber auch wenn sein Mund einen entschlossenen Zug aufwies, wirkten seine Augen vage und weit weg. Er hatte das etwas ramponierte Aussehen eines Mannes, der von jemand anderem angezogen worden war. Er lächelte leicht in meine Richtung, als Nickie ihm meinen Namen nannte, und schüttelte meine Hand mit einem festen, männlichen Händedruck, aber hinter seinen Augen war niemand zu Hause. Er war nur die Hülle des Mannes, der er einmal gewesen war und nur hier, um öffentlich zur Schau gestellt zu werden. Er ließ meine Hand los und starrte weiter ins Nichts.

»Er ist hier, um ein paar alte Jagdgenossen zu besuchen und ein paar wenige alte Freunde und auch Feinde zu treffen«, meinte Nickie. »Ich hoffe, dass er aus ihnen ein paar Geheimnisse herausbekommt, bevor er sich zur Ruhe setzt. Armer, alter Kerl. Man kann ihn nicht mal mehr zur Züchtung verwenden. Keine Sorge, Shaman, wir können sagen, was wir wollen. Er ist taub wie ein Pfosten.«

»Ich denke, so werden wir alle enden«, sagte ich.

»Nicht, wenn ich etwas zu sagen habe«, sagte Nickie bestimmt. »In dem Moment, in dem ich vergesse, wie viel eins und eins ist, bin ich entschlossen, mit dem Bungee-Jumping über aktiven Vulkanen anzufangen. Ich werde mich verabschieden, solange ich noch ich selbst bin. Sieh ihn dir nur an. Er weiß nicht, ob es Dienstag ist oder peng. Ich bin genauso gut seine Krankenschwester wie auch seine Leibwächterin. Als er das letzte Mal in London war, hat unser Botschafter ihn der Queen vorgestellt. Und er hat ihr einen Heiratsantrag gemacht!«

»Wirklich? Was hat Ihre Majestät geantwortet?«

»Das weiß keiner«, meinte Nickie düster. »Aber Prinz Philip hatte danach umso mehr zu sagen.«

Ich grinste, entschuldigte mich und wanderte weiter. Stephen Victor, ein großer Verführer seiner Generation, war nur noch ein Haufen Knochen in einem verknitterten Anzug. War das alles, auf das ich mich freuen konnte? War das meine Zukunft, wenn ich so lange lebte? Ein Relikt der Vergangenheit? Würden alle meine Triumphe und Errungenschaften mich als vage respektierte Legende enden lassen? Nur ein weiterer vorzeitig gealterter Agent, der sich in den Erinnerungen an die Vergangenheit verlöre? Nein. Die Chancen standen hoch, dass ich jung und sehr blutig sterben würde. Wie die meisten aktiven Agenten.

Ich sah mich nachdenklich um. Die CIA war nicht der einzige ausländische Geheimdienst, der heute auf der Jobbörse Flagge zeigte. Alle größeren Länder und Mächte waren mit Agenten präsent, die Informationen kauften, Einfluss verkauften und vielleicht einen kleinen Mord oder auch eine Sabotage nebenher absprachen. Es war unüblich, so viele in Aktion zu sehen. Aber niemand erhob Einwände. Die Jobbörse kümmert sich nicht darum, wer oder was man war, solange man die Standmiete pünktlich bezahlte.

Im Großen und Ganzen gaben sich die großen Jungs nicht mit Shaman Bond ab. Er ist zu unwichtig, um sie zu interessieren. Ab und an entschied einer, dass er wissen wollte, was Shaman wusste, und ließ die Hunde auf ihn los - aber irgendwie schien Shaman ihnen immer einen Schritt voraus zu sein und mit Leichtigkeit ihre Fallen und Schmeicheleien zu umgehen. Manchmal kommandieren die großen Jungs ihn nur aus dem Grund herum, ihn daran zu erinnern, wer das Sagen hat. Dann spiele ich gewöhnlich mit. Es ist toll, was man alles erfahren kann, wenn man nur die Augen und Ohren offen hält. Wenn man nur ein kleiner Fisch ist, eine angeheuerte Aushilfe, dann sprechen die wichtigen Leute ganz offen vor einem, als wäre man gar nicht da.

Ich hatte schon fast zwei Stunden damit verbracht, durch die Messehalle zu spazieren und auf und ab zu gehen. Ich hatte mit allen gesprochen und gemurmelte Angebote von geheimen Aufträgen und zweifelhaften Plänen höflich vermieden - und am Ende wusste ich nicht mehr als vorher. Aber es war ja auch nicht so, als hätte ich viel in der Hand. Alles, was die Familien-Wahrsager hatten, war die Drohung gegen den Tower von London und ein allgemeines Gefühl von Gefahr und Wichtigkeit. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass den meisten Wahrsagern ein kräftiger Schlag auf den Hinterkopf sehr gut täte.

Ich erwähnte den Tower von London bei allen Gaunern und Mistkerlen mit guten Verbindungen in der Jobbörse, aber alles, was ich herausbekam, waren ungenaue Aussagen und noch ungenauere Versprechungen, mir Bescheid zu geben, wenn sie irgendetwas hörten. Etwas lag in der Luft, irgendein großes Ding. Aber keiner wusste etwas Genaues. Keiner hatte einen Namen oder auch nur eine Richtung, in die er zeigen konnte.

Ich hatte auch so deutlich wie möglich gemacht, dass ich bereit war für ein wenig Action. Und dass mir kein Risiko zu hoch sei. Ich hatte sogar gesagt, dass ich auch Autoritätssymbole angegriffen hätte, wenn nötig, aber auch wenn ich eine Menge Angebote bekam, keines davon klang irgendwie richtig. Ich bin einigen Leuten was schuldig, hatte ich gesagt. Leuten, die nicht für ihre Geduld oder ihr Verständnis bekannt sind. Und meine Bekannten hatten genickt und gelächelt, Verständnis ausgesprochen und alle möglichen interessanten Gelegenheiten (die ich mir merkte, um mich später darum zu kümmern) angeboten. Aber wegen keiner von ihnen war ich hier.

Bis mir endlich alles in Form eines anonymen Hinweises in den Schoß fiel. Naja, es ist nicht leicht, bei einem Drood anonym zu bleiben; immerhin können wir durch die meisten Oberflächen und Maskeraden hindurchsehen und man kann sich beinahe unmöglich an uns heranschleichen. Nichtsdestotrotz flüsterte mir diese Stimme leise wie ein Taubenfurz in mein Ohr. Wenn du am Tower von London interessiert bist, musst du mit Big Oz reden. Da drüben, am Stand von Universal Exports.

»Wer ist da?«, fragte ich leise und darum bemüht, mich nicht umzusehen. »Warum sagst du mir das?«

Wie eine warme Brise wehte ein Lachen in mein Ohr. Vielleicht weil auch der hartnäckigste Bösewicht - sehr zu seiner eigenen Überraschung - sich als Patriot herausstellen kann.

Ich wartete ab, aber da war nichts mehr. Ich sah mich um, aber da war nur die schubsende, drängelnde und durcheinanderrufende Menge und machte ihre Geschäfte. Ich dachte kurz nach. Big Oz? Wirklich? Wenn die Smaragdstadt in London wirklich größer wurde, hätte ich das wissen müssen. Außer natürlich, es hatte in einem von diesen verdammten Memos gestanden, die ich noch nicht gelesen hatte.

Aber nein, es stellte sich heraus, dass der Mann, an den man mich verwiesen hatte, Big Aus war, ein fanatisch republikanischer Australier. Ich stellte mich vor und er zerdrückte meine Hand in seiner großen fleischigen Faust. Er war groß, mit breiten Schultern und einem großen Bauch. Er trug einen Anzug, der aussah, als habe er ihn nach einem Foto ausgesucht. Sein Gesicht war breit und fröhlich, mit scharfen Augen und einem ständigen Lächeln. Mein Name und auch mein Ruf seien ihm bekannt, behauptete er, außerdem freue er sich, mich kennenzulernen.

»Nenn mich Big Aus«, sagte er. »Das macht jeder. Und du bist wirklich ein herzerwärmender Anblick, Shaman. Ich habe da ein richtig gutes Ding am Laufen und brauche noch einen Mann. Du wärst hervorragend geeignet. Das Glück ist mir heute wohl hold! Du willst den Job? Du hast ihn!«

»Warte mal«, sagte ich schnell. »Ist ja ganz schön, wenn man so erwünscht ist, Big Aus, aber ich verspreche nichts, ohne zu wissen, auf was ich mich da einlasse. Und wie die Bezahlung aussieht.«

»Natürlich, natürlich! Wär mir auch lieber als einer, der die Katze im Sack kauft! Aber hier können wir nicht reden. Ich kenne da eine schnuckelige kleine Bar direkt um die Ecke, da können wir hingehen. Der Rest der Truppe ist schon da. Sie warten nur auf mich. Ich wollte noch den letzten Mann rekrutieren, den richtigen. Du wirst sie mögen; alles echte Persönlichkeiten, genau wie du. Komm mit, Shaman, und ich werde dir sagen, wie wir alle verdammt reich werden können und dabei der britischen Monarchie so richtig eins auswischen werden. Wir werden das Verbrechen des Jahrhunderts begehen und Australien, Gottes eigenes Land, zu der Republik machen, die sie schon immer sein sollte.«


Big Aus nahm mich fest am Arm und eskortierte mich zu einem kleinen und kitschigen irischen Pub, der nur ein paar Straßen von der Jobbörse entfernt war. Er gehörte zu einer Kette von unerträglich künstlich-­irischen Restaurants namens »Der kleine Kobold«. Ich kannte diese Kette, aber ich hätte nie gedacht, dass ich mal gezwungen sein würde, darin zu essen. »Der kleine Kobold« hatte mit wirklicher irischer Küche und Kultur so viel zu tun wie ein Plastikkleeblatt und besaß noch weniger Würde. Wenn das echte Kleine Volk jemals herausfand, was sich da hinter ihrem Namen verbarg, würden sie auf diese ganze verdammte Kette eine gepfefferte Fatwa ausrufen.

Das Lokal war in knalligen Primärfarben dekoriert, die Tische waren wie große flache Champignons geformt, und überall standen goldene Töpfe herum, in denen man die Kräuterzigaretten ausdrücken konnte. Cartoon-Kobolde hampelten fröhlich über Wände und Decke und lugten sogar verspielt hinter den großen Menukartenständern hervor. Die meisten Speisen und selbst ein paar von den Drinks wiesen ein Grün unterschiedlicher Schattierungen auf. Ich machte mir eine gedankliche Notiz, mich von den Rindfleisch-Hamburgern fernzuhalten. Eine schlecht gelaunte, als neckisches irisches Mädchen aufgemachte Kellnerin, bei der selbst die Sommersprossen nur geschminkt waren, kam auf hohen Hacken herübergestakst. Sie brachte Big Aus und mich zu einem Tisch weiter hinten im Restaurant, wo bereits drei andere Personen warteten.

Ich kannte sie und sie kannten mich. Big Aus hatte von mir gehört, wie die meisten Leute eben von Shaman Bond hören, aber diese drei waren mir sehr bekannt. Ich würde sie zwar nicht gerade Freunde nennen, aber wir hatten alle in der Vergangenheit das eine oder andere Mal zum gegenseitigen Vorteil zusammengearbeitet, und wir bewegten uns alle in denselben gesellschaftlichen Kreisen. Ich zog meinen Plastikstuhl heran und setzte mich mit dem Rücken zur Wand, während Big Aus sein immenses Gewicht so heftig auf einen der Plastikstühle fallen ließ, dass dieser unter ihm ächzte.

Wie immer sah Sargnagel Jobe aus, als sei er gerade aus seinem Grab gegraben und ihm dann eins mit der Schaufel übergebraten worden. Er war ein großer, dünner und traurig aussehender Typ, der sich in einen schmutzigen, alten Mantel gewickelt hatte, der vorne übersät war mit Essensresten. Um seinen Hals hatte er einen dicken Schal gewickelt, als wolle er sich vor Kälte schützen. Er trug eine schwere, altmodische Brille, deren Gläser dick genug waren, um im Notfall mithilfe der Sonne Ameisen zu braten.

Hinter ihnen sah sein hageres Gesicht so bleich aus, wie man es normalerweise nur von Lebewesen der Tiefsee kannte. Sargnagel Jobe war mit einem seltenen Gebrechen geschlagen. Sie haben natürlich von Narkoleptikern gehört, die plötzlich einfach einschlafen und dann wieder aufwachen? Nun, Sargnagel Jobe ist ein Nekroleptiker. Er neigt dazu, plötzlich tot umzufallen und dann wieder aufzuerstehen. Ein Serien-Auferstandener sozusagen. Er war jetzt schon seit einigen Jahren gestorben und wieder auferstanden, und keiner wusste, warum. Am wenigsten er selbst. (Auch wenn einige behaupten, dass er das tut, weil er sich so daran gewöhnt, tot zu sein und damit gegen den Tod immun wird.) Wie auch immer - als direktes Ergebnis seiner vielen Begegnungen mit dem Jenseits kann Sargnagel Jobe die Welt mit klareren Augen sehen als andere. Das hat ihn zu einem sehr nützlichen Mann für viele kriminelle Unternehmungen gemacht. Niemand kann versteckte Fallen und unerwartete Gefahren besser aufspüren als er.

Er ist außerdem verrückt wie eine Ratte im Abflussrohr, wenn es um Aufputschmittel geht, aber was will man erwarten. Die Leute machen eben Zugeständnisse.

Ich hatte Sargnagel Jobe schon immer im Verdacht, dass er den Torques um meinen Hals sehen kann und daher weiß, dass ich ein Drood bin, aber er hat bisher nie etwas gesagt. Er verrät nie einen Freund und Vertrauten. Nicht, wenn nicht richtig viel Geld auf dem Spiel steht.

Der Tanzende Narr dagegen hätte wohl seine eigene Großmutter für einen mickrigen Penny verhökert. Er war der schnellste Kämpfer der Welt und sorgte dafür, dass alle das wussten. Er konnte sich so schnell bewegen, dass Sie nicht einmal wüssten, dass Sie getroffen sind, bis der Boden selbst hochspringt und Ihnen eine reinhaut. Die besten Kampfkünste basieren auf Tänzen und er behauptet, seine habe ihren Ursprung in einem alten, schottischen Schwerttanz. Er praktizierte die tödliche Kampfkunst, exakt zu wissen, was ein Gegner tut, bevor dieser es selbst weiß. Er nannte das Déjà Fu. Er mochte es, sich selbst zu einem internationalen Killer zu stilisieren, aber er war nichts weiter als ein Söldner. Er war sehr talentiert, aber nicht allzu intelligent und außerdem mit schrecklichem Jähzorn geschlagen. Wenn er einen sei ner Wutanfälle hatte, war er eine Gefahr für jeden um ihn herum, einschließlich seiner Verbündeten. Er war kräftig, machte fälschlicherweise einen auf Schotte und trug Clan-Farben, von denen ich wusste, dass er kein Recht hatte, sie zu tragen. Außerdem kultivierte er einen singenden Hochlandakzent.

Er hatte außerdem keinen Sinn für Humor. Das konnte man schon an seinen Kleidern sehen.

Schließlich war da noch die Seltsame Chloe. Eine verstörende junge Dame mit einem ständigen Schmollen im Gesicht und einer vorgestülpten Unterlippe. Natürlich Gothic. Tatsächlich war sie sogar gothischer als Goth, ganz in Schwarz gekleidet, mit Netzstrümpfen und einer schwarzen Samtschleife im rabenschwarzen Haar. Ihr schneeweißes Gesicht war mit hauptsächlich schwarzem Make-up bemalt, das teilweise eintätowiert war. Besonders das Permanent Make-up auf den Augenlidern musste wirklich wehgetan haben. Die Seltsame Chloe hegte einen Zorn auf die ganze Welt, der so stark war, dass die ganze Welt unter ihrem Blick in sich zusammenfiel, wenn sie sich wirklich konzentrierte. Sie konnte Wände zerbröckeln, Flüsse verdunsten und Leute zu Staub zerfallen lassen und das tat sie auch. Glücklicherweise hatte sie nicht genug Energie, um wirklich Ärger zu bekommen und hatte nicht den nötigen Ehrgeiz, um sich selbst zu einem Major Player zu machen. Wir anderen waren dafür sehr dankbar. Sie arbeitete gerade genug, um ein Auskommen zu haben und verbrachte den Rest der Zeit schmollend im Bett. Ich konnte mir nicht helfen, aber sicher würde sich ihr Leben um einiges verbessern, wenn man ihr mal öfter … nun ja, die Asche ausgekehrt hätte. Aber so mutig war wohl keiner.

Also. Ein Mann, der Fallen erkannte, ein Söldner und eine Frau, die Dinge verschwinden lassen konnte, nur indem sie sie ansah. Gar keine schlechte Crew.

Die Seltsame Chloe fixierte mich mit einem düsteren Blick. »Was machst du denn hier, Shaman?«

»Shaman kennt Geheimnisse über den Tower von London, Chloe«, sagte Big Aus glatt.

»Ach, und welche?«, fragte der Tanzende Narr. Er gab sich redliche Mühe, abgebrüht zu klingen, aber wenn er das wirklich gewesen wäre, dann hätte er sich wohl nie mit seinem Spitznamen abgefunden.

»Ich weiß eben mehr als die meisten Leute«, erklärte ich leichthin. »Einschließlich einer ganzen Menge Dinge, die niemand außer den Angestellten des Towers weiß.«

»Aber wie?«, fragte Sargnagel Jobe und gab sich seinerseits Mühe, so zu klingen, als kümmere ihn das wirklich. Eigentlich hatte er keine Sozialkompetenzen mehr, aber er versuchte es eben.

»Weil ich Shaman Bond bin«, erwiderte ich. »Ich weiß bestimmte Dinge eben. Also, oh Brüder, was soll das alles? Sind wir hinter den Kronjuwelen her?«

»Wohl kaum«, antwortete Big Aus. »Es bräuchte wohl mehr als unsere kombinierten Talente, um auch nur in ihre Nähe zu kommen. Nur ein einziger Mann hat es jemals geschafft, seine Hand auf die Juwelen zu legen, und das war Colonel Thomas Blood, damals in 1671. Die Wachen haben ihn gefangen, bevor er überhaupt am Haupttor war. Gerüchte besagen, dass er sehr langsam und ziemlich eklig an seinen Schmerzen gestorben ist. Nein, wir sind hinter etwas her, das genauso wichtig ist, aber bei Weitem nicht so gut verteidigt wird.«

»Sollten wir das überhaupt hier in aller Öffentlichkeit besprechen?«, murmelte Sargnagel Jobe und sah uns traurig durch seine übergroßen Brillengläser hindurch an.

»Entspann dich«, sagte Big Aus. »Keiner, den das interessieren würde, würde hier auch nur tot überm Zaun hängen wollen. Und hör dir mal den Lärm an! Mit so vielen Menschen, die hier aus- und eingehen, Essen bestellen, miteinander reden und mit diesem fürchterlichen Riverdance-Gepiepe könnten wir darüber reden, die Queen zu entführen und ihre Organe auf eBay zu verkaufen und keiner würde uns hören. Der sicherste Ort für Verschwörungen war schon immer ein öffentlicher Platz. Es sind immer die geheimen Treffen an absonderlichen Orten, die die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich ziehen.«

»Also, was haben wir vor?«, fragte ich.

Die Seltsame Chloe grinste plötzlich. Es stand ihr nicht. »Die Raben, Shaman. Wir werden die Raben töten.«

Ich verzog das Gesicht und sah von einem zum anderen, um sicherzugehen, dass sie das ernst meinten. »Reden wir hier über die alte Legende, dass über ganz England ein großes Unglück kommt, wenn es im Tower von London keine Raben mehr gibt?«

»Besser hätte ich es nicht sagen können!«, krähte Big Aus fröhlich. »Aber das ist mehr als nur eine Legende, Sportsfreund. Ich habe mich erkundigt. Der Buckingham-Palast nimmt diese Drohung seit vielen Jahren so ernst, dass allen Raben in und um den Tower regelmäßig die Schwungfedern gekürzt wurden. So ist sichergestellt, dass sie nicht davonfliegen können.«

»Äußerst praktisch und sehr britisch«, murmelte Sargnagel Jobe. »Kann sonst noch jemand spüren, dass es zieht?«

»Wir werden unsere unterschiedlichen Fähigkeiten dazu benutzen, um dem Tower ganz nah zu kommen und dann die Raben zu töten«, sagte Big Aus.

»Aye!«, sagte der Tanzende Narr. »Ein mächtiger Schlag gegen die verräterischen Engländer!«

»Entschuldigt, wenn ich etwas langsam bin«, sagte ich. »Aber wie könnten wir davon profitieren? Ich rede von richtiger Kohle, davon, knallhart Geld zu machen. Die Raben gegen Lösegeld kidnappen, ja, das kapier ich. Aber sie einfach … killen?«

»Ich stehe für die Kosten dieses kleinen Unternehmens gerade«, sagte Big Aus scharf. »Meine Wenigkeit und ein kleines Konsortium von gleichgesinnten australischen Patrioten. Wir werden einen Coup gegen England im Allgemeinen und die Monarchie im Besonderen landen. Wir werden sowohl das Parlament als auch die verdammte Queen mit einem Schlag erledigen! Für die republikanische Sache. Das ist zehnmal das Risiko wert!«

Die Seltsame Chloe schnaubte unbekümmert. »Wenigstens habe ich so was zu tun. Könnte spaßig werden. Werde ich viele Leute töten können?«

»Das ist beinahe sicher«, versicherte ihr Big Aus. Er streckte seine Hand aus, um ihre zu tätscheln, doch er überlegte es sich und zog sie wieder zurück.

»In den verfluchten Tower einbrechen und damit das englische Establishment wie Idioten aussehen lassen«, meinte der Tanzende Narr. »Ein Plan ohne einen Pferdefuß.«

»Ich mag es, wenn plötzlich ganz viele Menschen sterben«, sagte Sargnagel Jobe verschmitzt. »Dann fühle ich mich nicht so allein.«

Der Tanzende Narr sah ihn stirnrunzelnd an. »Warum gehst du nicht irgendwo spuken?«

»Weil ich den Geistern Angst mache«, erwiderte Sargnagel Jobe.

Vielleicht war das ein Scherz, aber vielleicht auch nicht. Das ist bei Sargnagel Jobe nicht ganz einfach zu unterscheiden.

Wie es der Zufall wollte, wusste ich ganz genau, dass in der Legende über die Raben im Tower kein Körnchen Wahrheit steckte. Wenn das anders gewesen wäre, dann hätten die Droods ihre eigenen Wachen bei den Raben gehabt. Meine Familie weiß schon sehr lange, was wirklich gefährlich ist und was nicht. Das ganze Ding mit den Raben war nur eine Geschichte, die man Touristen erzählte, um sie zu erschrecken. Aber dieses Gaunerstück musste nichtsdestotrotz gestoppt werden. Big Aus hatte mit einem recht: Wenn er diese Raben tötete, die ein populäres Symbol für die Queen und das Land waren, mitten im Herzen von London, würde er jeden der Beteiligten schlecht aussehen lassen. Ganz besonders auch die Droods, die es trotz ihrer Wache zugelassen hätten. Könnte andere Leute auf die Idee bringen, wir wären nicht am Ball geblieben und das geht einfach nicht.

Trotzdem war die Situation … kompliziert. Big Aus kannte ich nicht seit Adam und Eva, auch wenn er besser angezogen war als die beiden. Die anderen drei waren, wenn schon keine Freunde, so doch immerhin Leute, die Shaman Bond kannte. Wir hatten eine gemeinsame Vergangenheit, einiges, das gut war, anderes, das schlecht gelaufen war. Ich konnte sie nicht ohne Weiteres warnen, ohne ihren Verdacht zu erregen. Soweit es sie anging, war die Sache einfach schnelles Geld. Also musste ich nicht nur diesen Plan stoppen und Big Aus aufhalten, ich musste auch einen Weg finden, das zu tun, ohne meine Partner ernsthaft zu verletzen oder preiszugeben, dass ich in Wirklichkeit ein Drood war.

Großartig. Wundervoll. Ganz prima.

Und - ich war nicht ganz von Big Aus überzeugt. Je mehr Zeit ich mit ihm verbrachte, desto sicherer wurde ich, dass der Mann nur eine Rolle spielte. Er konnte einem vielleicht den australischen Republikaner vorspielen, aber ich konnte mir nicht helfen: Ich fühlte einfach, dass mehr hinter diesem Coup steckte. Und dass er mehr auf dem Kasten hatte als einfach nur Raben zu töten. Also würde ich die Dinge so lange laufen lassen, bis ich besser erkennen konnte, was passierte. Und mich dann auf meine Fähigkeiten und mein Können verlassen, um die Bremsen in dem Moment zu ziehen, in dem die Dinge aus dem Ruder zu laufen drohten.

Ich war autorisiert, Big Aus wenn nötig zu töten. Und die anderen auch. Ich versuche allerdings in der Regel, auf meinen Missionen niemanden zu töten. Ich bin Agent, kein Killer. Aber manchmal … Es ist eben ein Job.

Big Aus lehnte sich über den Tisch nach vorn und sah uns der Reihe nach an. »Hat irgendjemand ein Problem, das er noch gern zur Sprache bringen möchte? Wenn ja, dann sage er es jetzt oder schweige für immer. Wenn ihr einmal drin seid, gibt's kein Zurück mehr.«

»Seit ich begonnen habe, regelmäßig tot umzufallen, kümmert mich nur noch wenig außer der Kohle«, sagte Sargnagel Jobe melancholisch. »Zumindest brauche ich genug Geld, um mich bequem schlecht zu fühlen.«

»Zum Teufel mit dem verfluchten England!«, sagte der Tanzende Narr. »Nieder mit ihnen allen!«

»Und mich interessiert das alles nicht die Bohne«, meinte die Seltsame Chloe. »Also los.«

Auf einmal sahen alle mich an. Ich grinste sorglos. »Ihr wisst ja, dass ich immer nur eines frage: Wie viel bringt mir der Job?«

Big Aus sagte es mir, und ich musste mein Interesse nicht mehr spielen. Er bot uns eine ordentliche Summe an, mehr, als die ganze Sache wert war. Was vielleicht bedeutete, dass er nicht erwartete, dass wir nach diesem Husarenstück noch da waren, um uns das Geld abzuholen. Und das wiederum war … interessant. Ich schenkte ihm mein bestes Lächeln.

»Ich bin dabei. Das Spiel kann anfangen. Sollen wir bestellen?«

»Du machst wohl Witze«, antwortete Big Aus. »Ich würde in diesem Laden nicht einmal das Klo benutzen.«

Da hatte er auch wieder recht.


Der große Plan, wie Big Aus ihn uns vortrug, erwies sich als erfrischend einfach und geradeheraus. Mein Job war es, die nötigen Informationen über die versteckten und tödlichen Schutzmechanismen zu besorgen, mit denen der Tower von innen und außen ausgerüstet war. Sargnagel Jobe würde seinen mehr als toten Blick benutzen, um uns an ihnen vorbei- oder hindurchzulotsen. Er sagte, dass er auch die Worte erkennen konnte, die die magischen Schutzkreise außer Kraft setzten. Ich konnte nur hoffen, dass er damit recht hatte. Der Tanzende Narr würde mit seinem Déjà Fu alle menschlichen Wachen ausschalten, die uns begegneten. Und die Seltsame Chloe würde konzentriert die Raben anstarren. Und dann würden wir alle die Beine in die Hand nehmen und so weit weglaufen wie möglich. Big Aus, so schien es, würde einfach mitkommen, um zuzusehen.

»Ich bezahle dafür«, erklärte er rundheraus. »Und ich zahle nicht zuletzt für einen Logenplatz.«

Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, offenbar in Gedanken versunken, und beobachtete die anderen unauffällig. Sie erzählten sich gegenseitig, wie einfach das alles werden würde. Und wie lustig. Und wie toll das alles für ihren Ruf war. Das Übliche eben. Manchmal schwöre ich, die Menschen sind nichts weiter als große Kinder. Ich nahm mir die Zeit, mir all die Infos über den Tower ins Gedächtnis zu rufen, mit denen mich die Familie versorgt hatte. Die Drood-Forscher wissen alles darüber, was es zu wissen gibt - jedenfalls fast alles. Und auf jeden Fall genug, um noch einiges dazuzuerfinden. Das ist ihr Job. Als Big Aus die anderen beruhigt hatte und sich mir zuwandte, war ich bereit. Ich würde wie ein Experte klingen und sie mit Details blenden können.

»Die beste Zeit für unser Vorhaben ist der frühe Morgen«, sagte ich selbstsicher. »Wenn die menschlichen Wachen am unaufmerksamsten sind. Also dann, wenn uns keine Touristen im Weg sind. Keine unschuldigen Gaffer, um den bestgeplanten Plan aller Zeiten zu durchkreuzen.«

»Richtig«, knurrte der Tanzende Narr. »Je weniger unkontrollierbare Fakten es gibt, desto besser. Weiter, Shaman.«

»Danke«, sagte ich trocken. »Als Erstes solltet ihr wissen, dass es nicht einfach nur einen Tower von London gibt. Es gibt eine ganze Menge davon. Über ein Dutzend, um genau zu sein, die sich alle innerhalb einer hohen Steinmauer befinden wie in einer richtigen Burg. Und wir reden hier über ausgesprochen dicke Steinmauern, die von ihren Schöpfern mit menschlichem Blut getauft wurden, um sie stark zu machen. Außerdem wurden Verbrecher in ihren Fundamenten vergraben, damit die Toten sie für immer aufrecht halten. Damals haben die Maurer noch ihren Stolz dareingesetzt, ihre Arbeit ordentlich zu machen.

Der ursprüngliche Tower von London war der White Tower, der auf Befehl von Wilhelm dem Eroberer damals im elften Jahrhundert gebaut wurde. Der, an den die meisten Leute denken, wenn sie an den Tower denken, ist der Blutige Tower aus den Tudor-Zeiten. Dort wurden die Verräter inhaftiert, bevor sie hingerichtet wurden. Aber es gibt auch den Flint Tower, den Tower von St. Thomas (in dem sich der Eingang befindet, den man das Verrätertor nennt) und den Whitechapel Tower, in dem sich die Kronjuwelen befinden. Jedes dieser Tower-Gebäude hat seine eigenen Schätze und Geheimnisse, von denen die täglichen Besucher nicht einmal träumen. Und sie sind sehr schwer bewacht.«

»Jetzt gibst du doch nur an«, sagte der Tanzende Narr. »Bleib bei den Fakten, Shaman.«

»Ich hab kalte Füße«, witzelte Sargnagel Jobe.

»Ihr wollt Recherchen, ihr kriegt sie«, sagte ich. »Die Raben haben ihr eigenes Wohnhaus im Burgkomplex, falls das Wetter ganz besonders schlecht wird. Wenn wir sichergehen wollen, sie alle zu erwischen, werden wir in die Burg hineinmüssen. Das heißt auch, wir müssen an den menschlichen Wachen vorbei, den Yeomen Warders. Ihr dürft sie übrigens nie die Beefeaters nennen, das war ursprünglich eine Beleidigung der Franzosen und die Wachen sind da immer noch sehr empfindlich.«

»Ja, klar«, sagte die Seltsame Chloe. »Wir wollen sie ja auch nicht aufregen, nicht wahr.«

»Nein, wollen wir nicht«, sagte ich streng. »Unsere beste Chance liegt darin, rein- und wieder rauszuschleichen, ohne das jemand es merkt, bis es zu spät ist. Die Yeomen Warders gehören zum Militär, einschließlich Special-Forces-Leuten und Kriegszauberern. Sie nehmen halt nicht jeden, um die Schätze Englands zu bewachen. Und dann sind da die magischen Schutzvorrichtungen: Annäherungsminen und spezielle Formflüche … Bist du noch bei uns, Jobe, oder schon tot?«

»Ich entspanne nur etwas meine Augen«, antwortete Sargnagel Jobe. »Ich hoffe, irgendeiner schreibt mit. Ich werde mir das nie alles merken.«

»Keine schriftlichen Zeugnisse!«, warf Big Aus schnell ein. »Weiter, Shaman. Das machst du prima.«

»Es sind die Geister, um die wir uns Sorgen machen müssen«, sagte ich. Das weckte ihre Aufmerksamkeit. »Sie sind nicht einfache Momentaufnahmen der Zeit, die immer wieder abgespielt werden und damit in der Gegenwart sichtbar sind. Ich rede über echte Gespenster. Verlorene Seelen, die verdammt und durch schreckliche Magie an diese Welt gebunden sind. All die hingerichteten Verräter, für ihre Verbrechen dazu verurteilt, die Tower-Gebäude bis in alle Ewigkeit zu verteidigen. Im Leben versagten sie darin, England zu dienen und es zu schützen, jetzt müssen sie es bis zum Jüngsten Tag tun, wenn es sein muss. Einige dieser Geister sind schon eine ganze Weile dabei, und sie sind mittlerweile fremdartig und furchtbar. Jahrhunderte von angesammelter Schuld und Trauer machen sie mehr als bereit, das an jemandem auszulassen.«

»Ich kann Geister sehen«, sagte Sargnagel Jobe. »Aber das ist auch schon alles.«

»Und ich kann nur gegen etwas kämpfen, das ich auch anfassen kann«, fügte der Tanzende Narr stirnrunzelnd hinzu. »Niemand hat hier was von Geistern gesagt.«

»Und ich kann nur den Lebenden schaden«, sagte die Seltsame Chloe. »Das ist es dann wohl. Game over. Wir müssen es abblasen.«

»Wartet, wartet«, sagte Big Aus und wedelte mit seinen großen Händen herum. »Shaman, sag mir, dass du einen Plan hast.«

»Na klar«, meinte ich. »Das genau ist es ja, wofür du mich bezahlst.« Ich musste mich vorsehen. Ich wusste von Dingen und betrat Territorium, von dem ich als Shaman Bond nichts hätte wissen dürfen. »Verräter wurden nicht im Blutigen Tower hingerichtet, sondern auf dem Tower Hill, weit außerhalb der Festung. Hinrichtungen waren damals öffentliche Angelegenheiten: Unterhaltung für die Massen. Die Quelle der Kraft, die diese Geister kontrolliert, wird wohl tief in diesem Hügel verborgen sein. Vielleicht etwas sehr Altes und Ekliges. Nichts, für das wir ausgerüstet wären. Also, wenn ihr vermeiden wollt, von den Geistern entdeckt zu werden, ist die beste Methode … nicht da zu sein.« Ich grinste in ihre verwirrten Gesichter. »Ich bin ziemlich sicher, dass ich ein ziemlich nützliches Gerät in die Finger kriegen kann, das uns vor den Blicken der Geister verbirgt. Jedenfalls für eine Weile. Lange genug, um reinzuschleichen, das Fürchterliche zu tun und dann wie vom Teufel gejagt wieder rauszurennen.«

Natürlich brauchte ich selbst so ein Gerät nicht. Mein Torques konnte mich für alles und jeden unsichtbar machen, und ich war ziemlich sicher, dass ich diese Funktion für eine Weile auch auf die anderen ausweiten konnte. Oder wenigstens so lange, wie ich es für nötig hielt. »Wie lange wird es dauern, dieses Gerät zu besorgen?«, fragte Big Aus. »Ich kann es bis morgen früh schaffen.«

»Ich weiß ganz genau, das bedeutet zusätzliche Kosten«, sagte er. »Wie viel, Shaman?« Ich sagte es ihm, und er zog eine Grimasse, als habe er Zahnschmerzen. Aber ich musste es teuer genug machen, damit er es ernst nahm.

»In Ordnung«, meinte er. »Aber wenn das nicht funktioniert, dann werde ich den Preis von deinem Anteil abziehen!«

»Wenn es nicht funktioniert, sind wir alle tot«, sagte ich lässig.

»Wir werden die Raben morgen erledigen«, sagte Big Aus kraftvoll und rieb sich die großen Hände. »Wir gehen früh rein, wie Shaman sagt. Um fünf Uhr morgens. Wir gehen schnurstracks rein, tun alles Nötige und hauen schnellstens wieder ab. Keine Mätzchen. Und seid pünktlich - alle -, sonst werden wir ohne euch anfangen.«

Das Verbrechen des Jahrhunderts. Und wir alle waren dabei.


Natürlich war ich der Erste. Ich checkte die Gegend und stellte sicher, dass niemand sonst irgendeine Überraschung plante. Bei solchen Sachen kann man nie vorsichtig genug sein. Also war ich ungefähr um drei Uhr morgens, zwei Stunden vor der vereinbarten Zeit, an der Auffahrt zum Verrätertor. Ich stand allein auf den großen, grauen Steinplatten, hinter meiner Rüstung versteckt und unsichtbar für jeden anderen. Was hoffentlich die Geister einschloss. Das kann man bei Toten nie sagen, denn sie haben ihre eigenen Regeln. Ich rutschte noch ein Stück tiefer in meinen langen Trenchcoat und schlang die Arme um mich selbst, um mich vor dem kalten Wind, der von der Themse heraufwehte, zu schützen.

Es war nur ein kurzer Weg von der U-Bahn-Station Tower Hill durch die zumeist leeren Straßen. Keiner der üblichen Nachtschwärmer, wie alte Götter oder Yuppie-Monster, war auf dem Weg zur nächsten Party. Aber irgendetwas flatterte hoch am Himmel, und Stimmen deklamierten lang vergessene Sprachen in tiefen Tunneln unter der Erde. Das Übliche eben.

Ich überwachte die Tower-Gebäude sorgfältig mit meiner besonderen Sicht. Arkane Energien ließen den ganzen Ort glitzern und funkeln. Unzählige Schichten alter Magie und tödlicher Schutzzauber, wie die unsichtbaren Annäherungsminen, warteten nur darauf, einen mit allem möglichen widerlichen Zeug zu überschütten, wenn man nur dumm genug war, sich der Towerfestung mit Hintergedanken im Kopf anzunähern. Die Formflüche unter dem Stein waren schon schwieriger zu entdecken, sie lagen bereit wie Spinnen in ihrem Netz. Die mächtigen, alten Mauern, die die Towerfestung darstellten, manifestierten sich in mehr als drei Dimensionen, und die Gebäude selbst waren unter Zaubersprüchen begraben wie unter Kletterefeu. Da waren helle Lichter und schreckliche Geräusche, und der ganze Komplex stank vor Blut, Schrecken und Verzweiflung.

Das waren natürlich die Geister. Ich konnte sie nicht sehen, ohne dass ich mehr von meiner Verteidigung hätte preisgeben müssen als mir lieb war, aber ich konnte sie auf die gleiche Art spüren, in der Fische wissen, dass ein Hai in der Nähe ist.

Ich wandte der Festung meinen Rücken zu und sah über die Themse. Ein alter und dunkler Fluss, mit seinen eigenen traurigen Geheimnissen. Boote, die im Alltag unsichtbar waren, kamen und gingen. Wassernixen tauchten durch das kabbelige Wasser. Sie schossen durch die vagen Erinnerungen all der Gefährte, die die mächtige Themse zu ihren Zeiten befahren hatten. Alles war dabei, von den römischen Dreiruderern bis hin zu der blumengeschmückten Barke, in der eine junge Elisabeth I. saß. Sie sah zum Blutigen Tower hinüber, und für einen Moment hätte ich schwören können, sie sehe mich. Sicherheitshalber verbeugte ich mich vor ihr, und als ich aufschaute, sah ich, wie sie mich anlächelte. Eine junge Frau, die das Leben noch vor sich hatte. Seit Jahrhunderten schon Staub und weniger als das. Dann sah sie wieder weg und verlor sich in der Vergangenheit.

Nebel lag auf dem Wasser, und die Lichter in den Gebäuden wirkten wie Strahlen in der Dunkelheit. Über allem lag das allgegenwärtige Rauschen von fernem Verkehr. Ich konnte die Tower Bridge sehen, die so viele Leute mit der London Bridge verwechseln und die Positionslichter von Flugzeugen, die niedrig über der Stadt flogen. Es war drei Uhr morgens, eine Zeit, die die Menschenseele auf die Probe stellt, und ich hatte noch zwei Stunden totzuschlagen. Ich stampfte mit den Füßen, um die Kälte zu verjagen und beschäftigte mich im Geiste mit dem Kreuzworträtsel der Times. Ich schummelte nur, wenn es nötig war und dann auch nur ein bisschen.

Ich sah jetzt schon im Geiste die Sonne über der Stadt aufgehen; die Vorstellung langer Fahnen von blutigem Rot erschien über dem düsteren grauen Himmel. Doch noch war es dunkel. Ich dachte über die Raben nach. Sie waren vielleicht nicht so wichtig, wie Big Aus glaubte, aber ich konnte nicht zulassen, dass ihnen etwas passierte. Wie weit sollte ich dieses Ding laufen lassen, bevor ich eingriff? Ziemlich weit, denn nie im Leben ging es hier nur um die Raben. Big Aus plante mehr, dessen war ich sicher. Ob er nun glühender Republikaner war oder nicht, keiner setzt derart viel Geld aufs Spiel, nur um ein paar Raben zu töten und die Monarchie und England zu düpieren.

Also, was hatte Big Aus vor? Hier gab es alle möglichen Schätze; Objekte der Macht und gefährliche Geheimnisse, die überall in den Gebäuden sicher verwahrt waren. Aber sie waren alle hervorragend bewacht. Einschließlich der Kronjuwelen. Keiner stiehlt das, was England gehört. Am wenigsten der arme Colonel Thomas Blood im Jahre 1671, der es mit dem Sterben so schwer gehabt hatte - nur um festzustellen, dass der Tod alles andere als eine Erleichterung war. Sein Geist war immer noch hier, war dazu verdammt, genau den Schatz zu bewachen, den er versucht hatte zu stehlen. Es ist nie eine gute Idee, die englische Monarchie gegen sich aufzubringen. Die Royals haben einen fiesen Sinn für Humor.

Ich schob meine Hände tief in die Manteltaschen und ließ meine Finger über die praktischen kleinen Spielzeuge gleiten, die der Waffenmeister der Familie mir für diese Operation hatte zukommen lassen. Ein Ass im Ärmel ist immer nützlich. Die beste Verteidigung gegen die Überraschung, die andere einem bereiten wollen, ist, im richtigen Moment eine eigene parat zu haben.

Als die Zeiger der Uhr näher auf die Fünf zu rückten, erschienen die anderen der Reihe nach aus den Frühnebeln. Sie kamen auf mich zu, denn ich hatte die Unsichtbarkeit, die mein Torques mir gewährte, heruntergefahren: Sargnagel Jobe sah sich mit seinem traurigen, gedankenverlorenen Blick um. Der Tanzende Narr war groß und sah wie immer finster drein. Die Seltsame Chloe blickte sich düster um, als ob die Morgenkälte und das beginnende Zwielicht sie persönlich beleidigen wollten. Und Big Aus trug einen sehr teuren Mantel und grinste breit.

»Es ist kalt und feucht und dunkel und schweinekalt«, beschwerte sich die Seltsame Chloe und warf mir einen Blick zu, als sei ich daran schuld. »Ich hasse es, um diese Uhrzeit aufzustehen. Das ist nicht natürlich.«

»Spar dir deinen Ärger auf, Chloe«, sagte Big Aus und rieb fest die großen Hände gegeneinander. »Bewahr ihn in deinem Herzen auf und halte ihn für den Moment bereit, in dem wir ihn brauchen. Ich will die Federn in alle Richtungen fliegen sehen. Sind wir alle soweit?«

»Warum mussten wir so früh hier sein?«, fragte auch der Tanzende Narr. Seine haarigen Beine zitterten deutlich sichtbar unter seinem Kilt. »Es wird noch Stunden dauern, bis die Touristen da sind.«

»Weil es so viel dramatischer ist!«, antwortete Big Aus und grinste immer noch. »Wenn man das Verbrechen des Jahrhunderts begeht, dann muss man das mit Stil tun! Die Geschichte erwartet das von uns! Große Angelegenheiten erfordern große Gesten. Eines Tages wird man einen Blockbuster darüber drehen. Außerdem sind Geister in der Morgendämmerung immer am schwächsten, weil da die Nacht zum Tag wird. Das weiß doch jeder.«

»Ich wusste das nicht«, antwortete der Tanzende Narr prompt. Er sah zu mir. »Wusstest du das, Shaman?«

»Na klar. Allerdings weiß ich ja auch alles. Unglücklicherweise …«

»Ich wusste, dass du das sagen würdest«, meinte Sargnagel Jobe leise. »Wusstet ihr denn nicht, dass er das sagen würde?«

»Unglücklicherweise ist das hier der Tower von London«, sagte ich. »Und das hier sind keine alltäglichen Geister.« Ich sah Big Aus an. »Große Angelegenheiten? Hollywood? Verbrechen des Jahrhunderts? Was ist so großartig an ein paar Vögeln?«

Bevor irgendjemand irgendetwas darauf sagen konnte, fiel Sargnagel Jobe tot um. Ohne Warnung. Seine Augen rollten in seinen Kopf, er hörte auf zu atmen und brach zusammen. Sein langer Körper faltete sich mit geübter Leichtigkeit, sodass er kaum ein Geräusch machte, als er auf die Steinplatten fiel.

»Arschloch«, sagte die Seltsame Chloe.

»Er hat ein Gefühl für den richtigen Zeitpunkt«, pflichtete der Tanzende Narr ihr bei.

Wir alle versammelten uns um die Leiche und sahen einander an. In den Erste-Hilfe-Statuten steht nichts über derartige Situationen. Ich fragte mich, ob wir ihm auf die Wangen klopfen, seinen Namen rufen oder ihm mit der Faust auf die Brust schlagen sollten. Aber man musste Sargnagel Jobe nur ansehen, um zu wissen, dass er tot war und jenseits solcher Aufmunterungen. Ich habe schon Leute beerdigt, die weniger tot aussahen als er.

Auf einmal holte Sargnagel Jobe hart rasselnd Luft. Seine langen Arme und Beine begannen spasmisch zu zucken und seine Augen sprangen auf. Er setzte sich vorsichtig auf, schüttelte ein paar Mal zimperlich seinen Kopf, als erwarte er, dass es dabei rassele, und stand dann auf. Er lehnte dabei alle Hilfsangebote ab.

»Wow«, sagte er freundlich lächelnd. »Das war geil!«

»Du kriegst einen Kick davon!«, rief die Seltsame Chloe. »Ach bitte, Jobe, das musst du mir beibringen!«

»Es ist nicht das Sterben«, erwiderte er. »Es ist das Auferstehen. Oh ja!« Er bemerkte, dass wir ihn alle beobachteten und lächelte ein wenig verschämt. »Oh. Tut mir leid. Ist echt peinlich.«

»Wirst du das wieder tun?«, fragte Big Aus.

»Höchstwahrscheinlich.«

»Ich meine, während wir das Ding drehen!«

»Oh! Nein, ich denke nicht. Ich glaube, das kommt nur, wenn ich Stress habe. Sind wir jetzt soweit? Ich bin's.«

»Verdammt, ja«, sagte der Tanzende Narr und runzelte unzufrieden die Stirn. »ich fühle mich nackt hier draußen in der Öffentlichkeit. Ich bevorzuge die Arbeit im Dunklen. Ich bin ganz für Dunkelheit und Finsternis.«

»Ich habe noch nie einen Attentäter getroffen, der nicht dafür war«, warf ich ein. »Entspannt euch alle mal. Ihr wart von meinem neuartigen Gerät die ganze Zeit beschützt, seit ihr hier angekommen seid. Niemand kann uns mehr sehen. Die Toten nicht, die Lebenden auch nicht und auch nicht die Verteidigungsanlagen des Towers. Wir sollten einfach durch sie hindurchgehen können.«

»Sollten können?«, fragte die Seltsame Chloe. »Ich glaube wirklich nicht, dass ich mit dieser

Formulierung unter diesen Umständen einverstanden bin. Ich will das von dir erst einmal viel selbstsicherer hören, bevor ich auch nur einen Schritt näher an das Verrätertor herangehe.«

»Man lernt durch die Praxis«, erwiderte ich fröhlich.

»Und wenn du damit falsch liegst?«, fragte der Tanzende Narr.

»Dann hast du die Gelegenheit, mir ein paar Sekunden vor unserem plötzlichen und sehr brutalen Tod zu sagen, dass du es ja gleich gesagt hast.«

»Ich konnte deinen Sinn für Humor noch nie leiden, Shaman«, warf Sargnagel Jobe jetzt ein.

»Das schmerzt mich«, sagte ich. »Jetzt kommt schon, Kinder. Unser Schicksal wartet auf uns. Vielleicht kriegen sie Johnny Depp dazu, mich zu spielen. Die Raben sind alle drin, kuschelig in ihrem Wohnhaus untergebracht. Die Yeomen Warders gehen Patrouille und sind zu diesem Zeitpunkt gerade so weit von hier entfernt wie nur möglich. Jobe: Du gehst uns allen mit wehenden Fahnen voraus. Los. Kannst du die Geister sehen?«

Er sah traurig zum Verrätertor. Seine Augen sahen hinter den dicken Linsen sehr groß aus. Sein Blick glitt langsam über die gewaltige Steinmauer, die sich vor uns auftürmte. Er wollte etwas sagen, doch dann fiel er auf einmal wieder tot um. Der Tanzende Narr fluchte laut. Big Aus ließ einen frustrierten Seufzer hören und die Seltsame Chloe trat Sargnagel Jobe in die Rippen.

»Ich glaub's nicht«, meinte sie. »Er hat's schon wieder getan!«

»Hör auf, einen Toten zu treten, Chloe«, meinte Big Aus. »Ganz mieses Karma, das. Es ist immerhin nicht sein Fehler.«

Die Seltsame Chloe schnüffelte. »Da fühl ich mich doch gleich besser.«

Wir versammelten uns wieder um Sargnagel Jobes Leiche und warteten und warteten, aber er wachte nicht wieder auf. Schließlich knieten wir uns neben ihn und fingen an, ihm auf die Wangen zu klopfen und seinen Namen zu rufen, aber es kam keine Antwort. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, seine offenen Augen starrten ins Nichts. Schließlich sah jeder mich an, weil ich ja immerhin auf alles eine Antwort hatte. Also schob ich äußerst widerwillig meine Sicht voll auf und sah sie. Geister.

Sie waren überall, hunderte von ihnen, Männer und Frauen, selbst Kinder. Sie gingen auf dem Boden und schwebten in der Luft. Sie stolperten und glitten aus dem Verrätertor. Die meisten trugen noch die Erinnerungen an ihre Todeswunden auf den substanzlosen Körpern. Das schreckliche Trauma ihres gewaltsamen Todes hatte sich auf ihre Vorstellung des eigenen Körpers übertragen. Einige bluteten noch aus Wunden, die nie heilen würden, andere trugen die Folternarben von Streckbank, Feuer und dem Henkersrad. Alle waren sie Verräter, die zu einem langen Leiden nach ihrem Tod verurteilt worden waren.

Sie kreischten, heulten und schrien auf; geisterhafte Stimmen von weit weg, voller Wut, Verzweiflung und Schrecken über das, was man ihnen angetan hatte. Einige weinten auch; für immer voller Trauer über ihre Verbrechen und Illoyalität. Sie krochen wie Maden aus einer Wunde aus der hohen Steinmauer und krabbelten wie schimmernde Eidechsen mit dem Kopf zuerst den brüchigen grauen Stein herunter.

Ein halbes Dutzend von ihnen hatte sich Sargnagel Jobes Seele geschnappt und hinderten sie daran, in seinen Körper zurückzukehren. Jobe sah als Geist ganz anders aus: eine schwere, ja muskulöse Gestalt. Der Mann, an den er selbst sich erinnerte, bevor sein Gebrechen ihn heimgesucht hatte. Er kämpfte grimmig gegen die Gespenster an. Seine Seele strahlte hell in der Dämmerung, stärker, als es von Rechts wegen hätte sein sollen. Aber dennoch war er den geisterhaften Verteidigern des Towers von London nicht gewachsen. Sie schienen mehr Monster als Menschen zu sein, denn sie rissen mit Klauenhänden an seiner Seele. Und immer mehr Geister kamen. Sargnagel Jobe sah mich direkt an und schrie um Hilfe. Jetzt sahen die Geister mich auch.

Ein großer Astralschrei erklang, als die Geister alle in meine Richtung blickten und sahen, wie ich sie anstarrte. Die, die mir am nächsten waren, kamen direkt auf mich zu. Sie stießen alte Flüche aus, auch wenn ihre Stimmen nur wie Echos klangen, aus Kehlen, die meilenweit oder auch Jahre entfernt waren. Ihre Augen brannten mit mehr als menschlichem Hass und Elend, ihre schrecklichen Gestalten strahlten Bedrohung aus. Ich hielt ihnen stand, griff in meine Manteltasche und zog eine Waffe heraus, die der Waffenmeister mir für genau eine solche Situation gegeben hatte. Ich nahm das Jade-Amulett heraus und zeigte es den Geistern. Ein weiterer immenser Schrei ging durch sie hinweg. Sie wussten, was das war.

Ich sagte mit lauter, weithin hallender Stimme ein aktivierendes Wort, und die Heiterkeitsbombe explodierte in meiner Hand. Rund 15 Meter vor mir war die Welt auf einmal voll glücklicher Gedanken, guter Absichten und positiver Gefühle. Erzwungene Heiterkeit sättigte die Dämmerung. Ich war natürlich dagegen immun, aber es traf die Gespenster wie ein Hurrikan und warf sie zurück. Sie konnten das Glück nicht aushalten. Sie flohen und kreischten furchtbar dabei. Einige weinten. Selbst die, die Sargnagel Jobe festgehalten hatten, flohen zurück in die Sicherheit des Towers. Er sah mich an, lächelte kurz und fiel dann wieder in seinen Körper. Ich fuhr meine Sicht wieder herunter und warf alle mentalen Barrieren wieder an ihren Platz. Für diesen Morgen hatte ich genug gesehen.

Ich beugte mich über Jobe, als er wieder zu atmen begann, und schaltete ihn mit einem Nervengriff aus. Jetzt würde er für eine gute Stunde oder noch länger schlafen. Ich lächelte in mich hinein. Einer war ausgeschaltet, mehr oder weniger unverletzt. Nur noch drei übrig. Ich schaltete die Heiterkeitsbombe ab und ließ sie wieder in die Manteltasche gleiten.

»Naja, wenigstens atmet er wieder«, sagte der Tanzende Narr ein wenig zweifelnd. »Ich glaube, das ist eine Verbesserung.«

»Was, im Vergleich zu ganz tot?«, sagte die Seltsame Chloe. »Das würde ich auch sagen. Aber so können wir ihn nicht brauchen. Aber ich sollte …«

»Nein, solltest du nicht«, sagte Big Aus schnell. »Die Scheiße aus ihm rauszutreten hilft auch nicht.«

»Mir hilft es.«

»Das habe ich nicht gehört«, sagte Big Aus entschieden.

»Ich sagte, es hilft mir!«

»Können wir uns beim Schreien bitte etwas zurückhalten?«, fragte ich. »Mein Gerät hält uns unsichtbar und unhörbar, aber nur solange ihr es nicht übertreibt. Kein Grund zur Panik, lasst ihn einfach hier. Meine Sicht ist gut genug, um uns reinzubringen.«

Der Tanzende Narr sah mich misstrauisch an. »Und das hast du uns nicht früher gesagt, weil …?«

»Weil wir Sargnagel Jobe hatten«, antwortete ich. »Und ihr wisst, dass ich es nicht mag, meine Geheimnisse preiszugeben, bis es unbedingt sein muss.«

Big Aus sah auf den bewusstlosen Sargnagel Jobe herunter. »Ich bin nicht sicher, ob ich die Idee mag, ihn einfach hier zu lassen.«

»Wir können ihn ja auf dem Rückweg wieder auflesen«, meinte ich. »Und außerdem, was kann ihm schon passieren? Dass ihn jemand umbringt? Ich denke, daran hat er sich mittlerweile gewöhnt. Also, gehen wir jetzt oder nicht?«

»Wir gehen rein«, sagte Big Aus. »Wir geben auf keinen Fall auf. Nicht, wenn wir so nah dran sind. Zeig uns den Weg, Shaman.«

Ich führte sie zum Verrätertor und zeigte ihnen die Steinplatten, die sie nicht betreten durften. Wir mussten das Tor auf eine langsame und indirekte Weise erreichen und dabei die Schutzzauber vermeiden, die unsichtbar in der Luft hingen. Ich ließ die anderen auf einem Bein hüpfen, auf dem Boden kriechen und wieder aufstehen und sogar rückwärts gehen. Meistens zu meinem eigenen Vergnügen, aber hin und wieder, weil wirklich Fallen auf dem Weg lauerten, die wir vermeiden mussten. Sargnagel Jobe wäre nie in der Lage gewesen, uns reinzubringen. Es gab Schutzmechanismen, die sein Gehirn gegrillt hätten, nur wenn er sie ansah, und andere Stellen, bei denen uns nur das richtige Passwort am Leben hielt.

Aber wir kamen wirklich bis zum Verrätertor, und ich führte die anderen durch die gähnende Öffnung, die den einzigen Eingang in die Festung darstellte. Ein Portal in Schrecken, Tod und Schlimmeres als den Tod für viel zu viele Leute. Ich konzentrierte mich auf mein Gesicht, sodass ich nichts sah, was ich nicht wollte, aber auch so hatte ich die ganze Zeit Gänsehaut. Es ist nicht leicht, durch einen Ort zu gehen, von dem man weiß, dass er einen auf hundert verschiedene Arten töten kann, wenn man seine Konzentration auch nur eine Sekunde schleifen lässt.

Ich konnte die Schreie immer noch fühlen, wenn ich sie auch nicht mehr hörte.

Nachdem wir durch das Tor und in den von Mauern umschlossenen und mit Kopfstein gepflasterten Hof getreten waren, war alles ruhig und still. Die Gespenster waren draußen, die Patrouillen der Yeomen Warders konnten uns nicht sehen oder hören. Alles, was jetzt zwischen uns und den Raben stand, war die abgeschlossene Tür des Rabenhauses. Ich erstarrte, als ich Schritte hörte, und deutete den anderen an, stehen zu bleiben und den Mund zu halten. Ein halbes Dutzend Yeomen Warders kamen leise schwatzend aus den Schatten. Ich verfluchte sie im Stillen. Mit den Geistern fertig zu werden hatte länger gedauert als ich dachte, und die Patrouille kam jetzt wieder hier vorbei. Die leuchtend rotgoldenen Uniformen sahen auf wunderliche Weise altmodisch aus, die Männer darin dagegen durchaus hart, kompetent und erfahren. Einer von ihnen trug einen Raben auf der Schulter und fütterte ihn mit Trauben, die sehr nach Augäpfeln aussahen.

»Das ist ein Rabe?«, fragte die Seltsame Chloe leise. »Das ist es? Ich dachte, wir hätten es mit etwas Besonderem zu tun. Nicht einfach nur mit überdimensionalen Krähen!«

»Du solltest deine Ignoranz nicht so zur Schau stellen«, sagte ich entschieden. »Ein Rabe ist der Rolls-Royce in der Familie der Krähen.«

»Bist du sicher, dass sie uns nicht hören können?«, fragte der Tanzende Narr und trat dabei von einem Fuß auf den anderen.

»Laufen sie auf uns zu, schreien schreckliche Flüche und schießen mit ihren riesigen Schießgewehren auf uns?«, fragte ich zurück. »Wenn nicht, dann können sie uns nicht sehen oder hören.«

»Lasst die Wachen das Rabenhaus für uns öffnen«, schlug Big Aus vor. »Und dann bringen wir sie alle um.«

»Die Raben oder die Wachen?«, fragte der Tanzende Narr.

»Nur die Raben«, sagte ich schnell. »Wenn wir hier in der Festung menschliches Blut vergießen, lösen wir jeden einzelnen Alarm aus, den sie haben.«

»Nein«, erklärte Big Aus rundheraus. »Wir töten sie alle, Raben, Männer und jeden anderen, der sich uns in den Weg stellt.«

Ich entschied, dass das jetzt weit genug gegangen war. Ich hätte mich gerne noch um meine Freunde gekümmert, bevor ich Big Aus ausschaltete, aber das Geheimnis eines aktiven Agenten ist es, flexibel zu sein. Also zog ich meinen Tarnzauber zurück in meinen Torques und ließ die anderen plötzlich im Hof erscheinen. Die Yeomen Warders reagierten sofort. Auf einmal hatten sie wie aus dem Nichts wirklich große Waffen in der Hand und riefen uns zu, wir sollten uns ergeben. Der Tanzende Narr neben mir heulte einen uralten schottischen Kampfschrei und griff die Wachen an. Dabei bewegte er sich so schnell, dass ich ihm kaum folgen konnte. Er war im selben Moment neben und zwischen ihnen, aber nie da, wohin ihre Waffen zielten. Mit seinem Déjà Fu konnte er wirklich den Kugeln ausweichen. Ich hatte gesehen, dass er das konnte.

Im Nahkampf hatten die Yeomen Warders keine Chance. Sie konnten trotz ihres eigenen Könnens keine Hand an den Tanzenden Narren legen. Er wusste, was sie tun würden, bevor der Gedanke ihr Gehirn überhaupt erreicht hatte. Er selbst bewegte sich wie der trainierte Tänzer, der er war, jede Bewegung war kalkuliert und graziös, schnell und brutal. Aber die Kampfgeräusche lockten mehr Yeomen Warders an, die jetzt in den Hof rannten und sich drängten, in den Kampf einzugreifen.

Der Tanzende Narr war tatsächlich einer der besten Kämpfer, die ich je gesehen hatte, aber am Ende hatte er keine Chance. Umzingelt und mit den Gegnern in der Überzahl, sah er schließlich nur noch eine Zukunft: eine, in der die Yeomen Warders unvermeidlich die Scheiße aus ihm rausprügelten. Er ging kämpfend zu Boden, aber er ging zu Boden und stand auch nicht wieder auf. Abgekämpft, schwer atmend und mit blauen Flecken übersät, standen die Yeomen Warders um den Bewusstlosen herum.

Die Seltsame Chloe hätte ihn fast gerettet. Sie war wütend geworden und hätte mit einem einzigen Blick, der über die versammelten Wachen gestrichen wäre, alle wie mit einem Maschinengewehr niedermähen können. Aber natürlich konnte ich das nicht erlauben. Also glitt ich schnell hinter sie, als ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Kampf gerichtet war, und schaltete sie mit dem gleichen Nervengriff aus, den ich auch bei Sargnagel Jobe angewandt hatte. Die Seltsame Chloe seufzte einmal, dann ging sie in die Knie. Ich fing sie auf und legte sie vorsichtig auf das Kopfsteinpflaster. Ich wollte nicht, dass sie sich wehtat. Ich straffte mich und war sehr zufrieden mit mir. Alle drei meiner Kollegen waren sicher aus dem Spiel und keiner von ihnen hatte gemerkt, dass ich daran schuld war.

Vielleicht hätte ich den Tanzenden Narr auch noch ausschalten können, bevor er sich mit den Yeomen Warders angelegt hätte, aber ich hatte ihn nie sonderlich gemocht.

Erst dann sah ich mich nach Big Aus um. Das Lächeln gefror auf meinen Lippen, als ich entdeckte, dass ich ihn nicht entdecken konnte. Ich raste zum Rabenhaus hinüber, aber die Tür war immer noch fest verschlossen. Die Raben waren sicher. Aber Big Aus war nicht da. Natürlich war er nicht da, er war nie wirklich an den Raben interessiert gewesen. Alles, was er gesagt und getan hatte, hatte etwas anderes getarnt.

Sein eigenes Jahrhundertverbrechen.

Ich sah mich schnell um und schnappte gerade noch den Schatten einer düsteren Gestalt auf, die unauffällig in einen Durchgang aus Stein schlüpfte, der zum Whitechapel Tower führte. Sofort rannte ich hinter ihm her, denn jetzt wusste ich, was er beabsichtigte. Und ich hatte das möglich gemacht, durch meine Einmischung. Ich hatte uns hierher gebracht, an den Geistern und Fallen vorbei. Ich hatte den Tanzenden Narren den Yeomen Warders überlassen und so ihre Aufmerksamkeit abgelenkt. Aber selbst so - ich konnte mir nicht vorstellen, dass Big Aus glaubte, er käme damit davon.

Ich sprach meine aktivierenden und im nächsten Augenblick glitt die goldene Rüstung, die sich

in meinem Torques verbarg, über meinen gesamten Körper. Für die Yeoman Warders musste es so aussehen, als wäre ich aus dem Nichts erschienen, denn gleichzeitig ließ ich auch den Tarnschirm fallen. Die goldene Statue eines Mannes, glatt und nahtlos. Sie glühte im schattigen Hof, als ich schneller durch den Durchgang raste als menschenmöglich schien.

Wenn ich die Drood-Rüstung trage, bin ich übernatürlich schnell und stark, und es ist beinahe unmöglich, mich zu verletzen. Das ist die große Geheimwaffe der Drood-Familie, dank der wir in der Lage sind, es mit Göttern und Monstern aufzunehmen und ihnen so kräftig in den Arsch zu treten, dass sie sich wieder an ihren Platz erinnern.

Noch mehr menschliche Wachen erschienen vor mir, schrien verwirrte Halte- und Identifikationsbefehle, aber ich war schon an ihnen vorbei, bevor sie irgendwie reagieren konnten. Kampfmagier wedelten mit den Armen und riefen mit schroffer Stimme Zauberworte, aber ihre Magie prallte an meiner goldenen Rüstung ab, ohne Schaden anzurichten. Eine automatische Waffe begann aus einem Fenster über mir zu feuern, aber meine Rüstung absorbierte die Kugeln einfach. Die Wand hinter mir allerdings erhielt ein Muster aus Pockennarben. Ein halbes Dutzend Wachen versammelte sich und sperrte den Eingang zum Whitechapel Tower ab. Sie waren entschlossen, mich fernzuhalten, aber ich hatte keine Zeit anzuhalten und das mit ihnen auszudiskutieren. Sie wussten nicht, dass der australische Fuchs schon im Hühnerhaus war. Also tauchte ich durch sie hindurch, warf sie mit der unmenschlichen Kraft meiner goldenen Rüstung beiseite und hoffte, dass ich sie nicht zu sehr verletzte.

Sie hätten wirklich wissen sollen, dass man einen Drood nicht an der Ausübung seiner Pflicht hinderte.

Ich nahm die Stufen zwei auf einmal, um in die große Kammer oben im Whitechapel Tower zu gelangen, aber als ich dort ankam, war Big Aus bereits in die Juwelenkammer eingedrungen und lächelte glücklich auf die Kronjuwelen hinunter, die hinter den Gitterstäben ausgestellt waren. Er sah sich um, als ich die Kammer betrat, erkannte meine goldene Rüstung und lachte atemlos. Ich stand einfach nur sehr still im Türrahmen und beobachtete ihn durch meine gesichtslose goldene Maske. (Ich hätte Löcher für die Augen entstehen lassen können, aber das tat ich nie. Ich konnte selbst perfekt durch die Maske hindurchsehen und außerdem - eine Gesichtsmaske ohne Züge erschreckt die bösen Jungs zu Tode. Meistens jedenfalls.)

Big Aus winkte großzügig zu mir herüber, ich möge hereinkommen und das tat ich. Meine goldenen Füße klangen laut auf dem nackten Fußboden. Big Aus wich zurück und brachte so die Kronjuwelen zwischen uns. Die Kronen und Diademe, die Diamanten und Rubine, die glorreichen Insignien der vergangenen Jahrhunderte.

Genug Reichtum, um jeden Mann zu einem König zu machen.

Big Aus grinste mich an, seine dunklen Augen waren voller Spott. »Sieh an, Shaman Bond ist also ein Drood. Das habe ich nicht erwartet. Aber es macht keinen Unterschied. Weißt du, ich habe das alles so sorgfältig geplant, dass nicht einmal ein Drood-Agent mich jetzt noch aufhalten kann. Ich habe mein Team so sorgfältig ausgesucht: gierig genug, um sogar dahin zu gehen, wo selbst die Engel sich nicht hinwagen würden, und dumm genug, um diesen Quatsch mit den Raben zu schlucken. Der Tower kann immer andere Raben haben. Ich habe von meinem Plan gerade genug herumerzählt - ich wusste, ich würde damit einen Drood anlocken, der sich getarnt unter mein Team mischen würde. Immerhin war ich derjenige, der deiner Familie erst den anonymen Tipp zugespielt hat. Ich wollte sichergehen, dass ihr dabei seid. Allerdings hatte ich nicht gedacht, dass du es bist, Shaman. Ich will dich nicht beleidigen, aber du bist mir nie als besonders schlau aufgefallen.«

Ich sagte nichts. Ich ging nur um den großen Ausstellungskäfig herum, sodass er weiter vor mir zurückweichen musste.

»Ich brauchte einen Drood, weißt du«, fuhr Big Aus fort. »Ich wusste, ohne die Hilfe eines Droods würde ich nie durch all die Schutzschilde kommen. Ich dachte wirklich, dass der Tanzende Narr der Drood wäre. Er war immerhin ein Kämpfer, und so arrogant und blöde konnte doch niemand in Wirklichkeit sein. Aber wie dem auch sei, du hast deinen Part wunderbar gespielt. Du hast mich an den Schutzzaubern vorbeigebracht, die menschlichen Wachen abgelenkt und mir genug Zeit verschafft, dass ich zu den Kronjuwelen vordringen konnte. Ich bin dir sehr verpflichtet, wirklich.«

»Die Juwelen sind geschützt«, sagte ich. Ich konnte die Selbstgefälligkeit in seiner Stimme nicht mehr ertragen. »Und du bist vielleicht reingekommen, aber du wirst nicht mehr rauskommen.«

»Natürlich werde ich das«, erwiderte Big Aus. »Du kannst mich nicht aufhalten. Ich bin vorbereitet. Sogar auf einen Drood.«

Und plötzlich hatte er einen Zeigeknochen der Aborigines in der Hand, einen Kundela. Einen kleinen, farblosen Menschenknochen, der mit Blut und mörderischer Magie getränkt war. Ein Schamane der Aborigines, der sich damit auskannte, konnte mit so einem Ding auf die Gegenstände zeigen, die er in seiner Welt nicht haben wollte, und sie verschwinden lassen. Big Aus stach mit dem Kundela nach mir. An meinem gerüsteten Arm prallte etwas auf wie eine Kanonenkugel. Der Knall echote durch die Juwelenkammer, als hätte jemand eine große goldene Glocke angeschlagen, aber ich blieb stehen und rührte mich nicht. In meiner wunderbaren Rüstung fühlte ich keinen Einschlag. Ich ging langsam auf Big Aus zu, während er weiter mit dem Kundela in meine Richtung stach. Doch jedes Mal wurde der Einschlag und auch der Klang leiser und weniger heftig.

Big Aus zuckte flink mit den Achseln, stopfte den Knochen wieder in seine Tasche und plapperte etwas in einer fremden Sprache, das ich nicht verstand. Das machte mir ein klitzekleines bisschen Sorgen, weil mein Torques eigentlich jede Sprache hätte übersetzen müssen, die es gab. Zum Mindesten hätte er mich mit wenigstens annähernd richtigen Untertiteln versorgen müssen. Aber diese Worte waren so alt, so fremdartig und altertümlich, dass sie älter waren als die Druiden, aus denen dann die Droods hervorgegangen waren. Big Aus hatte seine Hausaufgaben wirklich gemacht.

Ich war beinahe in Reichweite seines Arms. Ich zeigte ihm eine goldene Faust, mit Spikes auf den Knöcheln. Jetzt grinste er nicht mehr, man konnte seiner Stimme die Anstrengung der uralten Worte anhören. Sein breites Gesicht glänzte vor Schweiß. Er wich jetzt so schnell zurück, dass er beinahe rannte, aber er blieb dicht bei den Kronjuwelen, als weigere er sich, sich von ihnen zu entfernen. Als er die letzten Worte ausspuckte, erschien auf einmal aus dem Nichts eine riesenhafte Schlange und wickelte sich um mich herum.

Sie war unglaublich groß, ihr Körper mindestens so groß wie die Londoner U-Bahn. Die Windungen ihres Leibes überlagerten immateriell die Juwelenkammer, waren aber nichtsdestoweniger real. Langsam zog sich der Körper der Schlange um mich zusammen. Natürlich war die Schlange nicht echt. Das hier war der Geist einer Schlange, ein alter Urgeist in Schlangenform, der mit Worten aus der Traumzeit geholt worden war, die besser unausgesprochen geblieben wären. Ich konnte nicht glauben, dass ein Schamane der Aborigines Big Aus diese Worte freiwillig mitgeteilt hatte, ganz egal, was der wohl versprochen haben mochte. Geister wie diese sollten nie in unsere begrenzte Welt gerufen werden dürfen. Sie haben immer eigene Pläne.

Big Aus intonierte noch mehr Worte, jetzt an die stählernen Gitterstäbe gerichtet, die die Kronjuwelen umgaben. Schutzzauber sprühten Funken, flackerten und gingen aus, und die metallenen Gitterstäbe schmolzen dahin wie heißes Kerzenwachs. Ich konnte alles durch die Windungen des Schlangenkörpers um mich herum sehen, und das gab mir den Rest. Vielleicht handelte es sich hier um einen alten Geist, der zu Fleisch geworden war, vielleicht sogar um einen älteren Gott, den man wieder in die Welt gelassen hatte, aus der man ihn vor langer Zeit vertrieben hatte, aber es war auch nur eine Schlange. Und ich war ein Drood. Durch die goldene Maske konnte ich sehen, dass die Lebenskraft wie ein leuchtender Fluss durch den Schlangenkörper pulsierte. Ich stieß meine gerüstete Hand tief in das unnatürliche Fleisch des Reptils, schloss meine goldene Faust um die Lebenskraft und drückte zu. Die Schlange kreischte einmal auf und verschwand zurück in die Sicherheit der Traumzeit.

Ich war wieder mit Big Aus allein im Tower.

Er sah auf die Kronjuwelen, die jetzt ohne Verteidigung vor ihm lagen. Dann wandte er mir seinen Blick zu. »Du kannst mich nicht aufhalten«, sagte er trotzig. »Ich habe zu lange darauf hingearbeitet. Ich habe Waffen und Geräte genug, um selbst einen Drood zu stoppen. Ich habe auch schon einen Teleport-Zauber vorbereitet, um mich und die Kronjuwelen hier rauszuholen.«

»Vielleicht hast du die Waffen«, sagte ich. »Aber ich kenne die richtigen Worte.«

Und ich sprach die Worte, die mir der Waffenmeister der Familie geschickt hatte. Er hatte sie mit eigener Hand auf nur einmal benutzbares Stück Pergament geschrieben. Worte, die in der Sekunde verschwanden, als ich sie auswendig gelernt hatte, denn sie waren zu gefährlich, als dass jemand sie lesen durfte, der nicht zur Familie gehörte. Alte Worte, mächtige Worte. Ich hatte wirklich gehofft, sie nicht benutzen zu müssen. Denn sie beschworen Dinge, die man am besten ungestört gelassen hätte. Und das erste Gesetz der Magie ist: Rufe nichts, das du nicht leicht wieder loswerden kannst.

Aber was sein muss, muss sein. Ich sprach die Worte aus, und einer nach dem anderen kam: die alten Könige und Königinnen von England. Ihre Geister waren aus freiem Willen an diesen Ruf gebunden, an diesen Ort, um England zu dienen, wenn die Zeit dazu gekommen war. Könige von Æthelstan bis Knut dem Großen, die Heinrichs und Richards, die Königinnen Mary, Elisabeth und sogar die arme Anne Boleyn der Tausend Tage. Sie alle standen aufrecht und stolz mit Kronen und königlichen Roben um Big Aus herum. Er sah von einem mitleidlosen Gesicht zum anderen und murmelte nutzlose Worte der Macht. Und dann kamen sie auf ihn zu. Er schrie auf. Und auf einmal war ich allein in der Juwelenkammer. Die Könige und Königinnen von England waren wieder zu ihrer ewigen Wacht zurückgekehrt. Und in Zukunft würde ein weiterer Geist in alle Ewigkeit den Tower von London bewachen.

Ich ging die steinerne Wendeltreppe hinunter, zurück durch die steinernen Durchgänge und über den offenen Hof hinweg durch das Verrätertor hinaus. Niemand versuchte, mich aufzuhalten oder mir Fragen zu stellen. Wenn ein Agent der Droods die Szenerie verließ, dann war der Ärger vorbei, und das reichte. Draußen in der Auffahrt war die Sonne endlich aufgegangen und der Morgen war da. Es sah aus, als würde es ein guter Tag werden. Für England.

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