Kapitel Zwei Vom Regen in die Traufe

Also, vielleicht sollten Sie wissen, was bisher in unserer Familie geschah.

Meine Familie wurde immer von einer Matriarchin regiert, zuletzt von meiner Großmutter Martha Drood. Aber ich entdeckte, dass die Familie unter ihrer Herrschaft korrupt geworden war und sich gespalten hatte. Meine Großmutter war Teil eines alten und schrecklichen Geheimnisses um das Herz der Droodschen Macht. Also wandte ich mich gegen meine Familie, stürzte Großmutter, zerstörte das schreckliche Herz, dem unsere Macht entsprang, und übernahm die Herrschaft über die Familie selbst. Ich ersetzte das außerirdische Herz durch einen interdimensionalen Reisenden, der aus unerfindlichen Gründen, die nur er selbst kannte, gerne Ethel gerufen werden wollte. Ich tat mein Bestes, um die Art und Weise zu ändern, wie die Familie die Dinge handhabte, und führte zum ersten Mal die Demokratie ein.

Ich organisierte freie und faire Wahlen, damit jeder entscheiden konnte, wer die Familie beherrschen sollte. Sie stimmten mit überwältigender Mehrheit für Martha Drood.

Ich dachte darüber nach, sie zu töten, das Herrenhaus in die Luft zu jagen und die Droods in alle vier Windrichtungen zu verteilen. Oder darüber, ob ich vielleicht beleidigt sein sollte. Doch letztendlich ging es mir am Arsch vorbei. Sie hatten ihre Wahl getroffen, sollten sie doch damit leben. Ich hatte die Null-­Toleranz-Fraktion in der Familie auffliegen lassen, die bösartige Vereinigung des Manifesten Schicksals außerhalb der Familie zerstört und die Menschheit vor der Invasion der Hungrigen Götter gerettet. Und ich hatte einfach nicht mehr die Kraft, noch einen Krieg zu führen.

Außerdem hatte Martha Erfahrung und sie war nachgiebiger geworden. Das Herz war weg, und deshalb ließ ich sie einfach weitermachen. Ich ging wieder dazu über, ein Agent zu sein, ohne weitere drängende Verpflichtungen, Verantwortlichkeiten oder Entscheidungen. Und das war eigentlich genau das, was ich immer gewollt hatte.

Ich war immer noch Teil des Ratszirkels der Matriarchin. Dem Rat war sie rein technisch Rechenschaft schuldig. Darauf bestand die Familie. Allerbesten Dank, Familie! Wenn Großmutter wieder die Seiten wechselte, konnte ich sie allerdings immer noch alle töten, das Herrenhaus in die Luft jagen, die Familie in alle vier Windrichtungen verteilen und so weiter.

Der Ratszirkel bestand aus mir selbst, meinem Onkel Jack, dem Waffenmeister, meinem Cousin Harry und William, dem Bibliothekar. Meine Freundin, die Wilde Hexe der Wälder Molly Metcalf, gehörte allerdings nicht mehr dazu, obwohl sie dem vorigen Rat während des Krieges gegen die Hungrigen Götter ehrenhaft gedient hatte. Letztendlich hatten die Droods sie nicht als Autorität über sich akzeptiert, sie gehörte ja nicht zur Familie. Das wäre natürlich anders gewesen, hätte sie mich geheiratet. Aber Molly ist ein Freigeist und gehört nicht zu den Frauen, die geheiratet werden wollen. Also hatte sie das Herrenhaus verlassen und war wieder in ihren eigenen Wald zurückgekehrt. Ich hätte mit ihr gehen können. Ich wollte es sogar. Aber ich hatte Pflichten meiner Familie und der Welt gegenüber, und nach allem, was passiert war, glaubte ich fester denn je an die Wichtigkeit und Notwendigkeit dessen, was ich tue.

Molly versteht mich. Sie war im Herrenhaus sowieso nie glücklich.

Ich habe mein eigenes Zimmer im Herrenhaus, mit einer schönen Aussicht, und ich habe auch einen nützlichen kleinen Gegenstand, den man Merlins Spiegel nennt. Er erlaubt es mir, immer sofort dahin zu gehen, wo ich gebraucht werde. Es ist auch ein direktes Portal in Mollys wilde Wälder. Ich verbringe so viel Zeit dort, wie ich nur kann. Entfernung, Familie und Pflicht reichen nicht aus, um uns voneinander zu trennen.

Molly und ich, wir lieben uns. In einer sich ständig ändernden Welt ist das die eine Sicherheit, auf die ich mich verlassen kann.

Ich arbeitete am liebsten allein, als aktiver Agent, einzig dem Job und der Mission verpflichtet. Und die ganze Zeit hatte ich die Familie führen müssen. Ich konnte es kaum abwarten, das alles hinter mir zu lassen und wieder in meinen alten Job zurückzukehren. Die Ereignisse hatten das bewiesen. Aber man sollte immer aufpassen, wenn einem das Schicksal gibt, was man sich wünscht.

Es bedeutet nämlich, dass etwas wirklich Schlimmes auf einen wartet.


Wie auch immer. Die Familie berief mich nach der Affäre mit dem Tower aus London ab. Komm heim, sagten sie. Du wirst gebraucht. Sehr dringend, streng geheim, schwing deinen Arsch sofort hierher. Aber benutz nicht Merlins Spiegel. »Sehr dringend und streng geheim« heißt, dass das Kind schon in den Brunnen gefallen und bereits dabei ist zu ertrinken. Dass ich den Spiegel nicht benutzen sollte, bedeutete, dass jemand ihn überwachte. Ich holte mein neues Auto aus der Garage und fuhr los, in südwestlicher Richtung aufs Land. Es war angenehm, auf der Autobahn dahin zu fahren und dann in die winzigen Landstraßen und gewundenen Feldwege einzubiegen, die zu dem Haus führen, das Sie auf keiner Karte finden können.

Das Herrenhaus ist seit Generationen das Heim der Droods, und wir nehmen unsere Privatsphäre sehr ernst. Niemand, der nach uns sucht, wird uns finden. Oder falls er es aus irgendeinem unglücklichen Versehen doch tut, wird niemand ihn je wiedersehen.

Wir beschützen Sie vielleicht vor all den Monstern in der Dunkelheit, aber wir wollen in Ruhe gelassen werden. Wir sind vielleicht Ihre Leibwächter, aber nicht Ihre Mutter.

Mein neues Auto, ein Rover 25, war ausgesucht anonym und alltäglich. Es war knallrot, so rot, dass es ROT!! war. Jedes Mal, wenn ich darüber nachdachte, erinnerte ich mich unwillkürlich an das alte Sprichwort, dass ein Auto nichts weiter ist als eine Penisverlängerung. Ich bin durchaus versucht, die Motorhaube dunkelrot zu pinseln und ein paar Venen an die Kotflügel zu modellieren. Muss ich Ihnen wirklich noch sagen, dass ich dieses Auto nicht ausgesucht habe?

Trotzdem, es war komplett mit all den üblichen Extras ausgestattet, die mein Onkel Jack freundlicherweise so zur Verfügung stellt. Es war bewaffnet und gepanzert; schneller als ein geölter Blitz brachte dieser Rover 25 fast 500 Kilometer in der Stunde im Rückwärtsgang, konnte mit doppelter Schallgeschwindigkeit fliegen und im Notfall sogar seitwärts fahren. Der Waffenmeister wollte unbedingt, dass ich das mal ausprobierte, aber ich sah ihm nicht in die Augen, wenn er danach fragte. Er ist immer noch sauer auf mich, weil ich seinen heißgeliebten Renn-Bentley zu Schrott gefahren habe. Der Rover 25 verfügte über all die verstecken Waffen, Schutzmechanismen und ekligen kleinen Überraschungen für die Gottlosen, plus eines Schleudersitzes, der unerwünschte Mitfahrer drei Dimensionen weit weg katapultierte.

Das Tor zu dem immensen Grundstück, das das Herrenhaus umgibt, ist nur da, wenn Sie ein Drood sind, für den Rest der Welt ist es eine sehr solide Mauer. Ich fuhr mit dem Rover gegen die Wand und trat aufs Gas. Das Auto segelte hindurch, das uralte Mauerwerk glitt über mein Gesicht wie Spinnweben. Dann fuhr ich die altbekannte Auffahrt hinauf, die durch den Park zum Herrenhaus führt. Und zu allem anderen, das noch auf mich wartete.

Die weitläufigen grünen Rasenflächen dehnten sich in alle Richtungen aus, so weit das Auge sehen konnte. Sie wurden gepflegt von Rasensprengern, die Weihwasser enthielten, für alle Fälle. Meine Familie hat eine Menge Feinde, aber jeder, der uns bis in unser Territorium verfolgt, verdient alles Widerwärtige, das ihm passiert. Automatische Maschinengewehre glitten aus ihren versteckten Bunkern im Gras, um den Rover 25 zu verfolgen. Aber das nahm ich nicht persönlich. Ich wurde auf dem Weg zum Herrenhaus von hundert unsichtbaren Alarmanlagen taxiert und identifiziert. Wir Droods haben uns nicht all die Jahrhunderte erfolgreich an der Macht halten können, indem wir irgendetwas als sicher annahmen.

Geflügelte Einhörner tollten graziös am klaren blauen Himmel über mir, so schneeweiß, dass sie leuchtende Spuren hinter sich herzogen. Auf dem dunklen und glatten See zogen aristokratisch aussehende Schwäne sorglos ihre Bahn. Es gibt auch Nixen in diesem See, aber sie bleiben gern unter sich. Zwei wirklich hässliche Greifen machten sich begeistert und in eindeutiger Weise an einer Henry-­Moore-Skulptur zu schaffen und bekleckerten sie dabei mit Dreck und Schlamm. Ich kümmerte mich nicht darum. Ich hatte diese Skulptur sowieso nie gemocht, ein ekliges großes Ding. Und die Rosen waren wieder aufgeblüht; rot, weiß und blau.

Das Herrenhaus stand groß, breit und wuchtig am Horizont, man sah ihm das Gewicht der Geschichte, die Last der Verpflichtungen und der Heiligen Sache an. Ein großes Herrenhaus im Tudor-Stil, mit vier großen Flügeln, die man etwas später angebaut hatte, und noch ein paar Sachen mehr. Fremdartige Lichter brannten in vielen Fenstern, zweifellos begleitet von den üblichen komischen Geräuschen und ab und an vom Rumpeln einer Explosion. Wir sind eine lebhafte Familie.

Am alten Heckenlabyrinth fuhr ich in weitem Bogen vorbei und warf einen argwöhnischen Blick darauf. Es ist etwa so groß wie ein halbes Fußballfeld und ist furchtbar kompliziert; wir benutzen es nie. Das Labyrinth ist in Georgianischer Zeit entworfen und gebaut worden, um etwas ganz Bestimmtes darin aufzubewahren, aber keiner weiß mehr, was es ist und warum wir das getan haben. Wenn ein Zuhause so viele Wunder und Geheimnisse beinhaltet wie unseres, dann fallen eben ein paar Sachen durchs Raster. Manchmal buchstäblich. Ab und an schicken wir jemanden ins Labyrinth, den wir nicht sonderlich mögen; einfach nur, um zu sehen, was passiert. Bisher kam keiner von denen wieder heraus.

Ein raketengetriebener Gyrocopter schoss von einer der Landeplattformen auf dem Dach hoch und zog einen langen Kondensstreifen hinter sich her. Dafür setzte jemand anderes in einem Jetpack zur Landung an. Und nein, falls Sie sich das fragen: Wir benutzen seit Jahrhunderten in dieser Familie keine Besen mehr. Die Droods leben sehr aktiv in der Gegenwart und nicht in der Vergangenheit.

Ich bremste den Rover 25 so plötzlich genau vor der Eingangstür, dass der Kies flog, denn ich wusste, dass ich das nicht sollte. Ich stieg aus und sah über den alten Vorplatz hinweg. Es hatte sich in den letzten sechs Monaten, seit ich fort gewesen war, nichts geändert, aber das war beim Drood-Heim auch beabsichtigt: Es änderte sich nie. Wie die Familie war es dauerhaft, manchmal sogar trotz allem, was die Welt dagegenhielt. Die Autotür verschloss sich hinter mir von allein und ich hörte, wie die Verteidigungen einrasteten. Viel Glück jedem, der versuchen wollte, es vom Platz zu bewegen. Mein Auto hatte ein paar Schutzmechanismen, von denen nicht einmal die Familie etwas wusste.

Ich liebe es, meine Familie auf Trab zu halten; es hindert sie daran, mich als selbstverständlich hinzunehmen.

Ich ging in Richtung des Haupteingangs und die Tür öffnete sich sofort vor mir. Dahinter erschien das kalte, grimmige Gesicht des neuen Seneschalls. Der alte Seneschall war im Krieg gegen die Hungrigen Götter einen glorreichen Tod gestorben. Der Neue hatte einfach nicht die brutale und verächtliche Leichtigkeit seines Vorgängers oder die Mühelosigkeit, mit der dieser immer eine Atmosphäre von Bedrohung und unmittelbar bevorstehender Gewalt zur Schau getragen hatte. Allerdings versuchte er es. Der neue Seneschall war vierschrötig, hatte breite Schultern und war muskulös. In seiner tadellos formellen Butler-Uniform sah er ganz wie ein Disco-Türsteher auf einer Beerdigung aus. Sein düsteres Gesicht war pockennarbig und noch nie von einem Lächeln aufgeheitert worden. Das war nicht weiter überraschend, wenn man die Wichtigkeit seiner Verpflichtungen bedachte. Er war nicht nur der Erste, der das Herrenhaus zu verteidigen hatte, sondern er war auch für die Disziplin innerhalb der Familie verantwortlich. Ein guter Seneschall wird respektiert, vielleicht sogar gefürchtet, aber nie gemocht. Vielleicht ist das ein Teil der Anforderungen, die der Job stellt: Du sollst bei deinen Nächsten nicht beliebt sein. Der Seneschall hält die Familiendisziplin aufrecht, indem er jedes Gesetz mit offener Brutalität durchsetzt.

Auch bei den Kindern spart er nicht mit dem Rohrstock.

Der neue Seneschall trug - wenn auch nicht mehr öffentlich - den Namen Cedric. Da ist etwas an bestimmten Namen, das dafür sorgt, dass die, die damit geschlagen sind, ihre ganze Kindheit hindurch gemobbt und gehänselt werden. Manchmal denke ich, das machen die Eltern mit Absicht, damit ihr kostbarer Nachwuchs auch ganz bestimmt abgehärtet wird. Mit einem Namen wie Cedric war er wohl dazu bestimmt, eines Tages Seneschall zu werden. Entweder das oder Serienkiller.

Er stand fest im Türrahmen und mir absichtlich im Weg. Finster starrte er mich an und hatte die Arme vor seiner beeindruckenden Brust verschränkt. Ich sah ihn nachdenklich an und versuchte, ihn einzuschätzen. Als ich die Familie geführt hatte, war ich von der Familiendisziplin ausgenommen, aber jetzt war ich ja wieder nur ein einfacher Agent. Was mich betraf, war ich allerdings immer noch eine Ausnahme. Ich hatte schon immer Probleme mit Autoritäten gehabt; auch als ich selbst eine war. Ich glaube fest an Regeln und Disziplin innerhalb der Familie, solange sie nicht auf mich zutreffen. Ich war versucht, den Seneschall mit der Heiterkeitsbombe zu bewerfen, die ich noch hatte - einfach um zu sehen, was dann passierte. Mir gefiel der Gedanke, Cedric nackt auf dem Rasen sitzen zu sehen, wie er die Greifen umarmte und ihnen Schlager vorsang. Aber - ich hatte mir selbst versprochen, brav zu sein. Jedenfalls solange, bis ich herausgefunden hatte, was denn so wichtig war, mich derart dringend zurückzubeordern.

Und wie tief ich in der Scheiße steckte.

»Hallo, Cedric«, sagte ich. »Wie läuft's denn so?«

»Weg mit dem Auto«, erwiderte er. Seine Stimme war nur wenig mehr als ein Flüstern und wirkte umso bedrohlicher. Sein kalter, starrender Blick hätte einen Mann mit weniger Haltung in Tränen ausbrechen lassen.

»Mach's doch selbst«, erwiderte ich fröhlich. »Wirklich, ich würde zu gern sehen, wie du das machst. Jeder, der versucht, dieses Auto gegen seinen Willen vom Fleck zu bewegen, lieber Seneschall, wird sich beinahe sicher in kleinen Einzelteilen wiederfinden, die über eine weite Fläche über dem Rasen draußen niederregnen.«

»Vor dem Herrenhaus zu parken ist gegen die Regeln«, sagte der Seneschall. Er hatte wirklich einen beeindruckenden Blick drauf. Wahrscheinlich hätte er bei jedem anderen sogar gewirkt.

»Das bin ich auch«, antwortete ich. »Und jetzt schieb deinen unglaublich großen Hintern aus meinem Weg, sonst petze ich der Matriarchin, dass du gemein zu mir warst. Ich bin hier, um mich mit ihr und dem Rat zu treffen.«

»Weiß ich. Und du bist zu spät«, sagte der Seneschall. Er beugte seine massige Gestalt leicht über mich. »Mich interessiert nicht, wer du bist oder was du getan hast. Versuch nicht, den Molli mit mir zu machen, oder ich sorge dafür, dass du gar nicht mehr kommst. Dann bist du nämlich der verstorbene und nicht mehr der verspätete Eddie Drood!«

»Siehst du, und schon hast du's wieder verdorben«, meinte ich. »Niemals so übel kalauern, Cedric.«

Sein Ausdruck änderte sich nicht, aber er trat zurück, damit ich an ihm vorbeikonnte. Ich tat es mit der Nase in der Luft. Hinein ins Herrenhaus, das auch mein Heim war, ob ich das nun wollte oder nicht. Zurück in den kalten Schoß und die gefährlichen Intrigen meiner geliebten Familie.


Ich ging ohne Eile durch die langen Korridore und Gänge. Die großen offenen Salons und Galerien waren mit den Beutestücken der Vergangenheit vollgestellt. Dem Sieger gehört die Beute, und wir wurden mit Beute verwöhnt. Das Herrenhaus ist vollgestopft mit angesammelten Schätzen, einschließlich Meisterwerken der Kunst und berühmten Statuen von unsterblichen Künstlern. Geschenke von dankbaren Regierungen und anderen. Oder vielleicht nur ein Tribut an die heimlichen Herren der Welt. Genauso zur Schau gestellt waren die Rüstungen und Waffen aus vergangenen Jahrhunderten und die nicht wenigen aus der Zukunft; alle mit ihren eigenen Geschichten und Legenden, alle schimmernd und glänzend und bereit für die Nutzung. Es gab wunderbare Teppiche und üppige Draperien. Über allem fielen lange Sonnenstrahlen durch die großen, bleiverglasten Fenster. Die Zeit schien stillzustehen.

Die anderen warteten in einer Halle auf mich, die gewöhnlich das Sanktum genannt wurde; eine große höhlenartige Kammer, die einmal das Herz beherbergt hatte, das der Familie die Rüstung und damit ihre Macht gegeben hatte. Ein einziger massiver Diamant, so groß wie ein Bus, mit Millionen brillierender Facetten, stellte sich das Herz als ein Flüchtling aus einer anderen Dimension heraus. Es ernährte sich von Schrecken, Tod und Schmerz, bis ich es zerstörte. Jetzt war das Sanktum leer, und die Rüstung der Familie und ihre Macht kommen von einer anderen außerdimensionalen Kreatur mit wesentlich freundlicherer Gesinnung. Sie besteht darauf, Ethel genannt zu werden, obwohl ich Gott weiß wie sehr versucht habe, ihr das auszureden. Ethel manifestiert sich im Sanktum als ein beruhigend rot leuchtendes Licht, das die ganze Kammer mit fröhlicher Laune und Rosenduft durchtränkt.

Der Innere Zirkel wartete ungeduldig an einem alten Eichentisch in der Mitte der Kammer. Er hätte in so einer Umgebung klein, ja sogar unwichtig ausgesehen, wenn da nicht die Gestalten gewesen wären, die um ihn herum Platz genommen hatten. Ich schlenderte hocherhobenen Hauptes durch die Kammer und behielt meine demonstrative Gelassenheit unter ihrem anklagenden Blick bei. Meine Schritte klangen laut in der Stille. Ich setzte mich und lächelte die anderen freundlich an.

»Also, was gibt's denn so Dringendes?«

Sie lachten nicht. Nicht der ganze Zirkel war anwesend, nur die Matriarchin und der Waffenmeister. Martha Drood saß mit steifem Rücken in ihrem Stuhl; groß, elegant und königlicher als eine Königin. Sie war einst eine gefeierte Schönheit gewesen, und man konnte die Macht dieser Schönheit immer noch in ihrem ausgeprägten Knochenbau sehen. Sie trug ein Twinset aus Tweed im Landhausstil und ihre Perlen. Ihr langes, graues Haar war in altmodischer Weise zu einem Knoten gesteckt. Sie war meine Großmutter, auch wenn ihr das bei dem, was sie hatte tun müssen, nie im Weg gestanden hatte. Sie hatte versucht, mich umzubringen, aber das hatten wir bereinigt - beinahe. Sie musste jetzt Anfang Siebzig sein, aber kein bisschen Schwäche war ihr anzumerken. Sie sah mich mit ruhigen, grauen Augen abschätzend an und wartete ab, bis ich ihr meine Reverenz erwiesen hätte, also nickte ich absichtlich fröhlich dem Waffenmeister zu.

Ein glatzköpfiger Mann in mittleren Jahren, mit dichten weißen Augenbrauen und einem ständigen Schmollen im Gesicht. Onkel Jack sah immer, wenn man ihn aus seiner geliebten Waffenmeisterei fortrief, mürrisch aus und so, als fühle er sich ausgenutzt. Er war teuflisch talentiert, wenn es darum ging, gefährliche und hinterhältige Gerätschaften zu erfinden, aber er hatte keine Lust mehr, soziale Kompetenz zu zeigen. Er war zu seiner Zeit ein großartiger Agent gewesen, aber jetzt verließ er die Waffenmeisterei kaum noch.

Ich bevorzuge Gegenstände und keine Personen, hatte er mir einmal gesagt. Gegenstände kann man reparieren, wenn sie nicht funktionieren.

Der Laborkittel, der um seine spindeldürre Gestalt schlotterte, war vermutlich einmal weiß gewesen, aber war jetzt von Rissen, chemischen Flecken, Brandstellen übersät und trug sogar an einigen Stellen die Blutflecken eines anderen. Sowie etwas, das vielleicht Senf war. Unter dem Laborkittel trug der Waffenmeister ein schmuddeliges T-Shirt mit der Aufschrift: Massenzerstörungswaffen aller Art - nur bei uns. Er hatte die großen, knochigen Hände eines Maschinisten und freundliche Augen.

»Hallo, hallo, hallo!«, sagte Ethel, und ihre Worte schienen von allen Seiten zu kommen. »Willkommen zu Hause, Eddie! Es ist so schön, dass du wieder mal hier bist; jeder andere hier ist so mürrisch! Diese Spießer haben alle keine Ahnung davon wie man Spaß hat. Im Herrenhaus ist einfach viel mehr los, wenn du da bist. Wie war es in London? Wie war es im Tower? Hast du mir ein Geschenk mitgebracht?«

»Ich weiß nie, was ich dir mitbringen soll«, antwortete ich. »Es ist schwierig, dir etwas zu kaufen, aber das trifft wohl auf die meisten nicht materiellen, andersdimensionalen Entitäten zu.« Ich ignorierte Ethels Kichern und sah die Matriarchin an. »Wo ist denn der Rest des Zirkels? Warten wir auf sie?«

»Nein«, sagte Martha. Ihre Stimme klang ruhig und war völlig ohne Wärme. »Fürs Erste sind wir der Zirkel. Dein Cousin Harry ist draußen mit Roger Morgenstern, seinem Partner, unterwegs. Er versucht, ein paar dubiose Pariser Nachtclubs auf der Suche nach dem berüchtigten Fantom zu infiltrieren. Ich kann nicht fassen, dass dieser Verrückte schon wieder ausgebrochen ist, kaum dass wir ihn eingefangen hatten. Wenn die französischen Behörden kein Gefängnis bauen können, dass stark genug ist, um ihren berüchtigsten und gefährlichsten Kriminellen einzusperren, muss ich unserem Waffenmeister befehlen, ihnen eines zu bauen. Und der Preis dafür dürfte ihnen nicht gefallen.«

»Ich dachte, wir hätten Fantom erst letztes Jahr eingesackt«, meinte der Waffenmeister und runzelte die Stirn.

»Haben wir auch. Er ist wieder ausgebrochen. Harry und Roger kommen wieder, sobald sie können.«

»Und William?«, fragte ich.

»Der Bibliothekar ist schwer beschäftigt, in der Bibliothek«, sagte der Waffenmeister. »Er verlässt diesen Ort ja kaum. Hat sich eine Pritsche aufstellen lassen, eine chemische Toilette und lässt sich die Mahlzeiten bringen.«

»Normalerweise würde ich ein solches Benehmen nicht dulden«, sagte die Matriarchin. »Aber wir brauchen ihn.«

»Es ist nicht gesund«, erwiderte der Waffenmeister bestimmt. »Ich meine, ich liebe meine Waffenmeisterei, aber am Ende des Tages schließe ich die Tür hinter mir und gehe nach Hause.«

»William macht gute und wichtige Arbeit«, sagte die Matriarchin. »Und das ist es, worauf es ankommt.«

»Für uns«, meinte der Waffenmeister. »Aber was ist mit ihm?«

»Sei still, Jack.«

»Ja, Mutter.«

Ich nickte düster. »Ich habe gehofft, sein Zustand würde sich bessern, nachdem ich ihn aus diesem Sanatorium für kriminelle Verrückte rausgeholt und nach Hause gebracht hatte. Aber das Herz hat wirklich etwas mit seinem Kopf gemacht. Gib ihm Zeit, er wird schon wieder. Er ist ein zäher alter Kerl.«

»Natürlich«, sagte Martha. »Er ist ein Drood.«

»Und wenn wir verrückt sind, sind wir am gefährlichsten«, meinte der Waffenmeister und wackelte mit seinen buschigen Augenbrauen.

»Jack …!«

»Tut mir leid, Mutter.«

»Also,«, meinte ich nachdenklich. »Nur wir drei. Wie gemütlich.«

»Vier«, meinte das rubinrote Glühen vorwurfsvoll.

»Tut mir leid, Ethel«, sagte ich. »Vier. Also. Was ist denn nun so dringend, dass ich den ganzen Weg hierherkommen musste, und das ganz ohne Vorwarnung? Und warum musste ich fahren? Warum konnte ich nicht einfach direkt durch Merlins Spiegel gehen wie sonst?«

»Wir können das Risiko nicht eingehen, dass etwas davon nach außen dringt«, sagte die Matriarchin fest. »Ich habe Merlins Spiegel nie wirklich getraut. Ich meine, man muss bedenken, von wem er geschaffen wurde. Hast du ihn mitgebracht?«

»Natürlich«, sagte ich. »Er ist sicher im Kofferraum meines Wagens eingesperrt.«

»Gut«, meinte der Waffenmeister. »Das heißt, keiner kann ihn zum Lauschen verwenden.«

»Ich sehe, die Familienparanoia feiert fröhliche Urständ«, meinte ich dazu. »Also. Entweder nennt ihr mir jetzt einen richtig guten Grund, warum ich hier bin, oder ich fahre mein hübsches kleines Auto in die bequeme Londoner Zivilisation. Ich bin für die Familie nicht mehr verantwortlich und nur ein Mitglied des Zirkels, wenn es notwendig wird. Ich bin wieder ein Feldagent und bin es gern. Gerade erst habe ich die Kronjuwelen davor gerettet, gestohlen zu werden, und ganz England vor einer schrecklichen Katastrophe bewahrt. Ich habe mir ein wenig Urlaub verdient.«

Man muss es der Matriarchin zugute halten: Sie blinzelte bei meiner Tirade nicht einmal, auch wenn keiner in der Familie außer mir es gewagt hätte, so mit ihr zu reden. »Bist du fertig?«, fragte sie ruhig.

»Raus damit, oder ich mache euch Feuer unterm Hintern«, antwortete ich.

Sie lächelte dünn. »Also leite ich diese Familie nur, weil es dir so gefällt, Edwin? Das denke ich nicht. Du hast das Ergebnis der Wahl akzeptiert. Du bist für mich zurückgetreten. Du hast die absolute Macht und Verantwortung abgegeben und dafür deine … Unabhängigkeit verloren. Du hast dich damit einverstanden erklärt, meine Autorität als Matriarchin zu akzeptieren, oder versuchst du jetzt wieder, sie an dich zu reißen? Wieder einmal?«

»Das kommt darauf an«, sagte ich finster. »Warum bin ich hier?«

»Zuerst müssen wir ein paar dringende Ratssachen erledigen«, sagte die Matriarchin. Sie ließ sich den Triumph in ihrer Stimme kaum anmerken. Ich hätte heulen können. Sie würde das auf ihre Art erledigen und alles, was ich tun konnte, war mitzumachen. Weil sie jetzt das Sagen hatte und weil sie mich tatsächlich nicht zurückgeholt hätte, wenn es nicht wirklich wichtig gewesen wäre. Sie wollte mich nicht wieder hier haben, wo ich ihre Autorität untergraben und ein schlechtes Beispiel geben konnte. Genauso wenig wie ich das wollte.

Die Matriarchin nickte dem Waffenmeister zu. Er straffte sich und begann mit einer vorbereiteten Rede. »Der Krieg gegen die Hungrigen Götter hat einige Fragen aufgeworfen.« Seine Miene sah düsterer aus als sonst. »Wir haben nie herausgefunden, wer der Verräter in unserer Familie war; der Vollidiot, der zuerst die Abscheulichen in unsere Realität holte und eine Tür für die Vielwinkligen öffnete, die man auch die Hungrigen Götter nennt. Wir sind sicher, es war kein Zufall. Der Verräter bestand darauf, die Abscheulichen als Waffe während des Zweiten Weltkrieges zu benutzen, obwohl es viele andere und viel sicherere Optionen gab. Warum also hat er das getan?«

»Es gibt Hinweise darauf, dass der Verräter immer noch lebt und Teil der Familie ist«, meinte die Matriarchin. Ihre Stimme klang jetzt sehr kalt. »Er müsste jetzt über hundert Jahre alt sein und sein Leben auf unnatürliche Weise verlängert haben. Es scheint, als hätte er andere Mitglieder der Familie getötet und ihre Identität übernommen.«

»Wie kann das denn sein?« Ich war wirklich schockiert. »Wir sind doch hier alle zusammengepfercht. Wie kann man so etwas tun, ohne dass jemand es bemerkt? Das ist einer der Gründe, weshalb ich so froh war, als ich hier raus konnte, wo wir alle so dicht aufeinander hocken.«

»Wir haben keine Beweise, keine harten Fakten, nicht einmal eine echte Theorie«, meinte der Waffenmeister grimmig. »Nichts Bestimmtes, nur Gerüchte hinter vorgehaltener Hand. Aber wer auch immer er ist, er macht immer noch Ärger. Wir sind ziemlich sicher, dass er die Nulltoleranz-Fraktion in der Familie gegründet hat, ebenso wie er auch das Manifeste Schicksal initiiert und manipuliert hat. Diese Fraktion hat immer noch Anhänger in der Familie und die sagen, dass wir aktiver gegen all unsere Feinde vorgehen sollten. Sieh mich nicht so an, Eddie. Ich glaube solchen Unsinn natürlich nicht, aber das ist es eben, was ein paar andere sagen.«

»Narren«, meinte die Matriarchin. »Wir beschützen die Menschheit, indem wir unsere Feinde aus dem Gleichgewicht bringen und sie gegeneinander ausspielen. Wir halten an den alten Methoden fest, weil sie funktionieren und über Jahrhunderte funktioniert haben.«

»Trotzdem«, sagte ich und konzentrierte mich. »Ein Verräter, sehr alt und mächtig, mitten im Herzen der Familie. Als ob wir nicht schon genug Probleme hätten. Gibt es nicht noch ein paar Tanten und Onkel, die in den Dreißigern und Vierzigern aktiv waren? Vielleicht können die uns ja helfen.«

»Sieh nicht mich an«, sagte Martha. »Ich war damals nur ein Kind. William sieht derzeit die Familienaufzeichnungen nach Lücken oder unnormalen Vorkommnissen durch.«

»Droods leben in der Regel nicht lange«, meinte der Waffenmeister. »Wir haben ein schweres Leben, große Verantwortung und brennen früh aus. Deshalb habe ich über etwas Neues nachgedacht: eine ganz neue Art, wie man die kürzlich Verstorbenen herbeirufen und ihnen Fragen stellen kann.«

»Nein, Waffenmeister«, sagte die Matriarchin sehr entschieden.

»Ja, gut, mein letzter Versuch verlief ziemlich katastrophal, aber das jetzt würde funktionieren! Ich bin fast sicher, dass wir verstorbene Droods aus den Dreißigern erreichen könnten -«

»Ich sagte nein, Jack!« Die Matriarchin sah ihn böse an, bis er in rebellisches Schweigen verfiel. »Es ist gegen die Familienpolitik, Geister zu ermutigen, sonst säßen wir schon knietief in Wiedergängern. Wir wissen sehr gut, dass man selbst den Liebsten, die gestorben sind, nicht trauen kann. Die Toten haben immer eigene Pläne.«

»Es gibt immer ein paar Manifestationen im Herrenhaus«, meinte der Waffenmeister beleidigt. »Warum versuchen wir's nicht mit denen? Ich meine, Jacob ist vielleicht weg, aber die kopflose Nonne in der alten Galerie …«

»Ich wünsch dir viel Glück dabei, Antworten aus ihr rauszubekommen«, murmelte ich.

»Na schön, was ist mit -«

»Die Toten bleiben außen vor!«, rief Martha laut. »Weitermachen. Wir wissen immer noch nicht, wer Sebastian getötet hat. Oder zumindest das, was noch von ihm übrig war, nachdem er von einem Abscheulichen infiziert und besessen wurde. Er starb in einer unserer sichersten Arrestzellen, in einem Isolationstank.« Sie warf dem Waffenmeister einen strengen Blick zu und er begann, sich nervös zu winden. »Mir wurde vermittelt, dass diese Tanks vollkommen einbruchs- und ausbruchssicher seien!«

»Das sind sie auch!«, rief der Waffenmeister. »Ich habe sie selbst entworfen. Sei fair - er ist nicht entkommen, oder? Wer auch immer Sebastian umgebracht hat, ist durch all unsere Sicherheitssysteme, die Überwachungsanlagen - seien sie nun magisch oder wissenschaftlich - gekommen, ohne einen Alarm auszulösen. Anscheinend war es ihm möglich, Sebastian umzubringen, ohne selbst den Tank zu betreten. Meine Leute haben das ganze Areal mit allen Methoden untersucht, die wir haben, einschließlich einiger, die ich speziell entwickelte. Wir haben nichts gefunden. Natürlich, wenn dir mein Bestes nicht gut genug ist …«

»Ach, schmoll nicht, Jack. Einem Mann in deinem Alter steht das nicht. Und setz dich gerade hin, du lümmelst schon wieder herum.«

»Ja, Mutter.«

»Edwin …«

»Großmutter, versuch gar nicht erst, mich rumzukommandieren. Ich lümmele rum, wie's mir passt.«

»Ich wollte eigentlich sagen, es läuft darauf hinaus, dass wir einen Verräter in der Familie haben. Jemanden, der Zugang zu all unseren Geheimnissen hat.«

»Apropos Geheimnisse«, sagte ich. »Könnte dieser Verräter derselbe sein, der die Geheimnisse des Herrenhauses preisgegeben hat, damit das Herz angegriffen werden konnte? Wir haben auch nie herausgefunden, wer dahinter steckte. Und wenn man bedenkt, was wir jetzt von der kranken und bösartigen Natur des Herzens wissen, könnten diese Angreifer nicht die ganze Zeit auf der guten Seite gewesen sein?«

»Ethel?«

»Ich sage euch schon die ganze Zeit, dass ich nichts darüber weiß«, sagte die körperlose Stimme vorwurfsvoll. »Ich weiß eine ganze Menge. Geheimnisse der Universen! Wenn ihr wüsstet, wozu man die Pyramiden tatsächlich gebaut hat, würdet ihr euch übergeben und blind werden. Aber das Herz - es hat sich eine Menge Feinde gemacht, bevor es herkam. Es zerstörte ganze Welten und ganze Zivilisationen, nur um sich zu amüsieren. Ich war nicht der Einzige, der versucht hat, es der Gerechtigkeit und der Rache zuzuführen.«

»Und dein erster Kontakt mit dieser Dimension war der Blaue Elf«, sagte ich nachdenklich.

»Ja, er fischte zwischen den Dimensionen und hat zufällig einen sehr kleinen Teil von mir gefangen.«

»Er öffnet interdimensionale Portale«, sagte die Matriarchin sehr langsam. »Und wir haben ihn hierher gebracht, ins Herrenhaus, während des Kriegs gegen die Hungrigen Götter. Auf deine Empfehlung hin, Edwin!«

»Er hat mein Vertrauen missbraucht«, sagte ich. »Aber er kann doch nicht unser Verräter sein?«

»Warum nicht?«, fragte der Waffenmeister. »Was wissen wir denn wirklich über ihn? Ein halber Elb, Produkt eines Elbenvaters und einer menschlichen Mutter. Wir haben eine recht gute Vorstellung davon, wer sein Vater sein könnte, aber ich glaube, die Mutter haben wir nie identifiziert. Vielleicht war sie eine Drood? Das könnte auch erklären, warum der Blaue Elf so verzweifelt einen Torques stehlen wollte.«

»Ich habe den Blauen Elf mal in der Bibliothek erwischt, als er dort herumschnüffelte«, meinte ich. »Vielleicht hat er nach Hinweisen auf seine Familienwurzeln gesucht.«

»Wir müssen mit William reden«, entschied die Matriarchin. »Ethel, etabliere bitte eine Verbindung.«

»Aber ja! Kein Problem. Ich liebe solche Sachen. Wisst ihr, man kann in eurer Dimension wunderbar mit den Gesetzen der Materie herumspielen. Eigentlich sind es weniger echte Gesetze als einfach nur Übereinstimmungen, die nur hier gelten. Ich könnte -«

»Nein, könntest du nicht«, unterbrach ich schnell. »Im Gegenteil zu allem, was du uns vielleicht sagen hörst, mögen wir die Dinge genau, wie sie sind. Öffne uns nur ein Fenster in die alte Bibliothek, bitte.«

Ethel schnüffelte. »Ihr seid viel zu wenig auf Abenteuer aus. Und außerdem hast du mir noch nie dieses Sex-Ding erklärt, das ihr da immer macht.«

»Später, Ethel. Die Verbindung bitte!«

Die Luft schimmerte, und vor uns erschien ein zweiteiliger schwerer Vorhang aus purpurfarbenem Plüschsamt. Eine laute Trompetenfanfare erklang aus dem Nichts, gefolgt von einem Trommelwirbel. Erst dann öffneten sich die Vorhänge langsam und dramatisch, um einen Blick in die alte Bibliothek zu gewähren. Es war schwer zu sagen, wo genau - eines der hohen, alten und staubigen Bücherregale sah aus wie das andere. Das Licht war ein dunkelgoldenes Schimmern, wie Alterspatina, die sich auf die Luft selbst gelegt hatte. William erschien abrupt vor uns und stieß sein verärgertes Gesicht geradezu in unsere Richtung. Ein bisschen sah es so aus, als sei eines dieser dreidimensionalen Bilder wild geworden. Mit seinem von tiefen Falten gezeichneten Gesicht, dem düsteren Blick, der langen Haarmähne und dem Bart sah William sehr nach einem dieser alttestamentarischen Propheten aus, die sich darauf spezialisiert hatten, schreckliche Dinge vorherzusagen, die schon ganz bald passieren würden.

»Es ist absolut nicht nötig, hier eine unglaublich laute Glocke erklingen zu lassen, wenn ihr mit mir reden wollt! Ich bin verrückt, aber nicht taub! Ihr wisst doch, dass ich laute Geräusche nicht mag. Und Eichhörnchen.«

»Berichte uns von deinen Fortschritten«, unterbrach ihn die Matriarchin und verhinderte damit etwas, das eine lange Schmährede zu werden versprach. William starrte sie finster an. »Sag bitte.«

Die Matriarchin seufzte. »Edwin, würdest du nicht vielleicht doch wieder die Familie anführen wollen?«

»Sag doch einfach bitte und vergiss es.« »Ach, was soll's. Bitte«, sagte die Matriarchin.

»Es klingt nicht so, als würdest du das auch so meinen«, sagte William hinterlistig. »Ein freundliches ›Bitte‹, bitte.«

»Bitte, lieber William!«

»Sehr gut, Matriarchin! Und jetzt sag: In Krakatau, östlich von Java, gibt es Bestrebungen zur Separation der anglikanischen Kirche von der Monarchie.« »William!«, sagte ich.

Er zog einen Flunsch. »Niemand in dieser Familie versteht einen Spaß. Aber gut: Ein Bericht über die Fortschritte.« Er schnüffelte ein wenig und blinzelte mit den Augen, was seinem Blick etwas Vages verlieh. »Ich bin immer noch dabei, eine Liste der Bücher zusammenzustellen, die in der alten Bibliothek fehlen. Einige sehr wichtige Bände und Dokumente sind nicht da, wo sie sein sollten. Hauptsächlich Bände, die mit unserer eigenen Familiengeschichte zu tun haben.«

»Das ist alles?«, fragte der Waffenmeister. »Das ist alles, was du gemacht hast? Du bist doch schon Monate dran!«

»Schrei mich nicht an. Oder meine Laune schlägt ins Gegenteil um. Du weißt, dass ich immer noch nicht ich selbst bin.« Der Bibliothekar legte die Hände fest zusammen. Vielleicht glaubte er, dass wir so nicht sahen, wie sehr sie zitterten. »In der alten Bibliothek zu sein, hilft mir. Ich fühle mich sicher hier. Geborgen.«

»Wir haben für dich einen sehr komfortablen Raum im Ostflügel eingerichtet«, sagte die Matriarchin. »Er hat sogar Aussicht. Keine besondere vielleicht, aber trotzdem.«

»Nein! Nein.« William schüttelte heftig den Kopf. »Ich bin noch nicht bereit, mit anderen zu leben. Noch nicht. Davon hatte ich im Sanatorium genug. Es ist für mich leichter, ich selbst zu sein, wenn ich nicht … abgelenkt werde. Ich bin gern hier, zwischen den Büchern. Ich vertraue ihnen. Bei Büchern weiß man, woran man ist.« Er unterbrach sich unsicher und sah sich kurz um. »Obwohl ich manchmal glaube, dass ich in den Augenwinkeln Dinge sehe. Vielleicht sind sie real. Vielleicht auch nicht. Aber ich gehe kein Risiko mehr ein. - Eddie, schön, dich mal wieder zu sehen! Es ist immer gut, dich zu sehen. Ja. Wolltest du etwas?«

»Diese Bücher, die aus der alten Bibliothek verschwunden sind«, sagte ich geduldig. »Du sagtest, sie beträfen die Familiengeschichte der Droods.«

»127 Bände bisher«, erwiderte der Bibliothekar sofort. Er wirkte sofort präziser und konzentrierter, als er sich wieder auf vertrautem Terrain bewegte. »Bücher, Folianten, sogar Originalmanuskripte. Von einigen kann ich nur ihren Titel nennen, bei manchen sehe ich bloß, dass sie fehlen, weil auf dem Regal eine Lücke ist. Was wirklich darin steht, kann ich nicht sagen. Wir müssen wirklich eine anständige Bestandsliste erstellen, das sollte Priorität haben. Es gibt Lücken in den Regalen, die ich nicht erklären kann.

Mein erster Gedanke war übrigens, dass die Bücher vielleicht von der Nulltoleranz-Fraktion entwendet wurden, um sie Trumans Manifestem Schicksal zu überlassen. Aber mir wurde gesagt, dass bei einer gründlichen Durchsuchung seiner zerstörten Basis kein einziger Band gefunden wurde, also … Ich vertrete die Theorie, dass der Verräter unserer Familie daran schuld ist. Vielleicht wollte er die Schriften an unsere Feinde verkaufen. Vielleicht enthielten sie Hinweise auf seine wahre Identität.«

Er unterbrach sich wieder und sah sich nervös um, als habe er sich erschreckt. »Das ist die alte Bibliothek«, sagte er langsam. »Lange glaubte man, sie sei verschollen und zerstört. Es ist nicht die Bibliothek, die ich geführt habe, bevor das Herz meinen Verstand zerstörte. Nein. Das hier ist ein alter Ort, älter, als ihr glaubt. Älter, als irgendjemand glaubt. Hör auf mich, Martha. Vielleicht bin ich nicht mehr der Mann, der ich war, und ich habe vielleicht Probleme mit meinem Gedächtnis, aber ich bin nicht verrückt. Selbst wenn ich es manchmal spiele, nur um zu sehen, wie die kleine Vene auf deiner Stirn anschwillt. Ich kann mit einiger Sicherheit sagen, dass ich nicht verrückt bin, weil ich schon einmal verrückt war und deshalb weiß, wie sich das anfühlt. Das hier ist … anders. Da ist etwas hier, mit mir. Es versteckt sich in den Bücherstapeln, in den Schatten, in den Nischen. Es beobachtet. Es wartet. Ich weiß nicht, was es ist oder wie lange es schon hier ist. Vielleicht war es schon immer da. Manchmal denke ich, es ist etwas Gutes, manchmal nicht. Vielleicht gab es einen guten Grund, warum die alte Bibliothek verschwand. Und vielleicht, nur vielleicht, haben wir es wieder geweckt, als wir die alte Bibliothek wieder eröffneten.

Ich bin sicher, dass da auch etwas in Merlins Spiegel ist. Du solltest vorsichtig sein, Eddie. Kontrollier das Spiegelbild auf Dinge, die da nicht sein sollten.«

Er unterbrach sich, als sein Assistent, der junge Rafe, neben ihm im Fenster erschien. Rafe war während Williams Abwesenheit zum Familienbibliothekar ernannt worden, aber er hatte diesen Platz sofort geräumt, als William zurückkehrte. Rafe war der Erste, der zugab, dass er William nicht das Wasser reichen konnte. Er tätschelte William tröstend die Schulter. Rafe hatte ein freundliches Gesicht, fast wie ein Geistlicher, und verfügte über einen erstklassigen Verstand, wenn er sich konzentrierte.

»Da bist du ja«, sagte er tadelnd zu William. »Da lässt man dich mal zehn Minuten aus den Augen. Du hast heute Morgen deine Medizin wieder nicht genommen, nicht wahr?«

»Davon wird mein Urin blau«, grummelte William. »Ich traue keinem Medikament, das mein Urin blau werden lässt.«

Rafe sah mich durch das Fenster an. »Kann ich euch vielleicht weiterhelfen? Der Bibliothekar ist etwas gebrechlich, wisst ihr. Er sollte jetzt etwas schlafen.«

»Ich bin kein Kind, Rafe«, erwiderte der Bibliothekar. »Ich brauche kein Nickerchen.«

»In Ordnung«, sagte Rafe geduldig. »Warum kommst du nicht und trinkst eine Tasse Tee? Ich habe gerade eine frische Kanne aufgesetzt.«

»Hast du auch gefüllte Kekse?«

»Natürlich habe ich auch gefüllte Kekse. Und ein paar Chocolate Chip Cookies.«

»Das klingt doch wundervoll!«, sagte der Bibliothekar fröhlich. »Nichts geht über eine gute Tasse Tee, um einen klaren Verstand zu bekommen und die Nieren anzuregen. Ich werde mich mit dem Problem beschäftigen, Matriarchin, und dich informieren, wenn ich eine Antwort habe.«

Er marschierte davon und sah sich nicht einmal um. Rafe sah ihm hinterher und seufzte.

»Er hat gute und schlechte Tage. Er hat einen bemerkenswerten Verstand, wenn er er selbst ist. Die Arbeit, die er hier geleistet hat, ist außergewöhnlich. Wir sind dem, was wir tun wollten, um Monate voraus. Aber er ist immer noch …«

»… verstört«, half die Matriarchin aus.

»Nun, ja. Manchmal. Aber es ist schon viel besser geworden. Wirklich.«

»Natürlich, Rafe«, sagte der Waffenmeister. »Das verstehen wir. Kannst du uns etwas über die verschwundenen Bücher sagen oder die Identität unseres möglichen Verräters?«

»Nichts, das William nicht schon gesagt hätte. Ich dachte wirklich, wir hätten was in der Hand, als wir entdeckten, dass die Nulltoleranz-Fraktion Zugang zur alten Bibliothek hatte. Aber Callan ist sich ganz sicher, dass es nichts in den Basisräumen des Manifesten Schicksals gab, die er durchsucht hat.«

»Sucht weiter«, sagte die Matriarchin. »Und behalte William im Auge.« Sie machte eine scharfe Geste mit der Hand und Ethel schloss das Fenster. Sie hielt sich diesmal nicht mit Vorhängen oder anderem Chichi auf. Vielleicht konnte sogar Ethel spüren, wenn die Matriarchin nicht gut drauf war.

»Wie geht es Callan eigentlich?«, fragte ich vorsichtig.

»Er erholt sich«, sagte der Waffenmeister. »Er hat sich gut an seinen neuen Torques gewöhnt, aber wir passen gut auf ihn auf. Kein Drood hat es je überlebt, wenn man ihm seinen Torques entriss.«

»Zweifellos benimmt er sich etwas seltsam«, warf die Matriarchin ein. »Aber das hat Callan eigentlich schon immer getan. Er bestand darauf, wieder in den Außendienst zu gehen, als er körperlich wieder auf der Höhe war, und keiner hat es übers Herz gebracht, ihm das zu verbieten. Aber seitdem ist er ein gehetzter Mann. Er arbeitet zu jeder Stunde des Tages. Ich weiß nicht, ob er uns oder sich selbst beweisen will, dass er immer noch der Mann ist, der er einmal war.«

»Die Familie hat uns immer viel abverlangt«, gab ich zu bedenken.

»Aber nur wenn es nötig war«, erwiderte die Matriarchin sofort. »Wenn es im Sinn der Familie war oder in dem der Welt.«

»Wenigstens ist Callan nicht allein da draußen«, sagte ich.

»Natürlich nicht!«, antwortete die Matriarchin. »Wir haben ihn mit U-Bahn-Ute zusammengesteckt. Sie ist eine von den Geistern, die nicht ins Jenseits wollen. Jeder von beiden denkt, er sei dazu da, auf den anderen aufzupassen, und bisher scheint das zu funktionieren. Derzeit sind sie unten in Tasmanien, um sich um einen neuen Ausbruch von Teufelsanbetung zu kümmern.«

»Er hat uns eine Postkarte geschickt«, warf der Waffenmeister ein. »Eine ziemlich ungezogene, wenn man ehrlich sein soll. Ich zeige sie dir später, Eddie.«

»Es ist lebenswichtig für unsere Familie, dass wir den gestohlenen Torques wiederfinden«, sagte die Matriarchin im Befehlston. »Wir können nicht erlauben, dass unsere mächtigste Waffe in Feindeshand gerät.«

»Der Blaue Elf sagte, er bringe sie zum Feenrat«, meinte der Waffenmeister. »Und heutzutage liegt der einzige direkte Weg in die Welt der Elben in Schattenfall.« Er schauderte kurz. »Ich weiß nicht, welcher dieser beiden Orte mir mehr Angst einjagt.«

»Nun ja«, sagte Ethel. »Irgendjemand muss hin und ihn holen. Ich selbst kann den Torques nicht erreichen, und das liegt nicht daran, dass ich das nicht wollte. Er ist ein Teil von mir und ich will ihn zurückhaben. Aber ich kann nicht einfach ins Elbenreich hineinlangen, es ist zu anders. Und glaubt mir, ich kenne mich mit ›anders‹ aus. Der Feenrat würde mir wirklich auf die Nerven gehen. Wenn ich welche hätte.«

»Einen Moment mal!«, sagte ich. »Wenn ihr mich deshalb zurückgeholt habt, könnt ihr's vergessen. Ich trete nicht vor den Feenrat. Das ist gefährlich! Außerdem hassen sie mich!«

»Sie hassen alle«, meinte der Waffenmeister. Damit hatte er nicht einmal unrecht. »Es sind Elben.«

»Ja, aber ich habe eine ganze Bande von Lords und Ladys auf der Autobahn, der M4, getötet, erinnert ihr euch? Wenn ich vor Oberon und Titania trete, werden sie mich in irgendetwas verwandeln. Vielleicht etwas Weiches und Glibbriges, das quietscht, wenn man draufdrückt. Erinnerst du dich an diesen Mordversuch, Großmutter? Immerhin hast du ihn arrangiert.«

»Ich habe mich schon dafür entschuldigt«, sagte die Matriarchin. »Ich weiß nicht, was ich sonst noch tun soll.«

»Nein«, sagte ich. »Das weißt du wohl wirklich nicht. Ich denke, dafür braucht ihr einen Diplomaten. Jemand, mit dem sie reden. Oder den sie wenigstens anhören.«

»Glaub mir«, antwortete die Matriarchin. »Wir würden dich auf keine Mission schicken, die diplomatische Fähigkeiten erfordert.«

»Selbst wenn du etwas Nettes sagst, klingt es wie eine Beleidigung«, sagte ich. »Kommt schon, Leute. Ihr redet so um den heißen Brei herum, dass ihr schon einen Pfad ausgetreten habt. Warum bin ich hier?«

Die Matriarchin und der Waffenmeister sahen sich an. »Entschuldige, dass wir diesen Umweg gemacht haben, um auf den Punkt zu kommen«, sagte der Waffenmeister schließlich. »Aber wir dachten, es sei wichtig, dass du die Situation verstehst und richtig einschätzt, in der die Familie sich befindet. Verräter innerhalb, Feinde außerhalb und viel zu viele Fragen, die wir nicht beantworten können. Obendrein sind wir unterbesetzt. Wir mussten zu viele neue Agenten ins Feld schicken, um die zu ersetzen, die während des Krieges gegen die Hungrigen Götter gestorben sind. Oft ohne anständiges Training, weil einfach keine Zeit war. Viele von ihnen werden sterben, aber wir mussten sie dennoch wegschicken, weil wir unsere Präsenz in der Welt wiederherstellen mussten. Wir müssen alle daran erinnern, dass die Droods eine Macht sind, mit der man rechnen muss.«

»Die Familie kann sich nicht leisten, als gespalten oder schwach dazustehen«, erklärte die Matriarchin scharf. »Im Moment sind die meisten Regierungen auf der Welt noch beeindruckt, wenn nicht sogar dankbar dafür, dass wir in der Lage waren, das Universum vor der Invasion der Hungrigen Götter zu retten. Also benehmen sich alle und spielen fair. Aber das wird nicht so bleiben.«

»Und die üblichen Unruhestifter sind nach wie vor da draußen«, warf der Waffenmeister ein. »Dr. Delirium, die Kali-Kooperative, die Bezaubernde Jeanie. Also: Wenn einer ankommt und uns den Namen und die derzeitige Identität des Verräters in der Familie nennt, dann müssen wir ihn ernst nehmen.«

»Wir haben eine Nachricht erhalten«, sprach die Matriarchin weiter. Ihr schmallippiger Mund verzog sich, als habe sie einen üblen Geschmack auf der Zunge. »Von Alexander King, dem legendären Autonomen Agenten. Ja, ich dachte mir schon, dass dir der Name etwas sagen würde, Edwin. Der größte Einzelagent, den die Welt je gesehen hat.«

»Verdammt richtig!«, sagte ich und setzte mich widerwillig aufrecht hin. »Du hast mir Geschichten über ihn erzählt, als ich noch klein war, Onkel Jack. Verflucht, jeder kennt Geschichten über den Autonomen Agenten!«

»Beeindrucke mich!«, sagte die Matriarchin. »Zeig mir, dass du während des Unterrichts wenigstens etwas aufgepasst hast. Was weißt du über Alexander King?«

»Es gab schon immer andere Geheimdienste auf der Welt, die das Gleiche taten wie wir«, antwortete ich. »Einige politisch, andere religiös. Der Schattenregent, die Ritter Londons, die Schwesternschaft der Heilsarmee. Und eine ganze Reihe unabhängiger Agenten spielte das Spiel aus persönlichen Gründen: der Wanderer, der Reisende Doktor, der Alte Wolf von Kabul, John Taylor auf der Nightside. Aber der Beste von allen war immer Alexander King. Er hat es mit jeder üblen Organisation aufgenommen, jeder Fraktion, den potenziellen Weltzerstörern und er hat sie alle in die Tasche gesteckt. Er hat schon einmal mit oder gegen so ziemlich jede Regierung gearbeitet, aber immer zu seinen eigenen Bedingungen. Er hat sogar schon ein paar Mal mit uns zusammengearbeitet. Haben nicht sogar schon einmal er und Onkel James …?«

»Ja«, meinte der Waffenmeister. »Und wir reden immer noch nicht darüber. Fakt ist, der Autonome Agent ist niemandem außer sich selbst gegenüber loyal. Er hat für jedes Land gearbeitet, für jede Sache, für jede Organisation und immer nur für Geld. Er hat die Welt neun Mal gerettet, das wissen wir sicher, und war zwei Mal nahe daran, sie zu zerstören.«

»Ich dachte immer, er habe es wegen der Herausforderung getan«, sagte die Matriarchin. Zu meiner Überraschung lächelte sie ein wenig, und ihre sonst so ruhige und kalte Stimme bekam einen Unterton von Sehnsucht. »Nur um zu sehen, ob er es konnte, wenn schon kein anderer. Alexander ist schon seit rund siebzig Jahren der beste Spion der Welt. Er behauptet, er sei einundneunzig, aber er könnte noch älter sein. Tatsache ist, dass er in letzter Zeit immer wählerischer wurde, was seine Missionen angeht, und das meiste abgelehnt hat. Er behauptet, dass es einfach keine Herausforderungen mehr gäbe und dass das Alter uns allen einmal zu schaffen mache, selbst dem Autonomen Agenten. Tatsächlich war es in der letzten Zeit so still um ihn, dass die meisten von uns glaubten, er habe sich zur Ruhe gesetzt.«

»Er hat uns während des Krieges gegen die Hungrigen Götter kontaktiert«, sagte der Waffenmeister. »Aber das war, während Harry das Sagen hatte, und der lehnte ab. Ich glaube, er wollte nicht überwacht werden. Natürlich war das auch, bevor wir erkannten, wie ernst die Dinge wirklich standen.«

»Fakt ist, Alexander King hat uns kontaktiert«, sagte die Matriarchin und warf dem Waffenmeister einen so strengen Blick zu, dass dieser wieder in seinen Stuhl zurücksank. »Er behauptet, er sterbe. Und deshalb beabsichtige er, das Wissen und die Geheimnisse seines ganzen Lebens jedem Agenten zu überlassen, der sich als würdig erweist, seinen Platz einzunehmen, wenn er stirbt. Um das herauszufinden, hat er nach den sechs vielversprechendsten Agenten der Welt geschickt, die in sein Heim mitten in den Schweizer Alpen kommen sollen. Und er sagt, er will dich auch, Edwin.«

»Was, mich?« Mit einem Schlag saß ich aufrecht in meinem Stuhl. Ich war wirklich geschockt. »Warum sollte er mich wollen?«

»Er will dich vielleicht, weil du es mit der gesamten Drood-Familie aufgenommen und gewonnen hast«, meinte der Waffenmeister trocken. »Und vielleicht auch ein bisschen deshalb, weil du es warst, der uns gegen die Hungrigen Götter zum Sieg geführt und damit die Menschheit gerettet hat. Wie auch immer, er war sehr bestimmt, was das angeht. Er will, dass du bei diesem … Wettkampf dabei bist.«

»Und du musst hingehen«, sagte die Matriarchin. »Aus Familienstolz und um sicherzugehen, dass der Erfahrungsschatz des Autonomen Agenten nicht in die falschen Hände gerät. Das darf einfach nicht passieren, Edwin. Alexander King kennt Dinge, von denen sonst keiner etwas weiß. Die Art von unterdrückten Wahrheiten, die Regierungen stürzen, Kriege beginnen und wahrscheinlich die ganze Welt einander auf den Hals hetzen kann. Jedes Individuum, jede Organisation mit der Art von Wissen würde zu einer echten Gefahr für die Droods werden, besonders in unserem derzeitigen geschwächten Zustand.«

»Und natürlich auch, weil die Möglichkeit existiert, dass dieses Wissen nicht im besten Interesse der Welt genutzt wird«, fügte der Waffenmeister hinzu.

»Ja, gut, das auch«, meinte die Matriarchin ungeduldig. »Nur wir können mit solchem Wissen umgehen.«

»Einige dieser hypothetischen Leute könnten den Job vielleicht besser machen als wir«, gab ich zu bedenken.

»Sei nicht albern«, sagte die Matriarchin. »Keiner macht das besser als wir.«

»Selbstverständlich nicht«, sagte ich. »Was hab ich mir nur gedacht.«

»King sagt, er weiß, wer unser Verräter ist«, sagte der Waffenmeister. »Du musst gehen, Eddie, und du musst gewinnen. Für die Familie und auch die Welt.«

»Du wirst auch gewinnen, Edwin«, sagte die Matriarchin. »Als was auch immer der Wettkampf sich herausstellen sollte. Wir werden dir jede erdenkliche Unterstützung zukommen lassen, aber am Ende musst du gewinnen. Das ist in jedem Fall notwendig.«

»Ja, das denke ich auch«, sagte ich. Ich hatte immer noch eine Riesenladung Vorbehalte gegen beinahe alles, was diesen Wettkampf anging, aber ich würde meinen Atem nicht daran verschwenden, sie mit der Matriarchin auszudiskutieren. Sie hatte in einem Punkt recht: Wir mussten unseren Verräter finden, für die Familie und die Welt. Alles andere würde ich mir eben unterwegs ausdenken müssen. Wie immer.

Ich nickte langsam. »Wissen wir wenigstens, wer meine Konkurrenten sein werden?«

»Nein«, sagte der Waffenmeister. »King spielt im Moment mit sehr verdeckten Karten. Typisch für den Mann. Wir haben ein paar diskrete Recherchen angestellt, aber es haben sich keine Hinweise auf jemand Besonderen ergeben. Du wirst deine Instruktionen in Kings privatem Hauptquartier bekommen, einer alten Skihütte in den Alpen. Sehr privat, sehr gut geschützt. Die Hütte heißt Place Gloria. Vielleicht erinnerst du dich daran: Ein sehr berühmter Agentenfilm Ende der Sechziger wurde dort gedreht.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich sehe nie Agentenfilme. Die kann ich nicht ernst nehmen.«

»Man erwartet, dass du selbst dorthin findest«, meinte der Waffenmeister. »Scheinbar ist das Teil der Prüfung, ob du's wert bist. Merlins Spiegel könnte dich natürlich direkt vor der Haustür absetzen.«

»Aber du kannst ihn nicht mitnehmen«, sagte die Matriarchin. Ihre Stimme hatte jetzt einen ganz besonders wehmütigen Unterton, und ihr Blick war auf etwas gerichtet, das weit weg war. »Ich hatte eine kleine Affäre mit ihm, im Herbst 1961. In Ost-Berlin, direkt an der neugebauten Mauer. Wir haben uns immer in diesem absolut widerlichen kleinen Café getroffen, das nach gekochtem Kohl roch und seinen Wodka nach russischer Art servierte: mit einer Prise schwarzem Pfeffer auf der Oberfläche. Das tat man, damit der Pfeffer, wenn er auf den Grund des Glases sank, die Unreinheiten im Wodka band. Man konnte von diesem Zeug damals in Berlin wirklich blind werden. Schrecklicher Wodka, schreckliches Essen, aber ich habe immer noch schöne Erinnerungen an dieses kleine Café … oder zumindest an den kleinen Raum, den wir uns darüber immer mieteten. Ach ja, Alexander …! - Das war natürlich, bevor ich deinen Vater getroffen und geheiratet habe, Jack.«

»Natürlich, Mutter.« Der Waffenmeister fühlte sich offenbar mehr als nur unbehaglich beim Gedanken daran, dass seine Mutter etwas mit dem Autonomen Agenten gehabt haben sollte, also übernahm ich das Reden. »Was habt ihr beide denn in Ost-Berlin gemacht, Großmutter?«

»Ach, irgendein Unsinn über einen persischen Dschinn, der unter der Mauer begraben sein sollte, um ihr Stärke zu geben. Natürlich sind wir der Sache nie ganz auf den Grund gegangen. Aber … Du kannst meinen Namen Alexander gegenüber erwähnen, Edwin, für den Fall, dass er sich an mich erinnert. Ein äußerst charmanter Zeitgenosse. Du darfst ihm keine Sekunde lang vertrauen.«

»Natürlich nicht. Er gehört ja nicht zur Familie.«

Und damit war das Ratstreffen beendet. Ich würde in die Schweizer Alpen gehen, um dort eine lebende Legende zu treffen, die im Sterben lag, und an einem Wettkampf teilnehmen, dessen Sinn ich nicht verstand, mit Leuten, die ich nicht kannte, und einem Preis, bei dem ich nicht sicher war, ob es ihn überhaupt gab. Und nein, ich hatte in der Sache nichts zu sagen.

Wie es in der Drood-Familie eben üblich war.


Natürlich würde der Waffenmeister mich nicht ohne seine kleinen technischen Spielereien, die die Massen nicht nur vernichten, sondern auch sonst in die Bredouille bringen können, auf eine Mission gehen lassen. Also gingen wir in die Waffenmeisterei, die tief im felsigen Fundament des Herrenhauses untergebracht ist. So bestand immerhin die Chance, dass bei Explosionen, denen allzu optimistische und phantasievolle Entwicklungen vorausgegangen waren, das Herrenhaus überleben würde. Wie immer summte das große Steingewölbe vor Aktivität. Laborassistenten rannten hierhin und dorthin, manchmal in der Absicht, vor einem wild gewordenen Experiment zu flüchten, manchmal, weil sie ihre Laborkittel in Brand gesetzt hatten. Es brauchte Nerven aus Stahl, wenn man in der Waffenmeisterei arbeiten wollte. Und ganz sicher einen gesunden Überlebensinstinkt. Der Waffenmeister allerdings ging völlig ungerührt durch das Chaos, während ich mich dicht hinter ihm hielt. So konnte ich ihn notfalls als Schild benutzen.

»Wie haben die Heiterkeitsbomben funktioniert?«, fragte er mich über die Schulter hinweg und duckte sich kurz, um einem Augapfel mit Flügeln auszuweichen, der gerade vorbeiflog.

»Oh, prima!«, erwiderte ich und trat schnell beiseite, um einem Laborassistenten aus dem Weg zu gehen, der gerade eine heftige Auseinandersetzung mit einer Pflanze in einem Käfig austrug. »Auch wenn die Wirkung offenbar ziemlich schnell wieder verpufft.«

»Daran arbeite ich, ich arbeite daran!«

Wir kamen an einer großen Plastikblase aus klarem Wasser vorbei, in der zwei übereifrige Labortechniker ihre neuen Kiemen ausprobierten. Sie gingen mit klauenartig geformten Händen wie japanische Kampffische aufeinander los. Über uns flatterte ein hinreißend aussehendes Mädel dahin, mit Fledermausflügeln auf dem Rücken und einem seligen Lächeln auf dem Gesicht. Ein anderer Techniker tauchte auf, verschwand wieder, erschien wieder und rief: »Wie schaltet man dieses verdammte Ding ab?«

Am Schießstand probierte ein halbes Dutzend Praktikanten neue Prototypen von Gewehren aus und verwandelte den Schießstand dabei in einen Trümmerhaufen. Jemand anderes hatte gerade die Vorführung einer neuen Entwicklung abgeschlossen: ein Messer, das seine Klinge auf den Gegner schleuderte, dessen Heft aber in der Hand des Angreifers verblieb. Danach kehrte die Klinge wieder in das Heft zurück. Das war scheinbar nicht sonderlich gut gelaufen. Als der Waffenmeister und ich den Schießstand hinter uns ließen, wurde der Techniker, der das Messer vorgeführt hatte, schluchzend von ein paar Kollegen weggeführt, während Freunde seine Finger aufsammelten.

Ein Kokon von ungefährer Menschengröße lehnte an einer Wand. An ihm hing ein Schild: Bitte nicht stören. Ich fragte gar nicht erst.

Der Waffenmeister hatte die Familie all die Jahre über mit vielen nützlichen Waffen, Apparaturen und Gerätschaften ausgestattet, die alle von ausgesuchter Fiesheit waren. Der Waffenmeister kann vielleicht nicht alles. Aber wenn man ein unbegrenztes Budget hat, eine ebenso unbegrenzte Vorstellungskraft und zudem völlig skrupellos ist, dann kann man schon in einige wirklich ungewöhnliche Bereiche vorstoßen. Im Feld benutzen wir nur die wirklich guten Sachen und betrachten gelegentliche Explosionen oder ungünstige Transformationen als Kinderkrankheiten. Immerhin ist die Welt da draußen gefährlich und verräterisch. Die Droods brauchen jeden Vorteil, den sie kriegen können, wenn sie sich behaupten wollen. Außerdem mag ich persönlich Spielzeug so wie jeder andere, und in der Waffenmeisterei gibt es immer etwas Neues. Onkel Jack und seine durchtriebenen Kollegen sorgen dafür. Benutze die gleiche Taktik im Feld zu oft, und deine Feinde werden mit einer passenden Antwort aufwarten.

Der Waffenmeister setzte sich an seinen Arbeitstisch, schob einen Stapel Papier und ein halbes Dutzend unfertiger Apparate beiseite, an denen er noch arbeitete - darunter eine kleine Flasche mit der Aufschrift Nitroglyzerin - Vorsicht, verdammt explosiv!. Er winkte mir zu, ihm gegenüber Platz zu nehmen und ich folgte ihm. Irgendwie tat ich das vorsichtig, weil man in der Waffenmeisterei nicht einmal den Stühlen trauen kann.

»Fangen wir damit an«, meinte der Waffenmeister selbstsicher und reichte mir einen einfachen goldenen Siegelring, der auf der Innenseite mit Runen beschrieben war. »Streif ihn über, nein, auf den anderen Finger. Um ihn zu aktivieren, die beiden Finger rechts und links dagegendrücken. Zwei Mal. Nein, nicht jetzt sofort! Das ist ein Gemini-Duplikator. Er gibt dir die Möglichkeit, an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Nein, Eddie, sag nichts. Ich habe schon jede Variation eines Witzes, der das Wort ›bi‹ enthält, gehört. In diesem Fall heißt das einfach, dass du an mehr als einem Ort gleichzeitig sein kannst. Großartig, wenn man sich ein Alibi verschaffen will. Ich habe mir sagen lassen, dass es ziemlich verwirrend ist, an zwei Plätzen gleichzeitig zwei verschiedene Dinge tun zu müssen, aber das ist einfach nur Multitasking auf dem nächsthöheren Level. Du kriegst den Dreh bestimmt bald raus. Aber sei gewarnt: Wenn eines deiner Duplikate zufällig getötet wird, könnte der psychische Schock euch beide töten.«

Ich begutachtete den Ring, sorgfältig bemüht, ihn nicht zu drücken. »Was passiert, wenn ich den Ring dazu benutzen will, mehr als zwei von mir zu schaffen?«

Der Waffenmeister runzelte die Stirn. »Je mehr ihr seid, desto schwieriger ist es, den Überblick zu behalten und mit jedem Doppelgänger zurechtzukommen. Wenn man sich zu sehr ausdehnt, beziehungsweise zu weit verteilt, dürften im besten Fall alle deine Identitäten wieder zu einer zusammenschnurren. Was sehr schmerzhaft sein wird.«

»Und im schlimmsten Fall?«

»Verschwindest du in der Menge und bist nicht in der Lage, dich wieder zu reintegrieren.«

»Verstehe«, meinte ich. »Nicht mehr als zwei. Aber vergiss nicht, das könnte dem Wort Dreier eine ganz neue Dimension verleihen.«

Der Waffenmeister schnaubte heftig. »Also, jetzt der neue Revolvercolt. Ich habe ein paar Verbesserungen vorgenommen. Die Waffe zielt nicht nur von allein und besitzt eine unbegrenzte Menge Munition, die du herbeirufen kannst; jetzt kann sie auch auf Holz-, Silber- und in Weihwasser getränkte Kugeln zurückgreifen! Wenn keine von denen deinen Gegner umbringt, dann ist es sicher sowieso besser, die Beine in die Hand zu nehmen.«

Er reichte mir die schwere, silberne Waffe und das Standard-Schulterholster und sah dann in eine andere Richtung, damit er mir nicht dabei zusehen musste, wie ich mich in das verdammte Ding hineinquälte.

»Diesmal habe ich keine Umkehr-Uhr für dich. Keiner kann das verdammte Ding mehr ans Laufen bringen, seit du die letzte ausgebrannt hast.« Er schnaufte laut, aber er konnte mir nie lange böse sein. Nicht, wenn er noch so viele kleine Spielzeuge hatte, mit denen er mich beeindrucken konnte. Er gab mir eine kleine schwarze Schachtel mit einer hübschen Verzierung darauf. Ich nahm sie ein wenig zimperlich in die Hand und öffnete sie mit großer Vorsicht. In der Schachtel lagen zwei sehr hübsche silberne Manschettenknöpfe.

»Sehr hübsch«, meinte ich unschuldig. »Sie sind aus solidem Silber, nicht wahr?«

»Das ist der Chamäleon-Kodex«, erwiderte der Waffenmeister streng. »Sie sind programmiert, um die DNA von jedem aufzunehmen, den du zufällig streifst. Sie speichern die Information, damit du dich zu einem späteren Zeitpunkt in ein exaktes Duplikat desjenigen verwandeln kannst. Der Effekt hält nicht lange an, zugegeben, aber die Möglichkeiten für Spione, Tarnung und allgemeine Dummheiten sollten dennoch auf der Hand liegen.«

»Männlich und weiblich?«, fragte ich hoffnungsvoll.

Er warf mir einen finsteren Blick zu. »Du denkst immer nur an das Eine, oder? Ja, männlich und weiblich. Dank einiger wirklich ermüdender Tests eines meiner Techniker. Leg die Manschettenknöpfe nicht an, bevor du das Herrenhaus verlassen hast. Hier ist es schon chaotisch genug. Zum Schluss habe ich hier noch diesen Skelettschlüssel, der aus Menschenknochen gemacht ist. Wenn du schlau bist, dann fragst du nicht, aus wessen Knochen. Öffnet jedes physisch existierende Schloss. Ist beinahe so gut wie eine Hand des Ruhms und verdammt viel weniger auffällig. Die Hände habe ich sowieso nie gemocht; eklige, stinkende Dinger. Versuch, den Schlüssel wieder mitzubringen, wir haben im Moment nur wenige Hände. Wir müssten ein paar mehr Feinde hängen …«

Ich ließ die Schachtel und den Knochen in meinen Taschen verschwinden und sah den Waffenmeister nachdenklich an. »Was weißt du über den Autonomen Agenten, Onkel Jack?«

Er lächelte kalt, als hätte er nur darauf gewartet, dass ich das fragte. »Dein Onkel James kannte ihn besser als ich, obwohl wir beide gelegentlich mit Alexander zusammengearbeitet haben. Zuerst waren wir viel zu sehr beeindruckt: zwei junge Droods zum ersten Mal im aktiven Dienst - zusammen mit einer solchen Legende! Er war alles, was den Geheimdienst großartig sowie glamourös macht, und wir beide haben verdammt viel von ihm gelernt. James und ich sind jedes Risiko eingegangen, so dumm es auch war, nur um ihn zu beeindrucken, aber am Ende war es James, den Alexander unter seine Fittiche nahm. Eine Zeitlang war ich unglaublich eifersüchtig.

Alexander hat James trainiert, ihn ermutigt, ihm Disziplin und Entschlossenheit beigebracht. Er hat James geholfen, selbst eine Legende unter den Spionen zu werden: der Graue Fuchs. Ob das nun am Ende gut war - ich weiß es nicht. Aber wenn jemand aus James den Mann gemacht hat, der er war - entschlossen, jeden Preis zu gewinnen und zur Hölle mit allem, was es kosten könnte -, dann war das Alexander King.«

Der Waffenmeister richtete seinen Blick fest auf mich. »Wenn du die Chance kriegst, Eddie, töte ihn. Die ganze Welt wird erleichtert sein, wenn dieser elende alte Tunichtgut tot ist und endlich für seine Verbrechen gezahlt hat.«

Ich ging hinaus, um Merlins Spiegel aus meinem Rover 25 zu holen.

Das Auto befand sich an der gleichen Stelle, an der ich es abgestellt hatte, aber jetzt war es zu einem kompakten Schrottball von anderthalb Meter Größe zusammengeknüllt. Ich stand da, sah darauf hinab und bemerkte nur nach und nach, dass der neue Seneschall neben mir stand und darauf wartete, dass ich Notiz von ihm nahm.

»Du hattest recht, Eddie«, sagte er betont lässig. »Ich konnte dein Auto nicht vom Fleck bewegen. Also habe ich mir überlegt, was ich sonst tun kann. Hier ist Merlins Spiegel. Ich wollte ihn erst entfernen, denn die Matriarchin sagte, dass du ihn auf deiner Mission brauchen wirst.«

Ich nahm den Spiegel entgegen und wusste ausnahmsweise einmal nicht, was ich sagen sollte. Der neue Seneschall beugte sich zu mir herüber.

»Ich bin nicht wie mein Vorgänger. Ich bin unheimlicher. Willkommen zurück, Eddie.«

Ich habe im Herrenhaus ein eigenes Zimmer, auch wenn ich in Knightsbridge meine eigene kleine und hübsche Wohnung besitze. Dank Merlins Spiegel konnte ich hin und her pendeln. Der jahrhundertealte Spiegel kann als Portal überallhin fungieren. Ich starrte konzentriert mein Spiegelbild an. William hatte mich ein klitzekleines Bisschen erschreckt, als er sagte, es könnte etwas oder jemand in diesem Spiegel gefangen sein. Jemand, der beobachtete und abwartete. Aber alles schien, wie es sein sollte. Also sagte ich die aktivierenden Worte und konzentrierte mich auf ein Ziel. Der Spiegel sprang mir aus der Hand und wuchs zu einem Portal zwischen dem Herrenhaus und dem Ort heran, an dem Molly Metcalf lebte: der Wald zwischen den Welten. Durch das Tor hindurch konnte ich hohe Bäume sehen und üppige grüne Vegetation, die in langen Strahlen von goldenem Sonnenlicht leuchtete. Der älteste, der erste Wald erstrahlte in allen Primärfarben des Frühlings. Der Wald schien sich ewig hinzuziehen, es gab Lichtungen, Wasserfälle, sanfte Hügel und Felsvorsprünge. Ich verbringe eine Menge Zeit damit, den Wald mit Molly zusammen zu erforschen. Der wilde Wald war ihr Zuhause, wo sie hingehörte, und der einzige Ort, an dem sie und ich zusammen sein und ein wenig Privatsphäre haben konnten. Abgesehen von der lokalen Fauna selbstverständlich, die Molly und mich scheinbar unglaublich faszinierend fand.

Der Wald zwischen den Welten ist ein uralter Ort, unberührt von der Zivilisation und eigentlich kein wirklich wohnlicher Ort. Ich war dort nur willkommen, weil Molly ein gutes Wort für mich eingelegt hatte. Die Tiere fühlten sich in Mollys Gegenwart immer wohl, aber sie nahmen mich nur hin, weil sie es tat, und blieben vorsichtig und auf der Hut. Hier liefen die wirklich wilden Lebewesen frei herum, einschließlich einer Menge Arten, die seit Langem von der Erde verschwunden sind. Es gab große Wildschweine mit einem enormen Gebiss und schartigen Hauern. Es gab Wolfshunde und Schwarzbären und auch ältere, fremdartigere und eher mythologische Wesen. Einige kannte ich nur davon, dass sie mich als ein Paar glühender Augen aus dem düsteren Unterholz anstarrten. Molly behandelte alle mit gleicher Selbstverständlichkeit und Zuneigung und schubste sie nur beiseite, wenn sich zu viele von ihnen um sie scharten. Als sie das das erste Mal in meiner Gegenwart mit einem vier Meter großen Bären machte, erlitt ich fast einen Herzinfarkt. Es gab auch alle möglichen Vogelarten, die die duftende Luft mit ihrem Gesang erfüllten, und ganze Wolken von bunten Schmetterlingen.

Es gab auch andere Insekten und eine Menge Fliegen, aber keines von ihnen belästigte uns je. Als ich Molly fragte, warum nicht, sagte sie nur: Das würden sie nicht wagten.

Als ich durch den Spiegel in ihre Welt trat, kam sie auf mich zugelaufen, um mich zu begrüßen. Meine Molly Metcalf, die wilde Hexe, das Gelächter in den Wäldern, herrlich und frei. Eine großartige, wundervolle Frau, die nur ein paar Jahre jünger war als ich und die mit ihrer blassen Haut und dem jetschwarzen Haar aussah wie eine zierliche Porzellanpuppe mit großem Busen. Sie hatte Augen, die dunkel genug waren, um darin zu ertrinken, trug mehr dunklen Kajal darum als ein Panda auf Männerfang und besaß einen knallroten Kussmund, der fürs Lachen und die Sünde wie gemacht schien. Sie trug ein langes, pastellgrünes Gewand mit einem goldenen Gürtel und hatte sich aufs Geratewohl ein halbes Dutzend Blumen ins Haar gesteckt. Sie warf sich mir an den Hals, sodass ich beinahe umfiel, und ich hielt sie fest, als wolle ich sie nie wieder loslassen.

Die Liebe ist mir in meinem Leben spät begegnet. Und unerwartet. Die Droods glauben eher an Heirat als an Liebe. Heirat bindet einen an die Familie, die Liebe steht ihr im Wege. Die Familie will, dass im Leben nichts wichtiger ist als die Pflicht gegenüber dieser Familie. Jeder muss seinen Platz kennen. Molly, gesegnet sei sie für ihre gegenteilig geartete Seele, kannte ihren Platz nicht, und das ist nur einer der Gründe, warum ich sie so sehr liebe.

Sie drückte ihren Busen gegen meine Brust, als wir uns küssten. Sie weiß, wie sehr ich das mag. Schmetterlinge flatterten fröhlich um uns herum, als wir uns die Kleider vom Leib rissen.

Etwas später lagen wir nebeneinander auf einer Grasnarbe, der Schweiß auf unseren kühler werdenden Körpern trocknete langsam. Wir hatten uns eng aneinander gekuschelt. Ich brachte Molly, was meine Mission anging, auf den neuesten Stand, und jetzt schmollte sie ein wenig, weil sie nicht mitgehen durfte.

»Du weißt, wir arbeiten am besten als Team, Eddie. Wer wird dir Rückendeckung geben, wenn ich nicht da bin?«

»Ich habe als Feldagent der Droods Jahre überlebt, bevor das mit uns ein Thema wurde«, sagte ich amüsiert.

»Es ist ein ständiges Rätsel für mich, dass du überhaupt ein Jahr überlebt hast. Du bist viel zu vertrauensselig.«

»Die Einladung des Autonomen Agenten gilt nur mir allein«, sagte ich geduldig. »Es ist sein Spiel, also macht er auch die Spielregeln.«

»Warum sollte er dich überhaupt aussuchen? Ich meine, tut mir leid, Süßer, nichts für ungut und so, aber warum ausgerechnet dich, von allen Droods? Warum nicht jemand mit mehr Erfahrung, der ihm vom Alter her näher steht, so wie vielleicht dein Onkel Jack?«

»Möglicherweise weil ich die Welt vor den Hungrigen Göttern gerettet habe. Du erinnerst dich doch, oder? Ich meine, du warst doch dabei. Du hast geholfen

»Schmoll jetzt nicht, Eddie, das steht dir nicht. Natürlich hast du dir diese Ehre verdient. Ich kann mich nur nicht des Eindrucks erwehren, dass das alles ein Trick oder eine Art Falle ist. Eine, die sich nicht mal unbedingt gegen dich richtet. Was, wenn das nur eine Möglichkeit ist, mit der man die sechs besten Agenten der Welt an einem Ort versammelt und dann alle umbringt? Der letzte große Coup des Autonomen Agenten. Um zu beweisen, dass er immer noch der Beste ist, nach all den Jahren.«

»Dein Verstand ist wundervoll misstrauisch«, sagte ich voller Zuneigung. »Natürlich hast du recht. Es würde mich gar nicht wundern, wenn sich das Ganze wirklich als ein hinterhältiger Plan oder eine Falle erwiese. Aber ich muss trotzdem gehen. Was er anbietet, ist das Risiko wert.«

»Ist es das?« Molly stützte sich auf einen Ellenbogen, um mich zu betrachten. Sie runzelte sorgenvoll die Stirn. »Ich meine, welche Information könnte dieser Mann haben, die die erstaunliche Familie Drood nicht schon besitzt? Geheimnisse bleiben nie lange welche.«

»Einige schon«, erwiderte ich. »Und Alexander King ist herumgekommen. Er hat vielleicht nicht Geschichte geschrieben, aber er hat hinter den Kulissen bestimmt geholfen, die Geschichte zu formen. In der geheimen Welt der Spione gibt es oft Geheimnisse hinter den Geheimnissen. Wenn jemand etwas weiß, das wir nicht wissen, dann ist das Alexander King.«

»Also musst du gehen.« Molly setzte sich auf und zog ihre Knie an die nackte Brust. Sie sah absichtlich geradeaus, sodass sie mich nicht ansehen musste. »In Ordnung, ich habe schon verstanden. Die Pflicht ruft, auch nach allem, was du für deine Familie getan hast und was sie dir angetan haben. Du warst schon immer loyaler, als es dir gut tut.« Sie drehte sich abrupt um, um mich mit ihren dunklen Augen anzustarren. Dann streckte sie eine Hand aus und zwickte mich fest in meine linke Brustwarze, damit sie meine volle Aufmerksamkeit hatte. »Pass auf dich auf, Eddie, und tu, was auch immer du tun musst, um dieses verdammte Spiel zu gewinnen. In der Zwischenzeit werde ich mal mit ein paar von meinen Freunden und Verbündeten reden. Leute, die mit den berüchtigten Droods nicht reden würden. Mal sehen, was die so zu dem verdammten Alexander King zu sagen haben.«

»Na klar, Molly. Du kannst meine Brustwarze jetzt loslassen. Bitte.«

Sie ließ los und sah wieder weg. »Es kann sein, dass ich eine Weile nicht erreichbar bin. Ich muss mich um eine Familienangelegenheit kümmern.«

»Doch nicht schon wieder dein Onkel Harvey, oder? Der, der von sich glaubt, er sei ein großes, weißes Kaninchen?«

»Nein, es ist meine Schwester Isabella. Sie sagt, sie hat Neuigkeiten. Sie hat vielleicht, aber auch nur vielleicht, eine Spur, die verrät, warum meine Eltern wirklich von deiner Familie getötet wurden. Den wirklichen Grund, nicht den Quatsch, mit dem sie dich abgespeist haben.«

»Ich habe wirklich versucht, die Wahrheit herauszufinden«, verteidigte ich mich.

»Das weiß ich doch, Süßer.«

»In einer Familie, die so groß ist wie die Droods, gibt es oft eine Menge Sachen, bei denen die Rechte nicht weiß, was die Linke tut. Die Dinge werden getan, weil sie getan werden müssen, und erst hinterher offiziell autorisiert. Wenn überhaupt. Eine Menge Aufzeichnungen aus dieser Zeit sind ein einziges Chaos, dank der Störungen seitens der Nulltoleranz-Fraktion.«

»Aber es steckt mehr dahinter«, sagte Molly. Ihre Stimme klang sehr ernst. Sie sah mich immer noch nicht an. »Isabella sagt, dass der Tod unserer Eltern mit dem deiner Eltern verbunden ist. Dass sie aus dem gleichen Grund getötet wurden. Es gab etwas, das sie beide wussten.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Meine Eltern waren Drood-Agenten gewesen, die an der Front, im Baskenland, umgekommen waren. Ursachen waren hauptsächlich unzureichende Planung im Voraus und fehlende verlässliche Analysen. Oder wenigstens war es das, was mir meine Familie gesagt hatte. Aber wie so viele Dinge, die meine Familie betrafen, konnte das wahr sein oder auch nicht.

»Nimm dich in Acht«, sagte ich schließlich zu Molly. »Wenn meine Familie herausfindet, dass du dich mit der Geschichte der Droods beschäftigst und mit Geheimnissen, die so schrecklich sind, dass sie sie sogar vor mir verbergen … Molly, wirklich, du musst vorsichtig sein. Du hast keine Ahnung, zu was meine Familie fähig ist, wenn sie sich selbst schützen will. Was macht deine Schwester so sicher? Mit wem hat sie geredet?«

»Das werde ich dir nicht sagen«, sagte Molly. »Du wärst nicht einverstanden.« »Molly -«

»Eddie, vertrau mir. Das willst du nicht wissen. Und jetzt überlass alles Weitere mir. Konzentrier du dich auf den Autonomen Agenten und darauf, dieses dämliche Spiel zu gewinnen. Wenn alles vorbei ist, dann komm wieder her und ich werde dir sagen, was ich herausgefunden habe. Und dann entscheiden wir zusammen, was wir tun müssen. Um den Tod unserer Eltern zu rächen.«

»Ja«, sagte ich. »So machen wir's. Die Schuldigen werden bestraft. Egal, wer sie sind.« Wir legten uns wieder nebeneinander ins Gras. Die Vögel sangen und eine angenehm kühle Brise strich über unsere nackten Körper. Die Luft war angefüllt mit dem Geruch nach Gras und Erde und lebenden Wesen. Ich sah in den Himmel und dachte über eine ganze Menge Dinge nach.

»Wenn du - durch irgendeinen faulen Betrug! - nicht gewinnen solltest und nicht zurückkommst«, meinte Molly Metcalf, »dann werde ich Alexander King für dich umbringen.« »Ja«, antwortete ich. »Mach das.«

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