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Der Parasit machte von seinem Spürsinn Gebrauch, um die seltsame und fremdartige Umgebung zu untersuchen, in der er sich im Augenblick befand. Er konnte weder sehen noch hören, aber sein Spürsinn arbeitete in dieser Beziehung ohnehin besser; er »sah« in jeder Richtung etwa zwanzig Meter weit sehr deutlich und weitere zwanzig allmählich weniger klar, aber sein Gesichtsfeld wurde nicht durch natürliche Hindernisse eingeengt. Er sah die Rinde eines Baumes auf der ihm abgewandten Seite ebenso deutlich wie auf der ihm zugekehrten. In den Erdboden hinein sah er ebenso weit und klar wie in jede andere Richtung. Für Schwingungen war sein Spürsinn sogar noch empfindlicher und sprach innerhalb einer gewissen Entfernung besonders genau an.

Er sah nicht nur die Würmer, die sich unter ihm durch das Erdreich schlängelten, sondern ›hörte‹ sie gleichzeitig; sie setzten ihn in Erstaunen, denn auf den anderen Planeten, die er kannte, gab es diese Lebensform nicht. Aber sie schienen nicht gefährlich zu sein. Auch von den wenigen kleinen Vögeln in den Bäumen über ihm drohte keine Gefahr. Diese Tiere kannte er, denn auf allen Planeten, deren Atmosphäre dicht genug ist, entwickeln sich ähnliche fliegende Lebewesen. (Aber diese gigantischen Bäume, in denen sie ihre Nester bauten!) Und dann bemerkte er noch ein seltsames vierbeiniges Tier, das in einer Höhle unter der Erde schlief, die es sich selbst gegraben zu haben schien.

Da der Vierfüßler schlief, wußte der Parasit, daß er von dem Verstand des Tieres Besitz ergreifen konnte, daß er hier einen Wirt vor sich hatte. Aber das erschien wenig lohnend. Wo kleinere Tiere lebten, da gab es meistens auch größere, die stärker waren und zudem mehr Intelligenz besaßen. Vielleicht sogar ...

Ja! Als er seine Umgebung ein zweites Mal untersuchte, fiel ihm etwas auf, das er beim erstenmal nicht bemerkt hatte. Kaum zehn Meter von ihm entfernt lag ein rostiges Taschenmesser, das jemand verloren oder weggeworfen hatte. Er wußte nicht, daß dies ein Taschenmesser war, aber jedenfalls handelte es sich dabei um ein Werkzeug. Und ein Werkzeug bedeutete, daß auf diesem Planeten intelligente Lebewesen wohnen mußten!

Andererseits bedeutete es aber auch Gefahr. Diese Lebewesen konnten sich als feindselig erweisen, und er war klein und verwundbar. Er mußte mehr über sie in Erfahrung bringen – am besten dadurch, daß er den Verstand eines dieser Wesen in Besitz nahm, während es schlief. Auf diese Weise konnte er mehr lernen als durch langwierige Beobachtung.

Er lag in unmittelbarer Nähe eines Weges und konnte sich nicht sicher fühlen, bevor er nicht wenigstens das hohe Gras erreicht hatte, das einen Meter von ihm entfernt wuchs. Diese Art von Versteck war selbstverständlich wirkungslos, falls sich jemand in seiner Nähe aufhielt, der ebenfalls einen Spürsinn besaß. Aber die Aussichten standen tausend zu eins, daß die intelligenten Lebewesen hier – gleichgültig wie sie sonst aussehen mochten – diesen Sinn nicht entwickelt hatten. Er wußte aus Erfahrung, daß es kaum wahrscheinlich war, daß die Lebewesen eines Planeten zu gleicher Zeit Gesichtssinn und Spürsinn besaßen – entweder den einen oder den anderen, aber nicht beide gleichzeitig. Und hier hatten die Vögel und das vierbeinige Tier Augen.

Er versuchte, den einen Meter schwebend zurückzulegen, und war nicht überrascht, als es ihm nicht gelang, denn er hatte bereits aus mehreren Anzeichen geschlossen, daß er sich hier auf einem Planeten mit hoher Schwerkraft befand. Und seine Rasse – selbst auf ihrem eigenen Planeten – hatte die Fähigkeit zu dieser Art der Fortbewegung fast verloren. Sie war zu anstrengend, und da sie alle über einen Wirt verfügten, ließen sie sich lieber von ihm bewegen, wenn es notwendig sein sollte.

So mußte er weiterhin hilflos liegenbleiben, bis er einen Wirt gefunden hatte, der stark genug war, um ihn an einen anderen Ort zu schaffen. Und das einzige Lebewesen, das in seiner Nähe schlief, das einzige, von dem er Besitz ergreifen konnte, war entschieden zu klein und wog wahrscheinlich nur halb soviel wie er. Selbstverständlich konnte er sein Gewicht dadurch verringern, daß er zu schweben versuchte, während das vierbeinige Wesen ihn ...

Plötzlich nahm er in einiger Entfernung etwas wahr und konzentrierte sich völlig darauf. Falls ihm aus dieser Richtung eine Gefahr drohte, war es bereits zu spät, lange Experimente anzustellen, ob das kleine Tier ihn fortbewegen konnte.

Zunächst spürte er nur, daß die Erde wie unter schweren Schritten vibrierte, aber dann nahm er auch die anderen Schwingungen wahr, die nicht durch den Boden, sondern durch die Luft zu ihm drangen. Sie glichen den Lauten, die bestimmte Lebewesen – gewöhnlich mit Verstand begabte – von sich gaben, wenn sie miteinander sprachen, um sich zu verständigen. Es schien sich dabei um zwei verschiedene Stimmen zu handeln, denn eine klang höher als die andere. Selbstverständlich begriff der Parasit den Sinn des Gesagten nicht, er vermochte auch die Gedanken dieser Wesen nicht zu lesen; die Angehörigen seiner Rasse verständigten sich zwar durch Telepathie, aber nur untereinander.

Endlich erkannte er sie deutlicher. Wie vermutet, hatte er zwei Wesen vor sich. Das eine war etwas größer als das andere, aber beide waren ziemlich groß. Offensichtlich gehörten sie zu der intelligenten Rasse – oder einer intelligenten Rasse, denn sie trugen beide Kleidungsstücke, wie sie nur in einem gewissen Entwicklungsstadium gebräuchlich sind. Sie gingen aufrecht und hatten jeder zwei Füße und zwei Hände – das bedeutete, daß sie hervorragende Wirte sein konnten, aber im Augenblick hatte der Parasit keine Zeit für derartige Überlegungen. Jetzt mußte er überleben, bis er von einem dieser Wesen Besitz ergreifen konnte, während es schlief.

Er sah, daß die beiden Wesen zu verschiedenen Geschlechtern derselben Rasse gehörten – denn er bemerkte zwar ihre Bekleidung, aber der Stoff behinderte ihn nicht; er hätte die Organe ihrer Körper genauso leicht studieren können wie jetzt ihre Körper. Anscheinend hatte er hier Säugetiere vor sich.

In seiner Verzweiflung ergriff er von dem einzigen verfügbaren Wirt Besitz – von dem kleinen Vierfüßler. Er nahm sich nicht erst die Zeit, ihn genauer kennenzulernen, sondern setzte ihn sofort aus seiner Höhle heraus in Bewegung. Er mußte die beiden Fremden aufhalten oder zumindest von dem Weg abbringen. Jedenfalls hatte er nichts zu verlieren, denn selbst in einem kleinen, schwachen Wirt war er sicherer als in gar keinem. Vielleicht – das war allerdings nicht sehr wahrscheinlich – stellte dieses winzige Lebewesen eine Bedrohung für größere und stärkere Lebensformen dar. Vielleicht war es giftig oder auf andere Weise gefährlich. Schließlich existierten auf zahlreichen Planeten kleine Tiere, die auf ähnliche Art die größeren terrorisierten. Außerdem bestand die Möglichkeit, daß die Zweibeiner das Tier zu fangen versuchten, weil sie es essen wollten. In diesem Fall hoffte der Parasit nur, daß es so schnell wie sie rennen konnte, denn damit hatte er eine Gelegenheit, die Zweibeiner von dem Weg abzubringen, bis sie an ihm vorüber waren. Dann konnte es sich ohne Bedenken fangen und töten lassen.

Auf jeden Fall mußte es sich später selbst umbringen oder sich töten lassen. Genauso wie er nur von einem Wirt Besitz ergreifen konnte, während dieser schlief, so konnte er ihn nur wieder verlassen, wenn der Wirt den Tod fand. Und dieser Wirt war wirklich zu schwach und winzig, als daß er ihn länger als unbedingt nötig benutzen wollte.


Charlotte Garner blieb plötzlich stehen, und da Tommy Hoffmann Arm in Arm mit ihr ging, verlor er einen Augenblick lang fast das Gleichgewicht. Er sah Charlotte fragend an und blickte zu Boden, als sie auf den Weg zeigte.

»Sieh doch, Tommy«, sagte sie. »Eine Feldmaus. Wie komisch sie sich aufführt!«

Tommy sah hin. »Hm, wirklich merkwürdig«, murmelte er.

Die Feldmaus saß kaum einen Meter von ihnen entfernt mitten auf dem Weg und machte Männchen wie ein Hase. Aber doch benahm sie sich anders als ein Hase, denn sie bewegte die Vorderpfoten rasch auf und ab, als wolle sie den beiden ein Zeichen geben. Und die kleinen Augen der Maus starrten geradewegs nach oben.

»Ich habe noch nie eine gesehen, die sich so benimmt«, stellte Charlotte fest. »Sie sieht uns richtig freundlich an und scheint gar keine Angst vor uns zu haben. Vielleicht hat jemand sie gezähmt, bis sie dann doch fortgelaufen ist – aber jedenfalls fürchtet sie sich nicht vor Menschen.«

»Kann schon sein. Sonst rennen sie immer gleich fort. Okay, Mausi, jetzt mußt du Platz machen, sonst steigen wir über dich hinweg.«

»Einen Augenblick«, warf Charlotte ein und ließ seinen Arm los. »Sie ist so zahm, daß sie sich bestimmt aufheben läßt.«

Noch bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, beugte Charlotte sich nieder, streckte die Hand aus und hielt die kleine Maus fest. Charlotte bewegte sich so rasch, daß weder Tommy protestieren konnte (falls er gewollt hätte) noch die Maus fortlaufen konnte (falls sie gewollt hätte).

»Oh, Tommy, ist sie nicht süß?«

»Okay, dann ist sie eben süß. Aber du willst sie doch nicht etwa mitnehmen, Charlotte? Du kannst sie schließlich nicht festhalten, wenn wir ...«

»Ich lasse sie gleich wieder laufen, Tommy. Ich wollte nur sehen, ob sie sich wirklich aufheben lassen würde. Und sie ein bißchen streicheln. Au!« Sie ließ die Maus fallen. »Das kleine Biest hat mich gebissen!«

Die Feldmaus lief einige Meter weit fort, blieb dann stehen und sah sich um, ob sie verfolgt wurde. Die beiden Menschen standen immer noch an der gleichen Stelle; sie sahen ihr nicht einmal nach und hatten keine Bewegung in ihre Richtung gemacht.

»Tut es weh, Liebling?« fragte Tommy besorgt.

»Nein, eigentlich gar nicht. Es hat mich nur im Augenblick erschreckt.« Sie sah zufällig zu Boden. »Tommy! Sieh doch!«

Die kleine Maus kam auf sie zu gerannt. Sie begann an Tommys Hosenbein heraufzuklettern. Er wischte sie mit einer raschen Handbewegung von sich ab, so daß sie sich mehrmals überschlug. Aber sie griff ihn sofort wieder an – falls sie ihn wirklich angreifen wollte. Diesmal hatte Tommy sie genau beobachtet und war darauf vorbereitet. Er hob den Fuß und trat fest auf. Dann stieß er die Überreste der Maus mit der Schuhspitze vom Weg.

»Tommy! Mußte das sein ...?«

Sein Gesichtsausdruck war ernst, als er sich zu ihr umdrehte. »Charlotte, das Tier muß die Tollwut gehabt haben, denn sonst hätte es mich nicht zweimal angefallen. Wenn die Stelle blutet, wo sie dich gebissen hat, dann müssen wir so schnell wie möglich in die Stadt zurück. Und das Tier mitnehmen, damit es auf Tollwut untersucht werden kann. Wo hat die Maus dich gebissen, Charlotte?«

»Hier – hier oberhalb der Brust. Aber ich glaube nicht, daß die Stelle blutet – die Zähne sind gar nicht durch den Pullover gedrungen. Eigentlich hat sie mich nur gezwickt. Es hat nicht richtig weh getan, ich habe sie nur aus Schreck fallen lassen.«

»Wir müssen trotzdem nachsehen. Zieh den Pullover ... Nein, wir sind schon fast dort. Die eine Minute spielt bestimmt keine Rolle, und hier könnte jemand kommen.«

Er nahm sie bei der Hand und eilte so rasch weiter, daß sie beinahe rennen mußte, um mit ihm Schritt zu halten.

»Sieh mal, Tommy, eine Schildkröte«, sagte sie einen Augenblick später.

Er blieb nicht stehen. »Hast du heute nachmittag nicht schon genug mit Tieren gespielt? Komm, Liebling!«

Noch wenige Schritte, dann verließen sie den Weg, bogen das Gebüsch zur Seite und strebten auf die kleine Lichtung zu, die sie gemeinsam entdeckt hatten und seitdem als ihr persönliches Eigentum betrachteten. Der grasbewachsene Fleck war auf allen Seiten von dichtem Unterholz umgeben und gleichzeitig weit genug vom Weg entfernt, daß ihre Stimmen nicht bis dorthin drangen. Und außerdem war diese Stelle leicht erreichbar – jedenfalls für junge Menschen, für die ein drei Kilometer langer Spaziergang ein Vergnügen und keine Anstrengung bedeutete.

Sie waren beide jung und sehr verliebt. Tommy Hoffmann war siebzehn, Charlotte Garner sechzehn Jahre alt. Sie waren zusammen aufgewachsen, hatten als Kinder miteinander gespielt und besuchten jetzt dieselbe Schule. Jetzt gingen sie sogar in die gleiche Klasse, denn Tommy, der keinen übermäßigen Lerneifer bewies, war einmal sitzengeblieben.

Vor einem halben Jahr hatten sie beschlossen, daß sie so bald wie möglich heiraten würden. Tommy hatte sofort die Schule aufgeben wollen, um Charlotte heiraten zu können, denn seiner Meinung nach stand dem nichts im Wege. Er konnte mit seiner jungen Frau bei seinem verwitweten Vater leben, dessen einziger Sohn er war. Mr. Hoffmanns Haus war groß genug, daß sie alle darin wohnen konnten, Tommy würde seinem Vater ganztägig helfen, während Charlotte den Haushalt führte. Warum sollten sie also noch zwei Jahre warten? Wozu mußte ein Farmer die Oberschule abgeschlossen haben?

Schließlich einigten sich die beiden jungen Leute mit Charlottes Eltern und Tommys Vater auf einen Kompromiß. Sie würden noch ein Jahr lang warten und weiter in die Schule gehen, bis Tommy achtzehn war. Dann würden sie mit Erlaubnis der Eltern austreten und heiraten.

Das war vor einem halben Jahr gewesen, und jetzt hatten sie nur noch ein weiteres halbes Jahr zu warten. In gewisser Beziehung hatten sie das Warten allerdings bereits vor einigen Wochen aufgegeben, ohne deswegen moralische Bedenken zu haben. Nun waren sie zum viertenmal hierher gekommen, und auch diesmal war es wunderbar; aber diesmal war es anders, obwohl sie nichts davon ahnten.

Diesmal wurden sie von einem Wesen beobachtet, das durch Bäume und Gebüsch hindurchsehen konnte, das schrecklicher war als alles, was die beiden sich je in einem Alptraum hätten vorstellen können.

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