Der Parasit ruhte sich aus. Er hatte das gesamte Wissen seines Wirtes in sich aufgenommen, hatte es gleichzeitig nach Sachgebieten geordnet und auf spätere Verwendbarkeit geprüft.
Jetzt wußte er alles über die Erde, was Tommy wußte, und das war genug, um ihm einen allgemeinen Eindruck zu verschaffen. Er wußte nun, wie groß dieser Planet ungefähr war – allerdings nicht genau in Zahlen ausgedrückt –, und daß er zum größten Teil von salzhaltigen Ozeanen bedeckt war, obwohl er auch beträchtliche Landmassen aufwies. Er wußte, daß die einzelnen Kontinente in Staaten aufgeteilt waren, und wo die wichtigsten lagen.
Seine Kenntnisse der unmittelbaren Umgebung waren erheblich besser. Er wußte, daß er sich in einem wenig besiedelten Landstrich befand, der allerdings nur sechs Kilometer von der nächsten Stadt entfernt war. Diese Stadt hieß Bartlesville und hatte etwa zweitausend Einwohner. Sie lag in einem Staat namens Wisconsin, der Bestandteil eines Landes war, das Vereinigte Staaten von Amerika genannt wurde. Die nächste größere Stadt, Green Bay, war etwa siebzig Kilometer in südöstlicher Richtung entfernt. Von Green Bay aus mußte man fast hundertsechzig Kilometer weit fahren, um in eine wirkliche Großstadt zu kommen, die Milwaukee hieß. Und weitere hundertvierzig Kilometer südlich davon lag Chicago, eine der größten Städte der Vereinigten Staaten. Er wußte, wie es in diesen Städten aussah, denn Tommy war dort gewesen. Aber nicht weiter; Tommy war nie über Chicago hinausgekommen.
Sehr gut wußte er eigentlich nur über Bartlesville und seine Umgebung Bescheid. Und das war gut so, denn er mußte damit rechnen, daß er noch längere Zeit hier verbringen würde. Vor allem interessierte er sich für die Tierwelt dieser Gegend und kannte nun die Fähigkeiten und Unzulänglichkeiten der hier vorkommenden Tierarten. Falls er wieder einmal ein Tier als Wirt benutzen wollte, konnte er genau das nehmen, das für den jeweiligen Zweck besonders geeignet war.
Noch wichtiger war allerdings, daß er nun wußte, daß die Menschen die einzigen mit Verstand begabten Lebewesen auf der Erde waren, und daß hier eine einigermaßen fortgeschrittene Naturwissenschaft existierte. Während Tommy auf diesem Gebiet nur geringe Kenntnisse besaß (über Elektrizität wußte er zum Beispiel nur genug, um eine Klingel zu installieren oder einen Schalter zu ersetzen), hatte er eine Vorstellung davon, daß es Menschen gab, die sich mit Elektronik beschäftigten. Die Bedeutung des Wortes selbst war ihm nicht ganz klar, aber er hatte einen Radioapparat in seinem Zimmer stehen. Auch von Fernsehgeräten hatte er bereits gehört. Und er wußte, daß man Flugzeuge mit Radar orten konnte, obwohl er dessen Arbeitsweise nicht verstand. Wo es diese Geräte gab, da mußte es auch Menschen geben, die etwas von Elektronik verstanden.
Und der Parasit hatte die Absicht, von einem dieser Männer Besitz zu ergreifen, der Zugang zu den nötigen Informationen und Materialien hatte. Wahrscheinlich würde er Schritt für Schritt vorgehen müssen – und dabei jeweils den Wirt wechseln –, aber er wußte, daß er dies Ziel erreichen konnte, wenn er sorgfältig genug plante. Und das hatte er vor. Er wollte nach Hause zurück.
Er stammte von einem Planeten, der in einer Entfernung von dreiundsiebzig Lichtjahren um eine Sonne kreiste – in Richtung des Sternbilds Andromeda. Diese Sonne war von der Erde aus nur so schwach zu erkennen, daß sie nie einen Namen erhalten hatte, sondern nur als Nummer in den Sternkatalogen geführt wurde.
Er war nicht freiwillig gekommen; er war hierher geschickt worden. Nicht als Beobachter oder Vorbote einer Invasion (obwohl es dazu noch kommen konnte, falls er jemals zurückkehren sollte), sondern als ein Verbannter. Er hatte ein Verbrechen begangen. Um dieses Verbrechen erklären und beschreiben zu können, müßte man mit dem so völlig verschiedenartigen Gesellschaftssystem vertraut sein, dem der Parasit entstammte. Deshalb muß es genügen, wenn hier festgestellt wird, daß seine Strafe die Verbannung war.
Er war nicht in einem Raumschiff auf die Erde gekommen. Man hatte ihn mit Hilfe eines uns unbekannten Verfahrens per Energiestrahl ins All hinausbefördert. Diese Beschreibung ist ungenau, aber doch ebenso treffend, wie jeder andere Erklärungsversuch mit unseren sprachlichen Mitteln. Dieser Vorgang hatte sich blitzschnell abgespielt; eben hatte der Parasit sich noch auf seinem Heimatplaneten in dem Projektor befunden, aber bereits in der nächsten Sekunde lag er neben dem Weg in den Wäldern nördlich von Bartlesville, Wisconsin.
Sein Verbannungsort war bestimmt worden, ohne daß bekannt gewesen wäre, ob er bewohnt oder unbewohnt war, denn die Parasiten kannten Milliarden von Planeten, die wegen Zeitmangels noch nicht erforscht worden waren.
Jedenfalls befand er sich jetzt hier und wollte wieder nach Hause zurück. Es gab zwei entscheidende Gründe, die dies möglich erscheinen ließen.
Erstens hatte er Glück gehabt, als er auf einen Planeten geschickt wurde, auf dem intelligente Wesen lebten, die naturwissenschaftliche Kenntnisse besaßen, selbst wenn diese noch so primitiv waren. Auf einem unbewohnten Planeten wäre der Parasit völlig hilflos gewesen. Aber auch auf einem bewohnten, auf dem sich noch keine intelligenten Spezies entwickelt hatten, denn dort hätte er vielleicht einen Projektor konstruieren können, aber die Aussichten dafür wären denkbar gering gewesen. (Sie brauchen sich nur vorzustellen, wie schwer es für einen Dinosaurier wäre – selbst mit entsprechender Anleitung –, ein Germaniumvorkommen aufzuspüren, das Metall zu verarbeiten und daraus einen Transistor herzustellen.)
Zweitens würde er zu Hause freudig begrüßt werden und straffrei ausgehen – und sogar mit Ehrungen überhäuft werden –, falls er den Weg zurück fand. Jeder Verbannte hatte diese Chance, aber kaum einer von ihnen wußte sie zu nutzen.
Ein zurückgekehrter Verbannter wurde in der Tat hoch geehrt und als Held gefeiert, wenn er die Nachricht mitbrachte, daß es anderswo Lebewesen gab, die sich besser als die bisher gebräuchlichen Wirte für die Zwecke der Parasiten eigneten.
Und diese Bedingung konnte er erfüllen. Als Tommy ihn transportierte, war ihm aufgefallen, daß die Menschen neben vier Fingern an ihrer Hand auch einen Daumen besaßen, wie sonst keines der bekannten Lebewesen in der Galaxis. Der Parasit erfaßte sofort, daß die Menschen sich folglich ganz besonders für manuelle Verrichtungen eigneten. Vielleicht konnte er den Projektor so groß bauen, daß auch ein Mensch darin Platz hatte. Auf diese Weise wurde eine Expedition auf die Erde überflüssig – die Versklavung konnte sofort in großem Maßstab beginnen.
Alles das konnte er erreichen, wenn er überlegt und methodisch vorging, ohne dabei Fehler zu machen. Dabei hatte er bereits einen begangen, wie er jetzt wußte. Er hatte seinen gegenwärtigen Wirt gegen die Spielregeln des menschlichen Zusammenlebens verstoßen lassen, wodurch sich die Aufmerksamkeit der Allgemeinheit auf ihn konzentrieren mußte. In den folgenden Tagen und Wochen würde Tommy Hoffmann neugierig und mißtrauisch beobachtet werden, was seinen Wert als Wirt mindern würde.
Was er hätte tun sollen – und was er getan hätte, wenn er Tommys Gedanken zuvor untersucht hätte –, war folgendes: Er hätte sich von Tommy verstecken lassen sollen – aber nicht in der weit entfernten Höhle, sondern vorerst nur in dem hohen Gras am Rande des Weges. Dann hätte er zu der noch immer schlafenden Charlotte zurückkehren müssen, um sich selbst wieder schlafend zu stellen. Auf diese Art und Weise hätte der Parasit genügend Zeit gehabt, um alles über die Beziehungen zwischen Tommy und dem Mädchen, die allgemein üblichen Reaktionen und das Gefühlsleben der Menschen in Erfahrung zu bringen. Mit Hilfe dieses neu erworbenen Wissens hätte er sich völlig normal benehmen können, so daß das Mädchen keinen Grund zum Verdacht gehabt hätte.
Später hätten sie sich wieder angezogen und wären nach Hause zurückgekehrt, wie sie es vorgehabt hatten. (Der Parasit konnte seinen Wirt über beträchtliche Entfernungen hinweg kontrollieren, wenn er erst einmal Besitz von ihm ergriffen hatte.) Am folgenden Morgen hätte Tommy allein zurückkehren müssen, um ihn in die Höhle zu tragen und dort zu verstecken. Dann hätte er nach Hause zurückkehren können, ohne unnötige Aufmerksamkeit zu erregen.
So hätte er vorgehen sollen, aber dazu war es bereits zu spät, als er darüber nachdachte. Folglich mußte der Plan genügen, den er sich unterdessen zurechtgelegt hatte. Er beruhte auf einer bei den Menschen vorkommenden Krankheit, die Tommy unter dem Namen Gedächtnisschwund bekannt war.
Tommy konnte die ganze Nacht vor der Höhle verbringen und sie bewachen. Früh am nächsten Morgen würde er dann seine Kleidungsstücke holen (das Mädchen hatte sie bestimmt zurückgelassen) und nach Hause gehen. Dort konnte er sich einfach genug herausreden. Er und das Mädchen waren müde gewesen, deshalb hatten sie sich ausruhen wollen. Dann war er eingeschlafen. Und im Morgengrauen war er an einer anderen Stelle im Wald aufgewacht, ohne zu wissen, wie er dorthin gekommen war. So weit konnte er unmöglich im Schlaf umhergeirrt sein – außerdem war Tommy kein Schlafwandler –, deshalb mußte er einen Grund dafür gehabt haben, an den er sich jetzt nicht mehr erinnern konnte. Ein klarer Fall von Gedächtnisschwund ... Vermutlich würde man ihn zu einem Arzt schicken, der nur mit den Schultern zucken würde. Von dann ab würde Tommy sich in den Augen der anderen völlig normal benehmen, bis er seine Rolle als Wirt ausgespielt hatte; dann würde er entweder Selbstmord begehen oder seinen Tod auf eine Weise herbeiführen, die auf einen Unfall schließen ließ.
Die Geschichte, die Tommy erzählen sollte, hatte einen Vorteil – sie widersprach dem Bericht des Mädchens in keinem Punkt, was sie auch immer erzählt haben mochte. Vielleicht hatte sie vor Angst ihrer Familie die ganze Wahrheit gebeichtet – daß sie und Tommy nackt geschlafen hatten, und daß er in diesem Zustand verschwunden war. Oder sie hatte diesen Punkt überhaupt nicht erwähnt. Wenn dies zutraf, stimmte seine Geschichte mit ihrer überein. Falls man ihm aber vorhielt, daß Charlotte etwas anderes erzählt hatte, dann konnte er immer noch schüchtern zugeben, daß er tatsächlich nackt gewesen sei. Jeder würde Verständnis dafür haben, daß er davon anfangs nichts erwähnt hatte.
Plötzlich schrak er aus seinen Gedanken auf. Durch Tommys Augen erkannte der Parasit zwei Lichtpunkte, die sich dem Eingang der Höhle näherten. Und durch Tommys Ohren hörte er das aufgeregte Kläffen eines Hundes, der einer Spur folgte, und stellte fest, daß es sich dabei um Buck, den Hund von Tommys Vater, handelte.
Er wußte sofort, was geschehen war. Tommys Vater hatte sich offensichtlich mehr Sorgen gemacht, als Tommy vermutet hatte. (Wahrscheinlich hatte Charlotte alles erzählt.) Tommy war der Meinung gewesen, daß man vielleicht morgen nach ihm suchen würde, aber nicht noch am gleichen Abend nach Anbruch der Dunkelheit. Und vor allem war er niemals auf den Gedanken gekommen, daß jemand Buck auf seine Spur ansetzen würde.
Aber jetzt näherten sie sich – zwei Männer und der Hund. Einer der Männer mußte Tommys Vater sein, der andere vermutlich Charlottes Vater.
Und der Hund würde sie geradewegs zum Eingang der Höhle führen!
Er mußte sie ablenken, sie in eine andere Richtung führen. Selbst wenn er dadurch seinen gegenwärtigen Wirt verlieren sollte. Er durfte nicht zulassen, daß die beiden Männer auf die Höhle aufmerksam gemacht wurden. Sie waren nur noch hundert Meter davon entfernt und gingen geradewegs darauf zu, denn der Hund folgte Tommys Spur.
Tommy – oder vielmehr Tommys Körper – sprang auf, brach durch das Unterholz und rannte auf die Laternen zu. Er blieb erst stehen, als er die erste fast erreicht hatte. Buck kläffte freudig und zerrte an seiner Leine, als er Tommy erkannte. Gus Hoffmann wich vor Überraschung einen Schritt zurück. »Tommy!« rief er laut. »Tommy, wo, zum Teufel, treibst du dich herum ...?«
Noch zu nahe an der Höhle. Er warf sich herum und rannte weiter, diesmal schräg zu seiner bisherigen Richtung. Die beiden Männer folgten ihm und riefen hinter ihm her. »Tommy! Tommy, bleib stehen!« Er hörte, daß Garner sagte: »Laß doch die Leine los. Buck erwischt ihn bestimmt!« Und sein Vater antwortete: »Das schon, aber er würde einfach mitlaufen. Dann wären wir beide los.«
Er konnte nicht geradeaus weiterlaufen, weil er sich an die mondbeschienenen Stellen halten mußte, wo er für seine Verfolger sichtbar blieb. Gelegentlich benutzten sie trotz der Dunkelheit eine Abkürzung, weil ihre Laternen den Weg hell genug beleuchteten, aber er rannte wesentlich schneller und ließ sie bald hinter sich zurück. Dann hatten sie ihn aus den Augen verloren und mußten sich wieder auf Buck verlassen, wodurch sie noch langsamer vorankamen.
Nun konnte er sich eine kurze Pause gönnen, um wieder zu Atem zu kommen, und als er weiterlief, schlug er ein gemäßigteres Tempo ein, das er längere Zeit hindurch einhalten konnte. Jetzt hatte er ein bestimmtes Ziel und beschrieb deshalb einen weiten Kreis, der ihn zu seinem Ausgangspunkt zurückführen mußte.
Und von dort aus waren es nur noch wenige Schritte bis zu der Stelle, wo er das Werkzeug bemerkt hatte (er wußte jetzt, daß es ein Taschenmesser war), bevor die beiden Menschen den Weg entlang gekommen waren.
Es lag in dem hohen Gras versteckt an einer Stelle innerhalb dunkler Schatten. Tommys Augen genügten unter diesen Umständen nicht, so daß der Parasit sich auf Tommys Tastsinn verlassen mußte. Die Suche dauerte eine gewisse Zeit, aber schließlich hatte Tommy das Messer doch in der Hand und stand damit auf.
Er brach sich den Nagel eines Daumens beim Öffnen des Messers ab, klappte die rostige Klinge aber doch mit Hilfe des anderen Nagels auf.
Dann setzte Tommy das Messer an und brachte sich einen tiefen Schnitt am linken Handgelenk bei. Er nahm das Messer in die andere Hand und schnitt sich auch das rechte auf. Die Schnitte gingen tief ins Fleisch – fast bis auf die Knochen –, so daß das Blut aus den Wunden spritzte. Er legte sich nicht nieder, aber innerhalb einer Minute verlor er das Bewußtsein und brach zusammen.
Er war tot, als die beiden Männer und der Hund ihn schließlich erreichten.
Und der Parasit befand sich wieder in seinem eigenen Körper in Sicherheit, der in der Höhle unter zwanzig Zentimeter Sand verborgen lag.