5


Gus Hoffmann hatte eine schreckliche Nacht hinter sich.

Er war bei der Leiche seines Sohnes geblieben, während Jed Garner zurücklief, um Hilfe herbeizuholen. In dieser Zeit zog er Tommy die Kleidungsstücke an, die Garner über dem Arm getragen hatte. Allerdings nicht etwa deshalb, weil er dem Sheriff gegenüber die Wahrheit verschweigen wollte, wie sie Tommy gefunden hatten, sondern weil es ihm unpassend erschien, den Jungen nackt zu transportieren.

Garner rannte geradewegs nach Hause zurück. Dabei kam er an drei anderen Farmhäusern vorbei, bevor er sein eigenes erreichte, aber er wollte Charlotte die Todesnachricht selbst überbringen, anstatt ihr am Telefon davon zu berichten. Sie hielt sich besser, als er zu hoffen gewagt hatte. In gewisser Beziehung war sie bereits darauf vorbereitet gewesen, denn sie hatte geahnt, daß sie Tommy nie mehr lebend wiedersehen würde, als sie allein nach Hause lief.

Dann rief Garner den Sheriff in der Kreisstadt Wilcox an, die dreißig Kilometer entfernt war. Der Sheriff kam in einem Krankenwagen, in dem die Leiche transportiert werden konnte, und brachte den Coroner mit, der Tommy an Ort und Stelle untersuchen sollte. Garner führte sie in den Wald, und die vier Männer wechselten sich ab, als sie die Tragbahre mit der Leiche auf die Straße zurücktrugen. Buck blieb bei ihnen, bis der Motor des Krankenwagens aufheulte; dann rannte er über die Felder davon.

Im Leichenschauhaus von Bartlesville untersuchte der Coroner die Leiche ein zweites Mal, während der Sheriff Hoffmann und Garner ausfragte. Der Coroner beendete seine Untersuchung und berichtete, daß seiner Meinung nach kein Zweifel an der Todesursache bestehen könne – Blutverlust durch die schweren Verletzungen beider Handgelenke – und daß sonst keine Spuren von Gewaltanwendung zu finden waren, wenn man von geringfügigen Kratzern und Schürfwunden absah. Falls der Sheriff darauf bestand, konnte eine Autopsie vorgenommen werden, aber der Coroner glaubte nicht, daß sie neue Aufschlüsse bringen würde.

Der Sheriff war derselben Meinung, bestand aber darauf, daß eine Jury zusammentrat, um Tommys Tod zu klären. Die Entscheidung stand bereits fest – Selbstmord im Zustand geistiger Umnachtung –, aber er hoffte, daß eine Erklärung dafür auftauchen würde, wieso ein junger Mann, der nie zuvor Anzeichen einer geistigen Erkrankung gezeigt hatte, plötzlich so verrückt werden konnte. Außerdem blieb noch die Herkunft des verrosteten Taschenmessers mit der abgebrochenen Klinge zu klären. Hoffmann wußte bestimmt, daß es nie Tommy gehört hatte. Und beide Männer konnten beschwören, daß der Junge es nicht bei sich getragen haben konnte, als sie ihm begegneten. Er mußte das Messer dort gefunden haben, wo er es benutzt hatte, aber wie konnte er wissen, daß es dort lag?

»Dann lasse ich also die Jury morgen nachmittag um vierzehn Uhr zusammentreten«, sagte der Sheriff schließlich. »Einverstanden?«

Hoffmann und Garner nickten wortlos, aber der Coroner zog die Augenbrauen hoch. »Warum so früh, Hank?«

»Ganz einfach, Doc – vielleicht ergibt sich in der Verhandlung ein Grund für eine Autopsie. Wenn es dazu kommt, dann sollte sie so früh wie möglich stattfinden. Ich werde die Jury gleich hier im Leichenschauhaus zusammentreten lassen, damit wir die Leiche nicht erst nach Wilcox überführen müssen. Wer war übrigens Tommys Arzt, Gus? Dr. Gruen?«

»Richtig«, antwortete Hoffmann. »Tommy war allerdings nur sehr selten bei ihm. Er war immer kerngesund.«

»Na, jedenfalls werden wir ihn auch vorladen. Und vielleicht auch einige von Tommys Lehrern – aber ich werde mich erst noch einmal mit ihnen unterhalten, ob ihnen etwas an ihm aufgefallen ist. Sonst hat die Vorladung wenig Sinn.«

Er wandte sich an Garner. »Tut mir leid, Jed, aber Charlotte wird ebenfalls aussagen müssen. Ich werde ihr keine überflüssigen Fragen stellen, aber sie muß bezeugen, daß Tommy nichts anhatte, als er im Wald verschwand. Nur so läßt sich nachweisen, daß er – äh – nicht mehr ganz richtig war und nicht deshalb fortgelaufen ist, weil er einen Krach mit ihr hatte. Aber was ich eigentlich sagen wollte – ich kann den Saal von Zuhörern räumen lassen, während sie aussagt, so daß nur noch die Jury anwesend ist. Soll ich das tun?«

Garner kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr. »Nein, ich glaube nicht, Sheriff«, meinte er dann. »Charlotte macht ihre Aussage bestimmt genauso, auch wenn der Saal gesteckt voll sein sollte. Die Geschichte kommt auf jeden Fall herum, aber wenn das dazukommt, glauben die Leute am Ende noch, daß wir uns für unsere Tochter schämen. Schließlich haben die beiden ja kein Verbrechen begangen – sie waren verliebt und zudem verlobt, deshalb haben sie einen kleinen Vorschuß auf das eheliche Glück genommen. Erzählen Sie es um Gottes willen nicht meiner Frau weiter, daß ich davon gesprochen habe, aber wir waren auch nicht anders, nachdem wir uns verlobt hatten. Wie könnten wir da Charlotte böse sein, ohne selbst ein schlechtes Gewissen zu haben? Und wenn die Leute hier mit Fingern auf sie zeigen, dann soll sie der Teufel holen. Dann verkaufe ich meine Farm und gehe nach Kalifornien.«

Dann waren die Männer auseinandergegangen. Gus Hoffmann war erst gegen ein Uhr morgens nach Hause gekommen. Er hatte wenig Hoffnung auf Schlaf, aber dann erinnerte er sich daran, daß irgendwo in einem Schrank im Wohnzimmer noch eine fast volle Flasche Whisky stehen mußte. Eigentlich trank er kaum – nur ab und zu einen Schluck, um nicht ungesellig zu erscheinen. Aber heute nacht brauchte er dringend eine Ablenkung. Diese Nacht war die schlimmste seines Lebens – schlimmer noch als die andere, in der seine Frau gestorben war.

Alle seine Hoffnungen konzentrierten sich damals auf Tommy. Hoffmann zeigte seine Gefühle niemals offen, deshalb hätte er seinem Sohn gegenüber nicht zugegeben, wie sehr er sich darüber freute, daß Tommy und Charlotte in Zukunft bei ihm wohnen wollten. Er hatte sich Enkel gewünscht, aber jetzt würde er doch keine bekommen; er war ein einsamer Mann ohne Verwandte und ohne weitere Nachkommen.

Falls ... Nach dem dritten Glas faßte er plötzlich wieder Hoffnung. Falls sein Enkel nicht bereits unterwegs war. Charlotte konnte schwanger sein, ohne es zu wissen.

Plötzlich konnte er seine Ungeduld kaum noch bezähmen – er wollte es sofort wissen. Er stand auf, um an das Telefon zu gehen. Dann ließ er sich wieder auf seinen Stuhl fallen, als ihm klar wurde, daß er die Garners nicht mitten in der Nacht mit dieser Frage überfallen durfte. Eigentlich durfte er sie ihnen überhaupt nicht stellen. Nein, er mußte geduldig abwarten – und hoffen ...

In der Zwischenzeit konnte er bereits Pläne für die Zukunft machen und darüber seinen Schmerz und seine Einsamkeit ein wenig vergessen. Falls Charlotte ein Kind erwartete, würde ihr Vater bestimmt seine Farm verkaufen und fortziehen. Er hatte dies bereits vor, wenn die Nachbarn gehässig über seine Tochter reden sollten – und das würde jetzt bestimmt der Fall sein, denn man würde ihr eine Liebesaffäre nachsehen, aber nie ein uneheliches Kind.

Nun, dann würde Gus Hoffmann seine Farm ebenfalls verkaufen und mit den Garners fortziehen. Egal wohin. Vielleicht konnte er Garner dazu überreden, daß sie gemeinsam eine Farm kauften, so daß Gus in der Nähe seines Enkels bleiben konnte. Oder seiner Enkelin, denn er war sogar damit zufrieden.

Wenn Jed seine Farm für sich allein haben wollte, würde Hoffmann sich selbst eine kaufen, die möglichst in der Nähe lag. Vielleicht sogar die Nachbarfarm, falls sie für Geld und gute Worte zu haben war. Der Preis spielte Gott sei Dank keine Rolle; Hoffmann hatte zwölftausend Dollar auf seinem Bankkonto, wozu noch der Verkaufspreis für seine Farm kam. Und dafür hatte er bereits einige ausgezeichnete Angebote erhalten.

Als er den Whisky ausgetrunken hatte, stellte er zu seiner Überraschung fest, daß er zum erstenmal in seinem Leben richtiggehend betrunken war. Er torkelte durch das Zimmer, wobei er sich immer wieder an den Möbeln festhalten mußte, und ließ sich auf das Sofa fallen. Dann wurde ihm schwarz vor den Augen.

Das war letzte Nacht.

Und jetzt schien draußen wieder die Sonne. Hoffmann war so früh wie immer aufgewacht, hatte Kaffee gekocht und eine Portion Rührei zum Frühstück gegessen. Dann machte er sich an die Arbeit, melkte die Kühe und stellte die Kannen vor das Haus, wo der Lieferwagen der Molkerei sie jeden Morgen abholte. Die andere Arbeit konnte ohne weiteres bis nachmittags liegenbleiben, denn zunächst wollte er noch etwas erledigen, das ihm wichtiger erschien.

Wieder nahm er Bucks Leine und Tommys Socke mit, rief den Hund zu sich und ging über die Felder zu Jed Garners Farm.

Garner arbeitete in dem Weinen Gemüsegarten hinter dem Haus. Als Hoffmann näherkam, richtete er sich auf und lehnte sich auf seine Hacke.

»Morgen«, grüßte Hoffmann. »Wie geht es Charlotte?«

»Sie schläft hoffentlich noch. Gestern konnte sie lange nicht einschlafen. Was hast du vor, Gus?«

»Ich bin nur vorbeigekommen, weil ich dir sagen wollte, wohin ich gehe. An die Stelle zurück, wo ... wo wir gestern waren.«

»Warum?«

»Ich möchte mich noch einmal bei Tageslicht umsehen. Zuerst an der Stelle, wo wir Tommys Kleidungsstücke gefunden haben, und dann an der anderen, wo er plötzlich aus dem Gebüsch auftauchte. Vielleicht haben wir etwas übersehen – die Laternen waren nicht sehr hell. Ich weiß es nicht, aber ich möchte danach suchen, bevor die Jury zusammentritt.«

»Klingt vernünftig«, stimmte Garner zu.

»Ich habe Buck mitgenommen, weil ich herausbekommen möchte, wo Tommy überall gewesen ist, bevor wir ihn gesehen haben. Wahrscheinlich hilft das auch nichts, aber ich will es trotzdem wissen.«

»Ich komme mit«, sagte Garner plötzlich. »Vier Augen sehen mehr als zwei. Außerdem kann ich mich sowieso kaum auf die Arbeit konzentrieren – dir geht es vermutlich genauso. Wartest du einen Augenblick auf mich? Ich muß erst meiner Frau Bescheid sagen, damit sie sich keine Sorgen macht, wenn ich auf einmal fort bin.«

Gus Hoffmann wartete, bis sein Freund wieder zurückgekommen war, und ging dann neben ihm her die Straße entlang.


Der Parasit machte sich keine Sorgen, aber er ärgerte sich über sich selbst, weil er seinen ersten menschlichen Wirt unüberlegt zum Selbstmord getrieben hatte. Später war ihm eingefallen, daß er zu voreilig gehandelt hatte. Sicher, er mußte die beiden Männer von der Höhle fortlocken, aber dann hätte sein Wirt sich nicht die Pulsadern aufschneiden müssen. Er hätte sich schlafend oder bewußtlos stellen können, wenn ihn die Männer schließlich fanden. In diesem Fall hätte niemand das Märchen von dem Gedächtnisschwund geglaubt, aber immerhin hätte auch dieser Anfall zeitweiliger geistiger Umnachtung nicht für eine Einweisung in eine Irrenanstalt genügt. Davor hatte der Parasit Angst gehabt, deshalb mußte Tommy Selbstmord begehen – hinter Gittern wäre er als Wirt untauglich gewesen; und der Parasit wußte zudem aus Tommys Gedächtnis, daß derartige Anstalten alle möglichen Vorkehrungen trafen, um Selbstmorde unter den Insassen zu verhindern. Folglich hätte er längere Zeit in Tommy zubringen müssen. Und ein verhinderter Selbstmordversuch hätte in der Gummizelle geendet, wo jeder weitere Versuch aussichtslos war.

Aber jetzt wußte er, daß Tommy nicht eingesperrt worden wäre – nicht wegen eines einzigen kurzen Anfalls. Allerdings wäre er beobachtet worden, aber weder allzu lange noch übermäßig genau, wenn er sich weiterhin normal benommen hätte. Selbstverständlich hätte man ihn zum Arzt geschickt, der vermutlich einen Psychiater empfohlen hätte. Aber das wäre nur gut gewesen, nachdem es weder in Bartlesville noch in Wilcox einen Psychiater gab, so daß Tommy zu diesem Zweck nach Green Bay oder sogar Milwaukee hätte fahren müssen. In beiden Städten mußte es Büchereien geben, und wenn Tommy ein wenig Zeit für sich selbst gehabt hätte – oder sogar ausgerissen wäre, falls ihn jemand begleitet hätte –, wäre er ohne weiteres in der Lage gewesen, seine Kenntnisse auf einigen wichtigen Fachgebieten zu vertiefen.

Ja, wie Tommy es ausgedrückt hätte, die Sache hatte nicht ganz hingehauen. Aber trotzdem lag die Schuld dafür nicht allein bei ihm, denn niemand konnte erwarten, daß er sofort das Wesentliche einer ihm fremden Kultur aufnehmen würde. Besonders dann nicht, wenn er seine Informationen nur dem Wissen eines nicht übermäßig gebildeten und nicht allzu intelligenten Oberschülers verdankte, der sich im Grund genommen nur für landwirtschaftliche Probleme interessierte.

Der größte Nachteil seiner gegenwärtigen Lage – auch wenn sie genügend Sicherheit zu bieten schien – lag darin, daß er von hier aus kaum einen anderen menschlichen Wirt erreichen konnte. Von Zeit zu Zeit kamen zwar Jäger in diese Gegend, aber die Aussichten dafür, daß sie sich in einem Umkreis von vierzig Metern von der Höhle entfernt zum Schlafen niederlegen würden, waren äußerst gering.

Um von einem Menschen Besitz ergreifen zu können, mußte der Parasit sich also zunächst von einem Tier an eine Stelle bringen lassen, wo er schlafende Menschen antreffen würde. Dieser Transport war mit beträchtlichen Risiken verbunden, die er aber auf sich nehmen mußte. Bisher hatte er zwar noch keine Tiere in seiner unmittelbaren Umgebung beobachten können, wußte aber von Tommy, daß es hier verschiedene Arten geben mußte. Ein Hirsch konnte ihn ohne weiteres von einer Stelle zur anderen tragen; ein Bär ebenfalls. Vielleicht würde er sich auch durch die Luft tragen lassen. Ein Hühnerhabicht wäre für diesen Zweck ideal, denn diese Vögel konnten selbst dann noch fliegen, wenn sie ein Huhn in den Fängen hielten, dessen Gewicht ihr eigenes überstieg. Auch eine Eule war vielleicht geeignet; Tommy wußte, daß sie auf Mäuse niederstießen und mit ihnen fortflogen, hätte aber nicht sagen können, wie schwer sie tragen konnten.

Der Parasit kam schließlich zu der Überzeugung, daß ein Vogel am besten geeignet sei. Ein Hirsch oder ein Bär hatte vielleicht Schwierigkeiten mit hohen Zäunen, und falls irgendwo ein Hund in der Nähe war, würde er bestimmt anschlagen und die Schläfer wecken. Aber kein Hund würde einen Habicht bemerken, der mitten in der Nacht über einer Farm kreiste und etwas auf dem Dach absetzte. Sobald der Habicht wieder fortgeflogen war und sich selbst umgebracht hatte, hatte der Parasit freie Wahl unter den Menschen, die in diesem Haus schliefen. Selbstverständlich würde er dann als erstes veranlassen, daß sein neuer Wirt ihn aus seiner gefährlichen Lage auf dem Dach befreite und in ein sicheres Versteck brachte.

Er hatte keine Eile; diesmal wollte er alle Einzelheiten in Betracht ziehen und keine Fehler mehr machen. Außerdem befand sich vorläufig weder eine Eule noch ein Habicht innerhalb der Reichweite seines Spürsinns. Auch kein Hirsch oder ein Bär. Nur Feldmäuse, Kaninchen und andere kleine Tiere.

Aber er hatte sie untersucht, jedes einzelne. Schließlich konnte man nie wissen, ob sich nicht einmal ein kleines Tier für einen ganz bestimmten Zweck als besser geeignet erweisen würde als ein großes.

Wenn er erst einmal ein Tier gründlich untersucht hatte – selbst untersucht, nicht nur die Vorstellung übernommen, die sein jeweiliger Wirt davon hatte –, dann konnte er von jedem gleichartigen Tier innerhalb von fünfzehn Kilometern Umkreis Besitz ergreifen, das gerade schlief. Hatte er zum Beispiel ein Kaninchen untersucht, dann brauchte er sich nur auf den Begriff Kaninchen zu konzentrieren, um von dem nächsten Besitz ergreifen zu können. Wenn ein Habicht innerhalb der Reichweite seines Spürsinns vorübergeflogen war, konnte er jederzeit einen Habicht als Wirt benutzen, falls er einen fand, der gerade schlief. Irgendwann mußten Habichte, Eulen, Hirsche und Bären an der Höhle vorbeikommen, so daß der Parasit im Lauf der Zeit über eine beträchtliche Anzahl möglicher Wirte verfügen würde.

Alles wäre viel einfacher gewesen, wenn diese Methode auch auf intelligente Lebewesen anwendbar gewesen wäre – in diesem Fall also auf Menschen. Diese Art von Wesen leisteten immer beträchtlichen Widerstand, der in manchen Fällen mehrere Sekunden andauerte. Deshalb mußte der Parasit seine geistigen Kräfte voll einsetzen, was nur möglich war, wenn der betreffende Mensch sich innerhalb der Reichweite seines Spürsinns aufhielt und dabei schlief.

Dies traf auf die Bewohner fast aller Planeten zu, die seine Rasse bisher besucht oder erobert hatte. Aber auch von dieser Regel gab es gewisse Ausnahmen, deshalb hatte er in der vergangenen Nacht einige Versuche angestellt, um sicherzugehen, daß die Erde nicht dazu gehörte.

Zunächst wählte er für diesen Zweck eine Feldmaus, indem er sich auf die Tierart konzentrierte, zu der sein erster Wirt auf der Erde gehört hatte. Ärgerlicherweise brauchte er fast eine Stunde, bis er sie endlich umgebracht hatte, damit sein Geist wieder in seinen eigenen Körper in der Höhle zurückkehrte. Zunächst hatte er sie gegen einen Baumstamm und dann gegen einen Felsbrocken anrennen lassen. Aber das winzige Tier wog so wenig, daß selbst der Aufprall auf einen Stein es nur vorübergehend bewußtlos machte. Die Maus konnte auch nicht gut genug klettern, um sich von einem Baum aus in die Tiefe zu stürzen, wobei sie sich vermutlich das Genick gebrochen hätte. Dann ließ er sie auf einer mondbeschienenen Lichtung umherlaufen, weil er hoffte, daß eine Eule oder ein anderer Raubvogel auf die Bewegung aufmerksam würde. Auch dieser Versuch brachte kein Ergebnis.

Schließlich tat er das, was er schon zu Anfang hätte tun sollen – er machte sich mit den Gedanken seines Wirts vertraut. Und dabei erfuhr er, daß sich in der Nähe ein seichter Bach befand. Die Feldmaus rannte sofort darauf zu, sprang ins Wasser und ertränkte sich.

Als er wieder in die Höhle zurückgekehrt war, machte er seinen zweiten Versuch. Er wußte, daß südlich von ihm, jenseits des Waldes, einige Menschen schlafen mußten. Und etwa zwölf Kilometer in derselben Richtung lag die Stadt Bartlesville, wo Hunderte von Menschen schliefen. Er benutzte Tommy als Muster und konzentrierte sich auf Menschen, auf schlafende Menschen. Vergebens.

Trotzdem ließ er sich nicht entmutigen. Von manchen intelligenten Lebewesen konnte man auch aus der Ferne Besitz ergreifen, wenn man sich nicht auf die Rasse, sondern auf ein einzelnes Wesen beschränkte, das man zuvor eingehend untersucht hatte. Dies hatte er bei Charlotte getan, deshalb konzentrierte er sich jetzt völlig auf sie. Wieder ohne Erfolg.

Er wußte allerdings nicht, daß Charlotte noch nicht schlief; sie war zwar bereits zu Bett gegangen, weinte aber noch immer in ihr Kissen. Aber das spielte eigentlich keine Rolle, denn der Versuch wäre selbst dann fehlgeschlagen, wenn sie geschlafen hätte. In dieser Beziehung wiesen die Menschen eine deutliche Ähnlichkeit mit den übrigen intelligenten Lebewesen auf verschiedenen Planeten auf – der Parasit konnte nur aus nächster Entfernung von ihnen Besitz ergreifen.

Dann hatte er eine Pause eingelegt; er wollte warten, bis er andere mögliche Wirte außer Kaninchen, Feldmäusen und anderen kleineren Tieren untersuchen konnte. Aber in dieser Nacht schien der Wald wie ausgestorben.

Stunden später hörte er – oder spürte er –, daß irgendwelche Lebewesen auf seine Höhle zukamen. Ein Paar Zweibeiner und ein Vierbeiner, der wesentlich größer als ein Kaninchen sein mußte. Er strengte seinen Spürsinn bis zum äußersten an, so daß die Unbekannten sich bereits kurze Zeit später innerhalb seiner Reichweite befanden. Es handelte sich um das gleiche Trio, das gestern auf der Suche nach Tommy unterwegs gewesen war – Tommys Vater, Charlottes Vater und Buck, der Hund, der an der Leine zerrte und geradewegs auf den Eingang zur Höhle zulief. Sie verfolgten Tommys Spur, um herauszubekommen, wo er gewesen war, bevor sie ihn erstmals gesehen hatten.

Aber warum nur? Der Parasit hatte sich mit dieser Möglichkeit beschäftigt, sie aber als unwahrscheinlich angesehen, weil er nicht annahm, daß sie sich noch dafür interessieren würden, nachdem der Junge erst einmal tot war. Seine eigene Lage konnte kritisch werden, denn seit Tommy hatte er keinen Wirt oder möglichen Wirt mehr, der ihn notfalls in Sicherheit bringen oder verteidigen würde. Jedenfalls keinen, der größer als ein Kaninchen war. Einen Augenblick lang dachte er daran, ein Kaninchen über den Weg laufen zu lassen, um den Hund abzulenken. Aber ebenso rasch stellte er fest, daß dieser Plan erfolglos bleiben würde. Der Hund wurde an der Leine geführt, so daß die beiden Männer ihn jederzeit wieder auf die Spur ansetzen konnten, falls er von ihr abwich, um das Kaninchen zu jagen.

Er war völlig hilflos. Wenn sie ihn fanden, konnte er nichts dagegen tun – wirklich gar nichts. Aber trotzdem machte er sich deswegen keine Sorgen, weil er wußte, daß sie ihn höchstwahrscheinlich nicht finden würden. Sie hatten tatsächlich keinerlei Anlaß, den sandigen Boden aufzugraben. Selbstverständlich würden sie die Höhle entdecken und sie auch betreten. Sie würden sich fragen, weshalb Tommy hierher gekommen war – aber sie würden nicht graben, das glaubte er sicher zu wissen.

Jetzt führte Buck sie um das Gebüsch herum bis an die Stelle, wo der Eingang der Höhle sichtbar wurde. Er blieb kurz stehen, um dort umherzuschnüffeln, wo Tommy sich versteckt hatte, und wollte dann in die Höhle. Hoffmann hielt ihn zurück.

»He, sieh dir das an!« rief Garner überrascht aus. »Eine Höhle. Wir hätten doch eine Flinte und Taschenlampen mitbringen sollen. Das hier ist gerade die Art Schlupfwinkel, die Bären bevorzugen.«

»Wenn Tommy sich in der Höhle aufgehalten hat, dann war bestimmt kein Bär darin«, gab Hoffmann zurück.

Der Parasit verstand jedes Wort, denn jetzt kannte er die Sprache, in der die beiden Männer sich unterhielten. Vorher – bevor er einen menschlichen Wirt gehabt hatte – wären ihm diese Worte nur als unverständliche Laute erschienen.

»Ich gehe jedenfalls hinein«, sagte Hoffmann bestimmt.

»Einen Augenblick, Gus. Ich gehe mit. Aber wir dürfen nicht leichtsinnig sein. Am besten läßt du Buck zuerst hinein. Falls dort drinnen wirklich Gefahr drohen sollte, hat er wesentlich bessere Aussichten als wir beide zusammen. Er steht wenigstens auf seinen vier Beinen, aber wir müßten auf Händen und Füßen hineinkriechen.«

»Eigentlich hast du recht.« Hoffmann machte die Leine von Bucks Halsband los, und der Hund verschwand in der Höhle. Halbwegs hinein, denn weiter war Tommy nicht gekommen, so daß die Spur hier endete. Er legte sich nieder und hechelte leise.

Die beiden Männer horchten eine Weile. »Scheint alles in Ordnung zu sein«, meinte Hoffmann schließlich. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er andernfalls nicht wenigstens gekläfft hätte. Ich gehe auch hinein.«

Er kroch auf Händen und Füßen voran, und Garner folgte wortlos. Als sie in der Mitte der Höhle angelangt waren, wo Buck lag, stellten sie fest, daß die Decke hoch genug war, um stehen zu können. Im Innern der Höhle herrschte ein ungewisses Halbdunkel, aber sie konnten einigermaßen sehen.

»Weiter scheint Tommy nicht gekommen zu sein, nachdem Buck sich hier hingelegt hat«, stellte Garner fest. »Zu sehen ist hier allerdings recht wenig, aber dafür ist es schön kühl. Eigentlich könnten wir uns setzen und eine kurze Rast einlegen, bevor wir zurückgehen.«

Sie ließen sich nieder. Der Parasit untersuchte den Hund. Dies war die erste Gelegenheit, die er dazu hatte, und Buck war das größte Tier, das er hatte untersuchen können.

In Zukunft konnte er also von Buck Besitz ergreifen, wenn es sich als notwendig erweisen sollte. Oder von jedem beliebigen anderen Hund, der irgendwo schlief.

Buck ließ den Kopf auf die Pfoten sinken und schlief ein. Der Parasit überlegte genau, wartete dann aber doch noch. Wenn er erst einmal von dem Hund Besitz ergriffen hatte, mußte er sich auf Bucks Sinne verlassen und verlor den Gebrauch seiner eigenen.

»Ich rätsle immer noch darüber nach, warum Tommy ausgerechnet hierher gegangen ist«, sagte Hoffmann nach einer Weile.

»Das werden wir wohl nie erfahren, Gus. Er war eben nicht mehr ganz richtig im Kopf, das ist der einzige Grund. Vielleicht hat er die Höhle früher einmal entdeckt und wollte sich jetzt darin verstecken – vor irgend etwas. Kein Mensch kann sich vorstellen, was in einem jungen Mann vorgeht, der plötzlich überschnappt.«

»Durchaus möglich, daß er sich verstecken wollte«, meinte Hoffmann nachdenklich. »Aber wenn er nun etwas verstecken wollte? Oder etwas ausgraben, was er früher hiergelassen hatte? Ich weiß auch nicht, was es gewesen sein könnte, aber in diesem Sand hier kann man leicht etwas mit den Händen einscharren.«

»Was sollte er denn versteckt haben? Oder ausgraben wollen?«

»Ich habe keine Ahnung. Aber wenn wir ...«

Der Kampf dauerte etwas länger als bei einer Feldmaus aber trotzdem hatte der Parasit in Bruchteilen einer Sekunde von Buck Besitz ergriffen. Der Hund hob den Kopf.

Er – der Parasit in Buck – überlegte. Wahrscheinlich konnte er die beiden Männer nicht so beißen, daß sie daran starben, aber wenn er sie unvermutet anfiel, würden sie bestimmt nicht zu graben beginnen. Nein, in diesem Fall würden sie so schnell wie möglich einen Arzt aufsuchen, weil sie glauben mußten, daß Buck die Tollwut hatte.

»Nicht jetzt, Gus«, wehrte Garner ab. »Hör zu, ich glaube nicht, daß wir etwas finden werden, aber trotzdem können wir es ja morgen versuchen. Hier drinnen ist es ziemlich finster – und wenn wir uns schon die Arbeit machen, dann müssen wir wenigstens gründlich suchen. Und dazu brauchen wir Lampen, einen Spaten und einen Rechen. Außerdem haben wir jetzt keine Zeit. Jetzt ist es schon so spät, daß wir gerade rechtzeitig zum Mittagessen nach Hause kommen, und nach dem Essen müssen wir nach Bartlesville.«

»Eigentlich hast du recht, Jed«, gab Hoffmann widerstrebend zu. »Okay, dann gehen wir eben. Wenigstens haben wir festgestellt, wo Tommy sich aufgehalten hat, bis er uns kommen sah.«

Buck ließ den Kopf wieder auf die Pfoten sinken. Als die beiden Männer aus der Höhle krochen, folgte er ihnen und trottete neben Hoffmann her, wie der richtige Buck es auch getan hätte.

Aber als sie die Straße erreicht hatten, rannte er plötzlich fort – die Straße entlang, aber nach Osten, in die entgegengesetzte Richtung. Er bog nicht in den Weg ein, der an der Höhle vorüberführte, denn er wollte nicht, daß sie auf den Gedanken kamen, daß er dorthin zurückgelaufen sei. Hoffmann rief etwas hinter ihm her, aber er kümmerte sich nicht darum und rannte weiter.

Nachdem er außer Sichtweite war, lief er langsamer und durchquerte den Wald. Hier führte zwar kein Weg entlang, aber der Parasit orientierte sich ohne Schwierigkeiten – und ohne von Bucks Kenntnis des Geländes Gebrauch machen zu müssen –, so daß er schon nach kurzer Zeit die Höhle erreicht hatte.

Buck schlüpfte hinein, scharrte den Sand auf und hob den Körper des Parasiten aus dem Loch. Dann trug er ihn vor die Höhle und legte ihn vorsichtig ab. Als nächstes kehrte er in das Innere zurück, füllte das Loch auf und wälzte sich mehrmals hin und her, um alle Spuren zu beseitigen. Dann nahm er den Parasiten wieder auf und trug ihn behutsam zwischen den Zähnen, wie er eine flügellahme Schnepfe getragen hätte.

Er trottete durch den Wald, mied sämtliche Wege und Stege und sogar Wildwechsel – immer auf der Suche nach einem möglichst einsam gelegenen Versteck. In dichtem, hohem Gras fand er einen hohlen Baumstamm, um den herum das Unterholz besonders dicht wucherte. Das genügte als Versteck, wenigstens für den Augenblick. Er legte den Parasiten vor dem Loch ab und schob ihn mit der Pfote in den Stamm hinein, bis er nicht mehr zu sehen war.

Dann lief er in derselben Richtung wie bisher weiter – damit jeder, der etwa seiner Spur mit einem anderen Hund folgen wollte, irregeführt wurde. Hundert Meter von dem hohlen Baumstamm entfernt setzte er sich und wartete, während der Parasit überlegte.

Jetzt hatte er nichts mehr zu befürchten, falls die Männer wirklich in die Höhle zurückkehrten, um dort zu graben. Aber sollte er Buck noch eine Weile als Wirt behalten? Er dachte darüber nach und entschied dagegen. Buck hatte seinen Zweck erfüllt, aber wenn er weiterhin in ihm blieb, hatte er nur Bucks Sinne zur Verfügung; in diesem Fall konnte er keine anderen möglichen Wirte mehr untersuchen und sich auf sie vorbereiten.

Buck trottete weiter und beschrieb dabei allmählich einen Bogen, bis er wieder in Richtung auf die Straße lief.

Am Straßenrand wartete er, bis ein Auto vorbeifuhr. Dann – im letzten Augenblick, bevor der Fahrer auch nur den Fuß auf das Bremspedal setzen konnte – sprang er mit einem Satz vor die Räder.

Wenige Sekunden später (Buck war auf der Stelle tot) befand der Parasit sich wieder in seinem eigenen Körper und dachte über alles nach, was er diesmal getan hatte. Dabei kam er zu dem Schluß, daß er keinen Fehler gemacht hatte.

Das stimmte auch – bis auf einen, der nicht vorherzusehen gewesen war. Er hätte Buck auf ein anderes Auto warten lassen sollen. Der Fahrer des Wagens, unter dessen Rädern Buck verendet war, hieß Ralph S. Staunton – Dr. phil., Dr. rer. nat. und Professor für Physik am Massachusetts Institute of Technology.

Doc Staunton wirkte nicht sehr eindrucksvoll. Er war klein, kaum einssiebzig und wog nicht mehr als sechzig Kilo. An seinen kurzgeschnittenen grauen Haaren war zu erkennen, daß er bereits über fünfundvierzig sein mußte, aber sein drahtiger, durchtrainierter Körper und sein beweglicher Geist ließen ihn wesentlich jünger erscheinen. Auffällig waren vor allem seine Augen, weil sie so unglaublich jung erschienen, wenn er lachte – was er oft und gern tat.

Im Augenblick befand er sich im Urlaub und war dementsprechend bequem und nachlässig gekleidet. Außerdem war er ziemlich unrasiert. In diesem Zustand hätte wohl niemand vermutet, daß Staunton einer der besten Wissenschaftler und brillantesten Köpfe Amerikas sein könnte.

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