Doc Staunton erwachte langsam, drehte sich auf den Rücken und hob den linken Arm, um auf die Uhr zu sehen. Es war bereits nach zehn, was ihn keineswegs überraschte, nachdem er am Abend zuvor reichlich spät ins Bett gekommen war. Er war nachmittags nach Bartlesville gefahren, weil er wegen des überfahrenen Hundes in dem Laboratorium in Green Bay anrufen wollte. Durch dieses Telefongespräch hatte er etwas erfahren, was er – das wurde ihm allerdings erst später klar – schon längst gewußt hatte.
Der Hund war nicht tollwütig gewesen und wies auch sonst keinerlei organische Defekte auf, die erklärten, weshalb er vor Stauntons Wagen gelaufen war.
Doc hatte einen leisen Seufzer ausgestoßen und dann in Wilcox angerufen, um mit dem Sheriff zu sprechen. Der Sheriff sollte sich dafür interessieren. Aber er war fortgegangen, ohne in seinem Büro zu hinterlassen, wo er zu erreichen war. Doc blieb also in Bartlesville, aß dort zu Abend und versuchte es später noch mehrmals mit der Privatnummer des Sheriffs, ohne eine Antwort zu bekommen.
Dann hatte er sich die Zeit in der Bar vertrieben, wo er zu einer Partie Poker eingeladen worden war, die gerade im Nebenzimmer beginnen sollte. Ein Geschäftsinhaber aus Bartlesville – Hans Weiss, bei dem Staunton seine Lebensmittel kaufte –, hatte ihn dazu aufgefordert. Sie spielten nicht zu hoch, sondern gerade hoch genug, um das Spiel interessant zu machen; ein Nickel Einsatz, fünfzig Cents Limit. Doc verlor innerhalb der ersten halben Stunde zwölf Dollar, ohne auch nur ein einziges Mal gute Karten bekommen zu haben, aber dann machte er seinen Verlust in einem Spiel fast wieder wett und gewann weiter.
Er versuchte noch zweimal den Sheriff zu erreichen, aber als er ein drittes Mal auf die Uhr sah, war es kurz vor Mitternacht, so daß er nicht noch einmal anrufen wollte. Zu diesem Zeitpunkt spielten sie bereits zu siebt und er war der große Gewinner – etwas mehr als siebzig Dollar –, deshalb konnte er nicht gut aufhören, bevor nicht ein anderer den Vorschlag machte, daß es für diesmal wohl genug sei. Das geschah erst um halb eins, so daß er gegen zwei Uhr nach Hause kam – mit siebenundvierzig Dollar mehr in der Tasche. Und einer Einladung zu einer weiteren Partie, wenn er wieder einmal Lust dazu verspüren sollte. Schließlich mußte er den anderen Gelegenheit zur Revanche geben, nachdem sie ihn schon so freundlich in ihrer Mitte aufgenommen hatten.
Jetzt, am Donnerstagmorgen, gähnte er herzhaft und stand auf. Vielleicht war es besser, wenn er noch am Vormittag von Bartlesville aus mit dem Sheriff telefonierte; falls der Sheriff Zeit für ihn hatte, konnte er nach Wilcox fahren und ihn dort aufsuchen. Wenn der andere aber ohnehin in Bartlesville zu tun hatte, ließ es sich vielleicht einrichten, daß sie gemeinsam zum Essen gingen.
Er kochte sich zum Frühstück nur einen starken Kaffee und war um halb zwölf bereits in der Stadt, wo er den Sheriff von einem Drugstore aus anrief. Diesmal erreichte er ihn.
»Hier spricht Doc Staunton, Sheriff«, sagte er. »Ich wollte mich gern mit Ihnen über etwas unterhalten, wenn Sie ein paar Minuten für mich erübrigen können. Sind Sie heute sowieso in Bartlesville, oder soll ich nach Wilcox fahren und in Ihr Büro kommen?«
»Ich wollte gerade losfahren, Doc. In Richtung Bartlesville.«
»Ausgezeichnet. Wollen Sie mit mir essen?«
»Gern, danke. In welchem Restaurant?«
»Warum treffen wir uns nicht einfach in der Bar?« schlug Doc vor. »Ein Schluck Bier schadet bestimmt nicht, wenn wir bald danach zum Essen gehen.«
Der Sheriff war damit einverstanden und versprach, in einer halben Stunde in der Bar zu sein.
Staunton legte auf und ging an die Ladentheke hinüber, um ein paar Kleinigkeiten zu kaufen. Der Drogist gehörte zu den Männern, mit denen er am Abend zuvor Poker gespielt hatte, deshalb begrüßten sie sich wie alte Freunde.
»Sie haben mit dem Sheriff telefoniert, Doc?« fragte der andere. »Ist etwas passiert? Hoffentlich nichts Ernstes.«
»Nein. Ich wollte ihm nur etwas erzählen.«
»Nichts über unsere kleine Partie Poker, hoffe ich. Hören Sie, Doc, Sie wohnen doch an der Bascombe Road, nicht wahr?«
Staunton nickte. »Im letzten Haus. Warum?«
»Dort draußen ist letzte Nacht wieder ein Selbstmord geschehen. Oder haben Sie schon davon gehört?«
Staunton fühlte, wie sich die Haare in seinem Nacken langsam aufrichteten. »Nein, bis jetzt noch nicht. Ich bin erst seit einer halben Stunde in der Stadt. Wer hat denn Selbstmord begangen?«
»Siegfried Gross, ein alter, mürrischer Kerl. Kein großer Verlust für die Menschheit; keiner konnte ihn ausstehen. Er wohnt – wohnte – ungefähr acht Kilometer außerhalb der Stadt, das heißt, etwas mehr als fünf von Ihnen entfernt.«
Staunton erkundigte sich nach den Umständen des Falls und erfuhr, daß Gross sich mit einer Schrotflinte mitten in der Nacht erschossen hatte, und daß er einen Abschiedsbrief hinterlassen haben sollte, in dem er als Grund dafür die Schmerzen anführte, die sein Leiden mit sich brachte.
Staunton verstaute seine Einkäufe auf dem Rücksitz des Autos und machte sich mit nachdenklich gesenktem Kopf auf den Weg zu der kleinen Bar. Mike, der Barkeeper, unterhielt sich mit zwei anderen Gästen über den neuen Selbstmordfall, aber keiner der drei Männer wußte mehr darüber, als Doc bereits in dem Drugstore erfahren hatte.
Staunton bestellte ein Bier und trank ab und zu einen kleinen Schluck davon, bis er den Sheriff hereinkommen sah. Dann leerte er sein Glas mit einem Zug und setzte sich zusammen mit dem anderen an einen der Tische.
»Diesmal kein Bier für mich, Mike«, sagte der Sheriff mit müder Stimme. »Ich brauche einen Drink, der mich ein bißchen aufmuntert. Einen doppelten Bourbon.« Doc bestellte sich ein zweites Bier.
Der Sheriff gähnte ausgiebig. »Vermutlich haben Sie bereits von Siegfried Gross gehört«, begann er. »Ich mußte kurz nach Mitternacht zu seiner Farm hinausfahren und habe seitdem kein Auge mehr zugetan. Sie können sich vorstellen, wie müde ich jetzt bin. Und nach dem Essen muß ich noch einmal hinaus.«
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mitfahre?« erkundigte sich Staunton.
»Wenn Sie Lust dazu haben. Wollten Sie mit mir über den Fall Gross sprechen, Doc?«
»Nein. Ich hatte noch nicht einmal etwas davon gehört, als ich Sie vorhin anrief. Es handelt sich um den Hund, den ich überfahren habe. Er war nicht tollwütig.«
Der Sheriff hob seine buschigen Augenbrauen. »Sie haben ihn untersuchen lassen? Warum denn, wenn er niemand gebissen hat? Oder hat er doch jemand angefallen?«
»Nein, das nicht. Aber ich war neugierig geworden, nachdem Sie mir selbst erzählt hatten, daß der Hund Angst vor Autos gehabt habe. Warum sollte er also vor die Räder meines Wagens gelaufen sein? Diese Tatsache wäre nur damit zu erklären gewesen, daß er die Tollwut hatte.«
»Ach was, Doc, schließlich werden jeden Tag Hunde überfahren. Vielleicht folgte er gerade einer Spur, die über die Straße lief, und paßte deshalb nicht genug auf. Nein, wo kämen wir denn hin, wenn wir jeden Fall genau untersuchen wollten, wo ein Hund durch eigene Unvorsichtigkeit überfahren wird!«
»Vielleicht haben Sie recht, aber ... Hören Sie, Sheriff, ist Ihnen an diesem neuen Selbstmord etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Gross war fürchterlich zugerichtet. Anscheinend hat er sich den Lauf seiner Schrotflinte in den Mund gehalten und dann den Abzug betätigt. Meine Leute haben jedenfalls über eine Stunde gebraucht, um die Küche einigermaßen in Ordnung zu bringen.«
»Wollen Sie den Fall vor eine Jury bringen?«
»Warum denn, nachdem ein von ihm geschriebener Abschiedsbrief vorliegt? Das wäre nur eine überflüssige Vergeudung von Steuergeldern. Trinken wir noch einen Schluck, bevor wir zum Essen gehen?«
Als sie dann beide vor einer Tasse Kaffee nach dem Essen saßen, wiederholte Staunton seine Frage nach den Begleitumständen des Selbstmordes.
»Einige Kleinigkeiten sind in der gleichen Nacht passiert«, gab der Sheriff zu, »aber keine davon steht in Verbindung mit dem Selbstmord. Gegen Mitternacht flog eine Eule durch das Fenster – durch die Scheibe, meine ich –, und Gross mußte sie erschießen, weil sie sich dabei einen Flügel gebrochen hatte.«
»Mit derselben Schrotflinte?«
»Nein, natürlich nicht. Dafür benutzte er einen Zimmerstutzen. Ungefähr drei Stunden später erschoß er sich dann selbst. Ich vermute, daß er nicht wieder einschlafen konnte und daran dachte, wie er die Eule von ihren Schmerzen befreit hatte, während er selbst weiterleiden mußte. Und nachdem er lange genug gegrübelt hatte, ging er in die Küche hinunter und beging Selbstmord – durch Erschießen.«
Staunton zog die Augenbrauen zusammen. »Ist Gross mit der Eule in Berührung gekommen?«
»Nein – oder jedenfalls erst, nachdem der Vogel tot war. Gross warf ihn aus dem Fenster und sagte seiner Frau, daß er ihn am nächsten Morgen eingraben wolle.« Der Sheriff nahm einen Schluck Kaffee. »John Loursat, sein Nachbar, hat das heute erledigt. Und auch die Katze. Gross' Katze ist in der vergangenen Nacht irgendwie in Loursats Stall geraten und von seinem dort angeketteten Hund zerrissen worden.«
Doc Staunton holte tief Luft und stieß einen überraschten Pfiff aus. »Eine Eule und eine Miezekatz', die fuhren einst zur See ...«, murmelte er dann fast unhörbar vor sich hin.
»Wie bitte?« Der Sheriff sah neugierig auf.
»Nur eine Zeile aus einem komischen Gedicht von Edward Lear«, erklärte Doc. »Sheriff, haben Sie schon einmal gehört, daß eine Eule durch eine Fensterscheibe fliegt?«
»Bei Eulen könnte ich es nicht beschwören, Doc, aber andere Vögel tun es verhältnismäßig oft. Gegen mein Wohnzimmerfenster prallt mindestens einmal im Monat einer. Meistens Spatzen. Gewöhnlich rappeln sie sich nach kurzer Zeit wieder auf und flattern davon, aber manchmal bricht sich auch einer den Hals dabei.« Er trank seinen Kaffee aus. »Fertig zum Abmarsch? Wollen Sie mit mir fahren, oder in Ihrem eigenen Wagen, damit Sie unabhängig von mir nach Hause fahren können?«