Sandman erreichte die Bunhill Row, kurz bevor die Uhren der Stadt drei schlugen und die Glocken vorübergehend den Aufprall des Schlägers auf dem Ball, die lauten Rufe und den Applaus der Zuschauer übertönten. Es klang nach einer großen Zuschauermenge und einem guten Spiel. Der Wachposten am Tor winkte ihn durch. »Von Ihnen nehme ich den Sixpence nicht, Captain.«
»Sollten Sie aber, Joe.«
»Ja, und Sie sollten spielen, Captain.« Joe Mallock, Wächter des Artilleriegeländes, hatte früher als Werfer für die vornehmsten Clubs von London gespielt, bis ihm seine schmerzenden Gelenke zu schaffen machten. Er erinnerte sich noch gut an eines seiner letzten Spiele, bei dem ein junger Armeeoffizier, der kaum die Schule hinter sich hatte, ihn über das gesamte Außenfeld an der New Road in Marylebone gejagt hatte. »Wir haben Sie schon viel zu lange nicht mehr spielen sehen, Captain.«
»Ich habe meine besten Zeiten hinter mir, Joe.«
»Ihre besten Zeiten hinter sich, Junge? Ihre besten Zeiten hinter sich! Sie sind doch noch keine dreißig. Gehen Sie nur rein. Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass England mit sechsundfünfzig Läufen vorne liegt und nur noch vier ausstehen. Sie brauchen Sie!«
Als Sandman zum Spielfeld kam, erntete gerade ein Spielzug lautes Gejohle. Die Elf des Marquess of Canfield spielte gegen eine englische Mannschaft, und einer der Feldspieler des Marquess hatte einen einfachen Ball fallen lassen und sich den Zorn der Menge zugezogen. »Rutschige Finger!«, grölten sie. »Holt ihm einen Eimer!«
Mit einem Blick auf die Tafel sah Sandman, dass England im zweiten Innings nur sechzig Läufe vorn lag und noch vier Schläger ausstanden. Der größte Teil der Zuschauer feuerte die englische Mannschaft an und bejubelte einen guten Schlag, der den Ball an das andere Ende des Spielfelds beförderte. Der Werfer in der Mannschaft des Marquess, ein bärtiger Riese, spuckte auf den Rasen und starrte ins Blaue, als sei er taub für den Lärm der Menge. Sandman beobachtete, wie der Schlagmann, es war Budd, zum Tor ging und ein ohnehin schon glattes Rasenstück glättete.
Sandman schlenderte an den Kutschen vorbei, die am Spielfeldrand standen. Der weißhaarige, weißbärtige Marquess of Canfield, der mit einem Fernglas in einem Landauer saß, bedachte Sandman mit einem kurzen Kopfnicken und schaute dezidiert fort. Noch vor einem Jahr, bevor Sandmans Vater der Familie Schande gemacht hatte, hätte der Marquess ihn gegrüßt, ein paar Worte mit ihm gewechselt und Sandman gebeten, für seine Mannschaft zu spielen, aber da nun der Name Sandman besudelt war, schnitt der Marquess ihn bewusst. Doch wie zur Entschädigung winkte eine Hand auffällig aus einem offenen Wagen, der ein Stück weiter entfernt am Spielfeldrand stand, und eine Stimme rief eifrig: »Rider! Hierher! Rider!«
Hand und Stimme gehörten einem großen jungen Mann mit markantem Gesicht, der auffallend dünn und schlaksig war, schäbige schwarze Kleidung trug und eine Tonpfeife rauchte, aus der Asche auf seine Weste und seinen Gehrock rieselte. Sein rotes Haar hätte dringend einer Schere bedurft, denn es fiel ihm in sein Gesicht mit der langen Nase und legte sich flammrot über seinen breiten, altmodischen Kragen. »Lass den Kutschentritt herunter«, empfahl er Sandman. »Komm rein. Du kommst viel zu spät. Heydell hat dreiundvierzig Läufe im ersten Durchgang gemacht, hervorragend gespielt. Wie geht es dir, mein Lieber? Fowkes wirft unglaublich gut, aber ein bisschen ungenau. Budd ist noch an der Reihe als Schlagmann, und der Bursche, der gerade reingekommen ist, heißt Fellowes, ich weiß rein gar nichts über ihn. Eigentlich solltest du hier spielen. Du siehst blass aus. Isst du überhaupt ordentlich?«
»Ich esse, und du?«, antwortete Sandman.
»Gott erhält mich in seiner unendlichen Weisheit, er erhält mich.« Reverend Lord Alexander Pleydell lehnte sich zurück. »Wie ich sehe, hat mein Vater dich ignoriert?«
»Er hat mir zugenickt.«
»Er hat genickt? Ach! Welche Gnade. Stimmt es, dass du für Sir John Hart gespielt hast?«
»Gespielt und verloren!«, sagte Sandman verbittert. »Sie waren bestochen.«
»Mein lieber Rider! Ich habe dich vor Sir John gewarnt! Der Mann ist die reine Gier. Er wollte nur, dass du für ihn spielst, damit alle glauben, seine Mannschaft sei unbestechlich, und das hat ja auch funktioniert, oder? Ich hoffe nur, er hat dich gut bezahlt, denn deine Gutgläubigkeit muss ihm einen Haufen Geld eingebracht haben. Möchtest du Tee? Natürlich. Hughes soll uns Tee und Kuchen von Mrs. Hillmans Stand holen, meinst du nicht auch? Budd macht einen guten Eindruck, nicht? Was für ein Schlagmann! Hast du je seinen Schläger hochgehoben? Das ist eine Keule, ein richtiger Knüppel! Ja, gut gemacht, Sir! Gut getroffen! Geh ran, Sir, geh ran!« Er feuerte die englische Mannschaft so lautstark an, dass sein Vater, dessen Mannschaft gegen England spielte, es hören musste. »Kapital, Sir, gut gemacht! Hughes, lieber Freund, wo stecken Sie?«
Hughes, Lord Alexanders Diener, trat an den Wagen. » Mylord? «
»Begrüßen Sie Captain Sandman, Hughes, und ich denke, wir könnten eine Kanne von Mrs. Hillmans Tee vertragen, meinen Sie nicht? Vielleicht auch etwas von ihrem Aprikosenkuchen?« Seine Lordschaft drückte seinem Diener Geld in die Hand. »Was sagen die Buchmacher, Hughes?«
»Sie favorisieren die Mannschaft Ihres Vaters, Mylord.«
Lord Alexander gab seinem Diener zwei weitere Münzen. »Captain Sandman und ich setzen jeder eine Guinee auf einen Sieg Englands.«
»So etwas kann ich mir nicht leisten«, wandte Sandman ein, »außerdem verabscheue ich Kricketwetten.«
»Blas dich nicht so auf«, antwortete Lord Alexander, »wir bestechen nicht die Spieler, wir riskieren bloß etwas Geld auf unsere Würdigung ihres Könnens. Du siehst wirklich blass aus, Rider, wirst du krank? Vielleicht die Cholera? Die Pest? Auszehrung?«
»Gefängnisfieber.«
»Mein lieber Freund!« Lord Alexander war entsetzt. »Gefängnisfieber? Mein Gott, setz dich hin«. Der Wagen schwankte, als Sandman sich seinem Freund gegenüber setzte. Sie hatten dieselbe Schule besucht, waren dort zu unzertrennlichen Freunden geworden, und Sandman, der immer schon ein herausragender Sportler und damit einer der Schulhelden war, hatte Lord Alexander vor den Rüpeln beschützt, die glaubten, sich über den Klumpfuß Seiner Lordschaft lustig machen zu können. Nach dem Schulabschluss hatte Sandman sich ein Offizierspatent bei der Infanterie gekauft, während Lord Alexander als zweiter Sohn des Marquess of Canfield in Oxford studiert und dort einen Doppelabschluss mit Auszeichnung gemacht hatte. »Erzähl mir nicht, dass man dich ins Gefängnis gesteckt hat«, schimpfte Lord Alexander nun.
Grinsend zeigte Sandman seinem Freund das Schreiben des Innenministeriums und schilderte ihm seine Erlebnisse, wobei er ständig durch Lord Alexanders Jubelrufe oder Zornausbrüche über den Spielverlauf unterbrochen wurde. Unterdessen vertilgte er Mrs. Hillmans Aprikosenkuchen, dessen Krümel sich zu der Asche auf seiner Weste gesellten. Er hatte immer eine Tasche mit gestopften Tonpfeifen zur Hand, und sobald eine sich zusetzte, nahm er eine andere heraus und schlug mit einem Feuerstein auf Stahl. Die Funken, die der Feuerstein sprühte, glimmten auf seinem Gehrock und dem Ledersitz des Wagens weiter, wo Seine Lordschaft sie entweder ausschlug oder von allein verlöschen ließ, während er weiterrauchte. »Ich muss sagen, ich halte es für äußerst unwahrscheinlich, dass der junge Corday schuldig ist«, sagte er, nachdem er über Sandmans Bericht nachgedacht hatte.
»Aber er wurde verurteilt.«
»Mein lieber Rider! Mein lieber, lieber Rider! Rider, Rider. Rider! Warst du je bei einer Gerichtsverhandlung in Old Bailey? Natürlich nicht, du warst viel zu beschäftigt, die Franzosen zu schlagen, du armer Teufel. Aber ich wage zu behaupten, dass die vier Richter dort in einer Woche hundert Fälle verhandeln. Fünf pro Tag? Oft sogar noch mehr. Diese Leute bekommen keinen Prozess, Rider, sie werden durch den Tunnel von Newgate herübergeschleift, treten blinzelnd in den Gerichtssaal, kommen unter den Hammer wie die Ochsen und werden in Fußeisen abgeführt. Das ist keine Gerechtigkeit!«
»Sie werden doch aber verteidigt?«
Lord Alexander schaute seinen Freund entsetzt an. »Diese Verhandlungen finden nicht vor deinem Kriegsgericht statt, Rider. Wir sind hier in England! Welcher Anwalt verteidigt schon einen mittellosen Jugendlichen, der wegen Schafdiebstahl angeklagt ist?«
»Corday ist nicht mittellos.«
»Aber ich wette, er ist auch nicht reich. Mein Gott, Rider, die Frau wurde nackt und blutüberströmt aufgefunden mit seinem Farbmesser in der Kehle.«
Sandman schaute zu, wie die Schlagpartei einen kurzen Lauf errang, während der Ball nach einem wenig eleganten Schlag zum Fänger trudelte, und nahm amüsiert zur Kenntnis, dass sein Freund über die Details des Corday-Falles im Bilde war. Das ließ vermuten, dass er sich in vulgäre Schilderungen der blutigen Gewaltverbrechen Englands vertiefte, wenn er nicht gerade philosophische, theologische oder literarische Werke studierte. »Du nimmst also an, dass Corday schuldig ist«, sagte Sandman.
»Nein, Rider, ich nehme an, dass es aussieht, als sei er schuldig. Das ist ein Unterschied. In jedem ordentlichen Rechtssystem würden wir auf Mittel und Wege sinnen, zwischen dem Anschein von Schuld und tatsächlicher Schuld zu unterscheiden. Aber nicht in Sir John Silvesters Gerichtssaal. Der Mann ist ein Rohling, ein gewissenloser Rohling. Aaah, guter Schlag, Budd, guter Schlag! Lauf, Mann, lauf doch! Trödel nicht rum!« Seine Lordschaft nahm eine neue Pfeife und schickte sich an, sich in Brand zu stecken. »Das ganze System ist verderbt! Völlig verderbt! Sie verurteilen Hunderte Leute zum Tode, richten aber nur zehn hin, weil bei den übrigen das Urteil umgewandelt wird. Und wie erreichst du eine Umwandlung? Indem du den Gutsbesitzer, den Pfarrer oder Seine Lordschaft gewinnst, die Petition zu unterschreiben. Aber was ist, wenn du keine hoch gestellten Leute kennst? Dann richten sie dich hin. Am Galgen. Dummkopf! Dummkopf! Hast du das gesehen? Fellowes ist aus, meine Güte! Mittelpfosten! Hat die Augen zugemacht und geschwankt! Man sollte ihn aufhängen. Siehst du, was passiert, Rider? Die Gesellschaft, also anständige Leute wie du und ich, also zumindest du, haben eine Möglichkeit entwickelt, die unteren Stände im Griff zu halten. Wir machen sie von unserer Gnade und unserem gütigen Wohlwollen abhängig. Wir verurteilen sie zum Tod durch den Strang, anschließend verschonen wir sie, und sie sollen dafür dankbar sein. Dankbar! Es ist verderbt.« Lord Alexander regte sich gründlich auf. Er rang die Hände und brachte sein ohnehin schon zerzaustes Haar in noch größere Unordnung. »Diese verdammten Tories«, schimpfte er auf Sandman ein, den er in dieses vernichtende Urteil einbezog, »völlig verderbt!« Er runzelte die Stirn, doch dann kam ihm ein guter Einfall. »Rider, du und ich, wir gehen zu einer Hinrichtung!«
»Nein!«
»Es ist deine Pflicht, mein lieber Freund. Da du jetzt eine Amtsperson dieses unterdrückerischen Staates bist, solltest du wissen, welche Brutalität diese unschuldigen Seelen erwartet. Ich schreibe an den Gefängnisverwalter von Newgate und bitte ihn, dir und mir privilegierten Zugang zur nächsten Hinrichtung zu verschaffen. Ach, ein Schlagmannwechsel. Dieser Bursche soll angeblich ein Könner sein. Kommst du heute Abend zu mir zum Abendessen?«
»Nach Hampstead?«
»Natürlich nach Hampstead«, antwortete Lord Alexander, »schließlich lebe und esse ich dort, Rider.«
»Dann komme ich nicht.«
Lord Alexander seufzte. Er hatte Sandman eindringlich zu überreden versucht, in sein Haus zu ziehen, und Sandman mit diesem Angebot ernstlich in Versuchung geführt. Denn Lord Alexanders Vater war zwar mit den radikalen Ansichten seines Sohnes durchaus nicht einverstanden, verwöhnte ihn aber trotzdem mit einer großzügigen Zuwendung, die den Radikalen in den Genuss eines Gespanns, eines Reitstalls, mehrerer Bediensteter und einer erlesenen Bibliothek brachte, aber Sandman hatte die Erfahrung gemacht, dass sein Freund und er unweigerlich in heftigen Streit gerieten, wenn sie länger als einige Stunden zusammen waren. Es war wesentlich besser, unabhängig zu bleiben.
»Ich habe Eleanor letzten Samstag getroffen«, sagte Lord Alexander in seiner üblichen Taktlosigkeit.
»Ich nehme an, es geht ihr gut?«
»Davon bin ich überzeugt, aber ich glaube, ich habe ganz vergessen, sie danach zu fragen. Aber warum sollte ich auch? Es erscheint mir völlig überflüssig. Sie lag offensichtlich nicht im Sterben, sah gut aus, wieso sollte ich also fragen? Erinnerst du dich an Paleys Prinzipien?«
»Ist das ein Buch?«, fragte Sandman, wofür er einen fassungslosen Blick erntete. »Ich habe es nicht gelesen«, fügte er hastig hinzu.
»Was hast du eigentlich mit deinem Leben gemacht?«, fragte Lord Alexander gereizt. »Ich werde es dir borgen, aber nur damit du die üblen Argumente verstehst, die für den Galgen vorgebracht werden.« Zur Untermauerung seiner folgenden Worte bohrte Lord Alexander Sandman das Mundstück seiner Pfeife in die Brust. »Weißt du, dass Paley es tatsächlich verzeihlich findet, Unschuldige hinzurichten, und zwar mit dem Scheinargument, dass die Todesstrafe notwendig ist, Irrtümer sich in einer unvollkommenen Welt nicht ausschließen lassen und die Unschuldigen daher für die Sicherheit der ganzen Gesellschaft leiden. Unschuldige, die hingerichtet werden, stellen somit also ein unvermeidliches, wenn auch bedauerliches Opfer dar. Kannst du eine solche Argumentation nachvollziehen? Dafür sollte man Paley aufhängen!«
»War er nicht ein Mann der Kirche?«, fragte Sandman, während er einem gekonnten Spielzug Beifall zollte, der einen Feldspieler bis an die Außenlinie an der Chiswell Street laufen ließ.
»Sicher war er ein Mann der Kirche, aber was hat das mit der Sache zu tun? Ich bin auch ein Mann der Kirche, verleiht das meinen Argumenten göttliche Macht? Manchmal bist du wirklich absurd.« Lord Alexander hatte seine Pfeife zerbrochen, als er sie seinem Freund fest auf die Brust drückte, und musste sich nun eine neue anzünden. »Ich gebe natürlich zu, dass Thomas Jefferson den gleichen Standpunkt vertritt, aber seine Begründung finde ich eleganter als Paleys.«
»Soll heißen, dass Jefferson einer deiner Helden ist und sich nicht irren kann«, merkte Sandman an.
»Ich hoffe doch, dass ich besser differenzieren kann, als du mir unterstellst«, entgegnete Lord Alexander verstimmt, »und selbst du musst zugeben, dass Jefferson politische Gründe für seine Überzeugungen hat.«
»Was sie um so tadelnswerter macht«, sagte Sandman, »außerdem stehst du in Flammen«.
»Ja, wahrhaftig.« Lord Alexander schlug auf seinen Gehrock. »Eleanor hat nach dir gefragt, soweit ich mich erinnere.«
»Ach ja?«
»Habe ich das nicht gerade gesagt? Und ich habe sicher geantwortet, dass du in bester Verfassung bist. Ja, guter Treffer, Sir, guter Treffer. Budd schlägt fast so kraftvoll wie du! Ich habe sie in der Ägyptischen Halle getroffen. Es gab da einen Vortrag über«, er stockte stirnrunzelnd und starrte auf den Schlagmann, »meine Güte, ich habe völlig vergessen, weshalb ich da war, jedenfalls war Eleanor mit Doktor Vaux und seiner Frau da. Gott, ist der Mann dumm.«
»Vaux?«
»Nein, der neue Schlagmann! Es hat keinen Sinn, den Schläger in der Luft zu schwenken! Schlag zu, Mann, schlag zu, dafür ist der Schläger da! Ich sollte dir etwas von Eleanor ausrichten.«
»Wirklich?« Sandmans Herz schlug schneller. Seine Verlobung mit Eleanor mochte zwar gelöst sein, aber er liebte sie immer noch. »Was denn?«
»Ja, was war es noch gleich?« Lord Alexander runzelte die Stirn. »Es ist mir entfallen, Rider, völlig entfallen. Aber es kann nichts Wichtiges gewesen sein. Überhaupt nicht wichtig. Und was die Countess of Avebury angeht!« Er schauderte, offensichtlich außer Stande, eine Meinung über die Ermordete zu äußern.
»Was ist mit Ihrer Ladyschaft?«, fragte Sandman, denn er wusste, dass es sinnlos wäre, ihn weiter nach Eleanors vergessener Nachricht auszufragen.
»Ladyschaft! Ha!« Lord Alexanders Ausruf war so laut, dass hundert Zuschauer sich nach ihm umsahen. »Dieses Luder!«, sagte er. Doch dann fiel ihm sein geistlicher Stand ein. »Arme Frau, aber sicher ist sie nun an einem glückseligeren Ort. Wenn jemand ihren Tod gewünscht hat, dann war es ihr Mann, sollte ich meinen. Der Ärmste muss unter der Last seiner Hörner förmlich zusammengebrochen sein.«
»Du glaubst, der Earl hat sie getötet?«, fragte Sandman.
»Sie lebten getrennt, Rider, ist das kein Indiz?«
»Getrennt?«
»Du klingst überrascht. Darf ich fragen, wieso? Die Hälfte der Ehemänner in England scheinen doch von ihren Ehefrauen getrennt zu sein. Das ist ja wohl kaum etwas Ungewöhnliches.«
Sandman war überrascht, weil er hätte schwören können, dass Corday gesagt hatte, der Earl habe das Porträt seiner Frau in Auftrag gegeben, aber warum sollte er das tun, wenn sie getrennt lebten? »Bist du sicher, dass sie getrennt waren?«, fragte er noch einmal nach.
»Ich weiß es aus erster Quelle«, erklärte Lord Alexander abwehrend. »Ich bin mit dem Sohn des Earl befreundet. Er heißt Christopher und ist ein überaus herzlicher Mann. Er war in Brasenose, als ich am Trinity College war.«
»Herzlich?« Die Wortwahl erschien Sandman merkwürdig.
»Ja, sehr!«, bekräftigte Lord Alexander. »Er machte einen ganz respektablen Abschluss und ging dann an die Sorbonne, um bei Lasalle zu studieren. Sein Fachgebiet ist die Etymologie.«
»Käfer?«
»Wörter, Rider, Wörter.« Lord Alexander verdrehte die Augen über Sandmans Unwissenheit. »Das Studium der Herkunft von Wörtern. Kein ernsthaftes Wissensgebiet, finde ich immer, aber Christopher schien zu glauben, dass man daran arbeiten müsse. Die Tote war natürlich seine Stiefmutter.«
»Hat er mit dir über sie gesprochen?«
»Wir sprechen über ernsthafte Dinge«, sagte Alexander vorwurfsvoll, »aber im Laufe jeder Bekanntschaft erfährt man natürlich auch Banalitäten. Viel Liebe gab es nicht in der Familie, das kann ich dir sagen. Der Vater verachtet seinen Sohn und seine Ehefrau, die Frau verabscheut den Ehemann und der Sohn hegt gegen beide bittere Gefühle. Ich muss sagen, der Earl und die Countess of Avebury sind ein Lehrbeispiel für die Gefahren des Familienlebens. Guter Schlag! Guter Schlag! Hervorragender Mann! Gute Arbeit! Hüpf, hüpf!«
Sandman applaudierte dem Schlagmann und trank den Rest Tee aus. »Es wundert mich zu hören, dass der Earl und die Countess getrennt waren«, sagte er, »denn Corday behauptete, der Earl habe das Porträt in Auftrag gegeben. Warum sollte er das tun, wenn sie sich getrennt hatten?«
»Da musst du ihn selbst fragen«, sagte Lord Alexander, »aber ich könnte mir vorstellen, dass Avebury zwar eifersüchtig, aber immer noch vernarrt in sie war. Sie war eine anerkannte Schönheit, und er ist ein anerkannter Narr. Rider, ich möchte niemandem etwas anlasten. Ich behaupte lediglich, wenn jemand die Dame gern tot gesehen hätte, könnte es durchaus ihr Mann gewesen sein, obwohl ich bezweifele, dass er den Todesstoß selbst ausgeführt hat. Selbst Avebury besitzt genug Verstand, jemand anderen für die schmutzige Arbeit anzuheuern. Außerdem leidet er an Gicht. Aah, guter Treffer! Guter Treffer! Geh rann, los!«
»Ist der Sohn immer noch in Paris?«
»Er ist wieder zurück. Ab und an treffe ich ihn, auch wenn unsere Verbindung nicht mehr so eng ist wie in Oxford. Schau dir das an! Fuchtelt mit dem Schläger herum. Es hat doch keinen Sinn, so nach den Bällen zu stochern!«
»Könntest du mich mit ihm bekannt machen?«
»Mit Aveburys Sohn? Ich denke schon.«
Kurz nach acht Uhr war das Spiel beendet, als die Mannschaft des Marquess zusammenbrach, obwohl ihr nur noch dreiundneunzig Läufe zum Sieg fehlten. Ihre Niederlage freute Lord Alexander, schürte allerdings in Sandman den Verdacht, dass Bestechung wieder einmal ein Spiel zunichte gemacht hatte, aber er konnte es nicht beweisen. Lord Alexander tat die Vermutung ab und wollte nichts davon hören, als Sandman seinen Wettgewinn ablehnte. »Natürlich musst du ihn nehmen«, beharrte Lord Alexander. »Wohnst du immer noch im Wheatsheaf? Du weißt ja wohl, dass es eine Unterweltspelunke ist?«
»Inzwischen weiß ich es«, gab Sandman zu.
»Wieso essen wir nicht da zusammen zu Abend? Vielleicht kann ich ja ein paar volkstümliche Unterweltausdrücke lernen, aber Unterweltausdrücke sind wohl immer volkstümlich, oder? Hughes? Lassen Sie die Pferde anspannen und sagen Sie Williams, dass wir in die Drury Lane fahren.«
Die Londoner Unterwelt und die ihr eigene Sprache nannten sich Flash. Niemand stahl eine Geldbörse, sondern man filzte, rupfte Kohl oder ließ eine Tasche mitgehen. Das Gefängnis hieß Schafweide oder Kittchen, Newgate war der King’s Head Inn, und die Wärter hießen Schinder. Ein guter Dieb war ein Halunke und sein Opfer eine Mumme. Als solche galt Lord Alexander, wenngleich als geniale. Er lernte das Flash-Vokabular, zahlte für jedes neue Wort mit Bier und Gin und ging erst weit nach Mitternacht. Als Lord Alexander an seiner Kutsche stand, die eigentlich eine Ratter war und statt Lampen ein Paar Schimmer besaß, wie er zu seiner Freude erfahren hatte, kam Sally Hood am Arm ihres Bruders nach Hause, beide recht angeheitert. Lord Alexander hielt sich an einem Rad fest, als Sally vorübereilte. Er starrte ihr mit offenem Mund nach. »Ich bin verliebt, Rider«, erklärte er allzu laut.
Sally schaute über die Schulter zurück und bedachte Sandman mit einem strahlenden Lächeln. »Du bist nicht verliebt, Alexander«, erklärte Sandman bestimmt.
Lord Alexander starrte hinter Sally her, bis sie durch die Tür des Wheatsheaf verschwunden war. »Ich bin verliebt«, beharrte Lord Alexander. »Cupidos Pfeil hat mich getroffen. Ich bin verzaubert. Ich bin unsterblich verliebt.«
»Du bist ein sehr betrunkener Geistlicher, Alexander.«
»Ich bin ein sehr betrunkener und verliebter Geistlicher. Kennst du die Dame? Kannst du es einrichten, mich ihr vorzustellen?« Er machte einen Satz hinter Sally her, rutschte aber mit seinem Klumpfuß auf dem Pflaster aus und schlug der Länge nach hin. »Ich bestehe darauf, Rider!«, sagte er vom Boden aus. »Ich bestehe darauf, der Dame meine Aufwartung zu machen. Ich möchte sie heiraten.« In Wahrheit war er so betrunken, dass er nicht mehr stehen konnte, aber Sandman, Hughes und dem Kutscher gelang es gemeinsam, Seine Lordschaft in seinen Wagen zu befördern, der mit schimmernden Schimmern nach Norden ratterte.
Am nächsten Morgen regnete es, und ganz London schien schlecht gelaunt. Sandman hatte Kopfschmerzen, Magendrücken und ständig das Galgenlied im Kopf, das Lord Alexander am Abend zuvor in der Schänke gelernt hatte:
Und wenn ich nun zur Hölle fahr, zur Hölle fahr,
dann geh ich nicht allein führwahr, allein führwahr,
du, mein Freund, bist auch schon da, auch schon da,
auf alle Zeit verdammt!
Die Melodie hatte sich in Sandmans Kopf festgesetzt und ging ihm nicht aus dem Sinn, als er sich rasierte und sich über dem Feuer im Hinterzimmer Tee kochte, in dem die Mieter sich Wasser heiß machen durften. Sally kam mit zerzausten Haaren, aber bereits geschlossenem Kleid herein. Sie schöpfte sich Wasser in eine Tasse und hob sie scherzhaft zu einem Toast. »Frühstück«, sagte sie zu Sandman, und fügte grinsend hinzu: »Wie ich höre, waren Sie gestern Abend ganz schön lustig?«
»Guten Morgen, Miss Hood«, stöhnte Sandman.
Sie lachte. »Wer war der Krüppel, der bei Ihnen war?«
»Er ist mein bester Freund, Reverend Lord Alexander Pleydell, Magister Artium, zweiter Sohn des Marquess und der Marchioness of Canfield.«
Sally starrte Sandman an. »Sie wollen mich auf den Arm nehmen.«
»Bestimmt nicht, das versichere ich Ihnen.«
»Er hat gesagt, er ist in mich verliebt.«
Sandman hatte gehofft, sie habe es nicht gehört. »Wenn er heute Morgen wieder nüchtern ist, wird er sicher immer noch in Sie verliebt sein, Miss Hood«, antwortete er.
Sally lachte über Sandmans Takt. »Ist er wirklich Reverend? Er zieht sich nicht so an.«
»Er hat die Weihen empfangen, als er Oxford verließ«, erklärte Sandman, »aber ich glaube, er tat es, um seinen Vater zu ärgern. Vielleicht wollte er aber auch damals Professor an seiner Hochschule werden. Allerdings hat er sich nie um eine Anstellung bemüht. Er braucht keine Pfarrgemeinde oder sonstige Stelle, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, er ist ziemlich reich. Er behauptet, er schreibt ein Buch, aber ich habe bislang noch keinen Beleg dafür gesehen.«
Sally trank ihr Wasser und verzog das Gesicht über den Geschmack. »Ein reicher, verkrüppelter Geistlicher?« Sie überlegte ein Weilchen und grinste schelmisch. »Ist er verheiratet?«
»Nein«, antwortete Sandman, fügte aber nicht hinzu, dass Alexander sich mit schöner Regelmäßigkeit in jede hübsche Verkäuferin verliebte, die ihm zu Gesicht kam.
»Na ja, ich kann mir Schlimmeres vorstellen, als mir einen hinkenden Pastor zu angeln, oder?«, sagte Sally. Als die Uhr neun schlug, fuhr sie zusammen. »Allmächtiger, ich bin spät dran. Dieser blöde Kerl, für den ich arbeite, fängt gern früh an.« Damit lief sie davon.
Sandman zog seinen grauen Mantel an und machte sich auf den Weg in die Mount Street. Alexander hatte ihn gedrängt, Nachforschungen anzustellen, und das wollte er nun tun. Er hatte sechs Tage Zeit, die Wahrheit herauszufinden, und er beschloss, bei der vermissten Zofe, Meg, anzufangen. Falls es sie gab, und an diesem regnerischen Morgen neigte Sandman zu Zweifeln an Cordays Darstellung, könnte sie Sandman Gewissheit verschaffen, indem sie die Geschichte des Malers bestätigte oder bestritt. Auf dem Weg zur Bond Street fiel ihm mit einem Mal ein, dass er an Eleanors Haus in der Davies Street vorbei musste. Da er aber nicht den Eindruck erwecken wollte, aufdringlich zu sein, nahm er einen Umweg, um es zu meiden, und erreichte schließlich völlig durchnässt das Haus in der Mount Street, in dem der Mord stattgefunden hatte.
Das Stadthaus des Earl of Avebury war mühelos zu erkennen, denn selbst bei diesem Wetter kauerte trotz der wenigen Fußgänger eine Straßenhändlerin unter einer Plane und bot unmittelbar vor dem Mordhaus ihre Flugschriften feil. »Mordbericht, Sir, nur einen Penny«, grüßte sie Sandman. »Schauriger Mord, Sir.«
»Geben Sie mir eine.« Sandman wartete, bis sie eine Flugschrift aus ihrer Tasche gezogen hatte, dann ging er die Stufen hinauf und klopfte an die Tür. Die Fensterläden des Hauses waren geschlossen, aber das besagte noch nicht viel. Viele Angehörige der Gesellschaft, die außerhalb der Saison in London festsaßen, schlossen ihre Fensterläden, um den Eindruck zu erwecken, sie seien auf dem Land. Aber anscheinend war das Haus tatsächlich unbewohnt, denn auf Sandmans Klopfen geschah nichts.
»Da ist keiner zu Hause«, sagte die Straßenhändlerin, »schon seit dem Mord nicht, Sir.« Der Straßenkehrer kam, angelockt von Sandmans Gehämmer, über die Straße und bestätigte, dass es leer stand.
»Aber das ist doch das Haus des Earl of Avebury?«, fragte Sandman.
»Ja, ja, Sir«, bestätigte der Straßenkehrer, ein etwa zehnjähriger Junge, in der Hoffnung auf ein Trinkgeld, »aber es ist leer, Eure Lordschaft.«
»Es gab hier eine Zofe namens Meg«, sagte Sandman, »kanntet Ihr sie?«
Der Straßenkehrer schüttelte den Kopf. »Ich kenne hier keinen, Euer Ehren.« Zwei weitere Jungen, die dafür bezahlt wurden, den Pferdedung von der Straße zu sammeln, gesellten sich zu ihnen. »Die sind weg«, erklärte einer von ihnen.
Ein Nachtwächter mit Stab stellte sich dazu und gaffte, mischte sich aber nicht ein. In diesem Augenblick öffnete sich die Haustür des benachbarten Gebäudes, und eine Frau mittleren Alters in schäbigen Kleidern kam heraus. Sie schauderte angesichts des Regens, musterte ängstlich das Grüppchen vor dem Nachbarhaus und spannte einen Regenschirm auf. »Madam!«, rief Sandman. »Madam!«
»Sir?« Die Kleidung der Frau ließ darauf schließen, dass sie ein Dienstbote war, vielleicht die Haushälterin.
Sandman schob sich an dem Grüppchen vorbei und zog den Hut. »Verzeihen Sie, Madam, aber Viscount Sidmouth hat mich beauftragt, die traurigen Ereignisse zu untersuchen, die hier vorgefallen sind.« Er stockte, aber die Frau starrte ihn nur durch den Regen an, der von ihrem Schirm triefte, obgleich die Erwähnung eines Viscount sie zu beeindrucken schien. Aus diesem Grund hatte Sandman überhaupt von ihm gesprochen. »Madam, stimmt es, dass in diesem Haus eine Zofe namens Meg gearbeitet hat?«
Die Frau schaute sich nach ihrer geschlossenen Haustür um, als suche sie einen Fluchtweg, nickte aber schließlich. »Ja, Sir.«
»Wissen Sie, wo sie ist?«
»Sie sind weg, Sir. Alle weg, Sir.«
»Aber wohin?«
»Sie sind aufs Land gefahren, Sir, glaube ich.« Sie knickste, offensichtlich in der Hoffnung, dass er gehen möge.
»Aufs Land?«
»Sie sind weg, Sir. Und der Earl hat ein Haus auf dem Land, Sir, bei Marlborough, Sir.«
Mehr wusste sie nicht. Sandman fragte weiter, aber je mehr er sie bedrängte, umso unsicherer wurde sie in dem, was sie ihm bereits gesagt hatte. Eigentlich wusste sie nur, dass Köchinnen, Lakaien, Kutscher und Zofen der Countess alle fort waren, und sie vermutete, wusste es aber nicht genau, dass sie wohl in das Landhaus des Earl in der Nähe von Marlborough gefahren waren. »Hab ich Ihnen doch gesagt, sie sind alle weg«, sagte einer der Straßenkehrer.
»Ihre Ladyschaft ist weg«, sagte der Nachtwächter lachend, »hinüber.«
»Hier gibt es alles darüber zu lesen«, rief die Straßenhändlerin zuversichtlich.
Da in der Mount Street offensichtlich nichts weiter in Erfahrung zu bringen war, ging Sandman wieder. Es gab also eine Meg? Das bestätigte Cordays Darstellung zumindest teilweise, aber der Malerlehrling konnte den Mord dennoch begangen haben, als die Zofe nicht im Zimmer war. Sandman fiel die Versicherung des Gefängnispförtners ein, alle Schurken seien Lügner, und er fragte sich, ob es unverzeihlich naiv von ihm sei, an Cordays Schuld zu zweifeln. Der Elende war schließlich in einem ordentlichen Gerichtsverfahren verurteilt worden, und so vehement Lord Alexander auch gegen die britische Justiz wüten mochte, fiel es Sandman schwer, die herrschende Ordnung in seinem Heimatland rundweg abzutun. Er hatte in den vergangenen zehn Jahren für sein Land gegen eine Tyrannei gekämpft, die Lord Alexander bewunderte. Bei seinem Freund hing ein Porträt Napoleons neben George Washington und Thomas Paine an der Wand. Nach Sandmans Eindruck fand Lord Alexander an nichts Englischem Gefallen, bevorzugte alles Ausländische und würde sich von all dem Blut, das von der Guillotine getropft war, nie überzeugen lassen, dass Freiheit und Gleichheit unvereinbar waren, was Sandman völlig offenkundig zu sein schien. Daher waren sie also anscheinend dazu verurteilt, unterschiedlicher Meinung zu sein. Lord Alexander kämpfte für Gleichheit, während Sandman an Freiheit glaubte, und für Sandman war es unvorstellbar, dass ein frei geborener Engländer keinen fairen Prozess bekommen sollte, doch zu eben dieser Ansicht veranlasste ihn die Tatsache, dass er mit einer Untersuchung betraut war. Bequemer wäre es, Corday für einen Lügner zu halten, aber Meg existierte ohne Zweifel, und ihre Existenz brachte Sandmans unerschütterlichen Glauben an die britische Justiz ins Wanken.
In diese aufrührerischen Gedanken vertieft, ging er auf den Burlington Gardens ostwärts und nahm das Rattern der Pferdegespanne kaum wahr, die spritzend durch den Regen fuhren. Als er bemerkte, dass am Ende der Straße ein Steinmetz mit Fuhrwerk und Gerüst den Durchgang versperrte, bog er in die Sackville Street, wo er in die Gosse ausweichen musste, weil sich unter dem Vordach des Juweliers Gray ein Grüppchen gesammelt hatte. Die meisten suchten Schutz vor dem Regen, aber manche bewunderten die Rubine und Saphire eines prachtvollen Halsbandes, das in einem vergoldeten Käfig im Schaufenster ausgestellt war. Gray. Der Name erinnerte Sandman an etwas, und so blieb er auf der Straße stehen und schaute an dem Vordach vorbei nach oben.
»Sind Sie lebensmüde?«, brüllte ein Fuhrmann Sandman zu und zerrte an seinen Zügeln. Sandman achtete nicht auf ihn. Corday hatte gesagt, in diesem Haus habe Sir George Phillips sein Atelier, aber Sandman entdeckte in den Fenstern über dem Juweliergeschäft keinerlei Hinweis. Er ging wieder auf den Bürgersteig und fand neben dem Laden einen separaten Hauseingang, aber kein Schild, das erkennen ließ, wer hinter der grün gestrichenen Tür mit dem blank polierten Messingklopfer wohnte oder arbeitete. Ein einbeiniger Bettler, dessen Gesicht von Schwären entstellt war, saß im Eingang. »Eine Münze für einen alten Soldaten, Sir?«
»Wo hast du gedient?«, fragte Sandman.
»Portugal, Sir, Spanien, Sir, und Waterloo, Sir.« Der Bettler klopfte auf seinen Beinstumpf. »Das habe ich in Waterloo verloren, Sir. Hab alles mitgemacht, Sir. Wahrhaftig.«
»Welches Regiment?«
»Artillerie, Sir. Schütze, Sir.« Er klang etwas nervös.
»Welches Bataillon, welche Kompanie?«
»Achtes Bataillon, Sir.« Nun war dem Bettler erkennbar unbehaglich, seine Antwort war wenig überzeugend.
»Kompanie?«, fragte Sandman. »Und der Name des Kompaniechefs?«
»Hau ab«, schnaubte der Mann.
»Ich war nicht lange in Portugal«, sagte Sandman, »aber in Spanien habe ich gekämpft und in Waterloo.« Er hob den Türklopfer und klopfte laut. »In Spanien haben wir schwere Zeiten durchgemacht, aber Waterloo war bei weitem das Schlimmste, ich habe große Sympathien für alle, die da gekämpft haben.« Er klopfte noch einmal. »Aber ich kann wütend werden, verdammt wütend, wenn Männer behaupten, da gekämpft zu haben, die gar nicht da waren! Das ärgert mich maßlos!«
Der Bettler kroch vor Sandmans Zorn davon, als die grüne Tür sich öffnete und ein schwarzer Page von dreizehn oder vierzehn Jahren vor Sandmans wütender Miene zurückschreckte. Offenbar befürchtete er Arger, denn er versuchte sofort, die Tür zu schließen, aber Sandman schob seinen Fuß in den Türspalt. Hinter dem Jungen lag eine elegante Diele und ein schmales Treppenhaus. »Ist hier das Atelier von Sir George Phillips?«, fragte Sandman.
Der Page, der eine schäbige Livree und eine Perücke trug, die dringend hätte gepudert werden müssen, stemmte sich gegen die Tür, kam aber gegen Sandmans Kraft nicht an. »Wenn Sie nicht angemeldet sind, sind Sie nicht willkommen«, sagte der Junge.
»Ich bin angemeldet.«
»Wirklich?« Überrascht ließ der Junge die Tür los, die plötzlich aufschwang und Sandman stolpern ließ. »Sind Sie wirklich angemeldet?«, fragte der Junge noch einmal.
»Ich komme im Auftrag des Viscount Sidmouth«, erklärte Sandman großspurig.
»Wer ist da, Sammy?«, rief eine Stimme von oben.
»Er sagt, er kommt von Viscount Sidmouth.«
»Dann lass ihn herauf! Lass ihn herauf! Wir sind nicht zu stolz, Politiker zu malen. Wir verlangen von den Schweinehunden nur mehr.«
»Soll ich Ihnen den Mantel abnehmen, Sir?«, fragte Sammy mit einer flüchtigen Verneigung.
»Ich behalte ihn an.« Sandman schob sich in den engen Flur, der mit modischer Streifentapete und einem kleinen Lüster ausgestattet war. Sir Georges reiche Auftraggeber sollten von einem livrierten Pagen in einem mit Teppichen ausgelegten Entree empfangen werden. Als Sandman die Treppe hinaufging, störte Terpentingestank das elegante Erscheinungsbild, und der Raum in der ersten Etage, der ebenso vornehm wirken sollte wie die Diele, versank in Unordnung. Es war ein Salon, in dem Sir George seine fertigen Gemälde präsentieren konnte, der aber mittlerweile wohl eher als Abstellkammer für halb fertige Arbeiten, farbverkrustete Paletten, eine verschimmelte Wildpastete, alte Pinsel, Lappen und einen Haufen Männer- und Frauenkleider diente. Sammy deutete auf eine zweite Treppe, die ins Obergeschoss führte. »Möchten Sie Kaffee?«, fragte er auf dem Weg zu einer Türöffnung mit Vorhang, der offenbar eine Küche verbarg. »Oder Tee?«
»Tee wäre angenehm.«
Da man im Obergeschoss die Zimmerdecke entfernt und zwischen die nun sichtbaren Dachbalken Fenster eingebaut hatte, gewann Sandman den Eindruck, er steige ins Licht hinauf. Regen prasselte auf die Dachpfannen und tropfte so reichlich durch, dass überall im Atelier Eimer aufgestellt waren. Ein schwarzer dickbauchiger Ofen beherrschte die Raummitte, diente aber im Augenblick lediglich als Ablage für eine Flasche Wein und ein Glas. Neben dem Ofen stand eine Staffelei mit einer riesigen Leinwand, und auf einem Podest am anderen Ende des Raumes standen ein Marineoffizier und ein Matrose mit einer Frau Modell. Die Frau kreischte, als Sandman erschien, und griff hastig nach einem graubraunen Tuch auf einer Kiste, auf der der Marineoffizier saß.
Es war Sally Hood. Sandman verneigte sich vor ihr, seinen nassen Hut in der Hand. Sie hielt einen Dreizack und trug außer einem Messinghelm kaum etwas. Eigentlich trug sie gar nichts, wie Sandman bemerkte, aber ihre Hüften und Schenkel waren weitgehend von einem ovalen Schild verdeckt, auf das mit flüchtigen Kohlestrichen die britische Flagge skizziert war. Sie stellte wohl Britannia dar, erkannte Sandman. »Sie weiden Ihre Augen an Miss Hoods Brüsten. Wieso auch nicht? Im Vergleich zu anderen sind sie wunderbar, der Inbegriff von Titten.«
»Captain«, grüßte Sally Sandman kleinlaut.
»Ihr Diener, Miss Hood«, antwortete Sandman mit einer weiteren Verbeugung.
»Grundgütiger Gott!«, sagte der Maler. »Sind Sie meinetwegen oder wegen Sally hier?« Er war beleibt, ja, dick wie ein Fass, hatte aufgedunsene Wangen, eine dicke Nase und einen Bauch, über dem sich ein farbverschmiertes Rüschenhemd spannte. Sein weißes Haar steckte unter einer engen Kappe, wie man sie unter Perücken trug.
»Sir George?«, fragte Sandman.
»Zu Ihren Diensten, Sir.« Sir George deutete eine Verbeugung an, die aber bei seiner Leibesfülle lediglich zum leichten Hüftschwung geriet, und machte mit dem Pinsel in seiner Hand eine hübsch ausladende Geste, als sei es ein Fächer. »Seien Sie willkommen«, sagte er, »solange Sie einen Auftrag mitbringen. Ich verlange achthundert Guineen für ein Ganzfigurstück, sechshundert für ein Kniestück, und Brustbilder mache ich nur, wenn ich zu verhungern drohe, was seit 1799 nicht mehr vorgekommen ist. Viscount Sidmouth schickt Sie?«
»Er möchte sich nicht malen lassen, Sir George.«
»Dann können Sie gleich wieder verschwinden!«, sagte der Maler. Sandman überhörte den Vorschlag und schaute sich im Atelier um, das mit seinem Gewirr aus Gipsstatuen, Draperien, alten Lappen und halb fertigen Gemälden einen wilden Eindruck machte. »Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause«, schnaubte Sir George, dann rief er die Treppe hinunter: »Sammy, wo bleibt der Tee?«
»Kommt gleich!«, antwortete Sammy.
»Beeil dich!« Sir George warf Palette und Pinsel beiseite. Neben ihm malten zwei Jungen Wellen auf die Leinwand, Sandman nahm an, dass sie seine Lehrlinge waren. Das Gemälde war riesig, mindestens zehn Fuß breit, und zeigte einen einsamen Felsen in einem sonnenbeschienenen Meer mit einer erst zur Hälfte gemalten Flotte. Auf dem Felsen saß ein Admiral, flankiert von einem gut aussehenden jungen Mann in Matrosenuniform und von Sally Hood als Britannia. Warum sich der Admiral, der Matrose und Britannia einsam auf diesem ausgesetzten Felsen befanden, war nicht ganz ersichtlich, aber Sandman wollte auch nicht fragen. Ihm fiel auf, dass der Offizier, der für den Admiral Modell stand, kaum älter als achtzehn sein konnte, aber eine Uniform mit goldenen Tressen und zwei juwelenbesetzten Sternen trug. Das wunderte Sandman einen Augenblick, bis er sah, dass der rechte Ärmel des Jungen leer auf die Brust der Uniformjacke geheftet war. »Der echte Nelson ist tot.« Sir George war Sandmans Blick gefolgt und ahnte seinen Gedankengang. »Wir müssen uns also, so gut es geht, mit dem jungen Master Corbett behelfen. Wissen Sie, was die Tragödie in Master Corbetts Leben ist? Er kehrt Britannia den Rücken zu und muss so tagtäglich stundenlang in dem Wissen da sitzen, dass sich ein Paar der üppigsten Brüste von ganz London kaum zwei Fuß hinter seinem linken Ohr befindet und er sie nicht sehen kann. Ha! Meine Güte, Sally, hör auf, dich zu verstecken.«
»Sie malen doch gar nicht, dann kann ich mich auch bedecken«, sagte Sally. Sie hatte das graue Tuch, das die Kiste in einen Felsen verwandelte, gegen ihren Mantel eingetauscht.
Sir George griff zum Pinsel. »Jetzt male ich«, knurrte er.
»Mir ist kalt«, jammerte Sally.
»Bist dir wohl plötzlich zu fein, dich zu zeigen, was?«, schnaubte Sir George und schaute Sandman an. »Hat Sie Ihnen von ihrem Lord erzählt? Von dem, der sich in sie verguckt hat? Bald müssen wir uns vor ihr verneigen und Kratzfüße machen, was? Ja, Ihre Ladyschaft, zeigen Sie uns Ihre Brüste, Ihre Ladyschaft.« Er lachte, und seine Lehrjungen grinsten.
»Sie hat Sie nicht belogen«, sagte Sandman. »Seine Lordschaft existiert, ich kenne ihn, und er ist tatsächlich bezaubert von Miss Hood. Außerdem ist er sehr reich. Mehr als reich genug, um ein Dutzend Porträts bei Ihnen in Auftrag zu geben, Sir George.«
Sally schaute ihn voller Dankbarkeit an, während Sir George unbehaglich den Pinsel in die Farbe auf seiner Palette tauchte. »Wer zum Teufel sind Sie denn nun?«, herrschte er Sandman an. »Abgesehen davon, dass Sie von Sidmouth kommen?«
»Mein Name ist Captain Rider Sandman.«
»Marine, Armee, Landwehr, Miliz oder sind Sie ein Fantasiehauptmann? Das gilt ja heutzutage für die meisten militärischen Ränge.«
»Ich war in der Armee«, sagte Sandman.
»Du kannst dich wieder ausziehen«, sagte Sir George zu Sally, »der Captain war Soldat, er hat also bestimmt schon mehr Brüste gesehen als ich.«
»Aber meine noch nicht«, sagte Sally und hielt sich den Mantel vor der Brust zu.
»Woher kennen Sie sie eigentlich?«, erkundigte Sir George sich misstrauisch bei Sandman.
»Wir wohnen im selben Gasthaus, Sir George.«
Sir George schnaubte verächtlich. »Dann wohnt sie entweder in besseren Verhältnissen, als sie verdient, oder Sie leben in schlechteren. Zieh den Mantel aus, du dumme Gans.«
»Es ist mir peinlich«, gestand Sally errötend.
»Er hat schon Schlimmeres gesehen als deinen nackten Körper«, erklärte Sir George säuerlich und trat einen Schritt zurück, um sein Gemälde zu begutachten. »Die Apotheose des Lord Nelson. Sicher wundern Sie sich, warum ich den Burschen nicht mit Augenklappe male? Wundert Sie das nicht?«
»Nein«, sagte Sandman.
»Weil er nie eine Augenklappe getragen hat, deshalb. Nie! Ich habe ihn zu Lebzeiten zwei Mal gemalt. Manchmal trug er eine grüne Schirmmütze, aber nie eine Augenklappe, also wird er auf diesem Meisterwerk, das die Lords der Admiralität in Auftrag gegeben haben, auch keine tragen. Als er noch lebte, konnten sie den Kerl nicht ausstehen, aber jetzt wollen sie ihn sich an die Wand hängen. Eigentlich wollen sie Sally Hoods Brüste an ihre Täfelung hängen, Captain Sandman. Sammy, du schwarzer Hund! Was zum Teufel treibst du da unten? Müssen die verdammten Teeblätter erst noch wachsen? Bring mir Brandy!« Er funkelte Sandman wütend an. »Und was wollen Sie von mir, Captain?«
»Über Charles Corday reden.«
»Heiliger Strohsack«, fluchte Sir George und starrte Sandman streitlustig an. »Charles Corday?«, sagte er finster. »Sie meinen den schäbigen kleinen Charlie Cruttwell?«
»Der sich mittlerweile Corday nennt, ja.«
»Spielt ja wohl keine Rolle, wie er sich nennt«, sagte Sir George, »nächsten Montag knüpfen sie ihn so oder so auf. Ich habe überlegt, ob ich es mir nicht anschauen soll. Schließlich sieht man nicht alle Tage, wie einer der eigenen Lehrlinge gehenkt wird.« Er gab einem der Jungen, die emsig an den weiß gefleckten Wellen pinselten, einen Klaps und maulte seine drei Modelle an. »Sally, meine Güte, deine Titten kosten mein Geld. Jetzt stell dich in Pose, dafür wirst du schließlich bezahlt!«
Sandman kehrte ihr taktvoll den Rücken zu, als sie den Mantel fallen ließ. »Der Innenminister hat mich gebeten, den Fall Corday zu untersuchen«, erklärte er.
Sir George lachte. »Seine Mutter hat also der Königin in den Ohren gelegen, was?«
»Ja.«
»Ein Glück für den kleinen Charlie, dass er so eine Mutter hat. Wollen Sie wissen, ob er es getan hat?«
»Er sagt, er war es nicht.«
»Klar sagt er Ihnen das«, antwortete Sir George boshaft. »Er wird Ihnen ja wohl kaum ein Geständnis ablegen, oder? Aber so seltsam es auch ist, vermutlich sagt er Ihnen die Wahrheit. Zumindest was die Vergewaltigung angeht.«
»Er hat sie nicht vergewaltigt?«
»Er könnte es getan haben.« Mit zarten Farbtupfern erweckte Sir George Sallys Gesicht unter dem Helm zu erstaunlichem Leben. »Er könnte es getan habe, aber es wäre gegen seine Natur.« Sir George musterte Sandman verstohlen. »Unser Monsieur Corday ist ein Sodomit, Captain.« Er lachte über Sandmans Miene. »Dafür wird man gehenkt, es spielt für Charlie also keine große Rolle, ob er den Mord begangen hat oder nicht, stimmt’s? Der Sodomie ist er gewiss schuldig, also hat er den Galgen verdient. Das gilt für sie alle. Diese widerlichen warmen Brüder. Ich würde sie alle aufknüpfen, allerdings nicht am Hals.«
Sammy kam ohne Livree und Perücke, aber mit einem Tablett, auf dem bunt zusammengewürfelte Tassen, eine Kanne Tee und eine Flasche Brandy standen. Der Junge schenkte Sir George und Sandman Tee ein, aber nur Sir George bekam ein Glas Branntwein. »Ihr bekommt euren Tee gleich, wenn ich fertig bin«, sagte Sir George den drei Modellen.
»Sind Sie sicher?«, fragte Sandman.
»Dass sie gleich ihren Tee bekommen? Oder dass Charlie ein Sodomit ist? Natürlich bin ich sicher. Sie könnten Sally und ein Dutzend von ihrer Sorte bis auf die Haut ausziehen, und er würde nicht mal hinschauen, aber Sammy hat er ständig an die Wäsche gewollt, stimmt’s, Sammy?«
»Ich habe ihm gesagt, er soll abhauen«, antwortete Sammy.
»Gut so, Samuel!«, sagte Sir George, legte den Pinsel ab und stürzte den Brandy hinunter. »Und jetzt fragen Sie sich, Captain, warum ich einen dreckigen Sodomiten in diesem Tempel der Kunst dulde? Ich will es Ihnen sagen. Weil Charlie gut war, o ja, er war gut.« Er schenkte sich noch einen Brandy ein, trank ihn zur Hälfte und wandte sich wieder seiner Leinwand zu. »Er konnte wunderbar zeichnen, Captain, wie der junge Raffael. Es war eine Freude, ihm zuzusehen. Er hatte Talent, was mehr ist, als ich von diesen beiden Metzgerburschen behaupten kann.« Er gab dem zweiten Lehrling einen Klaps. »Nein, Charlie war gut. Er konnte malen und zeichnen, daher konnte ich ihm nicht nur Draperien überlassen, sondern auch Fleisch. In einem oder zwei Jahren hätte er sich selbständig gemacht. Das Gemälde der Countess? Es steht da drüben, wenn Sie sehen möchten, wie gut er war.« Er deutete auf einige ungerahmte Gemälde, die an einem Tisch voller Töpfe, Leim, Messer, Mörser und Ölfläschchen lehnten. »Hole es her, Barney«, befahl Sir George einem seiner Lehrlinge. »Das hat alles er gemalt, Captain, es war noch nicht so weit gediehen, dass es mein Können erfordert hätte.«
»Er hätte es nicht allein fertig stellen können?«, fragte Sandman und trank von seinem Tee, einer exzellenten Mischung aus schwarzem und grünem Tee.
Sir George lachte. »Was hat er Ihnen erzählt, Captain? Nein, lassen Sie mich raten. Charlie hat Ihnen erzählt, ich könnte es nicht mehr? Er hat gesagt, ich sei ein Trinker, deshalb habe er Ihre Ladyschaft malen müssen. Hat er Ihnen das erzählt?«
»Ja«, gab Sandman zu.
Sir George war amüsiert. »Dieser miese kleine Lügner. Dafür hat er den Galgen verdient.«
»Warum haben Sie ihn die Countess denn malen lassen?«
»Denken Sie mal nach«, sagte Sir George. »Sally, Schultern zurück, Kopf hoch, Brust heraus, so ist es recht, Mädchen. Du bist Britannia, du beherrschst die Meere, du bist nicht irgendeine verdammte Hure aus Brighton, die schlaff auf einem Stein hängt.«
»Warum?«, hakte Sandman nach.
»Captain«, Sir George hielt für einen Pinselstrich inne, »weil wir die Dame reinlegen wollten. Wir haben sie in Kleidern gemalt, aber später sollte sie hier im Atelier nackt dargestellt werden. Der Earl wollte es so, und das hätte Charlie erledigt. Wenn ein Mann einen Maler bittet, seine Frau nackt zu malen, und das tun erstaunlich viele, können Sie sicher sein, dass das fertige Porträt nicht öffentlich gezeigt wird. Hängt ein Mann so ein Bild in sein Morgenzimmer, damit seine Freunde sich daran aufreizen? Nein. Zeigt er es in seinem Londoner Haus zur Erbauung der Gesellschaft? Nein. Er hängt es in sein Ankleidezimmer oder in sein Arbeitszimmer, wo niemand außer ihm es zu sehen bekommt. Und was nützt mir das? Wenn ich ein Bild male, möchte ich, dass ganz London es bestaunt, Captain. Ich möchte, dass sie auf dieser Treppe hier Schlange stehen und mich anbetteln, das gleiche für sie zu malen. Das heißt also, mit den Brüsten der Gesellschaft ist kein Geld zu verdienen. Ich male die Gewinn bringenden Bilder, Charlie war für die Boudoirporträts zuständig.« Er trat einen Schritt zurück und musterte den jungen Mann, der als Matrose Modell stand. »Du hältst das Ruder völlig falsch, Johnny. Vielleicht sollte ich dich nackt malen. Als Neptun.« Er drehte sich um und beäugte Sandman. »Wieso ist mir das nicht früher eingefallen? Sie gäben einen guten Neptun ab, Captain. Gute Figur haben Sie. Wären Sie so nett, sich nackt auszuziehen und sich Sally gegenüber zu stellen? Wir geben Ihnen ein Tritonshorn, das Sie aufrecht in der Hand halten. Irgendwo habe ich ein Tritonshorn, ich habe es damals für die Apotheose des Earl of Vincent gebraucht.«
»Was zahlen Sie?«, fragte Sandman.
Die Antwort überraschte Sir George. »Fünf Schillinge pro Tag.«
»Das bezahlen Sie mir nicht!«, beschwerte sich Sally.
»Weil du bloß eine Frau bist!«, fuhr Sir George sie an und musterte Sandman. »Also?«
»Nein«, antwortete Sandman, verstummte aber schlagartig.
Der Lehrling hatte die Gemälde nacheinander umgedreht, nun hielt Sandman ihn auf. »Lass mich dieses mal sehen.« Er deutete auf ein Ganzfigurstück.
Der Lehrling zog es aus dem Stapel und stellte es so auf einen Stuhl, dass es voll im Licht eines Dachfensters stand. Es zeigte eine junge Frau an einem Tisch, die den Kopf beinahe kampflustig schräg legte. Ihre rechte Hand lag auf einem Stapel Bücher, während die Linke ein Stundenglas hielt. Ihr rotes Haar war hoch gesteckt und ließ einen langen, schlanken Hals mit einer Saphirkette erkennen. Sie trug ein silbern-blaues Kleid mit weißen Spitzen an Kragen und Manschetten. Ihre Augen schauten kühn aus dem Gemälde, was den Eindruck des Streitlustigen noch verstärkte, aber vom Anflug eines Lächelns gemildert wurde.
»Das ist eine sehr gescheite junge Dame«, sagte Sir George ehrfürchtig. »Sei vorsichtig damit, Barney, es geht heute Nachmittag zum Firnissen. Gefällt es Ihnen, Captain?«
»Es ist …« Sandman stockte und suchte nach einem Wort, das Sir George schmeicheln würde. »Es ist wunderbar«, sagte er schließlich lahm.
»Das ist es wahrhaftig«, sagte Sir George begeistert und trat von Nelsons Apotheose fort, um die junge Frau zu bewundern. Ihr rotes Haar war aus der hohen, breiten Stirn gekämmt, die Nase war lang und gerade, der Mund breit und voll. Sie war in einem luxuriösen Wohnzimmer dargestellt vor einer Wand voller Ahnenporträts, die den Anschein erweckten, als käme sie aus einer sehr alten Familie, obwohl ihr Vater in Wahrheit der Sohn eines Apothekers und ihre Mutter eine Pfarrerstochter war, die nach allgemeiner Auffassung unter Stand geheiratet hatte. »Miss Eleanor Forrest«, sagte Sir George. »Ihre Nase ist zu lang, ihr Kinn zu spitz, ihre Augen stehen zu weit auseinander, um im herkömmlichen Sinne als schön zu gelten, ihr Haar ist bedauerlich rot, und ihr Mund ist zu üppig, aber die Wirkung ist außergewöhnlich, nicht wahr?«
»Ja«, bestätigte Sandman inbrünstig.
»Doch von allen Eigenschaften der jungen Dame bewundere ich am meisten ihre Intelligenz.« Sir George hatte seine spöttische Art nun fallen lassen und sprach mit echter Wärme. »Ich fürchte, sie ist in der Heirat verschwendet.«
»Tatsächlich?« Sandman rang um einen Ton, der seine Gefühle nicht verriet.
»Nach allem, was ich zuletzt gehört habe, sprach man von ihr als der zukünftigen Lady Eagleton.« Sir George wandte sich wieder Nelson zu. »Das Porträt soll, glaube ich, ein Geschenk für ihn sein, aber Miss Eleanor ist zu klug, um mit einem Narren wie Eagleton verheiratet zu werden. Die reinste Verschwendung.«
»Eagleton?« Sandman hatte das Gefühl, eine kalte Hand habe nach seinem Herzen gegriffen. War das die Nachricht, die Lord Alexander ihm von Eleanor hatte ausrichten sollen? Dass Eleanor sich mit Lord Eagleton verlobt hatte?
»Lord Eagleton, Erbe des Earl of Bridport und ein Langweiler. Ein Langweiler, Captain, ein Langweiler, und ich verabscheue Langweiler. Soll Sally Hood tatsächlich eine Lady werden? Gütiger Himmel, mit England geht’s bergab. Brust raus, Schätzchen, noch bist du nicht adelig und genau dafür zahlt die Admiralität. Barney, hole das Bild der Countess.«
Der Lehrling suchte eifrig die Gemälde durch. Ein böiger Wind ließ die Dachbalken knarren. Sammy leerte zwei der Eimer, in die der Regen tropfte, indem er sie zum rückwärtigen Fenster hinausschüttete und unten erboste Proteste auslöste. Sandman schaute aus dem vorderen Fenster, an der Markise des Juweliers Gray vorbei auf die Sackville Street. Sollte Eleanor wirklich bald heiraten? Er hatte sie seit mehr als sechs Monaten nicht mehr gesehen, es war also durchaus möglich. Ihre Mutter hatte es jedenfalls eilig, Eleanor vor den Traualtar zu bringen, vorzugsweise mit einem Adeligen, da Eleanor inzwischen fünfundzwanzig Jahre alt war und bald als sitzen gebliebene alter Jungfer gelten würde. Verdammt, vergiss sie, dachte Sandman. »Das ist es, Sir«, unterbrach Barney, der Lehrling, seine Grübeleien. Er stellte das unfertige Gemälde vor Eleanors Bild. »Die Countess of Avebury, Sir.«
Noch eine Schönheit, dachte Sandman. Das Gemälde war kaum begonnen, aber dennoch von seltsamer Wirkung. Auf die grundierte Leinwand war mit Kohle eine liegende Frau auf einem Bett gezeichnet, das von einem spitz zulaufenden Baldachin wie ein Zelt überragt wurde. Corday hatte an einigen Stellen Proben der Tapete, des Baldachins, der Bettdecke, des Teppichs gemalt sowie das Gesicht der Frau. Das Haar war leicht angedeutet, was es wild erscheinen ließ, als liege die Countess nicht in einem Londoner Schlafzimmer sondern im Wind auf dem Lande, und obwohl der Rest des Gemäldes kaum Farben aufwies, wirkte es atemberaubend lebendig.
»Ja, malen konnte er, unser Charlie, malen konnte er.« Sir George hatte sich die Hände an einem Lappen abgewischt und war herübergekommen, um sich das Gemälde anzusehen. Seine Stimme klang respektvoll, und seine Augen verrieten eine Mischung aus Bewunderung und Neid. »Er ist ein schlauer kleiner Teufel, nicht wahr?«
»Ist die Ähnlichkeit gut?«
»O ja«, nickte Sir George, »wahrhaftig. Sie war eine Schönheit, Captain, eine Frau, die Männern den Kopf verdrehen konnte, aber das war auch schon alles. Sie kam aus der Gosse, Captain. Sie war das gleiche wie unsere Sally. Tänzerin.«
»Ich bin Schauspielerin«, wehrte Sally sich vehement.
»Schauspielerin, Tänzerin, Hure, das ist doch alles das Gleiche«, knurrte Sir George. »Und Avebury war ein Narr. Er hätte sie sich als Mätresse halten, aber niemals heiraten sollen.«
»Der Tee ist kalt«, schimpfte Sally. Sie hatte das Podest verlassen und ihren Helm abgelegt.
»Geh Mittag essen, Kind«, sagte Sir George großzügig, »aber um zwei Uhr bist du wieder hier. Sind Sie fertig, Captain?«
Sandman nickte. Er starrte auf das Gemälde der Countess. Ihr Kleid war nur mit ganz leichten Strichen angedeutet, vermutlich weil es später fortgelassen werden sollte, aber ihr zugleich auffallendes und reizvolles Gesicht war fast fertig. »Sagten Sie, der Earl of Avebury habe das Porträt in Auftrag gegeben?«, fragte er.
»Das sagte ich, und das entspricht den Tatsachen«, bestätigte Sir George.
»Ich habe aber gehört, dass er und seine Frau sich getrennt hatten«, sagte Sandman.
»Das stimmt, soviel ich weiß«, sagte Sir George munter und lachte boshaft. »Hörner hat sie ihm bestimmt aufgesetzt. Ihre Ladyschaft hatte einen gewissen Ruf, Captain, und der bezog sich nicht darauf, sich um die Armen und Kranken zu kümmern.« Er zog einen altmodischen Rock mit weiten Stulpen, breitem Kragen und vergoldeten Knöpfen über. »Sammy«, rief er zur Treppe hinunter. »Ich esse die Wildpastete hier oben! Und etwas von dem Salat mit dem kalten Braten, wenn er noch nicht schimmelig ist. Du kannst auch noch eine Flasche von dem Claret öffnen.« Er schlenderte zum Fenster und schimpfte über den Regen, der gegen den Rauch aus unzähligen Schornsteinen ankämpfte.
»Warum sollte ein Mann ein Vermögen für ein Porträt seiner Frau ausgeben, von der er getrennt lebt?«, fragte Sandman.
»Die Welt ist selbst mir ein Rätsel«, sagte Sir George finster. »Woher zum Teufel soll ich das wissen?« Er wandte sich vom Fenster ab. »Da müssten Sie schon Seine gehörnte Lordschaft fragen. Ich glaube, er lebt in der Nähe von Marlborough, ist allerdings als Einsiedler bekannt, eine Reise dorthin wäre also vermutlich vergebens. Andererseits ist es vielleicht doch kein Rätsel. Vielleicht wollte er sich an ihr rächen? Sie nackt an seine Wand zu hängen wäre ja wohl eine Art Rache, oder?«
»Wäre es das?«
Sir George kicherte. »Niemand legt so großen Wert auf seine Stellung wie eine geadelte Hure, Captain, warum sollte man das Flittchen also nicht daran erinnern, was ihr den Titel eingebracht hat? Ohne ihre guten Titten und langen Beine würde sie heute noch zehn Schillinge pro Nacht verlangen.
Aber hat Charlie, der kleine Sodomit, sie getötet? Ich bezweifle es, Captain, ich bezweifle es sehr, aber es kümmert mich nicht weiter. Der kleine Charlie wurde allmählich allzu übermütig, ich werde also nicht um ihn trauern, wenn ich ihn am Galgen baumeln sehe. Ach!« Er rieb sich die Hände, als sein Diener mit einem schweren Tablett die Treppe heraufkam. »Mittagessen! Ich wünsche einen guten Tag, Captain, ich hoffe, ich konnte Ihnen behilflich sein.«
Sandman war sich nicht sicher, ob Sir George ihm hatte helfen können, es sei denn, man schätzte es als nützlich ein, dass er seine Verwirrung nur noch verstärkt hatte. In jedem Fall war das Gespräch für Sir George beendet und Sandman entlassen.
Also ging er. Inzwischen regnete es noch stärker.
»Das fette Schwein gibt uns nie Mittagessen«, beschwerte sich Sally Hood. Sie saß Sandman gegenüber in einer Schänke am Piccadilly, wo sie sich, von Sir George Phillips’ Mahlzeit inspiriert, gemeinsam eine Schüssel Salat mit gekochtem Fleisch, Sardellen, hart gekochten Eiern und Zwiebeln teilten. »Er frisst sich voll, und wir sollen verhungern.« Sie brach sich ein Stück Brot ab, schüttete noch etwas Öl in die Schüssel und lächelte Sandman schüchtern an. »Es war mir so peinlich, als Sie reingekommen sind.«
»Es muss Ihnen nicht peinlich sein«, sagte Sandman. Als er Sir Georges Atelier verließ, hatte er Sally eingeladen, mit ihm essen zu gehen. Gemeinsam waren sie durch den Regen ins Three Ships gelaufen, wo er von dem Vorschuss des Innenministeriums den Salat und einen großen Krug Ale bestellt hatte.
Sally streute Salz in die Schüssel und rührte den Salat kräftig um. »Sie erzählen es doch keinem?«, fragte sie sehr ernst.
»Natürlich nicht.«
»Ich weiß, dass es keine Schauspielerei ist, und ich mag es auch nicht, dass dieser fette Kerl mich den ganzen Tag anstarrt, aber schließlich ist es Zaster, oder?«
»Zaster?«
»Geld.«
»Es ist Zaster«, bestätigte Sandman.
»Ich hätte nichts von Ihrem Freund erzählen sollen«, sagte Sally. »Ich bin mir so dumm vorgekommen.«
»Sie meinen Lord Alexander?«
»Ich bin dumm, was?« Sie grinste ihn an.
»Natürlich nicht.«
»Doch«, wandte sie vehement ein, »aber ich will so was nicht ewig machen. Ich bin jetzt zweiundzwanzig und muss bald etwas finden, oder? Und gegen einen echten Lord hätte ich nichts einzuwenden.«
»Sie möchten heiraten?«
Sie nickte, zuckte die Achseln und spießte ein halbes Ei auf ihre Gabel. »Ich weiß nicht«, gab sie zu. »Ich meine, wenn das Leben schön ist, ist es sehr schön. Vor zwei Jahren hat es mir nie an Arbeit gefehlt. Ich war die Dienerin einer Hexe in einem Theaterstück über einen schottischen König.« Sie überlegte angestrengt, wie er geheißen hatte, schüttelte dann aber den Kopf. »Ein Mistkerl war das, und dann war ich Tänzerin in einem Historienspiel über einen schwarzen König, der in Indien umgekommen ist, der war auch ein Mistkerl, aber in den letzten zwei, drei Monaten? Nichts! Nicht einmal in den Vauxhall Gardens gibt es Arbeit!«
»Was haben Sie da gemacht?«
Sally schloss die Augen, als müsse sie nachdenken. »Tabbel, Tabbler?«
»Tableaux vivants? Lebende Bilder?«
»Genau! Letzten Sommer war ich drei Monate lang eine Göttin. Ich saß auf einem Baum, spielte Harfe, und der Zaster war nicht schlecht. Dann bekam ich eine Stelle im Astley’s bei den tanzenden Pferden, das hat mich über den Winter gebracht, aber jetzt gibt es gar nichts, nicht mal auf dem Strand!« Sie meinte die neueren Theater, die mehr Musik und Tanz boten als die älteren Bühnen in der Drury Lane und am Covent Garden. »Aber demnächst trete ich in einer Privatvorstellung auf.« Sie schnaubte verächtlich über diese Aussicht.
»Privat?«, fragte Sandman.
»Ein reicher Knopf will, dass seine Freundin Schauspielerin wird, verstehen Sie? Also mietet er das Theater außerhalb der Saison und bezahlt uns fürs Singen und Tanzen, das Publikum fürs Klatschen und die Schreiberlinge dafür, dass sie sie in der Zeitung als neue Vestris feiern. Möchten Sie kommen? Es ist am Donnerstagabend in Covent Garden, aber es ist nur für einen Abend, reicht also nicht mal für die Miete.«
»Wenn ich kann, komme ich gern«, versprach Sandman.
»Was ich brauche, ist eine feste Anstellung am Theater«, sagte Sally. »Die könnte ich auch bekommen, wenn ich bereit wäre, eine Dirne zu werden. Und dieses fette Schwein«, mit einer Kopfbewegung deutete sie an, dass sie Sir George Phillips meinte, »hält mich für eine Dirne, aber das bin ich nicht.«
»Das habe ich auch nie angenommen.«
»Dann sind Sie aber der Einzige.« Sie grinste ihn an. »Na ja, Sie und mein Bruder. Jack würde jeden umbringen, der behauptete, ich sei eine Dirne.«
»Das spricht für Jack. Ich mag Ihren Bruder«, sagte Sandman.
»Jeder mag Jack.«
»Eigentlich kenne ich ihn kaum«, sagte Sandman, »aber er macht einen netten Eindruck.« Die wenigen Male, als Sandman Sallys Bruder begegnet war, hatte er auf ihn selbstbewusst und ungezwungen gewirkt. Er war beliebt, trat im Schankraum des Wheatsheaf als großzügiger Gastgeber auf, sah auffallend gut aus und lockte einen Schwarm junger Frauen an. Ihn umwitterte etwas Geheimnisvolles, da niemand im Gasthaus so recht sagen wollte, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente. Aber offensichtlich hatte er ordentliche Einkünfte, denn er und Sally hatten im ersten Stock des Wheatsheaf zwei große Zimmer gemietet. »Was macht Ihr Bruder eigentlich?«, fragte Sandman nun, wofür er von Sally einen überaus merkwürdigen Blick erntete. »Nein, wirklich, was macht er?«, wiederholte Sandman. »Ich frage nur, weil er zu ungewöhnlichen Tageszeiten arbeitet.«
»Sie wissen nicht, wer er ist?«, fragte Sally.
»Sollte ich?«
»Er ist Robin Hood«, sagte Sally und musste über Sandmans Miene lachen. »Das ist mein Jack, Captain. Robin Hood.«
»Mein Gott«, sagte Sandman. Robin Hood war der Spitzname eines Straßenräubers, der in ganz London gesucht wurde. Als Belohnung für seinen Kopf waren weit über hundert Pfund ausgesetzt, und die Summe stieg stetig.
Sally zuckte die Achseln. »Er ist wirklich verrückt. Ständig sage ich ihm, dass er am Ende noch nach Jemmy Bottings Pfeife tanzen wird, aber er will nicht hören. Aber er kümmert sich um mich. Na ja, bis zu einem gewissem Punkt jedenfalls, bei Jack heißt es immer, feiern oder verhungern, und wenn er flüssig ist, gibt er das Geld für seine Weiber aus. Aber zu mir ist er gut, wirklich, und er würde nie zulassen, dass jemand mich anfasst.« Sie runzelte die Stirn. »Sie sagen es doch niemandem?«
»Natürlich nicht!«
»Ich meine, im Wheatsheaf weiß jeder, wer er ist, aber niemand würde ihn verraten.«
»Ich ebenfalls nicht«, versicherte Sandman ihr.
»Natürlich nicht«, sagte Sally grinsend. »Und was ist mit Ihnen? Was wünschen Sie sich vom Leben?«
Überrascht über die Frage dachte Sandman nach. »Ich schätze, ich wünsche mir mein Leben von früher zurück.«
»Krieg? Soldat sein?« Sie klang missbilligend.
»Nein. Nur den Luxus, mir keine Sorgen machen zu müssen, woher der nächste Schilling kommt.«
Sally lachte. »Das wollen wir alle.« Sie schüttete noch mehr Öl und Essig in die Schüssel und rührte um. »Sie hatten also Geld, ja?«
»Mein Vater. Er war ein sehr reicher Mann, aber dann machte er einige schlechte Investitionen, lieh sich zu viel Geld, spielte und verlor. Er fälschte ein paar Wechsel und legte sie bei der Bank vor …«
»Wechsel?« Sally verstand nicht, was er meinte.
»Anweisungen, Geld auszuzahlen«, erklärte Sandman. »Es war natürlich dumm von ihm, aber vermutlich war er verzweifelt. Er wollte etwas Geld auftreiben und nach Frankreich fliehen, aber die Fälschungen wurden entdeckt, und er stand kurz vor der Verhaftung. Sie hätten ihn aufgehängt, aber bevor die Polizei kam, schoss er sich eine Kugel in den Kopf.«
»Gooott«, sagte Sally und starrte ihn an.
»Meine Mutter hat also alles verloren. Sie lebt jetzt mit meiner jüngeren Schwester in Winchester, und ich versuche sie am Leben zu erhalten, zahle die Miete, kümmere mich um die Rechnungen und Ähnliches.« Er zuckte die Achseln.
»Warum arbeiten sie denn nicht?«, fragte Sally aufsässig.
»An diesen Gedanken sind sie nicht gewöhnt«, antwortete Sandman. Sally wiederholte diesen Satz stumm, was Sandman zum Lachen brachte. »Das alles ist vor über einem Jahr passiert, damals hatte ich die Armee bereits verlassen«, erzählte er. »Ich stand kurz vor meiner Heirat. Wir hatten schon ein Haus in Oxfordshire ausgesucht, aber nachdem ich mittellos wurde, konnte sie mich natürlich nicht mehr heiraten.«
»Wieso denn nicht?«, fragte Sally.
»Weil ihre Mutter nicht zulässt, dass sie einen armen Schlucker heiratet.«
»War sie denn auch arm?«, »Im Gegenteil«, sagte Sandman, »ihr Vater hatte versprochen, ihr sechstausend im Jahr auszusetzen. Mein Vater hatte mir mehr versprochen, aber nachdem er bankrott war …« Sandman zuckte die Achseln, ohne den Satz zu beenden.
Sally starrte ihn aus großen Augen an. »Sechstausend?«, fragte sie. »Pfund?« Das letzte Wort hauchte sie nur, da sie derartigen Reichtum gar nicht fassen konnte.
»Pfund«, bestätigte Sandman.
»Verdammt!« Für eine Weile verschlug es ihr den Atem, bis ihr Hunger sich wieder meldete und sie weiter aß. »Erzählen Sie weiter.«
»Ich blieb also einige Zeit bei meiner Mutter und meiner Schwester, aber auf Dauer ging es nicht. Da es in Winchester keine Arbeit für mich gab, kam ich vor einem Monat nach London.«
Das fand Sally lustig. »Sie haben wohl noch nie in Ihrem Leben richtig gearbeitet, was?«
»Ich war ein guter Soldat«, erklärte Sandman schlicht.
»Ich schätze, das ist auch Arbeit«, gestand Sally ihm widerstrebend zu, »gewissermaßen.« Sie jagte in der Schüssel hinter einem Hühnerbein her. »Aber was wollen Sie jetzt machen?«
Sandman schaute an die verräucherte Zimmerdecke. »Einfach arbeiten«, sagte er unbestimmt. »Ich habe nichts gelernt. Ich bin kein Anwalt, kein Priester. Ich habe zwei Trimester am Winchester College studiert«, bei der Erinnerung schauderte ihn, »ich dachte, ich könnte es in London bei einem Kaufmann versuchen. Wissen Sie, sie stellen Leute als Aufseher für ihre Ländereien an. Tabak- und Zuckerplantagen.«
»In Übersee?«
»Ja«, sagte Sandman leise. Man hatte ihm tatsächlich eine solche Stelle auf einer Zuckerrohrplantage auf Barbados angeboten, da er aber wusste, dass er dort Sklaven beaufsichtigen müsste, hatte er abgelehnt. Seine Mutter hatte ihn deshalb als willensschwach beschimpft, aber Sandman war mit seiner Entscheidung zufrieden.
»Sie brauchen aber doch gar nicht nach Übersee zu gehen, wenn Sie für das Innenministerium arbeiten«, wandte Sally ein.
»Ich fürchte, diese Anstellung ist nur sehr vorübergehend.«
»Leute in letzter Minute vor dem Galgen zu bewahren? Das ist doch nicht vorübergehend! Wenn Sie mich fragen, ist das eine Dauerbeschäftigung.« Sie knabberte das Hähnchenfleisch vom Knochen. »Glauben Sie, dass Sie Charlie aus dem Bau holen können?«
»Kennen Sie ihn?«
»Habe ihn einmal gesehen«, sagte sie mit vollem Mund, »der fette Sir George hat Recht. Er ist andersrum.«
»Andersrum? Ach, ich verstehe. Und glauben Sie, dass er unschuldig ist?«
»Na klar ist er unschuldig«, erklärte sie mit Nachdruck.
»Er wurde vom Gericht für schuldig befunden«, wies Sandman sie behutsam zurecht.
»Etwa in Old Bailey? Wer war denn der Richter?«
»Sir John Silvester.«
»Zum Teufel! Der schwarze Jack?« Sally wurde wild. »Er ist ein Schwein. Ich sage Ihnen, Captain, wegen dem schwarzen Jack liegen Dutzende unschuldige Seelen im Grab. Und Charlie ist unschuldig. Er muss unschuldig sein. Er ist doch vom anderen Ufer. Er würde gar nicht wissen, was er mit einer Frau anfangen sollte, von Vergewaltigung gar nicht erst zu reden! Wer immer sie umgebracht hat, hat sie ordentlich verdroschen, und für so was hat Charlie gar nicht genug Fleisch auf den Knochen. Sie haben ihn doch gesehen, oder? Sieht er aus, als ob er ihr die Kehle durchschneiden könnte? Was steht denn da?« Sie deutete auf die billige Flugschrift, die Sandman aus der Tasche gezogen und auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Oben links befand sich ein schlecht gedrucktes Bild, das die bevorstehende Hinrichtung Charles Cordays darstellen sollte und einen Mann in Kapuze auf einem Karren unter dem Galgen zeigte. »Dieses Bild nehmen sie immer«, sagte Sally. »Ich wünschte, sie würden sich mal ein Neues suchen. Der Karren wird ja gar nicht mehr benutzt. Hau ab, Mann!«, fuhr sie einen gut gekleideten Herrn an, der zu ihr getreten war, sich verbeugt hatte und etwas sagen wollte. Erschrocken wich er zurück. »Ich weiß, was er will«, erklärte Sally.
Ihr Ausbruch hatte Sandman zum Lachen gebracht, aber nun betrachtete er wieder die Flugschrift. »Nach dem, was hier steht, war die Countess nackt, als man sie fand. Nackt und blutüberströmt.«
»Sie wurde doch erstochen, oder?«
»Hier steht, dass Cordays Messer in ihrer Kehle steckte.«
»Damit hätte er sie gar nicht erstechen können«, tat Sally diese Darstellung ab, »das ist nicht scharf. Es ist ein, ich weiß nicht, wie man das nennt. Es ist, um die Farben zu mischen, nicht zum Schnibbeln.«
»Schnibbeln?«
»Schneiden.«
»Es ist also ein Palettenmesser«, sagte Sandman. »Aber hier steht, sie wurde zwölf Mal in die …«Er stockte.
»In die Titten gestochen«, sagte Sally. »Das schreiben sie immer, wenn es um eine Frau geht. Die Stiche treffen nie woanders. Immer in die Brust.« Sie schüttelte den Kopf. »Für mich hört sich das nicht nach einer Schwuchtel an. Warum sollte er sie ausziehen, geschweige denn vergewaltigen? Möchten Sie noch Salat?« Sie schob ihm die Schüssel hin.
»Nein, bitte, Sie können ihn aufessen.«
»Ich könnte ein ganzes Pferd verschlingen.« Sie schob ihren Teller beiseite und stellte einfach die Schüssel vor sich hin. »Nein«, sagte sie nach kurzem Überlegen, »er hat es nicht getan, oder?« Stirnrunzelnd hielt sie inne. Sandman spürte, dass sie mit sich kämpfte, ob sie ihm etwas sagen sollte, aber er besaß genügend Verstand zu schweigen. Sie schaute zu ihm auf, als wolle sie abschätzen, ob sie ihn mochte oder nicht, und zuckte schließlich die Achseln. »Er hat Sie angelogen«, sagte sie leise.
»Corday?«
»Nein! Sir George! Er hat gelogen. Ich habe gehört, wie er Ihnen erzählt hat, dass der Earl das Bild haben wollte, aber das stimmt nicht.«
»Nicht?«
»Sie haben gestern darüber geredet«, erklärte Sally ernst. »Er und ein Freund, aber er glaubte, ich hörte nicht zu. Ich stehe da und hole mir einen Schnupfen, und er redet, als ob ich nichts anderes wäre als ein Stück Fleisch.« Sie schenkte sich Bier nach. »Es war nicht der Earl, der das Bild bestellt hat. Sir George hat es seinem Freund erzählt, wirklich, und dann hat er mich angeguckt und gesagt: ›Du hast nichts gehört, Sally Hood.‹ Das hat er wirklich gesagt.«
»Hat er gesagt, wer das Bild in Auftrag gegeben hat?«
Sally nickte. »Es war ein Club, der das Bild bestellt hat, aber wenn er wüsste, dass ich Ihnen das erzählt habe, würde er fuchsteufelswild, er hat nämlich eine Todesangst vor den Kerlen.«
»Ein Club hat es bestellt?«
»So ein Club für feine Herren. So was wie Boodles oder Whites; aber die sind es nicht, er hatte so einen komischen Namen. Sephamore Club? Nein, das stimmt nicht. Sema? Serra? Ich weiß es nicht. Es hatte was mit Engeln zu tun.«
»Engel?«
»Engel«, bestätigte Sally. »Sephamore? So was Ähnliches.«
»Seraphim?«
»Genau!« Sie war stark beeindruckt, dass Sandman den richtigen Namen gefunden hatte. »Seraphim Club.«
»Davon habe ich noch nie gehört.«
»Er soll ganz geheim sein«, sagte Sally. »Ich meine, richtig geheim! Es ist nicht weit von hier. Am St. James’ Square, sie müssen also Geld haben. Zu reich für meinen Geschmack.«
»Wissen Sie etwas darüber?«
»Nicht viel«, sagte sie. »Man hat mich mal gefragt, ob ich mit hingehe, aber das habe ich natürlich nicht gemacht, so eine bin ich nicht.«
»Aber warum sollte der Seraphim Club das Porträt der Countess haben wollen?«, fragte Sandman.
»Weiß der Himmel.«
»Ich werde sie danach fragen müssen.«
Sally schaute erschrocken drein. »Aber sagen Sie ihnen bloß nicht, dass Sie es von mir haben! Sir George bringt mich um! Und schließlich brauche ich doch die Arbeit.«
»Ich sage ihnen nichts von Ihnen«, versprach er ihr. »Außerdem glaube ich nicht, dass sie die Countess umgebracht haben.«
»Und wie wollen Sie herauskriegen, wer es war?«, fragte Sally.
Das war eine gute Frage, fand Sandman und gab ihr eine ehrliche Antwort. »Ich weiß es nicht. Als der Innenminister mich bat, den Fall zu untersuchen, dachte ich, ich brauchte nur nach Newgate zu gehen und ein paar Fragen zu stellen. Ähnlich wie ich es bei meinen Soldaten gemacht habe. Aber es ist ganz anders. Ich muss die Wahrheit herausfinden und weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. So etwas habe ich noch nie gemacht. Ich kenne auch niemanden, der Erfahrung damit hätte. Also werde ich wohl Fragen stellen müssen, oder? Ich spreche mit allen, frage sie, was mir gerade einfällt, und hoffe, dass ich die Zofe auftreibe.«
»Welche Zofe?«
Sandman erzählte ihr von Meg und von seinem Besuch in der Mount Street, wo man ihm gesagt hatte, dass alle Dienstboten fort seien. »Sie könnten im Landhaus des Earl sein oder sie wurden einfach entlassen«, sagte er.
»Fragen Sie die Dienstboten«, sagte Sally. »Fragen Sie alle anderen Dienstboten in der Straße oder den umliegenden Straßen. Einer von ihnen kennt sie bestimmt. Meine Güte, ist es schon so spät?« Eine Uhr in der Schänke hatte gerade zwei geschlagen. Sally nahm ihren Mantel, schnappte sich das letzte Stück Brot und lief los.
Sandman blieb sitzen und las noch einmal die Flugschrift durch. Sie sagte ihm sehr wenig, gab ihm aber Zeit nachzudenken.
Und er begann sich zu fragen, warum ein Geheimclub, ein sehr geheimer Club mit engelhaftem Namen, eine Dame der Gesellschaft nackt malen lassen wollte.
Es war Zeit, es herauszufinden, beschloss er. Es war Zeit, die Seraphim zu besuchen.