»Bunny« Barnwell galt als der beste Werfer im Kricketclub Marylbone, obwohl er eine eigenwillig federnde Anlauftechnik hatte, die mit einem Doppelhüpfer endete, bevor er den Ball von der Seite her warf. Dieser Doppelhüpfer hatte ihm seinen Spitznamen eingetragen, und nun warf er Rider Sandman den Ball auf einem der mit Netzen geschützten Übungsplätze zu, die am unteren Ende des neuen Thomas-Lord-Kricketgeländes in dem hübschen Londoner Vorort St. John’s Wood lagen.
Lord Alexander Pleydell stand neben dem Netz und beobachtete besorgt jeden Ball. »Wirft Bunny vom Gras weg?«, fragte er.
»Überhaupt nicht.«
»Er soll dem Ball einen Drall geben, damit er genau auf deine Beine fliegt. Scharf nach innen. Crossley sagt, das ist äußerst verwirrend.«
»Crossley lässt sich leicht verwirren«, sagte Sandman und schlug den Ball so fest ins Netz, dass Lord Alexander erschrocken zurücksprang.
Barnwell warf Sandman abwechselnd mit Hughes, Lord Alexanders Diener, den Ball zu. Hughes hielt sich für einen brauchbaren Unterarmwerfer, aber allmählich ärgerte er sich, weil er keinen einzigen Ball an Sandmans Schläger vorbeizubringen vermochte. Daher gab er sich allzu viel Mühe und warf einen Ball, der überhaupt keinen Drall hatte. Sandman schlug ihn mit Schwung aus dem Netz. Der Ball schoss den Hang hinauf, wo drei Männer das Gras des Spielfeldes mit der Sense schnitten. Sandman begriff nicht, wie man in einem derart abschüssigen Gelände ein Kricketfeld anlegen konnte, aber Alexander hegte eine merkwürdige Vorliebe für Thomas Lords neuen Platz, obwohl er von einem Ende zum anderen ein Gefälle von mindestens sechs bis sieben Fuß aufwies.
Barnwell versuchte einen Unterarmwurf und musste zusehen, wie sein Ball den gleichen Weg den Hang hinauf nahm wie der von Hughes. Einer der Balljungen warf einen schnellen Ball zwischen Sandmans Beine und wurde mit einem Schlag belohnt, der ihm beinahe den Kopf abriss. »Du hast schlechte Laune«, stellte Lord Alexander fest.
»Eigentlich nicht. Es ist feucht, der Ball ist langsam«, log Sandman. In Wahrheit hatte er schlechte Laune, weil er sich fragte, wie er sein Versprechen gegenüber Eleanor einhalten sollte und warum er überhaupt vorgeschlagen hatte, mit ihr durchzubrennen, falls ihr Vater ihnen seinen Segen verweigerte. Nein, die Antwort auf die zweite Frage war ihm durchaus klar. Er hatte es ihr versprochen, weil er sich, wie immer, von Eleanor, ihrem Anblick, ihrer Nähe und seinem eigenen Verlangen nach ihr hatte überwältigen lassen, aber konnte er sein Wort einlösen? Er schlug den Ball mit solcher Wucht ins Netz, dass es gegen den Zaun prallte, die Zaunpfähle wackelten und ein Dutzend Spatzen auseinander flatterten. Wie konnte er mit ihr durchbrennen, fragte Sandman sich. Wie konnte er eine Frau heiraten, wenn er sie nicht ernähren konnte? Und wo blieb die Ehre bei einer schottischen Schlupflochheirat, die weder Eheerlaubnis noch Aufgebot erforderte? Vor Wut holte er mit dem Schläger weit aus und schlug den Ball fest in Richtung der Ställe, wo die Clubmitglieder während der Spiele ihre Pferde unterstellten.
»Ungewöhnlich schlechte Laune«, stellte Lord Alexander nachdenklich fest, zog einen Stift aus dem wirren Haar hinter seinem Ohr und ein stark zerknittertes Stück Papier aus einer Jackentasche. »Ich dachte, Hammond könnte den Dreistab hüten, einverstanden?«
»Geht es um deine Mannschaft, die gegen Hampshire spielen soll?«
»Nein, Rider, es geht um meinen Vorschlag für einen neuen Dekan und die Chorherren der St. Paul’s Cathedral. Was denkst du denn?«
»Hammond wäre eine sehr gute Wahl«, sagte Sandman, verlagerte das Gewicht auf das hintere Bein und stoppte einen hoch aufsteigenden Ball. »Guter Wurf«, rief er Hughes zu.
»Edward Budd sagte, er wird für uns spielen«, sagte Lord Alexander.
»Wunderbar!«, rief Sandman ehrlich begeistert, denn Edward Budd war der einzige Schlagmann, dessen Überlegenheit er anerkannte und den er wirklich schätzte.
»Simmons ist ebenfalls frei.«
»Dann spiele ich nicht mit«, sagte Sandman. Er nahm den letzten Ball mit der Spitze des Schlägers an und schlug ihn zurück zu Hughes.
»Simmons ist ein hervorragender Schlagmann«, beharrte Lord Alexander.
»Ja«, bestätigte Sandman, »aber er hat vor zwei Jahren Geld genommen, um ein Spiel in Sussex zu verlieren.«
»Das wird nicht wieder vorkommen.«
»Jedenfalls nicht, wenn ich in der Mannschaft spiele. Entscheide dich, Alexander: er oder ich.«
Lord Alexander seufzte. »Er ist wirklich sehr gut!«
»Dann nimm ihn«, sagte Sandman und ging in Position.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Lord Alexander in bester Lordmanier.
Der nächste Ball schoss auf Sandmans Knöchel zu, er retournierte gekonnt. Mit seinem Schlag schickte er den Ball bis zu der Schänke am niedrigeren Zaun, wo einige Männer die Übungen beobachteten. Waren unter ihnen Räuber, die Lord Robin Holloway angeheuert hatte? Sandman warf einen Blick auf seinen Rock, der zusammengefaltet auf dem feuchten Gras lag, und fühlte sich sicherer durch den Anblick der Pistole, deren Griff aus der Jacke ragte.
»Vielleicht kannst du mit Simmons reden«, schlug Lord Alexander vor. »Wenn er mitspielt, hätte unsere Mannschaft enorme Schlagkraft, Rider, ganz enorme Schlagkraft. Du, Budd und er? Damit setzen wir neue Rekorde!«
»Ich rede mit ihm«, versprach Sandman. »Aber ich spiele nicht mit ihm.«
»Mein Gott, Mann!«
Sandman verließ seinen Platz an der Linie. »Alexander. Ich liebe Kricket, aber wenn es durch Bestechung entstellt wird, bleibt kein Sportsgeist mehr übrig. Die einzige Möglichkeit, gegen Bestechung anzugehen, ist, sie hart zu bestrafen.« Er war wütend. »Kein Wunder, dass das Spiel stirbt. Dieser Club hier hatte früher ein anständiges Spielfeld, jetzt spielen sie auf einem Hang. Das Spiel wird seinen Niedergang erleben, Alexander, weil das Geld es verdirbt.«
»Du hast gut reden«, sagte Lord Alexander gekränkt, »aber Simmons hat eine Frau und zwei Kinder. Verstehst du nicht, dass er in Versuchung geraten ist?«
»Ich glaube schon, doch«, sagte Sandman. »Mir hat man gestern zwanzigtausend Guineen angeboten.« Er ging wieder an seinen Platz und nickte dem nächsten Werfer zu.
»Zwanzigtausend?«, fragte Lord Alexander leise. »Damit du ein Kricketspiel verlierst?«
»Damit ich einen unschuldigen’ Mann hinrichten lasse«, sagte Sandman und machte einen zurückhaltenden Abwehrschlag. »Es ist viel zu einfach«, beklagte er sich.
»Was?«
»Diese intellektuellen Würfe.« Der seitliche Wurf, bei dem der Ball mit ausgestrecktem Arm in Schulterhöhe geworfen wurde, war merkwürdigerweise unter der Bezeichnung intellektueller Stil bekannt. »Er hat keine Zielgenauigkeit«, klagte Sandman.
»Aber er hat Kraft«, erklärte Lord Alexander vehement, »wesentlich mehr Kraft als Bälle, die von unten geworfen werden.«
»Wir sollten von oben werfen.«
»Niemals! Niemals! Das ruiniert das Spiel! Eine vollkommen lächerlicher Vorschlag, einfach beleidigend!« Lord Alexander zog an seiner Pfeife. »Der Club weiß nicht mal, ob er Seitwürfe erlauben soll, geschweige denn Würfe von oben. Nein, wenn wir das Gleichgewicht zwischen Schlagmann und Werfer wiederherstellen wollen, liegt die Antwort auf der Hand. Vier Torstäbe. Meinst du das ernst?«
»Ich bin einfach überzeugt, dass Würfe von oben Kraft und Genauigkeit vereinen«, erklärte Sandman, »sie könnten sogar eine Herausforderung für den Schlagmann darstellen.«
»Ernsthaft, ich meine die zwanzigtausend Pfund, die man dir angeboten hat.«
»Guineen, Alexander, Guineen. Die Männer, die mir das Angebot gemacht haben, halten sich für Gentlemen.« Sandman trat zurück und schlug den Ball ganz dicht neben Lord Alexander fest ins Netz.
»Warum haben sie dir so viel geboten?«
»Es ist billiger, als am Galgen zu baumeln, oder? Das einzige Problem ist, dass ich nicht mit Gewissheit weiß, welches Mitglied des Seraphim Clubs der Mörder ist, aber ich hoffe, dass ich es heute Abend erfahre. Würdest du mir vielleicht deine Kutsche leihen?«
Lord Alexander schaute ihn verständnislos an. »Meine Kutsche?«
»Dieses Ding mit vier Rädern, Alexander, und den Pferden davor.« Sandman schickte einen weiteren Ball den Hang hinauf. »Es ist für eine gute Sache. Für die Errettung der Unschuldigen.«
»Ja, selbstverständlich«, sagte Lord Alexander mit bewundernswerter Begeisterung. »Es ist mir eine Ehre, dir zu helfen. Soll ich in deinem Gasthof warten?«
»Und Miss Hood Gesellschaft leisten?«, fragte Sandman. »Warum nicht?« Er lachte, als Alexander errötete, und wich vom Spielfeld zurück, als ein junger Mann von der Schänke auf den Übungsplatz zukam. Es lag etwas Zielstrebiges in seinem Gang, das Sandman schon zur Pistole greifen ließ, als er Lord Christopher Carne erkannte, den Erben des Earl of Avebury. »Dein Freund kommt«, sagte er zu Lord Alexander.
»Mein Freund? Ach, Kit!«
Lord Christopher winkte als Antwort auf Lord Alexanders begeisterten Gruß. Als er aber Sandman sah, wurde er bleich, blieb stehen und wirkte verärgert. Einen Herzschlag lang dachte Sandman, Lord Christopher wolle kehrtmachen, aber der junge Mann mit Brille kam direkt auf Sandman zu. »Sie haben mir gar nicht gesagt, dass Sie meinen Vater besucht haben«, sagte er vorwurfsvoll.
»Hätte ich Ihnen das sagen sollen?« Ein Ball flog heran, und Sandman wich aus, um ihn hinter sich ins Netz gehen zu lassen.
»Es wäre h-höflich gewesen«, beschwerte sich Lord Christopher.
»Wenn ich eine Lektion in Höflichkeit brauche, werde ich mich an Leute wenden, die mich höflich behandeln«, erwiderte Sandman scharf.
Lord Christopher war beleidigt, hatte aber nicht den Mut, von Sandman eine Entschuldigung für seine Unverschämtheit zu fordern. »Ich habe im Vertrauen mit Ihnen gesprochen«, protestierte er, »und hatte keine Ahnung, dass Sie meinem Vater etwas davon sagen würden.«
»Ich habe Ihrem Vater nichts gesagt«, antwortete Sandman nachsichtig. »Ich habe kein Wort von dem wiederholt, was Sie mir gesagt haben. Ich habe ihm nicht einmal erzählt, dass ich mit Ihnen gesprochen habe.«
»Er hat mir geschrieben, dass Sie bei ihm waren und ich nicht mehr mit Ihnen reden soll«, sagte Lord Christopher. »Es liegt also auf der Hand, dass Sie lügen! Sie haben ihm gesagt, dass Sie mit mir gesprochen haben.«
Der Brief musste mit derselben Postkutsche nach London gekommen sein, wie er selbst, dachte Sandman. »Das hat Ihr Vater sich wohl gedacht«, erklärte Sandman. »Sie sollten vorsichtig sein, wen Sie der Lüge bezichtigen, es sei denn, Sie wären sich völlig sicher, dass Sie besser schießen und fechten als der Mann, dem Sie diesen Vorwurf machen.« Er achtete nicht darauf, welche Wirkung seine Bemerkung hatte, sondern tänzelte mit zwei Schritten zum Schlagmal und drosch mit aller Kraft auf einen nahenden Ball ein. Er wusste, noch bevor der Schläger den Ball traf, dass es ein guter Schlag war. Der Ball schoss davon, und die drei Männer mit ihren Sensen auf dem Spielfeld starrten voller Ehrfurcht hinterher, als er zwischen ihnen hindurch flog, kurz vor der oberen Linie zum ersten Mal den Boden berührte und immer noch mit scheinbar gleicher Geschwindigkeit in den Büschen oben auf dem Hang verschwand. Er hatte die Kraft einer Kanonenkugel, dachte Sandman, und hörte den Ball gegen einen Zaun prallen und eine Kuh auf der benachbarten Weide aus Protest muhen.
»Gütiger Gott«, sagte Lord Alexander matt und starrte den Hang hinauf, »lieber, gütiger Gott.«
»Ich habe unbesonnen gesprochen«, sagte Lord Christopher zu seiner Entschuldigung, »aber ich verstehe einfach nicht, wieso Sie überhaupt nach Carne Manor fahren mussten.«
»Hast du diesen Schlag gesehen?«, fragte Lord Alexander.
»Wieso waren Sie auf Carne Manor?«, wiederholte Lord Christopher wütend.
»Ich habe Ihnen gesagt, wieso«, erklärte Sandman. »Um festzustellen, ob Dienstboten Ihrer Stiefmutter dort sind.«
»Natürlich sind sie nicht dort«, sagte Lord Christopher.
»Bei unserem letzten Gespräch hielten Sie es für möglich.«
»Weil ich nicht richtig darüber nachgedacht habe. Diese Dienstboten müssen genau gewusst haben, was meine Stiefmutter in London trieb, und mein Vater dürfte kaum wollen, dass sie diese Geschichten in Wiltshire herumtratschen.«
»Stimmt«, räumte Sandman ein. »Meine Reise war also vergebens.«
»Aber die gute Nachricht ist, dass Mister William Brown dir und mir erlaubt, am Montag zu kommen, Rider«, schaltete sich Lord Alexander ein. »Ist das nicht großartig?«
»Mister Brown?«, fragte Sandman.
»Der Gefängnisverwalter von Newgate. Ich hätte gedacht, ein Mann in deiner Position wüsste das.« Lord Alexander wandte sich an den verständnislosen Lord Christopher. »Kit, mir ist eingefallen, dass Rider als offizieller Ermittler des Innenministeriums sicher auch einer Hinrichtung beiwohnen sollte. Er muss schließlich genau wissen, welche grauenhafte Brutalität Menschen wie Corday erwartet. Also habe ich an den Gefängnisverwalter geschrieben, und er hat Rider und mich ganz artig zum Frühstück eingeladen. Scharfe Nierchen! Richtig scharf gewürzte Nierchen habe ich schon immer gern gemocht.«
Sandman kam vom Spielfeld. »Ich habe nicht vor, mir eine Hinrichtung anzusehen«, sagte er.
»Was du willst, spielt keine Rolle«, tat Lord Alexander seinen Einwand leichthin ab, »hier geht es um eine Pflicht.«
»Ich bin nicht verpflichtet, mir eine Hinrichtung anzusehen«, beharrte Sandman.
»Aber natürlich bist du das«, sagte Lord Alexander. »Ich gestehe, dass ich gespannt darauf bin. Ich billige den Galgen zwar nicht, entdecke aber dennoch eine gewisse Neugier in mir. Es wird sicher eine lehrreiche Erfahrung, Rider, wenn schon sonst nichts.«
»Lehrreicher Unfug!« Sandman ging wieder auf seinen Platz und nahm einen gut geworfenen Ball mit gestrecktem Schläger. »Ich gehe nicht hin, Alexander, das ist mein letztes Wort. Nein! Die Antwort lautet nein!«
»Ich würde gern mitgehen«, sagte Lord Christopher kleinlaut.
»Rider!«, wies Lord Alexander seinen Freund zurecht.
»Nein!«, wiederholte Sandman. »Den wahren Mörder bringe ich gern an den Galgen, aber den Zirkus in Newgate schaue ich mir nicht an.« Er winkte Hughes ab. »Ich habe lange genug geübt.« Er strich mit der Hand über den Schläger. »Hast du Leinöl, Alexander?«
»Den wahren Mörder?«, fragte Lord Christopher. »Wissen Sie, wer es war?«
»Ich hoffe, es heute Abend zu erfahren«, antwortete Sandman. »Wenn ich nach deiner Kutsche schicke, weißt du, dass ich meinen Zeugen gefunden habe, Alexander. Wenn nicht? Schade.«
»Zeuge?«, fragte Lord Christopher.
»Wenn Rider so verstockt ist, solltest du vielleicht am Montag mit mir zu den scharfen Nierchen des Gefängnisverwalters kommen«, schlug Lord Alexander Lord Christopher vor. Er hantierte mit der Zunderbüchse herum, um sich eine neue Pfeife anzuzünden. »Ich habe überlegt, du solltest wirklich dem Club hier beitreten, Rider. Wir brauchen Mitglieder.«
»Das kann ich mir denken. Wer will schon in einen Club, der auf der Nachbildung einer Alpenwiese spielt?«
»Der Platz ist völlig in Ordnung«, sagte Lord Alexander gereizt.
»Zeuge?«, fragte Lord Christopher noch einmal dazwischen.
»Ich verlasse mich darauf, dass du nach der Kutsche schickst!«, donnerte Lord Alexander. »Ich will, dass diesem verdammten Sidmouth eine Abfuhr erteilt wird. Sorge dafür, dass er das Gnadengesuch bewilligt, Rider. Ich warte im Wheatsheaf auf deine Nachricht.«
»Ich warte mit dir«, sagte Lord Christopher und erntete eine wütende Miene von Lord Alexander. Sandman, der den Zorn ebenfalls hatte aufflackern sehen, wusste, dass Alexander keinen Rivalen um Sallys Aufmerksamkeit haben wollte. Aber Lord Christopher fasste es wohl als Kränkung auf, denn er machte eine finstere Miene.
Lord Alexander musterte die drei Gärtner, die immer noch auf ihre Sensen gestützt dastanden und Sandmans Schlag diskutierten, mit dem er den Ball wie eine Kanonenkugel zwischen ihnen hindurch geschossen hatte. »Ich finde schon lange, dass sich ein Vermögen mit einer Erfindung machen ließe, die selbsttätig Gras mäht.«
»Das nennt man Schafe«, sagte Sandman, »gemeinhin auch Wollvogel genannt.«
»Ein Gerät, das keinen Dung hinterlässt«, erklärte Lord Alexander bissig und lächelte Lord Christopher an. »Selbstverständlich musst du den Abend mit mir verbringen, lieber Freund. Vielleicht kannst du mir diesen Kant erklären? Jemand hat mir sein neuestes Buch geschickt, hast du es schon gesehen? Das dachte ich mir. Er scheint mir recht fundiert, aber war er nicht Preuße? Vermutlich war das nicht seine Schuld. Aber komm doch vorher mit zum Tee. Rider? Kommst du ebenfalls mit zum Tee? Aber sicher. Ich möchte, dass du Lord Frederick kennen lernst. Du weißt, dass er jetzt Sekretär unseres Clubs ist? Du solltest wirklich mitkommen. Du wolltest doch auch Leinöl für deinen Schläger haben? Sie machen hier einen ganz annehmbaren Tee.«
Also ging Sandman mit zu einem hochherrschaftlichen Tee.
Abends war der Himmel bewölkt, und da kein Wind ging, hing der Rauch der Kohlenfeuer reglos über den Dächern und Türmen und machte den Himmel noch dunkler. Auf den Straßen um den St. James’ Square war es ruhig, da es in diesem Viertel keine Geschäfte gab und die Besitzer vieler Häuser auf dem Land waren. Als Sandman sah, dass ein Nachtwächter ihn bemerkte, ging er zu dem Mann hinüber, wünschte ihm einen guten Abend und fragte, in welchem Regiment er gedient habe. Sie vertrieben sich die Zeit mit Erinnerungen an Salamanca, die Sandman für die schönste Stadt hielt, die er je gesehen hatte. Ein Laternenanzünder machte seine Runde mit der Leiter, und nacheinander gingen die neuen Gaslaternen an, brannten ein Weilchen mit bläulicher Flamme, bis sie weißliches Licht verbreiteten. »Manche der Häuser hier bekommen Gas«, sagte der Nachtwächter. »Drinnen.«
»Drinnen?«
»Das geht nicht gut, wenn Sie mich fragen. Ist doch nicht natürlich, oder?« Der Nachtwächter schaute zu der nächststehenden zischenden Laterne hinauf. »Es wird Feuer und Rauchsäulen geben, Sir, wie es schon in der Heiligen Schrift steht, Feuer und Rauchsäulen. Es wird Brennen wie im Höllenfeuer, Sir.«
Weitere apokalyptische Prophezeiungen blieben Sandman erspart, da eine Droschke in die Straße bog und das Hufgeklapper laut von den Hauswänden widerhallte. Die Droschke hielt nicht weit von Sandman entfernt, der Wagenschlag ging auf, und Sergeant Berrigan stieg aus. Er warf dem Kutscher eine Münze zu und hielt Sally die Tür auf.
»Sie können doch nicht …«, setzte Sandman an.
»Ich habe dir gesagt, dass er das sagen wird«, brüstete Berrigan sich vor Sally. »Habe ich nicht gesagt, dass er sagen wird, du darfst nicht mitkommen?«
»Sergeant!«, insistierte Sandman eindringlich. »Wir können unmöglich …«
»Sie suchen Meg, stimmt’s?«, fiel Sally ihm ins Wort. »Und sie wird nicht sonderlich zugänglich sein, wenn zwei alte Soldaten sie in die Mangel nehmen, oder? Sie brauchen das Händchen einer Frau.«
»Ich bin sicher, dass zwei alte Soldaten Megs Vertrauen gewinnen können«, erwiderte Sandman.
»Sal lässt sich nicht abweisen«, warnte der Sergeant ihn.
»Außerdem ist Meg nicht im Seraphim Club«, fuhr Sandman fort. »Wir gehen nur hin, um den Kutscher zu suchen, damit er uns sagen kann, wohin er sie gebracht hat.«
»Vielleicht erzählt er mir ja, was er Ihnen nicht sagen will«, sagte Sally und bedachte Sandman mit einem strahlenden Lächeln. Dann wandte sie sich an den Nachtwächter. »Hast du nichts Besseres zu tun, als andere Leute zu belauschen?«
Verdutzt folgte der Mann dem Laternenanzünder die Straße hinunter, während Sergeant Berrigan einen Schlüssel aus seiner Tasche angelte, den er Sandman zeigte. »Hintertür, Captain«, sagte er und schaute Sally an. »Hör zu, Schatz, ich weiß …«
»Spar dir das, Sam, ich komme mit!«
Berrigan ging kopfschüttelnd voraus. »Ich weiß nicht, was das soll«, knurrte er. »Die Frauen erzählen dir, das Leben wäre ungerecht, weil Männer alle Vorrechte hätten, aber immer kriegen die Weiber ihren Willen. Haben Sie das auch schon gemerkt, Captain? Ständig meckern sie über dies und das, aber wer trägt Seide, Gold und Perlen, he?«
»Redest du von mir, Sam Berrigan?«, fragte Sally.
»Wahre Liebe«, murmelte Sandman. Berrigan legte einen Finger an die Lippen, als sie ein breites Tor in einer weißen Mauer am Ende der kurzen Gasse erreichten.
»Um diese Zeit ist es ruhig im Club«, sagte Berrigan leise. »Eigentlich müssten wir uns hineinschleichen können.« Er ging an eine schmale Tür neben dem Tor, fand sie verschlossen und benutzte den Schlüssel. Er schob die Tür auf, spähte in den Hof, und da er offenbar niemanden sah, trat er über die Schwelle und winkte Sally und Sandman, ihm zu folgen.
Der Hof war leer bis auf eine blau lackierte und mit Gold abgesetzte Kutsche, die offensichtlich gerade gewaschen worden war, denn sie glänzte im Dämmerlicht, Wasser tropfte von ihren Seiten und neben den Rädern standen Eimer. »Hier herüber, schnell«, sagte Berrigan. Sandman und Sally folgten dem Sergeant in den Schatten der Ställe. »Einer der Jungs wäscht sicher die Kutsche, aber der Kutscher dürfte drüben in der hinteren Küche sein«, sagte Berrigan mit einer Kopfbewegung in Richtung eines erleuchteten Fensters in der Remise. Als eine Tür des Haupthauses aufging, drehte er sich erschrocken um. »Hier herein!«, zischte er. Die drei schlüpften in eine Gasse neben den Pferdeställen. Schritte hallten über den Hof.
»Hier?«, fragte eine Stimme, die Sandman nicht kannte.
»Ein zwölf Fuß tiefes Loch«, antwortete eine andere Stimme, »ausgemauert und mit Gewölbedecke.«
»Verdammt wenig Platz. Wie breit ist das Loch?«
»Zehn Fuß?«
»Mann, da wenden wir unsere Kutschen!«
»Das geht auch auf der Straße.«
Berrigan schob sich dicht an Sandman. »Sie reden über ein Eishaus, das gebaut werden soll«, hauchte er ihm ins Ohr, »darüber reden sie schon seit einem Jahr.«
»Und wie wäre es hinter den Ställen?«, fragte der erste Mann.
»Kein Platz«, antwortete der andere.
»Ich meine, zwischen Stall und rückwärtiger Mauer«, sagte der erste Mann. Sandman hörte die Schritte näher kommen und wusste, dass es nur eine Frage von Sekunden sein konnte, bis man sie entdeckte. Doch Berrigan lauerte am anderen Ende aus der Gasse heraus, sah niemanden und huschte über einen kleineren Hof zu einer Tür, die in den hinteren Teil des Hauses führte. »Hier entlang!«, flüsterte er.
Sandman und Sally liefen ihm nach und kamen an eine Gesindetreppe, die offenbar von der Küche im Untergeschoss in die oberen Etagen führte. »Wir verstecken uns oben, bis die Luft rein ist«, flüsterte Berrigan.
»Warum nicht hier?«, fragte Sandman.
»Weil es sein könnte, dass die Kerle durch diese Tür wieder ins Haus kommen«, sagte Berrigan und ging ihnen voraus die unbeleuchtete Treppe hinauf. Auf einem Treppenabsatz öffnete er vorsichtig eine Tür, die in einen mit dicken Teppichen ausgelegten Flur führte. Die Wände waren mit scharlachroter Tapete versehen, aber es war zu dunkel, um das Muster oder die Gemälde zu erkennen, die zwischen den lackierten Türen hingen. Berrigan öffnete die nächstbeste Tür und ging in ein leeres Zimmer. »Hier drin sind wir sicher«, sagte er.
Es war ein großes, luxuriöses und komfortables Schlafzimmer. Das riesige, hohe Bett hatte eine dicke Matratze und eine scharlachrote Decke, die mit einem fliegenden nackten Engel des Seraphim Clubs geschmückt war. Es gab einen offenen Kamin, um den Raum im Winter zu heizen. Berrigan ging ans Fenster, zog den Vorhang ein Stück auf und spähte in den Hof. Sandmans Augen gewöhnten sich allmählich an das Dämmerlicht. Er hörte Sally lachen, und als er sich nach ihr umschaute, sah er, dass sie ein Deckenbild über dem Bett betrachtete. »Gütiger Gott«, entschlüpfte es Sandman.
»Davon gibt es hier viele«, sagte Berrigan trocken.
Das Bild zeigte eine fröhliche Gruppe Männer und Frauen in einem Arkadenrund aus weißen Marmorsäulen. Im Vordergrund spielte ein Kind Flöte, ein anderes zupfte Harfe, aber beide achteten gar nicht auf die Erwachsenen, die sich im gespenstischen Mondschein paarten. »Teufel auch«, sagte Sally respektvoll, »man glaubt gar nicht, dass ein Mädchen so gelenkige Beine hat.«
Sandman fand, dass eine Antwort überflüssig war. Er ging ans Fenster und schaute hinunter, aber der Hof schien wieder leer zu sein. »Ich glaube, sie sind hineingegangen«, sagte Berrigan.
»Noch eins«, sagte Sally und stellte sich auf die Zehenspitzen, um das Deckengemälde über dem Kamin genauer anzusehen.
»Glauben Sie, dass sie hierher kommen?«, fragte Sandman.
Berrigan schüttelte den Kopf. »Die Zimmer hier im hinteren Trakt benutzen sie nur im Winter.«
Sally kicherte über das Bild und sagte zu Berrigan: »Du hast in einem Institut gearbeitet, Sam Berrigan.«
»Das ist ein Club!«
»Ein verdammtes Institut ist das«, sagte Sally boshaft.
»Ich bin gegangen, oder nicht?«, wandte Berrigan ein. »Außerdem war es kein Institut für uns Diener. Nur für die Mitglieder.«
»Die mit Glied?«, fragte Sally und lachte über ihren eigenen Scherz.
Berrigan brachte sie zum Schweigen, nicht wegen ihres groben Scherzes, sondern weil draußen auf dem Gang Schritte zu hören waren. Sie näherten sich der Tür, gingen vorüber und wurden leiser.
»Hier oben zu sein, hilft uns nicht weiter«, sagte Sandman.
»Wir warten, bis es ruhiger wird, dann schleichen wir uns wieder auf den Hof«, sagte Berrigan.
Die Türklinke knackte. Rasch versteckte Berrigan sich hinter einem Paravent, der einen Nachttopf verbarg, während Sandman wie erstarrt stehen blieb. Es hatte sich angehört, als hätten sich die Schritte auf dem Korridor entfernt, aber die Person an der Tür musste wohl Stimmen gehört haben und zurückgeschlichen sein, denn plötzlich öffnete sich die Tür und ein Mädchen kam herein. Sie war groß, schlank und hatte das schwarze Haar mit langen perlmuttverzierten Haarnadeln hübsch aufgesteckt. Ihre Schuhe hatten Absätze aus Perlmutt, sie trug Perlmuttohrringe und eine doppelte Perlenkette um ihren eleganten, schwanenhaften Hals, ansonsten war sie nackt. Sie achtete gar nicht auf Sandman, der schon halb seine Pistole gezückt hatte, sondern lächelte Sally an. »Ich wusste gar nicht, dass du hier arbeitest, Sal!«
»Eigentlich arbeite ich hier nicht wirklich, Flossie«, antwortete Sally.
Nun erkannte Sandman das Mädchen. Es war die Tänzerin, die sich Sacharissa Lasorda nannte und nun Sandman anschaute. Obwohl sie vollkommen nackt und er vollständig angezogen war, vermittelte sie ihm das Gefühl, fehl am Platz zu sein. Sie musterte ihn von oben bis unten und grinste Sally an. »Da hast du aber einen gut Aussehenden erwischt, was? Aber er lässt sich Zeit, nicht wahr?« Sie machte große Augen, als Berrigan hinter dem Paravent hervorkam. »Ihr macht einen Dreier?«, fragte sie, doch dann erkannte sie den Sergeant.
»Ich bin gar nicht hier, Flossie«, knurrte Berrigan, »also mach die Tür zu, wenn du gehst. Du hast mich nicht gesehen. Ich dachte, du wärst weg und hättest Höheres im Sinn?«
»Hat nicht geklappt, Sam«, sagte sie und schloss die Zimmertür von innen.
»Was ist mit Spofforth?«, erkundigte Sally sich.
»Heute Morgen abgehauen.« Sie schniefte. »Das Schwein! Dabei brauche ich die Kohle. Und hier kann ich immer nur ein paar Mäuse machen.« Sie setzte sich auf das Bett. »Und was machst du hier?«, fragte sie Berrigan.
»Was zum Teufel machst du hier?«, fragte er zurück.
»Wir schleichen uns hier rein, um uns ein bisschen auszuruhen«, sagte Flossie, »im Sommer kommt doch nie jemand hier rein.«
»Vergiss bloß nicht, dass wir gar nicht hier sind«, mahnte Berrigan. »Wir sind nicht hier, du hast uns nicht gesehen und stell uns keine Fragen.«
»Verdammt, entschuldige, dass ich geboren bin«, sagte Flossie und schaute Berrigan fest an.
»Mit wem solltest du jetzt zusammen sein?«, erkundigte sich Berrigan.
»Tollemere. Aber er ist betrunken und schnarcht.« Schniefend schaute sie Sally an. »Arbeitest du hier?«
»Nein.«
»Die Kohle ist gut«, sagte Flossie, streifte einen Schuh ab und massierte ihren Fuß. »Und was passiert, wenn ich jetzt runtergehe und ihnen sage, dass ihr hier seid?«
»Dann prügele ich dich windelweich, wenn ich dich das nächste Mal sehe«, drohte Berrigan.
»Sergeant!«, mahnte Sandman, obwohl ihm auffiel, dass Flossie von dieser Drohung erstaunlich unbeeindruckt blieb.
»Sie kriegt mit Sicherheit eine Tracht Prügel«, bekräftigte Berrigan seine Drohung.
»Du bläst dich doch nur auf, aber es steckt nichts dahinter«, sagte Flossie grinsend.
»Wir tun niemandem was«, versicherte Sally ernst, »wir versuchen nur, jemandem zu helfen.«
»Ich sage keinem, dass ihr hier seid«, versprach Flossie. »Warum sollte ich?«
»Wer ist heute Abend da?«, fragte Berrigan.
Sie rasselte eine Liste von Namen herunter, von denen keiner für Sandman von Interesse war, da sie weder den Marquess of Skavadale noch Lord Robin Holloway erwähnte. Flossie war sicher, dass keiner der beiden im Club war. »Gegen den Marquess habe ich nichts«, sagte sie, »der ist ein richtiger Gentleman, aber der verdammte Lord Robin ist ein Schwein.« Sie zog ihren Schuh wieder an, gähnte und stand auf. »Ich gehe jetzt besser und sorge dafür, dass Seine Lordschaft mich nicht vermisst. Er will sicher bald zu Abend essen.« Sie runzelte die Stirn. »Ich habe nichts gegen die Arbeit hier, es gibt Kohle, es ist bequem, aber ich hasse es, nackt am Esstisch zu sitzen. Es ist ein komisches Gefühl, wenn die Männer alle vollständig angezogen und wir splitterfasernackt sind.« Sie öffnete kopfschüttelnd die Tür. »Außerdem kleckere ich immer mit der verdammten Suppe.«
»Du hältst den Mund, Flossie?«, fragte Berrigan noch einmal besorgt.
Sie warf ihm einen Kuss zu. »Für dich tue ich doch alles, Sam.« Damit war sie verschwunden.
»Für dich tue ich alles, Sam?«, fragte Sally.
»Das meint sie nicht so«, sage Berrigan hastig.
»Mister Spofforth hatte Recht«, unterbrach Sandman sie.
»Womit?«, fragte Sally.
»Sie hat tatsächlich hübsche Beine.«
»Captain!« Sally war entsetzt.
»Ich habe schon bessere gesehen«, sagte Sergeant Berrigan galant, und Sandman stellte erfreut fest, dass Sally rot wurde.
»Nur aus Interesse«, fragte Sandman, als er zur Tür ging, »was kostet die Mitgliedschaft hier?« Er öffnete die Tür einen Spalt und lauerte hinaus, aber der Korridor war leer.
»Zweitausend für den Beitritt, wenn man dazu eingeladen wird, und dann hundert im Jahr«, antwortete Berrigan.
Die Privilegien des Wohlstands, dachte Sandman. Wenn die Countess of Avebury eines oder gar zwei oder drei der Mitglieder erpresst haben sollte, war es da nicht wahrscheinlich, dass sie sie getötet haben, um ihren Platz in diesem hedonistischen Haus nicht zu verlieren? Er schaute zum Fenster. Draußen war es inzwischen dunkel, aber es war eine helle Sommernacht in einer von Gaslaternen erleuchteten Stadt. »Sollen wir unseren Kutscher suchen?«, fragte er Berrigan.
Sie gingen die Dienstbotentreppe hinunter und überquerten den Hof. Die Kutsche schimmerte immer noch nass auf dem Pflaster, aber die Eimer waren verschwunden. Pferde stampften im Stall, als Berrigan zum Nebeneingang der Remise ging. Er lauschte ein Weilchen und hob dann zwei Finger, um zu zeigen, dass sich nach seiner Ansicht zwei Männer hinter der Tür befanden. Sandman zog seine Pistole aus der Jackentasche. Er beschloss, den Hahn nicht zu spannen, weil er nicht wollte, dass sich versehentlich ein Schuss löste, aber er überprüfte, ob die Waffe geladen war, schob Berrigan beiseite, öffnete die Tür und ging hinein.
Der Raum diente zugleich als Küche, Sattelraum und Abstellkammer. Über einem Feuer brodelte ein Topf Wasser, auf dem Kaminsims brannten zwei Kerzen und weitere standen auf einem Tisch, an dem zwei Männer mit Bierkrügen saßen und Sandman anstarrten, als er hereinkam. Der Altere öffnete verwundert den Mund und ließ seine Tonpfeife fallen, die an der Tischkante zerbrach. Nach Sandman kam Sally herein und zuletzt Berrigan, der die Tür schloss.
»Machen Sie mich bekannt«, sagte Sandman. Er richtete die Pistole nicht auf die Männer, aber sie war deutlich zu sehen, und beide konnten den Blick nicht von der Waffe wenden.
»Der Junge ist der Stallknecht«, sagte Berrigan, »er heißt Billy, und der, dem der Kiefer bis auf den Schoß geklappt ist, heißt Mister Michael Mackeson. Er ist einer der beiden Kutscher. Wo ist Percy, Mack?«
»Sam?«, fragte Mackeson verdutzt. Er war untersetzt, hatte ein rotes Gesicht und einen gut gewichsten Schnurrbart. Sein schwarzes Haar war an den Schläfen leicht ergraut. Er war gut gekleidet, was er sich zweifellos leisten konnte, da gute Kutscher überaus großzügig entlohnt wurden. Sandman hatte von einem Kutscher gehört, der zweihundert Pfund im Jahr verdiente. Alle Kutscher galten als mit einem so beneidenswerten Geschick begabt, dass jeder junge Mann sein wollte wie sie. Junge Adelige trugen Kutschermäntel und lernten, mit einer Hand die Peitsche und mit der anderen die Zügel zu halten, und so viele Aristokraten hegten den Wunsch, Kutscher zu werden, dass niemand sicher sein konnte, ob eine Kutsche von einem Herzog oder einer bezahlten Kraft gelenkt wurde. Trotz seiner gehobenen Stellung starrte Mackeson Berrigan, der ebenso bewaffnet war wie Sandman, nun mit offenem Mund an.
»Wo ist Percy?«, wiederholte Berrigan.
»Er bringt Lord Lucy nach Weybridge«, antwortete Mackeson.
»Hoffen wir, dass du der bist, den wir suchen«, sagte Berrigan. »Und du bleibst hier, Billy«, fuhr er den Stallknecht an, der eine schäbige gelb-schwarze Livree des Seraphim Clubs trug, »wenn du dir keinen gebrochenen Schädel einhandeln willst.« Der Stallknecht, der von der Bank hatte aufstehen wollen, setzte sich wieder.
Ohne es zu merken, war Sandman wütend geworden. Vielleicht kannte der schnurrbärtige Kutscher die Antwort, nach der Sandman suchte, und die Vorstellung, dass er der Wahrheit so nah war, sie vielleicht aber doch nicht aufdecken würde, entflammte seinen Zorn. Noch hatte er diesen Zorn im Griff, aber er war deutlich aus seinem barschen Ton herauszuhören, der Mackeson zusammenzucken ließ. »Vor einigen Wochen hat ein Kutscher aus diesem Club eine Zofe im Haus der Countess of Avebury abgeholt. Waren Sie das?«
Mackeson schluckte, brachte aber offenbar kein Wort heraus.
»Waren Sie das?«, fragte Sandman noch einmal lauter.
Mackeson nickte bedächtig und schaute Berrigan an, als könne er nicht fassen, was mit ihm geschah.
»Wohin haben Sie sie gebracht?«, fragte Sandman. Mackeson schluckte wieder und schreckte hoch, als Sandman mit der Pistole auf den Tisch schlug. »Wohin haben Sie sie gebracht?«
Mackeson starrte auf Berrigan. »Sie werden dich umbringen, Sam Berrigan«, sagte er, »wenn sie dich hier erwischen, bist du mausetot.«
»Dann sollten sie mich wohl besser nicht erwischen, Mack«, sagte Berrigan.
Der Kutscher fuhr erneut auf, als er hörte, dass Sandman die Pistole spannte. Mit großen Augen starrte er in den Lauf und stöhnte jämmerlich. »Ich werde Sie ein letztes Mal höflich fragen«, sagte Sandman, »danach, Mister Mackeson, werde ich …«
»Nether Cross«, antwortete Mackeson hastig.
»Wo ist Nether Cross?«
»Ziemlich alte Straßen«, antwortete der Kutscher ausweichend. »Sieben Stunden? Acht Stunden?«
»Wo?«, fragte Sandman barsch.
»Unten an der Küste, Sir, in Kent.«
»Wer lebt da«, fragte Sandman, »in Nether Cross?«
»Lord John de Sully Pearce-Tarrant«, antwortete Berrigan für den Kutscher, »der Viscount Hurstwood, Earl of Keymer, Baron Highbrook, Lord von Soundso und Soundso, Erbe des Dukedom of Ripon, auch bekannt als Marquess of Skavadale, Captain.«
Eine Woge der Erleichterung stieg in Sandman auf. Endlich hatte er seine Antwort.
Die Kutsche ratterte durch die Straßen südlich der Themse. Die beiden Laternen waren angezündet, warfen aber nur einen schwachen Schein, der den Weg nicht zu erleuchten vermochte. Sobald sie oben auf Summit Hill angekommen waren, wo weniger Lichter brannten und die Straße durch Blackheath sich in undurchdringlichem Dunkel vor ihnen erstreckte, hielten sie an, spannten die Pferde aus und pflockten sie am Straßenrand an. Die beiden Gefangenen sperrten sie in der Kutsche ein, indem Sandman und Berrigan die Zügel um die Griffe der Wagenschläge banden und sie anschließend um das ganze Fahrzeug wickelten. Die Fenster verkeilten sie mit Holzkeilen und hielten die ganze Nacht abwechselnd Wache.
Die Gefangenen waren der Kutscher Mackeson und Billy, der Stallknecht. Es war Berrigans Idee, die frisch gewaschene Kutsche des Clubs zu nehmen. Anfangs hatte Sandman sich geweigert und erklärt, er habe mit Lord Alexander vereinbart, dessen Kutsche zu nehmen, und er bezweifele, dass er berechtigt sei, eine Kutsche des Clubs zu beschlagnahmen, aber Berrigan hatte über solche Bedenken nur die Nase gerümpft. »Glauben Sie, dass Lord Alexanders Kutscher den Weg nach Nether Cross kennt?«, hatte er gefragt. »Das heißt, Sie müssen Mackeson ohnehin mitnehmen, da können Sie auch gleich ein Fahrzeug nehmen, mit dem er umzugehen weiß. Und in Anbetracht der Schandtaten dieser Burschen nehme ich kaum an, dass Gott oder Mensch Anstoß nehmen wird, wenn Sie ihre Kutsche ausleihen.«
Und wenn sie die Kutsche und den Kutscher mitnahmen, mussten sie auch den Stallknecht Billy mitnehmen, damit er nicht verriet, dass sie sich nach Meg erkundigt hatten. Er leistete keinen Widerstand, sondern half Mackeson, die Pferde einzuspannen, und wurde anschließend mit gefesselten Händen und Füßen in der Kutsche verstaut, während Mackeson, von Berrigan begleitet, auf dem Bock saß. Die wenigen Clubmitglieder, die im Esszimmer saßen, hatten keine Ahnung, dass ihre Kutsche beschlagnahmt wurde.
Als Sandman und seine Begleiter nun in Blackheath gestrandet waren, mussten sie die Nachtstunden dort verbringen. Berrigan brachte Sally in ein Gasthaus, bezahlte ein Zimmer und blieb bei ihr, während Sandman die Kutsche bewachte. Erst nachdem die Uhr zwei geschlagen hatte, tauchte Berrigan aus der Dunkelheit auf. »Ruhige Nacht, Captain?«
»Recht ruhig«, sagte Sandman grinsend. »Lange her, dass ich Wache geschoben habe.«
»Benehmen die beiden sich anständig?«, fragte Berrigan mit einem Blick in die Kutsche.
»Wie die Lämmer«, sagte Sandman.
»Sie können ruhig schlafen gehen«, schlug Berrigan vor. »Ich übernehme die Wache.«
»Gleich«, antwortete Sandman, setzte sich ins Gras, lehnte sich an ein Rad und legte den Kopf in den Nacken, um die Sterne zu betrachten, die hinter einer fedrigen Wolke zum Vorschein kamen. »Erinnern Sie sich an die Nachtmärsche in Spanien?«, fragte er. »Die Sterne waren so hell, als ob man hinaufgreifen und sie auslöschen könnte.«
»Ich erinnere mich an die Lagerfeuer«, sagte Berrigan, »an Hügel und Täler voller Feuer.« Er schaute nach Westen. »Ein bisschen so wie da.«
Sandman wandte den Kopf und sah London unterhalb liegen wie einen Flickenteppich aus Feuer, das verschwommen durch rötlichen Rauch schimmerte. Die Luft oben auf der Heide war sauber und kühl, dennoch roch er den Rauch der Kohlenfeuer aus der Großstadt, deren erleuchteter Dunst sich am westlichen Horizont erstreckte. »Ich vermisse Spanien«, sagte er.
»Anfangs war es fremd«, sagte Berrigan, »aber mir hat es gefallen. Können Sie die Sprache?«
»Ja.«
Berrigan lachte. »Ich wette, Sie beherrschen sie gut.«
»Einigermaßen fließend, ja.«
Der Sergeant reichte Sandman eine irdene Flasche. »Branntwein«, sagte er. »Ich habe überlegt, wenn ich diese Zigarren einkaufe, brauche ich jemanden, der die Sprache spricht. Sie und ich? Wir könnten zusammenarbeiten.«
»Das würde mir gefallen«, sagte Sandman.
»Damit muss Geld zu verdienen sein«, sagte Berrigan. »Wir haben in Spanien ein paar Pence für die Zigarren bezahlt, und hier kosten sie ein Vermögen, wenn man sie überhaupt bekommt.«
»Ich glaube, Sie könnten Recht haben«, sagte Sandman und musste bei der Vorstellung lächeln, dass er vielleicht bald eine Arbeit hatte. Berrigan und Sandman, Lieferanten feiner Zigarren? Eleanors Vater wusste eine gute Zigarre zu schätzen und bezahlte viel Geld dafür, so viel, dass mit dieser Idee vielleicht sogar genug zu verdienen war, um Sir Henry zu überzeugen, dass seine Tochter keinen armen Schlucker heiratete. Lady Forrest würde Sandman wohl nie als passenden Ehemann für Eleanor akzeptieren, aber Sandman vermutete, dass Eleanor und ihr Vater sich gemeinsam durchsetzen könnten. Er und Berrigan würden Startkapital brauchen, und wer eignete sich besser als Sir Henry, es ihnen zu leihen? Sie würden durch Spanien reisen, Frachtraum besorgen und Geschäftsräume in einem eleganten Viertel Londons mieten müssen, aber es könnte funktionieren, davon war er fest überzeugt. »Das ist eine brillante Idee, Sergeant«, sagte er.
»Sollen wir es machen, wenn das hier vorbei ist?«
»Warum nicht? Ja.« Er reichte Berrigan die Hand.
»Wir alten Soldaten müssen zusammenhalten«, sagte Berrigan, »denn wir sind gut. Wir sind verdammt gut, Captain. Wir haben die verflixten Franzen durch halb Europa gejagt, und dann sind wir nach Hause gekommen und hier hat sich keiner um uns gekümmert, oder?« Er überlegte. »Im Seraphim Club gab es eine Regel. Niemand durfte jemals über den Krieg reden. Niemand.«
»Keiner der Männer hat gedient?«, erriet Sandman.
»Nicht ein einziger. Sie ließen niemanden rein, der bei der Armee oder Marine war.«
»Sie waren wohl neidisch?«
»Vermutlich.«
Sandman trank aus der Flasche. »Trotzdem haben sie Sie eingestellt?«
»Sie hatten gern einen Wachmann in der Halle. Ich habe den Burschen ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Und sie konnten mich kommandieren, was ihnen ebenfalls gefallen hat. Berrigan, tu dies, Berrigan, tu das.« Der Sergeant bedankte sich, als Sandman ihm die Flasche zurückgab. »Meistens war es gar nicht so schlimm. Ich musste Besorgungen für die Kerle machen, aber manchmal wollten sie was anderes.« Er schwieg, Sandman ebenfalls. Die Nacht war ungewöhnlich still. Nach einer Weile sprach Berrigan weiter, wie Sandman gehofft hatte. »Einmal hat ein Bursche die Seraphim verklagt, dem haben wir eine Lektion erteilt. Sie schickten eine Wagenladung Blumen zu seiner Beerdigung. Und die Mädchen natürlich – sie bekamen eine Entschädigung. Zehn Pfund, vielleicht zwölf Pfund.«
»Welche Mädchen?«
»Ganz gewöhnliche Mädchen, Captain, Mädchen, die ihnen auf der Straße aufgefallen waren.«
»Wurden sie entführt?«
»Ja«, sagte Berrigan, »entführt, vergewaltigt und abgefunden.«
»Machten das alle Mitglieder?«
»Einige waren schlimmer als andere. Es gibt immer ein paar, die für jede Schandtat zu haben sind, genau wie in einer Kompanie Soldaten. Und dann gibt es noch die Mitläufer. Und einer oder zwei von denen sind einfühlsamer. Deshalb war ich ja auch überrascht, dass Skavadale die Countess umgebracht hat. Er ist nicht schlecht. Er hat einen Stock verschluckt und denkt, er riecht nach Veilchen, aber er ist kein schlechter Mensch.«
»Ich hatte gehofft, Lord Robin habe es getan«, gab Sandman zu.
»Er ist ein verrückter Hund«, sagte Berrigan. »Verdammt reich und verrückt.«
»Aber Skavadale hat mehr zu verlieren«, erklärte Sandman.
»Das hat er schon verloren«, sagte Berrigan. »Er ist der wohl ärmste Mann im Club. Sein Vater hat ein Vermögen verspielt.«
»Aber der Sohn ist mit einem sehr reichen Mädchen verlobt«, entgegnete Sandman. »Mit der wohl reichsten Braut in ganz Großbritannien. Ich vermute, er trieb es mit der Countess of Avebury, die die hässliche Angewohnheit hatte, Männer zu erpressen.« Sandman dachte ein Weilchen nach. »Skavadale mag relativ arm sein, aber ich wette, er konnte immer noch tausend Pfund zusammenkratzen, wenn er musste. Das ist vermutlich die Größenordnung, die die Countess verlangt haben dürfte, damit sie keinen Brief an die wohlhabende, fromme Braut schrieb.«
»Also hat er sie getötet?«, fragte Berrigan.
»Ja«, sagte Sandman.
Berrigan überlegte. »Warum haben sie das Porträt von ihr malen lassen?«
»In gewisser Weise hatte das nichts mit dem Mord zu tun«, sagte Sandman. »Es war ganz einfach so, dass mehrere der Seraphim es mit der Countess getrieben hatten und ihr Porträt als Trophäe wollten. Und der arme Corday war gerade dabei, sie zu malen, als Skavadale sie besuchte. Wir wissen, dass er die Hintertreppe hinaufkam, den Geheimweg, und Corday rasch abgeschoben wurde, als die Countess hörte, dass einer ihrer Liebhaber gekommen war.« Sandman war sicher, dass es sich so zugetragen haben musste. Er stellte sich die peinliche Stille im Schlafzimmer vor, während Corday malte und die Countess auf dem Bett lag und mit der Zofe plauderte. Die Kohle dürfte auf dem Papier geschabt haben, dann waren Schritte auf der Hintertreppe zu hören und Cordays Qual begann.
Berrigan trank einen Schluck und reichte Sandman wieder die Flasche. »Das Mädchen Meg bringt also die Schwuchtel nach unten«, sagte er, »sie wirft ihn raus, geht wieder nach oben und findet was vor? Die tote Countess?«
»Vermutlich. Oder die sterbende Countess, und sie findet den Marquess of Skavadale vor.« Hatte die Countess sich wohl gefreut, den Marquess zu sehen, überlegte Sandman. Oder war ihr ehebrecherisches Verhältnis bereits zu Ende? Vielleicht war Skavadale gekommen, um sie zu bitten, von ihren Forderungen abzugehen, aber die Countess, die dringend Geld brauchte, hatte ihn nur ausgelacht. Vielleicht hatte sie angedeutet, er müsse noch mehr bezahlen. Irgendwie hatte sie ihn jedenfalls so in Rage gebracht, dass er ein Messer zog. Welches Messer? Ein Mann wie Skavadale trug kein Messer bei sich. Vielleicht hatte eines im Zimmer gelegen? Meg dürfte es wissen. Vielleicht hatte die Countess Obst gegessen und Skavadale hatte das Schälmesser ergriffen und sie erstochen. Als sie dann bleich und sterbend auf dem blutüberströmten Bett lag, hatte er die Geistesgegenwart besessen, Cordays Palettenmesser in eine ihrer Wunden zu stecken. Etwa in diesem Augenblick war Meg zurückgekommen. Vielleicht hatte Meg aber auch den Kampf mit angehört und wartete draußen, als Skavadale herauskam.
»Warum hat er Meg nicht auch getötet?«, fragte der Sergeant.
»Weil Meg keine Bedrohung für ihn ist«, vermutete Sandman. »Die Countess brachte seine Verlobung mit einem Mädchen in Gefahr, das wahrscheinlich sämtliche Hypotheken auf den Gütern der Familie tilgen kann – allesamt! Und die Countess hätte dieser Verlobung ein Ende bereitet. Es gibt keine größere Tragödie als einen Aristokraten, der sein Vermögen verliert, denn mit seinem Vermögen verliert er auch seine gesellschaftliche Stellung. Sie glauben, sie seien von Geburt aus besser als wir Übrigen, aber das sind sie nicht, sie sind nur wesentlich reicher, und sie müssen reich bleiben, wenn sie die Illusion ihrer Überlegenheit aufrecht erhalten wollen. Die Countess hätte Skavadale in die Gosse bringen können, daher hasste er sie und tötete sie, aber die Zofe tötete er nicht, weil sie keine Bedrohung darstellte.«
Berrigan dachte darüber nach. »Er bringt die Zofe also auf einen seiner verschuldeten Landsitze?«
»So scheint es zu sein«, sagte Sandman.
»Warum versucht dann Lord Robin Holloway, Sie zu töten?«
»Weil ich eine Gefahr für seinen Freund bin, natürlich«, antwortete Sandman entschieden. »Das Letzte, was sie wollen, ist, dass die Wahrheit ans Licht kommt, also haben sie mich zu bestechen versucht und versuchen jetzt, mich zu töten.«
»Es war ein ordentliches Bestechungssümmchen«, sagte Berrigan.
»Das ist gar nichts im Vergleich zu dem Reichtum, den Skavadales Braut mit in die Ehe bringt«, sagte Sandman, »und diese Heirat hat die Countess gefährdet. Also musste sie sterben, und jetzt muss Corday sterben, weil das Verbrechen dann in Vergessenheit gerät.«
»Ja«, räumte Berrigan ein. »Aber ich verstehe immer noch nicht, warum sie diese Meg nicht umgebracht haben. Wenn sie in dem Mädchen eine Gefahr gesehen hätten, hätten sie sie nicht leben lassen.«
»Vielleicht haben sie sie ja getötet«, räumte Sandman ein.
»Dann ist das alles hier reine Zeitverschwendung«, sagte Berrigan finster.
»Aber ich glaube nicht, dass sie Meg bis nach Nether Cross gebracht haben, um sie zu töten«, überlegte Sandman.
»Was machen sie dann mit ihr?«
»Vielleicht haben sie ihr eine Unterkunft geboten«, vermutete Sandman, »eine behagliche Wohnung, damit sie nicht verrät, was sie weiß.«
»Dann ist sie jetzt die Erpresserin?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Sandman, als er aber darüber nachdachte, erschien ihm Berrigans Schlussfolgerung, dass Meg Skavadale jetzt erpresste, durchaus schlüssig. »Vielleicht«, sagte er, »und wenn sie ein bisschen Verstand hat, verlangt sie nicht zu viel, und sie lassen ihr das Leben.«
»Wenn sie ihn tatsächlich erpresst, wird sie uns wohl kaum die Wahrheit sagen«, vermutete Berrigan. »Sie hat Skavadale fest in der Hand, nicht wahr? Sie kann die Fäden ziehen. Warum sollte sie all das aufgeben, um einer verdammten Schwuchtel das Leben zu retten?«
»Weil wir an das Gute in ihr appellieren werden«, sagte Sandman.
Berrigan lachte hämisch. »Na ja, dann ist ja alles geklärt!«
»Bei Ihnen hat es gewirkt, Sergeant«, erinnerte Sandman ihn.
»Das war wegen Sally.« Berrigan stockte und sagte dann verlegen: »Wissen Sie noch, an dem Abend im Wheatsheaf? Da dachte ich, Sie wären mit ihr zusammen.«
»Leider nein«, sagte Sandman, »ich bin bereits versprochen, und Sally gehört ganz Ihnen, Sergeant. Ich glaube, Sie sind ein überaus glücklicher Mann. Ebenso wie ich. Aber ich bin müde.« Er kroch unter die Kutsche und stieß sich den Kopf an der Vorderachse. »Nach Waterloo dachte ich, ich würde nie wieder im Freien schlafen müssen.«
Das Gras unter der Kutsche war trocken. Die Federung quietschte, als einer der Gefangenen sich umdrehte, die Pferde stampften und der Wind seufzte in einem nahe gelegenen Hain. Sandman dachte an die unzähligen Nächte, die er unter freiem Himmel verbracht hatte, und als er schon glaubte, in dieser Nacht keinen Schlaf finden zu können, fielen ihm die Augen zu.