Als Sandman und Berrigan am nächsten Morgen nach Newgate gingen, regnete es. Sandman humpelte immer noch stark und verzog jedes Mal das Gesicht, wenn er den linken Fuß belastete. Er hatte den Stiefel mit einer festen Bandage umwickelt, aber der Knöchel fühlte sich immer noch an wie glühend heißes Gelee. »Sie sollten nicht laufen«, sagte Berrigan.
»Ich hätte auch nicht laufen sollen, als ich mir damals den anderen Knöchel in Burgos verstauchte«, sagte Sandman, »aber ich konnte entweder laufen oder mich von den Franzen gefangen nehmen lassen. Also ging ich zu Fuß zurück nach Portugal.«
»Sie, als Offizier?« Berrigan war amüsiert. »Ohne Pferd?«
»Mein Pferd hatte ich jemandem geliehen, der wirklich verwundet war«, sagte Sandman.
Berrigan ging ein Weilchen schweigend weiter. »Wir hatten wirklich eine ganze Reihe guter Offiziere«, sagte er schließlich.
»Und ich dachte, ich wäre einzigartig«, entgegnete Sandman.
»Die schlechten Offiziere hielten sich nicht lang«, fuhr Berrigan fort, »besonders nicht im Kampf. Wunderbar, was eine Kugel im Rücken bewirkt.« Der Sergeant hatte im Hinterzimmer des Wheatsheaf übernachtet, nachdem klar wurde, dass Sally ihn nicht in ihr Bett einladen würde. Allerdings hatte Sandman, der die beiden den ganzen Abend beobachtete, den Eindruck, dass dazu nicht viel gefehlt hätte.
Lord Alexander hatte gar nicht bemerkt, dass er Sally an einen Rivalen niederen Standes verlor, und hatte Sally in gebannter Bewunderung angestarrt, bis er sich zu einem Scherz durchgerungen hatte, dessen Pointe jedoch eine genaue Kenntnis des lateinischen Gerundiums erforderte und daher jämmerlich fehlschlug. Als Lord Alexander schließlich eingeschlafen war, hatte der Sergeant ihn in seine Kutsche getragen, die ihn nach Hause brachte. »Der Bursche kann einen Stiefel vertragen«, sagte Berrigan voller Bewunderung.
»Er verträgt gar nichts, das ist sein Problem«, entgegnete Sandman. Insgeheim überlegte er, dass Lord Alexander sich langweilte und deshalb trank, während Sandman alles andere als gelangweilt war. Er hatte die ganze Nacht wach gelegen und nachgedacht, wer außer den Mitgliedern des Seraphim Clubs seinen Tod wünschen konnte. Erst als die Uhr der Paulskirche zwei schlug, war ihm die Lösung mit solcher Klarheit und Macht eingefallen, dass er sich schämte, nicht früher darauf gekommen zu sein. Als sie nun unter tief hängenden Wolken, die fast die rauchenden Schornsteine zu streifen schienen, durch Holborn gingen, teilte er Berrigan seine Erkenntnis mit.
»Ich weiß jetzt, wer dafür bezahlt, mich zu töten.«
»Der Seraphim Club ist es nicht«, beharrte Berrigan. »Sie hätten es mir gesagt, um sicherzugehen, dass ich dem anderen Burschen nicht in die Quere komme.«
»Der Club ist es nicht«, bestätigte Sandman, »denn sie wollten mich kaufen, aber das einzige Mitglied, das sofort über ausreichende Mittel verfügte, war Lord Robin Holloway, und er verabscheut mich.«
»Das stimmt, aber sie haben alle einen Beitrag geleistet«, wandte Berrigan ein.
»Nein, das haben sie nicht«, entgegnete Sandman. »Die meisten Mitglieder sind auf dem Land, es dürfte keine Zeit geblieben sein, sie zu Rate zu ziehen. Skavadale besitzt das Geld nicht. Vielleicht haben ein oder zwei Mitglieder etwas gestiftet, aber ich wette, der größte Teil der zwanzigtausend Pfund stammte von Lord Robin Holloway, und er stellte sie lediglich bereit, weil Skavadale ihn darum gebeten, es ihm befohlen oder dringend geraten hatte. Ich glaube, er willigte zwar ein, mich zu kaufen, arrangierte aber insgeheim, mich töten zu lassen, bevor ich das Angebot annehmen oder mir, Gott bewahre, seinen Wechsel auszahlen lassen konnte.«
Berrigan dachte darüber nach und nickte zögernd. »Zuzutrauen wäre es ihm. Ein übler Kerl ist er.«
»Aber vielleicht pfeift er seine Hunde jetzt zurück, wo er weiß, dass ich sein Geld nicht nehme«, sagte Sandman.
»Wenn er die Countess getötet hat, will er vielleicht immer noch, dass Sie sterben«, vermutete Berrigan. »Was ist denn hier los?« Seine Frage bezog sich auf die Tatsache, dass sich auf Newgate Hill nur noch ein Abwasserrinnsal in der Gosse bewegte. Fuhrwerke und Kutschen standen reglos auf der Straße, behindert durch einen Wagen, der an der Ecke Old Bailey und Newgate Street seine Ladung Birnensetzlinge verloren hatte. Männer schrien durcheinander, Peitschen knallten, Pferde gruben ihre Nasen in Futtersäcke. Es ging nicht weiter. Berrigan schüttelte den Kopf. »Wer will schon eine halbe Tonne Birnbäume?«
»Vielleicht jemand, der gern Birnen mag?«
»Jemand, dem man gehörig den Kopf zurechtrücken sollte«, schimpfte der Sergeant und blieb stehen, um die Granitfassade des Gefängnisses Newgate zu betrachten. Die tristen, finsteren Mauern mit ihren spärlichen Fensteröffnungen wirkten massiv und abweisend. Es regnete inzwischen stärker, aber der Sergeant starrte immer noch offensichtlich fasziniert auf das Gebäude. »Finden hier die Hinrichtungen statt?«
»Unmittelbar vor der Schuldnerpforte, welche das auch sein mag.«
»Ich war hier noch nie bei einer Hinrichtung«, gab Berrigan zu.
»Ich auch nicht.«
»Habe mal eine im Gefängnis in der Horsemonger Lane gesehen, aber da hängen sie sie auf dem Dach des Torhauses auf, von der Straße aus sieht man nicht viel. Ein bisschen Gezappel, das ist alles. Meine Mutter ging immer nach Tyburn.«
»Ihre Mutter?«
»Es war für sie eine Abwechslung.« Berrigan hatte die Verwunderung in Sandmans Ton gehört und klang entschuldigend. »Sie hat gern mal eine Abwechslung und sagt, bis Old Bailey ist es ihr zu weit – eines Tages miete ich eine Kutsche und bringe sie her.« Er grinste, als er die Stufen zum Gefängnis hinaufging. »Ich hatte immer gedacht, dass ich eines Tages mal hier enden würde.«
Ein Wärter begleitete sie durch den Tunnel zum Presshof und deutete auf die große Zelle, in der die zum Tode Verurteilten ihre letzte Nacht verbrachten. »Wenn Sie eine Hinrichtung sehen wollen, sollten Sie am Montag kommen«, sagte er leutselig zu Sandman. »Dann befreien wir England von zwei Verbrechern, aber viele werden nicht kommen. Es ist keine große Hinrichtung, weil keiner von ihnen ein berüchtigter Verbrecher ist. Wenn Sie eine große Menge locken wollen, müssen Sie einen berüchtigten Verbrecher hängen, Sir, einen berüchtigten Verbrecher oder eine Frau. Am letzten Montag hat das Magpie and Stump so viel Bier ausgeschenkt wie sonst in vierzehn Tagen, und das nur, weil wir eine Frau aufgeknüpft haben. Die Leute sehen es gern, wenn eine Frau zappelt. Haben Sie gehört, wie die Sache ausgegangen ist?«
»Ausgegangen?«, fragte Sandman verständnislos. »Ich nehme an, sie ist gestorben.«
»Gestorben und in die Anatomie gewandert, Sir, die schneiden gern mal eine Junge auf. Aber sie wurde gehenkt, weil sie eine Perlenkette gestohlen hatte, und wie ich gehört habe, hat die Besitzerin die Kette letzte Woche wiedergefunden.« Der Mann kicherte. »War hinten in ein Sofa gerutscht! Vielleicht ist es ja bloß ein Gerücht.« Er schüttelte den Kopf über die Willkür des Schicksals. »Aber komisch ist die Sache schon, oder?«
»Der Tod ist merkwürdig«, sagte Sandman bitter.
Der Wärter fummelte am Vorhängeschloss des Presshofs herum, ohne zu merken, dass seine Oberflächlichkeit Sandman verärgert hatte. Berrigan sah es jedoch und versuchte, den Captain abzulenken. »Warum gehen wir überhaupt zu diesem Corday?«, fragte er.
Sandman zögerte. Er hatte dem Sergeant noch nichts von der vermissten Zofe Meg erzählt, da er nicht sicher war, ob Berrigan tatsächlich die Seiten gewechselt hatte. Hatte der Seraphim Club ihn vielleicht als Spion geschickt? Es erschien ihm jedoch unwahrscheinlich. Er hatte den Eindruck, dass Berrigans Sinneswandel glaubwürdig war, auch wenn Sallys Anziehungskraft wohl mehr damit zu tun hatte als echte Reue. »Es gab eine Zeugin, und ich muss mehr über sie erfahren«, erklärte er Berrigan. »Wenn ich sie finde …« Er ließ den Satz unbeendet.
»Und wenn Sie sie finden?«
»Dann wird jemand hängen«, sagte Sandman, »allerdings nicht Corday.« Er bedankte sich mit einem knappen Kopfnicken bei dem Wärter, der das Tor aufgeschlossen hatte, und ging Berrigan voraus über den stinkenden Hof in den Aufenthaltsraum. Es herrschte Gedränge, da der Regen die Gefangenen und ihre Besucher hineingetrieben hatte. Sie starrten Sandman und seinen Begleiter feindselig an, als die beiden sich zwischen den Tischen in den dunklen rückwärtigen Teil des Raumes schlängelten, wo Sandman Corday zu finden hoffte. Der Maler war offensichtlich völlig verändert, denn er hielt nun an dem Tisch am Kaminfeuer Hof, wo er mit einem dicken Stapel Papier und Kohlestiften das Porträt der Ehefrau eines Gefangenen zeichnete. Ein Grüppchen hatte sich um ihn gesammelt, bewunderte sein Können und ließ Sandman nur widerstrebend durch. Corday zuckte zusammen, als er seine Besucher erkannte, schaute aber rasch fort. »Ich muss mit Ihnen reden«, sagte Sandman.
»Er redet mit Ihnen, wenn er fertig ist«, knurrte ein großer Mann mit schwarzem Haar, langem Bart und breiter Brust, der neben Corday auf der Bank saß. »Und es dauert noch eine Weile, bis er fertig ist, ihr müsst also warten, Leute.«
»Und wer sind Sie?«, fragte Berrigan.
»Ich bin der Bursche, der sagt, dass ihr warten müsst«, antwortete der Mann. Seinem Akzent nach zu urteilen stammte er aus dem West County. Er trug schmutzige Kleider und einen verfilzten Bart. Während er Berrigan streitlustig anstarrte, steckte er einen Finger in sein großes Naseloch und inspizierte den Popel, den er herausgepult hatte. Nachdem er ihn an seinem Bart abgestreift hatte, schaute er Sandman aufsässig an. »Charlies Zeit ist kostbar, viel hat er nicht mehr davon.«
»Es ist Ihr Leben, Corday«, sagte Sandman.
»Hör dir den an, Charlie!«, sagte der große Mann. »Du hast keine Freunde auf dieser Welt außer mir, und ich weiß, was …« Er verstummte abrupt, stöhnte und riss die Augen auf. Sergeant Berrigan war hinter ihn getreten und ließ den großen Mann mit einem Ruck seiner rechten Hand nun erneut vor Schmerz aufheulen.
»Sergeant!«, schaltete Sandman sich in gespielter Sorge ein.
»Ich bring dem Burschen nur Manieren bei«, sagte Berrigan und presste dem Mann ein zweites Mal die Daumen in die Nieren. »Wenn der Captain mit dir reden will, du Miststück, dann stehst du gefälligst stramm, Augen geradeaus, Mund zu, Hacken zusammen und Rücken gerade! Du sagst ihm nicht, dass er warten soll, das ist unhöflich.«
Corday schaute besorgt auf den Bärtigen. »Alles in Ordnung?«
»Dem geht’s gut«, antwortete Berrigan für sein Opfer. »Red du nur mit dem Captain, Junge, denn er versucht, dein armseliges Leben zu retten. Willst du Zicken machen, Freundchen?« Der Bärtige war aufgestanden und versuchte, Berrigan den Ellbogen in den Bauch zu rammen, aber der Sergeant packte ihn am Ohr, und schleuderte ihn mit Wucht gegen einen Tisch. Er drückte das Gesicht des Mannes fest nach unten. »Bleib ja da, Freundchen, bis wir fertig sind.« Zur Bekräftigung klopfte er dem Mann auf den Hinterkopf, bevor er wieder an Cordays Tisch kam. »Alles angetreten, Captain«, meldete er.
Sandman schob eine Frau beiseite, um sich Corday gegenüberzusetzen. »Ich muss mit Ihnen über die Zofe sprechen«, sagte er leise, »über Meg. Ihren Nachnamen kennen Sie nicht zufällig? Nein? Wie sah diese Meg denn aus?«
»Ihr Freund hätte ihn nicht schlagen dürfen!« beschwerte Corday sich bei Sandman, immer noch vom Schmerz seines Kameraden abgelenkt.
»Wie sah sie aus, verdammt noch mal?«, brüllte Berrigan in bester Feldwebelmanier. Corday zuckte vor Schreck zusammen, schob das halb fertige Porträt beiseite und zeichnete wortlos auf einem sauberen Blatt Papier eine neue Skizze. Er arbeitete schnell. In der Stille des großen Raumes war das leise Schaben der Kohle deutlich zu hören.
»Sie ist jung«, sagte Corday, »vierundzwanzig, vielleicht fünfundzwanzig. Ihre Haut ist pockennarbig, ihr Haar mausbraun. Ihre Augen sind grünlich, und hier hat sie ein Muttermal.« Er zeichnete ein Mal auf die Stirn des Mädchens. »Ihre Zähne sind gut. Ich habe nur ihr Gesicht gezeichnet, aber sie sollten noch wissen, dass sie breite Hüften und eine schmale Brust hat.«
»Kleine Brüste, meinst du?«, knurrte Berrigan.
Corday wurde rot. »Oberhalb der Taille war sie zierlich, aber darunter dick.« Er musterte die fertige Zeichnung eine Weile nachdenklich, nickte zufrieden und reichte sie Sandman.
Sandman betrachtete das Bild. Das Mädchen war hässlich, eigentlich mehr als hässlich, fand er. Es lag nicht nur an ihrer pockennarbigen Haut, dem schmächtigen Kinn, dem dünnen Haar und den kleinen Augen, sondern an einem Ausdruck, der Härte vermuten ließ und in einem derart jungen Gesicht seltsam anmutete. Falls das Porträt gut getroffen war, war Meg nicht nur abstoßend, sondern auch böse. »Warum hat die Countess ein solches Geschöpf eingestellt?«, fragte er.
»Sie haben zusammen am Theater gearbeitet«, sagte Corday.
»Zusammen gearbeitet? Meg war Schauspielerin?« Sandman klang erstaunt.
»Nein, sie war Garderobiere.« Corday schaute verlegen auf das Porträt. »Ich glaube, sie war mehr als nur Garderobiere.«
»Mehr?«
»Eine Kupplerin«, sagte Corday und schaute zu Sandman auf.
»Woher wissen Sie das?«
Der Maler zuckte die Achseln. »Es ist merkwürdig, wie die Leute sich unterhalten, wenn man ihr Porträt malt. Sie vergessen völlig, dass man da ist. Man wird zum Teil des Mobiliars. Die Countess und Meg unterhielten sich, und ich hörte zu.«
»Wussten Sie, dass der Earl das Porträt nicht in Auftrag gegeben hat?«, fragte Sandman.
»Nicht?« Das hörte Corday offenbar zum ersten Mal. »Sir George sagte das.«
Sandman schüttelte den Kopf. »Der Auftrag kam vom Seraphim Club. Haben Sie von dem schon gehört?«
»Ja«, antwortete Corday, »aber ich war nie da.«
»Sie wussten also nicht, dass sie das Porträt bestellt hatten?«
Berrigan war neben Sandman getreten. Als er Megs Porträt sah, verzog er das Gesicht, und Sandman drehte es so, dass Berrigan es besser betrachten konnte. »Haben Sie sie schon mal gesehen?«, fragte er und überlegte, ob das Mädchen je im Seraphim Club gewesen sein mochte, aber Berrigan schüttelte den Kopf.
Sandman wandte sich wieder an Corday. »Es besteht eine Chance, dass wir sie finden.«
»Wie groß ist die Chance?«, fragte Corday mit glitzernden Augen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Sandman. Er sah die Hoffnung in Cordays Augen verlöschen. »Haben Sie Tinte und Feder hier?«, fragte er.
Corday besaß beides. Sandman riss einen der großen Bögen Zeichenpapier in zwei Hälften, tauchte die Stahlfeder in die Tinte, ließ sie abtropfen und schrieb: Lieber Witherspoon, der Überbringer dieses Schreibens, Sergeant Berrigan, ist ein Kamerad von mir. Er hat bei den First Foot Guards gedient, und ich vertraue ihm vorbehaltlos. Sandman war nicht sicher, ob die letzte Äußerung ganz der Wahrheit entsprach, aber im Augenblick blieb ihm nichts anderes übrig, als anzunehmen, dass Berrigan vertrauenswürdig war. Er tauchte die Feder erneut in die Tinte und war sich bewusst, dass Corday jedes Wort von der anderen Tischseite aus lesen konnte. Bedauerlicherweise könnte es notwendig werden, dass ich Seine Lordschaft am kommenden Sonntag erreichen muss, und in der Annahme, dass Seine Lordschaft an diesem Tag nicht im Innenministerium sein dürfte, möchte ich Sie bitten, mir mitzuteilen, wo ich ihn erreichen könnte. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich Ihre Zeit in Anspruch nehme, und versichere Ihnen, dass ich dies lediglich tue, weil ich unter Umständen Dinge von äußerster Dringlichkeit zu berichten habe. Sandman las den Brief noch einmal durch, unterschrieb und pustete auf die Tinte, bis sie getrocknet war. »Das wird ihm nicht gefallen«, sagte er vor sich hin, faltete den Brief zusammen und stand auf.
»Captain!« Corday schaute Sandman flehend und mit Tränen in den Augen an.
Sandman wusste, was der Junge hören wollte, konnte ihm aber keinen Trost bieten. »Ich tue mein Bestes«, sagte er lahm, »aber ich kann nichts versprechen.«
»Es kommt bestimmt alles in Ordnung, Charlie«, tröstete ihn der Bärtige aus dem West County, und Sandman, der nichts Hilfreiches mehr hinzuzufügen vermochte, steckte das Porträt in die Innentasche seines Gehrocks und ging Berrigan voraus zum Ausgang.
Offensichtlich verwundert, schüttelte Berrigan den Kopf, als sie das Pförtnerhäuschen erreichten. »Sie haben mir gar nicht gesagt, dass er eine verdammte Schwuchtel ist!«
»Spielt das eine Rolle?«
»Es wäre schön zu wissen, dass wir uns für einen richtigen Mann einsetzen«, knurrte Berrigan.
»Er ist ein sehr guter Maler.«
»Das ist mein Bruder auch.«
»Wirklich?«
»Er malt Häuser an, Captain. Dachrinnen, Türen und Fenster. Aber er ist kein warmer Bruder wie dieser kleine Wurm.«
Sandman öffnete die Außentür des Gefängnisses und schauderte beim Anblick des strömenden Regens. »Ich mag Corday auch nicht besonders«, gestand er, »aber er ist unschuldig, Sergeant, und er hat den Strang nicht verdient.«
»Das gilt für die meisten, die gehängt werden.«
»Schon möglich. Aber wir sind für Corday verantwortlich, ob Schwuchtel oder nicht.« Er reichte Berrigan den Brief. »Innenministerium. Fragen Sie nach einem Mann namens Sebastian Witherspoon, geben Sie ihm das, und anschließend treffen wir uns bei Gunter am Berkeley Square.«
»Und das alles für eine verdammte Schwuchtel, was?«, fragte Berrigan, steckte aber den Brief in die Tasche und stürzte sich mit einer Grimasse wegen des Regens in den Verkehr. Sandman humpelte langsam hinterher.
Er fürchtete, der Regen könnte Eleanor und ihre Mutter von ihren Besorgungen abhalten, ging aber dennoch zum Berkeley Square und traf völlig durchnässt vor der Konditorei Gunter ein. Ein Portier hatte unter der Markise Schutz gesucht und musterte Sandmans schäbigen Mantel mit schiefem Blick, bevor er zögernd die Tür öffnete, als wolle er Sandman Zeit lassen, sich zu überlegen, ob er tatsächlich hineingehen wolle.
Hinter den beiden großen Schaufenstern befanden sich im vorderen Teil der Konditorei vergoldete Theken, Stühle mit Spindelbeinen, hohe Spiegel und ausladende Kronleuchter, die an diesem trüben Tag angezündet waren. Ein Dutzend Damen kauften Gunters berühmtes Konfekt, Schokolade, Meringueskulpturen und Delikatessen aus Zuckerwatte, Marzipan und glasierten Früchten. Die Unterhaltung verstummte, als Sandman den Laden betrat. Die Damen starrten ihn an, wie er triefend dastand, nahmen ihre Gespräche aber wieder auf, sobald er in den großen rückwärtigen Raum ging, wo einige Tische unter großen Dachfenstern mit Buntglasscheiben standen. Da er Eleanor an keinem der sechs besetzten Tische sah, hängte Sandman Mantel und Hut an einen Bugholzständer und setzte sich an ein Tischchen im hinteren Teil des Raumes, wo er halb von einem Pfeiler verdeckt war. Er bestellte Kaffee und den Morning Chronicle.
In der Zeitung las er, dass in Sussex wieder Heuschober abgebrannt waren, es in Newcastle einen Brotaufstand gegeben hatte und in Derbyshire drei Fabriken angezündet und die Maschinen verwüstet worden waren. In Manchester, wo der Mehlpreis auf vier Schillinge, neun Pence für zwölf Pfund gestiegen war, hatte die Miliz für Ordnung sorgen müssen. In Lancashire forderte der Magistrat vom Innenminister, die Habeas-corpus-Akte auszusetzen, um die Ordnung aufrecht erhalten zu können. Sandman schaute auf die Uhr und sah, dass Eleanor bereits zehn Minuten zu spät war. Er trank seinen Kaffee und fühlte sich unbehaglich, weil Stuhl und Tisch zu klein waren und ihm das Gefühl vermittelten, in einem Klassenzimmer zu sitzen. Er wandte sich wieder der Zeitung zu. In Preußen hatte es eine Überschwemmung gegeben, bei der man mindestens hundert Todesopfer befürchtete. Der Walfänger Lydia aus Whitehaven war mit der gesamten Mannschaft vor den Grand Banks untergegangen. Der Ostindienfahrer Calliope war mit einer Ladung Porzellan, Ingwer, Indigo und Muskatnuss im Pool of London eingelaufen. Bei einem Tumult im Theater Covent Garden hatte es Kopfverletzungen und Knochenbrüche, aber keine Schwerverletzten gegeben. Meldungen, dass im Theater ein Schuss gefallen sei, wurden von der Theaterleitung dementiert. Leichte Schritte näherten sich, Parfüm wehte herüber und ein Schatten legte sich auf seine Zeitung. »Du siehst finster aus, Rider«, sagte Eleanor.
»Es gibt keine guten Nachrichten«, antwortete er und stand auf. Als er sie anschaute, stockte ihm das Herz und er brachte kaum ein Wort heraus. »Es gibt wahrhaftig keine guten Nachrichten auf der ganzen Welt«, brachte er mühsam hervor.
»Dann müssen wir welche machen«, antwortete Eleanor, »du und ich.« Sie reichte einer der Kellnerinnen ihren Schirm und den feuchten Mantel, trat dicht an Sandman heran und küsste ihn auf die Wange. »Ich glaube, ich bin böse auf dich«, sagte sie leise, immer noch dicht neben ihm.
»Auf mich?«
»Weil du nach London gekommen bist, ohne mir etwas zu sagen.«
»Unsere Verlobung ist gelöst, hast du das schon vergessen?«
»Ach, das hatte ich völlig vergessen«, sagte sie schnippisch und warf einen Blick auf die anderen Tische. »Es wird einen Skandal geben, weil ich mich allein mit einem nassen Mann sehen lasse.« Sie küsste ihn noch einmal und trat zurück, damit er ihr einen Stuhl zurechtrücken konnte. »Lass sie ihren Skandal haben, ich nehme ein Vanilleeis mit Schokolade und Mandelsplittern. Und du ebenfalls.«
»Ich bin ganz zufrieden mit Kaffee.«
»Unsinn, du wirst essen, was auf den Tisch kommt. Du bist dünn geworden.« Sie setzte sich und zog ihre Handschuhe aus. Ihr rotes Haar war unter ein schwarzes Hütchen gesteckt, das mit winzigen Jettperlen und einer bescheidenen Feder geschmückt war. Ihr dunkelbraunes Kleid mit unauffälligem, schwarzem Blumenmuster und hohem Kragen war dezent, fast schlicht und nur mit einer kleinen Jettbrosche geschmückt, dennoch sah sie reizvoller aus als die spärlich gekleideten Tänzerinnen, die auseinander gestoben waren, als Sandman am Abend zuvor auf die Bühne gesprungen war. »Mutter lässt sich ein neues Korsett ausmessen«, sagte Eleanor und tat, als bemerke sie seinen prüfenden Blick nicht, »das dauert mindestens zwei Stunden. Sie glaubt, ich suche mir bei Massingberds einen Hut aus. Meine Zofe Lizzie begleitet mich, aber ich habe sie mit zwei Schillingen bestochen. Sie schaut sich gerade im Lyzeum die dickköpfige Schweinefrau an.«
»Dickköpfig? Du meinst eigensinnig?«
»Sei nicht albern, Rider, alle Frauen sind eigensinnig. Diese hat einen hässlichen dicken Kopf, frisst aus einem Trog, und hat einen borstigen rosa Schnurrbart. Es klingt nach einem recht unwahrscheinlichen Monstrum, aber Lizzie war begeistert von der Aussicht, und ich war selbst versucht, sie mir anzuschauen, bin aber stattdessen hier. Habe ich dich humpeln sehen?«
»Ich habe mir gestern den Knöchel verstaucht«, sagte er und musste Eleanor die ganze Geschichte erzählen, die sie natürlich begeisterte.
»Ich bin eifersüchtig«, sagte sie, als er fertig erzählt hatte. »Mein Leben ist so langweilig! Ich springe nicht auf Bühnen, weil ich von Straßenräubern verfolgt werde! Ich bin wirklich eifersüchtig!«
»Aber du hast Neuigkeiten?«, fragte Sandman.
»Ich denke schon. Ja, gewiss.« Eleanor bestellte bei der Kellnerin Tee, Vanilleeis mit Schokolade und Mandelsplittern und Waffeln. »Sie haben hinten ein Eishaus, das ich mir vor ein paar Wochen ansehen durfte«, erzählte sie Sandman, als das Mädchen gegangen war. »Es ist wie ein Gewölbekeller, und jeden Winter holen sie Eis aus Schottland, eingepackt in Sägemehl, das sich den ganzen Sommer hält. Zwischen zwei Eisblöcken lag eine gefrorene Ratte, was ihnen sehr peinlich war.«
»Das will ich meinen.« Plötzlich war Sandman sich seiner schäbigen Erscheinung bewusst, der ausgefransten Manschetten seines Gehrocks und der geplatzten Naht an seinen Stiefeln. Es waren eigentlich gute Stiefel von Kennets in der Silver Street, aber selbst die besten Schuhe brauchten Pflege. Um anständig gekleidet zu sein, hätte Sandman sich mindestens eine Stunde am Tag um seine Kleidung kümmern müssen, aber diese Zeit hatte er nicht.
»Ich habe versucht, Vater zu überreden, dass er ein Eishaus bauen lässt«, sagte Eleanor, »aber er wurde ganz knurrig und schimpfte über die Kosten. Im Augenblick hat er einen seiner Sparsamkeitsanfälle, also habe ich ihm gesagt, dass ich ihm die Kosten einer großen Hochzeit ersparen werde.«
Sandman schaute in ihre grau-grünen Augen und fragte sich, was sie ihm mit ihrer scheinbaren Ungezwungenheit wohl sagen wollte. »Hat er sich gefreut?«
»Er hat nur gebrummt, eine der Tugenden sei Besonnenheit. Ich glaube, mein Angebot hat ihn in Verlegenheit gebracht.«
»Wie wolltest du ihm denn die Kosten ersparen? Indem du eine alte Jungfer wirst?«
»Indem ich durchbrenne«, sagte Eleanor mit festem Blick.
»Mit Lord Eagleton?«
Eleanors Lachen erfüllte das weite Hinterzimmer und ließ vorübergehend Stille an den übrigen Tischen eintreten. »Eagleton ist so ein Langweiler!«, sagte Eleanor viel zu laut. »Mama war sehr darauf erpicht, dass ich ihn heirate, weil ich dann eine Lady wäre. Sag mir ja nicht, du dachtest, ich wäre mit ihm verlobt?«
»Das hatte ich gehört. Man sagte mir, dein Porträt sei ein Geschenk für ihn.«
»Mutter sagte, wir sollten es ihm schenken, aber Vater möchte es selbst behalten. Mutter will mich bloß mit einem Adelstitel verheiraten, egal mit wem oder was, und Lord Eagleton möchte mich heiraten, was sehr lästig ist, weil ich ihn nicht ausstehen kann. Er schnieft, bevor er redet.« Sie schniefte leicht. »Liebe Eleanor, schnief, wie charmant Sie aussehen, schnief. Ich sehe den Mond, der sich in Ihren Augen spiegelt, schnief.«
Sandman bewahrte eine ernste Miene. »Ich habe dir nie gesagt, dass der Mond sich in deinen Augen spiegelt. Ich fürchte, das war sehr nachlässig von mir.«
Sie schauten sich an und brachen in Lachen aus. Sie hatten schon immer miteinander lachen können, schon seit ihrer ersten Begegnung, als Sandman nach seiner Verwundung in Salamanca zurückgekommen war und Eleanor erst zwanzig Jahre und fest entschlossen war, sich von einem Soldaten nicht beeindrucken zu lassen, aber dieser Soldat hatte sie zum Lachen gebracht und schaffte es immer noch, ebenso wie sie ihn zum Lachen bringen konnte.
»Ich glaube, Eagleton hat die Bemerkung über den Mond eine Woche lang geübt, aber mit seinem Schniefen hat er alles verdorben«, sagte Eleanor. »Wirklich, Rider, mit Eagleton zu reden ist, als würde man sich mit einem asthmatischen Schoßhündchen unterhalten. Mama und er scheinen zu glauben, wenn sie es nur lange genug wünschen, werde ich seinem Schniefen nachgeben. Als ich von dem Gerücht erfuhr, wir seien verlobt, bat ich Alexander ausdrücklich, dir zu sagen, dass ich diesen adeligen Schniefer nicht heiraten werde. Und jetzt stelle ich fest, dass er es dir nie gesagt hat?«
»Ich fürchte, nein.«
»Aber ich habe ihn ausdrücklich darum gebeten!«, sagte Eleanor verärgert. »Ich habe ihn in der Ägyptischen Halle getroffen.«
»Das hat er mir erzählt«, sagte Sandman. »Aber er hatte völlig vergessen, was du mir ausrichten ließest. Er hatte sogar vergessen, warum er in der Ägyptischen Halle war.«
»Zu einem Vortrag eines Mannes namens Professor Popkin über die kürzlich entdeckte Lage des Garten Eden. Er will uns glauben machen, das Paradies habe am Zusammenfluss von Ohio und Mississippi gelegen. Er erklärte uns, dort habe er einmal einen sehr guten Apfel gegessen.«
»Das klingt nach einem stichhaltigen Beweis«, sagte Sandman ernst, »und wurde er weise, nachdem er die Frucht gegessen hatte?«
»Er wurde gelehrt, gebildet, scharfsinnig und klug«, antwortete Eleanor, und Sandman sah Tränen in ihren Augen. »Außerdem forderte er uns auf, alle Brücken hinter uns abzubrechen und ihm in seine neue Welt aus Milch, Honig und Äpfeln zu folgen. Würdest du gern dorthin gehen, Rider?«
»Mit dir?«
»Wir könnten nackt am Fluss leben«, träumte Eleanor laut weiter. Eine Träne lief über ihre Wange. »Unschuldig wie neugeborene Kinder, und wir würden der Schlange aus dem Weg gehen.« Sie konnte nicht weiter sprechen und senkte den Kopf, damit er ihre Tränen nicht sah. »Es tut mir Leid, Rider.«
»Was?«
»Ich hätte nie zulassen dürfen, dass Mama unsere Verlobung löst. Sie sagte, die Schande deiner Familie sei zu groß, aber das ist Unsinn.«
»Die Schande ist groß«, gab Sandman zu.
»Das war dein Vater, nicht du!«
»Manchmal glaube ich, dass ich meinem Vater sehr ähnlich bin«, sagte Sandman.
»Dann war er besser, als ich dachte«, erwiderte Eleanor heftig und tupfte sich die Augen mit ihrem Taschentuch. Die Kellnerin brachte Eis und Waffeln, und da sie glaubte, Sandman habe Eleanor mit etwas, was er gesagt habe, aus der Fassung gebracht, bedachte sie ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. Eleanor wartete, bis das Mädchen gegangen war, bevor sie sagte: »Ich hasse es zu weinen.«
»Du weinst ja nur selten.«
»In den letzten sechs Monaten habe ich geweint wie ein Springbrunnen«, sagte Eleanor und schaute zu ihm auf. »Gestern Abend habe ich Mama gesagt, dass ich mich immer noch als deine Verlobte betrachte.«
»Ich fühle mich geehrt.«
»Eigentlich solltest du sagen, dass es auf Gegenseitigkeit beruht.«
Sandman lächelte zögernd. »Ich wünschte, es wäre wahr, wirklich.«
»Vater hätte nichts dagegen«, sagte Eleanor, »zumindest glaube ich, dass er nichts dagegen hätte.«
»Aber deine Mutter?«
»Ja! Als ich ihr gestern Abend von meinen Gefühlen erzählte, bestand sie darauf, dass ich Doktor Harriman aufsuche. Hast du von ihm gehört? Natürlich nicht. Wie Mama mir sagt, ist er ein Experte für weibliche Hysterie, und es gilt als große Ehre, von ihm untersucht zu werden. Aber ich brauche ihn nicht! Ich bin nicht hysterisch, ich liebe nur unpassenderweise dich, und wenn dein verflixter Vater sich nicht getötet hätte, wären wir beide inzwischen längst verheiratet. Ich beneide Männer.«
»Wieso?«
»Sie dürfen fluchen, ohne dass jemand die Augenbrauen hebt.«
»Fluche ruhig, Liebes«, sagte Sandman.
Eleanor tat es und musste lachen. »Das war gut. O je, wenn wir eines Tages verheiratet sind, werde ich viel zu viel fluchen und du bist mich bald leid.« Sie schniefte und kostete seufzend ihr Eis. »Das ist das wahre Paradies«, sagte sie und schob den langen Silberlöffel tief in das Eis. »Ich schwöre, damit kann am Zusammenfluss von Ohio und Mississippi nichts mithalten. Armer Rider. Du dürftest nicht einmal im Traum daran denken, mich zu heiraten. Du solltest den Hut vor Caroline Standish ziehen.«
»Caroline Standish? Ich habe noch nie von ihr gehört.« Er kostete das Eis, das tatsächlich himmlisch war.
»Caroline Standish ist die wohl reichste Erbin Englands, Rider, und ein sehr hübsches Mädchen obendrein, aber ich muss dich warnen: Sie ist Methodistin. Goldblondes Haar, zum Teufel mit ihr, ein wirklich entzückendes Gesicht und ein Einkommen von geschätzten dreißigtausend im Jahr. Der Nachteil ist, dass du in ihrer Gegenwart keine geistigen Getränke zu dir nehmen, nicht rauchen, keine Gotteslästerung treiben, keinen Schnupftabak nehmen und dich in keiner Weise vergnügen darfst. Ihr Vater hat sein Geld mit Töpferwaren verdient, aber inzwischen leben sie in London und beten in dieser vulgären kleinen Kapelle in Spring Gardens. Ich bin überzeugt, du könntest ihre Blicke auf dich ziehen.«
»Das glaube ich gern«, sagte Sandman.
»Und ich bin überzeugt, dass sie Kricket billigen würde«, sagte Eleanor, »solange du es nicht am heiligen Sonntag spielst. Spielst du noch Kricket, Rider?«
»Nicht so oft, wie Alexander es gern hätte.«
»Sie sagen, Lord Frederick Beauclerk verdient sechshundert im Jahr mit Kricket-Wetten. Könntest du das nicht auch?«
»Ich bin ein besserer Schlagmann als er«, sagte Sandman wahrheitsgemäß. Lord Frederick, ein Freud Lord Alexanders und wie er ein Aristokrat und Priester, war der Sekretär des Kricketclubs Marylbone, der auf dem Thomas-Lord-Platz gespielt hatte. »Aber im Glücksspiel bin ich schlechter«, fuhr Sandman fort. »Außerdem setzt Beauclerk Geld ein, das zu verlieren er sich leisten kann, und über solche Mittel verfüge ich nicht.«
»Dann heirate die fromme Miss Standish«, sagte Eleanor. »Es besteht zwar das kleine Hindernis, dass sie bereits verlobt ist, aber Gerüchten zufolge ist sie keineswegs völlig überzeugt, dass der zukünftige Duke of Ripon auch nur annähernd so gottesfürchtig ist, wie er vorgibt. Er besucht zwar die Kapelle in Spring Gardens, aber man vermutet, dass er es lediglich tut, damit er ihre goldenen Federn rupfen kann, wenn er erst einmal mit ihr verheiratet ist.«
»Der zukünftige Duke of Ripon?«, fragte Sandman.
»Er hat natürlich einen eigenen Titel, aber ich erinnere mich nicht mehr, welchen. Mutter wüsste es bestimmt.«
Sandman wurde still. »Ripon?«
»Eine Bischofsstadt in Yorkshire, Rider.«
»Marquess of Skavadale ist der Titel, den der Erbe des Dukedom of Ripon trägt«, sagte Sandman.
»Genau! Gut!« Eleanor musterte ihn stirnrunzelnd. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Skavadale ist ganz und gar nicht gottesfürchtig«, sagte Sandman. Er erinnerte sich, dass der Earl of Avebury ihm erzählt hatte, seine Frau habe junge Männer der Gesellschaft erpresst. Hatte die Countess auch Skavadale erpresst? Seine Geldknappheit war allgemein bekannt, und die Güter seines Vaters waren offenkundig bis unters Dach verschuldet, dennoch hatte Skavadale es geschafft, sich mit der reichsten Erbin von England zu verloben. Und wenn er den Acker der Countess of Avebury gepflügt hatte, dürfte sie ihn durchaus für ein lohnendes Ziel einer Erpressung gehalten haben. Auch wenn seine Familie den größten Teil ihres Vermögens verloren hatte, besaß sie vermutlich noch etwas Geld und einiges an Porzellan, Silber und Gemälden, was sie verkaufen konnte; mehr als genug, um die Countess zufrieden zu stellen.
»Du bist mir ein Rätsel«, beklagte sich Eleanor.
»Ich glaube, der Marquess of Skavadale ist mein Mörder«, sagte Sandman, »entweder er oder einer seiner Freunde.« Hätte Sandman Wetten abschließen sollen, wer der Mörder sei, hätte er sich eher für Lord Robin Holloway als für den Marquess entschieden, aber er war sich ziemlich sicher, dass einer von beiden es getan hatte.
»Dann willst du gar nicht mehr wissen, was Lizzie herausgefunden hat?«, fragte Eleanor enttäuscht.
»Deine Zofe? Sicher will ich das wissen. Ich muss es wissen.«
»Meg war nicht besonders beliebt bei den anderen Dienstboten. Sie hielten sie für eine Hexe.«
»So sieht sie auch aus«, sagte Sandman.
»Hast du sie schon gefunden?«, fragte Eleanor aufgeregt.
»Nein, ich habe ein Bild von ihr gesehen.«
»Heutzutage lässt sich anscheinend jede malen«, sagte Eleanor.
»Dieses Bild.« Sandman zog die Zeichnung aus seiner Rocktasche und zeigte sie Eleanor.
»Rider, du glaubst doch nicht, dass sie die dickköpfige Schweinefrau ist?«, fragte Eleanor. »Nein, das kann nicht sein, sie hat keinen Schnurrbart.« Sie seufzte. »Armes Mädchen, so hässlich zu sein.« Sie schaute die Zeichnung lange an, bevor sie das Papier zusammenrollte und Sandman zurückgab. »Was wollte ich gerade sagen? Ach ja, Lizzie hat herausgefunden, dass Meg in einer Kutsche vom Stadthaus der Countess fortgebracht wurde, einer sehr vornehmen Kutsche, die entweder schwarz oder dunkelblau war und ein seltsames Wappen auf der Tür hatte. Es war kein richtiges Wappen, nur ein Schild mit einem goldenen Engel auf rotem Grund.« Eleanor zerkrümelte eine Waffel. »Ich habe Hammond gefragt, ob er dieses Wappenschild kennt, und er wurde ganz geziert: ›Ein Feldrot mit einem Engelgold, Miss Forrest.‹ Aber erstaunlicherweise wusste er nicht, wem es gehört, und war ganz außer sich.«
Sandman grinste bei dem Gedanken, dass Sir Henry Forrests Butler ein Wappen nicht hatte identifizieren können. »Er sollte sich nicht aufregen«, sagte Sandman, »ich glaube nämlich kaum, dass das Wappenkolleg diese Devise vergeben hat. Es ist das Zeichen des Seraphim Clubs.«
Eleanor schnitt eine Grimasse bei der Erinnerung, was Sandman ihr und ihrem Vater Anfang der Woche erzählt hatte, obwohl er ihnen natürlich nicht alles gesagt hatte, was er über die Seraphim wusste. »Und der Marquess of Skavadale ist Mitglied des Seraphim Clubs?«, fragte sie.
»Ja«, bestätigte Sandman.
Sie runzelte die Stirn. »Er ist also dein Mörder? So einfach ist das?«
»Die Mitglieder des Seraphim Clubs denken, sie stünden über dem Gesetz«, erklärte Sandman. »Sie glauben, ihre gesellschaftliche Stellung, ihr Geld und ihre Privilegien schützen sie. Vermutlich haben sie damit Recht, sofern ich Meg nicht finde.«
»Falls Meg noch lebt«, warf Eleanor ein.
»Falls Meg noch lebt«, bestätigte Sandman.
Eleanor schaute Sandman mit großen, leuchtenden Augen an. »Ich komme mir sehr selbstsüchtig vor«, gestand sie.
»Wieso?«
»Weil ich mich über meine kleinen Sorgen gräme, während du einen Mörder suchst.«
»Deine Sorgen sind klein?«, fragte Sandman lächelnd.
Eleanor erwiderte sein Lächeln nicht. »Ich bin nicht bereit, dich aufzugeben, Rider. Ich habe es versucht.«
Da er wusste, wie viel Überwindung dieses Geständnis sie kostete, nahm er ihre Hand und küsste ihre Finger. »Ich habe dich nie aufgegeben«, sagte er, »und nächste Woche werde ich noch einmal mit deinem Vater sprechen.«
»Und wenn er nein sagt?« Sie umklammerte seine Hand.
»Dann fahren wir nach Schottland«, antwortete Sandman. »Sollen wir nach Schottland fahren?«
Eleanor hielt strahlend seine Hand fest. »Rider? Mein umsichtiger, wohl erzogener, ehrenhafter Rider? Du würdest mit mir durchbrennen?«
Er erwiderte ihr Lächeln. »In letzter Zeit habe ich oft an den Nachmittag und Abend auf dem Hügel in Waterloo gedacht, meine Liebe, und an den Entschluss, den ich damals getroffen habe und ständig zu vergessen drohe. Damals habe ich mir geschworen, wenn ich diesen Tag überleben sollte, möchte ich nicht mit dem Gefühl sterben, etwas im Leben versäumt zu haben. Ich möchte nicht mit unerfüllten Wünschen, Träumen und Sehnsüchten sterben. Also ja, wenn dein Vater uns nicht heiraten lässt, werde ich mit dir nach Schottland fahren, dann soll der Teufel den Letzten holen.«
»Weil ich deinen Wünschen, Träumen und Sehnsüchten entspreche?«, fragte Eleanor mit Tränen in den Augen und strahlender Miene.
»Weil du all das für mich bist«, bestätigte Sandman, »und außerdem liebe ich dich.«
Plötzlich stand Sergeant Berrigan neben ihnen, triefend vor Regennässe und breit grinsend, weil er Sandman in einem so delikaten Moment überrascht hatte.
Der Sergeant pfiff Spanish Ladies, als sie den Hay Hill zur Old Bond Street hinaufgingen. Es war ein fröhliches Pfeifen, das deutlich zum Ausdruck brachte, wie wenig ihn das soeben Gesehene interessierte, und ein wohl überlegtes Pfeifen, das jeder in der Armee als offenkundige, aber nicht strafbare Insubordination erkannt hätte. Sandman, der immer noch humpelte, lachte. »Ich war einmal mit Miss Forrest verlobt, Sergeant.«
»Eine deutsche Kutsche, Captain, da drüben, sehen Sie? Verdammt schwere Kiste.« Berrigan täuschte immer noch Desinteresse vor und deutete auf eine wuchtige Kutsche, die auf dem nassen Kopfsteinpflaster gefährlich ins Schleudern geriet. Der Kutscher zerrte an der Bremse, die Pferde tänzelten nervös, doch dann streiften die Räder die Bordsteinkante und das Fahrzeug stabilisierte sich. »Das sollte man verbieten, dass diese verdammten ausländischen Kutschen unsere Straßen ruinieren«, sagte Berrigan. »Den Kerlen sollte man Steuern abknöpfen, dass ihnen Hören und Sehen vergeht, oder sie gleich über den Kanal zurückschicken, wo sie hingehören.«
»Miss Forrest hat die Verlobung gelöst, weil ihre Eltern nicht wollten, dass sie einen armen Schlucker heiratet«, erklärte Sandman. »So, jetzt wissen Sie Bescheid, Sergeant.«
»Sah mir nicht nach einer gelösten Verlobung aus, Sir. Guckte Ihnen in die Augen, als ob Sonne, Mond und Sterne drin gefangen wären.«
»Ja, na ja. Das Leben ist kompliziert.«
»War mir noch gar nicht aufgefallen«, sagte Berrigan sarkastisch. Er verzog das Gesicht über das Wetter, obwohl der strömende Regen inzwischen in einen leichten Nieselregen übergegangen war. »Wo wir gerade von Komplikationen sprechen«, fuhr Berrigan fort, »Mister Sebastian Witherspoon war gar nicht glücklich. Ganz und gar nicht glücklich. Um genau zu sein, er war verdammt wütend.«
»Ach! Er hat sich wohl denken können, dass ich mich nicht so verhalte, wie er erwartet hat?«
»Er wollte wissen, was Sie eigentlich vorhaben, Captain, aber ich habe gesagt, ich wüsste nichts.«
»Sicher hat er sich geweigert, das zu glauben?«
»Er konnte machen, was er wollte, Captain, ich habe nur gesagt: ›Ja, Sir, nein, Sir, ich weiß gar nichts, Sir, Sie können mich mal, Sir, gehen Sie zum Teufel, Sir‹, aber alles ganz respektvoll.«
»Mit anderen Worten, Sie haben sich benommen wie ein Feldwebel?«, fragte Sandman lachend. Er erinnerte sich von seinen eigenen Feldwebeln an diese freche Unterwürfigkeit, an die scheinbare Willigkeit, die eine tiefe Unversöhnlichkeit kaschierte. »Hat er Ihnen denn gesagt, wo der Innenminister am Sonntag zu erreichen ist?«
»Seine Lordschaft wird nicht zu Hause sein, Captain, weil die Handwerker in seinem Haus eine neue Treppe einbauen, die schon im vergangenen Mai hätte fertig werden sollen, aber noch nicht einmal gestrichen ist, daher hat Seine Lordschaft leihweise ein Haus in der Great George Street bezogen. Mister Witherspoon sagte, er hoffe, Sie nicht so bald wiederzusehen, ohnehin werde Seine Lordschaft es Ihnen wohl kaum danken, wenn Sie ihn am Sonntag stören, da Seine Lordschaft ein gläubiger Christ ist, außerdem ist Mister Witherspoon wie Seine heilige Lordschaft überzeugt, dass die verdammte Schwuchtel aufgeknüpft wird, wie sie es verdient.«
»Ich bin sicher, das Letzte hat er nicht gesagt.«
»Nicht ganz so«, gab Berrigan fröhlich zu, »aber ich habe es gesagt, worauf Mister Witherspoon gleich eine bessere Meinung von mir hatte. Noch ein Weilchen, und er hätte Ihnen den Laufpass gegeben und mich mit der Ermittlung beauftragt.«
»Dann Gnade Corday Gott, was?«
»Der kleine Mistkerl würde so schnell zum Galgen wandern, dass seine Zehen den Boden nicht berühren würden«, sagte Berrigan munter. »Und, wohin gehen wir jetzt?«
»Wir suchen Sir George Phillips auf, weil ich wissen möchte, ob er mir genau sagen kann, wer das Porträt der Countess bestellt hat. Wenn wir den Namen dieses Mannes haben, wissen wir, wer der Mörder ist, Sergeant.«
»Das hoffen Sie«, sagte Berrigan skeptisch.
»Miss Hood ist ebenfalls in Sir Georges Atelier. Sie steht für ihn Modell.«
»Ach!« Berrigans Laune besserte sich.
»Und selbst wenn Sir George uns nichts sagen will, habe ich erfahren, dass meine einzige Zeugin in der Kutsche des Seraphim Clubs fortgebracht wurde.«
»In einer der Kutschen«, berichtigte Berrigan, »sie haben nämlich zwei.«
»Ich nehme also an, dass der Kutscher des Clubs uns sagen kann, wo er sie hingebracht hat.«
»Das kann schon sein«, sagte Berrigan, »aber wahrscheinlich müssten wir ihn dazu ein bisschen überreden.«
»Eine angenehme Aussicht«, sagte Sandman. Sie hatten den Eingang neben dem Juwelierladen erreicht, und er klopfte. Wie bei seinem ersten Besuch öffnete Sammy die Tür, versuchte aber gleich wieder, sie zu schließen. Sandman verschaffte sich dreist Zutritt. »Sag Sir George, dass Captain Rider Sandman und Sergeant Samuel Berrigan ihn sprechen wollen«, befahl er herrisch.
»Er will nicht mit Ihnen sprechen«, antwortete Sammy.
»Geh und sag ihm Bescheid, Junge!«, befahl Sandman.
Sammy machte einen unüberlegten Versuch, sich an Sandman vorbei auf die Straße zu flüchten, wurde aber von Sergeant Berrigan erwischt, der den Jungen hochhob und gegen den Türpfosten drückte. »Wo willst du hin, Bürschchen?«, fragte Berrigan.
»Haut doch ab!«, sagte Sammy aufsässig, jaulte aber dann auf. »Ich wollte nirgendwohin!« Berrigan zog seine Faust zurück. »Er hat gesagt, wenn Sie wiederkommen, soll ich Hilfe holen«, sagte Sammy hastig.
»Aus dem Seraphim Club?«, erriet Sandman. Der Junge nickte. »Halten Sie ihn fest, Sergeant«, sagte Sandman und ging die Treppe hinauf. »Fi, fo, fams!«, sang er lauthals, »ich riech das Blut eines Englischmanns!« Diesen Lärm veranstaltete er, um Sally zu warnen, damit Sergeant Berrigan sie nicht nackt sähe. Sandman bezweifelte nicht, dass Berrigan ohnehin bald in diesen Genuss kommen würde, aber ebenso wenig bezweifelte er, dass Sally lieber selbst entscheiden wollte, wann es so weit wäre. »Sir George!«, brüllte er. »Sind Sie da?«
»Wer zum Teufel ist da?«, rief Sir George. »Sammy?«
»Sammy ist unser Gefangener«, rief Sandman.
»Gottverdammt! Sind Sie das?« Sir George bewegte sich erstaunlich schnell für einen so dicken Mann, er lief an einen Schrank und holte eine langläufige Pistole heraus. Damit rannte er oben an die Treppe und richtete die Waffe auf Sandman. »Keinen Schritt weiter, Captain, sonst kostet es Sie das Leben!«
Sandman warf einen Blick auf die Pistole und ging weiter. »Seien Sie kein Narr«, sagte er müde. »Wenn Sie mich erschießen, müssen Sie auch Sergeant Berrigan erschießen, anschließend müssen Sie Sally zum Schweigen bringen, und dazu müssen Sie sie ebenfalls erschießen, also hätten Sie drei Leichen am Hals.« Er nahm die letzten Stufen und entwand dem Maler ohne Umstände die Waffe. »Es ist immer besser, eine Waffe zu spannen, wenn man wirklich bedrohlich wirken will«, sagte er, drehte sich um und nickte Berrigan zu. »Erlauben Sie mir, Ihnen Sergeant Berrigan vorzustellen, ehemals First Foot Guards, anschließend Seraphim Club und nun Freiwilliger in meiner Armee der Gerechten.« Sandman sah erleichtert, dass Sally die Warnung verstanden und ihren Umhang übergezogen hatte. Er zog den Hut und verbeugte sich vor ihr. »Miss Hood, meinen Respekt.«
»Sie humpeln immer noch?«, fragte Sally und wurde rot, als Sergeant Berrigan erschien.
»Er tut mir weh!«, jammerte Sammy.
»Ich bringe dich um, wenn du nicht still bist«, knurrte Berrigan und nickte Sally zu. »Miss Hood.« Als er das Gemälde sah, bekam er vor Bewunderung ganz große Augen, und Sally wurde noch röter.
»Sie können Sammy loslassen, er wird keine Hilfe mehr holen wollen«, sagte Sandman zu Berrigan.
»Er tut, was ich ihm sage!«, schaltete Sir George sich kampfeslustig ein.
Sandman trat an das Gemälde und betrachtete die Hauptfigur. Ihm fiel auf, dass die Maler und Kupferstecher Admiral Nelson seit seinem Tod immer zierlicher dargestellt hatten, sodass der Held inzwischen fast schon wie ein Geist wirkte. »Wenn Sie Sammy befehlen, Hilfe zu holen, werde ich in Umlauf bringen, dass in Ihrem Atelier Frauen getäuscht werden, dass Sie sie bekleidet porträtieren und anschließend ohne ihr Wissen als Akt darstellen.« Er drehte sich um und grinste den Maler an. »Wie würde sich das wohl auf Ihre Preise auswirken?«
»Sie verdoppeln!«, sagte Sir George trotzig. Als er jedoch erkannte, dass Sandmans Drohung Hand und Fuß hatte, sackte er in sich zusammen wie eine zerstochene Blase. »Du gehst nirgendwohin, Sammy.«
Berrigan ließ den Jungen los. »Du kannst Tee aufbrühen«, sagte Sandman.
»Ich helfe dir, Sammy«, bot Sally an und folgte dem Jungen nach unten. Sandman vermutete, dass sie sich anziehen wollte.
Sandman wandte sich an Sir George: »Sie sind ein alter Mann, Sir George, Sie sind dick und trinken. Ihre Hände zittern. Noch können Sie malen, aber wie lange noch? Sie leben von Ihrem guten Ruf, aber den kann ich ruinieren. Ich kann dafür sorgen, dass Männer wie Sir Henry Forrest nie wieder ein Porträt ihrer Frauen und Töchter bei Ihnen bestellen aus Angst, dass sie mit ihnen das Gleiche machen wie mit der Countess of Avebury.«
»Das würde ich niemals tun …«, setzte Sir George an.
»Seien Sie still«, sagte Sandman. »Ich kann in meinen Bericht an das Innenministerium schreiben, dass Sie ihnen bewusst die Wahrheit vorenthalten haben.« Das war in Wirklichkeit eine wesentlich harmlosere Drohung, was Sir George aber nicht wissen konnte. Er fürchtete ein Gerichtsverfahren, Verurteilung und Gefängnis. Vielleicht fürchtete er auch, nach Australien deportiert zu werden, denn er begann vor Angst zu zittern. »Ich weiß, dass Sie gelogen haben«, sagte Sandman. »Und jetzt sagen Sie mir die Wahrheit.«
»Und wenn ich es tue?«
»Dann werden Sergeant Berrigan und ich es niemandem sagen. Warum sollte es uns scheren, was aus Ihnen wird? Ich weiß, dass Sie die Countess nicht ermordet haben, und das ist das Einzige, was mich interessiert. Also sagen Sie uns die Wahrheit, Sir George, dann lassen wir Sie in Frieden.«
Sir George sank auf einen Schemel. Die Lehrlinge und die beiden Männer, die als Nelson und Neptun Modell standen, starrten ihn an, bis er sie anknurrte, sie sollten nach unten gehen. Erst als sie fort waren, schaute er Sandman an. »Der Seraphim Club hat das Gemälde bestellt.«
»Das weiß ich.« Sandman ging an dem Tisch voller Lappen, Pinsel und Töpfe vorbei in den hinteren Teil des Ateliers. Er suchte Eleanors Porträt, fand es aber nicht. Er drehte sich um. »Sir George, ich will wissen, wer aus dem Club es in Auftrag gegeben hat.«
»Das weiß ich nicht. Wirklich! Ich weiß es nicht!« Er bettelte mit spürbarer Angst. »Es waren zehn oder elf Mitglieder, ich erinnere mich nicht mehr.«
»Zehn oder elf?«
»Sie saßen an einem Tisch wie beim Letzten Abendmahl, nur ohne Jesus«, erzählte Sir George. »Sie sagten, sie wollten das Gemälde für ihre Galerie anfertigen lassen, und versprachen, es würden noch weitere folgen.«
»Weitere Gemälde?«
»Aktbilder von Frauen mit Adelstitel, Captain«, schnaubte . Sir George. »Sie war ihre Trophäe. Sie erklärten mir, wenn mehr als drei Clubmitglieder eine Frau besessen hätten, würde sie in ihre Galerie aufgenommen.«
Sandman sah Berrigan fragend an, der die Achseln zuckte. »Klingt wahrscheinlich«, sagte der Sergeant.
»Sie haben eine Galerie?«
»Oben im Flur«, antwortete Berrigan, »aber sie haben gerade erst angefangen, Gemälde da aufzuhängen.«
»Der Marquess of Skavadale war einer dieser elf?«, fragte Sandman Sir George.
»Zehn oder elf.« Sir George klang verärgert, dass er Sandman berichtigen musste. »Ja, Skavadale war dabei. Lord Pellmore ebenfalls. Ich erinnere mich noch an Sir John Lassiter, aber die meisten kannte ich nicht.«
»Sie stellten sich Ihnen nicht vor?«
»Nein«, sagte Sir George kurz angebunden, weil er damit zugab, dass man ihn im Seraphim Club nicht als Gentleman, sondern als Handwerker behandelt hatte.
»Ich halte es für wahrscheinlich, dass einer dieser zehn oder elf Männer der Mörder der Countess ist«, erklärte Sandman ruhig und schaute Sir George fragend an, als erwarte er eine Bestätigung von ihm.
»Wie soll ich das wissen«, antwortete Sir George.
»Sie müssen aber doch vermutet haben, dass Charles Corday den Mord nicht begangen hat?«
»Der kleine Charlie?« Für einen Moment wirkte Sir George amüsiert, sah aber Sandmans wütende Miene und zuckte die Achseln. »Es erschien mir unwahrscheinlich«, bestätigte er.
»Aber Sie haben kein Gnadengesuch für ihn eingereicht? Sie haben die Bittschrift seiner Mutter nicht unterschrieben? Sie haben nichts unternommen, um ihm zu helfen?«
»Er wurde verurteilt, oder nicht?«, sagte Sir George. »Ihm ist Gerechtigkeit widerfahren.«
»Das bezweifele ich«, sagte Sandman erbittert. »Das bezweifele ich sehr.«
Sandman untersuchte die Pistole, die er Sir George abgenommen hatte, und sah, dass sie nicht geladen war. »Haben Sie Pulver und Kugeln?«, fragte er. Als er die Angst in der Miene des Malers sah, schimpfte er: »Ich will Sie nicht erschießen, Sie Narr! Pulver und Kugeln sind für andere bestimmt, nicht für Sie!«
»Im Schrank.« Sir George deutete mit dem Kopf auf die andere Seite des Raumes.
Sandman öffnete die Schranktür und fand ein kleines Waffenarsenal, das größtenteils für Gemälde gebraucht wurde, wie er annahm. Es gab Marine- und Armeedegen, Pistolen, Musketen und eine Patronenschachtel. Er drückte Berrigan eine Kavalleriepistole in die Hand, nahm eine Hand voll Patronen und steckte sie in die Tasche, bevor er ein Messer ergriff. »Sie haben meine Zeit verschwendet«, sagte er zu Sir George. »Sie haben mich belogen und mir Ungelegenheiten bereitet.« Er durchquerte den Raum mit dem Messer und sah das Entsetzen in Sir Georges Miene. »Sally!«, rief Sandman.
»Ich bin hier«, rief sie die Treppe hinauf.
»Wie viel schuldet dir Sir George?«
»Zwei Pfund und fünf Schillinge!«
»Bezahlen Sie sie«, befahl er.
»Sie erwarten doch wohl nicht, dass ich Bargeld bei mir …«
»Bezahlen Sie sie!«, brüllte Sandman, worauf Sir George beinahe vom Schemel fiel.
»Ich habe nur drei Guineen bei mir«, winselte er.
»Ich finde, das ist Miss Hood wert«, erklärte Sandman. »Geben Sie dem Sergeant die drei Guineen.«
Sir George händigte ihm das Geld aus, während Sandman sich dem Gemälde zuwandte. Britannia war praktisch fertig und saß mit nacktem Busen und stolzem Blick auf ihrem Felsen inmitten einer sonnenbeschienenen See. Die Göttin war unverkennbar Sally, obwohl Sir George ihr statt der üblichen heiteren Miene eine ruhige Überlegenheit verliehen hatte. »Sie haben mir wahrhaftig Ungelegenheiten bereitet«, sagte Sandman zu Sir George. »Schlimmer noch, Sie waren bereit, einen unschuldigen Jungen sterben zu lassen.«
»Ich habe alles gesagt, was ich sagen kann!«
»Ja, jetzt, aber vorher haben Sie gelogen, und ich finde, Sie brauchen auch ein paar Scherereien. Sie müssen lernen, Sir George, dass jede Sünde ihren Preis hat. Kurz, Sie müssen bestraft werden.«
»Sie unverschämter …« Sir George sprang auf und rief: »Nein!«
Berrigan hielt Sir George fest, während Sandman mit dem Messer auf die Apotheose Lord Nelsons zuging. Sammy kam gerade mit dem Teetablett die Treppe herauf und schaute erschrocken zu, wie Sandman die Leinwand mit zwei Schnitten durchtrennte. »Ein Freund von mir wird wohl bald heiraten«, erklärte er. »Er weiß es noch nicht, auch seine zukünftige Braut nicht, aber sie mögen sich ganz offensichtlich, und wenn es so weit ist, möchte ich ihnen etwas schenken.« Mit einem weiteren Schnitt trennte er die Leinwand von der Oberkante ab und löste Sallys Porträt aus dem großen Bild heraus. Er warf das Messer zu Boden, rollte das Gemälde der Britannia ein und grinste Sir George an. »Das ist ein wunderbares Geschenk, also werde ich es firnissen und rahmen lassen. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Sergeant? Ich glaube, wir sind hier fertig.«
»Ich komme mit!«, sagte Sally an der Treppe. »Aber jemand muss die Häkchen an meinem Kleid zumachen.«
»Die Pflicht ruft«, sagte Sandman zu Berrigan. »Zu Diensten, Sir George.«
Sir George funkelte ihn wütend an, schien aber unfähig, etwas zu sagen. Grinsend lief Sandman die Treppe hinunter und lachte immer noch, als er die Straße erreichte, wo er auf Berrigan und Sally wartete. Sie kamen nach, sobald Sallys Kleid geschlossen war. »Wer wird bald heiraten?«, fragte Berrigan.
»Zwei Freunde von mir«, antwortete Sandman leichthin. »Und wenn nicht, na ja, dann behalte ich das Bild vielleicht selbst.«
»Captain!«, schimpfte Sally.
»Heiraten?« Berrigan klang erschrocken.
»Ich bin sehr altmodisch und glaube fest an die christliche Moral«, sagte Sandman.
»Wo wir gerade davon sprechen«, sagte der Sergeant, »wieso haben wir die Pistolen mitgenommen?«
»Weil wir als Nächstes in den Seraphim Club müssen, Sergeant, und dorthin gehe ich ungern unbewaffnet. Außerdem würde ich es vorziehen, wenn sie von unserem Besuch nichts merken würden. Wann wäre die beste Zeit dafür?«
»Warum gehen wir da hin?«, erkundigte sich Berrigan.
»Um mit den Kutschern zu sprechen, selbstverständlich.«
Der Sergeant überlegte kurz und nickte. »Dann gehen wir nach Einbruch der Dunkelheit, dann können wir uns leichter hineinschleichen, und es ist mindestens einer der beiden da.«
»Hoffen wir, dass es der richtige Kutscher ist«, sagte Sandman und ließ den Deckel seiner Taschenuhr aufspringen. »Nicht vor Einbruch der Dunkelheit? Das heißt, ich habe den ganzen Nachmittag Zeit.« Er überlegte ein Weilchen. »Ich werde einen Freund besuchen. Sagen wir, wir treffen uns um neun Uhr? Hinter dem Club?«
»Treffen wir uns am Eingang zur Remise«, schlug der Sergeant vor.
»Oder möchten Sie mit mir kommen?«, fragte Sandman. »Ich werde mir mit einem Freund die Zeit vertreiben.«
»Nein, ich ruhe mich lieber ein bisschen aus.« Berrigan wurde rot.
»Dann legen Sie das doch bitte in mein Zimmer«, sagte Sandman und gab dem Sergeant das eingerollte Porträt Sallys. »Und Sie, Miss Hood? Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie den Nachmittag verbringen möchten. Würden Sie mich zu einem Freund von mir begleiten?«
Sally hakte sich beim Sergeant unter, lächelte Sandman zuckersüß an und sagte sanft: »Verschwinden Sie, Captain.«
Lachend tat Sandman, wie ihm befohlen wurde. Er verschwand.