Der Regen hatte aufgehört, aber die Luft fühlte sich schmierig an, und das Pflaster der St. James Street glitzerte wie poliert. Der kalte Wind drückte Rauch aus unzähligen Schornsteinen in die Straßen und wirbelte Ruß und Asche umher wie schwarzen Schnee. Zwei vornehme Kutschen ratterten den Hügel hinauf, vorbei an einer dritten, die ein Rad verloren hatte. Einige Männer waren mit guten Ratschlägen zur Stelle, was mit dem schräg stehenden Gefährt zu machen sei, während der Kutscher die Pferde, ein lebhaftes Gespann Brauner, hin und her führte. Zwei Betrunkene in modischer Kleidung stützten sich gegenseitig, als sie sich vor einer Frau verbeugten, die ebenso elegant gekleidet war wie ihre Bewunderer und mit einem zusammengeklappten Schirm über den Bürgersteig schlenderte. Sie ignorierte die Betrunkenen ebenso wie die obszönen Angebote, die man ihr von den Fenstern der Herrenclubs zurief. Sie war keine Dame, vermutete Sandman, denn keine anständige Dame würde je durch die St. James’ Street gehen. Sie bedachte ihn mit einem unverfrorenen Blick, als er ihr entgegenkam, worauf er lediglich die Hand zum Gruß an den Hut hob, ihr auf dem Gehsteig Platz machte und weiterging. »Die ist wohl zu heiß für dich, was?«, rief ein Mann Sandman von einem Fenster aus zu.
Sandman überhörte den Zuruf. Denk nach, sagte er sich, denk nach. Zu diesem Zweck blieb er an der Ecke der King Street stehen und schaute auf St. James’ Palace, als erhoffe er von seinen altehrwürdigen Mauern eine Eingebung.
Warum ging er zum Seraphim Club, fragte er sich. Wenn Sally Recht hatte, kam der Auftrag für das Porträt von ihnen, aber was hatte das schon zu bedeuten? Sandman vermutete allmählich, dass dieses Gemälde gar nichts mit dem Mord zu tun hatte. Wenn Corday die Wahrheit sagte, war der Mörder höchstwahrscheinlich die Person, die den Maler bei seiner Arbeit unterbrochen hatte, als sie an der Hintertür klopfte. Sandman hatte allerdings nicht die geringste Ahnung, wer das gewesen sein könnte. Weshalb ging er also zum Seraphim Club? Die geheimnisvollen Clubmitglieder hatten die Ermordete offenbar gekannt, hatten viel Geld für ein Porträt von ihr ausgegeben, das die Dame ohne ihr Wissen nackt zeigen sollte, was vermuten ließ, dass ein Clubmitglied entweder ihr Liebhaber war oder von ihr als Liebhaber abgewiesen wurde, und Liebe war ebenso wie Zurückweisung ein Weg zum Hass, Hass führte zum Mord, und dieser Gedankengang brachte Sandman zu der Überlegung, ob das Gemälde nicht doch etwas mit dem Mord zu tun hatte. Es war alles überaus verwirrend, und da es ihn kein Stück weiterbrachte, hier zu stehen und nachzudenken, ging er weiter.
Von außen ließ nichts erkennen, wo sich der Seraphim Club befand, aber ein Straßenkehrer wies Sandman den Weg zu einem Haus mit geschlossenen Fensterläden an der Ostseite des Platzes. Als Sandman den Platz überquerte, sah er eine vierspännige Kutsche am Bordstein vor dem Club stehen. Sie war dunkelblau und hatte auf den Türen rote Wappen mit fliegenden Engeln in goldenen Gewändern. Offensichtlich hatte die Kutsche gerade einen Fahrgast aufgenommen, denn sie fuhr an, als Sandman an die glänzend blau lackierte Tür trat, die kein Namensschild aufwies. Eine vergoldete Kette hing an der flachen Wange des Türrahmens.
Als Sandman daran zog, hörte er tief im Inneren des Gebäudes eine Glocke anschlagen. Gerade wollte er ein zweites Mal läuten, als er einen Lichtschimmer in der Mitte der Tür bemerkte und sah, dass sich dort ein Guckloch befand. Er vermutete, dass jemand ihn beäugte, und hielt dem Blick stand, bis er hörte, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde. Ein zweiter Riegel schabte, dann wurde ein Schloss entriegelt und schließlich öffnete ein Diener in wespenhaft schwarz-gelber Livree zögernd die Tür. Er musterte Sandman. »Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht im Haus geirrt haben, Sir?«, fragte er nach einer Weile. In diesem »Sir« lag keinerlei Respekt, es war lediglich eine Floskel.
»Ist das der Seraphim Club?«
Der Diener zögerte. Er war groß, bis auf ein oder zwei Jahre im gleichen Alter wie Sandman und hatte ein von der Sonne gegerbtes, von Gewalt zernarbtes und von Erfahrung gehärtetes Gesicht. Ein brutaler, aber gut aussehender Mann, der Kompetenz ausstrahlte, fand Sandman. »Dies ist ein Privathaus, Sir«, erklärte der Diener bestimmt.
»Das, wie ich annehme, dem Seraphim Club gehört, mit dem ich zu sprechen habe«, sagte Sandman barsch. Er schwenkte das Schreiben des Innenministers. »Im ministeriellen Auftrag«, fügte er hinzu und trat an dem Diener vorbei in die hohe, elegante und teure Eingangshalle, ohne eine Antwort abzuwarten. Der Boden bestand aus glänzenden schwarzen und weißen Marmorfliesen im Schachbrettmuster, auch der Kamin, in dem ein kleines Feuer brannte, war mit Marmor eingefasst und schloss mit einem Sims ab, der mit vergoldeten Cherubim, Blumenranken und Akanthusblättern verziert war. Im Treppenhaus hing ein Kronleuchter mit mindestens hundert frischen Kerzen. Finstere Gemälde hingen an den Wänden. Mit einem flüchtigen Blick erkannte Sandman Landschaften und Seestücke, aber nicht ein Aktgemälde.
»Hier hat kein Ministerium etwas zu suchen, Sir, rein gar nichts«, sagte der große Diener. Er schien überrascht, dass Sandman es gewagt hatte, an ihm vorbeizugehen, und hielt tadelnd die Tür auf als Aufforderung an Sandman, wieder zu gehen. Zwei weitere Diener, beide groß und in der gleichen schwarz-gelben Livree, waren aus einem Nebenraum gekommen, um den unerwünschten Besucher zum Verlassen des Hauses zu bewegen.
Sandman musterte die beiden Neuankömmlinge und den größeren Diener, der die Tür hielt, und bemerkte, dass das gut geschnittene Gesicht des Mannes von winzigen Narben auf der rechten Wange entstellt war. Die meisten würden sie gar nicht wahrgenommen haben, da sie kaum mehr waren als dunkle Flecke unter der Haut, aber Sandman hatte die Angewohnheit, auf Verbrennungen von Schießpulver zu achten. »Welches Regiment?«, fragte er den Mann. In der Miene des Dieners zuckte ein flüchtiges Lächeln auf. »First Foot Guards, Sir.«
»Ich habe neben Ihnen in Waterloo gekämpft«, sagte Sandman, steckte das Schreiben in die Tasche, zog sich den nassen Mantel und Hut aus und legte beides auf einen vergoldeten Stuhl. »Vermutlich haben Sie Recht, dass kein Ministerium hier etwas zu suchen hat«, bestätigte er dem Mann, »aber ich denke, das muss ich von einem leitenden Mitglied des Clubs hören. Gibt es einen Sekretär? Einen Präsidenten? Ein Komitee?« Sandman zuckte die Achseln. »Entschuldigen Sie, aber Ministerien sind wie die französischen Dragoner. Wenn man sie nicht gleich beim ersten Mal vernichtend schlägt, kommen sie beim nächsten Mal nur um so stärker wieder.«
Der Diener war hin- und hergerissen zwischen seiner Pflicht gegenüber dem Club und seiner Verbundenheit mit einem ehemaligen Kameraden, aber seine Loyalität zum Seraphim Club behielt die Oberhand. Er ließ die Haustür los und ballte die Hände kampfbereit zur Faust. »Es tut mir Leid, Sir, aber man wird Ihnen lediglich sagen, dass Sie eine Verabredung treffen sollen«, erklärte er.
»Dann warte ich hier, bis man mir das sagt.« Sandman trat vor das kleine Kaminfeuer und wärmte sich die Hände. »Mein Name ist übrigens Sandman, und ich bin im Auftrag von Lord Sidmouth hier.«
»Sir, es ist nicht erlaubt, hier zu warten«, sagte der Diener, »aber wenn Sie vielleicht Ihre Karte in der Schale auf dem Tisch hinterlassen möchten?«
»Ich habe keine Karte«, sagte Sandman munter.
»Es ist Zeit zu gehen«, sagte der Diener. Dieses Mal nannte er Sandman nicht »Sir«, sondern kam mit erschreckender Selbstsicherheit auf den Besucher zu.
»Schon gut, Sergeant Berrigan«, schaltete sich eine ruhige Stimme von hinten ein. »Mister Sandman kann bleiben.«
»Captain Sandman«, korrigierte Sandman und drehte sich um.
Ein Stutzer, ein Geck, ein Beau stand vor ihm. Es war ein großer, ausnehmend gut aussehender junger Mann in einem schwarzen Gehrock mit Messingknöpfen, enger weißer Kniebundhose, die aussah, als sei sie auf seine Schenkel geschweißt, und glänzenden schwarzen Stiefeln. Ein steifes weißes Halstuch bauschte sich über seinem Hemd, gerahmt von einem hohen Jackenkragen, der bis an die Ohren reichte. Sein schwarzes Haar war sehr kurz geschnitten und rahmte ein blasses Gesicht, das so glatt rasiert war, dass die weiße Haut glänzte. Er hatte ein amüsiertes, kluges Gesicht und trug ein Monokel, durch das er Sandman kurz musterte, bevor er sich leicht verbeugte. »Captain Sandman«, er betonte das erste Wort leicht, »entschuldigen Sie bitte. Ich hätte Sie gleich erkennen müssen. Letztes Jahr habe ich gesehen, wie Sie Martingale und Bennett fünfzig Läufe abgejagt haben. Schade, dass wir in dieser Saison Ihr Können auf keinem der Londoner Plätze bewundern konnten. Mein Name ist übrigens Skavadale, Lord Skavadale. Kommen Sie doch bitte in die Bibliothek.« Er deutete auf das Zimmer hinter ihm. »Sergeant, wären Sie so nett, den Mantel des Captain aufzuhängen? Am Kaminfeuer des Portiers, denken Sie nicht? Und was hätten Sie gern zum Aufwärmen, Captain? Kaffee? Tee? Glühwein? Geschmuggelten Cognac?«
»Kaffee«, sagte Sandman. Als er an Lord Skavadale vorbeiging, roch er Lavendelwasser.
»Ein scheußliches Wetter, nicht wahr?«, fragte Skavadale auf dem Weg in die Bibliothek. »Und gestern war es noch so schon. Wie Sie sehen, habe ich Feuer anzünden lassen, weniger wegen der Wärme, als vielmehr um die Feuchtigkeit zu vertreiben.« Die Bibliothek war ein großer, gut geschnittener Raum, wo ein großzügiges Feuer in einem breiten Kamin zwischen hohen Bücherregalen brannte. Ein Dutzend Stühle standen im Zimmer verteilt, aber Skavadale und Sandman waren allein. »Die meisten Clubmitglieder sind um diese Zeit auf dem Land«, erklärte Skavadale den leeren Raum, »aber ich habe geschäftlich in der Stadt zu tun. Recht langweilige Geschäfte, fürchte ich.« Er lächelte. »Und welche Angelegenheit führt Sie her, Captain?«
Sandman ging nicht auf die Frage ein. »Seraphim Club, ein merkwürdiger Name.« Er schaute sich in der Bibliothek um, fand aber nichts Ungewöhnliches. Das einzige Gemälde im Raum war ein lebensgroßes Ganzfigurporträt über dem Kamin, das einen dünnen Mann mit verwegen gut aussehendem Gesicht und üppigen, schulterlangen Locken zeigte. Er trug einen eng anliegenden Rock aus geblümter Seide mit Spitzenkragen und -manschetten und einen Degen an einer breiten Schärpe.
»John Wilmot, zweiter Earl of Rochester«, stellte Lord Skavadale den Mann vor. »Kennen Sie sein Werk?«
»Ich weiß, dass er ein Dichter war«, sagte Sandman, »und ein Freidenker.«
»Beides zu sein ist ein Glück«, sagte Skavadale lächelnd. »Er war tatsächlich ein überaus geistreicher und talentierter Dichter, wir sehen in ihm unser Vorbild, Captain. Die Seraphim sind höhere Wesen, sogar die höchsten unter den Engeln. Das ist eine kleine Eitelkeit unsererseits.«
»Höher als bloße Sterbliche wie der Rest von uns?«, fragte Sandman säuerlich. Lord Skavadale war so höflich, vollkommen und formvollendet, dass es Sandman ärgerte.
»Wir bemühen uns lediglich um Vortrefflichkeit, wie Sie es sicher ebenfalls tun, Captain, im Kricket wie in allem anderen, was Sie anfangen«, erwiderte Skavadale freundlich, »und es ist nachlässig von mir, dass ich Ihnen keine Gelegenheit gebe, mir zu sagen, um was es sich dabei handelt.«
Diese Gelegenheit musste noch ein Weilchen auf sich warten lassen, denn ein Diener brachte ein silbernes Tablett mit Porzellantassen und einer silbernen Kaffeekanne. Während der Kaffe eingeschenkt wurde, sprachen weder Lord Skavadale noch Sandman. In der Stille hörte Sandman aus einem Zimmer in der Nähe ein merkwürdiges regelmäßiges Quietschen.
An metallischen Geräuschen erkannte er, dass dort gefochten wurde und das Quietschen von Schuhen auf mit Kreide abgestumpftem Boden stammen musste. »Nehmen Sie doch Platz«, sagte Skavadale, als der Diener Holz nachgelegt und das Zimmer verlassen hatte. »Und sagen Sie mir, wie Sie unseren Kaffee finden.«
»Charles Corday«, sagte Sandman, als er sich setzte.
Lord Skavadale schaute ihn verwundert an, lächelte dann aber. »Für einen Augenblick haben Sie mich verwirrt, Captain. Charles Corday, natürlich, das ist doch der junge Mann, der wegen Mordes an der Countess of Avebury zum Tode verurteilt wurde. Sie sind wahrhaftig ein rätselhafter Mann. Sagen Sie mir doch bitte, warum Sie ihn erwähnen.«
Sandman nippte an seinem Kaffee. Die Untertasse zierte ein Wappen mit einem fliegenden goldenen Engel auf rotem Schild. Es war ganz ähnlich wie das Wappen, das Sandman auf der Kutsche vor dem Haus gesehen hatte, nur war dieser Engel vollkommen unbekleidet. »Der Innenminister hat mich damit beauftragt, die Fakten des Falles Corday zu überprüfen«, erklärte Sandman.
Skavadale hob eine Augenbraue. »Warum?«
»Weil Zweifel an seiner Schuld bestehen«, sagte Sandman, allerdings ohne zu erwähnen, dass der Innenminister diese Zweifel nicht teilte.
»Es ist beruhigend zu wissen, dass unsere Regierung sich solche Mühe gibt, ihre Untertanen zu schützen«, erklärte Skavadale andächtig. »Aber wieso führt Sie das in unser Haus, Captain?«
»Weil wir wissen, dass das Porträt der Countess of Avebury vom Seraphim Club in Auftrag gegeben wurde«, sagte Sandman.
»Ach, tatsächlich?«, fragte Skavadale verbindlich. »Das finde ich erstaunlich.« Er setzte sich auf das Lederpolster des Kamingitters, wobei er sorgsam bedacht war, weder Rock noch Hose zu verknittern. »Der Kaffee kommt aus Java«, sagte er. »Wir finden ihn recht gut. Was meinen Sie?«
»Was die Angelegenheit besonders interessant macht, ist der Umstand, dass der Auftrag lautete, die Dame unbekleidet abzubilden«, führte Sandman weiter aus.
Der Anflug eines Lächelns umspielte Skavadales Mund. »Das klingt überaus mutig von der Countess, finden Sie nicht?«
»Sie sollte es nicht erfahren«, sagte Sandman.
»Das ist ja unerhört«, äußerte Skavadale mit betonter Entrüstung, doch trotz des spöttischen Funkeins wirkten seine dunklen Augen überaus scharfsichtig, aber keineswegs überrascht. Er legte das Monokel auf einen Tisch und trank seinen Kaffee. »Darf ich fragen, wie Sie von diesen bemerkenswerten Fakten erfahren haben, Captain?«
»Ein Mann, dem der Galgen droht, kann sich als sehr gesprächig erweisen«, wich Sandman der Frage aus.
»Wollen Sie mir sagen, dass Corday Ihnen das erzählt hat?«
»Ich habe ihn gestern aufgesucht.«
»Hoffen wir, dass der bevorstehende Tod ihn bewegt, die Wahrheit zu sagen«, erklärte Skavadale lächelnd. »Ich gestehe, dass mir davon nichts bekannt ist. Es ist möglich, dass eines unserer Mitglieder das Porträt in Auftrag gegeben hat, aber leider haben sie mich nicht ins Vertrauen gezogen. Ich muss mich allerdings fragen, welche Rolle das spielt? Wie sollte sich das auf die Schuld des jungen Mannes auswirken?«
»Sie sprechen für den Seraphim Club, nicht wahr?«, fragte Sandman, seiner Frage erneut ausweichend. »Sind Sie der Sekretär? Oder ein Angestellter?«
»So etwas Gewöhnliches wie Angestellte haben wir nicht. Captain. Wir sind nur wenige Mitglieder und betrachten uns als Freunde. Allerdings beschäftigen wir einen Mann, der die Bücher führt, aber er trifft keine Entscheidungen. Solche werden von uns gemeinsam als Freunde und Gleichrangige getroffen.«
»Wenn der Seraphim Club ein Porträt in Auftrag gäbe, wussten Sie also davon?«, hakte Sandman nach.
»Gewiss«, erklärte Skavadale nachdrücklich. »Der Club hat kein solches Porträt bestellt. Aber, wie gesagt, es ist möglich, dass eines der Mitglieder es privat in Auftrag gegeben hat.«
»Ist der Earl of Avebury ein Mitglied?«, fragte Sandman.
Skavadale zögerte. »Ich kann Ihnen wirklich nicht sagen, wer unsere Mitglieder sind, Captain. Dies ist ein Geheimclub. Aber ich denke, ich darf Ihnen sagen, dass der Earl uns nicht mit seiner Gesellschaft beehrt.«
»Kannten Sie die Countess?«, fragte Sandman.
Skavadale lächelte. »Allerdings, Captain. Viele von uns haben ihrem Schrein gehuldigt, denn sie war eine Dame von göttlicher Schönheit, und wir bedauern ihren Tod unendlich. Unendlich.« Er stellte seine halb volle Kaffeetasse auf einen kleinen Tisch und stand auf. »Ich fürchte, Ihr Besuch bei uns war vergebens, Captain. Der Seraphim Club hat keinerlei Porträts in Auftrag gegeben, das versichere ich Ihnen. Ich fürchte, Mister Corday hat Sie falsch informiert. Darf ich Sie zur Tür begleiten?«
Sandman stand auf. Er hatte nichts erfahren und fühlte sich zum Narren gemacht. In diesem Augenblick flog hinter ihm eine Tür auf. Als er sich umdrehte, sah er, dass eines der Bücherregale in Wahrheit aus falschen Lederrücken bestand, die auf eine Tür geklebt waren. Ein junger Mann in Hemd und Kniebundhose stand mit Florett in der Hand und feindseliger Miene da. »Ich dachte, du hättest den Kerl rausgeworfen, Johnny«, sagte er zu Skavadale.
Skavadale lächelte zuckersüß. »Erlaube mir, dir Captain Sandman, den Kricketspieler vorzustellen. Das ist Lord Robin Holloway.«
»Kricketspieler?« Lord Robin Holloway war verwirrt. »Ich dachte, er wäre ein Lakai von Sidmouth?«
»Das bin ich ebenfalls«, sagte Sandman.
Als Lord Robin Sandmans streitlustigen Ton hörte, zuckte sein Florett. Er besaß nichts von Skavadales Höflichkeit. Nach Sandmans Schätzung war er wohl Anfang zwanzig, ebenso groß und gut aussehend wie sein Freund, allerdings nicht dunkelhaarig wie Skavadale, sondern blond. Sein Haar war so golden wie die Ringe an seinem Finger und die Kette an seinem Hals. Er leckte sich die Lippen und hob das Florett an. »Und was will Sidmouth von uns?«, fragte er ungehalten.
»Captain Sandman wollte gerade gehen«, stellte Skavadale nachdrücklich fest.
»Ich bin gekommen, um mich nach der Countess of Avebury zu erkundigen«, erklärte Sandman.
»Sie liegt im Grab, Mann«, sagte Holloway. Hinter ihm erschien ein zweiter Mann ebenfalls mit Florett, allerdings in einfacher Kleidung, woraus Sandman schloss, dass es der Fechtmeister des Clubs sein musste. Der Raum jenseits der Geheimtür war offenbar ein Fechtsaal, denn er wies Ständer mit Floretten und Degen und einen glatten Hartholzboden auf. »Was sagten Sie noch, wie Sie heißen?«, herrschte Holloway Sandman an.
»Ich habe gar nichts gesagt«, erwiderte Sandman, »aber ich heiße Sandman, Rider Sandman.«
»Der Sohn von Ludovic Sandman?«
Sandman neigte den Kopf. »Ja.«
»Der verdammte Kerl hat mich betrogen«, sagte Lord Holloway und schaute Sandman aus leicht vortretenden Augen herausfordernd an. »Schuldet mir Geld!«
»Eine Angelegenheit für die Anwälte«, beschwichtigte Lord Skavadale.
»Sechstausend Guineen«, sagte Robin Holloway, »und weil Ihr verdammter Vater sich eine Kugel zwischen die Augen gejagt hat, bekommen wir keinen Penny! Was wollen Sie dagegen machen, Mann?«
»Captain Sandman möchte jetzt gehen«, sagte Lord Skavadale bestimmt und nahm Sandmans Ellbogen.
Sandman schüttelte ihn ab. »Ich habe begonnen, einige Schulden meines Vaters zu begleichen«, erklärte er Lord Robin in nach wie vor respektvollem Ton, obwohl unter der scheinbar ruhigen Oberfläche sein Zorn brodelte. »Ich bezahle die Schulden bei den Kaufleuten, die der Selbstmord meines Vaters in Schwierigkeiten gebracht hat. Und was Ihre Schulden angeht?« Er stockte. »Ich habe nicht vor, irgendetwas in dieser Hinsicht zu unternehmen.«
»Verdammter Kerl.« Lord Robin hob das Florett, als wolle er Sandman damit ins Gesicht schlagen.
Lord Skavadale ging dazwischen. »Es reicht! Der Captain geht jetzt.«
»Du hättest ihn gar nicht erst hereinlassen sollen«, sagte Lord Robin. »Er ist nur ein schleimiger kleiner Spitzel von Sidmouth. Das nächste Mal benutzen Sie gefälligst den Lieferanteneingang, Sandman. Der Vordereingang ist für Gentlemen.« Sandman hatte sein Temperament in Zaum gehalten und war Richtung Eingangshalle gegangen, doch nun machte er plötzlich kehrt und ging an Skavadale und Holloway vorbei. »Wo zum Teufel wollen Sie hin?«, fragte Holloway.
»Zur Hintertür natürlich«, sagte Sandman, blieb aber neben dem Fechtmeister stehen und streckte die Hand aus. Der Mann zögerte, schaute verstohlen zu Skavadale und runzelte die Stirn, als Sandman ihm das Florett einfach abnahm. Sandman drehte sich zu Holloway um: »Ich habe es mir anders überlegt. Ich glaube, ich nehme doch den Vordereingang. Heute fühle ich mich als Gentleman. Oder hat Seine Lordschaft vor, mich aufzuhalten?«
»Robin«, warnte Lord Skavadale seinen Freund.
»Verflucht«, sagte Holloway, zückte sein Florett, schlug Sandmans Klinge beiseite und machte einen Ausfallschritt.
Sandman parierte, dass Holloways Klinge hoch in die Luft schnellte, und schlug Seiner Lordschaft das Florett quer über das Gesicht. Da es mit einem Spitzenschutz versehen war, hinterließ die Klinge keinen Schnitt, sondern lediglich einen roten Striemen auf Holloways rechter Wange. Mit dem nächsten Hieb markierte Sandman gleich noch die linke Wange, trat drei Schritte zurück und senkte die Waffe. »Was bin ich nun?«, fragte er. »Lieferant oder Gentleman?«
»Zum Teufel mit Ihnen!« Holloway war wütend und erkannte nicht, dass sein Gegner ebenfalls außer sich war, aber Sandmans Zorn war kaltblütig und grausam, während Holloways hitzig und daher leichtsinnig war. Holloway schwang das Florett wie einen Säbel in der Hoffnung, allein durch die Kraft des peitschenähnlichen Schlags Sandmans Gesicht aufzuschlitzen, aber Sandman wich zurück, ließ die Klinge zwei Finger vor seiner Nase vorbei zischen, sprang vor und stieß seine Waffe so fest gegen Holloways Bauch, dass sie sich wie ein Bogen spannte, dank des Spitzenschutzes aber weder Stoff noch Haut durchdrang. Die Federkraft der Klinge nutzte Sandman, um zurückzuschnellen, als Lord Robin erneut zuschlug. Sandman wich einen weiteren Schritt zurück, was Holloway irrtümlich als Nervosität auslegte und mit der Klinge nach Sandmans Hals schlug.
»Versager«, sagte Sandman mit ungeheurer Verachtung in der Stimme. »Sie schwacher kleiner Versager.« Nun focht er mit entfesselter Wut, einer lodernden, tödlichen Rage, gegen die er ankämpfte, die er hasste, die zu überwinden er betete. Aber es ging ihm nicht mehr ums Fechten, es ging ihm ums Töten. Er sprang mit gefährlich zischender Klinge vor, der Spitzenschutz traf Lord Holloway ins Gesicht, stach ihm beinahe ein Auge aus, die Klinge peitschte über Lord Holloways Nase, hinterließ einen blutenden Schnitt, der Stahl schnellte zurück wie eine Schlange; Lord Holloway krümmte sich vor Schmerz, und plötzlich schlangen sich zwei kräftige Arme um Sandmans Brust. Sergeant Berrigan hielt ihn fest, und der Fechtmeister stand vor Lord Robin Holloway, während Lord Skavadale seinem Freund das Florett entwand.
»Genug!« sagte Skavadale. »Genug!« Er warf Holloways Florett ans andere Ende des Raumes, nahm Sandman die Waffe ab und schleuderte sie hinterher. »Sie gehen, Captain«, befahl er. »Sofort!«
Sandman schüttelte Berrigans Arme ab. Er sah Angst in Lord Robins Augen. »Ich habe schon mit richtigen Männern gekämpft, als Sie sich noch in die Windeln gemacht haben«, sagte er.
»Gehen Sie!«, fuhr Skavadale ihn an.
»Sir?« Berrigan, der ebenso groß war wie Sandman, deutete mit dem Kopf auf die Eingangshalle. »Ich denke, es ist das Beste, wenn Sie gehen, Captain.«
»Wenn Sie herausfinden, wer das Porträt in Auftrag gegeben hat, wäre ich Ihnen für Ihre Mitteilung sehr verbunden«, sagte er zu Skavadale. Er hoffte nicht ernstlich, dass Lord Skavadale etwas in dieser Richtung unternehmen würde, aber diese Aufforderung gab ihm die Möglichkeit, sich mit einem gewissen Maß an Würde zu verabschieden. »Sie können mir eine Nachricht in das Wheatsheaf in der Drury Lane senden.«
»Guten Tag, Captain«, sagte Skavadale kalt. Lord Robin funkelte Sandman wütend an, sagte aber nichts. Er war geschlagen und wusste es. Der Fechtmeister schaute respektvoll drein, da er etwas von Fechtkunst verstand.
Sandmans Hut und Mantel wurden ihm halb getrocknet und vollständig ausgebürstet in die Diele gebracht, wo Sergeant Berrigan die Haustür öffnete. Er nickte Sandman ausdruckslos zu, als dieser an ihm vorbei hinausging. »Sie kommen besser nicht wieder, Sir«, sagte Berrigan und schlug die Tür zu.
Es hatte wieder angefangen zu regnen.
Langsam ging Sandman nordwärts.
Er war nun wirklich nervös, so nervös, dass er sich fragte, ob er lediglich zum Seraphim Club gegangen war, um seine nächste Pflicht aufzuschieben.
War es tatsächlich eine Pflicht? Er redete es sich ein, obwohl er vermutete, dass es lediglich eine Schwäche war, eine Dummheit war es gewiss. Aber Sally hatte Recht. Er musste die Zofe Meg finden, um die Wahrheit herauszufinden, und die beste Möglichkeit einen Dienstboten zu finden war, andere Dienstboten zu fragen, und zu diesem Zweck war er nun auf dem Weg in die Davies Street, die er seit sechs Monaten sorgsam gemieden hatte.
Als er an der Tür klopfte, erschien ihm alles vertraut, und Hammond, der Butler, zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Captain Rider«, sagte er, »welche Freude, Sir, darf ich Ihnen den Mantel abnehmen? Sie sollten einen Schirm mitnehmen, Sir.«
»Sie wissen doch, dass der Duke Regenschirme nie gebilligt hat, Hammond.«
»Der Duke of Wellington mag die Kleiderordnung für Soldaten bestimmen, Sir, aber Seine Gnaden besitzt kein Bestimmungsrecht über Londoner Fußgänger. Darf ich fragen, wie es Ihrer Mutter geht, Sir?«
»Sie ändert sich nicht, Hammond. Die Welt bekommt ihr schlecht.«
»Es tut mir Leid, das zu hören, Sir.« Hammond hängte Sandmans Mantel und Hut an einen Garderobenständer, an dem bereits viele andere Mäntel hingen. »Haben Sie eine Einladung?«, fragte er.
»Lady Forrest gibt einen musikalischen Nachmittag? Ich fürchte, ich war nicht eingeladen. Ich hatte gehofft, Sir Henry zu Hause anzutreffen, wenn nicht, kann ich ihm eine Nachricht hinterlassen.«
»Er ist zu Hause, Sir, ich bin sicher, dass er Sie gerne empfängt. Wenn Sie bitte im kleinen Salon warten würden?«
Der kleine Salon war doppelt so groß wie das Wohnzimmer des Hauses, das Sandman für seine Mutter und Schwester in Winchester gemietet hatte, was seine Mutter nie zu erwähnen vergaß, woran er aber im Augenblick nicht denken mochte. Also betrachtete er ein Gemälde mit weidenden Schafen und lauschte einem schmetternden Tenor, der hinter der Flügeltür zu den größeren Räumen im hinteren Teil des Hauses sang. Der Mann endete trällernd, Beifall erklang, und dann ging die Tür zur Diele auf und Sir Henry Forrest kam herein. »Mein lieber Rider!«
»Sir Henry.«
»Ein neuer französischer Tenor«, sagte Sir Henry bekümmert, »den man in Dover hätte aufhalten sollen.« Sir Henry hatte noch nie viel für die musikalischen Nachmittagsgesellschaften seiner Frau übrig gehabt und war gewöhnlich sorgsam darauf bedacht, sie zu meiden. »Ich hatte völlig vergessen, dass heute Nachmittag eine Gesellschaft stattfindet, sonst wäre ich in der Bank geblieben«, erklärte er und grinste Sandman verschmitzt an. »Wie geht es Ihnen, Rider?«
»Danke, gut. Und Ihnen, Sir?«
»Immer beschäftigt, Rider, immer beschäftigt. Der Stadtrat nimmt viel Zeit in Anspruch, Europa braucht Geld, das wir bereit stellen, zumindest klauben wir die Geschäfte auf, die Rothschild und Baring nicht wollen. Haben Sie die Getreidepreise gesehen? Letzte Woche kostete es in Norwich dreiundsechzig Schillinge. Können Sie das glauben?« Mit einem raschen Blick hatte Sir Henry Sandmans Kleidung gemustert, um festzustellen, ob seine Lage sich gebessert habe, und war zu dem Schluss gekommen, dass dies nicht der Fall war. »Wie geht es Ihrer Mutter?«
»Sie jammert«, sagte Sandman.
Sir Henry verzog das Gesicht. »Jammert, ja. Arme Frau.« Er schauderte. »Hat sie immer noch die Hunde?«
»Ich fürchte ja, Sir.« Sandmans Mutter überschüttete zwei laute, schlecht erzogene und stinkende Schoßhündchen mit ihrer Liebe.
Sir Henry holte zwei Zigarren aus der Schublade einer Anrichte. »Heute kann ich nicht im Wintergarten rauchen«, sagte er, »also lassen wir uns dafür hängen, dass wir den Salon verräuchern, was?« Er zündete eine Zunderbüchse und dann seine Zigarre an. Mit seiner leicht gebeugten Haltung, dem silbergrauen Haar und der bekümmerten Miene hatte er Sandman schon immer an Don Quixote erinnert, dieser Eindruck täuschte jedoch, wie zahlreiche seiner Konkurrenten zu spät erkannt hatten. Sir Henry, Sohn eines Apothekers, besaß ein Gespür für Geld, wie man es verdiente, einsetzte und vermehrte. Diese Fähigkeiten hatten dazu beigetragen, die Schiffe zu bauen, die Armee zu verpflegen und die Kanonen zu gießen, mit denen Napoleon besiegt wurde, und Sir Henry hatten sie den Adelstitel eingebracht, wofür seine Frau mehr als dankbar war. Kurz, er war ein talentierter Mann, wenn auch zögerlich im Umgang mit Menschen. »Es ist schön, Sie zu sehen, Rider«, sagte er nun aufrichtig, denn Sandman war einer der wenigen Menschen, in deren Gesellschaft Sir Henry sich wohl fühlte. »Wir haben uns viel zu lange nicht gesehen.«
»Ja, Sir Henry.«
»Was treiben Sie denn so?«
»Ich habe einen recht ungewöhnlichen Auftrag, Sir, der mich veranlasst, Sie um eine Gefälligkeit zu bitten.«
»Eine Gefälligkeit?« Sir Henry klang immer noch freundlich, aber aus seinem Blick sprach Vorsicht.
»Eigentlich möchte ich Hammond um etwas bitten, Sir.«
»Hammond?« Sir Henry schaute Sandman an, als sei er nicht sicher, ob er recht gehört habe. »Meinen Butler?«
»Vielleicht sollte ich es erst einmal erklären«, sagte Sandman.
»Das sollten Sie wohl.« Immer noch vor Verwunderung die Stirn runzelnd ging Sir Henry an die Anrichte und schenkte zwei Glas Brandy ein. »Sie trinken doch ein Gläschen mit mir? Es ist immer noch merkwürdig, Sie ohne Uniform zu sehen. Was möchten Sie denn nun von Hammond?«
Doch bevor Sandman zu einer Erklärung kam, öffnete sich die Flügeltür und Eleanor erschien. Das Licht aus dem großen Salon, das sie von hinten beschien, ließ ihr rotes Haar wie einen Heiligenschein wirken. Sie schaute Sandman an, atmete tief durch und strahlte dann ihren Vater an. »Mutter macht sich Sorgen, dass du das Duett versäumst, Papa.«
»Das Duett?«
»Die Schwestern Pearman haben wochenlang geübt, Papa«, erklärte Eleanor und schaute erneut Sandman an. »Rider«, sagte sie leise.
»Miss Eleanor«, sagte er förmlich und verbeugte sich.
Sie starrte ihn an. Hinter ihr im Salon saßen eine Reihe Gäste auf vergoldeten Stühlen mit Blick zum Wintergarten, wo zwei junge Damen gerade auf der Klavierbank Platz nahmen. Eleanor warf einen Blick auf sie und machte entschlossen die Tür zu. »Ich glaube, die Schwestern Pearman kommen auch ohne mich aus. Wie geht es dir, Rider?«
»Danke, gut.« Einen Augenblick hatte er gedacht, er bringe kein Wort über die Lippen. Er spürte Tränen in den Augen. Eleanor trug ein blassgrünes Seidenkleid mit gelben Spitzen an Brust und Manschetten. Ihr goldenes Halsband mit Bernstein hatte Sandman noch nie an ihr gesehen, was eine seltsame Eifersucht auf ihr Leben in den letzten sechs Monaten in ihm weckte. Ihm fiel ein, dass sie verlobt war und bald heiraten sollte, was ihn zutiefst verletzte, aber er bemühte sich, es nicht zu zeigen. »Mir geht es gut, und dir?«, wiederholte er.
»Ich bin untröstlich, dass es dir gut geht«, sagte Eleanor mit gespieltem Ernst. »Zu denken, dass es dir ohne mich gut gehen kann? Das ist Elend, Rider.«
»Eleanor«, mahnte ihr Vater.
»Ich mache nur Spaß, Papa, das ist erlaubt, was für so Weniges gilt.« Sie wandte sich an Sandman. »Bist du nur heute in der Stadt?«
»Ich wohne hier«, antwortete Sandman.
»Das wusste ich nicht.« Ihre grauen Augen wirkten riesig. Was hatte Sir George Phillips über sie gesagt? Ihre Nase sei zu lang, ihr Kinn zu spitz, ihr Haar zu rot und ihr Mund zu üppig. Alles das entsprach der Wahrheit, aber wenn Sandman sie nur anschaute, wurde ihm ganz schwindelig, als ob er die ganze Flasche Brandy getrunken hätte und nicht nur zwei Schluck. Er starrte sie an, sie erwiderte seinen Blick unverwandt, keiner sagte ein Wort.
»Hier in London?« Sir Henry brach das Schweigen.
»Sir?« Sandman zwang sich, Sir Henry anzusehen.
»Sie wohnen hier, Rider? In London?«
»In der Drury Lane, Sir.«
Sir Henry runzelte die Stirn. »Ist das nicht ein bisschen …«, er stockte, »gefährlich?«
»Es ist ein Gasthaus«, erklärte Sandman. »Ein Schütze aus Winchester hat es mir empfohlen, und erst als ich mich dort eingemietet hatte, merkte ich, dass es vielleicht keine sonderlich empfehlenswerte Adresse ist. Aber mir gefällt es.«
»Bist du schon lange hier?«, fragte Eleanor.
»Seit drei Wochen«, gab er zu, »ein bisschen länger.«
Sandman fand, sie sah aus, als habe er sie ins Gesicht geschlagen. »Und du hast dich nicht gemeldet?«
Sandman spürte, dass er rot wurde. »Ich wusste nicht recht, weshalb ich mich melden sollte«, antwortete er. »Ich dachte, dir wäre es lieber, wenn ich es nicht täte.«
»Falls du überhaupt gedacht hast«, sagte Eleanor schnippisch. Ihre Augen waren grau, fast rauchig, mit grünen Punkten.
Sir Henry deutete mit einer matten Geste auf die Tür. »Du versäumst das Duett, meine Liebe, und Rider ist gekommen, um Hammond zu sprechen, ausgerechnet Hammond. Stimmt es nicht, Rider? Eigentlich handelt es sich gar nicht um einen Besuch.«
»Hammond, ja«, bestätigte Sandman.
»Was willst du denn von Hammond?«, fragte Eleanor mit vor Neugier leuchtenden Augen.
»Ich denke, das besprechen die beiden besser miteinander«, sagte Sir Henry förmlich, »und natürlich mit mir«, fügte er hastig hinzu.
Eleanor überhörte ihren Vater völlig. »Was?«, fragte sie Sandman noch einmal.
»Das ist eine lange Geschichte, fürchte ich«, antwortete Sandman entschuldigend.
»Besser, als zuzuhören, wie die Schwestern Pearman das Mozartarrangement ihres Musiklehrers quälen«, sagte Eleanor, setzte sich und schaute ihn erwartungsvoll an.
»Meine Liebe«, setzte ihr Vater an, wurde aber sofort unterbrochen.
»Papa«, sagte Eleanor streng, »ich bin sicher, dass Rider von Hammond nichts möchte, was für die Ohren einer jungen Frau unschicklich wäre, und das ist mehr, als ich von den Vorträgen der Pearman-Mädchen sagen kann. Rider?«
Sandman unterdrückte ein Grinsen und erzählte seine Geschichte, die einige Verwunderung auslöste, da weder Eleanor noch ihr Vater Charles Corday mit Sir George Phillips in Verbindung gebracht hatten. Schlimm genug, dass die Countess of Avebury in der benachbarten Straße ermordet wurde, aber jetzt kam offenbar noch hinzu, dass Eleanor einige Zeit in Gesellschaft des verurteilten Mörders verbracht hatte. »Ich bin sicher, es ist derselbe junge Mann, obwohl sie ihn in meiner Gegenwart immer nur Charlie genannt haben«, sagte Eleanor. »Aber er übernahm allem Anschein nach einen Großteil der Arbeit.«
»Das war er wahrscheinlich«, bestätigte Sandman.
»Erzähle das besser nicht deiner Mutter«, mahnte Sir Henry leise.
»Sie wird glauben, ich sei um Haaresbreite einem Mord entgangen«, sagte Eleanor.
»Ich bezweifle, dass er ein Mörder ist«, wandte Sandman ein.
»Außerdem hattest du doch sicher eine Anstandsdame bei dir, nicht wahr?«, fragte Sir Henry seine Tochter.
»Selbstverständlich, Papa. Wir sind doch eine anständige Familie«, sagte sie mit einem Seitenblick auf Sandman.
»Die Countess war ebenfalls in Begleitung einer Anstandsdame«, sagte Sandman und erzählte von Meg. Er erklärte, dass er Dienstboten suche, die aus Gesprächen in der Nachbarschaft in Erfahrung bringen könnten, wo das Personal des Avebury-Hauses geblieben sei. Er entschuldigte sich ausgiebig, dass er überhaupt auf die Idee gekommen sei, Hammond in diese Sache hineinzuziehen. »Ich möchte natürlich den Dienstbotenklatsch keineswegs fördern.«
Eleanor fiel ihm ins Wort: »Sei nicht so zimperlich, Rider. Klatsch lässt sich weder fördern noch verhindern, er passiert einfach.«
»Die Wahrheit ist, dass die Dienstboten alle miteinander reden«, fuhr Sandman fort, »und wenn Hammond die Mädchen fragen könnte, was sie gehört haben …«
»Dann wirst du gar nichts erfahren«, unterbrach Eleanor ihn erneut.
»Meine Liebe«, mahnte ihr Vater.
»Nichts!«, bekräftigte Eleanor. »Hammond ist ein sehr guter Butler und ein bewundernswerter Christ, ich habe mir schon oft gedacht, dass er einen hervorragenden Bischof abgäbe, aber die Dienstmädchen haben alle Angst vor ihm. Nein, meine Zofe Lizzie müssen wir fragen.«
»Du kannst doch Lizzie nicht da hineinziehen!«, wandte ihr Vater ein.
»Warum denn nicht?«
»Weil das nicht geht«, erklärte ihr Vater, dem kein triftiger Grund einfiel. »Es wäre einfach nicht in Ordnung.«
»Es ist nicht in Ordnung, dass Corday hängen soll! Nicht, wenn er unschuldig ist. Und du, Papa, solltest das eigentlich wissen! Ich habe dich noch nie so entsetzt erlebt!«
Sandman schaute Sir Henry fragend an, der nur die Achseln zuckte. »Die Pflicht hat mich nach Newgate geführt«, erklärte er. »Wir Stadträte sind, wie ich erfahren habe, die Arbeitgeber des Henkers, und der Bursche hat einen Helfer beantragt. Da man nur ungern unnötig Geld ausgibt, sind zwei von uns hingegangen, um uns die Erfordernisse seiner Arbeit anzusehen.«
»Und habt ihr schon eine Entscheidung getroffen?«, fragte Eleanor.
»Wir folgen dem Rat des Sheriffs«, sagte Sir Henry. »Ich persönlich war eher geneigt, den Antrag abzulehnen, aber ich räume ein, dass es sich dabei lediglich um ein Vorurteil gegen den Henker gehandelt haben mag. Ich hielt ihn für einen üblen Burschen.«
»Kein Beruf, der Menschen mit besonderen charakterlichen Qualitäten anlocken würde«, merkte Eleanor trocken an.
»Botting, er heißt James Botting.« Sir Henry schauderte. »Eine Hinrichtung ist keine schöne Sache, Rider, haben Sie je eine gesehen?«
»Ich habe Männer gesehen, nachdem sie gehenkt wurden«, sagte Sandman und dachte an Badajoz mit seinen blutigen Feldern und den von Schreien erfüllten Straßen. Nachdem die britische Armee trotz heftigen Widerstandes der Franzosen die spanische Stadt eingenommen hatte, rächte sie sich furchtbar an den Bewohnern, und Wellington hatte dem Scharfrichter befohlen, die Wut der Rotröcke abzukühlen. »Plünderer wurden von uns aufgehängt«, erklärte er Sir Henry.
»Das mussten Sie wohl tun«, sagte Sir Henry. »Es ist ein grauenvoller Tod, grauenvoll. Aber natürlich notwendig, das bestreitet niemand …«
»Doch«, warf seine Tochter ein.
»Niemand, der bei gesundem Verstand ist, bestreitet es«, korrigierte ihr Vater seine Äußerung. »Aber ich hoffe, dass ich mir nie wieder eine Hinrichtung ansehen muss.«
»Ich würde gern eine sehen«, sagte Eleanor.
»Sei nicht albern«, herrschte ihr Vater sie an.
»Wirklich!«, beharrte Eleanor. »Ständig sagt man uns, Hinrichtungen dienten einem doppelten Zweck: den Schuldigen zu bestrafen und andere vor Straftaten abzuschrecken, aus diesem Grund werden sie auch als öffentliches Spektakel vollzogen. Meiner unsterblichen Seele wäre es also nur zuträglich, wenn ich eine Hinrichtung ansehen würde und damit gegen jegliches Verbrechen gefeit wäre, das zu begehen ich versucht sein könnte.« Sie schaute von ihrem verwirrten Vater zu Sandman und wieder zurück. »Du hältst es für unwahrscheinlich, dass ich eine Verbrecherin werden könnte, Papa? Das ist lieb von dir, aber ich bin sicher, bei dem Mädchen, das vergangenen Montag gehängt wurde, war es ebenso unwahrscheinlich.«
Sandman schaute Sir Henry an, der widerstrebend nickte. »Ja, sie haben ein junges Mädchen gehenkt, Rider. Ein ganz junges Ding.«
»Wenn ihr Vater sie mit zu einer Hinrichtung genommen hätte, hätte die Abschreckung sie vielleicht von ihrem Verbrechen abgehalten«, sagte Eleanor. »Man könnte sogar behaupten, dass du deiner Pflicht als Christ und Vater nicht nachkommst, wenn du mich nicht mit nach Newgate nimmst.«
Sir Henry starrte sie an und war sich nicht sicher, ob sie scherzte. Dann schaute er achselzuckend zu Sandman, als wolle er sagen, man könne seine Tochter nicht ernst nehmen. »Sie glauben also, dass meine Dienstboten etwas über diese Zofe Meg gehört haben könnten, Rider?«
»Ich habe es gehofft, Sir. Oder dass sie sich vielleicht bei anderen Dienstboten aus der Mount Street erkundigen könnten. Das Avebury-Haus ist kaum einen Steinwurf entfernt, und ich bin sicher, alle Dienstboten der Nachbarschaft kennen sich untereinander.«
»Lizzie kennt bestimmt alle«, sagte Eleanor spitz.
»Meine Liebe«, antwortete ihr Vater streng, »es geht hier um heikle Angelegenheiten, nicht um ein Spiel.«
Eleanor schaute ihren Vater entrüstet an. »Es geht um Dienstbotenklatsch, Papa, und darüber ist Hammond erhaben. Lizzie dagegen lebt davon.«
Sir Henry rutschte unbehaglich hin und her. »Es ist doch nicht gefährlich, oder?«, fragte er Sandman.
»Das kann ich mir nicht vorstellen, Sir. Wie Eleanor ganz richtig sagt, möchten wir lediglich wissen, wo die Zofe Meg ist, und das ist bloß Klatsch.«
»Lizzie kann ihre Frage ja damit erklären, dass einer unserer Kutscher ein Auge auf sie geworfen hat«, sagte Eleanor begeistert. Ihr Vater war nicht glücklich bei dem Gedanken, Eleanor in diese Geschichte hineinzuziehen, aber er war nahezu unfähig, seiner Tochter etwas abzuschlagen. Sie war sein einziges Kind, und er liebte sie so sehr, dass er ihr vielleicht sogar erlaubt hätte, Sandman trotz seiner Armut und der Schande seiner Familie zu heiraten, wenn Lady Forrest nicht andere Vorstellungen gehabt hätte. Eleanors Mutter hatte Rider Sandman immer nur als zweitbeste Wahl angesehen. Als die Verlobung stattfand, hatte Sandman zwar Aussichten auf erheblichen Wohlstand, der ihn in Lady Forrests Augen knapp zu einem passablen Schwiegersohn gemacht hätte, aber ihm fehlte das eine, was sie sich mehr als alles andere für ihre Tochter wünschte. Er hatte keinen Titel, und Lady Forrest träumte davon, dass Eleanor eines Tages Duchess, Marchioness, Countess oder zumindest eine Lady wäre. Sandmans plötzliche Mittellosigkeit hatte Lady Forrest einen Vorwand geliefert, zuzuschlagen, und so sehr Sir Henry seine Tochter auch verwöhnte, kam er doch nicht gegen den festen Entschluss seiner Frau an, dass ihr Kind die adelige Herrin marmorner Treppen, ausgedehnter Ländereien und weitläufiger Ballsäle werden sollte, die groß genug für eine Gästeschar in Brigadestärke wären.
Wenn Eleanor also schon nicht den Mann heiraten durfte, den sie wollte, würde er ihr wenigstens erlauben, ihre Zofe den Klatsch und Tratsch der Mount Street aufschnappen zu lassen. »Ich werde dir schreiben«, sagte Eleanor zu Sandman. »Wohin?«
»In das Wheatsheaf in der Drury Lane«, sagte Sandman.
Eleanor stand auf, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihren Vater auf die Wange. »Danke, Papa.«
»Wofür?«
»Weil du mich etwas Nützliches tun lässt, auch wenn es nur darin besteht, Lizzies Hang zu Tratsch zu fördern, und dir ebenfalls danke, Rider.« Sie schüttelte ihm die Hand. »Ich bin stolz auf dich.«
»Ich hoffe, das warst du immer schon.«
»Natürlich, aber es ist eine gute Sache, die du machst.« Sie hielt immer noch seine Hand, als die Tür aufging.
Lady Forrest kam herein. Sie hatte ebenso rotes Haar, war ebenso schön und ebenso willensstark wie ihre Tochter, auch wenn Eleanor die grauen Augen und die Intelligenz von ihrem Vater hatte. Lady Forrest machte große Augen, als sie sah, dass ihre Tochter Sandmans Hand hielt, aber sie rang sich ein Lächeln ab. »Captain Sandman«, begrüßte sie ihn in einem Ton, der Glas hätte zerschneiden können, »was für eine Überraschung.«
»Lady Forrest.« Sandman gelang es, sich trotz seiner gefangenen Hand zu verbeugen.
»Was machst du hier, Eleanor?« Lady Forrests Ton war nur knapp über dem Gefrierpunkt.
»Ich lese Rider aus der Hand, Mama.«
»Ach!« Lady Forrest war auf der Stelle fasziniert. Sie fürchtete die unpassende Zuneigung ihrer Tochter zu einem Habenichts, fühlte sich aber magisch zu der Idee übernatürlicher Kräfte hingezogen. »Mir will sie nie aus der Hand lesen«, sagte Lady Forrest. »Sie weigert sich. Also, was siehst du?«
Eleanor tat, als prüfe sie aufmerksam Sandmans Hand. »Ich sehe eine Reise.«
»Etwas Angenehmes, hoffe ich?«, sagte Lady Forrest.
»Nach Schottland«, sagte Eleanor.
»Um diese Jahreszeit kann es dort sehr schön sein«, stellte Lady Forrest fest.
Sir Henry war scharfsichtiger als seine Frau und erkannte darin einen drohenden Hinweis auf Gretna Green. »Es reicht, Eleanor«, sagte er ruhig.
»Ja, Papa.« Eleanor ließ Sandmans Hand los und knickste vor ihrem Vater.
»Was führt Sie her, Rider …« Fast hätte Lady Forrest sich vergessen, berichtigte sich aber schnell. »Captain?«
»Rider hat mir freundlicherweise ein Gerücht zugetragen, dass die Portugiesen ihre kurzfristigen Anleihen möglicherweise nicht einlösen können«, antwortete Sir Henry an Sandmans Stelle. »Was mich nicht überrascht, muss ich sagen. Wir haben von der Konversion abgeraten, wie du dich sicher erinnerst, meine Liebe.«
»Ja, Lieber, gewiss.« Lady Forrest war sich ganz und gar nicht sicher, gab sich aber mit dieser Erklärung zufrieden. »So, nun komm, Eleanor«, sagte sie. »Der Tee wird serviert, und du vernachlässigst unsere Gäste. Wir haben Lord Eagleton hier«, erklärte sie Sandman stolz.
Lord Eagleton war der Mann, den Eleanor angeblich heiraten sollte. Seine Erwähnung ließ Sandman zusammenzucken. »Ich bin mit Seiner Lordschaft nicht bekannt«, sagte er steif.
»Das ist kaum verwunderlich«, erwiderte Lady Forrest. »Er verkehrt nur in den besten Kreisen. Henry, musst du hier drin rauchen?«
»Ja, ich muss«, antwortete Sir Henry.
»Ich hoffe, Sie genießen Ihre Reise nach Schottland, Captain«, sagte Lady Forrest, führte ihre Tochter hinaus und schloss die Tür gegen den Zigarrenrauch.
»Schottland«, sagte Sir Henry finster und schüttelte den Kopf. »In Schottland werden nicht annähernd so viele gehenkt wie bei uns in England und Wales. Aber die Mordrate ist dort auch nicht höher, glaube ich.« Er schaute Sandman an. »Merkwürdig, finden Sie nicht?«
»Sehr merkwürdig, Sir.«
»Nun ja, ich nehme an, das Innenministerium weiß, was es tut.« Er drehte sich um und schaute brütend in den Kamin. »Es ist kein schneller Tod, Rider, ganz und gar nicht schnell, aber der Gefängnisverwalter war ungeheuer stolz auf das ganze Verfahren. Wollte unseren Beifall und bestand darauf, uns das ganze Gefängnis zu zeigen.« Sir Henry schwieg nachdenklich. »Wissen Sie, es gibt einen Korridor vom Gefängnis zum Gerichtsgebäude. Damit die Gefangenen zum Prozess nicht über die Straße gehen müssen. Vogelkäfiggang nennen sie ihn, dort werden die Gehenkten begraben. Frauen wohl auch, nehme ich an, aber das Mädchen, dessen Hinrichtung ich gesehen habe, wurde zu den Wundärzten gebracht, um aufgeschnitten zu werden.« Er hatte bisher auf die leere Feuerstelle gestarrt, aber nun schaute er zu Sandman auf. »Die Steinplatten in dem Gang wackelten, Rider, sie wackelten. Das kommt von den Gräbern darunter, die absacken. Sie hatten Fässer mit Kalk, um den Zerfall zu beschleunigen. Es war übel. Unglaublich übel.«
»Es tut mir Leid, dass Sie diese Erfahrung machen mussten«, sagte Sandman.
»Ich hielt es für meine Pflicht«, antwortete Sir Henry schaudernd. »Ich war mit einem Freund dort, er fand ein geradezu unanständiges Vergnügen an allem. Der Galgen ist gewiss notwendig, aber doch wohl nichts, woran man Gefallen finden könnte? Oder bin ich zu skrupulös?«
»Sie sind sehr hilfsbereit, Sir Henry, und ich bin Ihnen dankbar.«
Sir Henry nickte. »Es wird einen oder zwei Tage dauern, bis Sie eine Antwort bekommen, nehme ich an, aber hoffen wir, dass es hilft. Gehen Sie schon? Sie müssen unbedingt wiederkommen, Rider, kommen Sie wieder.« Er brachte Sandman in die Diele und half ihm in den Mantel.
Als Sandman ging, merkte er nicht einmal, ob es regnete.
Er dachte an Lord Eagleton. Eleanor hatte sich nicht benommen, als sei sie in Seine Lordschaft verliebt, sie hatte sogar ein eher angewidertes Gesicht gemacht, als sein Name fiel. Und das machte Sandman Hoffnung. Aber was hatte Liebe mit Ehe zu tun, fragte Sandman sich. Bei einer Heirat ging es um Geld, Land und Ansehen. Um ein Leben jenseits des wirtschaftlichen Ruins. Um den guten Ruf.
Und Liebe? Verdammt, dachte Sandman, aber er liebte.
Es regnete nicht mehr, der Spätnachmittag präsentierte sich sogar mit einem für London selten klaren Himmel. Alles wirkte klar, frisch gewaschen und unverdorben. Die Regenwolken waren nach Westen abgezogen und das vornehme London strömte auf die Straße. Offene Pferdewagen, gezogen von Gespannen mit gestriegeltem Fell und geflochtenen Mähnen, klapperten elegant zur täglichen Parade in den Hyde Park. Straßenkapellen wetteiferten miteinander, Trompeten schmetterten, Trommeln schlugen und Sammler schüttelten ihre Sammelbüchsen. Sandman nahm von alledem nichts wahr.
Er dachte an Eleanor, und als er keinem der Blicke und Nuancen in seiner Erinnerung mehr neue Hinweise auf ihre Absichten zu entringen vermochte, überlegte er, was er an diesem Tag erreicht hatte. Er hatte erfahren, dass Corday ihm weitgehend die Wahrheit gesagt hatte, er hatte seine Ansicht bestätigt gefunden, dass gelangweilte junge Aristokraten zu den unhöflichsten Menschen gehörten, und er hatte veranlasst, dass Eleanors Zofe sich auf die Suche nach Klatschgeschichten machte, aber in Wahrheit hatte er nicht viel in Erfahrung gebracht. Es gab nichts, was er Viscount Sidmouth hätte berichten können. Was sollte er also tun?
Darüber dachte er nach, als er in das Wheatsheaf zurückkehrte und seine Wäsche zu der Frau hinunterbrachte, die für jedes Hemd einen Penny verlangte und mit der er zwanzig Minuten plaudern musste, um sie nicht zu beleidigen. Anschließend flickte er seine Stiefel mit einer Segelmachernadel und Lederhandschutz, die er sich vom Wirt ausborgte, und versuchte einen Fleck im Ärmel seines Gehrocks auszubürsten. Von allen Nachteilen der Armut empfand er das Fehlen eines Dienstboten, der die Kleidung sauber hielt, als zeitraubendsten Mangel. Zeit hätte er dringend gebraucht. Er überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Nach Wiltshire fahren, sagte er sich. Lieber würde er auf die Fahrt verzichten, da sie weit und kostspielig war und er nicht die geringste Gewähr besaß, dort die Zofe Meg zu finden, aber wenn er wartete, bis er von Eleanor hörte, könnte es bereits zu spät sein. Es bestand eine gewisse Chance, dass man sämtliche Dienstboten aus dem Londoner Haus auf das Landgut des Earl geholt hatte. Also fahre hin, sagte er sich. Wenn er morgen früh die Postkutsche nähme, wäre er am frühen Nachmittag dort und könnte am nächsten Morgen mit der Postkutsche zurückfahren. Aber er scheute die Ausgaben. Er könnte auch die Frachtpostkutsche nehmen, die in jeder Richtung nicht mehr als ein Pfund kosten dürfte, damit würde er aber Wiltshire nicht vor dem Abend erreichen. Da er vermutlich zwei oder drei Stunden brauchen würde, das Haus des Earl of Avebury zu finden, würde er kaum vor Einbruch der Dunkelheit dort ankommen und musste bis zum nächsten Morgen warten, bevor er dort vorsprechen könnte, während er das Gut des Earl mit der Postkutsche spätestens am Nachmittag erreichen würde. Die Fahrt käme mindestens doppelt so teuer, aber Corday blieben nur noch fünf Tage Zeit. Sandman zählte sein Geld und wünschte, er hätte Sally nicht so großzügig zum Mittagessen eingeladen, schalt sich aber gleich für diesen wenig galanten Gedanken. Er ging zur Poststation Charing Cross und bezahlte zwei Pfund sieben Schillinge für den letzten von vier Sitzplätzen in der nächsten Morgenkutsche nach Marlborough.
Als er wieder ins Wheatsheaf kam, ging er in die Abstellkammer, wo er zwischen Bierfässern und reparaturbedürftigen Möbelstücken seine frisch geflickten Stiefel putzte. Die finstere, muffige Kammer wurde nicht nur von Ratten, sondern auch von Dodds, dem Laufburschen des Gasthauses, heimgesucht. Sandman saß auf einem Fass in einer dunklen Ecke, hörte Dodds’ unmelodisches Pfeifen und wollte ihm schon einen Gruß zurufen, als er eine fremde Stimme hörte. »Sandman ist nicht oben.«
»Ich habe ihn aber reinkommen sehen«, sagte Dodds in seiner üblichen aufsässigen Art.
Ganz leise zog Sandman seine Stiefel an. Die Stimme des Fremden war barsch und lud Sandman keineswegs dazu ein, sich zu erkennen zu geben. Vielmehr veranlasste sie ihn, sich eine Waffe zu suchen, er fand aber nur eine Fassdaube. Es war nicht viel, aber er hielt sie wie einen Degen, als er sich vorsichtig zur Tür schlich.
»Hast du was gefunden?«, fragte der Fremde.
»Das hier und einen Kricketschläger«, antwortete ein anderer Mann. Sandman, der immer noch im Schatten stand, beugte sich leicht vor und sah einen jungen Mann, der seinen Schläger und seinen Armeedegen hielt. Die beiden Männer waren offenbar in Sandmans Abwesenheit in seinem Zimmer gewesen, worauf einer von ihnen heruntergekommen war, um ihn zu suchen, während der andere sich in seinem Zimmer umgesehen und die beiden einzigen Dinge von Wert entdeckt hatte. Da Sandman es sich nicht leisten konnte, beides zu verlieren, blieb ihm nichts anderes übrig, als Schläger und Degen zu holen und herauszufinden, wer die beiden Männer waren.
»Ich schaue im Schankraum nach«, sagte der erste Mann.
»Bring ihn mir her«, befahl der Zweite und lieferte sich Sandman auf Gedeih und Verderb aus.
Sandman brauchte nur abzuwarten. Der erste Mann ging mit Dodds durch die Dienstbotentür und ließ den Zweiten im Gang stehen, wo er Sandmans Degen halb aus der Scheide zog und die Inschrift auf der Klinge betrachtete. So stand er immer noch da, als Sandman aus der Abstellkammer kam und ihm die Fassdaube wie einen Schlagstock in die Nieren rammte. Der Aufprall ließ das Holz zersplittern, der Mann machte stöhnend einen Satz nach vorn. Sandman ließ die Daube los, packte den Mann an den Haaren und zog ihn nach hinten. Der Mann ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, aber Sandman brachte ihn zu Fall, dass er rückwärts auf den Boden prallte, wo Sandman ihm in die Lenden trat. Der Mann schrie und krümmte sich vor Schmerz.
Sandman nahm Schläger und Degen, die auf den Boden gefallen waren. Der Kampf hatte nur wenige Sekunden gedauert, der Mann stöhnte und wand sich vor Schmerz, was allerdings nicht hieß, dass er sich nicht bald erholen würde. Da Sandman fürchtete, er könnte eine Schusswaffe bei sich haben, schob er mit der Degenscheide seinen Mantel auseinander.
Er erkannte eine schwarz-gelbe Livree. »Sie kommen aus dem Seraphim Club?«, fragte er. Der Mann keuchte etwas unter Schmerzen, allerdings eine Aufforderung, der Sandman nicht nachzukommen gedachte. Er beugte sich über den Mann, tastete seine Manteltaschen ab und fand eine Pistole, die er hastig herauszog, wobei er mit dem Spannhahn das Taschenfutter aufriss. »Ist sie geladen?«, fragte er.
Da der Mann lediglich seine Beschimpfung wiederholte, legte Sandman ihm den Lauf an die Schläfe und spannte die Waffe. »Ich frage noch einmal«, sagte er, »ist sie geladen?«
»Ja!«
»Warum sind Sie hier?«
»Sie wollten, dass wir Sie in den Club bringen.«
»Warum?«
»Ich weiß es nicht! Sie haben uns geschickt.«
Es war durchaus wahrscheinlich, dass der Mann mehr nicht wusste, daher trat Sandman einen Schritt zurück. »Verschwinden Sie«, sagte er. »Holen Sie Ihren Freund aus dem Schankraum und sagen Sie ihm, wenn er einem Soldaten Arger machen will, soll er eine Armee mitbringen.«
Der Mann schaute ihn vom Boden her ungläubig an. »Ich kann gehen?«
»Raus«, sagte Sandman und schaute zu, wie der Mann aufstand und aus dem Flur humpelte. Warum wollte man ihn im Seraphim Club haben? Warum schickten sie zwei Schläger, ihn zu holen? Warum schickten Sie ihm nicht einfach eine Einladung?
Er folgte dem humpelnden Mann in die Schänke, wo zahlreiche Gäste an den Tischen saßen. Ein blinder Fiedler stimmte in der Kaminecke sein Instrument und schaute mit blicklosen weißen Augen auf, als Sally Hood ängstlich aufschrie. Sie starrte auf die Waffe in Sandmans Hand. Er hob sie an und richtete die schwarze Mündung gegen die Decke, was die beiden Männer als Hinweis nahmen, die Flucht zu ergreifen. Sorgsam senkte Sandman die Waffe und schob sie in seinen Gürtel, als Sally zu ihm lief. »Was ist passiert?«, fragte sie und umklammerte in ihrer Angst Sandmans Arm.
»Alles in Ordnung, Sally«, beruhigte er sie.
»Das ist es verdammt noch mal nicht«, sagte sie. Sie schaute mit großen Augen an ihm vorbei, und Sandman hörte, wie eine Waffe gespannt wurde.
Er machte seinen Arm aus Sallys Umklammerung los, drehte sich um und sah eine Pistole mit langem Lauf, die zwischen seine Augen gerichtet war. Der Seraphim Club hatte nicht zwei Männer geschickt, ihn zu holen, sondern drei. Und dieser Dritte war, wie Sandman vermutete, der Gefährlichste von allen, denn es war Sergeant Berrigan, ehemals Feldwebel Seiner Majestät First Foot Guards. Er saß grinsend in einer Nische. Sally griff wieder nach Sandmans Arm und stöhnte leise vor Furcht.
»Es ist wie bei den französischen Dragonern, Captain«, sagte Sergeant Berrigan. »Wenn Sie die Kerle nicht gleich beim ersten Mal richtig verabschieden, kommen sie mit Sicherheit wieder, um Sie in die Falle zu locken.«
Und Sandman saß in der Falle.