7 Der Ruf des Bluts

Als die Bahre mit Mat aus den Gemächern der Amyrlin getragen wurde, wickelte Moiraine sorgfältig den Angreal — eine kleine, vom Alter dunkel angelaufene Elfenbeinstatue, die eine Frau in weiten Gewändern darstellte — in ein Seidentuch ein und steckte ihn in ihre Gürteltasche zurück. Die Zusammenarbeit mit einer anderen Aes Sedai, das Verschmelzen ihrer Fähigkeiten und gemeinsame Lenken der Einen Macht war selbst unter den besten Voraussetzungen eine ermüdende Arbeit, selbst mit Hilfe eines Angreals, und die ganze Nacht ohne Schlaf durcharbeiten zu müssen, stellte keine besonders gute Voraussetzung dar. Und die Arbeit mit dem Jungen war nicht gerade leicht gewesen.

Leane wies die Bahrenträger mit scharfen Gesten und ein paar knappen Worten hinaus. Die beiden Männer duckten sich ständig nervös, weil so viele Aes Sedai um sie herum waren, eine davon auch noch die Amyrlin persönlich. Dazu hatten sie die Macht benützt. Sie hatten im Korridor an die Wand gekauert gewartet, während drinnen die Arbeit getan wurde, und sie waren erpicht darauf, die Frauenquartiere verlassen zu können. Mat lag mit geschlossenen Augen und blassem Gesicht auf der Bahre, doch seine Brust hob und senkte sich im gleichmäßigen Rhythmus tiefen Schlafes.

Wie wird das die Entwicklung der Dinge beeinflussen? fragte sich Moiraine. Seine Mitwirkung ist nicht erforderlich, nun, da das Horn weg ist, aber...

Die Tür schloß sich hinter Leane und den Bahrenträgern und die Amyrlin atmete keuchend. »Eine böse Sache. Wirklich böse.« Ihre Gesichtszüge waren glatt doch sie rieb sich die Hände, als wolle sie sie waschen.

»Aber ziemlich interessant«, sagte Verin. Sie war die vierte Aes Sedai gewesen, die die Amyrlin für diese Arbeit auserwählt hatte. »Es ist zu dumm, daß wir den Dolch nicht haben, um so die Heilung abschließen zu können. Trotz alledem, was wir heute nacht getan haben, wird er nicht lange leben. Im besten Fall vielleicht einige Monate.« Die drei Aes Sedai waren allein in den Gemächern der Amyrlin. Hinter den Schießscharten überzog das erste Licht der Morgendämmerung den Himmel.

»Aber jetzt sind ihm wenigstens diese Monate gegeben«, sagte Moiraine scharf. »Und falls man ihn findet, kann die Verbindung immer noch unterbrochen werden.« Falls man ihn findet. Ja, natürlich.

»Sie kann noch unterbrochen werden«, stimmte Verin zu. Sie war eine mollige Frau mit einem breiten Gesicht, und selbst die den Aes Sedai eigene Gabe der Alterslosigkeit konnte nicht verhindern, daß ein Hauch von Grau über ihrem braunen Haar lag. Das war das einzige Anzeichen für ihr Alter, aber für eine Aes Sedai bedeutete das, daß sie wirklich sehr alt war. Ihre Stimme klang jedoch kräftig und entsprach ihren glatten Wangen. »Er war allerdings lange Zeit mit dem Dolch verbunden —lange Zeit, was solche Dinge eben betrifft. Und die Verbindung wird noch länger dauern, ob man ihn findet oder nicht. Er ist vielleicht jetzt schon jenseits aller Heilkunst verändert, wenn auch nicht mehr so stark, daß er andere damit anstecken könnte. Ein so kleines Ding, dieser Dolch«, überlegte sie laut, »aber er verdirbt jeden, der ihn lange genug trägt. Und der ihn trägt, wird dann wieder diejenigen anstecken, die mit ihm in Berührung kommen, und die wiederum andere, und so werden Haß und Mißtrauen, die Shadar Logoth zerstört haben, die jeden Mann und jede Frau gegeneinander kämpfen ließen, wieder die Welt überziehen. Ich frage mich, wie viele Menschen in, sagen wir, einem Jahr angesteckt werden können. Es sollte möglich sein, eine relativ wirklichkeitsnahe Anzahl zu berechnen.«

Moiraine warf der Braunen Schwester einen ironischen Blick zu. Wir stehen einer neuen Gefahr gegenüber, und sie hört sich an, als ginge es um ein Rätsel aus einem Buch. Licht, die Braunen haben wirklich keine Ahnung vom Leben. »Dann müssen wir den Dolch finden, Schwester. Agelmar schickt Männer aus, um jene zu jagen, die das Horn stahlen und seine Männer töteten, die gleichen, die auch den Dolch nahmen. Wenn man das eine findet, hat man auch das andere.«

Verin nickte, zog aber gleichzeitig die Stirn kraus. »Und doch, wer könnte ihn sicher zurückbringen, falls man ihn findet? Wer auch immer ihn berührt, riskiert den Fluch des Dolchs, wenn er ihm zu lange zu nahe ist. Vielleicht in einer Truhe, gut ausgepolstert und eingepackt, aber er wäre trotzdem noch gefährlich für jemanden, der ihm längere Zeit über zu nahe ist. Ohne den Dolch selbst zu haben, um ihn genau zu studieren, können wir nicht sicher sein, wie er abgeschirmt werden muß. Aber du hast ihn doch gesehen und noch mehr, Moiraine. Du hast dich darum gekümmert und erreicht, daß dieser junge Mann ihn tragen und doch überleben konnte, ohne einen anderen anzustecken. Du mußt doch eine Ahnung haben, wie stark sein Einfluß ist.«

»Es gibt einen«, sagte Moiraine, »der den Dolch zurückholen kann, ohne durch ihn in Gefahr zu kommen. Einer, den wir gegen den Fluch abgeschirmt und gesichert haben, so gut es nur ging. Mat Cauthon.«

Die Amyrlin nickte. »Ja, natürlich. Er kann es schaffen. Wenn er lang genug lebt. Das Licht weiß, wie weit er mitgeschleppt wird, bis Agelmars Männer ihn finden. Falls sie ihn finden. Und wenn der Junge zuerst stirbt... na ja, wenn der Dolch so lange draußen und vielleicht unter Menschen ist, dann haben wir noch ein Problem am Hals.« Sie rieb sich müde die Augen. »Ich glaube, wir müssen auch diesen Padan Fain finden. Warum ist dieser Schattenfreund so wichtig für sie, daß sie ein solches Risiko eingingen, um ihn zu retten? Es wäre viel leichter für sie gewesen, nur das Horn zu stehlen. Es ist immer noch so riskant wie ein Wintersturm im Meer der Stürme, wenn man so in die Festung eindringt, aber sie vervielfachten ihr Risiko, um diesen Schattenfreund zu befreien. Wenn ihn die Lurks für so wichtig halten« — sie unterbrach sich, und Moiraine wußte, daß sie sich fragte, ob es wirklich nur die Myrddraal waren, die die Befehle gaben — »dann müssen wir es auch.«

»Er muß gefunden werden«, stimmte Moiraine zu und hoffte, daß die Dringlichkeit, die sie dabei empfand, nicht zu sehen war, »und es ist wohl am wahrscheinlichsten, daß er bei dem Horn zu finden ist.«

»Wie du sagst, Tochter.« Die Amyrlin preßte sich die Hand auf den Mund, um ein Gähnen zu unterdrücken. »Und nun, Verin, wenn du mich entschuldigen würdest. Ich will nur noch ein paar Worte mit Moiraine sprechen und dann ein wenig schlafen. Ich fürchte, Agelmar wird darauf bestehen, heute abend zu feiern, nachdem das Fest letzten Abend verdorben wurde. Deine Hilfe war von unschätzbarem Wert, Tochter. Bitte denke daran, nichts über die Natur der Verletzung des Jungen zu irgend jemandem zu sagen. Es gibt ein paar deiner Schwestern, die gern den Schatten in ihm sehen würden.«

Es war nicht nötig, die Roten Ajah zu erwähnen. Und vielleicht, dachte Moiraine, sind die Roten nicht mehr die einzigen, denen man mißtrauen mußte.

»Ich werde natürlich nichts sagen, Mutter.« Verin verbeugte sich, machte aber keine Anstalten, zur Tür zu gehen. Sie zog ein kleines Notizbuch, in weiches, braunes Leder gebunden, aus ihrer Gürteltasche. »Was an die Wände im Kerker geschrieben wurde. Es gab kaum Probleme beim Übersetzen. Das meiste waren wie üblich Blasphemien und Prahlereien. Trollocs scheinen sonst recht wenig zu wissen. Aber es gab einen Teil, der in besserer Schrift geschrieben war. Von einem gebildeten Schattenfreund oder vielleicht einem Myrddraal. Es könnte nur eine Art von Herausforderung sein, aber es steht dort in Form eines Gedichts oder Lieds und klingt wie eine Prophezeiung. Wir wissen wenig über die Prophezeiungen des Schattens, Mutter.«

Die Amyrlin zögerte nur einen Moment, bevor sie nickte. Prophezeiungen des Schattens, düstere Prophezeiungen, gingen unglücklicherweise genauso in Erfüllung wie die des Lichts. »Lies vor!«

Verin blätterte kurz, räusperte sich und begann mit ihrer ruhigen, gleichmäßigen Stimme zu lesen.

»Tochter der Nacht, sie wandelt wieder. In den uralten Kampf greift sie ein. Ihren neuen Liebhaber sucht sie, der ihr dienen und sterben und auch dann noch dienen wird. Wer kann ihrem Kommen widerstehn? Die Leuchtende Mauer wird niederknien.

Blut nährt Blut. Blut ruft Blut.

Blut ist und Blut war und Blut wird immer sein.

Ein Mann lenkt Eine Macht und steht allein. Er opfert seine Freunde. Zwei Wege liegen vor ihm: der eine führt zum Tode nach dem Tod, der andre zum ew'gen Leben. Welchen wird er wählen? Welchen wird er wählen? Welche Hand schützt? Welche Hand tötet?

Blut nährt Blut. Blut ruft Blut.

Blut ist und Blut war und Blut wird immer sein.

Luc kam zu den Bergen des Verderbens. Isam wartete am hohen Paß.

Die Jagd hat nun begonnen. Die Hunde des Schattens sind losgelassen und töten. Einer überlebte, und einer starb, aber beide existieren. Die Zeit der Veränderung ist gekommen.

Blut nährt Blut. Blut ruft Blut.

Blut ist und Blut war und Blut wird immer sein.

Die Wächter warten auf der Toman-Halbinsel. Die Saat des Hammers verbrennt den uralten Baum. Der Tod wird säen, und der Sommer wird brennen, bevor der Große Herr kommt. Der Tod wird ernten, und Körper werden versagen, bevor der Große Herr kommt. Wieder tötet der Same das uralte Unrecht, bevor der Große Herr kommt. Nun kommt der Große Herr.

Nun kommt der Große Herr.

Blut nährt Blut. Blut ruft Blut.

Blut ist und Blut war und Blut wird immer sein. Nun kommt der Große Herr.«

Als sie endete, schwiegen alle lange.

Schließlich sagte die Amyrlin: »Wer hat das noch gesehen, Tochter? Wer weiß davon?«

»Nur Serafelle, Mutter. Sobald wir es abgeschrieben hatten, ließ ich die Wände von Männern abschrubben. Sie fragten nicht weiter; sie waren froh, die Schmierereien loszuwerden.«

Die Amyrlin nickte. »Gut. Zu viele in den Grenzlanden können die Trolloc-Schrift halbwegs lesen. Nicht nötig, ihnen noch mehr Kopfzerbrechen zu bereiten. Sie haben schon genug.«

»Wirst du daraus schlau?« fragte Moiraine Verin vorsichtig. »Ist es eine Prophezeiung, oder was denkst du?«

Verin hielt den Kopf schräg und betrachtete nachdenklich ihre Notizen. »Möglich. Es hat jedenfalls die Form einiger der wenigen Prophezeiungen des Schattens, die wir kennen. Und Teile davon sind klar genug. Es könnte natürlich trotzdem einfach ein Täuschungsmanöver sein.« Sie legte einen Finger auf eine bestimmte Zeile. »»Tochter der Nacht, sie wandelt wieder.‹ Das kann nur bedeuten, daß Lanfear wieder frei ist. Oder jemand möchte, daß wir das glauben.«

»Das wäre etwas, um uns Kopfzerbrechen zu bereiten, Tochter«, sagte die Amyrlin, »falls es stimmt. Aber die Verlorenen sind immer noch gefangen.« Sie sah Moiraine an, und einen Moment lang wirkte sie besorgt, bevor sie ihre Gesichtszüge wieder unter Kontrolle hatte. »Selbst wenn die Siegel brüchig werden, sind die Verlorenen noch immer gefangen.«

Lanfear. In der Alten Sprache: Tochter der Nacht. Nirgends war ihr wirklicher Name aufgezeichnet, aber diesen Namen hatte sie angenommen, im Gegensatz zu den meisten der Verlorenen, die ihre Namen von denen erhalten hatten, die sie betrogen. Einige behaupteten, sie sei in Wirklichkeit neben Ishamael, dem Verräter aller Hoffnung, die mächtigste der Verlorenen gewesen, habe aber ihre wahren Kräfte verborgen. Zuwenig aus dieser Zeit war noch bekannt, als daß irgendein Historiker das sicher behaupten konnte.

»Bei all den falschen Drachen, die jetzt auftauchen, ist es keine Überraschung, daß irgend jemand nun auch Lanfear ins Spiel bringt.« Moiraines Stimme klang so glatt wie ihr Gesicht aussah, aber innerlich war sie aufgewühlt. Es war über Lanfear außer ihrem Namen nur eines bekannt: Bevor sie zum Schatten überging, bevor Lews Therin Telamon Ilyena traf, war Lanfear seine Geliebte gewesen. Eine Komplikation, die wir nicht brauchen können.

Die Amyrlin runzelte die Stirn, als habe sie an das gleiche gedacht, aber Verin nickte, als seien das alles einfach nur Worte. »Auch andere Namen sind klar, Mutter. Lord Luc war natürlich der Bruder von Tigraine, der Tochter-Erbin von Andor, und er verschwand in der Fäule. Wer Isam ist und was er mit Luc zu tun hatte, weiß ich allerdings nicht.«

»Wir werden alles mit der Zeit herausfinden, was wir wissen müssen«, sagte Moiraine verbindlich. »Es gibt noch keinen Beweis dafür, daß es wirklich eine Prophezeiung ist.«

Sie kannte den Namen. Isam war der Sohn von Breyan gewesen, der Frau des Lain Mandragoran, deren Versuch, den Thron von Malkier für ihren Mann zu gewinnen, die Trolloc-Horden herbeigelockt hatte. Breyan und ihr kleiner Sohn waren verschwunden, als die Trollocs Malkier überrannten. Und Isam war ein Blutsverwandter Lans gewesen. Ist er wirklich ein Blutsverwandter Lans? Ich darf ihn das nicht wissen lassen, bevor ich weiß, wie er reagiert. Bis wir weit von der Fäule entfernt sind. Falls er glaubt, Isam sei noch am Leben...

»›Die Wächter warten auf der Toman-Halbinsel‹«, fuhr Verin fort. »Es gibt einige, die immer noch an der alten Weissagung festhalten, daß das von Artur Falkenflügel über das Aryth-Meer gesandte Heer eines Tages zurückkehren wird, obwohl, nach dieser langen Zeit... « Sie schnaubte abwertend. »Die Do Miere A'vron, die Wächter der Wogen, bilden immer noch eine... Gemeinschaft — das ist, glaube ich, der beste Ausdruck —auf der Toman-Halbinsel, in Falme. Und einer der alten Namen für Artur Falkenflügel war Hammer des Lichts.«

»Willst du damit sagen, Tochter«, sagte die Amyrlin, »daß Artur Falkenflügels Heer, oder besser, die Nachkommen seines Heeres, tatsächlich nach tausend Jahren zurückkehren könnten?«

»Es gibt Gerüchte über Kämpfe in der Ebene von Almoth und auf der Toman-Halbinsel«, sagte Moiraine bedächtig. »Und Falkenflügel sandte zwei seiner Söhne mit seinem Heer. Falls sie in jenen Ländern überlebt haben sollten, könnte es viele Nachkommen Falkenflügels geben. Oder auch keinen.«

Die Amyrlin warf Moiraine einen warnenden Blick zu. Offensichtlich wollte sie mit ihr allein sein, damit sie Moiraine fragen konnte, was sie vorhabe. Moiraine machte eine beruhigende Geste, und ihre alte Freundin verzog das Gesicht.

Verin, die die Nase immer noch in ihre Notizen gesteckt hatte, bemerkte nichts von alledem. »Ich weiß nicht, Mutter. Aber ich bezweifle es. Wir wissen gar nichts über die Länder, die Falkenflügel erobern wollte. Es ist zu schade, daß sich die Meerleute weigern, das Aryth-Meer zu überqueren. Sie behaupten, auf der anderen Seite lägen die Inseln der Toten. Ich wünsche, ich wüßte, was das bedeuten soll, aber diese verfluchte Verschlossenheit des Meervolks... « Sie seufzte, hob aber den Kopf noch immer nicht. »Alles, was wir haben, ist ein Hinweis auf ›Länder unter dem Schatten, jenseits der untergehenden Sonne, jenseits des Aryth-Meeres, wo die Heere der Nacht regieren‹. Nichts, was uns sagen könnte, ob das von Falkenflügel ausgesandte Heer ausreichte, um diese ›Heere der Nacht‹ zu besiegen oder wenigstens, um Falkenflügels Tod zu überdauern. Sobald einmal der Hundertjährige Krieg angefangen hatte, war jeder zu sehr darauf bedacht, ein Stück von Falkenflügels Reich abzubekommen, um an das übers Meer gesandte Heer zu denken. Mutter, ich meine, falls ihre Nachkommen noch leben und eine Rückkehr planen, hätten sie doch nicht so lange gewartet.«

»Dann glaubst du, daß es keine Prophezeiung ist, Tochter?«

»Nun zu dem ›uralten Baum‹«, sagte Verin gedankenverloren. »Es hat immer schon Gerüchte gegeben — mehr war es nicht —, als die Nation von Almoth noch Bestand hatte, daß sie einen Avendesora-Zweig oder vielleicht sogar einen lebendigen Schößling hätten. Und die Flagge von Almoth zeigte ›Blau für den Himmel, Schwarz für die Erde und den sich ausbreitenden Baum des Lebens, der beides verbindet‹. Natürlich bezeichnen sich die Taraboner als der Baum der Menschen, und sie behaupten, Nachkommen von Herrschern und Adligen aus dem Zeitalter der Legenden zu sein. Und die Domani wieder nehmen für sich in Anspruch, von denen abzustammen, die im Zeitalter der Legenden den Baum des Lebens geschaffen haben. Es gibt noch weitere Möglichkeiten, aber Ihr seht, Mutter, daß gerade diese drei sich auf die Ebene von Almoth und die TomanHalbinsel beziehen.«

Die Stimme der Amyrlin färbte sich täuschend sanft: »Könntest du dich bitte entscheiden, Tochter? Wenn die Nachkommen Artur Falkenflügels nicht zurückkehren, dann ist dies auch keine Prophezeiung, und es ist völlig gleichgültig, welcher uralte Baum nun gemeint sein mag.«

»Ich kann Euch lediglich sagen, was ich weiß, Mutter«, sagte Verin und blickte von ihren Notizen auf, »und Euch die Entscheidung darüber überlassen. Ich glaube, daß die letzten Überlebenden von Artur Falkenflügels Heer vor langer Zeit gestorben sind, aber weil ich das glaube, muß es noch lange nicht so sein. In der Zeit der Veränderungen wird natürlich vom Ende eines Zeitalters gesprochen, und der Große Herr... «

Die Amyrlin klatschte auf die Tischfläche, daß es wie ein Donnerschlag klang. »Ich weiß sehr gut, wer der Große Herr ist, Tochter. Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst.« Sie atmete tief durch und beherrschte sich sichtlich. »Geh, Verin. Ich will nicht böse auf dich sein. Ich will nicht vergessen, wer die Köche dazu brachte, daß sie nachts ein paar Süßigkeiten draußen liegen ließen, als ich noch Novizin war.«

»Mutter«, sagte Moiraine, »hier steht nichts, was auf eine Prophezeiung hinweist. Jeder, der ein bißchen Verstand und Wissen besitzt, könnte so etwas zusammenschreiben, und keiner hat je behauptet, daß Myrddraal keinen schlauen Verstand besäßen.«

»Und dann«, sagte Verin gelassen, »ist natürlich der Mann, der die Macht lenkt, einer der drei jungen Männer, die mit dir gekommen sind, Moiraine.«

Moiraine riß vor Schreck die Augen auf. Weltfremd? Ich bin der Narr hier! Bevor ihr klar wurde, was sie tat, hatte sie schon ihren Geist nach dem pulsierenden Glühen ausgestreckt, das sie immer dort fühlen konnte, das auf sie wartete — die Wahre Quelle. Die Eine Macht strömte durch ihre Adern, lud sie mit Energie auf und dämpfte das Strahlen der Macht um die Amyrlin. Sie hatte offensichtlich dasselbe getan. Moiraine hatte noch nie auch nur daran gedacht, die Eine Macht gegen eine andere Aes Sedai einzusetzen. Wir leben in gefährlichen Zeiten, und das Schicksal der Welt hängt an einem Faden. Deshalb muß man tun, was zu tun ist. Es muß sein. O Verin, warum mußtest du deine Nase in Dinge stecken, die dich nichts angehen?

Verin schloß ihr Notizbuch und steckte es hinter ihren Gürtel zurück. Dann blickte sie von einer zur anderen. Sie konnte gar nicht anders, als die Aura wahrzunehmen, die beide jeweils umgab, das Licht, das von der Berührung der Wahren Quelle herrührte. Nur jemand, der selbst darin geübt war, die Macht zu lenken, konnte das Glühen bemerken, aber es gab keine Möglichkeit, daß eine Aes Sedai so etwas bei einer anderen Frau übersah. Ein Hauch von Befriedigung überflog Verins Gesicht, aber kein Zeichen des Erkennens, daß sie einen Blitz geschleudert hatte. Sie wirkte nur, als habe sie ein weiteres Stück gefunden, das in ihr Puzzle paßte. »Ja, ich dachte mir das schon. Moiraine konnte das nicht alleine fertigbringen, und wer könnte ihr eher helfen als ihre Jugendfreundin, die damals mit ihr zusammen heruntergeschlichen ist, um Süßigkeiten zu naschen.« Sie blinzelte. »Vergebt mir, Mutter. Das hätte ich nicht sagen sollen.«

»Verin, Verin.« Die Amyrlin schüttelte staunend den Kopf. »Du beschuldigst deine Schwester — und mich? —... Ich sage es lieber nicht. Und dann bist du besorgt, daß du zu vertraulich mit der Amyrlin gesprochen hast? Du bohrst ein Loch in ein Boot und machst dir Sorgen darüber, daß es regnet. Denk einmal daran, was du da angedeutet hast, Tochter!«

Dazu ist es zu spät, Siuan, dachte Moiraine. Wenn wir in unserer Panik nicht zur Wahren Quelle gegriffen hätten... Aber jetzt ist sie sicher. »Warum sagst du uns das, Verin?« fragte sie laut. »Wenn du das glaubst, was du sagst, solltest du es den anderen Schwestern mitteilen, besonders den Roten.«

Verins Augen weiteten sich überrascht. »Ja. Ja, ich glaube, das sollte ich tun. Daran hatte ich nicht gedacht. Aber falls ich das täte, würde man dich, Moiraine, und Euch, Mutter, einer Dämpfung unterziehen, und natürlich den Mann auch. Niemand hat jemals die Entwicklung eines Mannes verfolgt, der die Eine Macht benützen kann. Wann genau setzt der Wahnsinn ein, und auf welche Art macht er sich bemerkbar? Wie schnell wächst er an? Kann er noch funktionieren, wenn sein Körper bereits verfault? Wie lange hält er aus? Falls er keine Dämpfung erfährt, wird mit dem jungen Mann das geschehen — welcher der drei er auch sein mag —, was eben in einem solchen Fall geschieht, ob ich nun dabei bin und alles aufschreibe oder nicht. Wenn er aber beobachtet und angeleitet wird, sollten wir in der Lage sein, alles mit einiger Sicherheit aufzuzeichnen; jedenfalls eine Weile lang. Und außerdem ist ja da auch noch der Karaethon-Zyklus.« Sie erwiderte ruhig ihre überraschten Blicke. »Ich glaube doch, Mutter, daß er der Wiedergeborene Drache ist? Ich kann nicht glauben, daß Ihr all dies tun würdet — einen Mann frei herumlaufen lassen, der die Macht lenken kann —, wenn er nicht der Drache wäre.«

Sie denkt nur daran, neue Kenntnisse zu erwerben, dachte Moiraine erstaunt. Alles spitzt sich auf den Höhepunkt der schlimmsten Prophezeiung zu, die die Welt kennt, vielleicht sogar auf das Ende der Welt, und sie interessiert sich nur dafür, Wissen zu erwerben. Aber auch so ist sie noch gefährlich.

»Wer weiß sonst noch davon?« Die Stimme der Amyrlin klang noch schwach, doch gleichzeitig scharf. »Serafelle, schätze ich. Wer noch, Verin?«

»Niemand, Mutter. Serafelle interessiert sich nicht sehr für etwas, was noch niemand in einem Buch festgehalten hat, und das sollte auch noch möglichst lang so sein. Sie glaubt, es seien mehr als zehnmal so viele alte Bücher und Manuskripte und Fragmente überall verstreut, verlorengegangen oder vergessen worden, als wir in Tar Valon zusammengetragen haben. Sie ist sicher, daß noch genug der alten Kenntnisse zu finden seien, um... «

»Genug, Schwester«, sagte Moiraine. Sie ließ die Wahre Quelle entschlüpfen und fühlte, wie die Amyrlin einen Augenblick später dasselbe tat. Es war wie immer ein Verlust, wenn man fühlte, wie die Macht wegrann, als sickerten Blut und Leben aus einer offenen Wunde. Ein Teil ihrer selbst wollte sie festhalten, aber im Gegensatz zu einigen ihrer Schwestern hatte sie es sich zur Regel gemacht, sich nicht von dieser Sehnsucht beherrschen zu lassen. »Setz dich, Verin, und sag uns, was du weißt und wie du es herausgefunden hast. Laß nichts aus.«

Als Verin sich einen Stuhl holte — nach einem unsicheren Blick zur Amyrlin, ob sie sich in ihrer Gegenwart setzen dürfe —, betrachtet Moiraine sie traurig.

»Es ist unwahrscheinlich«, begann Verin, »daß jemand, der nicht die alten Schriften gründlich studiert hat, irgend etwas bemerken würde, außer eben, daß Ihr Euch eigenartig benehmt. Vergebt mir, Mutter. Es war vor fast zwanzig Jahren, als Tar Valon belagert wurde, daß ich einen ersten Hinweis bekam, und das war nur... «

Licht hilf mir, Verin, wie ich dich liebte, der Süßigkeiten wegen und dafür, daß ich mich an deinem Busen ausweinen konnte. Aber ich werde tun, was sein muß. Bestimmt. Ich muß.

Perrin blickte vorsichtig um die Ecke auf den sich entfernenden Rücken der Aes Sedai. Sie roch nach Lavendelseife, obwohl die meisten das noch nicht einmal aus der Nähe bemerkt hätten. Sobald sie außer Sicht war, eilte er zur Tür der Krankenstation. Er hatte schon einmal versucht, Mat zu besuchen, und diese Aes Sedai — er hatte gehört, wie jemand Leane zu ihr gesagt hatte — hätte ihm beinahe den Kopf abgerissen, ohne sich überhaupt umzusehen, wer es war. Er fühlte sich in Gegenwart von Aes Sedai nicht wohl, besonders wenn sie ihm in die Augen starrten.

Er blieb an der Tür kurz stehen und lauschte — er konnte zu beiden Seiten des Korridors keine Schritte hören und auch nichts von der anderen Türseite her —, dann ging er hinein. Er schloß die Tür leise hinter sich.

Die Krankenstation war ein langer Raum mit weißgetünchten Wänden. Die Durchgänge zu den Balkonen für die Bogenschützen an beiden Enden ließen eine Menge Licht hereinfallen. Mat lag in einem der engen Betten an der Wand. Nach den Ereignissen des letzten Abends erwartete Perrin, daß die meisten Betten von Männern besetzt seien, aber er kam schnell darauf, daß die Festung ja voll von Aes Sedai war. Das einzige, was die Aes Sedai nicht mit ihrer Heilkunst vermeiden konnten, war der Tod. Aber für ihn roch der Raum trotzdem nach Krankheit.

Perrin verzog das Gesicht bei diesem Gedanken. Mat lag ruhig da, die Augen geschlossen und die Hände auf der Bettdecke. Er wirkte erschöpft. Nicht wirklich krank, eher als habe er drei Tage auf dem Acker geschuftet und sich jetzt gerade erst zum Schlafen niedergelegt. Er roch... irgendwie falsch. Es war nichts Greifbares. Einfach — falsch.

Perrin setzte sich vorsichtig auf das Bett neben dem Mats. Er machte alles vorsichtig. Er überragte die meisten Menschen und war auch, so lange er sich zurückerinnern konnte, immer schon größer als die anderen Jungen gewesen. Er hatte einfach vorsichtig sein müssen, um niemanden aus Versehen zu verletzen oder Sachen zu beschädigen. Jetzt war es ihm längst zur zweiten Natur geworden. Er überlegte auch gern gründlich und besprach sich manchmal mit anderen. Aber Rand bildet sich ein, er sei ein Lord, und so kann ich nicht mit ihm reden Mat wird sicher auch nicht viel zu sagen haben.

Letzte Nacht war er in einen der Gärten gegangen, um nachzudenken. Er schämte sich bei der Erinnerung daran noch ein wenig. Wäre er nicht gegangen, hätte er sich statt dessen in seinem Zimmer befunden, dann wäre er mit Egwene und Mat gegangen und hätte sie vielleicht davor bewahren können, verletzt zu werden. Wahrscheinlicher allerdings läge er jetzt wie Mat in einem dieser Betten oder wäre gar tot, aber das änderte nichts an seinen Gefühlen. Was auch immer, er war in den Garten gegangen, und was ihm jetzt Kopfzerbrechen bereitete, hatte nichts mit dem Angriff der Trollocs zu tun.

Dienerinnen und eine von Lady Amalisas Hofdamen, Lady Timora, hatten ihn gefunden, wie er dort in der Dunkelheit saß. Sobald sie ihn gesehen hatten, schickte Timora eine der anderen los, und er hatte gehört, wie sie sagte: »Suche schnell Liandrin Sedai! Schnell!«

Sie hatten dagestanden und ihn beobachtet, als dächten sie, er werde gleich wie ein Gaukler in einer Rauchwolke verschwinden. Das war zu der Zeit, als die erste Alarmglocke zu läuten begann und jedermann in der Festung losgerannt war.

»Liandrin«, murmelte er jetzt. »Rote Ajah. Alles, was sie tun, ist Männer zu jagen, die die Eine Macht benützen können. Du glaubst doch nicht, daß sie mich für einen davon hält, oder?« Mat antwortete natürlich nicht. Perrin rieb sich reuevoll die Nase. »Jetzt führe ich schon Selbstgespräche. Das geht nun wirklich nicht an.«

Mats Augenlider zuckten. »Wer... ? Perrin? Was ist passiert?« Seine Augen öffneten sich nicht ganz, und seine Stimme klang, als schlafe er noch halb.

»Erinnerst du dich nicht, Mat?«

»Erinnern?« Mat hob sich schläfrig langsam eine Hand vors Gesicht und ließ sie dann seufzend wieder fallen. »Erinnere mich... Egwene. Bat mich... hinunterzugehen zu Fain.« Er lachte, und das Lachen wandelte sich zu einem Gähnen. »Sie bat nicht... hat es mir befohlen... Weiß nicht, was geschah... « Er schmatzte mit den Lippen und verfiel wieder in das tiefe, gleichmäßige Atmen des Schlafes.

Perrin sprang auf, als er das Geräusch sich nähernder Schritte hörte, aber er fand keine Zuflucht. Er stand immer noch neben Mats Bett, als sich die Tür öffnete und Leane hereinkam. Sie blieb stehen, stemmte die Hände in die Hüften und musterte ihn langsam von oben bis unten. Sie war beinahe so groß wie er.

»Also«, sagte sie in ruhigem, aber knappem Tonfall. »Du bist beinahe schon ein so hübscher Junge, daß ich mir wünschte, ich gehörte zu den Grünen. Beinahe. Aber wenn du meinen Patienten gestört hast... na ja, ich bin mit Brüdern fertiggeworden, die fast so groß waren wie du, bevor ich zur Weißen Burg kam, also mußt du nicht glauben, daß deine breiten Schultern dir helfen werden.«

Perrin räusperte sich. In der Hälfte aller Fälle verstand er nicht, was Frauen meinten, wenn sie ihm so etwas sagten. Nicht wie Rand. Er weiß immer, was man Mädchen sagen muß. Ihm wurde klar, daß er finster dreinblickte, und so machte er schnell wieder ein unbeteiligtes Gesicht. Er wollte nicht über Rand nachdenken wollte aber ganz gewiß auch keine Aes Sedai verärgern, besonders eine, die nun ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden klopfte. »Äh... ich habe ihn nicht gestört. Er schläft immer noch. Seht Ihr?«

»Tut er das? Gut für dich. Also, was machst du hier? Ich erinnere mich, daß ich dich schon einmal hinausgejagt habe. Du brauchst nicht zu denken, daß ich das nicht mehr weiß.«

»Ich wollte nur wissen, wie es ihm geht.«

Sie zögerte. »Er schläft, und das genügt. In ein paar Stunden wird er aufstehen, und du wirst denken, es habe ihm nie etwas gefehlt.«

Als sie so zögerte, sträubten sich ihm die Nackenhaare. Irgendwie log sie. Aes Sedai logen niemals, aber sie sagten auch nicht immer die Wahrheit. Er war sich nicht sicher, was vorging — Liandrin suchte nach ihm, Leane log ihn an —, aber er glaubte, es sei an der Zeit, sich von den Aes Sedai abzusetzen. Er konnte auch nichts für Mat tun.

»Danke«, sagte er. »Dann lasse ich ihn wohl am besten schlafen. Entschuldigt mich.«

Er versuchte, um sie herum durch die Tür zu schlüpfen, aber plötzlich schossen ihre Hände vor und ergriffen sein Gesicht. Sie zog es schräg herunter, damit sie ihm in die Augen sehen konnte. Etwas schien ihn zu durchlaufen, eine warme Welle, die oben beim Kopf begann und bis zu den Füßen schwappte und dann wieder zurück. Er zog den Kopf aus der Umklammerung ihrer Hände.

»Du bist so gesund wie ein junges wildes Tier«, sagte sie und spitzte die Lippen. »Aber ich will ein Weißmantel sein, wenn du mit diesen Augen geboren wurdest!«

»Das sind die einzigen Augen, die ich jemals hatte«, grollte er. Ihm war ein bißchen kribbelig zumute, weil er in diesem Ton mit einer Aes Sedai sprach, aber er überraschte sich selbst noch mehr, als er sie sanft an den Armen packte und auf die Seite hob. Er setzte sie neben der Tür wieder ab. Als sie sich ansahen, fragte er sich, ob seine Augen genauso vor Schreck geweitet seien wie ihre. »Entschuldigt mich«, sagte er nochmals und rannte beinahe aus der Tür.

Meine Augen. Meine vom Licht verfluchten Augen! Die Morgensonne fiel auf seine Augen, und sie schimmerten wie mattes Gold.

Rand warf sich auf seinem Bett herum und versuchte, auf der dünnen Matratze eine bequemere Lage zu finden. Sonnenschein fiel durch die Schießscharten herein und färbte die kahlen Steinwände golden. Er hatte den Rest der Nacht über nicht geschlafen und war sicher, so müde er sich auch fühlte, daß er auch jetzt nicht schlafen konnte. Das Lederwams lag am Fußboden zwischen seinem Bett und der Wand, aber davon abgesehen war er komplett angezogen. Sogar seine neuen Stiefel hatte er an. Sein Schwert hatte er an das Bett gelehnt, und Bogen sowie Köcher ruhten in einer Ecke auf den gebündelten Umhängen.

Er wurde das Gefühl nicht los, daß er die Gelegenheit wahrnehmen sollte, die ihm Moiraine verschafft hatte, und sofort aufbrechen. Diesen Drang hatte er die ganze Nacht über gespürt. Dreimal war er aufgestanden, um zu gehen. Zweimal hatte er sogar schon die Tür geöffnet. Der Flur war bis auf ein paar Diener, die ihren nächtlichen Aufgaben nachgingen, leer gewesen; der Weg frei. Aber er mußte erst etwas in Erfahrung bringen.

Perrin kam mit gesenktem Kopf und gähnend herein. Rand setzte sich auf. »Wie geht es Egwene? Und Mat?«

»Sie schläft, hat man mir gesagt. Sie ließen mich nicht in das Frauenquartier, um sie zu besuchen. Mat ist... « Plötzlich blickte Perrin mit bösem Gesicht den Boden an. »Wenn du daran so interessiert bist, warum bist du dann nicht selbst gegangen und hast ihn besucht? Ich dachte, du hättest kein Interesse mehr an uns. Das hast du selbst gesagt.« Er öffnete sein Abteil des Kleiderschranks und kramte nach einem sauberen Hemd.

»Ich war auf der Krankenstation, Perrin. Es war eine Aes Sedai dort, die große, die immer bei der Amyrlin steckt. Sie sagte, Mat schliefe und ich sei im Weg und könne später einmal wiederkommen. Sie klang wie Meister Thane, wenn er seine Männer in der Mühle herumkommandierte. Du weißt, wie Meister Thane ist: immer geht er gleich hoch, und man muß alles beim ersten Mal richtig machen und zwar sofort!«

Perrin antwortete nicht. Er ließ lediglich seinen Mantel fallen und zog sich das Hemd über den Kopf aus.

Rand betrachtete einen Moment lang den Rücken seines Freundes und bemühte sich dann um ein Lachen. »Willst du etwas hören? Weißt du, was sie zu mir gesagt hat? Die Aes Sedai in der Krankenstation meine ich. Du hast gesehen, wie groß sie ist. Genauso groß wie die meisten Männer. Eine Handbreit größer, und sie könnte mir beinahe geradewegs in die Augen schauen. Na ja, sie hat mich von oben bis unten gemustert und dann gemurmelt: ›Groß bist du. Wo warst du, als ich noch sechzehn war? Oder sogar dreißig?‹ Und dann lachte sie, als sei es ein Scherz gewesen. Was hältst du davon?«

Perrin zog sich ein frisches Hemd über und sah ihn von der Seite her an. Mit seinen mächtigen Schultern und dem Lockenkopf machte er auf Rand den Eindruck eines verwundeten Bären. Eines Bären, der nicht verstand, warum man ihn verwundet hatte.

»Perrin, es... «

»Wenn du dich über eine Aes Sedai lustig machen willst«, unterbrach Perrin ihn, »dann ist das deine Sache. Mein Lord.« Er stopfte sein Hemd in die Hose. »Ich verbringe nicht viel Zeit damit, mich — geistreich ist wohl der richtige Ausdruck — mich geistreich mit Aes Sedai zu unterhalten. Aber ich bin ja auch nur ein unbeholfener Hufschmied und könnte jemandem im Weg stehen. Mein Lord.« Er schnappte sich seinen Mantel vom Boden und ging in Richtung Tür.

»Licht noch mal, Perrin, es tut mir leid. Ich hatte Angst, und ich dachte, ich sei in Schwierigkeiten —vielleicht war ich das auch und bin es noch, ich weiß nicht —, und ich wollte dich und Mat nicht mit hineinziehen. Licht, letzte Nacht haben sämtlich Frauen nach mir gesucht. Ich denke, das ist ein Teil der Schwierigkeiten, in denen ich mich befinde. Ich glaube es jedenfalls. Und Liandrin... Sie...« Er warf resignierend die Hände hoch. »Perrin, glaub mir, du solltest in so etwas nicht hineingezogen werden.«

Perrin war stehengeblieben, aber er stand mit dem Gesicht zur Tür gewandt und drehte den Kopf nur soweit, daß Rand ein goldenes Auge sehen konnte. »Sie haben dich gesucht? Vielleicht suchten sie nach uns allen.«

»Nein, sie suchten nach mir. Ich wünschte, es wäre nicht so, aber ich weiß es besser.«

Perrin schüttelte den Kopf. »Liandrin suchte jedenfalls mich. Das weiß ich. Ich habe es gehört.«

Rand runzelte die Stirn. »Warum sollte sie... ? Aber das ändert nichts. Schau mal, ich habe das Maul aufgerissen und gesagt, was ich nicht sagen sollte. Ich habe es nicht so gemeint, Perrin. Würdest du mir jetzt bitte sagen, wie es um Mat steht?«

»Er schläft. Leane — das ist die Aes Sedai — sagte, er werde in ein paar Stunden auf den Beinen sein.« Er zuckte unsicher die Achseln. »Ich glaube, sie hat gelogen. Ich weiß, Aes Sedai lügen nie, jedenfalls nicht so, daß man sie dabei ertappen kann, aber sie log entweder oder hielt etwas zurück.« Er schwieg einen Moment lang und sah Rand von der Seite her an. »Du hast alles nicht so gemeint? Wir reisen hier zusammen ab? Du und ich und Mat?«

»Ich kann nicht, Perrin. Ich kann dir nicht sagen, warum, aber ich muß wirklich all... Perrin, warte!«

Die Tür schlug hinter seinem Freund zu.

Rand ließ sich auf das Bett zurückfallen. »Ich kann es dir doch nicht sagen«, murmelte er. Er trommelte mit den Fäusten auf die Seitenbretter des Bettes. »Ich kann nicht.«

Aber du kannst jetzt gehen, sagte eine Stimme in seinem Hinterkopf. Egwene kommt wieder in Ordnung, und Mat wird in ein, zwei Stunden wieder aufstehen. Also kannst du jetzt gehen. Bevor Moiraine ihre Meinung ändert.

Er wollte sich gerade aufsetzen, als ihn ein lautes Klopfen an die Tür hochschießen ließ. Falls das Perrin war — nein, der würde nicht anklopfen. Wieder klopfte es laut.

»Wer ist da?«

Lan schritt herein und schob die Tür mit dem Absatz seines Stiefels hinter sich zu. Wie üblich trug er sein Schwert über einem einfachen grünen Mantel, der im Wald kaum auffiel. Diesmal allerdings hatte er sich eine breite goldene Kordel oben um den linken Arm herumgebunden. Die Fransen am Ende hingen ihm fast bis zum Ellbogen. Auf den Knoten war ein fliegender goldener Kranich aufgesteckt, das Wahrzeichen von Malkier.

»Die Amyrlin will dich sehen, Schafhirte. So kannst du aber nicht gehen. Zieh ein anderes Hemd an, und kämm dir auch die Haare. Du siehst aus wie ein Heuhaufen.« Er riß den Kleiderschrank auf und kramte in den Kleidern, die Rand hatte zurücklassen wollen.

Rand stand stocksteif da. Er hatte das Gefühl, von einem Hammer auf den Kopf getroffen worden zu sein. Natürlich hatte er das auf gewisse Weise erwartet, aber er war sicher gewesen, bereits nicht mehr da zu sein, wenn die Ladung erfolgte. Sie weiß Bescheid. Licht, da bin ich ganz sicher. »Was meinst du damit, sie will mich sehen? Ich bin im Gehen, Lan. Du hattest recht. Ich wollte gerade zum Stall gehen, mein Pferd holen und losreiten.«

»Das hättest du gestern abend tun sollen.« Der Behüter warf ein weißes Seidenhemd auf das Bett. »Niemand weigert sich, zu einer Audienz bei der Amyrlin zu gehen, Schafhirte. Nicht einmal der Kommandeur der Weißmäntel würde das wagen. Pedron Niall würde vielleicht den Weg dorthin benützen, um Mordpläne zu schmieden, für den Fall, daß er sie ausführen und heil wieder herauskommen könnte, aber kommen würde er.« Er wandte sich mit einem der hochgeschlossenen Mäntel in der Hand Rand zu und hielt ihn hoch. »Der hier geht.« Verschlungene wilde Rosen mit langen Dornen schlangen sich in einer breiten, mit Gold besetzten Borte um die Ärmel und Manschetten. Auf dem goldbesetzten Kragen waren ebenso goldene Reiher zu sehen. »Auch die Farbe stimmt.« Er schien sich über irgend etwas zu amüsieren oder wirkte zumindest befriedigt. »Los, komm, Schafhirte. Wechsle dein Hemd. Beweg dich!«

Zögernd streifte Rand das rauhe Arbeitshemd über den Kopf. »Ich fühle mich wie ein Narr«, sagte er leise. »Ein Seidenhemd! Ich habe noch nie in meinem Leben ein Seidenhemd getragen. Und auch noch nie so einen feinen Mantel — nicht einmal an einem Feiertag.« Licht, wenn Perrin mich darin sieht... Licht noch mal, nach all diesem idiotischen Geschwätz von mir, ein Lord zu sein, wird er nie wieder auf mich hören, wenn er mich darin sieht.

»Du kannst nicht wie ein frisch vom Stall gekommener Laufbursche vor die Amyrlin treten, Schafhirte. Laß mich mal deine Stiefel sehen. Die sind in Ordnung. Also, los dann, auf! Man läßt die Amyrlin nicht warten. Trag dein Schwert.«

»Mein Schwert!« Das Seidenhemd über seinem Kopf dämpfte Rands Aufschrei. Er zog es mit einem Ruck ganz herunter. »In den Frauenquartieren! Lan, wenn ich zu einer Audienz mit der Amyrlin — der Amyrlin! — gehe und dabei ein Schwert trage, wird sie... «

»Gar nichts tun«, unterbrach ihn Lan trocken. »Falls die Amyrlin vor dir Angst hat — und es ist besser für dich, wenn du das nicht glaubst, denn ich kenne nichts, was dieser Frau Angst einjagen würde —, dann gewiß nicht eines Schwertes wegen. Nun denke daran: wenn du vor sie trittst, kniest du nieder. Natürlich nur auf ein Knie, ja?« fügte er scharf hinzu. »Du bist nicht irgendein Kaufmann, den man beim falschen Abwiegen erwischt hat. Vielleicht solltest du es kurz mal üben.«

»Ich glaube, ich weiß, wie es geht. Ich sah, wie die königliche Garde vor Königin Morgase kniete.«

Ein Anflug von Lächeln spielte um den Mund des Behüters. »Ja, mache es genau wie sie. Das wird ihnen zu denken geben.«

Rand runzelte die Stirn. »Warum sagst du mir das, Lan? Du bist Behüter. Du handelst, als wärst du auf meiner Seite.«

»Ich bin auf deiner Seite, Schafhirte. Ein wenig. Genug, um dir auch ein wenig zu helfen.« Das Gesicht des Behüters war steinern und mitfühlende Worte in dieser rauhen Stimme klangen eigenartig. »Was du an Übung hattest, habe ich dir vermittelt, und ich will nicht, daß du kriechst und bettelst. Das Rad webt uns alle in das Muster hinein, wie es will. Du hast weniger Bewegungsfreiheit als die meisten in dieser Hinsicht, aber beim Licht, du kannst deinem Schicksal wenigstens aufrecht entgegensehen. Denke daran, wer die Amyrlin ist, Schafhirte, und zeige den ihr zustehenden Respekt, aber tu auch, was ich dir sage, und blicke ihr ins Auge. Na, und nun steh nicht da und halte Maulaffen feil. Steck dein Hemd hinein.«

Rand schloß den Mund und stopfte das Hemd in die Hose. Daran denken, wer sie ist? Licht noch mal, ich würde etwas darum geben, wenn ich vergessen könnte, wer sie ist!

Lan fuhr mit seinen Instruktionen fort, während Rand in den roten Mantel schlüpfte und sein Schwert gürtete. Was er sagen sollte und zu wem und was er nicht sagen sollte. Was er tun sollte und was nicht. Sogar, wie er sich bewegen sollte. Er war nicht sicher, ob er alles im Kopf behalten konnte — das meiste klang eigenartig und leicht zu vergessen —, doch er war sicher, das, was er vergaß, würde bestimmt geeignet sein, die Aes Sedai wütend zu machen. Wenn sie das nicht schon sind. Wenn Moiraine es der Amyrlin gesagt hat, wem dann noch?

»Lan, warum kann ich nicht einfach auf dem Weg fortlaufen, den ich geplant hatte? Wenn ihr schließlich klar ist, daß ich nicht komme, bin ich schon eine Meile weit weg und galoppiere frei davon.«

»Und sie würde Kundschafter auf deine Fährte jagen, bevor du zwei Meilen weg wärst. Was die Amyrlin will, Schafhirte, das bekommt sie.« Er zog Rands Schwertgurt zurecht, so daß die schwere Schnalle genau in der Mitte war. »Was ich tue, ist für dich das beste von allem, was in meiner Macht steht. Glaub es mir ruhig.«

»Aber warum all das? Was hat es zu bedeuten? Warum lege ich mir die Hand aufs Herz, wenn die Amyrlin aufsteht? Warum lehne ich alles bis auf Wasser ab — nicht, daß ich mit ihr essen möchte —, und tröpfle dann etwas auf den Boden und sage: ›Das Land dürstet‹? Und wenn sie mich fragt, wie alt ich bin, warum soll ich ihr dann sagen, wie lange es her ist, seit ich das Schwert bekam? Ich verstehe die Hälfte von dem nicht, was du mir gesagt hast.«

»Drei Tropfen, Schäfer, und nicht gießen. Du verspritzt lediglich drei Tropfen. Du kannst es später verstehen; Hauptsache, du erinnerst dich jetzt daran.

Nimm es eben als Bräuche, die man aufrechterhalten muß. Die Amyrlin wird dich behandeln, wie sie muß. Wenn du glaubst, du könntest es vermeiden, dann glaubst du auch, du könntest wie Lenn zum Mond fliegen. Du kannst nicht entkommen, aber vielleicht kannst du ihr eine Weile lang die Stirn bieten und wenigstens dabei deinen Stolz bewahren. Licht, verseng mich, ich verschwende wahrscheinlich meine Zeit, aber ich habe gerade nichts Besseres zu tun. Halt still!« Der Behüter zog ein Stück einer langen, goldenen Kordel mit Fransen am Ende aus seiner Tasche und band sie mit einem komplizierten Knoten um Rands linken Arm. Auf den Knoten steckte er eine rot emaillierte Anstecknadel: einen Adler mit ausgebreiteten Schwingen. »Ich ließ das anfertigen, um es dir zu geben, und das kann ich genausogut jetzt gleich tun. Das wird ihnen zu denken geben.« Diesmal gab es keinen Zweifel: Der Behüter lächelte.

Rand sah mit sorgenvollem Gesicht auf die Nadel hinunter. Caldazar. Der Rote Adler von Manetheren. »Ein Dorn im Fuß des Dunklen Königs«, murmelte er, »und ein Stachel in seiner Hand.« Er blickte den Behüter an. »Manetheren ist längst tot und vergessen, Lan. Es ist nur noch ein Name in einem Buch. Es gibt nur die Zwei Flüsse. Was ich auch sonst sein mag, ich bin Schäfer und Bauer. Das ist alles.«

»Nun, das Schwert, das nicht zerbrochen werden konnte, splitterte am Ende doch, aber es kämpfte bis zum letzten Hieb gegen den Schatten. Es gibt eine Regel, die über allem steht, wenn man ein Mann ist: Was auch kommt, tritt ihm aufrecht entgegen. Bist du jetzt fertig? Die Amyrlin wartet.«

Mit einem eiskalten Kloß im Magen folgte Rand dem Behüter in den Flur.

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