9 Abschied

Der Außenhof befand sich in geordnetem Aufruhr, als Rand schließlich mit seinen Satteltaschen und dem Bündel samt Harfe und Flöte ankam. Die Sonne kletterte der Mittagshöhe entgegen. Männer eilten zwischen den Pferden herum, prüften Sattelgurte und Ladegeschirr und schrien hin und her. Andere hetzten mit Dingen zu den Packpferden, an die sie in letzter Minute gedacht hatten, oder brachten den arbeitenden Männern Wasser oder eilten weg, um etwas zu holen, was ihnen gerade eingefallen war. Aber jeder schien genau zu wissen, was er tat und wohin er zu gehen hatte. Die Wehrgänge und die Balkone der Bogenschützen waren wieder besetzt, und die Vormittagsluft knisterte vor Erregung. Hufe klapperten über die Pflastersteine. Eines der Packpferde schlug aus, und Stallburschen rannten hin, um es zu beruhigen. Pferdegeruch hing dicht in der Luft. Der Wind zerrte an Rands Umhang, so, wie er die Flaggen mit dem fliegenden Falken auf den Türmen zum Flattern brachte, doch der über seinen Rücken geschlungene Bogen hielt den Umhang fest.

Außerhalb des geöffneten Tors formierten sich die Lanzenträger und Bogenschützen der Amyrlin auf dem Platz. Sie waren von einem Seitenausgang heranmarschiert. Einer der Trompeter probierte sein Instrument aus.

Ein paar der Behüter sahen Rand neugierig an, als er über den Hof schritt. Einige zogen die Augenbrauen beim Anblick des Reiherzeichens auf seinem Schwert hoch, aber keiner sprach ihn deswegen an. Die Hälfte trug diese Art von Umhängen, die man kaum ansehen konnte, ohne daß einem schwindlig wurde. Mandarb, Lans Hengst, stand da, hoch im Rist und schwarz und mit wilden Augen, aber sein Besitzer war nicht da, genausowenig wie sämtliche Aes Sedai bisher erschienen waren. Moiraines weiße Stute Aldieb tänzelte kokett neben dem Hengst.

Rands brauner Hengst befand sich bei der anderen Gruppe auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes. Dort warteten Ingtar, ein Bannerträger, der Ingtars Banner mit der Grauen Eule hielt, und zwanzig gerüstete Männer, deren Lanzen zwei Fuß lange Stahlspitzen aufwiesen; alle bereits zu Pferde. Ihre Visiere hatten sie heruntergelassen, und die Schuppenpanzer wurden von den goldenen Wappenröcken mit dem Schwarzen Falken auf der Brust verdeckt. Nur Ingtars Helm trug eine Verzierung: einen Halbmond, der mit nach oben zeigenden Enden über der Stirn angebracht war. Rand erkannte einige der Männer. Uno mit der unflätigen Ausdrucksweise, mit einer langen Narbe im Gesicht und nur einem Auge. Ragan und Masema. Andere, mit denen er ein paar Worte gewechselt oder ein Brettspiel gespielt hatte. Ragan winkte ihm zu, und Uno nickte, doch Masema war der einzige, der ihn kalt anblickte und sich dann abwandte. Ihre Packpferde standen ruhig mit gelegentlich zuckenden Schweifen da.

Der große Braune tänzelte, als Rand die Satteltaschen und das Bündel hinter dem hochgezogenen Sattel festschnallte. Er setzte seinen Fuß in den Steigbügel und murmelte: »Nur mit der Ruhe, Roter«, während er sich in den Sattel schwang. Dann ließ er den Hengst ein bißchen von seiner im Stall angestauten Energie austoben.

Zu Rands Überraschung erschien Loial aus der Richtung der Ställe und ritt heran, um sich ihnen anzuschließen. Das zottige Reittier des Ogiers war so groß und schwer wie ein hochdotierter Dhurran-Hengst. Neben ihm wirkten alle anderen Tiere, als seien sie etwa so groß wie Bela, doch mit Loial im Sattel sah dann dieses Pferd selbst wie ein Pony aus. Loial trug keine für Rand sichtbare Waffe. Er hatte auch nie von einem Ogier gehört, der eine Waffe gebraucht hätte. Ihr Stedding war Schutz genug. Und Loial hatte seine eigenen Anschauungen darüber, was er für eine Reise benötigte. Die Taschen seines langen Mantels beulten sich verdächtig aus, und seine Satteltaschen zeigten die rechteckigen Abdrücke von Büchern.

Der Ogier ließ sein Pferd ein Stück entfernt stehenbleiben und sah Rand an. Seine behaarten Ohren zuckten unschlüssig.

»Ich wußte nicht, daß du mitkommst«, sagte Rand. »Ich dachte, du hättest langsam genug davon, mit uns zu reisen. Diesmal kann man nicht vorhersagen, wie lange es dauern wird oder wo wir schließlich landen.«

Loials Ohren hoben sich ein wenig. »Das wußte man auch nicht, als ich dich zum erstenmal traf. Außerdem, was damals galt, gilt auch jetzt noch. Ich kann die Chance nicht verstreichen lassen, zuzuschauen, wie sich die tatsächliche Geschichte um ta'veren herum webt. Und zu helfen, das Horn zu finden... «

Mat und Perrin ritten hinter Loial heran und hielten an. Mat wirkte um die Augen herum ein wenig müde, aber sein Gesicht strotzte vor Gesundheit.

»Mat«, sagte Rand. »Was ich gesagt habe, tut mir leid. Perrin, ich habe es nicht so gemeint. Ich war einfach blöd.«

Mat sah ihn nur an, schüttelte dann den Kopf und flüsterte Perrin etwas zu, das Rand nicht verstehen konnte. Mat hatte nur seinen Bogen und den Köcher dabei, aber Perrin trug auch wieder seine Axt am Gürtel — die große, halbmondförmige Klinge an ihrem dicken Schaft.

»Mat? Perrin? Ich wollte wirklich nicht... « Sie ritten weiter auf Ingtar zu. »Das ist aber kein Mantel für eine lange Reise, Rand«, sagte Loial.

Rand blickte hinunter auf die goldenen Dornen, die den purpurroten Ärmel erkletterten, und er schnitt eine Grimasse. Kein Wunder, daß Mat und Perrin immer noch glauben, ich hielte mich für was Besseres. Als er in sein Zimmer zurückgekehrt war, hatte er alles leer vorgefunden — das Gepäck war bereits fertig gepackt und weggebracht worden. Alle einfachen Mäntel, die man ihm gegeben hatte, befanden sich auf den Packpferden, sagten die Diener. Jeder im Schrank zurückgebliebene Mantel war mindestens ebenso prachtvoll wie der, den er anhatte. In seinen Satteltaschen befand sich keine Kleidung außer ein paar Hemden, einigen Wollstrümpfen und einem Paar Reservehosen. Zumindest hatte er die goldene Schnur von seinem Ärmel entfernt; die Anstecknadel mit dem roten Adler hatte er in die Tasche gesteckt. Lan hatte sie ihm ja schließlich geschenkt.

»Ich werde mich umziehen, wenn wir heute abend lagern«, murmelte er. Er atmete tief ein. »Loial, ich habe dir Sachen gesagt, die ich nicht hätte sagen sollen, und ich hoffe, du kannst mir vergeben. Du hast jedes Recht, auf mich zornig zu sein, aber ich hoffe, du bist es nicht.«

Loial grinste, und seine Ohren stellten sich auf. Er brachte sein Pferd näher heran. »Ich sage die ganze Zeit über Sachen, die ich nicht sagen sollte. Die Ältesten haben immer behauptet, ich rede schon eine Stunde, bevor ich denke.«

Plötzlich befand sich Lan neben Rands Steigbügeln. Er trug seine graugrüne Rüstung, in der er im Wald oder bei Dunkelheit fast nicht mehr zu sehen war. »Ich muß mit dir sprechen, Schafhirte.« Er sah Loial an. »Allein bitte, wenn es Euch recht ist, Erbauer.« Loial nickte und ritt auf seinem riesigen Pferd ein Stück weg.

»Ich weiß nicht, ob ich auf Euch hören sollte«, sagte Rand zu dem Behüter. »Diese auffallende Kleidung und alles, was Ihr mir empfohlen habt, war nicht sehr hilfreich.«

»Wenn du keinen großen Sieg erringen kannst, Schafhirte, dann lerne, dich mit kleinen abzufinden. Wenn du es fertiggebracht hast, daß sie glauben, du seist mehr als ein Bauernjunge, den man leicht herumkommandieren kann, dann hast du einen kleinen Sieg errungen. Jetzt sei ruhig und hör zu. Ich habe nur Zeit für eine letzte Lektion — die schwerste: Schwert in die Scheide.«

»Ihr habt jeden Morgen eine Stunde damit verbracht, mich nichts anderes tun zu lassen, als dieses blöde Schwert zu ziehen und zurück in die Scheide zu stecken. Stehend, sitzend, liegend. Ich denke, ich schaffe es, das Schwert zurückzustecken, ohne mich dabei zu schneiden.«

»Ich sagte, du sollst zuhören, Schafhirte«, grollte der Behüter. »Es wird eine Zeit kommen, wo du unter allen Umständen ein Ziel erreichen mußt. Das kann sowohl beim Angreifen als auch in der Verteidigung geschehen. Und der einzige mögliche Weg wird darin bestehen, daß du deinem Gegner erlaubst, das Schwert in deinem eigenen Körper unterzubringen.«

»Das ist ja verrückt«, sagte Rand. »Warum sollte ich je...?«

Der Behüter schnitt ihm das Wort ab. »Du wirst es erkennen, wenn es soweit ist, Schafhirte, wenn der Zweck das Opfer wert ist und du keine andere Wahl mehr hast. Das nennt man dann ›Schwert in die Scheide‹. Merke es dir.«

Die Amyrlin erschien und schritt mit Leane und deren Stab sowie Lord Agelmar neben sich über den Hof. Selbst in einem grünen Samtmantel wirkte der Herr von Fal Dara keineswegs deplaziert unter so vielen gerüsteten Männern. Von den anderen Aes Sedai war noch nichts zu sehen. Als sie vorbeikamen, hörte Rand einen Teil ihrer Unterhaltung.

»Aber Mutter«, protestierte Agelmar gerade, »Ihr habt gar keine Zeit gehabt, Euch von der Reise hierher auszuruhen! Bleibt doch noch ein paar Tage. Ich verspreche Euch ein Fest heute abend, wie Ihr es kaum in Tar Valon erwarten könnt.«

Die Amyrlin schüttelte den Kopf, ohne im Schreiten innezuhalten. »Ich kann nicht, Agelmar. Ihr wißt, ich würde bleiben, wenn ich könnte. Ich hatte nicht geplant, lang zu bleiben, und dringende Angelegenheiten verlangen meine Anwesenheit in der Weißen Burg. Ich sollte jetzt schon dort sein.«

»Mutter, es beschämt mich, daß Ihr an einem Tag ankommt und uns am nächsten wieder verlaßt. Ich schwöre Euch, es wird keine Wiederholung von letzter Nacht geben. Ich habe die Wachen sowohl an den Stadttoren als auch an der Festung verdreifachen lassen. Ich habe hier Akrobaten aus der Stadt, und aus Mos Shirare kommt ein Barde. Und außerdem dürfte König Easar auf dem Weg von Fal Moran nach hier sein. Ich habe ihn benachrichtigt, sobald... «

Ihre Stimmen verklangen, als sie den Hof überquerten, und wurden vom Lärm der Reisevorbereitungen verschluckt. Die Amyrlin warf keinen einzigen Blick in Rands Richtung.

Als Rand hinunterblickte, war der Behüter verschwunden und nirgends mehr zu sehen. Loial ließ sein Pferd wieder an Rands Seite treten. »Der Mann ist schwer zu fangen und festzuhalten, nicht wahr, Rand? Er ist nicht da, dann ist er da, dann ist er weg, und man sieht ihn weder kommen noch gehen.«

Schwert in die Scheide. Rand schauderte. Behüter müssen wohl verrückt sein.

Der Behüter, mit dem die Amyrlin gerade sprach, sprang plötzlich in den Sattel. Er befand sich schon in gestrecktem Galopp, bevor er die weit offenstehenden Torflügel passierte. Sie sah ihm nach, und ihre Haltung schien ihn anzutreiben, noch schneller zu reiten. »Wohin reitet er in solcher Eile?« fragte sich Rand laut.

»Ich hörte«, sagte Loial, »daß sie heute jemanden den ganzen Weg nach Arad Doman hinüberschicken wollte. Es gab eine Nachricht über irgendeine Art von Unruhen in der Ebene von Almoth, und die Amyrlin will genau wissen, was es damit auf sich hat. Was ich nicht verstehe, ist, warum gerade jetzt? Nach dem zu schließen, was ich gehört habe, hat das Gerücht die Aes Sedai bereits von Tar Valon herbegleitet.«

Rand fror. Egwenes Vater hatte eine große Landkarte zu Hause, eine Karte, über der Rand mehr als einmal gebrütet hatte. Er hatte geträumt, bevor er herausfand, was an den Träumen dran war, wenn sie zur Wirklichkeit wurden. Sie war alt, diese Karte, und zeigte einige Länder und Staaten, von denen die Kaufleute von auswärts behaupteten, sie existierten nicht mehr, aber die Ebene von Almoth war eingezeichnet. Sie stieß direkt an die Toman-Halbinsel. Wir treffen uns auf der TomanHalbinsel wieder. Das lag ganz auf der anderen Seite der Welt, die er kannte, an der Küste des Aryth-Meeres. »Das hat mit uns nichts zu tun«, flüsterte er. »Hat nichts mit mir zu tun.«

Loial schien es nicht gehört zu haben. Er rieb sich mit einem dicken Wurstfinger über einen Nasenflügel und sah immer noch zu dem Tor hinüber, durch das der Behüter verschwunden war. »Wenn sie das in Erfahrung bringen wollte, warum schickt sie dann nicht jemanden los, bevor sie Tar Valon verläßt? Aber Ihr Menschen seid halt immer überhastet und leicht erregbar, springt immer hektisch herum und schreit gleich.« Seine Ohren wurden steif vor Verlegenheit. »Es tut mir so leid, Rand. Siehst du, was ich damit meinte: reden, bevor ich denke? Ich bin selbst manchmal vorschnell und leicht erregbar, wie du weißt.«

Rand lachte. Es war ein eher schwaches Lachen, aber er fühlte sich wohl bei dem Gedanken, überhaupt etwas zu haben, worüber er lachen konnte. »Wenn wir so lange lebten wie ihr Ogier, wären wir vielleicht auch etwas gesetzter.« Loial war neunzig Jahre alt und nach Ogier-Regeln bedeutete das, er war zehn Jahre zu jung, um das Stedding allein zu verlassen. Daß er trotzdem weggegangen war, stellte seiner beharrlichen Ansicht nach einen Beweis seiner vorschnellen Handlungsweise dar. Wenn Loial schon ein leicht erregbarer Ogier war, dachte Rand, dann mußten die anderen wohl aus Stein bestehen.

»Vielleicht«, sann Loial laut nach, »aber ihr Menschen macht soviel aus Euren Leben. Wir tun nichts, als in unseren Steddings zusammenzuhocken oder die Haine zu pflanzen, und auch das Erbauen war beendet, bevor das Lange Exil noch vorüber war.« Es waren die Haine, die Loial am Herzen lagen, und nicht die Städte, die die Menschen an die Ogier erinnerten, die sie erbaut hatten.

Es waren diese Haine, angelegt, um die Ogier-Baumeister an die Steddings zu erinnern, derentwegen Loial seine Heimat verlassen hatte. »Seit wir den Weg zurück zu den Steddings gefunden haben... « Seine Worte brachen ab, als sich die Amyrlin näherte.

Ingtar und die anderen Männer rutschten in den Sätteln hin und her und bereiteten sich darauf vor, abzusteigen und niederzuknien, doch sie bedeutete ihnen, zu bleiben, wo sie waren. Leane stand neben ihr, und Agelmar einen Schritt dahinter. Nach seinem betrübten Gesicht zu schließen, hatte er es aufgegeben, sie dafür gewinnen zu wollen, noch länger zu verweilen.

Die Amyrlin sah einen nach dem anderen an, bevor sie sprach. Ihr Blick ruhte nicht länger auf Rand als auf den anderen.

»Der Friede segne Euer Schwert, Lord Ingtar«, sagte sie schließlich. »Ehre den Erbauern, Loial Kiseran.«

»Ihr ehrt uns, Mutter. Möge der Friede Tar Valon erhalten bleiben.« Ingtar verbeugte sich im Sattel, und die anderen Schienarer folgten seinem Beispiel.

»Alle Ehre Tar Valon«, sagte Loial, der sich ebenfalls verbeugte.

Nur Rand und seine beiden Freunde auf der anderen Seite der Gruppe hielten sich aufrecht. Er fragte sich, was sie ihnen wohl gesagt habe. Leanes finstere Miene galt allen dreien, und Agelmar riß die Augen auf, doch die Amyrlin nahm keine Notiz davon.

»Ihr reitet, um das Horn von Valere zu suchen«, sagte sie, »und die Hoffnung der Welt reitet mit Euch. Das Horn kann nicht in falschen Händen verbleiben, besonders nicht in den Händen von Schattenfreunden. Diejenigen, die zur Antwort auf seinen Ruf erscheinen, kommen, gleich wer es bläst, und sie sind an das Horn gebunden und nicht ans Licht.«

Es entstand Unruhe unter den lauschenden Männern. Jeder hatte geglaubt, daß diese aus den Gräbern zurückgerufenen Helden für das Licht kämpfen würden. Wenn sie statt dessen für den Schatten kämpften...

Die Amyrlin fuhr fort, doch Rand hörte nicht mehr zu. Der Beobachter war wieder da. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Er spähte hinauf zu den überfüllten Balkonen der Bogenschützen, die den Hof überblickten, und zu den dichten Reihen der Menschen auf den Wehrgängen. Irgendwo dort droben befand sich das Augenpaar, das ihm ungesehen gefolgt war. Der Blick hing an ihm wie schmutziges Öl. Es kann kein Blasser sein, hier nicht. Aber wer dann? Oder was? Er drehte sich im Sattel um und zog auch den Braunen herum und suchte. Der Hengst begann wieder zu tänzeln.

Plötzlich zischte etwas vor Rands Gesicht vorbei. Ein Mann, der hinter der Amyrlin vorbeilief, schrie auf und stürzte. Ein schwarz befiederter Pfeil ragte aus seiner Seite. Die Amyrlin stand ruhig da und betrachtete einen Riß in ihrem Ärmel. Blut drang langsam durch die graue Seide.

Eine Frau schrie, und plötzlich erklangen überall um den Hof Rufe und Schreie. Die Menschen auf den Mauern drängten sich wild durcheinander, und jeder Mann im Hof hatte sein Schwert gezogen. Selbst Rand, wie er überrascht bemerkte.

Agelmar erhob seine Klinge zum Himmel. »Findet ihn!« brüllte er. »Bringt ihn zu mir!« Sein vor Zorn gerötetes Gesicht erblaßte, als er das Blut am Ärmel der Amyrlin bemerkte. Er fiel auf die Knie nieder und senkte den Kopf. »Vergebt, Mutter. Ich habe bei Eurem Schutz versagt. Ich bin beschämt.«

»Unsinn, Agelmar«, sagte die Amyrlin. »Leane, hör auf, um mich herumzuwuseln, und kümmere dich um diesen Mann. Ich habe mich mehr als einmal schlimmer geschnitten, wenn ich Fische ausnahm, und er benötigt sofort Hilfe. Agelmar, steh auf. Steht auf, Herr von Fal Dara. Ihr habt nicht versagt, und Ihr habt keinen Grund, Euch zu schämen. Letztes Jahr in der Weißen Burg, wo an jeder Tür meine eigenen Wachen und rund herum Behüter stehen, kam ein Mann mit einem Messer bis auf fünf Schritte an mich heran. Zweifellos ein Weißmantel, auch wenn ich keinen Beweis habe. Bitte steht auf, oder Ihr beschämt mich.« Als Agelmar sich langsam erhob, fühlte sie nach ihrem zerrissenen Ärmel. »Ein schlechter Schuß für einen Weißmantel-Bogenschützen oder sogar für einen Schattenfreund.« Ihr Blick huschte zu Rand hinüber und traf seinen. »Wenn er überhaupt auf mich gezielt hat.« Der Blick war wieder woandershin gerichtet, bevor er etwas aus ihrem Gesichtsausdruck ablesen konnte, doch er wäre am liebsten abgestiegen und hätte sich versteckt.

Er war nicht auf sie gezielt, und sie weiß das.

Leane richtete sich aus ihrer knienden Haltung auf. Jemand hatte einen Umhang über das Gesicht des Mannes gebreitet, der den Pfeil abbekommen hatte. »Er ist tot, Mutter.« Es klang müde. »Er war schon tot, bevor er den Boden berührte. Selbst wenn ich gleich neben ihm gestanden hätte... «

»Du hast dein Möglichstes getan, Tochter. Vom Tod kann man nicht geheilt werden.«

Agelmar trat näher heran. »Mutter, falls WeißmantelMörder oder Schattenfreunde in der Nähe sind, müßt Ihr mir gestatten, Euch Männer mitzugeben. Wenigstens bis zum Fluß. Ich würde es nicht überleben, wenn Euch ausgerechnet in Schienar etwas zustöße. Bitte geht zurück in die Frauenquartiere. Ich bürge mit meinem Leben dafür, daß sie gut behütet werden, bis Ihr reisefertig seid.«

»Nehmt es nicht so schwer«, sagte sie zu ihm. »Der Kratzer wird mich keinen einzigen Moment lang aufhalten. Ja, ja. Ich werde mich glücklich schätzen, uns bis zum Fluß von Euren Männern begleiten zu lassen, wenn Ihr darauf besteht. Aber ich erlaube nicht, daß deshalb Lord Ingtar auch nur einen Augenblick lang aufgehalten wird. Jeder Herzschlag zählt, bis das Horn wiedergewonnen ist. Habe ich Eure Erlaubnis, Lord Agelmar, Euren Männern Befehle zu erteilen?«

Er neigte zustimmend das Haupt. In diesem Moment hätte er ihr auch Fal Dara übergeben, wenn sie ihn darum gebeten hätte.

Die Amyrlin wandte sich wieder Ingtar und den Männern zu, die sich hinter ihm versammelt hatten. Sie sah Rand nicht mehr an. Er war überrascht, als er sie plötzlich lächeln sah.

»Ich wette, in Illian wird man die Wilde Jagd nach dem Horn nicht so pompös gestalten«, sagte sie. »Aber Ihr seid die wirklichen Jäger des Horns. Ihr seid wenige und könnt deshalb schnell vorwärtskommen, aber Ihr seid doch genug, um durchzuführen, was sein muß. Ich beauftrage Euch, Lord Ingtar aus dem Haus Shinowa, ich beauftrage Euch alle, das Horn von Valere zu finden. Laßt Euch durch nichts davon abhalten.«

Ingtar riß sein Schwert vom Rücken und küßte die Klinge. »Bei meinem Leben und meiner Seele, bei meinem Haus und meiner Ehre schwöre ich es, Mutter.«

»Dann reitet los.«

Ingtar wandte sein Pferd dem Tor zu.

Rand ließ den Braunen die Fersen spüren und galoppierte der Kolonne hinterher, die bereits durch das Tor verschwand.

Dessen unkundig, was im Inneren der Festung geschehen war, standen die Lanzenträger und Bogenschützen der Amyrlin vom Tor bis zur Stadt Spalier, auf jeder Brust die Flamme von Tar Valon. Ihre Trommler und Trompeter warteten in der Nähe des Tores, bereit, hinter ihr einzuschwenken, wenn sie die Festung verließ. Hinter den Reihen der gerüsteten Männer war der Vorplatz der Festung voll von Menschen. Einige jubelten beim Anblick von Ingtars Flagge, und andere glaubten zweifellos, dies sei der Beginn der Abreise der Amyrlin. Anschwellender Jubel folgte Rand über den Platz hinweg.

Er holte Ingtar ein, wo Häuser mit tief heruntergezogenen Dächern und Läden zu beiden Seiten der Straße standen und wo die gepflasterten Straßen noch dichter von Zuschauern belagert wurden. Auch hier jubelten einige. Mat und Perrin waren zusammen mit Ingtar und Loial am Kopf der Kolonne geritten, aber die beiden ließen sich zurückfallen, als Rand nahte. Wie kann ich mich jemals entschuldigen, wenn sie nie lang genug bei mir bleiben, um überhaupt etwas zu sagen? Licht noch mal, er sieht nicht danach aus, als liege er im Sterben.

»Changu und Nidao sind weg«, sagte Ingtar plötzlich. Es klang kalt und zornig, aber auch erschüttert. »Wir zählten jedermann in der Festung, tot oder lebendig, am letzten Abend und heute morgen noch mal. Sie sind die einzigen, über deren Verbleib nichts bekannt ist.«

»Changu hatte gestern Wache im Kerker«, sagte Rand bedächtig.

»Nidao auch. Sie hatten die zweite Wache. Sie blieben immer beieinander, auch wenn sie tauschen oder sogar Sonderdienste deswegen übernehmen mußten. Sie hatten keine Wache, als es passierte, aber... Sie kämpften vor einem Monat noch am Tarwin-Paß und retteten Lord Agelmar, als sein Pferd inmitten von Trollocs stürzte. Und nun das. Schattenfreunde.« Er atmete tief durch. »Alles zerbricht langsam.«

Ein Berittener bahnte sich den Weg durch die Menschenmenge an der Straße und schloß sich der Kolonne an. Er ritt gleich hinter Ingtar. Der Kleidung nach war er ein Stadtbewohner, hager, mit zerfurchtem Gesicht und langem, fast grauem Haar. Hinter seinen Sattel hatte er ein Bündel und dazu Wasserflaschen geschnallt, und an seinem Gürtel hingen ein kurzes Schwert und ein verbeulter Schwertfänger neben einem durchgesteckten Knüppel.

Ingtar bemerkte Rands Blick. »Das ist Hurin, unser Schnüffler. Es war nicht nötig, daß die Aes Sedai von ihm erfuhren. Nicht, daß er etwas Schlimmes tut, verstehst du? Der König hält sich in Fal Moran auch einen Schnüffler, und in Ankor Dail gibt es noch einen. Es ist nur so — den Aes Sedai gefällt nichts, was sie nicht verstehen, und dann ist er auch noch ein Mann... Es hat natürlich nichts mit der Einen Macht zu tun. Aaaah! Sag du es ihm, Hurin.«

»Ja, Lord Ingtar«, sagte der Mann. Er verbeugte sich tief im Sattel vor Rand. »Es ist mir eine Ehre, Euch zu dienen, Lord.«

»Nenn mich einfach Rand.« Rand streckte ihm die Hand hin, und nach kurzem Zögern grinste Hurin und ergriff sie.

»Wie Ihr wünscht, Lord Rand. Lord Ingtar und Lord Kajin kümmern sich wenig darum, wie sich Männer untereinander verhalten — und Lord Agelmar natürlich auch nicht —, aber in der Stadt heißt es, Ihr seid ein ausländischer Prinz aus dem Süden, und einige der Herren aus dem Ausland halten strikt den Abstand zum gewöhnlichen Volk ein.«

»Ich bin kein Lord.« Wenigstens kann ich dem allen jetzt entkommen. »Einfach Rand.«

Hurin zwinkerte. »Wie Ihr wünscht, Lor... äh... Rand. Seht Ihr... siehst du, ich bin ein Schnüffler. Diesen Sonntag habe ich vierjähriges Jubiläum gehabt. Zuvor hatte ich noch nie von so etwas gehört, aber ich weiß nun, daß es noch ein paar andere wie mich gibt. Es hat langsam angefangen. Ich habe Gestank gerochen, wo sonst niemand etwas riechen konnte, und das wurde immer häufiger. Es hat ein ganzes Jahr gedauert, bis ich darauf kam, was es bedeutet. Ich konnte Gewalt riechen, Tod und Verletzungen. Ich konnte riechen, wo es geschehen war. Ich konnte die Spur derjenigen riechen, die Gewalttaten vollbracht hatten. Jede Spur ist anders, also kann ich sie nie verwechseln. Lord Ingtar hat davon gehört und nahm mich in seinen Dienst, um der Gerechtigkeit des Königs zu dienen.«

»Du kannst Gewalt riechen?« fragte Rand. Er konnte sich nicht helfen — er mußte die Nase des Mannes ansehen. Es war eine ganz gewöhnliche Nase, nicht groß und nicht klein. »Du willst damit sagen, daß du wirklich jemandem folgen kannst, der zum Beispiel einen anderen Mann getötet hat? Nur durch deinen Geruchssinn?«

»Das kann ich, Lor... äh... Rand. Mit der Zeit läßt der Geruch nach, aber je schlimmer die angewandte Gewalt war, desto länger hält er sich. O je, ich kann ein zehn Jahre altes Schlachtfeld noch riechen, auch wenn die Spuren der Männer, die dort waren, längst verblichen sind. Oben in der Nähe der Fäule bleiben die Spuren der Trollocs immer gleich stark. Ein Trolloc kann nicht viel mehr als töten und verletzen. Bei einer Wirtshausschlägerei aber, wo vielleicht nur ein Arm gebrochen wird, ist der Geruch nach wenigen Stunden verflogen.«

»Ich sehe schon, warum du nicht willst, daß die Aes Sedai das herausfinden.«

»Äh, Lord Ingtar hatte schon recht in bezug auf die Aes Sedai, das Licht möge sie erleuchten... äh, Rand. Da war einmal eine in Cairhien — Braune Ajah, aber ich schwöre, ich hatte sie in Verdacht, zu den Roten zu gehören, bevor sie mich schließlich laufen ließ —; sie hat mich einen ganzen Monat festgehalten, um herauszufinden, wie ich das mache. Sie konnte es nicht vertragen, etwas nicht zu wissen. Sie murmelte immer wieder: ›Ist es eine alte Fähigkeit, die nun wieder auftaucht, oder ist es etwas Neues?‹ und starrte mich an, bis man glauben konnte, ich benütze tatsächlich die Eine Macht. Ich habe beinahe schon an mir selbst gezweifelt. Aber ich bin nicht wahnsinnig geworden, und ich tue auch eigentlich nichts. Ich rieche es halt nur.«

Rand konnte nicht anders als sich an Moiraines Worte zu erinnern. Die alten Schranken werden brüchig. In unserer Zeit liegt etwas von Auflösung und Veränderung. Alte Dinge kommen zurück, und neue werden geboren. Wir erleben vielleicht das Ende eines Zeitalters. Er schauderte. »Also werden wir diejenigen, die das Horn stahlen, mit Hilfe deiner Nase verfolgen.«

Ingtar nickte. Hurin grinste stolz und sagte: »Das werden wir... äh... Rand. Einmal habe ich einen Mörder bis Cairhien verfolgt und einen anderen sogar bis Maradon, damit ich sie den Richtern des Königs übergeben konnte.« Sein Grinsen verflog, und er sah fast besorgt aus. »Aber dies ist der schlimmste Fall, mit dem ich je beschäftigt war. Mord riecht schlecht, und die Spur der Mörder stinkt danach, aber das hier... « Er rümpfte die Nase. »Letzte Nacht waren auch Männer darin verwickelt. Müssen Schattenfreunde gewesen sein, aber man kann halt einen Schattenfreund nicht am Geruch erkennen. Ich folge den Trollocs und den Halbmenschen. Und etwas noch Schlimmerem.« Er wurde leiser, machte ein finsteres Gesicht und murmelte etwas in sich hinein, aber Rand konnte es verstehen. »Etwas noch Schlimmerem, Licht hilf mir!«

Sie erreichten das Stadttor, und gleich hinter der Mauer hob Hurin das Gesicht in den leichten Wind. Seine Nasenflügel blähten sich, und er schnaubte vor Ekel. »Dorthin, Lord Ingtar.« Er zeigte nach Süden.

Ingtar blickte überrascht drein. »Nicht in Richtung Fäule?«

»Nein, Lord Ingtar. Pfui!« Hurin wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab. »Ich kann sie beinahe schmecken. Sie gingen nach Süden.«

»Dann hatte sie also recht, die Amyrlin«, sagte Ingtar bedächtig. »Eine große und weise Frau, die bessere als mich verdient, um ihr zu dienen. Nimm die Witterung auf, Hurin.«

Rand drehte sich um und spähte durch das Tor zurück die Straße hinauf zur Festung. Er hoffte, daß es Egwene auch wirklich gut gehe. Nynaeve wird sich um sie kümmern. Vielleicht ist es so besser, ein klarer Einschnitt, zu schnell, um zu schmerzen, sobald er vollbracht wurde.

Er ritt hinter Ingtar und dem Banner der Grauen Eule her nach Süden. Der Wind frischte auf und blies ihm trotz des Sonnenscheins kalt in den Rücken. Er glaubte, schwaches und spöttisches Gelächter darin zu hören.

Der zunehmende Mond beleuchtete die feuchten nachtdunklen Straßen von Illian, in denen immer noch der Lärm der Feiern des Tages nachklang. In nur wenigen Tagen würde man die Wilde Jagd nach dem Horn mit allem Pomp und allen Feierlichkeiten eröffnen, die der Überlieferung nach bis auf das Zeitalter der Legenden zurückgingen. Die Feierlichkeiten zu Ehren der Jäger waren mit dem Fest des Teven und mit dessen berühmtem Gaukler-Wettbewerb zusammengefallen. Wie immer würde der wichtigste aller Preise für den besten Vortrag der Wilden Jagd nach dem Horn verliehen.

Heute abend traten die Gaukler in den Palästen und Herrenhäusern der Stadt auf, wo sich die Großen und Mächtigen aufhielten und die Jäger, die aus allen Ländern gekommen waren, um, wenn nicht das Horn selbst, dann doch wenigstens Unsterblichkeit im Lied der Barden zu finden. Es würde Musik erklingen und getanzt werden und Fächer und Eis geben, um die erste wirkliche Hitzewelle des Jahres besser zu überstehen. Aber auch in den Straßen herrschte in dieser mondbeschienenen, schwülen Nacht großer Trubel. Bis die Jäger aufbrachen, herrschte jeden Tag und jede Nacht Trubel. Menschen mit Masken und bizarren, phantasievollen Kostümen, von denen viele eine Menge Fleisch sehen ließen, rannten an Bayle Domon vorbei. Sie rannten rufend und singend einher, ein halbes Dutzend zusammen, dann vereinzelte kichernde Paare, die sich eng umarmten, dann wieder zwanzig in einer grölenden Gruppe. Am Himmel zerknallten Feuerwerkskörper in goldenen und silbernen Explosionen vor dem schwarzen Himmel. Es befanden sich beinahe so viele Feuerwerker in der Stadt wie Gaukler.

Domon verschwendete nicht viele Gedanken an das Feuerwerk oder die Jagd. Er war auf dem Weg, sich mit Männern zu treffen, von denen er glaubte, sie wollten ihn möglicherweise töten.

Er überquerte die Brücke der Blumen über einen der vielen Kanäle in der Stadt und ging ins Parfümierte Viertel, den Hafenbezirk von Illian. Der Kanal roch nach dem Inhalt zu vieler Nachttöpfe, und es gab kein Anzeichen dafür, daß sich in der Nähe der Brücke jemals Blumen befunden hatten. Das Viertel roch nach Hanftauen und Pech aus den Werften und Docks, nach saurem Hafenschlamm, und alles wurde noch verstärkt durch eine erhitzte, feuchte Luft. Domon atmete schwer. Jedesmal, wenn er aus dem Norden zurückkehrte, wurde er erneut von der Frühsommerhitze Illians überrascht, obwohl er hier geboren war. In einer Hand trug er einen kräftigen Knüppel, und die andere ruhte auf dem Griff des kurzen Schwertes, das er schon so oft benützt hatte, um das Deck seines Flußkahns vor Räubern zu schützen. Nicht wenige Straßenräuber lauerten in diesen durchfeierten Nächten, wo die Beute reich und die meisten Opfer angetrunken waren.

Aber er war ein breitschultriger, kräftiger Mann, und keiner derer, die darauf aus waren, Gold zu erbeuten, hielt ihn mit seinem einfach geschnittenen Mantel für reich genug, um zu riskieren, etwas von einem Mann seiner Größe und von seinem Knüppel abzubekommen. Die wenigen, die ihn im aus einem Fenster fallenden Licht klar erkennen konnten, blieben stehen und warteten, bis er vorbei war. Dunkles Haar hing ihm auf die Schultern, und ein langer Bart, der die Oberlippe freiließ, umrahmte ein Gesicht, das noch nie einen sanften Ausdruck gezeigt hatte. Jetzt wirkte es so grimmig, als habe er vor, sich durch eine Wand hindurchzurammen. Er mußte bestimmte Männer treffen und war nicht gerade glücklich darüber.

Weitere Angetrunkene rannten vorüber, wobei sie völlig falsch sangen und der Wein ihre Worte verschwimmen ließ. Das Horn von Valere‹, ganz gewiß! dachte Domon mürrisch. Es sein mein Schiff, was ich behalten wollen. Und mein Leben, Glück stich mich.

Er kehrte in eine Schenke ein, die das Zeichen eines großen, weißgestreiften Dachses aufwies, der mit einem Mann mit silberner Schaufel auf den Hinterbeinen tanzte. ›Den Dachs erleichtern‹ hieß die Schenke, und noch nicht einmal Nieda Sidoro, die Wirtin, wußte, was der Name bedeutete. Es hatte immer schon eine Schenke dieses Namens in Illian gegeben.

Der Schankraum war gut beleuchtet und ruhig. Auf dem Boden lagen Sägespäne, und ein Musiker zupfte sanft seine zwölfsaitige Zither. Er spielte eines der traurigen Lieder des Meervolks. Nieda gestattete kein Gegröle in ihrer Schenke, und ihr Neffe Bili war groß genug, um mit jeder Hand einen Mann hinauszuschleppen. Seemänner, Werftarbeiter und Schauerleute kamen in den ›Dachs‹, um etwas zu trinken und sich vielleicht ein wenig zu unterhalten, um Pfeile zu werfen oder ein Brettspiel zu spielen. Der Raum war jetzt halb voll; selbst Männer, die die Ruhe liebten, hatten sich in den Trubel hinauslocken lassen. Die Gespräche waren leise, aber Domon hörte, wie immer wieder die Jagd erwähnt wurde und der falsche Drache, den die Murandianer gefangen hatten, und derjenige, den die Taren in die Haddon-Sümpfe jagten. Es schien Uneinigkeit darüber zu herrschen, ob man lieber den falschen Drachen oder die Taren sterben sehen würde.

Domon verzog das Gesicht. Falsche Drachen! Glück stich mich, es sein kein Platz sicher heutzutage. Aber die falschen Drachen bewegten ihn nicht wirklich, genausowenig wie die Jagd.

Die stämmige Wirtin, die ihr Haar in einem Knoten am Hinterkopf zusammengebunden hatte, wischte einen Krug aus und behielt dabei ihr Etablissement genau im Auge. Sie hörte nicht mit dem auf, was sie gerade tat, und sah ihn nicht einmal direkt an, aber ihr linkes Augenlid senkte sich, und ihr Blick zeigte auf drei Männer an einem Ecktisch. Sie wirkten selbst für den Dachs noch sehr ruhig, beinahe düster gestimmt, und ihre glockenförmigen Samtkappen und dunklen Mäntel, die auf der Brust aufgenähte Gold- und Silberbalken trugen, hoben sich von der einfachen Kleidung der anderen Gäste ab.

Domon seufzte und setzte sich allein an einen anderen Ecktisch. Aus Cairhien diesmal. Er griff nach dem Krug dunklen Bieres, den ihm die Serviererin brachte, und nahm einen langen Zug. Als er den Krug senkte, standen die drei Männer in den gestreiften Mänteln neben seinem Tisch. Er machte eine unauffällige Geste, damit Nieda wußte, daß er Bili nicht brauchte. »Kapitän Domon?« Alle drei wirkten bis auf die Kleidung unauffällig, aber der Sprecher hatte etwas an sich, das Domon glauben machte, er sei ihr Anführer. Sie schienen unbewaffnet zu sein. Trotz ihrer noblen Kleidung schienen sie das nicht nötig zu haben. Aus den durchschnittlichen Gesichtern blickten harte Augen. »Kapitän Bayle Domon von der Gischt?«

Domon nickte kurz, und die drei setzten sich an seinen Tisch, ohne auf eine Einladung zu warten. Es war immer der gleiche Mann, der sprach. Die anderen beiden sahen lediglich zu, wobei sie kaum die Lider bewegten. Wachen, dachte Domon, trotz ihrer feinen Kleidung. Wer sein er mit einem Paar Leibwächter, um ihn zu beschützen?

»Kapitän Domon, wir haben eine Person, die von Mayene nach Illian gebracht werden muß.«

»Gischt sein ein Flußschiff«, unterbrach Domon sie. »Sie nicht viel Tiefgang haben und auch keinen Kiel für tiefes Wasser.« Das stimmte nicht ganz, doch es war gut genug für Landratten. Wenigstens es anders ist als in Tear. Sie doch schlauer werden.

Der Mann nahm die Unterbrechung gelassen hin. »Wir haben gehört, daß Ihr den Flußhandel aufgebt.«

»Vielleicht ich werden, vielleicht nicht. Ich nicht entschieden.« Obwohl er sich natürlich entschlossen hatte. Er würde nicht mehr hinauffahren zu den Grenzlanden, und wenn man ihm alle Seide böte, die den Taren heruntertransportiert wurde. Felle aus Saldaea und Eispfeffer waren es einfach nicht wert, und das hatte nichts mit dem falschen Drachen zu tun, der angeblich dort aufgetaucht war. Aber er fragte sich wieder, woher man das erfahren hatte. Er hatte es niemandem gesagt, und doch hatten es die anderen gewußt.

»Ihr könnt leicht genug die Küste nach Mayene hochschippern. Kapitän, Ihr hättet doch sicher nichts dagegen, für tausend Goldmark die Küste entlang zu segeln.«

Unwillkürlich schnappte Domon nach Luft. Das war viermal soviel wie beim letzten Angebot, und das war schon hoch genug gewesen, um einen Mann zum Staunen zu bringen. »Wen ich sollen dafür abholen? Die Erste von Mayene selbst? Haben Tear sie schließlich doch ganz herausgeworfen?«

»Ihr müßt keine Namen wissen, Kapitän.« Der Mann stellte einen großen Lederbeutel auf den Tisch und legte eine versiegelte Urkunde daneben. In dem schweren Beutel klimperte es, als er über den Tisch geschoben wurde. Der große rote Wachsfleck, der das zusammengerollte Pergament verschloß, trug das Zeichen der vielstrahligen Aufgehenden Sonne von Cairhien. »Zweihundert jetzt gleich. Ich glaube, für tausend Mark muß ich keine Namen nennen. Gebt das Pergament mit unbeschädigtem Siegel dem Hafenkapitän von Mayene, und er wird Euch dreihundert mehr übergeben und Euren Passagier. Ich werde Euch den Rest übergeben, wenn Euer Passagier hier ankommt. Falls Ihr nicht versucht habt, die Identität dieser Person herauszufinden.«

Domon atmete tief ein. Glück, es sein wert diese Reise, auch wenn kein Pfennig mehr dafür bezahlen als was ist in diesem Beutel. Und tausend waren mehr Geld, als er in zwei oder mehr Jahren verdienen konnte. Er vermutete, falls er noch ein wenig bohrte, würde er weitere Andeutungen erhalten — nur Andeutungen —, daß die Reise mit geheimen Absprachen zwischen dem Rat der Neun von Illian und der Ersten von Mayene zu tun habe. Der Stadtstaat der Ersten war nur dem Namen nach eine Provinz von Tear, und sie würde zweifellos Hilfe aus Illian begrüßen. Und es gab viele in Illian, die meinten, es sei Zeit für einen neuen Krieg und daß Tear mehr vom Seehandel auf dem Meer der Stürme beherrschte, als gut sei. Ein hervorragender Köder, um ihn einzufangen, wenn er nicht im letzten Monat schon drei ähnliche vor die Nase gehalten bekommen hätte.

Er streckte die Hand aus, um den Beutel zu nehmen, doch der Mann, der mit ihm gesprochen hatte, packte ihn am Handgelenk. Domon funkelte ihn an, aber er erwiderte den Blick ganz gelassen.

»Ihr müßt so schnell wie möglich segeln, Kapitän.«

»Beim ersten Tageslicht«, grollte Domon, und der Mann nickte und ließ ihn los.

»Also dann beim ersten Tageslicht, Kapitän Domon. Denkt daran, Diskretion hält einen Mann am Leben, damit er sein Geld auch ausgeben kann.«

Domon beobachtete die drei, als sie aus der Schenke gingen, und dann starrte er mit saurer Miene auf die Urkunde und den Beutel auf dem Tisch vor seiner Nase. Jemand wollte, daß er nach Osten reiste. Tear oder Mayene, das spielte keine große Rolle, solange er nur nach Osten fuhr. Er glaubte zu wissen, wer das wollte. Und andererseits haben ich keinen echten Hinweis auf sie. Wer konnte wissen, wer ein Schattenfreund war und wer nicht? Aber er wußte, daß Schattenfreunde hinter ihm her waren, seit er Marabon verlassen hatte und flußabwärts gefahren war. Schattenfreunde und Trollocs. Da war er sich ganz sicher. Die wirkliche Frage, auf die er auch nicht den Schimmer einer Antwort hatte, war, warum sie das taten.

»Schwierigkeiten, Bayle?« fragte Nieda. »Du siehst aus, als hättest du einen Trolloc gesehen.« Sie kicherte — ein unmöglicher Laut von einer Frau ihrer Statur. Wie die meisten Leute, die nie in den Grenzlanden gewesen waren, glaubte Nieda nicht an die Existenz von Trollocs. Er hatte versucht, sie von der Wahrheit zu überzeugen, doch ihr gefielen seine Geschichten wohl, sie hielt sie aber allesamt für erlogen. Sie glaubte auch nicht an Schnee.

»Keine Schwierigkeiten, Nieda.« Er band den Beutel auf, holte ohne hinzublicken eine Münze heraus und warf sie ihr zu. »Runden für jeden, bis das hier aufgebraucht ist, und dann geben ich dir noch eine.«

Nieda sah die Münze überrascht an. »Eine Mark aus Tar Valon? Handelst du jetzt mit den Hexen, Bayle?«

»Nein«, sagte er heiser. »Machen ich nicht!«

Sie biß auf die Münze und steckte sie dann schnell hinter ihren breiten Gürtel. »Na ja, sagt man halt so. Und ich schätze, Hexen sind sowieso nicht so schlecht, wie manche sagen. Das sage ich sonst nicht zu irgendwelchen anderen Männern. Ich kenne einen Geldwechsler, der nimmt so was. Du brauchst mir nicht mehr zu geben, bei so wenigen Gästen wie heute abend. Mehr Bier für dich, Bayle?«

Er nickte betrübt, obwohl sein Krug noch halb voll war, und sie entfernte sich. Sie war eine Freundin und würde nicht weitererzählen, was sie gesehen hatte. Er saß da und starrte den Lederbeutel an. Ein weiterer Krug wurde gebracht, bevor er sich aufraffen konnte, den Beutel weit genug zu öffnen, um sich die Münzen darin anzusehen. Er fuhr mit einem schwieligen Finger darin herum. Goldmarkstücke glitzerten ihn im Lampenschein an, und jedes davon trug die verräterische Flamme von Tar Valon. Hastig band er den Beutel zu. Gefährliche Münzen. Ein oder zwei würden nicht weiter auffallen, aber so viele würden den meisten Leuten genau das sagen, was Nieda auch dachte. Es waren Kinder des Lichts in der Stadt, und obwohl es in Illian kein Gesetz gab, das den Handel mit den Aes Sedai verbot, würde er es nicht mehr bis zum Magistrat schaffen, falls die Weißmäntel davon erfuhren. Diese Männer wollten sichergehen, daß er nicht einfach ihr Gold nahm und in Illian blieb.

Während er so da saß und sich seine Gedanken machte, kam Yarin Maeldan, sein düsterer, storchenähnlicher zweiter Offizier auf der Gischt, in den ›Dachs‹. Die Augenbrauen hatte er bis auf die lange Nase heruntergezogen, und so stand er dann am Tisch seines Kapitäns. »Carn ist tot, Käpten.«

Domon sah ihn mit gerunzelter Stirn an. Drei andere seiner Männer waren bereits getötet worden, jedesmal einer, wenn er einen Auftrag abgelehnt hatte, nach Osten zu fahren. Der Magistrat hatte nichts unternommen. Sie sagten, die Straßen seien nachts eben gefährlich und die Seeleute eine rauhe und streitsüchtige Bande. Der Magistrat kümmerte sich selten um das, was im Parfümierten Viertel geschah, solange keine respektablen Bürger verletzt wurden.

»Aber diesmal habe ich ihr Angebot angenommen«, murmelte er.

»S' is' noch nich' alles, Käpten«, erzählte Yarin weiter. »Sie ham Carn mit Messern bearbeitet, als ob sie wollten, daß er ihnen was sagt. Und vor 'ner Stunde ham noch'n paar Männer versucht, sich auf die Gischt zu schleichen. Die Hafenpolizei hat sie vertrieben. Dritte Mal in zehn Tagen, und ich hab nie Kanalratten gekannt, die so ausdauernd warn. Sie wartn bis man nich' mehr dran denkt, und dann versuchn sie's wieder. Und jemand hat letzte Nacht mein Zimmer im ›Silbernen Delphin‹ durchgewühlt. Hat 'n paar Silbermünzen mitgenommen. Ich glaub', das war'n Dieb. Hat aber meine Gürtelschnalle liegengelassen; die mit Granat- und Mondsteinen verziert ist, und die hat ganz offen rumgelegen. Was is'n da los, Käpten? Die Leute haben Angst, und ich bin auch 'n bißchen nervös.«

Domon sprang auf. »Hol die Mannschaft zusammen, Yarin! Finde sie und sag ihnen, Gischt segelt, sobald genug Männer an Bord sein, sie zu segeln.« Er stopfte das Pergament in eine Manteltasche, schnappte sich den Beutel mit Gold und schob seinen Zweiten vor sich aus der Tür. »Hol sie, Yarint weil ich lassen jeden Man hier, der es nicht schaffen, wenn auch er auf Kai stehen.«

Domon gab Yarin einen Schubs, daß er losrannte und dann stolzierte er in Richtung Hafen los. Selbst Straßenräuber, die das Klimpern in dem Beutel hörten, den er trug, hielten sich von ihm fern, denn er marschierte wie ein Mann, der auf Mord sinnt.

Als er ankam, kletterten gerade die ersten Besatzungsmitglieder an Bord der Gischt. Weitere rannten barfuß den Steinkai herunter. Sie wußten nicht, wer ihn seiner Ansicht nach verfolge oder daß ihn überhaupt etwas verfolgte, aber sie wußten, daß er gute Gewinne erzielte und, wie es in Illian üblich war, der Mannschaft Anteile auszahlte.

Die Gischt war achtzig Fuß lang, hatte zwei Masten und war breit gebaut, so daß auch auf Deck Platz für eine Ladung war, sowie natürlich auch noch im Laderaum selbst. Im Gegensatz zu dem, was Domon dem Mann aus Cairhien erzählt hatte — falls er wirklich aus Cairhien kam —, glaubte er, sie könne auch auf offener See bestehen. Das Meer der Stürme war im Sommer ruhiger.

»Sie muß einfach«, murmelte er und ging nach unten in seine Kajüte. Er warf den Beutel Gold auf sein Bett, das genau in die Bordwand eingepaßt war wie alles andere in der nüchternen Kajüte, und holte das Pergament heraus. Er zündete eine Laterne an, die von oben an einer Kette hing, und betrachtete das versiegelte Dokument. Er drehte es hin und her, als könne er den Inhalt lesen, ohne es zu öffnen. Ein Klopfen an die Tür ließ ihn die Stirn runzeln.

»Rein.«

Yarin steckte den Kopf herein. »Es sin' alle an Bord bis auf drei, die ich nich' finden konnte, Käpten. Aber ich hab' Nachricht hinterlassen in jeder Spelunke und jedem Logis im Viertel. Sie sind an Bord, bevor das Licht reicht, daß wir flußaufwärts segeln.«

»Gischt segeln jetzt — seewärts.« Domon schnitt Yarins Protest wegen der Dunkelheit und der Gezeiten ab, ebenso wie seinen Einwand, daß die Gischt nicht für die hohe See geeignet sei. »Jetzt! Gischt kann auslaufen auch bei Niedrigwasser. Du hast hoffentlich nicht vergessen, nach Sternen zu steuern, oder? Bring sie raus, Yarin. Bring sie jetzt raus, und komm zu mir zurück, wenn wir sein jenseits der Brandung.«

Sein Zweiter zögerte — Domon ließ sich sonst kein schwieriges Segelmanöver entgehen, ohne daß er an Deck die Befehle ausgab, und die Gischt bei Nacht hinauszubringen, würde ziemlich schwierig werden, selbst bei ihrem geringen Tiefgang —, nickte aber dann und verschwand. Augenblicke später konnte Domon in seiner Kajüte hören, wie Yarin leiernd Befehle erteilte und wie an Deck bloße Füße hin und her trampelten. Er ignorierte die Geräusche und auch das Rucken des Schiffs, als es in die Strömung hineindriftete.

Schließlich hob er den Mantel der Laterne und hielt ein Messer in die Flamme. Rauch kräuselte sich hoch, als das Öl an der Klinge brannte, aber bevor sich das Metall rot färben konnte, schob er Seekarten beiseite, drückte das Pergament flach auf seinen Tisch und fuhr mit dem heißen Stahl langsam unter das Siegelwachs. Das Deckblatt kam frei.

Es war ein einfaches Dokument ohne Vorrede oder Begrüßung, und es ließ ihm den Schweiß auf der Stirn ausbrechen.

Der Überbringer ist ein Schattenfreund, der in Cairhien wegen Mordes und anderer gemeiner Verbrechen gesucht wird, deren geringstes es war, Unserer Person Dinge zu entwenden. Wir wünschen, daß Ihr diesen Mann ergreift und alles sicherstellt, was er bei sich trägt; selbst das geringste. Unser Vertreter wird kommen und alles mitnehmen, was er Uns gestohlen hat. Nehmt alle seine Besitztümer, bis auf das, was Wir für Uns beanspruchen, an Euch als Belohnung für seine Ergreifung. Laßt den bösartigen Buben unverzüglich hängen, so daß seine vom Schatten hervorgebrachte Verbrechergestalt das Licht nicht länger befleckt.

Von Unserer Hand versiegelt Galldrian su Riatin Rie König von Cairhien Verteidiger des Drachenwalls In das dünne rote Wachs unter der Unterschrift hatte man die Aufgehende Sonne von Cairhien und die Fünf Sterne des Hauses Riatin gedrückt.

»Verteidiger des Drachenwalls, daß ich nicht lache«, krächzte Domon. »Schönes Recht der Mann haben, sich jetzt noch so zu nennen.«

Er untersuchte die Siegel und die Unterschrift ganz genau, wobei er das Dokument nahe an die Lampe hielt und es mit der Nase beinahe berührte, aber erstens konnte er nichts Verfälschtes daran entdecken, und zweitens hatte er keine Ahnung, wie Galldrians Handschrift aussah. Falls es nicht der König selbst gewesen war, der unterschrieben hatte, dann vermutete er, daß derjenige sich alle Mühe gegeben haben mußte, um Galldrians Gekritzel gut zu imitieren. Auf jeden Fall spielte das auch keine Rolle. In Tear würde dieser Brief in den Händen eines Illianers tödliche Wirkung haben. Oder auch in Mayene, wo der Einfluß der Taren so stark war. Es herrschte im Moment kein Kriegszustand, und die Männer aus jedem dieser Häfen kamen und gingen unbehelligt, aber in Tear waren die Illianer nicht gerade beliebt, ebenso wie umgekehrt. Und dann noch ein solch perfekter Grund, einen Illianer zu ergreifen.

Einen Augenblick lang hatte er den Wunsch, das Pergament in die Laternenflamme zu halten — es war ein gefährlicher Besitz, sowohl in Tear als auch in Illian oder sonst irgendwo —, aber schließlich steckte er es vorsichtig in ein Geheimfach hinter seinem Schreibtisch, das durch einen Teil der Holztäfelung verschlossen wurde, den nur er öffnen konnte.

»Meine Besitztümer, eh?«

Er sammelte alte Dinge, jedenfalls soweit er sie an Bord eines Schiffes aufbewahren konnte. Was er nicht kaufen konnte, weil es zu teuer oder zu groß war, sammelte er mit den Augen und dem Gedächtnis. All diese Überreste vergangener Zeiten, diese rund um die Welt verstreuten Wunder, hatten ihn als Jungen erst an Bord eines Schiffes gelockt. Er hatte seiner Sammlung auf der letzten Reise in Maradon vier Stücke hinzugefügt, und zu der Zeit hatte auch die Verfolgung durch Schattenfreunde begonnen. Und die durch Trollocs, jedenfalls eine Weile lang. Er hatte gehört, daß kurz nach seiner Abreise Weißbrücke niedergebrannt worden sei, und es hatte Gerüchte gegeben, daß außer Trollocs noch ein Myrddraal beteiligt gewesen sei. Gerade das alles zusammengenommen hatte ihn davon überzeugt, daß er sich dies alles nicht nur einbildete. Deshalb war er auf der Hut gewesen, als ihm dieser erste eigenartige Auftrag angeboten wurde: zuviel Geld für eine einfache Reise nach Tear, und der Grund klang auch fadenscheinig.

Er kramte in seiner Truhe herum und stellte das auf den Schreibtisch, was er in Maradon gekauft hatte: einen Leuchtstab aus dem Zeitalter der Legenden. Jedenfalls angeblich. Auf jeden Fall wußte niemand mehr, wie man so was herstellt. Ein teures Stück, und seltener als ein ehrliches Magistratsmitglied. Er sah aus wie eine einfache Glasrute, dicker als sein Daumen und nicht ganz so lang wie sein Unterarm, aber wenn er ihn in die Hand nahm, leuchtete er so hell wie eine Laterne. Leuchtstäbe zerbrachen wie Glas; er hatte beinahe die Gischt durch ein Feuer verloren, das der erste hervorgerufen hatte, den er je besaß. Eine kleine, altersdunkle aus Elfenbein geschnitzte Statuette eines Mannes, der ein Schwert hielt. Der Bursche, der ihm die verkauft hatte, behauptete, wenn man sie eine Weile hielt, würde es einem ganz warm. Domon hatte davon nichts bemerkt und auch kein Besatzungsmitglied, dem er sie zu halten gab, aber sie war alt, und das genügte Domon. Der Schädel einer löwengroßen Katze war so alt, daß er zu Stein geworden war. Aber kein Löwe hatte je Fänge, fast schon Hauer zu nennen, die einen Fuß lang waren. Und eine dicke Scheibe von der Größe einer Männerhand, halb weiß und halb schwarz. Die Farben wurden durch eine geschwungene Linie voneinander getrennt. Der Ladenbesitzer in Maradon hatte behauptet, sie stamme aus dem Zeitalter der Legenden. Er mußte selbst geglaubt haben, daß es eine Lüge war, aber Domon hatte nur ein wenig gefeilscht, bevor er bezahlte, denn er erkannte, was der Ladenbesitzer nicht kannte: das uralte Symbol der Aes Sedai aus der Zeit vor der Zerstörung der Welt. Nicht gerade ein ungefährliches Stück Besitz, aber auch kein Gegenstand, den ein Mann sich entgehen lassen konnte, der von alten Dingen fasziniert war.

Und es bestand aus Herzstein. Der Ladenbesitzer hatte nicht gewagt, diese Behauptung dem hinzuzufügen, was er sowieso für Lüge hielt. Kein Ladenbesitzer an der Uferstraße von Maradon konnte sich auch nur ein Stückchen Cuendillar leisten.

Die Scheibe lag hart und glatt in seiner Hand, und bis auf ihr Alter wirkte sie überhaupt nicht wertvoll, doch er fürchtete, sie könnte es sein, wonach seine Verfolger suchten. Leuchtstäbe und Elfenbeinschnitzereien und sogar versteinerte Knochen hatte er anderswo zu anderen Zeiten schon gesehen. Aber obwohl er wußte — wenn er es wirklich wußte —, was sie wollten, wußte er doch nicht, warum und er war sich nicht mehr sicher, wer seine Verfolger eigentlich waren. Geld aus Tar Valon und ein uraltes Symbol der Aes Sedai. Er wischte sich mit der Hand über die Lippen; der Geschmack der Angst lag bitter auf seiner Zunge.

Ein Klopfen an die Tür. Er legte die Scheibe hin und zog eine aufgerollte Seekarte über die Gegenstände, die auf dem Tisch lagen. »Rein.«

Yarin trat ein. »Wir sind jenseits der Brandung, Käpten.«

Domon war einen Moment lang überrascht, und dann ärgerte er sich über sich selbst. Er hätte sich nicht so in seine Gedanken versenken sollen, daß er es versäumte zuzusehen, wie die Gischt von den Brechern emporgehoben wurde. »Halt nach Westen, Yarin. Sorg dafür.«

»Ebu Dar, Käpten?«

Nein, das sein nicht weit genug. Tausend Meilen zu nah. »Wir ankern dort nur lang genug, daß ich Seekarten holen und die Wasserfässer auffüllen kann. Dann segeln wir nach Westen.«

»Nach Westen, Käpten? Tremalking? Das Meervolk läßt keine anderen Händler als ihre eigenen zu.«

»Das Aryth-Meer, Yarin. Es geben eine Menge Handel zwischen Tarabon und Arad Doman und kaum einen Kahn der Taraboner oder Domani, der uns in die Quere kommen können. Wie ich gehört haben, sie nicht lieben das Meer. Und alle die kleinen Städte auf der TomanHalbinsel, wo jede sich unabhängig halten von alle Staaten. Wir sogar können laden Felle aus Saldaea und Eispfeffer, was nach Bandar Eban runtergebracht wurden.«

Yarin schüttelte bedächtig den Kopf. Er sah immer nur die schlechten Seiten, aber er war ein guter Seemann. »Felle und Eispfeffer sin' dort teurer, als wenn Ihr den Fluß raufsegelt, Käpten. Und ich hab' gehört, da herrscht so 'ne Art Krieg. Wenn Tarabon und Arad Doman gegeneinander kämpfen, gibt's vielleicht kein Handel. Ich glaub' nich', daß wir aus den Städten auf der TomanHalbinsel viel herausschlagen können, auch wenn wir dort unbehelligt sin'. Falme is' dort die größte Stadt, und die is' nich' groß.«

»Die Taraboner und die Domani haben sich immer gestreiten um die Ebene von Almoth und die TomanHalbinsel. Auch wenn sie diesmal vielleicht kämpfen: Ein vorsichtiger Mann immer Sachen zu handeln kann finden. Nach Westen, Yarin.«

Als Yarin wieder oben war, verstaute Domon schnell die schwarze und weiße Scheibe im Geheimfach und legte den Rest zurück auf den Boden seiner Truhe. Schattenfreunde oder Aes Sedai, ich nicht werden rennen dahin, wo sie mich wollen haben. Glück stich mich, ich nein werden.

Domon fühlte sich zum ersten Mal seit Monaten wieder sicher. Er ging an Deck, gerade als die Gischt halste, um unter den Wind zu kommen. Der Bug zeigte über die nachtdunkle See nach Westen.

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