Nynaeve drückte Elayne in die enge Gasse zwischen einem Tuchhändler und der Werkstatt eines Töpfers zurück, als ein durch eine silberne Leine verbundenes Frauenpaar vorbeikam, das die mit Kopfstein gepflasterte Straße zum Hafen von Falme hinunterschritt. Sie wagten nicht, dieses Paar zu nahe an sich herankommen zu lassen. Die Menschen auf der Straße machten diesen beiden noch bereitwilliger Platz als den Soldaten der Seanchan oder den gelegentlich vorbeikommenden Sänften der Adligen, die nun, da die Tage kalt geworden waren, durch dicke Vorhänge ihre Insassen verbargen. Selbst die Pflastermaler boten den beiden Frauen ihre Dienste nicht an, obwohl sie ansonsten alle mit ihren Kreiden belästigten. Nynaeve verzog zornig den Mund, während sie die Sul'dam und die Damane auf ihrem Weg durch die Menge beobachtete. Obwohl sie sich bereits seit ein paar Wochen in dieser Stadt aufhielten, machte sie dieser Anblick krank, jetzt womöglich noch mehr als vorher. Sie konnte sich nicht vorstellen, so etwas irgendeiner Frau antun zu können, noch nicht einmal Moiraine oder Liandrin.
Na ja, Liandrin vielleicht schon, gab sie widerwillig zu. Manchmal, tief in der Nacht in dem kleinen muffigen Zimmer über einem Fischhändler, das sie gemietet hatten, stellte sie sich vor, was sie alles mit Liandrin anstellen würde, bekäme sie sie in die Hände. Mit Liandrin mehr als mit Suroth. Mehr als einmal war sie über ihre eigene Grausamkeit erschrocken, obwohl sie sich an ihrem Erfindungsreichtum erfreute. Während sie sich noch bemühte, das Frauenpaar weiter zu beobachten, fiel ihr Blick auf einen knochigen Mann, der weit unten die Straße hinabschritt und schnell wieder in der Menge untertauchte. Sie sah nur einen Augenblick lang eine große Nase in einem schmalen Gesicht. Er trug über seiner Kleidung ein reich verziertes bronzefarbenes Gewand nach typischer Seanchan-Mode, aber sie glaubte nicht, daß er ein Seanchan war. Der Diener, der ihm folgte, war allerdings einer, und sogar einer von hohem Rang, da er die Haare an einer Schläfe abrasiert hatte. Die Einwohner Falmes hatte die Mode der Seanchan nicht angenommen und diese spezielle schon gar nicht. Der sah aus wie Padan Fain, dachte sie ungläubig. Das kann ja wohl nicht sein. Nicht hier. »Nynaeve«, fragte Elayne leise, »können wir weitergehen? Dieser Bursche hier, der die Äpfel verkauft, schaut schon ganz mißtrauisch, und wenn er nachzählt, möchte ich nicht, daß er sich fragt, was ich wohl in den Taschen habe.«
Sie trugen beide lange Mäntel aus Schafsleder mit dem Fell nach innen, und jede hatte auf der Brust leuchtendrote Spiralen aufgemalt bekommen. Das war typisch ländliche Kleidung, die in Falme nicht weiter auffiel, wo ja sehr viele Leute aus den Bauernhöfen und Dörfern der Umgebung herumliefen. Unter so vielen Fremden hatten sie sich unbemerkt einnisten können. Sie hatte ihren Zopf entflochten und ausgekämmt, und der goldene Ring, der Ring mit der Schlange, die ihren eigenen Schwanz fraß, hing jetzt neben Lans schwerem Ring an einer Lederschnur wie ein Medaillon unter ihrem Kleid.
Die großen Taschen auf Elaynes Mantel beulten sich verdächtig aus. »Du hast ihm die Äpfel gestohlen?« zischte Nynaeve leise. Sie zog Elayne sofort hinaus auf die belebte Straße. »Elayne, wir müssen doch nicht stehlen. Jedenfalls noch nicht.«
»Nein? Wieviel Geld haben wir noch übrig? Du hast in letzter Zeit beim Essen verdächtig oft ›keinen Hunger‹ gehabt.«
»Weil ich einfach keinen Hunger hatte«, fauchte Nynaeve. Sie versuchte, den Hohlraum in ihrem Magen nicht zu beachten. Alles kostete hier viel mehr, als sie erwartet hatte. Sie hatte gehört, wie sich die Einheimischen darüber beschwerten, daß die Preise seit der Ankunft der Seanchan so stark gestiegen waren. »Gib mir einen davon.« Der Apfel, den Elayne aus ihrer Tasche hervorkramte, war klein und hart, aber er schmeckte ausgesprochen süß, als Nynaeve hineinbiß. Sie leckte sich die Lippen. »Wie hast du das fertigge... « Sie zerrte Elayne herum und sah ihr in die Augen. »Hast du...? Hast du...?« Sie kam nicht darauf, wie sie ihre Frage formulieren sollte, ohne daß die vielen vorbeiströmenden Menschen etwas mitbekamen. Doch Elayne verstand sie auch so.
»Nur ein bißchen. Ich habe es so angestellt, daß der Stapel alter Melonen, die schon Druckflecken hatten, umfiel, und als er sie wieder aufstapelte... « Sie bringt nicht einmal so viel Anstand auf, zu erröten oder verlegen zu wirken, dachte Nynaeve. Statt dessen aß sie gelassen einen der Äpfel und zuckte die Achseln. »Es ist gar nicht notwendig, daß du mich so finster ansiehst. Ich habe mich schon genau vergewissert, daß keine Damane in der Nähe war.« Sie schniefte. »Wenn ich eine Gefangene wäre, würde ich denen nicht helfen, weitere Frauen zu Sklavinnen zu machen. Wenn man allerdings diese Leute aus Falme betrachtet, könnte man denken, sie hätten ihr Leben lang nichts anderes getan, als denen zu dienen, die eigentlich ihre größten Feinde sind.« Sie sah sich mit verächtlich verzogener Miene um. Man konnte deutlich den Kurs eines jeden Seanchan durch die Menge verfolgen, selbst den einfacher Soldaten, denn die Verbeugungen pflanzten sich wie eine Welle fort. »Sie sollten Widerstand leisten und kämpfen.« »Wie denn? Gegen... das?«
Sie mußten wie alle anderen zur Seite treten, als sich eine Patrouille der Seanchan näherte, die vom Hafen heraufkam. Nynaeve brachte es fertig, sich — Hände auf den Knien — mit völlig unbeteiligtem Gesicht zu verbeugen. Elayne war langsamer und begleitete ihre Verbeugung mit immer noch verächtlich verzogenem Mund.
Die Patrouille bestand aus zwanzig gerüsteten Männern und Frauen. Sie ritten auf normalen Pferden, was Nynaeve dankbar zur Kenntnis nahm. Sie konnte sich nicht daran gewöhnen, Leute auf Kreaturen reiten zu sehen, die wie schwanzlose Katzen mit Bronzeschuppen aussahen, und ein Reiter auf einem dieser fliegenden Wesen verursachte ihr gar Schwindelgefühle. Sie war heilfroh, daß es so wenige davon gab. Aber auch bei dieser Patrouille liefen zwei angekettete Kreaturen nebenher, die wie flügellose Vögel mit ledriger Haut und scharfen spitzen Schnäbeln aussahen. Ihre Köpfe ragten noch über die Helme der berittenen Soldaten hinaus. Mit ihren langen sehnigen Beinen rannten sie sicherlich schneller als jedes Pferd.
Sie richtete sich langsam wieder auf, nachdem die Seanchan verschwunden waren. Einige Leute, die sich ebenfalls tief verbeugt hatten, machten den Eindruck, als wären sie am liebsten weggelaufen, denn außer den Seanchan selbst fühlte sich niemand in der Gegenwart dieser Kreaturen wohl. »Elayne«, sagte sie leise, als sie weitergingen, »ich schwöre dir: Wenn sie uns fangen, werde ich vor meinem Tod auf Knien darum bitten, daß ich dich zuvor noch von Kopf bis Fuß mit der stärksten Rute verhauen darf, die ich finden kann. Wenn du immer noch keine Vorsicht gelernt hast, ist es vielleicht besser, dich nach Tar Valon zurückzuschicken oder heim nach Caemlyn oder jedenfalls irgendwo anders hin.«
»Ich bin doch vorsichtig. Ich habe mich umgesehen, um sicher zu sein, daß keine Damane in der Nähe war. Wie steht es denn mit dir? Ich habe gesehen, wie du die Macht benützt hast, obwohl eine Damane in Sicht war.«
»Ich habe mich vergewissert, daß sie nicht in meine Richtung schauten«, knurrte Nynaeve. Sie hatte ihren ganzen Zorn auf Frauen in die Waagschale werfen müssen, die andere Frauen wie Tiere an die Leine legten, um überhaupt etwas zustande zu bringen. »Und es war nur ein einziges Mal und sowieso nur ein ganz schwacher Versuch.«
»Ein ganz schwacher Versuch? Wir mußten uns drei Tage lang im Fischgestank unseres Zimmers verbergen, weil sie den ganzen Ort absuchten, um jene zu finden, die das angestellt hatte! Nennst du das Vorsicht?«
»Ich mußte herausbekommen, ob es möglich ist, diese Halsbänder zu öffnen.« Sie glaubte fest daran. Sie würde mindestens noch einmal eine Probe aufs Exempel machen müssen, um ganz sicher zu sein, und das erfüllte sie mit Unbehagen. Genau wie Elayne hatte sie geglaubt, die Damane seien als Gefangene daran interessiert, freizukommen, doch es war ausgerechnet die Frau mit dem Halsband gewesen, die Alarm geschlagen hatte.
Ein Mann mit einem zweirädrigen Karren schob sich an ihnen vorbei. Der Karren rumpelte laut über das Kopfsteinpflaster. Wie ein Marktschreier bot er seine Dienste als Scheren- und Messerschleifer an. »Irgendwie sollten sie Widerstand leisten«, grollte Elayne. »Sie tun immer so, als sähen sie überhaupt nichts, wenn ein Seanchan an etwas beteiligt ist.«
Nynaeve seufzte nur. Elayne hatte zumindest teilweise recht — aber das half auch nicht weiter. Zuerst hatte sie geglaubt, diese widerstandslose Ergebenheit der Einwohner von Falme sei lediglich vorgetäuscht, doch sie hatte noch immer kein Anzeichen für den geringsten Widerstand gefunden. Sie hatte sich wirklich danach umgeschaut, da sie hoffte, für die Befreiung Egwenes und Mins Helfer zu finden, aber jeder hatte schon bei der kleinsten Andeutung eines Widerstands gegen Seanchan entsetzt den Rückzug angetreten. So hatte sie es aufgegeben, bevor sie noch mehr Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Sie konnte sich tatsächlich auch nicht vorstellen, wie diese Leute sich zur Wehr setzen sollten. Monster und Aes Sedai. Wie kann man gleichzeitig gegen Monster und Aes Sedai kämpfen? Vor ihnen standen nun fünf hohe Steinhäuser, die zu den größten in der Stadt gehörten und zusammen ein geschlossenes Viereck bildeten. Eine Straße davor entdeckte Nynaeve eine kleine Gasse neben einer Schneiderei, von der aus sie die meisten Eingänge zu diesem großen Häuserblock im Auge behalten konnten. Sie konnten nicht alle Eingänge gleichzeitig beobachten, und sie wollte auch nicht, daß Elayne allein einen anderen Posten bezog, aber näher heran wagten sie sich auch nicht. Über den Dächern dieser Häuser flatterte die Flagge mit dem goldenen Falken, dem Abzeichen des Hochlords Turak, im Wind.
Nur Frauen gingen in diese Häuser hinein oder traten heraus, und die meisten davon waren Sul'dam, allein oder in Begleitung von Damane. Die Gebäude waren von den Seanchan besetzt worden, um die Damane unterzubringen. Egwene mußte sich darin befinden und wahrscheinlich auch Min. Sie hatten Min bisher nicht entdeckt, doch es war möglich, daß sie sich genau wie sie in der Menge verbarg. Nynaeve hatte viel darüber gehört, daß Frauen und Mädchen von der Straße weg oder in den Dörfern gefangen und in diese Häuser gebracht worden waren. Falls sie je wiedergesehen wurden, trugen sie ein Halsband.
Sie setzte sich neben Elayne auf eine leere Kiste und holte sich aus Elaynes Manteltasche einen der kleinen Äpfel. Hier waren weniger Einheimische auf der Straße zu sehen. Jeder wußte über die Häuser Bescheid und mied sie, genau wie sie die Stallungen mieden, in denen die Seanchan ihre seltsamen Kreaturen untergebracht hatten. Es war nicht schwer, zwischen den Passanten hindurch die Eingänge zu beobachten. Nur zwei Frauen, die sich ausruhten und einen Bissen aßen; also wieder zwei Menschen, die sich das Essen in einer Schenke nicht leisten konnten. Sie zogen nicht mehr als flüchtige Blicke auf sich.
Nynaeve aß ganz mechanisch und versuchte dabei, Pläne zu schmieden. Wenn sie ein solches Halsband öffnen konnte — falls es wirklich gelänge —, half das gar nichts. Erst einmal mußten sie Egwene aufspüren. Die Äpfel schmeckten ihr plötzlich nicht mehr so süß.
Aus dem engen Fenster ihres winzigen Zimmers unter dem Dach, eines von mehreren, die man durch Holzverschläge voneinander abgetrennt hatte, schaute Egwene direkt in den Garten hinab, in dem die Damane von ihren Sul'dam spazieren geführt wurden. Es hatte ursprünglich mehrere Gärten gegeben, doch die Seanchan hatten die Trennmauern abgerissen, als sie die Häuser für ihre Damane besetzten. Die Bäume trugen keine Blätter mehr, aber man brachte die Damane trotzdem an die frische Luft, ob sie es wollten oder nicht. Egwene blickte in den Garten hinab, weil sich Renna dort aufhielt und mit einer anderen Sul'dam unterhielt. Solange sie Renna im Auge behielt, konnte sie nicht hereinkommen und sie überraschen.
Es konnte natürlich auch eine andere Sul'dam hereinkommen. Es gab viel mehr Sul'dam als Damane, und jede Sul'dam wollte auch einmal das Armband tragen — sie nannten es: ›vollständig sein‹. Doch Renna war nach wie vor für ihre Ausbildung zuständig, und in vier von fünf Fällen trug Renna ihr Armband. Falls jemand einzutreten wünschte, gab es keine Möglichkeit, ihn daran zu hindern. Es gab keine Schlösser an den Türen zu den Zimmern der Damane. In Egwenes Zimmer standen nur ein enges hartes Bett, ein Waschgestell mit einer angestoßenen Kanne und einer großen Waschschüssel, ein Stuhl und ein Tisch, und für mehr war auch kein Platz. Damane brauchten keine Bequemlichkeit, keine Privatsphäre und kein Eigentum. Damane waren selbst Eigentum. Min hatte auch ein solches Zimmer in einem der anderen Häuser, doch sie konnte kommen und gehen, wie sie wollte — oder fast, wie sie wollte. Die Seanchan hatten eine Schwäche für Vorschriften, von denen es für jedermann mehr gab als in der Weißen Burg für die geplagten Novizinnen.
Egwene trat vom Fenster zurück. Sie wollte nicht riskieren, daß eine der Frauen von unten hochblickte und das leichte Glühen um sie herum bemerkte, das beim Benutzen der Einen Macht entstand. Sie tastete mit Saidar vorsichtig nach ihrem Halsband. Ihre Suche nach einer Schwachstelle aber war umsonst. Sie wußte noch nicht einmal, ob das Band gewebt oder aus Einzelgliedern zusammengesetzt war. Manchmal schien es so und dann wieder anders. Auf jeden Fall wirkte es wie ein einziges Stück. Sie benutzte nur ein winziges bißchen der Macht, die kleinste Einheit, die sie sich vorstellen konnte, und doch stand auf ihrer Stirn Schweiß, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Es war eine der Eigenschaften des A'dam, daß es einer Damane, die in Abwesenheit ihrer Sul'dam die Macht benützte, schlecht wurde, und je mehr Macht sie lenkte, desto schlechter wurde ihr. Wenn sie nur eine Kerze entzündet hätte, die etwas weiter als eine Armlänge von ihr entfernt stand, hätte sie sich übergeben müssen. Renna hatte ihr einmal befohlen, die kleinen Lichtkugeln zu jonglieren, während das Armband auf dem Tisch lag. Wenn sie sich daran erinnerte, schüttelte sie sich immer noch.
Jetzt schlängelte sich die silberne Leine über den nackten Fußboden und an der ungetünchten Holzwand hinauf bis zu dem Haken, an dem das Armband hing. Bei diesem Anblick knirschte sie vor ohnmächtigem Zorn mit den Zähnen. Wenn man einen Hund so nachlässig alleinließ, konnte er wegrennen. Wenn jedoch eine Damane ihr Armband auch nur einen Fußbreit von der Stelle entfernte, an die es die Sul'dam gelegt hatte... Renna hatte ihr auch aufgetragen, das zu tun. Sie mußte ihr eigenes Armband durch das Zimmer tragen — oder es zumindest versuchen. Sie war sicher, daß es nur Minuten dauerte, bis die Sul'dam sich das Armband selbst mit heftiger Bewegung angelegt hatte, doch Egwenes Schreien und die Krämpfe, unter denen sie sich auf dem Fußboden wälzte, schienen sich über Stunden hinzuziehen.
Jemand klopfte, und Egwene fuhr zusammen, bevor ihr einfiel, daß es keine Sul'dam sein konnte. Von denen würde keine anklopfen. Sie ließ Saidar fahren, da sie sich sowieso schon mies fühlte. »Min?«
»Hier bin ich zu meinem wöchentlichen Besuch«, verkündete Min, als sie hereinschlüpfte und die Tür schloß. Ihre Fröhlichkeit klang ein wenig gezwungen, doch sie bemühte sich immer, so gut sie konnte, Egwenes Stimmung zu heben. »Wie gefällt es dir?« Sie drehte sich um die eigene Achse und führte ihr dunkelgrünes Wollkleid aus dem Seanchanschen Fundus vor. Einen schweren, dazu passenden Umhang hatte sie sich über den Arm gelegt. Und ihr dunkles Haar wurde noch von einem grünen Band zusammengehalten, obwohl es noch kaum lang genug dafür war. An ihrer Hüfte hing immer noch das Messer in der Scheide. Egwene war überrascht gewesen, als Min es beim ersten Zusammentreffen trug, aber die Seanchan vertrauten ihnen offenbar. So lange, bis sie eine Vorschrift brachen.
»Es ist hübsch«, sagte Egwene vorsichtig. »Aber warum?«
»Ich bin nicht zum Feind übergelaufen, falls du das denkst. Ich mußte mich entweder anpassen oder ein Zimmer irgendwo draußen in der Stadt nehmen, von wo aus ich dich vielleicht nicht mehr hätte besuchen dürfen.« Sie wollte sich schon breitbeinig auf den Stuhl setzen, als trüge sie Hosen, schüttelte dann aber den Kopf und drehte den Stuhl um, damit sie sich richtig hinsetzen konnte. »Jeder hat seinen Platz im Muster«, imitierte sie spöttisch, »und der Platz eines jeden muß deutlich sichtbar sein. Diese alte Hexe Mulaen hatte es wohl satt, nicht schon bei meinem Anblick zu wissen, welches mein Platz sei, und so entschloß sie sich, mir den Rang eines Küchenmädchens zu verleihen. Sie ließ mich wählen. Du solltest mal sehen, was manche von den Seanchan-Mädchen tragen —diejenigen, die den Lords dienen. Es könnte mir schon gefallen, aber nicht, wenn ich nicht wenigstens verlobt bin oder noch besser: verheiratet. Na ja, nun gibt es kein Zurück mehr. Noch nicht. Mulaen verbrannte meinen Mantel und meine Hosen.« Sie schnitt eine Grimasse, um zu unterstreichen, was sie davon hielt, und nahm dann einen Stein von einem kleinen Stapel auf dem Tisch. Sie ließ ihn von Hand zu Hand hüpfen. »Es ist nicht so schlimm«, sagte sie lachend, »aber ich habe so lange keinen Rock mehr getragen, daß ich ständig ins Stolpern komme.«
Auch Egwene hatte zusehen müssen, wie ihre Kleider verbrannt wurden, einschließlich dieses wunderschönen grünen Seidenkleids. Sie war froh gewesen, daß sie nicht noch mehr der Kleider mitgebracht hatte, die ihr Lady Amalisa gegeben hatte. Wahrscheinlich würde sie keines davon jemals wiedersehen, und auch die Weiße Burg nicht. Was sie jetzt trug, war von dem gleichen Dunkelgrau, das alle Damane anhatten. Damane haben kein Eigentum, hatte man ihr erklärt. Das Kleid, das eine Damane trägt, das Essen, das sie zu sich nimmt, das Bett, in dem sie schläft, sind alles Geschenke von ihrer Sul'dam. Falls eine Sul'dam beschließt, daß eine Damane auf dem Fußboden anstatt in einem Bett oder in einer Box im Stall schläft, dann liegt die Entscheidung einzig und allein bei der Sul'dam. Mulaen, die für die Quartiere der Damane zuständig war, hatte eine eintönige Stimme und sprach immer so durch die Nase. Aber sie bestrafte jede Damane, die nicht jedes Wort ihrer langweiligen Vorträge auswendig kannte.
»Ich glaube nicht, daß es für mich jemals ein Zurück gibt«, seufzte Egwene und ließ sich auf das Bett sinken.
Sie deutete auf die Steine, die auf dem Tisch lagen. »Renna hat mich gestern geprüft. Ich habe das Stück Eisenerz und das Kupfererz herausgefunden, und zwar mit verbundenen Augen und jedesmal, wenn sie die Klumpen neu mischte. Sie ließ sie hier liegen, um mich an meinen Erfolg zu erinnern. Sie hielt es wohl für eine Art Belohnung.«
»Das scheint mir auch nicht schlimmer zu sein als alles andere — weit weniger schlimm, als wenn Feuerwerkskörper explodieren —, aber hättest du nicht schwindeln können? Ihr erzählen, du könntest die Stücke nicht unterscheiden?«
»Du weißt immer noch nicht, wie das wirklich ist.« Egwene zog an ihrem Halsband, aber das half auch nicht mehr als das Lenken der Macht vorher. »Wenn Renna dieses Armband trägt, weiß sie genau, was ich mit Hilfe der Macht anstelle und was nicht. Manchmal scheint sie es sogar zu wissen, wenn sie es nicht trägt. Sie sagt, daß Sul'dam mit der Zeit eine gewisse Affinität — so nennt sie es — zu ihrer Damane entwickeln.« Sie seufzte.
»Niemand hatte bisher auch nur daran gedacht, mich auf so etwas zu überprüfen. Die Erde ist eine der fünf Mächte, die bei den Männern am stärksten vertreten war. Als ich diese Steine auswählte, nahm sie mich mit zu einer Stelle außerhalb der Stadt, und ich war in der Lage, geradewegs auf ein verlassenes Eisenbergwerk zu deuten. Es war alles überwuchert, und keine Öffnung war zu sehen, aber sobald ich einmal Bescheid wußte, fühlte ich das Eisen, das sich noch im Boden befindet. Es war nicht genug da, als daß man es in den letzten hundert Jahren lohnend hätte abbauen können, aber ich wußte, es war vorhanden. Ich konnte sie nicht anlügen, Min. Sie wußte im gleichen Moment wie ich, daß ich das Bergwerk fühlte.
Sie war so erregt, daß sie mir zum Abendessen einen Pudding versprach.« Sie spürte, wie ihre Wangen vor Ärger und Scham brannten. »Offensichtlich bin ich nunmehr so wertvoll«, sagte sie in bitterem Ton, »daß man meine Kräfte nicht mehr damit verschwendet, Sachen zum Explodieren zu bringen. Das kann jede Damane, aber kaum eine kann Erze im Boden aufspüren. Licht, ich hasse es, Sachen explodieren zu lassen, aber ich wünschte, das wäre alles, was ich fertigbringe.«
Ihre Wangen färbten sich noch dunkler. Sie haßte es wirklich, wenn sie Bäume zum Zerspringen und die Erde zum Aufbäumen brachte. Das war für den Kampf bestimmt, für das Töten, und damit wollte sie nichts zu tun haben. Aber alles, was sie für die Seanchan tat, bedeutete eine neue Gelegenheit, Saidar zu berühren und den Strom der Macht in ihrem Körper zu fühlen. Sie verabscheute die Dinge, die sie für Renna und die anderen Sul'dam tun mußte, doch sie war sicher, daß sie mittlerweile ein viel größeres Potential aufwies als zuvor in Tar Valon. Sie wußte, daß sie mit Hilfe der Macht Dinge tun konnte, an die keine Schwester in der Burg je auch nur gedacht hatte; sie dachten nie daran, die Erde aufzureißen, um Männer zu töten.
»Vielleicht mußt du dir über alles das bald keine Sorgen mehr machen«, sagte Min grinsend. »Ich habe ein Schiff für uns gefunden, Egwene. Der Kapitän ist hier von den Seanchan festgehalten worden, und jetzt ist er soweit, daß er segeln will, gleichgültig, ob er eine Erlaubnis hat oder nicht.«
»Wenn er dich mitnimmt, Min, dann segle mit ihm«, sagte Egwene ergeben. »Ich sagte dir ja, daß ich nun wertvoll bin. Renna sagt, daß man in ein paar Tagen ein Schiff hinüber nach Seanchan schicken wird. Und das nur, um mich dorthin zu bringen.«
Min verging das Grinsen, und sie blickten einander in die Augen. Plötzlich warf Min den Stein zurück auf den Stapel, und er flog auseinander. »Es muß einen Weg von hier fort geben. Es muß möglich sein, dieses verdammte Ding um deinen Hals zu lösen!«
Egwene lehnte den Kopf zurück an die Wand. »Du weißt doch, daß die Seanchan jede Frau eingefangen haben, die auch nur ein winziges bißchen der Macht beherrschen kann, alle, die sie finden konnten. Sie kommen von überallher, nicht nur aus Falme, sondern auch aus den Fischerdörfern und aus Bauerndörfern im Landesinneren. Taraboner und Domanifrauen, Passagiere der von ihnen gekaperten Schiffe. Es sind auch zwei Aes Sedai darunter.«
»Aes Sedai!« rief Min. Gewohnheitsmäßig sah sie sich um, ob auch keine Seanchan gehört hatte, welche Bezeichnung sie da aussprach. »Egwene, wenn sich hier Aes Sedai befinden, können sie uns helfen. Laß mich mit ihnen sprechen und... «
»Sie können sich nicht einmal selbst helfen, Min. Ich habe nur mit einer gesprochen. Sie heißt Ryma. Die Sul'dam nennen sie nicht so, aber das ist ihr Name. Sie wollte, daß ich ihn kenne. Sie sagte mir, daß noch eine da sei. Das erzählte sie mir unter Tränen. Sie ist eine Aes Sedai, und sie weinte bitterlich, Min! Sie trägt ein Halsband, sie wird hier Pura genannt, und sie kann nichts dagegen tun, genausowenig wie ich. Sie haben sie bei der Kapitulation Falmes gefangengenommen. Sie weinte, weil sie den Widerstand langsam aufgab, weil sie es nicht mehr ertragen kann, bestraft zu werden. Sie weinte, weil sie Selbstmord begehen wollte und auch das nicht ohne Erlaubnis fertigbringt. Licht, ich weiß, wie sie sich fühlt!«
Min rutschte nervös umher und strich sich ständig das Kleid glatt. »Egwene, das willst du doch nicht... Egwene, du darfst nicht daran denken, dir etwas anzutun. Ich kriege dich irgendwie hier heraus. Ganz bestimmt!«
»Ich werde mich nicht umbringen«, meinte Egwene trocken. »Nicht einmal, wenn ich könnte. Gib mir dein Messer. Komm schon! Ich werde mich schon nicht verletzen. Gib's mir nur einfach.«
Min zögerte und zog dann langsam ihr Messer aus der Scheide. Sie hielt es ihr vorsichtig hin. Offensichtlich war sie sprungbereit, sollte Egwene irgend etwas versuchen.
Egwene atmete tief ein und griff nach dem Knauf. Ein leichtes Zittern durchlief ihre Armmuskulatur. Als ihre Hand sich dem Messer auf etwa ein Fuß Entfernung genähert hatte, krümmten sich plötzlich ihre Finger unter einem Krampf. Mit starr geradeaus gerichtetem Blick bemühte sie sich, ihre Hand noch näher heranzuzwingen. Der Krampf erfaßte ihren ganzen Arm und verknotete die Muskeln bis hinauf zur Schulter. Aufstöhnend sackte sie zusammen und konzentrierte sich in Gedanken darauf, das Messer nicht zu berühren. Langsam ließ der Schmerz nach.
Min sah sie ungläubig an. »Was... ? Ich verstehe nicht.«
»Einer Damane ist es nicht erlaubt, irgendeine Waffe zu berühren.« Sie massierte ihren Arm und fühlte, wie die Anspannung nachließ. »Man schneidet uns sogar das Fleisch vor. Ich will mich gar nicht verletzen, aber selbst wenn ich es wollte, könnte ich nicht. Man läßt auch keine Damane irgendwo allein, wo sie aus größerer Höhe hinabspringen könnte. Dieses Fenster hier hat man zugenagelt. Wir können auch nicht in einen Fluß springen.«
»Na, das ist doch gut. Ich meine... Ach, ich weiß selbst nicht, was ich meine. Falls du in einen Fluß sprängst, könntest du entkommen.«
Egwene fuhr einfach fort, als habe Min nichts gesagt: »Sie schulen mich, Min. Die Sul'dam und ihre Adam bilden mich aus. Ich kann nichts berühren, was ich selbst für eine Waffe halte. Vor ein paar Wochen wollte ich Renna diesen Krug über den Schädel hauen, und daraufhin konnte ich drei Tage lang kein Waschwasser mehr ausgießen. Ich mußte nicht nur den Gedanken aufgeben, sie damit zu schlagen, nein, ich mußte mich auch noch selbst überzeugen, daß ich sie niemals, unter gar keinen Umständen, damit schlagen würde. Erst dann konnte ich den Krug wieder berühren. Sie wußte, was geschehen war, und schrieb mir vor, was ich tun müsse. Ich durfte mich ausschließlich in gerade dieser Schüssel und diesem Krug waschen und nirgends sonst. Du hast Glück, daß es zwischen deinen Besuchstagen geschah. Renna ließ mich nämlich von früh bis spät schuften, und abends fiel ich völlig erschöpft ins Bett. Ich bemühe mich schon, Widerstand zu leisten, aber sie bilden mich genauso weiter aus wie Pura.« Sie schlug sich die Hand über den Mund und stöhnte auf. »Sie heißt Ryma. Ich muß an ihren richtigen Namen denken und nicht an den, den sie ihr gegeben haben. Sie heißt Ryma, gehört zu den Gelben Ajah und hat so lange und hart gegen sie gekämpft, wie sie nur konnte. Es ist nicht ihre Schuld, daß sie nun keine Kraft mehr hat, sich dagegen aufzulehnen. Ich möchte wissen, wer die andere Schwester ist, die Ryma erwähnte. Ich hätte gern ihren Namen gewußt. Erinnere dich an uns beide, Min, an Ryma von den Gelben Ajah und an Egwene al'Vere. Nicht Egwene, die Damane, sondern Egwene al'Vere aus Emondsfeld. Schaffst du das?«
»Hör auf!« fauchte Min. »Hör augenblicklich damit auf! Wenn du nach Seanchan gebracht wirst, bin ich dabei. Aber ich glaube nicht, daß es soweit kommt. Du weißt, daß ich in deiner Zukunft herumgestöbert habe, Egwene. Ich verstehe wohl das meiste nicht, und das ist fast immer so, aber ich sehe Dinge, die dich einwandfrei mit Rand verbinden und mit Perrin und Mat, ja, und sogar mit Galad, Licht hilf dir Närrin. Wie kann das alles geschehen, wenn die Seanchan dich übers Meer verfrachten?«
»Vielleicht werden sie die ganze Welt erobern, Min. Falls sie das schaffen, gibt es keinen Grund, warum Rand und Galad und die anderen nicht auch in Seanchan landen sollten.«
»Du bist doch eine dumme Gans!«
»Ich bin nur realistisch«, sagte Egwene mit harter Stimme. »Ich habe nicht vor, den Widerstand einzustellen, nicht, solange ich noch atmen kann, aber ich habe keine Hoffnung, daß jemand die Seanchan aufhalten kann und daß ich dieses A'dam jemals loswerde. Min, wenn dieser Kapitän dich mitnehmen will, dann geh mit. Dann ist wenigstens eine von uns frei.«
Die Tür öffnete sich, und Renna trat ein.
Egwene sprang auf und verbeugte sich tief, und Min tat es ihr nach. Das winzige Zimmer war ziemlich eng, aber die Seanchan bestanden darauf, daß Höflichkeitsregeln vor Bequemlichkeit kamen.
»Dein Besuchstag heute, nicht wahr?« fragte Renna. »Das hatte ich vergessen. Na ja, auch an Besuchstagen geht die Ausbildung weiter.«
Egwene beobachtete sie genau. Die Sul'dam nahm das Armband vom Haken, öffnete es und ließ es am Handgelenk wieder zuschnappen. Sie konnte aber einfach nicht feststellen, wie es sich öffnete oder schloß. Sie hätte es herausbekommen, hätte sie die Eine Macht eingesetzt, doch das wäre Renna sofort aufgefallen. Als das Armband zuschnappte, blickte die Sul'dam plötzlich mißtrauisch drein. Egwenes Herz wurde schwer.
»Du hast die Macht gebraucht.« Rennas Stimme klang täuschend mild, doch in ihren Augen stand der Ärger geschrieben. »Du weißt, das ist verboten, wenn wir nicht vollständig sind.« Egwene befeuchtete die Lippen. »Vielleicht war ich zu großzügig mit dir. Vielleicht glaubst du auch, weil du jetzt wertvoll bist, ließe ich dir freien Lauf. Ich glaube, es war ein Fehler, dir deinen alten Namen zu lassen. Ich hatte als Kind ein Kätzchen namens Tuli. Von nun an heißt du Tuli. Min, du gehst jetzt. Dein Besuchstag bei Tuli ist jetzt zu Ende.«
Min zögerte nur kurz und warf Egwene einen gequälten Blick zu. Dann ging sie. Nichts, was sie sagte oder tat, hätte geholfen. Im Gegenteil, sie hätte die Lage nur verschlimmern können. Egwene blickte sehnsuchtsvoll zur Tür, als die sich hinter ihrer Freundin schloß.
Renna holte sich den Stuhl heran und sah Egwene finster an. »Für diese Sache muß ich dich streng bestrafen. Wir werden beide vor den Hof der Neun Monde gerufen —du wegen deiner Fähigkeiten und ich als deine Sul'dam und Ausbilderin —, und ich werde dir nicht gestatten, mich in den Augen der Kaiserin lächerlich zu machen. Ich werde aufhören, wenn du mir sagst, wie sehr du es liebst, Damane sein zu dürfen, und wie folgsam du künftig sein wirst. Und, Tuli, du mußt mich Wort für Wort von deiner Ernsthaftigkeit überzeugen!«