ERSTES BUCH Sommer

1

ADAM SILVERSTONE

Die Sterne am erbleichenden Himmel hatten sich langsam in ihr Versteck gedrückt. Als der hustende Lastwagen die Überlandstraße von Massachusetts verließ und durch die menschenleeren Randbezirke ratterte, flackerte die lange Reihe von Straßenlampen den Fluß entlang zweimal auf und erstarb dann in der Finsternis. Der heiße Tag nahte, aber das Erlöschen der Lichterkette verlieh dem Tagesanbruch eine kurze trügerische Kühle und Dunkelheit.

Er starrte durch die staubige Windschutzscheibe, als sie sich Boston näherten, jener Stadt, die seinen Vater geformt, aufgerieben und zerbrochen hatte.

Mir werdet ihr das nicht antun, sagte er zu den vorbeiziehenden Häusern, der Skyline, dem Fluß.

»Sieht gar nicht nach einer schwierigen Stadt aus«, sagte er.

Der Fahrer sah ihn überrascht von der Seite an. Ihr Gespräch war schon vor achtzig Meilen, zwischen Hartford und Worcester, in ein ermüdendes Schweigen gemündet, als Folge einer heftigen Meinungsverschiedenheit über die John-Birch-Society. Jetzt sagte der Mann etwas Undeutliches, das im Dröhnen des Motors unterging.

Adam schüttelte den Kopf. »Verzeihung, ich habe nicht verstanden.«

»Was ist los, bist du taub?«

»Ein wenig, am linken Ohr.«

Der Mann runzelte die Stirn, weil er sich gefoppt fühlte. »Ich habe gefragt, wartet ein Job auf dich?«

Adam nickte.

»Und was für einer?«

»Ich bin Chirurg.«

Der Fahrer sah ihn angewidert an, jetzt überzeugt, daß sein Verdacht gerechtfertigt war. »Natürlich, du schäbiger Beatnik. Ich bin Astronaut.«

Adam öffnete den Mund zu einer Erklärung, besann sich, dachte: Zum Teufel mit ihm, schloß ihn wieder und wandte seine Aufmerksamkeit der Szenerie zu. Auf der anderen Seite des Charles River vermochte er in der Dunkelheit weiße Türme zu entdecken, zweifellos Harvard. Irgendwo dort drüben war das Radcliffe College, und dort schlief Gaby Pender wie ein Kätzchen, dachte er und fragte sich, wie lange er es wohl aushielt, sie nicht anzurufen. Würde sie sich an ihn erinnern? Unwillkürlich kam ihm ein Zitat in den Sinn - etwas darüber, wie oft ein Mann eine Frau sehen muß, daß es einmal genügt, das zweitemal aber die Bestätigung bringt.

Der kleine Computer in seinem Kopf sagte ihm, wer der Autor der Zeilen war. Wie gewöhnlich erfüllte ihn die Fähigkeit, sich an nichtmedizinische Dinge zu erinnern, mit gereizter Unzufriedenheit statt mit Stolz. Wortverschwender, hörte er seinen Vater sagen. Adamo Roberto Silver-stone, du selbstgefälliges Aas, sagte er zu sich, schau, wo dein famoses Gedächtnis bleibt, wenn du mit einem Lehrsatz aus Thoreks Anatomy in Surgery oder Wangensteens Intestinal Obstruction ringst.

Kurz darauf schlug der Mann das Lenkrad ein, der Lastwagen polterte vom Storrow Drive weg, über eine Rampe und plötzlich waren erleuchtete Lagerhausfenster da, Last-wagen, Personenwagen, Leute, ein Marktbezirk. Der Fahrer lenkte den Lastwagen eine kopfsteingepflasterte Straße hinunter, an einem Speisehaus vorbei, dessen Neonlicht noch immer blitzte, dann eine zweite lange, kopfsteingepflasterte Straße hinauf, und blieb vor »Benj. Moretti & Sons Produce« stehen. Auf sein Hupen hin trat ein Mann ins Freie und blickte von der Laderampe nach ihnen aus. Fleischig und mit beginnender Glatze sah. er in seinem weißen Arbeitskittel einem der Pathologen vom Krankenhaus in Georgia ähnlich, wo Adam seine Spitalspraxis und das erste Jahr seiner fachärztlichen Ausbildung absolviert hatte. Eh, paysan.

»Was bringst du?«

Der Fahrer rülpste, als würde ein Teppich zerrissen. »Melonen. Zitronen.« Der Mann in Weiß nickte und verschwand.

»Endstation, Kleiner.« Der Fahrer öffnete die Tür und kletterte schwerfällig aus der Fahrerkabine.

Adam griff hinter den Sitz, nahm den abgewetzten billigen Koffer und sprang zu dem Mann auf die Straße hinunter. »Kann ich Ihnen abladen helfen?«

Der Fahrer sah ihn finster und mißtrauisch an. »Das tun die«, sagte er, mit dem Kopf zum Lagerhaus deutend. »Wenn du einen Job haben willst, frag' sie.«

Adam hatte das Angebot aus Dankbarkeit gemacht, sah jedoch erleichtert, daß es unnötig war. »Danke fürs Mitnehmen«, sagte er.

»Schon recht.«

Er ging die Straße hinunter, bis zum Speisehaus, mühte sich mit dem Koffer ab, ein kleiner O-beiniger Mann, zu groß für einen Jockey, zu schwach für die meisten Sportarten, außer für Tauchen, das seit fünf Jahren für ihn kein Sport mehr war. In solchen Momenten bedauerte er, den muskulösen Brüdern seiner Mutter nicht ähnlicher zu sein. Er haßte es, der Gnade eines Menschen ausgeliefert oder von irgend etwas abhängig zu sein, einschließlich eines Gepäckstückes.

Aus dem Speisehaus kamen verlockende Düfte und der geschäftige Lärm billiger Restaurants: Reden und Lachen, das hohle Geklapper von Kochgeschirr drang durch das kleine Fenster zur Küche, das massive Geräusch von Kaffeekannen, die auf die weiße Marmortheke gestellt wurden, das Zischen von Dingen, die am Grill brutzelten. Teure Dinge, entschied er.

»Kaffee, schwarz.«

»Erst zahlen«, sagte das strohhaarige Mädchen. Sie war voll entwickelt, von festem Fleisch, mit einer blassen, milchigen Haut, und würde mit dem Problem der Fettleibigkeit zu kämpfen haben, bevor sie noch dreißig war. Unter der weißbeschürzten linken Brust stachen zwei parallele Schmutzstreifen wie Stigmata hervor.

Der Kaffee schwappte über den Rand der Kanne, als sie ihn Adam zuschob; sie nahm sein Zehncentstück mürrisch entgegen und wandte sich mit einem beleidigenden Hüftschwung ab.

Muh.

Der Kaffee war sehr heiß, und er trank ihn langsam, wagte hie und da sehr mutig einen größeren Schluck und hatte ein siegreiches Gefühl, daß er sich die Zunge nicht verbrannt hatte. Die Wand hinter der Theke war mit Spiegeln verkleidet, aus denen ihn ein Landstreicher anstarrte, stoppelbärtig, zerrauft, in einem verschmutzten, abgetragenen blauen Arbeitshemd. Als er den Kaffee ausgetrunken hatte, stand er auf und trug den Koffer in die Herrentoilette. Er drehte versuchsweise die Wasserhähne auf, aus beiden kam aber nur kaltes Wasser, was Adam nicht über-raschte. Er ging in den Speisesaal zurück und bat das Mädchen um eine Tasse heißes Wasser.

»Für Suppe oder für Tee?«

»Einfach nur Wasser.«

Sie ignorierte ihn mit einer Miene langmütigen Widerwillens. Schließlich gab er nach und bestellte Tee. Als er ihn erhielt, bezahlte er, nahm den Teebeutel aus der Tasse und ließ ihn auf die Theke fallen. Er trug die Tasse in die Herrentoilette. Der Boden war mit Schichten von Sand und, dem Geruch nach zu urteilen, eingetrocknetem Urin bedeckt. Adam stellte die Tasse auf den Rand des schmutzigen Waschbeckens, balancierte den Koffer auf dem Heizkörper und öffnete ihn, um seine Toilettesachen herauszunehmen. Indem er kaltes Wasser in der hohlen Hand auffing und heißes aus der Tasse hinzufügte, gelang es ihm, seinen Bart einzuseifen und sich das Gesicht mit dem Wasser genügend warm zu spülen, um die Stoppeln aufzuweichen. Als er mit dem Rasieren fertig war, sah das Gesicht, das ihn aus dem fleckigen Spiegel anblickte, schon zivilisierter aus. Dr. Silverstone. Braune Augen. Eine große Nase, die er gern für römisch hielt, an sich nicht extrem groß, aber doch durch seine geringe Körpergröße auffallend. Ein breiter Mund, wie eine zynische Schnittwunde in dem mageren Gesicht. Ein trotz der Sonnenbräune unleugbar hellhäutiges Gesicht, von braunen Haaren gekrönt. Einem glanzlosen, faden Braun. Er nahm eine Bürste aus dem Koffer und drückte sie in sein Haar. Sein Teint verursachte ihm immer ein leichtes Schuldbewußtsein. Ein Kind sollte die Farbe von Oliven haben, nicht von Zitronen oder Hafergrütze, hatte er einmal seine Mutter sagen hören. Sein Teint war wie Hafergrütze, ein Kompromiß zwischen seinem blonden Vater und seiner italienischen Mutter.

Seine Mutter war dunkel gewesen, eine Frau mit unglaublich schwarzen Augen und unglaublich schweren Li-dern, den Schlafzimmeraugen einer irdischen Heiligen. Er konnte sich kaum an ihr Gesicht erinnern, aber um ihre Augen zu sehen, brauchte er bloß die seinen zu schließen. An den Abenden, wenn sein Vater betrunken heimgekommen war - der abtrünnige Myron Silberstein, der im Schnaps ertrank, eine Gewohnheit, die er zusammen mit italienischen Lieblingsphrasen angenommen hatte, um seine Vorurteilslosigkeit zu demonstrieren, und seine nach Anis riechenden Hilfeschreie ausstieß (O putana nera! O troia scura! O donna! Oi, nafke!) -, an solchen Abenden pflegte der kleine Junge in der Dunkelheit wach zu liegen, und er zitterte bei dem dumpfen Schlag der Fäuste seines Vaters auf dem Fleisch seiner Mutter, der ihn krank machte, bei dem Klatschen ihrer Handfläche gegen sein Gesicht, und die Geräusche mündeten oft in anderen, hitzigen, rasenden, keuchenden, die ihn starr daliegen und die Nacht hassen ließen.

Als er in der Untermittelschule und seine Mutter schon vier Jahre lang tot war, entdeckte er die Sache mit Gregor Johann Mendel und den Erbsen, machte sich daran, sein eigenes Erbbild zusammenzubrauen, und hoffte im stillen, daß seine braunen Haare und Augen sich als genetische Unmöglichkeit erweisen würden: daß er die Blondheit seines Vaters hätte erben müssen, und daß er vielleicht doch ein Bastard war, das Erzeugnis seiner schönen toten Mutter und eines unbekannten Mannes, der alle jene edlen Tugenden besaß, die dem Mann, den er Paps nannte, so sehr fehlten.

Aber die Biologiebücher enthüllten ihm, daß die Kombination von Mondlicht und Schatten eben - Hafergrütze ergab.

Na schön.

Jedenfalls war er zu jener Zeit bereits mit einer Art Haßliebe an Myron Silberstein gebunden.

Um das zu beweisen, du verdammter Narr, sagte er zu seinem Spiegelbild, kratzt du zweihundert Dollar zusammen und läßt sie dir dann von ihm herauslocken, fast die ganze Summe. Was war es, das in seinen Augen aufleuchtete, als sich seine Hände - diese Hände eines hebräischen Fiedlers und Hausmeisters, in deren Knöcheln der Kohlenstaub eingefressen war - um das Geld geschlossen hatten?

Liebe? Stolz? Die Verheißung der schönsten Überraschung im Leben, einer unverhofften Trunkenheit? Jagte der alte Mann noch immer nach Liebe? Wohl kaum. Die bei Alkoholikern übliche Impotenz des mittleren Alters. Gewisse Ketten binden früher oder später jeden, selbst einen Myron Silberstein.

Nur ein Mensch, die Großmutter, seine vecchia, war je imstande gewesen, seinen Vater einzuschüchtern. Rosella Biombetti war eine kleine Süditalienerin gewesen; das weiße Haar zu einem Knoten gedreht, alles übrige natürlich schwarz: Schuhe, Strümpfe, Kleid, Halstuch, oft sogar die Stimmung, als trauere sie um die Welt. In ihrem oliv-farbenen Gesicht standen Narben, die ihr geblieben waren, als sie vierjährig in dem Avellino-Dorf Petruro lebte und alle acht Kinder der Familie an vaiolo, den gefürchteten Pocken, erkrankten. Die Krankheit raffte keines hinweg, entstellte jedoch sechs der Kinder und zerstörte das siebente, einen Achtjährigen namens Muzi, dessen Hirn das hohe Fieber zu weicher Asche verbrannte und ihn als ein Etwas hinterlassen hatte, das schließlich zu einem alternden kahlköpfigen Mann in East-Liberty von Pittsburgh, Pennsylvanien, wurde; er spielte den ganzen Tag mit seinen Löffeln und Flaschenkappen und trug, selbst wenn die Julihitze die Luft über der Larimer Avenue schimmern ließ, einen zerlumpten Sweater.

Einmal fragte Adam die Großmutter, warum der alte Großonkel so war.

»L' Arlecchino«, sagte sie.

Er lernte schon früh, daß der Harlekin die innere Angst war, die das Leben seiner Großmutter durchzog, das Universalübel, ein Erbe aus dem Europa vor zehn Jahrhunderten. Ein Kind stirbt an einem plötzlichen Anfall einer unerwarteten Krankheit? Es wurde vom Harlekin geraubt, der nach Kindern giert. Eine Frau wird schizophren? Der schlanke, teuflisch-schöne dämonische Liebhaber hat sie verführt und ist mit ihrer Seele durchgebrannt. Ein Arm schrumpft gelähmt zusammen, ein Mensch vergeht langsam unter den Verheerungen der Tuberkulose? Der Harlekin pflückt und pflückt Lebenskraft von seinem Opfer und schlürft die Lebensessenz wie Syrup.

In dem Versuch, ihn zu bannen, machte sie ihn zu einem Familienmitglied. Als Adams Kusinen immer mehr erblühten und mit Lippenstiften und hohen spitzen Büstenhaltern zu experimentieren begannen, kreischte die alte Frau, daß sie den Harlekin anlocken würden, der in der Nacht die Jungfernschaft stahl. Während Adam der vec-chia jahrelang zuhörte, erfuhr er Einzelheiten. Der Harlekin trug Kniehosen und eine Jacke aus bunten Flicken und war unsichtbar, außer bei Vollmond, der seine Buntschek-kigkeit in einen vor tausend Lichtern glitzernden Anzug verwandelte. Er besaß keine Stimme, aber das Geklingel der Glöckchen an seiner Narrenkappe verriet seine Anwesenheit. Er trug ein hölzernes Zauberschwert, eine Art Narrenzepter, das er als Zauberstab verwendete.

Manchmal dachte der Knabe, es wäre ein wunderbares Abenteuer, der Harlekin zu sein, so allmächtig, so herrlich böse. Als Adam elf war und seine ersten Samenergüsse während der nächtlichen Träume hatte, durch die die üppige dreizehnjährige Lucy Sangano geisterte, beschloß er zu Halloween, dem Abend vor Allerheiligen, der böse Geist zu sein. Während die anderen Kleinen in ihren Ver-kleidungen zu Spaß und Schmaus von Tür zu Tür rannten, wandelte er langsam durch die plötzlich behagliche Dunkelheit und stellte sich wilde Szenen vor, in denen er den zarten jungen Hinterbacken Lucy Sanganos einen leichten Schlag mit seinem Schwert aus einer Kistenlatte gab und stumm befahl: »Zeig mir alles.«

Rosella wehrte den Bösen mit vier Mittelchen ab, von denen Adam nur zwei, das Weihwassersprengen und den täglichen Besuch der Heiligen Messe, für harmlos hielt. Ihr Brauch, die Türknöpfe mit Knoblauch einzureiben, war ihm wegen der ständig klebrigen Hände lästig und brachte ihn wegen des stechenden Geruchs in der Schule immer wieder in Verlegenheit, obwohl er selbst heimlich den letzten Rest, der in seiner verschwitzten Handfläche zurückgeblieben war, genoß, wenn er sie nachts in seinem Bett an die Nase hielt.

Den wirkungsvollsten Schutz erreichte man, wenn man die zwei Mittelfinger unter den Daumen klemmte, den Zeigefinger und den kleinen Finger in Nachahmung der Teufelshörner ausstreckte und zwischen ihnen trocken durchspuckte, sowie das Sprüchlein folgen ließ: Scutta mal occhio, brich den bösen Blick, pf, pf, pf.

Rosella führte diesen Ritus täglich viele Male durch, was ihm ebenfalls peinlich war; denn für einige von Adams gleichaltrigen Freunden war das Fingerzeichen ein Geheimsignal anderer Art, eine Abfuhr, ein geringschätziges Zeichen von Ungläubigkeit, die in einem einzigen schnellen, unschönen Wort zusammengefaßt wurde. Für diese Uneingeweihten war es erheiternd, wenn die Großmutter Damo Silverstones das pöbelhafte Geheimzeichen machte. So kostete ihn die Großmutter seine erste blutige Nase und sehr viel Ärger.

Seine junge Seele wurde zwischen dem frommen Aberglauben der alten Frau und dem Vater hin und hergerissen, der an jedem Jom Kippur vorsichtig nüchtern blieb, damit er aus irgendeinem wichtigen geheimen Grund fischen gehen konnte. Ihr Aberglaube und ihre Religion besaßen ihre Reize, aber zuviel von dem, was sie sagte, war einfach nur dumm. Größtenteils ergriff er schweigend die Partei seines Vaters, vielleicht weil er in dem Mann so eifrig nach etwas Bewundernswertem suchte.

Und dennoch, als sie in ihrem achtzigsten und seinem fünfzehnten Lebensjahr kränkelte und es mit ihr zu Ende ging, sehnte er sich schmerzlich nach ihr. Als Dr. Calabreses langer schwarzer Packard mit zunehmender Regelmäßigkeit vor dem Miethaus in der Larimer Avenue parkte, betete er für sie. Und als sie eines Morgens mit einem koketten Lächeln auf den Lippen starb, weinte er um sie und wußte endlich, wer der Harlekin wirklich war. Er wünschte nicht mehr den verliebten Spaßmacher zu verkörpern, der der Tod war; statt dessen beschloß er, eines Tages wie Dr. Calabrese einen langen neuen Wagen zu fahren und den arlecchino bis ans Ende zu bekämpfen.

Er verabschiedete sich von der alten Frau bei dem schönsten Begräbnis, das ihr die Versicherung »Söhne Italiens« nur bieten konnte, aber ganz verließ sie ihn nie. Jahre später, als er Arzt und Chirurg geworden war und Dinge getan und gesehen hatte, die sie sich in Petruro oder selbst in East Liberty nie hätte träumen lassen, war seine erste Reaktion auf ein Mißgeschick eine spontane unterbewußte Suche nach dem Harlekin. Wenn er eine Hand in der Tasche hatte, machten die Finger unwillkürlich das Zeichen der Hörner. Sein Vater und seine Großmutter hatten ihn in einem unaufhörlichen inneren Konflikt hinterlassen: Scheiße, spottete der Wissenschaftler, während der kleine Junge flüsterte: Scutta mal occhio, pf, pf, pf.

Nun packte er in der Herrentoilette des Speisehauses seine Toilettesachen ein. Wie ein ungeschickter Wasservogel, zuerst das eine, dann das andere Bein hochgezogen, um seine Kleider nicht durch den Schmutz des unerquicklichen Fußbodens zu gefährden, zog er die Blue jeans und das blaue Arbeitshemd aus. Das Hemd und der Anzug, die er aus dem Koffer grub, waren etwas zerknittert, aber präsentabel. Die Krawatte sah bei weitem nicht mehr so gut aus wie vor achtzehn Monaten, als er sie aus zweiter Hand »neu« erstanden hatte, von einem Studenten aus dem dritten Studienjahr, der ein schlechter Pokerspieler war. Die dunklen Schuhe, die er gegen die Turnschuhe austauschte, glänzten noch immer, schön.

Als er durch den Speisesaal zurück- und hinausging, starrte ihn die Kuh hinter der Theke an, als versuchte sie sich zu erinnern, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte.

Draußen war es heller geworden. Am Randstein summte ein Taxi ein ruhiges mechanisches Lied, der Chauffeur saß verloren hinter der Wettliste und träumte den ewigen Traum vom Höchstgewinn. Adam fragte ihn, ob das Suff-folk County General Hospital zu Fuß zu erreichen sei.

»Das Allgemeine Krankenhaus? Sicher.«

»Wie komme ich hin?«

Ein schnelles Grinsen spaltete die Lippen des Taxichauffeurs. »Auf die schwere Tour. Quer durch die ganze verdammte Stadt. Zu früh für einen Bus, nirgendwo in der Nähe eine Untergrundbahn.« Der Mann legte die Wettliste hin, überzeugt, daß eine Fahrt herausschaute.

Wieviel steckte in seiner Brieftasche? Weniger als zehn Dollar, wußte Adam. Acht, neun. Und noch ein Monat bis zum Zahltag.

»Fahren Sie mich für einen Dollar?«

Ein angewiderter Blick.

Adam hob den Koffer auf und ging die Straße hinunter. Er kam bis zu »Benj. Moretti & Sons Produce«, als das Taxi an ihm vorbeifuhr und anhielt.

»Steigen Sie hinten ein«, sagte der Taxilenker. »Ich schau den ganzen Weg nach einem Fahrgast aus. Wenn ich einen andern aufgable, steigen Sie aus. Für einen Dollar.«

Dankbar kletterte Adam hinein. Das Taxi kroch durch die Straßen, er blickte aus dem offenen Fenster und ahnte, was für ein Krankenhaus es sein würde. Die Straßen waren alt und traurig, gesäumt von Miethäusern mit zerbrochenen Stufen und überquellenden Mülleimern, Armeleutge-genden, in denen die Menschen in äußerster Armut zusammengepfercht waren. Es würde ein Krankenhaus sein, wo die Bänke seiner Ambulanz allmorgendlich von den Kranken und Verstümmelten besetzt sein würden, die in die selbstgebauten Fallen der Gesellschaft geraten waren.

Unangenehm für euch, sagte er stumm zu den schlafenden Opfern hinter ausdruckslosen Fenstern, als das Taxi vorbeirollte. Aber gut für mich, ein Lehrhospital, wo ich vielleicht Chirurgie erlernen kann.

Der Krankenhauskomplex ragte wie ein Monolith in das frühe Morgenlicht; große Parklampen leuchteten noch immer gelb um das leere Geviert des Hofs für die Krankenwagen.

Die Eingangshalle war düster und altmodisch. Ein ältlicher Mann mit hängenden verrunzelten Wangen und unwahrscheinlich pechschwarzem Haar saß hinter dem Empfangstisch. Adam sah in dem Brief nach, den er vor vier Wochen vom Verwalter erhalten hatte, und fragte dann nach dem Fellow der Chirurgie, Dr. Meomartino. Ah, Italiener in aller Welt, wir sind überall.

Der Mann sah in einem Telephonverzeichnis des Krankenhauses nach. »Vierte chirurgische Station. Vielleicht

schläft er noch«, sagte er zweifelnd. »Soll ich ihn anläuten?«

»Gott, nein.« Er dankte ihm und ging hinaus. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite brannte grelles Licht in einem Kaffeehaus, und als er darauf zuging, konnte er einen kleinen dunklen Mann hinter der Theke sehen, der eben Wasser in die Kaffeemaschine zugoß; die Tür war jedoch versperrt, und der kleine Mann blickte nicht auf, als Adam an ihr rüttelte. Er ging ins Krankenhaus zurück und fragte den Mann mit dem gefärbten Haar, wie man zur Abteilung der Vierten chirurgischen Station gelangte.

»Die Halle da geradeaus hinunter, an der Unfallstation vorbei, dann die zweite Treppe in den ersten Stock. Abteilung Quincy. Können es nicht verfehlen.«

Als er zur Unfallstation kam, zog er es halb in Betracht, freiwillig seine Dienste anzubieten. Zum Glück verging der Impuls, noch bevor er in den großen Raum spähte und sah, daß noch keine Patienten gekommen waren. Ein Spitalsarzt saß zusammengesunken in einem Sessel und las. Am anderen Ende des Saals saß eine Schwester und schielte schläfrig auf ihre Strickerei. Auf einer Tragbahre in einer Ecke lag ein Pfleger mit leicht geöffnetem Mund wie ein schlafender Bär.

Adam kletterte die Treppe zur Abteilung Quincy hoch und kam in den stillen Gängen nur an einem mageren blonden Spitalsarzt vorbei, dessen offener Kragen unter seinem mit Pickeln übersäten Kinn schlaff wie eine Flagge bei einer Flaute herunterhing.

Mit Ausnahme der Nachtlichter war der Krankensaal dunkel. Die Patienten lagen in Reihen da, einige wie Klötze, andere jedoch unruhig und im Schlummer von Teufeln geritten.

Du bist, o Schlaf, der Freund des Kummers genannt worden, aber es waren die Glücklichen, die dich so benannt haben. Southey, sagte der Computer.

Aus einem Bett kam das Weinen einer Frau. Adam blieb stehen. »Was gibt es denn?« fragte er sanft. Ihr Gesicht war verborgen.

»Ich habe Angst.«

»Dazu ist kein Grund vorhanden«, sagte er. Schau, zum Teufel, daß du hier herauskommst, sagte er sich wütend. Soviel du weißt, ist durchaus Grund dazu vorhanden.

»Wer sind Sie?«

»Ein Arzt.«

Die Frau nickte. »Auch Jesus war es.«

Es gab ihm zu denken, als er wegging.

Im Schwesternzimmer traf er eine ältere Stationsschwester, die an neue Ärzte gewöhnt war. Sie gab ihm Kaffee und frische knusprige Brötchen und Butter aus der Küchenabteilung, köstlicherweise gratis. »Alles, was Sie brauchen, Doktor, ist ein reicher Distrikt. Ich bin Rhoda Novak.« Plötzlich lachte sie. »Sie haben Glück, daß Helen Fultz heute nacht dienstfrei war. Die gäbe niemandem auch nur das Schwarze unterm Nagel.«

Sie ging, bevor er seine Brötchen aufgegessen hatte. Er hätte gern noch eines gehabt, war jedoch für jede Kleinigkeit dankbar. Ein riesiger Mann im grünen OP-Anzug kam herein und seufzte, als er einen Stuhl unter sich begrub. Er hatte rotes Haar unter der Operationskappe, und das Gesicht war trotz seiner Größe weich und ungeformt, ein Knabengesicht. Er nickte Adam zu und griff eben nach der Kaffeekanne, als der kleine Signalapparat an seiner Uniform summte. »Ah«, sagte er. Er ging zum Wandtelephon und sprach hinein, sagte schnell ein paar Worte und eilte fort.

Adam ließ den Rest Kaffee stehen und ging der riesigen grünen Gestalt nach, durch ein Labyrinth von Gängen zur chirurgischen Station hinunter.

Die Chirurgische Abteilung des Krankenhauses in Georgia war rein gewesen, hell erleuchtet, nicht so vollgestopft, der Durchgang nicht behindert. Hier war die Beleuchtung bestenfalls trüb zu nennen. Die Gänge schienen Speicher für zusätzliche Möbel, überflüssige Tragbahren, Büchergestelle und alles mögliche sonst zu sein; bei Hochbetrieb stellte man wahrscheinlich Patienten vor und nach Operationen ebenfalls hier ab. Die Schwingtüren der Operationssäle waren an beiden Seiten zehn Zentimeter breit abgewetzt, wo der Rand unzähliger Betten angestoßen war und Schicht um Schicht des Holzes aufgedeckt hatte, wie die Jahresringe eines Baums.

Er ging eine Treppe zur Zuschauergalerie hinauf, die dunkel und von einem seltsamen lauten Atmen erfüllt war. Es war das Keuchen des Patienten, das über die Sprechanlage kam, die man angestellt gelassen und zu laut aufgedreht hatte. Da Adam den Lichtschalter nicht finden konnte, tastete er sich zu einem Sitz in der ersten Reihe und ließ sich auf ihn fallen. Durch die Glasscheibe konnte er den Mann auf dem Operationstisch unten sehen, einen Mann mit schütter werdendem Haar, dem Blick eines gefangenen Tieres, ungefähr vierzig Jahre alt, der offensichtlich Schmerzen hatte und einer Schwester beim Auflegen der Instrumente zusah. Seine Augen waren trüb; er hatte bestimmt ein Sedativ erhalten, bevor man ihn hereingebracht hatte, wahrscheinlich Scopolamin.

Wenige Minuten später kam der Dicke, der in der Küche Kaffee getrunken hatte, geschrubbt und behandschuht in den OP.

»Doktor«, sagte die Schwester.

Der Dicke nickte teilnahmslos und begann zu anästheti-sieren. Seine Wurstfinger spielten am linken Arm des Patienten herum, fanden mühelos die Vene im Bereich der Armbeuge und ließen den intravenösen Katheter hinein-gleiten. Um den zweiten Arm legte er die Manschette und begann den Blutdruck zu messen.

»Es war einer, den wir nicht erwarteten«, sagte die Schwester.

»Könnten verdammt gut ohne ihn auskommen«, sagte der Dicke. Er verabreichte ein muskelentspannendes Mittel sowie eine Schlafdosis Pentothal, dann führte er den In-tubator in die Luftröhre des Patienten ein und regulierte die Atmung des Mannes mit dem Druckgerät.

Der Spitalsarzt kam herein, der große, schlampig aussehende, den Adam auf dem Gang gesehen hatte. Weder der Anästhesist noch die Schwester nahmen seine Anwesenheit zur Kenntnis. Er begann die Operation vorzubereiten, indem er den Bauch mit antiseptischen Mitteln, oben beginnend, abrieb. Adam sah interessiert zu, weil er sehen wollte, wie man es hier machte. Es sah aus, als benützte der Spitalsarzt eine einzige Lösung. In dem Krankenhaus in Georgia mußten sie das Operationsfeld zuerst mit Äther, dann mit Alkohol, dann ein drittes Mal mit Betadin waschen.

»Bestimmt habt ihr bemerkt, was für ein glattrasierter Mann Mr. Peterson ist«, sagte der Spitalsarzt. »Im Vergleich dazu ist ein Babyarsch ein wahrer Urwald.«

»Für einen Chirurgen bist du ein ziemlich guter Barbier, Richard«, sagte der Dicke.

Der mit Richard Angesprochene beendete das Waschen des Bauchs, begann den Patienten mit sterilen Tüchern abzudecken und ließ nur ein dreißig Zentimeter großes Viereck offen.

Ein Chirurg kam herein. Meomartino, der Fellow der Chirurgie, vermutete Adam, war jedoch nicht sicher, weil niemand grüßte. Ein großer Mann mit einer gebrochenen Habichtnase und einer alten, fast unsichtbaren Narbe auf der Wange, der gähnte, sich streckte und fröstelte. »Ich habe so hübsch geträumt«, sagte er.

»Wie geht's unserem perforierten Ulcus? Blutet er?«

»Ich glaube nicht, Rafe«, sagte der Dicke. »Herzschlag 96. Atmung 30.«

»Blutdruck?«

»110/60.«

»Also los. Ich wette, da drin schaut's aus, als hätte man ein Loch mit einer Zigarette hineingebrannt.«

Adam sah ihn das Skalpell von der Schwester entgegennehmen und auf der rechten Seite den paramedianen Schnitt führen, eine wohlüberlegte Teilung des Fleisches, die zwei Lippen bildete, wo vorher schlaffer Bauch gewesen war. Meomartino schnitt durch die Haut und das fettige gelbe subkutane Gewebe, und Adam bemerkte interessiert, daß der Spitalsarzt die Blutung mit Schwämmen statt Klammern abstoppte, wobei er gleichzeitig den Druck des Schwamms ausnutzte, um die Wundränder so zu spreizen, daß die glänzende graue Hülle der Faszies sichtbar wurde. Das ist verdammt praktisch, dachte Adam; in Georgia war es ihnen nie eingefallen, das zu tun. Zum erstenmal empfand er den Schimmer eines Glücksgefühls: die hier können mir noch was beibringen.

Meomartino hatte den Schnitt langsam und sorgfältig geführt, jetzt aber durchtrennte er die Faszies schnell und sauber. Um das so gekonnt zu machen, mit einem einzigen sicheren Schnitt, der nicht in den gleich darunterliegenden Rektusmuskel drang, mußte es dieser Mann schon oft und oft gemacht haben. Einen Augenblick lang war er töricht genug, dem Fellow seine leichte Geschicklichkeit übelzunehmen. Er erhob sich halb, um zuzuschauen, aber der Schlampsack von Spitalsarzt bewegte Kopf und Schultern über dem Operationsfeld, und Adam konnte nichts sehen.

Er lehnte sich im Stuhl zurück, schloß die Augen in der Dunkelheit und sah im Geiste, was der Chirurg unten vermutlich machte: Er würde die Faszies heben, sie mit der scharfen Schneide des Skalpells unterfahren, dann mit dem stumpfen Rand loslösen und damit die Mittellinie, wo die beiden Teile des Rektus aneinandertrafen, bloßlegen. Dann würde er den Muskel hochheben, ihn seitwärts zurückziehen und durch das Bauchfell weiter in den Bauchraum vordringen.

In den Bauch vordringen. Für jemanden, der sich der allgemeinen Chirurgie widmen wollte, die hauptsächlich aus Bauchoperationen bestand, war das der springende Punkt.

»Da hätten wir's, Richard. Hier ist es«, sagte der Chirurg nach einer Weile. Seine Stimme war tief, sein Englisch um eine Spur zu exakt, dachte Adam, so, als hätte er es als Zweitsprache gelernt. »Direkt durch die Hinterwand des Duodenums. Was tun wir jetzt?«

»Stich, Stich, Stich?«

»Und dann?«

»Vagotomie?«

»Ah, Richard, Richard, ich kann es nicht glauben, so jung und so clever, und doch nur zur Hälfte richtig, mein Junge. Eine Vagotomie und eine Drainage. Dann wird es wunderhübsch heilen. Ein Meilenstein in den Annalen.«

Danach arbeiteten sie schweigend weiter, und Adam hoch über ihnen grinste im Dunkeln, als er den Verdruß des schlampigen Spitalsarztes fühlte, den er selbst so oft in ähnlichen Situationen empfunden hatte. Es war warm auf der Galerie, wie in einem Mutterleib. Er döste und träumte einen alten Alptraum von den beiden Hochöfen, die er an den Abenden seiner ersten Semester gefüttert und deren gähnende orangefarbene Mäuler er gehaßt hatte, die nach mehr Kohle gierten, als er zu schaufeln vermochte.

Er stöhnte in Schlaf, riß sich dann wach, steif und unglücklich und für einen Augenblick unsicher, warum seine Stimmung umgeschlagen war. Dann erinnerte er sich, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und grinste: wieder der verdammte Traum. Er hatte ihn schon so lange nicht mehr geträumt, es mußte das neue Krankenhaus sein, die ungewohnte Situation.

Unter ihm arbeitete das Chirurgenteam noch immer. »Hilf mir den Bauch schließen, Richard«, sagte der Fellow. »Ich nähe, du bindest ab. Ich will es schön eng haben.«

»So eng wie bei deiner ersten Liebe«, sagte Richard, der zwar zu Meomartino sprach, aber die OP-Schwester ansah, die mit keinem Zeichen verriet, daß sie es gehört hatte.

»Ich will es noch viel enger haben, Doktor«, sagte Meomartino.

Als er schließlich befriedigt nickte und sich vom Operationstisch abwandte, verließ Adam die Galerie und eilte gerade rechtzeitig hinunter, um den Mann abzufangen, als dieser den Operationssaal verließ.

»Dr. Meomartino.«

Der Fellow blieb stehen. Er war kleiner, als er von oben gesehen erschienen war. Er hätte ein Kind meiner Mutter sein können, dachte Adam albernerweise, als er auf ihn zutrat. Aber kein Italiener, entschied er, Spanier vielleicht. Olivfarben, dunkle Augen, dunkle Haut trotz der üblichen Krankenhausblässe, das Haar unter der OP-Kappe dunkel vor Feuchtigkeit, aber fast völlig ergraut. Dieser Mann ist älter als ich, dachte er.

»Ich bin Adam Silverstone«, sagte er leicht keuchend. »Der neue Oberarzt.« Abschätzende Augen maßen ihn, und er schüttelte eine Hand, die wie ein Holzklotz war.

»Sie sind um einen Tag früher eingetroffen. Ich bekomme offenbar Konkurrenz«, sagte Meomartino mit einem leichten Lächeln.

»Ich bin per Anhalter gekommen. Ich habe mir einen zusätzlichen Tag gelassen und brauchte ihn dann nicht.«

»Oh? Haben Sie eine Unterkunft?«

»Hier. In dem Brief heißt es, daß das Krankenhaus ein Zimmer beistellt.«

»Üblicherweise benützt es der Oberarzt nur, wenn er Nachtdienst hat. Ich wohne lieber anderswo. Sie und ich stünden verdammt zu leicht zur Verfügung, wenn wir hier wohnten.«

»Ich werde zur Verfügung stehen. Ich bin bankrott.«

Meomartino nickte ohne Überraschung. »Ich bin zwar nicht ermächtigt, Ihnen ein Zimmer anzuweisen. Aber ich kann Ihnen helfen, einen Platz zu finden, wo Sie sich hinhauen können. Soweit es noch Nacht ist.«

Der Lift war alt und langsam. »Im Notfall dreimal läuten!«, riet ein Schild neben der Glocke. Adam stellte sich vor, in einem Notfall auf dieses knarrende Ungeheuer warten zu müssen, und Zweifel überfielen ihn.

Endlich kam es an und trug sie in den sechsten Stock. Der Gang war besonders eng und dunkel. Die Zimmernummer war 6-13, was kein schlimmes Zeichen sein mußte. Die Decke war schief; das Zimmer lag unter den Dachtraufen des alten Gebäudes. Die Jalousien waren heruntergelassen. In dem trüben Licht konnte er einen riesigen kot-farbenen Riß in einer der Gipswände ausnehmen. Unter ihm, den beiden Betten gegenüber, stand ein hölzerner Stuhl, zwischen einem Schreibpult und einem Schreibtisch, alles von der Farbe alten Senfs. Auf einem Bett lag ein Mann im weißen Ärztekittel ausgestreckt, das New England Journal of Medicine aufgeschlagen auf der Brust, das er sichtlich um des Schlafs willen in Stich gelassen hatte.

»Harvey Miller, Turnusarzt von der schicken Institution am anderen Ende der Stadt«, sagte Meomartino ohne den geringsten Versuch, zu flüstern. »Für das Haus dort kein schlechter hombre.« Sein Ton war geringschätzig. Gähnend winkte er Adam zu und ging hinaus.

Die Luft im Zimmer war muffig. Adam ging zum Fenster und schob die Jalousie eine Handbreit hoch. Sofort begann sie zu flattern; er schob sie so zurecht, daß das Flattern aufhörte. Der Mann auf dem Bett bewegte sich, wachte jedoch nicht auf.

Adam nahm Harvey Miller die Zeitschrift weg und legte sie hin. Er versuchte sich zu erinnern, wie Gaby Pender aussah, entdeckte jedoch, daß er Details nicht mehr rekonstruieren konnte; er erinnerte sich nur an eine sehr tiefe Sonnenbräune und ein wunderbares Muttermal auf ihrem Gesicht, und daß das Ganze ein Mädchen war, das ihm sehr gefallen hatte. Die Matratze war dünn und klumpig, Abfall aus den Krankensälen. Aus dem offenen Fenster unter ihm kam ein Schmerzenslaut in sein offenes Fenster geweht, ein Mittelding zwischen Stöhnen und Schreien. Harvey Miller tätschelte seine Leistengegend im Schlaf, ohne zu wissen, daß er nicht mehr allein war. »Alice«, sagte er deutlich.

Adam wandte sich den Annoncenseiten der Zeitschrift mit den Stellenangeboten zu und gab sich den Phantasien über eine Zukunft hin, die ihm alle jene Dinge des Lebens bieten würde, welche er sich nie hatte leisten können, und soviel Geld, daß Myron Silbersteins hingestreckte Hand keine Bedrohung mehr bedeuten würde. Gewisse Annoncen überging er oder las sie nur verächtlich, die Aufforderung an Bewerber um die Fortsetzung des Studiums nach dem Doktorat, Auslagen bezahlt, nur kleine oder gar keine

Stipendien; die Bekanntmachungen über Forschungsstipendien mit einem Einkommen von siebentausend Dollar pro Jahr; die Universitätsdozentenstellen, die saftige Zehntausend eintrugen; die trügerisch verlockenden Beschreibungen von billigen Praxen, die in den großen medizinischen Zentren Boston, New York, Philadelphia, Chicago, Los Angeles zum Verkauf standen; dort gab es eingesessene praktische Ärzte, die einem Anfänger die Hände banden und ihn mit dem Blechnapf in der Hand zu Stückarbeit bei den Versicherungsgesellschaften zu sechs Dollar pro Stunde schickten.

Gelegentlich veranlaßte ihn eine Annonce, sie mehrmals zu lesen.

»Vielfältig spezialisierte Zehn-Mann-Privatklinik in NordMichigan, im Herzen des Fischerei- und Jagdgebietes, sucht Allgemeinen Chirurgen. Neues Klinikgebäude und Gewinnbeteiligungsplan. Anfangsgehalt 20000 Dollar. Besitzanteil nach zwei Jahren. Anteilseinkommen zwischen 30000 und 50000 Dollar. Anschrift F-213, New Eng. J. Med. 13-2t.«

Er wußte, daß er in einem Jahr ein Arbeitsgebiet brauchen würde, das von der berauschenden medizinischen Atmosphäre der Lehrkrankenhäuser, von alteingesessenen Rivalitäten weit entfernt sein mußte. Ideal wäre ein kränkelnder oder alternder Chirurg in einer abgelegenen Gegend, der gewillt war, einen allmählich steigenden Gewinn entgegenzunehmen, während er seine Praxis stufenweise abbaute, indem er sie nach und nach einem jungen Partner übergab. So etwas würde gleich zu Beginn 35000 Dollar wert sein, wobei 75000 pro Jahr auf längere Sicht nicht unmöglich waren.

Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er seine Gefühle für die Medizin einmal nicht analysierte, wußte er, daß er beides sein wollte: ein Heilender und ein Kapitalist zugleich. Jesus Christus und die Geldwechsler in einer Person. Nun, warum auch nicht? Leute, die es sich leisten konnten, ihre Rechnungen zu bezahlen, wurden genauso krank wie bedürftige Arme. Niemand hatte von ihm ein Gelübde der Armut verlangt. Von der hatte er auch ohne Gelübde genug kennengelernt.

2

SPURGEON ROBINSON

Baby! flüsterte Spurgeons Mammi mit federleichter Stimme.

Spurgeon, Baby, sagte sie wieder, nun schon mit schwerer Stimme, die sich aber doch aufschwang wie ein Vogel, der den Raum mit seinem Flattern erfüllte.

Seine Augen waren geschlossen, aber er konnte sie sehen. Sie war über sein Bett gebeugt, wie ein fruchtschwerer Pfirsichbaum, ihr Körper in dem glatten Flanellnachthemd weich und hart zugleich, ihre nackten Zehen knorrig wie Wurzeln unter den stämmigen, ruinierten Beinen. Er schämte sich, daß ihn die Mutter so überrascht hatte, weil er unter der dünnen Decke eine Erektion hatte, das Ergebnis seiner Träume. Vielleicht, dachte er, wenn ich so tue, als schliefe ich, geht sie weg, aber im selben Augenblick wurde jeder Schlaf unmöglich, wegen eines dünnen, feinen metallischen Schlags, als sich der Ablaufmechanismus in seinem Wecker einschaltete. Die Uhr rasselte, ein vertrauter, fast tröstlicher Klang, der ihn seit Jahren getreulich weckte, und er erwachte sofort, obwohl er einen Augenblick brauchte, um sich zu erinnern, daß er erwachsen war, und was er war.

Doktor Robinson, erinnerte er sich.

Und wo - in einem schäbigen, miserablen Krankenhaus in Boston. Sein erster Tag als Spitalsarzt.

In der Toilette am Ende der Halle stand jemand auf Zehenspitzen vor dem fleckigen Spiegel und kratzte mit einem Rasiermesser an seinem Kinn herum.

»Morgen. Ich bin Spurgeon Robinson.«

Der weiße Junge trocknete sich sorgfältig mit seinem Handtuch ab und streckte dann eine gute Chirurgenhand aus, nicht groß, aber kräftig, mit einem festen, aber leichten Griff. »Adam Silverstone«, sagte er. »Ich brauche nur noch etwa drei Striche zu einer sauberen Rasur.«

»Keine Eile«, sagte Spurgeon, obwohl sie beide wußten, daß es eilig war. Das Badezimmer hatte Holzböden, und die Malerei an den Wänden schälte sich ab. An die Tür einer der beiden Kabinen hatte ein Philanthrop geschrieben: Rita Leary ist eine Krankenschwester, die es wie ein zärtliches Häschen macht, A Spinwall 7-9910. Es war der einzige Lesestoff in dem Raum, den Robinson schnell erforscht hatte, und er warf als Reflexbewegung einen Blick auf den Weißen, ob der bemerkt hatte, daß er es las.

»Wie ist der Oberarzt?« fragte er beiläufig.

Das Rasiermesser, das eben schaben wollte, stoppte einen halben Zoll vor der Wange. »Manchmal mag ich ihn. Manchmal mag ich ihn gar nicht«, sagte Silverstone.

Spurgeon nickte und beschloß, den Mund zu halten und den Mann nicht beim Rasieren zu stören. Wenn er noch länger wartete, würde er schon am ersten Tag zu spät kommen, dachte er. Er hängte seinen Bademantel auf, stieg aus der Unterhose und unter die Brause; anfangs wagte er es nicht, sich den Luxus langen Duschens zu vergönnen, konnte aber nach der langen Nacht der Mittsommerhitze, die sich in dem Zimmer unter dem Dach angesammelt hatte, unmöglich widerstehen.

Als er herauskam, war Silverstone fort.

Spurgeon rasierte sich sorgfältig, aber schnell, wie ein gespanntes schwarzes Fragezeichen über das einzige altmodische Waschbecken gebeugt; an seinem ersten Tag in einem neuen Krankenhaus mußten Präzedenzfälle gesetzt werden. Einer von ihnen war, zu den Morgenvisiten nicht als letzter im Büro des Oberarztes einzutreffen.

In seinem Zimmer zwängte er sich in den weißen Anzug, der so steif gestärkt war, daß er knisterte, in reine weiße Socken und die Schuhe, die er am Abend vorher geputzt hatte. Es blieben ihm nur noch wenige Minuten. Mit dem Frühstück war es nichts, dachte er bedauernd. Der Lift fuhr langsam; es würde lange dauern, bis er sich angesichts der Hast eines gedrängten Stundenplans an das zähflüssige Tempo der uralten Kabine gewöhnt haben würde. Das Büro des Oberarztes im zweiten Stock war voll junger Männer in weißen Ärztemänteln, die herum saßen, lümmelten oder standen; einige von ihnen versuchten, gelangweilt dreinzusehen, ein paar von ihnen gelang es sogar.

Der Oberarzt saß hinter seinem Schreibtisch und las die Surgery. Es war Silverstone, sah Robinson bestürzt. Ein Komödiant oder ein Philosoph, dachte er und ärgerte sich über seinen Lapsus, einen völlig Fremden um dessen Meinung über den ihm noch unbekannten Chef zu fragen. Er ließ seinen Blick über die Gesichter im Zimmer gleiten. Alles Weiße. Bitte, lieber Gott, laß mich nicht schlappmachen, sagte er stumm, das Gebet, das er jahrelang vor jeder Prüfung gesprochen hatte.

Er trat von einem Fuß auf den anderen. Endlich kam der letzte, ein überstellter Facharztanwärter im ersten Jahr, sechs Minuten zu spät, die ersten sechs Minuten seiner Ausbildungszeit zum Facharzt.

»Wie heißen Sie?« fragte Silverstone.

»Potter, Doktor. Stanley Potter.«

Silverstone sah ihn starr an. Die Neuen warteten auf ein Zeichen, eine Enthüllung, eine Vorschau auf Kommendes.

»Dr. Potter, Sie haben uns warten lassen. Jetzt lassen wir die Patienten und Schwestern warten.«

Der Facharztanwärter nickte und lächelte verlegen.

»Haben Sie mich verstanden?«

»Ja.«

»Das hier ist ein klinischer Lehrgang und keine Show, die zu Ihrem Vergnügen inszeniert wurde, die Sie verspätet oder beiläufig besuchen können. Wenn Sie auf dieser Station arbeiten wollen, werden Sie sich wie ein Chirurg bewegen, denken und handeln.«

Potter lächelte unglücklich.

»Haben Sie mich verstanden?«

»Ja.«

»Gut.« Silverstone sah sich langsam im Zimmer um. »Haben Sie mich alle verstanden?«

Einige der Neuen nickten fast glücklich und tauschten heimlich vielsagende Blicke aus, da ihre Frage beantwortet war.

Ein Schwein, sagten sie einander mit den Augen.

Silverstone ging voraus, hinter ihm ein Schwarm von Facharztanwärtern und Spitalsärzten. Er blieb nur an bestimmten Betten stehen, plauderte einen Augenblick mit dem Patienten, sprach kurz über die Krankengeschichte, stellte ein, zwei Fragen mit einer schläfrigen, fast teilnahmslosen Stimme und drängte dann weiter. Die Gruppe nahm ihren Weg rund um den großen Saal.

Aus einem der Betten starrte eine Farbige, deren rotes Haar aus einer billigen Flasche stammte, durch ihn hin-durch, als er vor ihr stehenblieb und sie von einer stummen Mauer weißgekleideter junger Männer umringt wurde.

»Hallo«, sagte Silverstone.

Sie sieht einem halben Dutzend Huren aus meiner alten Gegend sehr ähnlich, dachte Spurgeon.

»Das ist ...«, Silverstone sah auf der Tabelle nach, »... Miss Gertrude Soames.« Er las einige Augenblicke. »Ger-trude war schon früher wegen einiger Symptomen im Krankenhaus, die auf Leberzirrhose deuteten - und die wahrscheinlich der üblichen Tatsache zuzuschreiben ist. Es scheint eine fühlbare Verhärtung vorhanden zu sein.«

Er zog das Laken zurück, hob das grobe Baumwollhemd hoch und ließ dünne Schenkel sehen, die zu einem melancholischen Dreieck und einem Bauch mit zwei alten Inzi-sionsnarben aufstiegen. Er betastete ihren Unterleib zuerst mit den Fingerspitzen einer Hand und dann mit beiden Händen ab, während sie ihm jetzt den Blick zuwandte. Spurgeon dachte an einen Hund, der gern zugebissen hätte, es aber nicht wagte.

»Genau hier«, sagte Silverstone, nahm Spurgeons Hand und legte sie auf die Stelle.

Gertrude Soames sah Spurgeon Robinson an.

Du bist dasselbe wie ich, sagten ihre Augen. Hilf mir.

Er sah weg, bevor ihr seine Augen sagen konnten: Ich kann dir nicht helfen.

»Spüren Sie es?« fragte Silverstone.

Robinson nickte.

»Gertrude, wir müssen etwas machen, das man eine Le-berbiopsie nennt«, sagte der Oberarzt freundlich aufmunternd.

Sie schüttelte den Kopf.

»O doch.«

»Nein«, sagte sie.

»Wir können sie nicht machen, wenn Sie es nicht wollen. Sie müssen ein Papier unterschreiben. Aber mit Ihrer Leber stimmt etwas nicht, und wir werden nicht wissen, wie wir Ihnen helfen sollen, falls wir diesen Test nicht machen.«

Wieder schwieg sie.

»Es ist bloß eine Nadel. Wir stecken eine Nadel hinein, und wenn wir sie herausnehmen, ist ein winziges Stückchen Leber an ihrer Spitze, nicht sehr viel, aber für unsere Zwecke reicht es.«

»Tut das weh?«

»Es tut nur ein kleines Bißchen weh, aber wir haben keine Wahl. Es muß gemacht werden.«

»Ich bin kein verdammtes Meerschweinchen für euch.«

»Wir brauchen kein Meerschweinchen. Wir wollen Ihnen helfen. Wissen Sie, was geschehen wird, wenn wir es nicht tun?« fragte er sanft.

»Ich habe verstanden.« Ihr Gesicht blieb steinern, aber die trüben Augen glänzten plötzlich, und Tränen liefen ihr zum Mund hinunter. Silverstone nahm ein Papiertaschentuch vom Nachttisch und wollte ihr das Gesicht abwischen, aber sie wandte den Kopf mit einem Ruck ab.

Er zog das Nachthemd wieder hinunter und richtete das Laken. »Überlegen Sie es sich«, sagte er, tätschelte ihr Knie, und sie gingen weiter.

In der Männerabteilung lag, von drei Kissen gestützt, ein großer Mann, so breit, daß das Bett überzuquellen schien, und beobachtete sie aufmerksam, als sie sich ihm näherten.

»Mr. Stratton ist Lastkraftwagenfahrer eines Abfüllkonzerns für alkoholfreie Getränke«, sagte Silverstone, die

Augen auf die Tabelle gerichtet. »Vor einigen Wochen fiel eine Holzkiste von seinem Lastwagen und traf ihn unterhalb des rechten Knies.« Er zog das Laken hinunter und enthüllte das Bein des Mannes, stämmig, aber weiß und ungesund aussehend, mit einer häßlichen, schwärenden und ungefähr zwölf Zentimeter langen Wunde.

»Fühlt sich Ihr Bein kalt an, Mr. Stratton?«

»Die ganze Zeit.«

»Man versuchte es mit Absaugen und Antibiotika, aber es heilt nicht richtig, und das Bein hat Farbe verloren«, sagte Silverstone. Er wandte sich an den Facharztanwärter, den er wegen seines Zuspätkommens so scharf gerügt hatte. »Was meinen Sie, Dr. Potter?«

Potter lächelte wieder, sah unglücklich drein, sagte jedoch nichts.

»Dr. Robinson?«

»Ein Arteriogramm.«

»Musterschüler. Wo würden Sie das Kontrastmittel injizieren?«

»Arteria femoralis.«

»Was, ich soll operiert werden?«

»Wir reden nicht über eine Operation, zumindest noch nicht«, sagte Silverstone. »Ihr Bein ist kalt, weil das Blut darin nicht so gut zirkuliert, wie es sollte. Wir müssen herausfinden, warum. Wir werden etwas Kontrastmittel in eine Arterie in Ihrer Leistengegend injizieren und dann einige Aufnahmen machen.«

Mr. Strattons Gesicht färbte sich rot. »So was kann ich nicht ertragen«, sagte er.

»Was meinen Sie damit?«

»Warum saugen Sie es nicht einfach weiter ab, so wie das Dr. Perlman getan hat?«

»Weil es Dr. Perlman versuchte und es Ihnen nicht gutgetan hat.«

»Versuchen Sie es weiter.«

Langes Schweigen.

»Wo ist Dr. Perlman?« sagte der Mann. »Ich will mit Dr. Perlman sprechen.«

»Dr. Perlman ist hier nicht mehr Oberarzt«, sagte Silverstone. »Wie ich höre, ist er jetzt Hauptmann Perlman und auf dem Weg nach Vietnam. Ich bin Dr. Silverstone, der neue Oberarzt.«

»Ich könnte die Spritzen nicht einmal ertragen, wenn ich in der Handelsmarine wäre«, sagte der Mann. Jemand aus der Gruppe kicherte, Silverstone drehte sich um und starrte den Betreffenden kalt an.

»Es ist vielleicht komisch, daß ein Kerl meiner Größe Angst vor euch Schweinen hat«, sagte Stratton. »Aber es ist nicht komisch, glaubt mir. Den ersten, der Hand an mich legt, schlag' ich zu Hackfleisch.«

Silverstone legte eine Hand leicht, fast geistesabwesend, auf die Brust des Patienten. Sie sahen einander an. In Mr. Strattons Augen standen Tränen.

Niemand kicherte. Sein Gesicht war, sah Spurgeon staunend, von derselben Angst gezeichnet, die auch das Gesicht der alternden Prostituierten jenseits des Ganges überzogen hatte, ein derart ähnlicher Ausdruck, daß sie seine Schwester hätte sein können.

Diesmal griff Silverstone nicht nach Papiertüchern. »Jetzt hören Sie mir gut zu«, sagte er wie ein Mann, der zu einem verirrten Kind spricht. »Passen Sie gut auf. Sie können es sich nicht leisten, Zeit zu verschwenden. Wenn Sie uns Schwierigkeiten machen - irgendwelche Schwierigkeiten -, Sie zu untersuchen, brauchen wir uns erst gar nicht davor zu fürchten, daß Sie uns zu Hackfleisch machen. Sie werden nicht einmal mehr imstande sein, selbst ein kleines Waisenkind zu Hackfleisch zu machen, mein Bürschchen. Entweder haben Sie dann nur noch ein Bein, oder Sie sind tot. Verstanden?«

»Schlächter«, flüsterte Mr. Stratton.

Silverstone drehte sich auf dem Absatz um und ging, gehorsam gefolgt von vierzehn weißgekleideten Schatten.

Sie versammelten sich zur Exituskonferenz im Operationssaal mit den amphitheatralisch ansteigenden Sitzreihen.

»Was, zum Teufel, ist die Exituskonferenz?« flüsterte Jack Moylan, der neben Spurgeon sitzende Spitalsarzt, nach einem Blick auf das hektographierte Programm des ersten Tages.

Spurgeon wußte es. Sie hatten auch in New York Exituskonferenzen abgehalten, obwohl er ihnen als Student nicht beiwohnen durfte.

»Eine Versammlung, in der Ihre Fehler wie ein Bume-rang zu Ihnen zurückfliegen«, sagte er.

Moylan sah ihn verblüfft an.

»Auch Sie werden es bald, wie alle anderen, das Todeskomitee nennen. Der gesamte chirurgische Stab trifft sich, um die Todesfälle der Station zu überprüfen und zu entscheiden, ob sie zu verhindern gewesen wären - und wenn ja, warum sie nicht verhindert wurden. Es ist eine Methode, um die Ausbildung und Kontrolle der Chirurgen ständig fortzusetzen. Die Frage nach der Verantwortung, um Sie beruflich in Schwung zu halten, eine Art beruflichen Festnagelns.«

»O Gott«, sagte der andere Spitalsarzt.

Sie saßen in den ansteigenden Sitzreihen und tranken Kaffee oder Pepsi-Cola aus Pappbechern. Eine Kranken-schwester reichte Teller mit Keksen herum. Unten saßen Silverstone und Meomartino an einem kleinen Tisch, auf dem Krankengeschichten aufgestapelt lagen, einander gegenüber. Zu Verwaltungs- und Lehrzwecken waren die Hausärzte in zwei Gruppen geteilt, in das Blaue und das Rote Team. Fälle, die das Rote Team betrafen, wurden von Meomartino behandelt, während das Blaue Team von Silverstone beaufsichtigt wurde.

Neben einem leeren Sitz ganz oben in der ersten Reihe saß der Chefstellvertreter der Chirurgischen Station, Dr. Bester Caesar Kender (»In Schwierigkeiten nicht verzagen, immer Bester Kender fragen«), ein zigarrenkauender ehemaliger Luftwaffenoberst, der sich als Nierenchirurg und Entdecker neuer Transplantationsmethoden einen im ganzen Land berühmten Namen gemacht hatte, und erzählte Dr. Joel Sack, dem Chef der Pathologie, eine saftige Geschichte. Sie waren ein Bild physischer Gegensätze: Kender ein großer behaarter Mann mit blühendem Teint, in dessen Rede noch immer der langsame Tonfall seiner Herkunft aus der Kartoffelgegend von Maine mitschwang, Sack hingegen war kahl und fahrig, wie ein nervöses Eichhörnchen.

Die beiden Chinesen des Stabs, Dr. Lewis Chin, gebürtiger Bostoner und Konsiliarchirurg, und der mondgesichtige Dr. Harry Lee aus Formosa, Facharztanwärter im dritten Jahr, saßen beisammen, und wie zu gegenseitigem Trost auch die beiden Frauen, Dr. Miriam Parkhurst, ebenfalls Konsiliarärztin, und Dr. Helena Manning, ein kühles, selbstsicheres Mädchen, Facharztanwärterin im ersten Jahr.

Alle erhoben sich, als der Chef der Chirurgie den Saal betrat. Spurgeon verschüttete dabei Cola auf seinen wunderschönen frischen, weißen Anzug.

Dr. Longwood nickte, und sie setzten sich gehorsam wieder hin.

»Meine Herren«, sagte er, »ich heiße diejenigen unter Ihnen willkommen, die am Allgemeinen Krankenhaus des Suffolk County neu sind.

Unser Krankenhaus ist eine vielbeschäftigte städtische Institution, die Ihnen höllisch viel Arbeit bietet und dafür sehr viel von Ihnen verlangt.

Unsere Maßstäbe sind hoch. Es wird erwartet, daß jeder von Ihnen sein Bestes gibt.

Die hiermit beginnende Sitzung ist die Exituskonferenz. Sie ist für Ihre berufliche Weiterbildung höchst wichtig. Sowie Sie den Operationssaal verlassen, gehört die chirurgische Arbeit, die Sie dort leisteten, der Vergangenheit an. In dieser Versammlung werden Ihre und meine Versager vorgelegt und von unseren Kollegen eingehend geprüft. Was hier geschieht, ist vielleicht sogar mehr als das, was im Operationssaal geschieht, das nämlich, was letztlich aus Ihnen Chirurgen machen wird.«

Er nahm eine Handvoll Kekse, setzte sich in die erste Reihe und nickte Meomartino zu. »Sie können anfangen, Doktor.«

Als der Fellow der Chirurgie die Einzelheiten vorlas, stellte sich heraus, daß der erste Fall eine Routineangelegenheit war, ein Neunundfünfzigjähriger mit fortgeschrittenem Leberkrebs, der zu spät Hilfe gesucht hatte.

»Vermeidbar oder unvermeidlich?« fragte Dr. Longwood und streifte Keksbrösel von seiner Hose ab. Jeder Dienstältere stimmte für unvermeidlich, und der Chef nickte. »Bei weitem zu spät«, sagte er. »Weist darauf hin, wie notwendig eine Frühdiagnose ist.«

Der zweite Fall betraf eine Frau, die an Herzversagen gestorben war, während sie in der Abteilung wegen eines gastrischen Leidens behandelt wurde. In der Krankengeschichte stand nichts über eine frühere Herzerkrankung, und die Autopsie hatte ergeben, daß die gastrischen Schäden tatsächlich nicht bösartig gewesen waren. Wieder erklärten alle Chirurgen den Tod für unvermeidlich.

»Ich stimme zu«, sagte Dr. Longwood, »muß jedoch bemerken, daß wir sie, wenn sie nicht an einer Koronarer-krankung gestorben wäre, falsch behandelt hätten. Sie hätte aufgemacht und untersucht werden sollen. Ein interessanter Artikel in der Lancet vor zwei Monaten hob hervor, daß die Überlebensrate von fünf Jahren für medizinisch behandelte Magentumore - gleichgültig, ob gutartig oder bösartig - zehn Prozent beträgt. Wenn der Patient einer Probeleparatomie unterzogen wird, um herauszufinden, was da drinnen eigentlich vor sich geht, steigt die Überlebensrate von fünf Jahren auf fünfzig bis siebzig Prozent.«

Wie in der Schule, dachte Spurgeon. Seine Spannung ließ nach, und er begann es zu genießen - nur wie in der Schule.

Dr. Longwood stellte Dr. Elizabeth Hawkins und Dr. Louis Solomon vor. Spurgeon spürte eine leichte Veränderung in der Atmosphäre, bemerkte, daß sich Dr. Kender, der Nierentransplantationsmann, vorbeugte und nervös etwas in seiner schinkenförmigen Hand schüttelte.

»Wir freuen uns, daß Dr. Hawkins und Dr. Solomon unserer Einladung gefolgt sind«, sagte Dr. Longwood. »Sie sind Facharztanwärter in der Pädiatrischen Station, wo sie sich zur Zeit dem Ende ihrer Spitalspraxis näherten, als folgender Todesfall eintrat.« Adam Silverstone las die Krankengeschichte der fünfjährigen Beth-Ann Meyer vor, die eine dreißigprozentige Verbrennung der Hautoberfläche erlitten hatte, als sie sich mit kochendem Wasser verbrühte. Nach zwei Hautverpflanzungen in der Kinderabteilung des Krankenhauses hatte sie eines Nachts um drei Uhr gespien, und herausgewürgte Speisereste hatten ihr die Luftröhre verschlossen. Ein Facharztanwärter der Anäs-thesiologie hatte sechzehn Minuten gebraucht, bis er sich meldete. Als er kam, war die kleine Patientin schon tot.

»Es gibt natürlich keine Entschuldigung für die Zeitverschwendung des Anästhesisten«, sagte Dr. Longwood. »Aber sagen Sie mir ...« Die kühlen Augen wanderten von Dr. Hawkins zu Dr. Solomon, »... warum haben Sie keinen Luftröhrenschnitt gemacht?«

»Es ging alles so schnell«, sagte das Mädchen.

»Es war kein Tracheotomie-Besteck vorhanden«, sagte Dr. Solomon.

Dr. Kender hielt zwischen Daumen und Zeigefinger den Gegenstand hoch, den er in seiner Faust geschüttelt hatte. »Wissen Sie, was das ist?«

Dr. Solomon räusperte sich. »Ein Federmesser.«

»Ich habe es immer bei mir«, sagte der Nierenchirurg leise. »Ich könnte damit eine Luftröhre in der Straßenbahn öffnen.«

Die beiden Facharztanwärter der Pädiatrie schwiegen. Spurgeon konnte die Augen nicht von dem blassen Gesicht des Mädchens abwenden. Die verpassen es ihnen eiskalt, dachte er. Sie sagen ihnen: Du - du allein - hast dieses Kind umgebracht.

Dr. Longwood sah Dr. Kender an.

»Vermeidbar«, sagte der Chef-Stellvertreter, ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen.

Dr. Sack.

»Vermeidbar.«

Dr. Paul Sullivan, einen Konsiliarchirurgen.

»Vermeidbar.«

Dr. Parkhurst.

»Vermeidbar«, sagte sie.

Spurgeon saß da, als das Wort wie ein kalter Stein rund um den Saal gereicht wurde, und war nicht mehr fähig, einen der beiden Facharztanwärter der Pädiatrie anzusehen.

Gott, dachte er, laß das hier nie mir widerfahren.

Er wurde mit Silverstone der Abteilung Quincy zugeteilt, und sie gingen miteinander hin. Es war eine arbeitsreiche Stunde für die Schwestern, die Zeit der Routinearbeit, Wechseln einfacher Verbände und Temperaturmessen, Obstsaft austragen und Leibschüsseln reichen, Pillen austeilen und Aufzeichnungen ergänzen. Die beiden Ärzte standen auf dem Gang, während der Oberarzt die Notizen durchsah, die er sich während der Morgenvisite gemacht hatte, und Spurgeon beobachtete zwei kichernde Schwesternschülerinnen beim Bettenmachen, bis Dr. Silverstone schließlich aufblickte.

Und der Herr sprach, dachte Spurgeon, und sagte ...

»Harold Krebs, postoperative Prostatektomie, Zimmer 394, braucht zwei Einheiten Blutkonserve. Beginnen Sie mit einer Intravenösen bei Abraham Batson auf 310. Und dann holen Sie ein Inzisionsbesteck, und wir führen Roger Cort, 308, einen Katheter in die Hauptvene ein.«

In der Karteiabteilung saß eine magere alte Frau mit strähnigem Haar und dem Streifen der Oberschwester an ihrem Häubchen. Spurgeon griff mit einer gemurmelten Entschuldigung an ihr vorbei und hob den Hörer ab.

»Haben Sie die Nummer der Blutbank?« fragte er sie.

Ohne ihn anzusehen, reichte sie ihm ein Telephonverzeichnis.

Als er die Nummer gewählt hatte, war sie besetzt. Eine sehr hübsche brünette Schwester mit einer guten Figur, die in einer Nylonuniform zur Schau gestellt wurde, kam herein und schrieb eine Nachricht auf die schwarze Tafel: Dr. Levine, bitte rufen Sie WAyland 872-8694.

Wieder wählte Robinson die Blutbank. »Verdammt.«

»Kann ich etwas für Sie tun, Doktor?« fragte die junge Schwester.

»Ich versuche, die Blutbank zu erreichen.«

»Diese Nummer ist im Haus am schwersten zu bekommen. Die meisten Hausärzte gehen einfach hinunter und holen sich die Blutkonserven selbst. Die Person, an die Sie sich dort unten wenden müssen, heißt Betty Callaway.«

Er dankte ihr, und sie eilte aus dem Zimmer. Er beugte sich wieder an der Oberschwester vorbei und legte den Hörer auf. Alte weiße Hexe, dachte er, warum hast du mir das nicht gesagt? Teufel, ich weiß nicht einmal, wie ich die verdammte Blutbank finde, merkte er verärgert.

Er beugte sich vor und versuchte das Namensschild der Oberschwester zu entziffern. »Miss Fultz«, sagte er. Sie schrieb weiter in ihren Aufzeichnungen.

»Können Sie mir sagen, wie ich die Blutbank finde?«

»Kellergeschoß«, sagte sie, ohne aufzublicken.

Er fand die Blutbank nach drei weiteren Erkundigungen, bestellte die Blutkonserve bei Betty Callaway und wartete ungeduldig, während sie langsam und umständlich die Blutgruppe von Harold Krebs heraussuchte. Als er in dem trägen Lift hinauffuhr, schimpfte er sich einen Esel, der gegen die Herren des Hauses kämpfte, statt im Krankenhaus herumzuwandern, um zu erkunden, wo sich alles befand.

Nach diesem Anfang wäre er nicht überrascht gewesen, wenn der Patient auf 304 unsichtbare Venen gehabt hätte, aber es stellte sich heraus, daß Harold Krebs ein Mann mit einem guten, klar umrissenen Venensystem war, wie ge-schaffen für Katheter, und Robinson brachte die Transfusion ohne Schwierigkeiten in Gang.

Jetzt die Intravenöse für 310. Aber wo wurden die Intravenösen aufbewahrt? Er konnte Miss Fultz nicht fragen, überlegte es sich dann aber anders: warum sollte er der alten Hexe erlauben, ihn abzuschrecken?

»Schrank im Hauptgang«, sagte sie, noch immer mit gesenktem Kopf.

Alte Dame, schau mich an, befahl er stumm. Es ist bloß schwarze Haut, die tut deinen Augen nicht weh. Er holte die I. V. Abraham Batson auf 310 war genau das, was Robinson auf 304 erwartet hatte. Ein vertrocknetes Männchen mit haarfeinen Venen und vielen Einstichen, die zeigten, daß es schon andere vergeblich versucht hatten. Es gelang erst nach dem achten Versuch, während das Nadelkissen stöhnte und ihm anklagende Blicke zuwarf, dann endlich konnte Robinson entfliehen.

O Gott, das Inzisionsbesteck.

»Miss Fultz«, sagte er.

Diesmal sah sie ihn an. Er war wütend über die Verachtung in ihren Augen, die von verblichenem Blau waren.

»Wo finde ich ein Inzisionsbesteck?«

»Dritte Tür unten links.«

Er fand es, holte es und traf Silverstone in der Frauenabteilung der Station.

»Gott, ich wollte schon Alarm schlagen lassen«, sagte der Oberarzt.

»Ich habe die meiste Zeit damit verbracht, mich zu verirren.«

»Ich auch.« Zusammen gingen sie auf 308.

Roger Cort hatte Darmkrebs. Wenn man genau hinsah, dachte Spurgeon, konnte man den Engel auf Roger Corts rechter Schulter hocken sehen.

»Haben Sie je eine Inzision gemacht?«

»Nein.«

»Schauen Sie genau zu. Das nächste Mal werden Sie sie allein machen.«

Er sah zu, während Silverstone die Haut über dem Knöchel sterilisierte, Novocain injizierte, dann Handschuhe überstreifte und einen winzigen Einschnitt vor der Innenseite des Knöchels machte, dann zwei Stiche, einen oben, einen unten, die Kanüle einführte und sie mit dem zweiten Stich befestigte. Einige Sekunden später tropfte Glukose in Roger Corts Blutbahn. Wie Silverstone es gemacht hatte, sah es ganz leicht aus. Das werde ich auch fertig bringen, dachte Spurgeon. »Was ist Ihre nächste Nummer?« fragte er.

»Kaffee«, sagte Silverstone, und sie gingen Kaffee trinken.

Die hübsche brünette Schwester schenkte ihnen ein.

»Was halten Sie von unserer Station?« fragte sie.

»An welchem heimlichen Kummer leidet eure Oberschwester?« fragte der Oberarzt. »Sie hat den ganzen Vormittag nichts getan, als mich anzuknurren.«

Das Mädchen lachte. »Oh, sie ist eine legendäre Figur des Krankenhauses. Sie spricht nicht mit den Ärzten, außer wenn sie einen mag, und sie mag sehr wenige Ärzte. Einige der Konsiliarärzte kennen sie schon seit dreißig Jahren, und sie werden immer noch angeknurrt.«

»Welch ein Vermächtnis«, sagte Silverstone düster.

Wenigstens ist es nicht die Farbe, die sie haßt, dachte Spurgeon. Sie haßt jeden. Irgendwie machte ihn der Gedanke froh. Er trank seinen Kaffee aus, verließ Silverstone und wechselte verschiedene Verbände, ohne Miss Fultz fragen zu müssen, wo etwas war. Besser, ich fange an, dieses Haus zu erforschen, dachte er und fragte sich plötzlich, was er täte, wenn jemand einen Herzschlag bekäme. Er wußte nicht, wo der Defibrillator oder der Wiederbelebungsapparat war. Eine Schwester eilte den Gang entlang. »Können Sie mir sagen, wo das Instrumentarium für akutes Herzversagen aufbewahrt wird?« fragte er.

Sie blieb stehen, als sei sie in eine gläserne Wand hineingelaufen. »Ein akuter Fall?«

»Nein«, sagte er.

»Erwarten Sie einen Notfall, Doktor?«

»Nein.«

»Nun, ich habe eine Frau, die sich die Eingeweide aus dem Leib speit«, sagte sie empört und lief weiter.

»Jawohl, Gnädigste«, sagte er, aber sie war schon fort. Seufzend machte er sich auf die Suche, ein Forscher in einem seltsamen, fremden Land.

Um acht Uhr abends, sechsunddreißig Stunden nach dem Beginn seiner Laufbahn als Spitalsarzt, öffnete Spurgeon die Tür zu seinem Zimmer im sechsten Stock und zuckte zurück, als die Hitze ihm entgegenschlug.

»Hui«, sagte er leise.

Er hatte in der vergangenen Nacht nur wenige Stunden hier geschlafen, da die Spitalsärzte Bereitschaftsdienst hatten, während der Oberarzt nur in einigermaßen ernsten Fällen gestört werden sollte. Acht- oder neunmal war er geweckt worden, um Medikamente zu verschreiben, die den Patienten jenen Schlaf bringen würden, der ihrem Spitalsarzt verwehrt war.

Er stellte die Papiertragtasche nieder, die er mitgebracht hatte, und stieß das Fenster weit auf, zog die Schuhe aus,

ohne die Schnürsenkel aufzuknüpfen, streifte seinen weißen Anzug ab und schälte sich aus dem durchnäßten Unterhemd. Aus der Tasche holte er eine Sechserpackung Bierdosen, riß die Aluminiumlasche von der einen, trank ein Drittel des Inhalts auf einen langen, kalten Zug aus. Dann ging er seufzend zum Schrank und holte die Gitarre.

Auf dem Bett sitzend trank er die Bierdose leer, begann an den Saiten zu zupfen und leise den Tenorpart eines Madrigals zu singen.

There's a rose in my gar-den And it has one sharp thorn.

And Iprick myself on it At least twice a morn. And I hasten to plead As I hasten to bleed: Wipe the blood Off the rose In my gar-den ...

Teufel, nein, dachte er bekümmert, die Stimmung in diesem Haus war eben nicht das richtige.

Was er selbst immer als Anregung gebraucht hatte, war ein bewunderndes Publikum, ein schlankes Kätzchen, das ihm mit den Augen »kluger Spurgeon« sagte, den leichten, vielversprechenden Druck eines Knies, wenn sie neben ihm auf der Klavierbank saß, Burschen, die ihm einen Drink um den anderen aufdrängten, als sei er Ellington persönlich, und die ihn bestürmten, den einen oder anderen Song zu spielen.

Er vermißte diesen Wirbel.

»Deine Schuld, Onkel Calvin«, sagte er laut.

Onkel Calvin war überzeugt gewesen, daß Spurgeon in irgendeiner Harlemer Kaschemme als Klavierspieler enden und sich für ein Butterbrot oder noch weniger umbringen würde. Er grinste, öffnete eine zweite Dose und trank auf das Wohl seines Stiefvaters, dessen Geld einen Arzt aus ihm gemacht hatte, trotz Spurgeons Weigerung, sich zur Weiterführung des Unternehmens einschulen zu lassen, für das sich der Alte den Großteil seines Lebens abgerackert hatte. Und dann trank er in dem winzigen überhitzten Loch von Zimmer, vor Schweiß triefend, auf sein eigenes Wohl.

»Onkel Calvin«, gestand er sich, »das hier ist nicht ganz das, was ich mir unter Erfolg vorstelle.«

Er ging zum Fenster und blickte auf die Lichter hinaus, die plötzlich aufzuleben begannen, je mehr sich die Stadt verdunkelte. Ich muß aus diesem Kleiderschrank hier weg, sagte er sich. Irgendwo da unten war eine behagliche Bude, wo er vielleicht ein altes Klavier aufstellen konnte.

»Ihr Schweinehunde«, sagte er zu der Stadt.

Drei Tage lang wohnte er im Statler-Hotel, während er Wohnungsanzeigen im Herald und im Globe beantwortete. Die Makler hatten auf Anrufe von Dr. Robinson herzlich reagiert, aber immer wenn er auftauchte, um sich die betreffende Wohnung anzusehen, war sie soeben vermietet worden.

»Haben Sie je von Crispus Attucks gehört?« fragte er den letzten Wohnungsmakler.

»Von wem?« hatte der Mann nervös gefragt.

»Er war ein Farbiger wie ich. Er war der erste Amerikaner, der in eurer gottverfluchten Revolution getötet wurde.«

Der Mann hatte verständnisvoll genickt und erleichtert gelächelt, als Robinson ging.

Es mußte doch nette Häuser geben, in denen man mit dem Rassenvorurteil gebrochen hatte, dachte er.

Nun, vielleicht hatte er sich Wohnungen angesehen, die zu hübsch waren. Er konnte sich ein behagliches Heim leisten. Einmal monatlich würde ein Scheck von Onkel Calvin kommen, obwohl Spurgeon erklärt hatte, daß er jetzt vom Krankenhaus Gehalt beziehen würde. Sie hatten lange miteinander diskutiert, bis er begriffen hatte, daß Calvin an jedem dritten Donnerstag im Monat, wenn er den Scheck unterzeichnete, zwei Dinge verschenkte: Geld, das er schätzte, denn es hatte eine Zeit gegeben, da er es nicht gehabt hatte, und Liebe, das Wunderbarste in seinem Leben.

Guter Onkel, dachte Spurgeon zärtlich. Warum bringe ich es nicht fertig, ihn Vater nennen?

Es hatte eine Zeit gegeben, an die er sich deutlich wie an einen bösen Traum erinnerte, als sie arme Nigger gewesen waren, bevor seine Mutter Calvin geheiratet hatte und sie reiche Neger geworden waren. Er hatte in einem Kinderbett neben dem Bett seiner Mutter geschlafen, in einem kleinen öden Zimmer im westlichen Teil der Stadt, in der 172. Straße. Der Raum hatte verschossene braune Tapeten mit Wasserflecken am oberen Rand der einen Wand, die vor langer Zeit entstanden, als im darüberliegenden Stockwerk etwas übergelaufen oder ein Dampfrohr leck geworden war. Er sah die Flecken immer als Tränenspuren, denn wenn er weinte, deutete seine Mutter auf sie und sagte, wenn er nicht zu heulen aufhörte, bekämen seine Wangen Flecken wie die Tapete. Er erinnerte sich an einen knarrenden Schaukelstuhl mit einem abgenützten karierten

Sitzkissen, an den zweiflammigen Gasherd, der schlecht funktionierte, so daß es lange dauerte, bis das Wasser kochte, an den kleinen Spieltisch, auf dem man nichts Eßbares über Nacht stehen lassen konnte, wegen der hungrigen Dinger, die aus den Wänden krochen.

Er dachte an all das nur, wenn ihn die Erinnerung daran überwältigte. Er dachte lieber an Mammi, damals, als sie noch jung war.

Seine Mutter hatte ihn täglich bei Mrs. Simpson zurückgelassen, die drei Zimmer des unteren Stockwerks bewohnte, selbst drei Kinder hatte und, da sie weder einen Ehemann noch eine Beschäftigung aufzuweisen hatte, einen Notstandsscheck bezog. Mammi bekam keinen Scheck. Als er noch ein Knabe war, arbeite sie als Kellnerin in allen möglichen Restaurants, und die schwere Arbeit trug ihr schlechte Füße und geschwollene Beine ein. Trotzdem war sie außerordentlich hübsch. Sie hatte ihn geboren, als sie noch ein junges Mädchen war, und über ihren kaputten Beinen war ihr Körper zwar gereift, jedoch schlank und fest geblieben.

Manchmal weinte Mammi im Schlaf, und sie rieb immer Desinfektionsmittel auf den Sitz der Toilette, die sie mit den Hendersons und den Catletts gemeinsam benützten. Wenn er gebetet hatte, flüsterte er manchmal ihren Namen in der Dunkelheit: Roe-Ellen Robinson ... Roe-Ellen Robinson ...

Wenn sie ihn ihren Namen flüstern hörte, ließ sie ihn zu sich ins Bett kommen. Dann legte sie die Arme um ihn und drückte ihn so heftig an sich, bis er schrie, danach kraulte sie ihm den Rücken und sang ihm Lieder vor -

Oh, the river is deep and wide, hallelujah!

Milk andhoney on the other side ...

und erzählte ihm, was für ein gutes Leben sie haben würden, wenn sie in das Land kämen, wo Milch und Honig fließt, und er legte seinen Kopf auf ihre großen weichen Brüste und schlief glücklich, überglücklich ein.

Er ging in die Schule seines Bezirks, ein altes Gebäude aus roten Ziegeln mit Fenstern, die schneller zerbrachen, als die Stadt das Glas ersetzen konnte, mit einem betonierten Spielplatz im Freien und einem eigenartigen Dunst drinnen, in dem sich hauptsächlich der Geruch von Kohlengas mit dem von Körpern mischte, die nicht an Privatbäder und Heißwasser gewöhnt waren. Als er mit der ersten Klasse begann, sagte ihm seine Mutter, er solle ja lesen lernen, weil sein Vater ein Mann sei, der gern lese und immer mit der Nase in einem Buch stecke. Daher lernte Spurgeon und tat es allmählich gern. In den höheren Klassen, in der vierten, fünften und sechsten, wurde es schwieriger, in der Schule zu lesen, weil es fast immer irgendeine Störung gab, aber da hatte er schon den Weg in die öffentliche Leihbücherei gefunden und nahm ständig Bücher mit nach Hause.

Er lief mit besonderer Vorliebe mit zwei Buben herum, mit Tommy White, der sehr schwarz war, und Fats Mc-Kenna, der lichtgelb und sehr mager war, weshalb man ihn »den Fetten« nannte. Zuerst hatten ihn nur ihre Namen fasziniert, später wurden sie auch seine Freunde. Sie liebten alle ein Mädchen namens Fay Hartnett, die wie Satch-mo singen und mit den Lippen furzen konnte, wie eine nervöse Trompete. Meistens streiften sie einfach nur in der Umgebung der 171. Straße West herum, spielten Stockball, lobten die Giants und kritisierten die Yankees und ihre lausigen weißen Lehrer. Hie und da mausten sie etwas, wobei immer zwei die Aufmerksamkeit des Ladenbesitzers fesselten, während der dritte klaute, gewöhnlich etwas

Eßbares. An drei Samstagabenden hatten sie Betrunkene verdroschen, wobei Tommy und Spurgeon die Arme des Mannes hinter dessen Rücken festhielten, während Fats, der meinte, er sähe wie Sugar Ray aus, den physischen Teil verrichtete.

Sie hatten die Veränderungen, die sich an Fay Hartnetts Körper vollzogen, genau beobachtet, und eines Abends zeigte sie ihnen auf dem Dach von Fats' Haus, wie man etwas machte, das ihr einige ältere Buben gezeigt hatten. Sie prahlten damit in alle Winde, und einige Abende später verrichtete sie den gleichen Dienst für sie und eine große Gruppe ihrer Freunde und Bekannten. Zwei Monate später wurde sie aus der Schule entlassen, und von Zeit zu Zeit sahen sie sie dann auf der Straße und kicherten, weil ihr Bauch anschwoll, als hätte sie einen Basketball geschluckt, den jemand aufblies. Spurgeon drückte weder ein Schuld- noch Verantwortungsgefühl; das erste Mal war er der zweite, das zweite Mal der siebente oder achte in der Reihe gewesen. Und wer weiß, wie viele andere Parties es gegeben hatte, zu denen er nicht eingeladen worden war. Aber es fehlte ihm manchmal, sie nicht wie Louis singen zu hören.

Er konnte sich nicht vorstellen, daß Mammi das tat, was Fay getan hatte, die Beine spreizen und sich ganz naß und erregt winden, und dennoch wußte er irgendwo tief innen, daß sie es wahrscheinlich doch manchmal tat. Roe-Ellen kannte immer viele Männer, und hie und da pflegte sie Mrs. Simpson dafür zu bezahlen, daß Spurgeon in ihrer Wohnung bei ihren beiden Buben, Petey und Ted, übernachtete. Besonders ein Mann, Elroy Grant, ein großer, schöner Mann, der eine Kleiderreinigung in der Amsterdam Avenue führte, lief Mammi ständig nach. Er roch stark nach Whiskey und beachtete Spurgeon nicht, der ihn haßte. Er trieb sich mit tausend Frauen herum, und eines

Tages fand Spurgeon Roe-Ellen weinend auf dem Bett liegen, und als er Mrs. Simpson fragte, was los sei, erzählte sie ihm, Elroy habe eine Witwe geheiratet, die eine Kneipe in Borough Hall besaß, habe die Kleiderreinigung zugesperrt und sei nach Brooklyn übersiedelt. Noch Wochen nachher war Mammi niedergeschlagen, dann riß sie sich endlich zusammen und verkündete, Spur müsse sich jetzt besonders vernünftig betragen, weil sie sich in einen Sekretärinnenkurs habe einschreiben lassen und vier Abende der Woche nach der Arbeit in der Patrick Henry High School am oberen Broadway verbringen würde. An den Abenden, an denen sie nicht in die Schule ging, richtete er es immer so ein, daß er zu Hause war; es wurden seine Feiertage.

Roe-Ellen besuchte den Unterricht zwei Jahre lang, und als sie den Kurs beendet hatte, konnte sie 72 Wörter in der Minute tippen und 100 Wörter pro Minute im Greggschen Stenographiesystem aufnehmen. Sie vermutete, daß sie nur schwer eine Stelle finden würde, aber nach zwei Wochen Arbeitssuche wurde sie im Schreibsaal der Lebensversicherungsgesellschaft »American Eagle« angestellt. Jeden Abend kam sie mit strahlenden Augen und mit Geschichten über neue Wunder heim, den Schnellift, die wunderbaren Mädchen im Sekretariat, die Zahl der Briefe, die sie an diesem Tag zustande gebracht hatte, die kurze Arbeitszeit, die Freude, ihre Beine ausruhen zu können und trotzdem einen vollen Arbeitstag bewältigt zu haben.

Eines Tages kam sie heim und sah fast verstört aus. »Liebling, heute hab' ich den Präsidenten gesehen.«

»Eisenhower?«

»Nein. Mr. Calvin J. Priest, Präsident der American Eagle Life Insurance Company. Spur, Liebling, er ist ein Farbiger!«

Es klang unsinnig. »Du mußt dich geirrt haben, Mammi. Wahrscheinlich ist er ein sehr dunkler Weißer.«

»Ich sage dir, er ist so schwarz wie du. Und wenn Calvin J. Priest etwas so Wundervolles schaffen konnte, wie Präsident der Lebensversicherung American Eagle zu werden, warum sollte es Spurgeon Robinson nicht auch? Baby, Baby, wir werden das Land, wo Milch und Honig fließt, doch noch sehen, das verspreche ich dir!«

»Ich glaube dir, Mammi.«

Ihr Transportmittel in das Land von Milch und Honig war natürlich Onkel Calvin.

Als Spurgeon erwachsen war, wußte er alles über Calvin Priest, wußte, wie er zur Zeit ihrer ersten Begegnung und auch, wie er früher gewesen war. Calvin war ein mitteilsamer Mensch, der seine Stimme anwandte, um Kontakte herzustellen, und die nach Roe-Ellen und ihrem Sohn mit Worten griff, als seien es Hände. Spurgeon trug im Laufe einer langen Zeit in vielen Gesprächen Stück um Stück von Calvins Leben zusammen, nachdem er endlose Erinnerungen und weitschweifige Geschichten gehört hatte, bis er das wahre Bild dieses Mannes, seines Stiefvaters, besaß.

Calvin Priest wurde während eines Tropengewitters am 3. September 1907 in der Stadt Justin geboren, im Pfirsichdistrikt von Georgia. Die Initiale J seines Namens bedeutete Justin, den Namen der Gründerfamilie der Gemeinde, in deren Haus Calvins Großmutter mütterlicherseits, Sarah, einst als Dienstmädchen und Sklavin gearbeitet hatte.

Das letzte überlebende Mitglied der Familie Justin, Mr. Osborne Justin - Rechtsanwalt, Stadtsyndikus, ein älterer Possenreißer, und Erbe gewisser traditioneller Rollen - hatte der alten Sarah zehn Dollar geboten, wenn ihre

Tochter das Baby Judas nennen würde, aber die alte Dame war zu stolz, und auch zu gerissen. Sie nannte das Baby nach der Familie des Weißen, trotz - oder vielleicht wegen - der Tatsache, daß dem Lokaltratsch zufolge ihr Verhältnis zum Sohn des Hauses in ihren jüngeren Tagen weit mehr war als das einer Sklavin, und sicher in dem Wissen um den Brauch, daß der alte weiße Mann dem Kind in Anerkennung seines Familiennamens auf alle Fälle das Geschenk geben mußte.

Calvin wuchs als ländlicher Neger auf. Solange er in Georgia war, fehlte nie der Nachdruck auf seinem mittleren Namen - Calvin Justin Priest -, und vielleicht führte dieses Bindeglied mit einem privilegierten Hintergrund und Omen stolzer zukünftiger Dinge dazu, daß ihm eine erweiterte Schulbildung zugestanden wurde. Er war ein frommer Junge, der das Theatralische der Gebetsversammlung genoß, und er dachte lange daran, Priester zu werden. Es war eine glückliche Kindheit, obwohl seine Eltern von der Influenzaepidemie hinweggerafft wurde, die 1919 verspätet, aber ebenso tödlich aus den Städten aufs Land hinaussickerte. Drei Jahre später wußte Sarah, daß Gott ihr zwar ein reiches und langes Leben gegönnt hatte, es sich jedoch seinem Ende näherte. Sie diktierte dem jungen Calvin einen Brief, den er sorgfältig in Schriftsprache übersetzte und nach Chicago sandte, dem Ort der tausend Möglichkeiten und der Freiheit. In dem Brief bot Sarah ehemaligen Nachbarn namens Haskins ihr Begräbnisgeld, 170 Dollar, an, wenn sie Calvin in ihr Heim und an ihr Herz nehmen würden. Sarah war überzeugt, daß sich Os-borne Justin um ihr Begräbnis kümmern würde; es war die letzte Chance, ihm auf seine Kosten eins auszuwischen.

Die Antwort kam in Form einer Penny-Postkarte, auf die jemand mit Bleistift gekritzelt hatte:

Schikk den Jungen.

Als er nach Georgia zurückkehrte, war aus ihm ein Mann geworden.

Es stellte sich heraus, daß Moses Haskins ein gemeines Scheusal war. Er verdrosch Calvin und seine eigene Brut regelmäßig und unparteiisch, und Calvin lief davon, noch bevor er ein Jahr in der Haskins-Familie gelebt hatte. Er trug den Chicago American aus, arbeitete als Schuhputzer, gab sich für älter aus und arbeitete als Packer in einem Schlachthof. Die Arbeit war bitter hart - wer hätte gedacht, daß tote Tiere so schwer sind? -, und anfangs glaubte er nicht, daß er durchhalten würde, aber sein Körper wurde zäher, und die Bezahlung war gut. Als sich zwei Jahre später die Gelegenheit ergab, bei einem Wanderzirkus für weniger Geld Handlanger zu werden, ergriff er sie begierig. Er reiste mit dem Zirkus durch das weite Land, nahm es in sich auf, all seine Herrlichkeiten, die hochgelegenen Dörfer und fernen, abgelegenen Täler, die verschiedensten Menschen. Er verrichtete alle Arbeiten, die einen starken Rücken verlangten, packte die Planen aus und wieder ein, stellte die Zelte auf und brach sie wieder ab, fütterte und tränkte die armseligen Tiere: ein paar räudige Katzen, einige Affen, eine Meute dressierter Hunde, einen alten Bären, einen Adler mit gestutzten Flügeln, der, an seine Sitzstange gekettet, mit hängenden weißen Schwanzfedern dasaß. Der Adler starb in Chillicothe, Ohio.

Nach zehn Monaten kam der Wanderzirkus auch in die Südstaaten, und an dem Tag, an dem sie in Atlanta einzogen, half er noch die Zelte aufstellen und sagte dann dem Vorarbeiter, er müsse auf paar Tage fort, nahm einen Bus und saß im hinteren Teil des Wagens, bis er in Justin ankam.

Sarah war vor einigen Jahren gestorben, und er hatte sie längst beweint, aber er wollte sehen, wo sie begraben war, konnte jedoch das Grab seiner Großmutter nicht finden. Als er am Abend den Prediger aufsuchte, brummte der Mann, weil er nach einem langen Tag vom Pfirsichpflük-ken müde war, holte dann doch eine Taschenlampe, und ging mit Calvin suchen, bis er das Grab fand, klein und unbezeichnet und - wohin Sarah im Leben nie gehört hatte - im Armenwinkel.

Am nächsten Tag nahm Calvin einen Mann als Hilfskraft auf. Neben seiner Mutter war keine Grabstelle frei, hingegen eine nicht allzu weit entfernt. Er grub mit dem Mann zusammen ein Grab, und sie betteten seine Großmutter um. Die Kiste, in der sie begraben worden war, zerbröckelte etwas, als sie sie aufhoben, war aber doch nach zwei Jahren in dem feuchten roten Lehm in überraschend gutem Zustand. Calvin stand abends an dem neuen Grab, während der Prediger schönklingende biblische Sätze in den sich verdunkelnden Himmel sandte. Irgendwo ganz hoch oben schwebte stolz ein Vogel. Ein Adler, entschied Calvin, aber anders als der gefangene Vogel im Zirkus, der gestorben war. Dieser hier bewegte sich frei in der Luft, die ihm gehörte, und Calvin mußte weinen, als er ihm zusah. Es wurde ihm klar, daß Osborne Justin, Rechtsanwalt, Stadtsyndikus, älterer Possenreißer und Erbe gewisser traditioneller Rollen, schließlich doch zuletzt gelacht hatte, als er die alte Niggerdame in ein Armengrab verwies. Calvin hinterließ bei dem Prediger Geld für einen Grabstein und nahm dann den Bus zum Zirkus zurück. Er verwendete seinen mittleren Namen, Justin, nie wieder. Von dem Tag an war er einfach Calvin J. Priest.

Als die amerikanische Wirtschaft zusammenbrach, war er zweiundzwanzig Jahre alt. Er hatte das Land gesehen, seine Weiten und Höhen, die Riesenstädte und die verschlafenen Städtchen, und hatte entdeckt, daß er es verzweifelt liebte. Er wußte, daß es ein Land war, das nicht wirklich ihm gehörte, aber 1700 Dollar davon, sicher in einen braunen Socken gewickelt, gehörten ihm doch.

Der Markt krachte zusammen, als der Zirkus seine herbstliche Südtour begann, und als Geschäfte Bankrott machten und Firmen sich auflösten, konnte die ständig zunehmende Depression an der schwindenden Publikumszahl jeder Vorstellung abgelesen werden, bis der Zirkus in Memphis, Tennessee, seine Vorstellung vor elf Zuschauern hielt und ebenfalls bankrott machte.

Spurgeon mietete dort ein Zimmer und verbrachte den Herbst damit, zu überlegen, was er jetzt machen sollte. Zunächst lungerte er herum. Es war ein trockener Sommer gewesen, und er hatte viele Tage lang mit einer Mistgabel und einem Sack gefischt, eine Kunst, die ihm einmal ein Zirkusarbeiter aus Missouri beigebracht hatte. Er ging zu dem freiliegenden Bett des zurückgetretenen Flusses und brach die ausgetrocknete, zersprungene oberste Schlammschicht auf, bis er auf den üppig feuchten Untergrund stieß, wo sich die Katzenwelse wie fette schwarze Juwelen bis zu den Winterregen eingegraben hatte. Er erntete sie wie Kartoffeln und schleppte den Sack voller Welse heim, half seiner Hausfrau beim Abhäuten und Säubern, sie briet das süße weiße Fleisch, und die ganze Pension aß davon und sang Hosianna auf seine Fertigkeit mit Angel und Leine. Nachts im Bett las er in der Zeitung über Weiße, die früher Millionäre waren und jetzt aus den Fenstern der Wolkenkratzer sprangen, während er die Hand in die Tasche steckte und das Geld streichelte, wie ein Mann, der geistesabwesend seinen Geschlechtsteil berührt, und er überlegte, ob er in den Norden gehen sollte.

Die Tochter der Hausfrau namens Lena war eine Vagabundin, mit Augen wie weiße Tümpel in dem braunen Ge-sicht, entkräuseltem Haar und einem heißen Mund, der über Calvins Körper hinspielte, und eines Nachts lag er mit dem Mädchen im Zimmer und wollte sie auf der Matratze lieben, unter der das Geld verborgen war, aber ihr Liebesspiel wurde von einem Geräusch verdorben, das klang, als breche jemandem das Herz.

Als er das Mädchen fragte, wer denn hier weine, sagte sie ihm, es sei ihre Mutter.

Auf seine Frage nach dem Warum erzählte sie ihm, die Bank der Weißen, in der ihre Mutter ihr Begräbnisgeld aufbewahrt hatte, habe soeben Bankrott gemacht, und sie weine wegen des Begräbnisses, das sie nun nie haben würde.

Nachdem ihn das Mädchen verlassen hatte, dachte er an die alte Sarah und das Begräbnisgeld, das sie ihm seinerzeit mit einer Sicherheitsnadel an die Unterwäsche geheftet hatte. Er erinnerte sich an das dürftige Armengrab in Justin, Georgia.

Am nächsten Morgen streifte er in Memphis umher, wanderte nach dem Mittagessen aus der Stadt hinaus, an den Randbezirken vorbei, ins offene Land. Nach fünftägiger Suche entschied er sich für ein Grundstück von zwei Morgen, eine ausgelaugte Wiese, die sich zwischen eine Tannengruppe und ein ausgebranntes Flußufer drängte. Es kostete ihn sechs Einhundertdollarnoten, und seine Hände zitterten, als er das Geld auszahlte und die Urkunde entgegennahm, aber nichts hätte ihn abhalten können, denn er hatte sich alles genau überlegt und wußte, daß es das einzig Richtige für ihn war.

Weitere einundzwanzig Dollar und fünfzig Cent kostete ein schönes, großes schwarzweißes Schild mit der Aufschrift Shadowflower Cemetery, Friedhof Schattenblume. Der Name entstammte einem Vers des Buches Hiob, das

Sarahs Lieblingsbuch gewesen war: Er gehet auf wie eine Blume / und fället ab / fleucht / wie ein Schatten / und bleibet nicht.

Calvin traf seine Hausfrau in der Küche der Pension gerade beim Wäscheauskochen an, und ihre rotgeränderten Augen strömten im Dampf der Lauge über. Ein Krug mit Buttermilch stand auf dem Tisch, Calvin setzte sich nieder und trank drei volle Gläser, ohne etwas zu sagen. Dann legte er ein Fünfcentstück und ein Zehncentstück auf den Tisch, um die Erfrischung zu bezahlen, und begann zu reden. Er erzählte ihr von seinen Plänen für den Friedhof Schattenblume, von den schönen Grabstellen, größer als die irgendeines Weißen; von den Singvögeln in den Tannen und auch von den großen Katzenwelsen im Fluß, die, wie er irgendwie wußte, dort sein mußten, obwohl er sie nicht gesehen hatte.

»Es nützt nichts, Junge«, sagte sie. »Mein Begräbnisgeld ist weg.«

»Du mußt doch etwas Geld haben. Du hast Pensionsgäste.«

»Nicht wirklich Geld, das ich entbehren könnte. Nicht einmal fürs Begräbnis.«

»Nun, schau her.« Er berührte die Münzen, die er auf den Tisch gelegt hatte. »Du hast das hier.«

»Fünfzehn Cent? Du wirst mir eine Begräbnisstätte für fünfzehn Cent geben?«

»Hör zu«, sagte er. »Rück jede Woche mit fünfzehn Cent heraus, und die Grabstelle gehört dir, jetzt, sofort.«

»Mann«, sagte sie, »was ist, wenn ich in drei Wochen sterbe?«

»Das wäre ein böser Verlust.«

»Und was ist, wenn ich nie sterbe?«

Er lächelte. »Dann werden wir beide glücklich sein, Schwester. Aber du weißt, daß alle Menschen eines Tages sterben müssen. Stimmt's?«

»Das stimmt wirklich«, sagte sie.

Er verkaufte ihr zwei weitere Parzellen, je eine für ihre beiden Töchter. »Hast du Freundinnen, die ihr Begräbnisgeld genauso wie du verloren haben, als die Bank zusammenkrachte?«

»Aber sicher. Eine Grabstelle für fünfzehn Cent! Ich kann es kaum glauben.«

»Gib mir ihre Namen, ich werde sie besuchen«, sagte Calvin. Das war der Auftakt zur Lebensversicherungsgesellschaft American Eagle.

Spurgeon erinnerte sich an den Tag, an dem Mammi Calvin heimbrachte. Er saß im Zimmer und machte Hausaufgaben, als der Schlüssel in der versperrten Tür knirschte, und er wußte, das mußte Mammi sein. Er stand auf, um sie zu begrüßen, und als sich die Tür öffnete, war ein Mann bei ihr, nicht groß, mit beginnender Glatze und silbergefaßter Brille, spöttischen braunen Augen, die ihn geradewegs ansahen, ihn abschätzten, ihn beurteilten, und denen offensichtlich gefiel, was sie sahen, weil der Mann lächelte, Spurgeons Hand nahm und sie mit einem sicheren, trockenen Griff drückte.

»Ich bin Calvin Priest.«

»Der Präsident?«

»Was? Oh.« Er lachte. »Ja.« Er blickte sich langsam im Zimmer um, sah die Wasserflecken an der Decke, die düstere Tapete, die zerbrochenen Möbel.

»Hier können Sie nicht mehr wohnen«, sagte er zu ihr.

Ihre Stimme brach. »Mr. Priest«, flüsterte sie. »Sie haben eine falsche Vorstellung von mir. Ich bin nichts als ein einfaches, gewöhnliches farbiges Mädel. Ich bin nicht einmal eine wirkliche Sekretärin. Den größten Teil meines Lebens war ich Kellnerin.«

»Sie sind eine Dame«, sagte er. Wenn Roe-Ellen die Geschichte für den Rest ihres Lebens immer wieder erzählte, sagte sie stets, der genaue Wortlaut sei gewesen: »Sie sind meine Dame«, Don Quixote und Dulcinea.

Weder Spurgeon noch Calvin widersprachen ihr je.

In der folgenden Woche hatte Calvin beide in einer Wohnung in Riverdale untergebracht. Sie mußte ihm eine Menge über sie beide erzählt haben. Als sie hinkamen, stand in einem eisgefüllten Champagnerkübel eine Flasche Borden's Grade-A auf dem Speisezimmertisch neben einem Glas mit Gristede's Honig.

»Du meinst, wir haben's geschafft, Mammi? Ist es das?« fragte Spurgeon.

Roe-Ellen konnte ihm nicht antworten, aber Calvin rieb den wolligen Schädel. »Du hast den Fluß überquert, mein Sohn«, sagte er.

Eine Woche später heirateten sie und fuhren für einen Monat auf die Virgin Islands. Eine dicke, fröhliche Frau namens Bessie McCoy blieb bei Spurgeon. Sie löste den ganzen Tag Kreuzworträtsel, kochte feine Mahlzeiten und ließ ihn in Ruhe, außer einer gelegentlichen Frage nach ausgefallenen Wörtern, die er nie beantworten konnte.

Als die Jungvermählten zurückkehrten, widmete Calvin mehrere Wochen der Suche nach einer guten Privatschule für Spurgeon, und entschied sich schließlich für Horace Mann, eine sehr gute liberale Vorschule, die nicht weit von dem Apartmenthaus in Riverdale lag, und nach den

Aufnahmeprüfungen und -gesprächen wurde Spurgeon zu seiner ungeheuren Erleichterung angenommen.

Sein Verhältnis zu Calvin war gut, nur einmal fragte er seinen Stiefvater, warum er nicht mehr für andere Leute seiner eigenen Rasse tue.

»Spurgeon, was kann ich tun? Wenn ich mein ganzes Geld nähme und es nur in einem einzigen Wohnblock Harlems unter allen Brüdern aufteilte, gäbe es dort nicht einen, der nicht früher oder später alles verschleudert hätte. Du mußt dir klar werden, daß alle Menschen gleich sind. Denke daran, Junge, ganz gleich, wie immer ihre Farbe sein mag, man kann sie nur einteilen in solche, die stinkfaul, und in solche, die zu arbeiten bereit sind.«

»Das kann doch nicht dein Ernst sein«, sagte Spur angewidert.

»Doch. Kein Mensch kann ihnen helfen, wenn sie nicht ihre eingefleischten Gewohnheiten ablegen und sich selbst helfen.«

»Wie können sie sich ohne Bildung oder genügend Chancen selbst helfen?«

»Ich habe es gekonnt, oder?«

»Ja, du. Du bist einer unter einer Million. Für uns andere bist du eine Ausnahme, eine Laune der Natur. Ist dir das nicht klar?«

In seiner jungen Unbeholfenheit hatte er es sozusagen als Kompliment gemeint, aber die bittere Verzweiflung in seiner Stimme klang für den Mann wie Verachtung. Trotz ihrer gegenseitigen Bemühungen stand noch Monate später eine dünne Glaswand zwischen ihnen. In jenem Sommer - Spur war damals sechzehn - lief er davon, fuhr zur See und sagte sich, er versuche herauszufinden, was sein toter Seemannsvater gewesen war, aber in Wirklichkeit wollte er seine eigene Unabhängigkeit prüfen. Als er im

Herbst zurückkam, vermochten er und Calvin wieder von vorne anzufangen. Die alte Wärme war wieder da, und keiner von beiden wagte es je wieder, sie mit einem Streit über ihre Rasse zu gefährden. Schließlich erstarb der Grund zu Auflehnung in dem Jungen, und es gelang ihm schließlich, über die Einwohner von Bezirken wie der Amsterdam Avenue so zu denken, wie er über Weiße dachte.

Das waren eben »diese Leute«.

Schließlich verwirrte ihn das Zusammenleben mit Calvin völlig. In Riverdale, mit schwarzer Haut, aber weißen Lebensgewohnheiten, wußte er weder, was er war, noch was für eine Art Mensch zu werden man von ihm erwartete. Jetzt, als Arzt, wußte er, daß er Calvin Stolz auf seine Rasse schenkte (selbst die Justins aus Justin, Georgia, hatten nie einen Doktor in der Familie gehabt). Aber noch nach Jahren, nachdem er Riverdale verlassen hatte, dachte Spur sofort an das Apartmenthaus mit dem weißen Portier, wenn er den Godfrey-Cambridge-Standardwitz über die reichen Neger hörte: wenn man denen sagte, daß ein Nigger in der Nähe lauere, schrien sie auf, blickten verstört um sich und kreischten in wilder Angst: »Wo? Wo? Wo denn?!«

Das kleine Zimmer unter dem Krankenhausdach war unerträglich heiß und ebenso weit von der Amsterdam Avenue wie von der behaglichen Klimaanlage in Riverdale entfernt. Er stand auf und blickte aus dem Fenster; das sechste Stockwerk des Krankenhauses war zurückgesetzt. Direkt unter ihm sprang das Dach des fünften Stocks ungefähr drei Meter vor. Er überlegte einen Augenblick, nahm dann ein Kissen und eine Decke, ließ beides aus dem Fenster fallen und kletterte dann mit der Gitarre und dem Bierkarton über das Fensterbrett.

Eine leichte Salzbrise wehte vom Meer herüber, und mit einem Gefühl der Dankbarkeit lag er mit dem Kissen gegen die Wand gestützt auf dem Dach. Unter ihm flimmerten die phantastischen Lichter der Stadt, drüben rechts begann das weite Rund der endlosen Finsternis, der Atlantische Ozean, und in der Ferne flackerte gleichmäßig wie ein Zwinkern ein gelbes Licht, ein Leuchtturm.

Durch das offene Fenster hörte er im Zimmer nebenan Adam Silverstone die Tür aufsperren, hereinkommen und dann wieder hinausgehen. Man hörte das Geräusch einer fallenden Münze im Einwurfschlitz des Wandtelephons auf dem Gang, und dann fragte Silverstone jemanden, ob er Gabrielle sprechen könne.

Ich bin kein Horcher, dachte Spurgeon; was zum Teufel soll ich denn tun - vom Dach springen?

»Hallo, Gaby? Adam. Adam Silverstone. Erinnern Sie sich - aus Atlanta ...?«

Er lachte. »Ich sagte Ihnen doch, daß ich herkommen würde. Ich habe eine Stellung als Facharztanwärter im County Hospital ... Oh? Ich bin sehr schreibfaul. Wirklich, ich schreibe niemandem ... Ich auch. Es war wunderbar. Ich habe viel an Sie gedacht.«

Seine Stimme klang sehr jung, dachte Spurgeon, und ohne jene Sicherheit, die er als Arzt zur Schau stellte. Spur-geon sog an der Bierdose und dachte an das Leben, das dieser Weiße wohl gehabt haben mußte. Jude, dachte er, es ist ein jüdischer Name. Wahrscheinlich in ihn vernarrte Eltern, neues Fahrrad, Tanzschule, Tempel, Haus im Kolonialstil. Adam, bleib in deinem Zimmer, das ist ein häßliches Wort, bring sie mit heim, Lieber, stell sie uns vor.

»Schauen Sie, ich möchte Sie gern wiedersehen. Wie wär's mit morgen abend? ... Oh«, sagte er niedergeschlagen, und Spurgeon grinste mitfühlend in der Dunkelheit.

»Nein, dann bin ich wieder auf der Station, sechsunddreißig Stunden Dienst, sechsunddreißig Stunden frei. Und die nächsten Male, wenn ich dienstfrei bin, muß ich ein bißchen Nachtarbeit nebenbei machen, um etwas Geld zu erbeuten . Nun, schließlich wird es mir doch gelingen, Sie zu sehen«, sagte er. »Ich bin ein geduldiger Mensch. Ich rufe Sie nächste Woche an. Bleiben Sie brav.«

Der Hörer wurde aufgelegt und die Schritte kamen langsam ins Zimmer zurück.

Dem Weißen hängt der Arsch nach. Oberarzt hin oder her, seine erste Schicht in diesem Haus war wahrscheinlich genauso schwer wie die meine, dachte Spurgeon.

»Hei«, sagte er laut. Er mußte es zweimal sagen, bis Sil-verstone aus dem Fenster schaute.

Adam sah Robinson in der kurzen Unterhose im Türkensitz wie einen schwarzen Buddha auf dem Dach hocken und grinste.

»Kommen Sie doch heraus. Bier.«

Adam kam, und Spurgeon reichte ihm eine Dose. Er hockte sich nieder, trank, seufzte und schloß die Augen.

»Das war wirklich eine Art Einweihungsfest für uns«, sagte Spurgeon.

»Amen. Jesus. Es wird Tage dauern, bis wir wissen, wo zum Teufel alles ist. Sie hätten uns zumindest einmal herumführen können.«

»Ich habe einmal irgendwo gehört, daß in der ersten Juliwoche, wenn die neuen Spitalsärzte und Facharztanwärter ankommen, mehr Leute als sonst in den Krankenhäusern sterben.«

»Würde mich verdammt nicht überraschen«, sagte Adam. Er trank wieder und schüttelte den Kopf. »Diese Miss Fultz.«

»Dieser Silverstone.«

»Wie ist der Oberarzt?« sagte Silverstone ausdruckslos.

»Manchmal mag ich ihn, manchmal nicht.«

Sie merkten plötzlich, daß sie lachten.

»Ich mag Ihre Art, mit den Patienten umzugehen«, sagte Spurgeon.

»Sie sehen sich ziemlich gut vor.«

»Ich sehe mich schon seit geraumer Weile gut vor«, sagte Silverstone.

»Stratton läßt uns sein Arteriogramm machen. Keine Schwierigkeiten mehr.«

»Diese Farbige, die Gertrude Soames, hat heute nachmittag das Krankenhaus auf eigene Gefahr verlassen«, sagte Adam. »Reinster Selbstmord.«

Vielleicht gibt es nichts, wofür sie leben sollte, mein Junge, sagte Spurgeon stumm. Es waren noch zwei Dosen Bier da. Er reichte Adam eine und behielt die letzte für sich. »Etwas warm«, entschuldigte er sich.

»Gutes Bier. Das letzte Bier, das ich trank, war Bax.«

»Nie gehört.«

»Seifenschaum und Pferdepiss. Tief unten im Süden.«

»Sie sprechen nicht wie ein Südstaatler.«

»Aus Pennsylvanien. Pitt, Jefferson Medical School. Sie?«

»New Yorker. N. Y.-Uni, die ganze Zeit. Wo haben Sie Ihre Spitalspraxis gemacht?«

»Am Allgemeinen in Philadelphia. Den ersten Teil meiner Ausbildung zum Facharzt absolvierte ich in der Chirurgischen Klinik von Atlanta.«

»Hostvogels Klinik?« sagte Spurgeon, wider Willen beeindruckt.

»Haben Sie viel von dem großen Alten gesehen?«

»Ich war Hostvogel als Facharztanwärter zugeteilt.«

Spurgeon pfiff lautlos. »Was hat Sie hergeführt? Das Nierentransplantationsprogramm?«

»Nein. Ich gehe in die allgemeine Chirurgie. Das Transplantationszeug ist nur der Zuckerguß auf dem Kuchen.« Er lächelte. »Hostvogel zugeteilt zu sein war nicht so gut, wie es klingt. Der große Mann operiert leidenschaftlich gern. Hausärzte bekommen dort unten kaum ein Messer in die Hand.«

»Allmächtiger.«

»Oh, er tut es nicht aus Bosheit. Aber wenn es etwas zu schneiden gibt, kann er es einfach nicht hergeben. Vielleicht bleibt er gerade deshalb ein großer Chirurg.«

»Ist er wirklich groß? So gut, wie man es von ihm behauptet?«

»Er ist wirklich groß«, sagte Silverstone. »Er ist so großartig, daß er noch einen Puls spürt, den sonst niemand auf der Welt finden kann, weil einfach keiner vorhanden ist. Und die Statistiken wurden eigens für ihn erfunden. Ich erinnere mich an die Versammlung einer medizinischen Gesellschaft, bei der er verkündete, daß sich dank einer von ihm erfundenen chirurgischen Methode nur bei drei von tausend Prostatektomien Schwierigkeiten entwik-keln, und da stand so ein alter billiger Chirurg auf, der die Methode anwandte, und näselte: ,Tjaa, un' alle drei sind meine Patienten.'« Adam grinste. »Ein großer Ruf, ein lausiger Lehrer. Nachdem ich meine Zeit meist damit verbrachte, zuzusehen, sagte ich mir, zum Teufel damit, und kam her, um Chirurgie statt Tiraden zu lernen. Longwood kann sich mit Hostvogels Glanz nicht vergleichen, aber er ist ein phantastischer Lehrer.«

»Er hat mir bei der Exituskonferenz einen höllischen Schrecken eingejagt.«

»Nun, Gerüchten zufolge ist das kein Theater. Dieser chinesische Facharztanwärter - Lee? - erzählte mir, die Tradition in diesem Krankenhaus gehe Jahre zurück, als Longwoods Vorgänger, Paul Harrelmann, gegen Kurt Dorland um den Posten des Chefarztes kämpfte. Sie trugen ihre Rivalität im Komitee aus, forderten einander heraus, debattierten, stichelten, verlangten eine Rechtfertigung der jeweiligen Methode. Schließlich erhielt Harrelmann den Posten, Dorland ging und wurde - natürlich - in Chicago berühmt. Aber sie hatten gezeigt, daß durch das Todeskomitee der Stab veranlaßt wurde, auf chirurgischem Gebiet das Beste zu geben.« Silverstone schüttelte den Kopf. »Es sind keine zahmen Leute. Habe ich auch nicht erwartet.«

Spurgeon zuckte die Achseln. »Es ist nichts Einzigartiges. Selbst ohne jemand wie Longwood sind es nicht nur die Neuen, die während der Sitzung strammstehen müssen. Diese alten Berufshasen wissen recht gut, wie sie einander zur Sau machen können.« Er sah Silverstone neugierig an. »Es klingt, als wäre es Ihnen neu. Hielten Sie dort unten im Land der Pfirsichpfuscher und Lester Maddox' keine Exituskonferenzen ab?«

»O doch. Vielleicht macht man dort eine Pflichtautopsie zu Lehrzwecken. Ein Kerl namens Sam Mayes, Hostvogels Unterbefehlshaber, sitzt mit zwei, drei Ärzten herum, redet darüber, daß Jerry Winters' Sohn drüben in Florida in die Medical School aufgenommen wurde, vielleicht fluchen sie über die Kampftrupps der sozialisierten Medizin in Washington und machen eine Bemerkung über den wohlgeformten Hintern einer neuen Schwester. Dann gähnen sie, einer sagt: ,Zu schlimm für diesen armen Kerl, Tod natürlich unvermeidlich!', alle nicken, gehen heim und vögeln ihre Frauen.«

Sie schwiegen einen Augenblick. »Mir gefällt es besser so, wie es hier ist«, sagte Spurgeon schließlich. »Es ist zwar weniger bequem - ja, es jagt mir einen Heidenschrecken ein -, aber es läßt uns bestimmt nicht abstumpfen; vielleicht garantiert es uns, daß wir nicht zu dem werden, was die Öffentlichkeit allmählich von den Ärzten denkt.«

»Und das wäre?«

»Sie wissen doch - Cadillacfahrer. Feiste Burschen. Reiche Spießer.«

»Sch... auf die Öffentlichkeit.«

»Leichter gesagt als getan.«

»Was weiß die schon, was es heißt, sich einen Weg in die Medizin zu erzwingen? Ich bin sechsundzwanzig. Ich war sechsundzwanzig Jahre lang bettelarm. Ich persönlich freue mich auf den längsten, teuersten, luxusärschigsten Cadillac, der für Geld zu haben ist. Und auf viele andere Dinge, materielle Dinge, die ich mir mit dem Geld verschaffen werde, das ich als Chirurg verdiene.«

Spurgeon sah ihn an. »Teufel, wenn Sie diese Dinge haben wollen, brauchen Sie sich nicht mit einer langen Spezialausbildung herumquälen. Sie haben Ihre Spitalspraxis hinter sich. Sie können schon morgen hinausgehen und Ihr gutes Geld verdienen.«

Adam schüttelte lächelnd den Kopf. »Ah, da steckt der Irrtum. Gutes, aber nicht vieles. Was in dieser Welt wirklich viel Geld bedeutet, ist das Facharzt-Diplom des Medi-cal Board. Und um das zu erlangen, braucht es Zeit. Daher investiere ich diese Zeit. Für mich wird das kommende Jahr die ärgste Selbstfolterung sein, sozusagen die letzten angestrengten Augenblicke vor dem Orgasmus.«

Spurgeon mußte über das Bild grinsen. »Wenn Sie ein paarmal vor dieses Todeskomitee gestellt werden, können Sie ins Kloster gehen«, sagte er.

Sie tranken wieder, dann deutete Adam mit der Bierdose auf die Gitarre. »Sie spielen dieses Ding?«

Spur hob sie auf und klimperte einige Takte. »Oh, ich wollt', ich wär' im Baumwolland ...«

Adam grinste. »Verfluchter Lügner.« Einige Häuserblocks weiter heulte die Sirene eines Krankenwagens; der einsame, todverkündende Laut verstärkte sich, je näher er kam.

Als er verklungen war, kicherte Spurgeon. »Heute sprach ich mit einem Krankenwagenfahrer, einem netten bierbäuchigen Schwindler namens Meyerson, Morris Meyerson. ,Nennen Sie mich Maish', sagte er. Nun, jedenfalls, letzten Monat wurde er in den frühen Morgenstunden ausgeschickt, um einen Burschen in Dorchester zu holen. Anscheinend litt der Patient an Schlaflosigkeit, und eines Nachts konnte er nicht schlafen. Das Geräusch eines tropfenden Wasserhahns in der Küche machte ihn wahnsinnig.

Also kletterte er aus dem Bett und ging hinunter, um ihn zu reparieren.« Spur rülpste. »Verzeihung. Jetzt hören Sie zu. Der Mann gehört zu den Leuten, die nur in der Pyjamajacke schlafen. Keine Hose, verstehen Sie. Also er geht in den Keller, um seinen Franzosen oder so etwas zu holen. Und im Keller halten sie ihren großen, ordinären, alten Kater. Auf dem Rückweg in die Küche vergißt der Mann die Kellertür zu schließen und liegt auf allen vieren unter dem Abwaschbecken und dreht das Wasser ab - vergessen Sie nicht, unten herum nichts an -, als lieb Katerlein leise heraufgeschlichen und herein kommt, dieses gewisse seltsame Ding sieht und -«, die schwarze Hand hob sich, die Finger bogen sich zu Krallen, dann fuhr sie hinunter.

»Nun, natürlich fährt der Mann kerzengerade hoch und haut sich fürchterlich den Kopf an der Unterseite des Ab-waschbeckens an. Es ist nur eine leichte Gehirnerschütterung, und als Meyerson und sein Begleitarzt eintreffen, ist der Mann wieder bei Bewußtsein. Sie tragen ihn aus dem Haus, als Meyerson ihn fragt, wie es geschah, und als es ihm der Mann erzählt, muß Maish derart lachen, daß ihm die Krankentrage aus den Händen rutscht, der Mann fällt hinunter und bricht sich die Hüfte. Jetzt prozessiert er mit der Distriktverwaltung.«

Es war eher ihre Müdigkeit als die Geschichte selbst, die beide umwarf. Sie lachten, schüttelten sich, brüllten, die Tränen liefen ihnen über die Wangen, sie hätten sich in ihrer Torheit herumgewälzt, wären sie dem Dachrand nicht so nahe gewesen. Die plötzliche, unerwartete Erheiterung kam tief aus ihren Bäuchen herauf, und die durch die eben vergangenen sechsunddreißig Stunden angestaute Spannung entlud sich so heftig, wie eine eng zusammengedrückte Feder hochschnellt. Mit nassen Wangen strampelte Adam mit den Beinen, und sein Fuß traf eine leere Dose. Sie schlitterte auf der Teerpappe dahin und verschwand über den Dachrand.

Sie fiel.

Und fiel.

Und klatschte schließlich auf den Beton des Hofes.

Die beiden warteten schweigend und atmeten dann gleichzeitig auf. »Ich sehe lieber nach«, flüsterte Adam.

»Lassen Sie das mich tun. Angeborene Tarnung.« Spur-geon kroch nach vorn und schob den Kopf Zoll um Zoll über den Dachrand.

»Was sehen Sie?«

»Nichts als eine Blechdose«, sagte er. Er lag mit der Wange auf dem Dachrand. Die Ziegel waren noch immer warm von der Sonne des langen Tages. Ihn schwindelte vor Müdigkeit und Erheiterung und zuviel Bier. Mit mir und diesem Haus kann es vielleicht doch noch ganz gut werden, sagte er sich.

Später in der Nacht verlor er seinen Optimismus. Es war noch heißer, Wärmeblitze zuckten durch die Dunkelheit, aber es kam kein Regen. Spur lag nackt auf dem Bett und vermißte Manhattan. Als nebenan jedes Geräusch einer Bewegung erstarb und er sicher war, daß Silverstone schlief, nahm er die Gitarre und spielte leise im Dunkel, zuerst herumklimpernd, dann jedoch ernsthaft improvisierend, eine fortlaufende namenlose Melodie, eine, die er noch nie gehört hatte, aber die für ihn sprach und erzählte, was er fühlte, eine Mischung aus Einsamkeit und Hoffnung. Erst nach zehn Minuten hörte er zu spielen auf.

»He«, sagte Silverstone. »Wie heißt das?«

Spur antwortete nicht.

»He, Robinson!« rief Silverstone. »Mensch, das war großartig. Spielen Sie das noch einmal, ja?«

Spur lag still. Er hätte es nicht wieder spielen können, selbst wenn er gewollt hätte. Dieses Haus, dachte er, keine Abgeschlossenheit, aber eine schöne Akustik. Die Blitze flammten und riefen hie und da ein murmelndes Donnern herauf. Noch zweimal heulte der Krankenwagen. Ein phantastischer Klang für ein Musikstück, dachte er. Man müßte Hörner verwenden.

Schließlich aber verwandelte er den Klang in Schlaf, ohne erkannt zu haben, daß das möglich war.

3

HARLAND LONGWOOD

Als die Rechtsanwälte Harland Longwoods in den ersten Augusttagen die Bedingungen für den Treuhandfonds aufgesetzt hatten, rief er Gilbert Greene an, den Vorsitzenden des Verwaltungsrates des Krankenhauses, und bat ihn, in sein Büro zu kommen, um die Klauseln seines Testaments mit ihm durchzugehen, in dem er Greene zum Testamentsvollstrecker bestimmt hatte.

Er hatte das Gefühl, daß das Dokument gut abgefaßt war. Der Ertrag aus Wertpapieren würde einen neuen Lehrstuhl für Kender an der medizinischen Schule dotieren. Longwoods Gehalt als Chefchirurg war seinen unmittelbaren Bedürfnissen mehr als angemessen, aber er hatte die angeborene Abneigung des gebürtigen New Englanders, Kapital anzugreifen.

Der größte Teil seines Vermögens würde der Stiftung erst nach seinem Tod zufließen, wenn man einen Beratungsausschuß der Fakultät zwecks Verwendung des Einkommens zum Nutzen der Medical School einsetzen würde.

»Ich hoffe, daß sich dieser Ausschuß noch lange nicht konstituieren muß«, sagte Greene, als er die Dokumente gelesen hatte.

Diese Bemerkung kam einem gefühlsbetonten Ausspruch so nahe, wie Longwood ihn von dem Bankier nur selten gehört hatte.

»Danke, Gilbert«, sagte er. »Darf ich dir einen Drink anbieten?«

»Etwas Brandy.«

Dr. Longwood öffnete das tragbare Schnapskästchen hinter seinem Schreibtisch und schenkte aus einer alten blauen Flaschen ein. Nur ein Glas, keines für sich selbst.

Er hatte den kleinen Barschrank aus wunderschönem dunklem Mahagoni und altem Silber besonders gern. Erstanden hatte er ihn eines Nachmittags bei einer Antiquitätenaktion in der Newbury Street, erst zwei Stunden nachdem er der Berufung Bester Kenders in den Krankenhausstab zugestimmt hatte. Kender hatte sich mit seinen Neuerungen bereits einen Namen als Transplantationschirurg in Cleveland gemacht, und an jenem Nachmittag war sich Harland Longwood neuerlich bewußt geworden, wie dringend jüngere und klügere Männer in seiner Welt nötig waren. Er bezahlte mehr, als das kleine antike Schränkchen wert war, teils, weil er wußte, daß es Frances gefallen hätte, teils, weil er sich in schwarzem Humor sagte, daß er, wenn ihn die jungen Feuerköpfe in einen stillen Winkel verwiesen, die Flaschen mit seinem Lieblingsgetränk füllen und die langen Nachmittage betäuben konnte.

Jetzt, zehn Jahre später, war er noch immer Chefchirurg, dachte er nicht ohne Genugtuung. Kender hatte weitere junge Genies in den Stab gelockt, aber jedes von ihnen war nur auf seinem engen Spezialgebiet eine Leuchte. Es bedurfte noch immer eines alten, ergrauten Allgemeinen Chirurgen, der alle Bruchstücke zusammenfügte und das Haus als eine echte chirurgische Station leitete.

Greene schnupperte am Glas, schlürfte, drückte den Brandy gegen den Gaumen und schluckte ihn dann bedächtig. »Ein großzügiges Geschenk, Harland.«

Longwood zuckte die Achseln. Sie fühlten sich beide dem Krankenhaus und der Medical School gleichermaßen verpflichtet. Obwohl Greene selbst kein Mediziner war, war doch sein Vater Chefarzt gewesen, und er war fast automatisch in den Verwaltungsrat ernannt worden, sowie er sich hochgearbeitet und seine Stellung in der Bankwelt ihn zu einem Gewinn für das Krankenhaus gemacht hatte. Longwood wußte, daß Gilberts Testament Klauseln enthielt, die dem Krankenhaus sogar noch mehr bringen würden als seine eigenen.

»Bist du sicher, daß deine Treue zu diesem Haus dich nicht dazu veranlaßt hat, die übrigen Nutznießer zu vernachlässigen?« fragte Greene. »Ich sehe, daß die einzigen anderen Legate zu je zehntausend Dollar an Mrs. Marjorie Snyder in Newton Center und an Mrs. Rafael Meomartino in der Back Bay gehen.«

»Mrs. Snyder ist eine alte Freundin«, sagte Dr. Longwood.

Greene, der Harland Longwood sein ganzes Leben lang kannte und auch alle seine alten Freunde zu kennen glaubte, nickte ohne Überraschung. Er war an überraschende Testamente gewöhnt.

»Sie hat ein behagliches Jahreseinkommen, braucht meine finanzielle Unterstützung nicht und wünscht sie auch nicht. Mrs. Meomartino ist meine Nichte Elizabeth, die Tochter von Florence«, fügte er hinzu und erinnerte sich, daß Gilbert einmal ein wenig verliebt in Florence gewesen war.

»Mit wem ist sie verheiratet?«

»Mit unserem Fellow der Chirurgie. Er ist recht gut situ-iert. Familienvermögen.«

»Ich muß ihn schon einmal kennengelernt haben«, sagte Greene zögernd. Longwood hatte bemerkt, daß Gilbert nicht zugeben konnte, das er die jüngeren Leute des Krankenhauses nicht mehr so genau kannte, als wäre es noch immer eine kleine, eng miteinander verbundene Gemeinschaft.

»Sonst gibt es niemanden«, sagte Dr. Longwood. »Das ist der Grund, warum ich den Lehrstuhl für Kender ohne Aufschub stiften wollte. Dieser Lehrstuhl ist längst überfällig.«

»Der Harland-Mason-Longwood-Lehrstuhl für Chirurgie«, sagte Greene und genoß den Titel wie den Brandy.

»Der Frances-Sears-Longwood-Lehrstuhl«, sagte Dr. Longwood.

Greene nickte. »Das ist sehr nett. Es hätte Frances gefallen.«

»Da bin ich nicht so sicher. Ich glaube eher, es hätte sie in Verlegenheit gebracht«, sagte er. »Ich will, daß ihr versteht, daß es nicht das Budget der Abteilung schmälert, Gilbert. Das wäre durchaus nicht der Zweck des Geschenks. Ich will etwas von den Geldern, die dadurch freiwerden, nutzbar machen.«

»Wie?« sagte Greene vorsichtig.

»Einmal um eine neue chirurgische Dozentenstelle zu finanzieren. Wir haben unseren eigenen Leuten an der Fakultät zu keiner Weiterentwicklung verholfen. Ich glaube, wir sollten wirklich damit beginnen, und zwar verdammt bald.«

Greene nickte nachdenklich. »Das klingt vernünftig. Hast du einen bestimmten Kandidaten im Auge?«

»Eigentlich nicht. Meomartino vielleicht, aber ich weiß noch nicht, ob er daran interessiert ist. Und ein junger Bursche namens Silverstone, der erst vor kurzem zu uns gekommen ist und äußerst fähig zu sein scheint. Wir müs-sen uns nicht unbedingt schon jetzt entscheiden. Das ist Sache der Abteilung. Wir können die Augen offen halten und uns durch den Ernennungsausschuß den Besten, der verfügbar ist, rechtzeitig im Juli sichern.«

Greene erhob sich, um zu gehen. »Wie geht es dir wirklich, Harland?« fragte er, als sie einander die Hand reichten.

»Fein. Ich verständige dich, wenn es sich ändert«, sagte er; er wußte, daß Greene regelmäßig Berichte über seinen Gesundheitszustand erhielt.

Der Vorsitzende des Verwaltungsrates nickte. Er zögerte. »Ich dachte erst unlängst an jene Samstagnachmittage, die wir immer draußen im Bauernhof verbrachten«, sagte er. »Es waren gute Zeiten, Harland. Wirklich herrlich.«

»Ja«, sagte Dr. Longwood erstaunt. Ich muß viel schlechter aussehen, als ich gedacht habe, wenn sich Gilbert so viel Gefühl abringt.

Als Greene gegangen war, ließ er sich wieder in seinen Sessel fallen und dachte an die Sommernachmittage, an denen er als junger Konsiliarchirurg Nachmittagsvisiten machte und dann drei Wagenladungen Leute - Hausärzte, Angehörige des Stabs, gelegentlich einen Treuhänder - zu dem Bauernhof in Weston brachte, wo sie auf einem holprigen Wiesenabhang übermütig Ball spielten, bis es Zeit für das samstägliche Abendessen war - Würstchen, gebackene Bohnen und Schwarzbrot -, das Frances zubereitet hatte.

Es war nach einem dieser schönen Samstagnachmittage, als sie krank geworden war. Er hatte sofort gewußt, daß es der Blinddarm war, und daß noch viel Zeit blieb, um sie in sein eigenes Krankenhaus zu bringen.

»Wirst du ihn selbst herausnehmen?« hatte sie gefragt, trotz der Schmerzen und der Übelkeit lächelnd, weil es so verdammt komisch war, eine seiner Patientinnen zu sein.

Er schüttelte den Kopf. »Harrelmann. Ich werde dabei sein, Liebling.« Er wollte sie nie selbst operieren. Nicht einmal einen Blinddarm.

Im Krankenhaus hatte er sie zwecks Vorbereitung dem jungen Puertorikaner, dem Spitalsarzt Samirez, übergeben.

»Meine Frau ist gegen Penicillin allergisch«, hatte er gesagt, für den Fall, daß sie vergaß, es zu erwähnen.

Er hatte es noch zweimal wiederholt, bevor er sie geküßt hatte und davongeeilt war, Harrelmann zu suchen. Später hatten sie entdeckt, daß der Junge fast kein Englisch konnte. Er hatte keine Krankengeschichte von Frances aufgenommen, weil er weder Fragen stellen noch Antworten verstehen konnte. Das einzige Wort, das klar zu ihm durchgedrungen war, war offensichtlich »Penicillin«, und pflichtgetreu hatte er ihr 400000 Einheiten intramuskulär gegeben. Noch bevor Harland Dr. Harrelmann auch nur gefunden hatte, hatte Frances einen anaphylaktischen Schock erlitten und war tot.

Obwohl seine Freunde versucht hatten, ihn von der Exituskonferenz fernzuhalten, hatte er ihr beigewohnt und auf der Anwesenheit eines Dolmetschers bestanden, damit Dr. Samirez jedes Wort verstehen konnte. Unter Harrelmanns aufmerksamen, analysierenden Augen hatte er den Jungen rücksichtsvoll und mit großer Selbstbeherrschung behandelt. Aber er war unbarmherzig gründlich gewesen. Einen Monat nach dem Schuldspruch des Komitees, nachdem Dr. Samirez seine Spitalspraxis aufgegeben hatte und in seine Inselheimat zurückgekehrt war, hatte Dr. Harrelmann Harland zum Mittagessen eingeladen und ihn überredet, nach seiner eigenen Pensionierung die Leitung der Abteilung zu übernehmen.

Longwood hatte seine Privatpraxis aufgeben müssen, hatte es jedoch nie bedauert. Er brach, soweit er konnte, mit seinen bisherigen Lebensgewohnheiten. Im folgenden Herbst verkaufte er die Farm, wobei er einen Profit von 5000 Dollar von einem Buchhalter namens Rosenfeld ausschlug, um sie einem Rechtsanwalt aus Framingham, Ban-croft, zu verkaufen. Rosenfeld und seine Frau schienen nette Leute zu sein, und er erzählte keinem seiner Freunde je von ihrem Angebot. Er wußte, daß Frances wütend darüber gewesen wäre, und dennoch war ihm der Gedanke unerträglich, daß das Bauernhaus, das sie geliebt hatte, nun Leuten gehört hätte, die so ganz anders waren als sie.

Er schüttelte den Kopf und stellte die Brandyflasche nach kurzem Kampf zurück.

Er war nie ein großer Trinker gewesen, aber in letzter Zeit hatte er eine leichte genüßliche Neigung für Brandy entwickelt, genährt durch die vernünftige Überlegung, daß der Alkoholgehalt von Brandy fast völlig metabolisiert wird und daher als eine Art Verordnung ad usum proprium betrachtet werden konnte.

Als die ersten Symptome auftauchten, hatte er den Verdacht auf eine Prostatavergrößerung. Er war einundsechzig, gerade in dem Alter, in dem das wahrscheinlich wurde.

Die Aussicht, sich einer Prostatektomie unterziehen zu müssen, war ärgerlich; es bedeutete, daß er Urlaub nehmen mußte, und er begann eben mit einem Projekt, das er jahrelang mit sich herumgeschleppt hatte, einem neuen Lehrbuch über Allgemeine Chirurgie.

Aber es war nicht die Prostata.

»Haben Sie in letzter Zeit Halsschmerzen gehabt?« hatte ihn Arthur Williamson gefragt, als er den Internisten endlich aufgefordert hatte, ihn zu untersuchen. Es war genau die Frage, die er erwartet hatte, und sie ärgerte ihn.

»Ja. Nur einen Tag. Vor ungefähr zwei Wochen.«

»Haben Sie eine Bakterienkultur anlegen lassen?«

»Nein.«

»Haben Sie ein Antibiotikum genommen?«

»Es waren keine Streptokokken.«

Williamson hatte ihn angestarrt. »Wieso wissen Sie das?«

Aber sie vermuteten beide, daß es doch Streptokokken gewesen waren, und irgendwie wußte er mit einer seltsam resignierten Gewißheit, noch bevor die Tests durchgeführt waren, daß die Infektion seine Nieren beschädigt hatte. Williamson überwies ihn sofort an Kender.

Sie hatten ein arteriovenöses Verbindungsstück in eine Vene und eine Arterie seines Beins eingeführt.

Von Anfang an war er ein sehr schlechter Patient, der sich gefühlsmäßig im selben Augenblick gegen die Nierenmaschine wehrte, in dem er an sie angeschlossen wurde.

Der Apparat war laut und unpersönlich, und während des Blutwäschevorgangs, der vierzehn Stunden dauerte, lag Longwood unruhig auf dem Bett, litt an heftigen Kopfschmerzen und versuchte vergeblich, mit den Karteiblättern zu arbeiten, auf denen er das Material für das erste Kapitel des Buchs gesammelt hatte.

»Oft sprechen die Nieren sofort an und beginnen nach einigen Behandlungen mit der Maschine wieder zu funktionieren«, sagte Kender aufmunternd.

Aber er machte das obszöne Ritual mit der verdammten Maschine einen Monat lang zweimal wöchentlich durch, und es stellte sich heraus, daß seine Nieren nicht reagierten, und ihn nur der Apparat am Leben halten würde.

Sie gaben ihm feste Behandlungszeiten, jeden Montag und Donnerstag abend um 8 Uhr 30.

Er sagte alle Operationstermine ab und spielte mit dem Gedanken, ganz abzutreten, entschied dann jedoch - wie er hoffte - leidenschaftslos, daß er als Verwalter und Lehrer zu wertvoll war. Er machte weiterhin täglich Visiten.

Am Donnerstag, der siebenten Woche an der Maschine, ging er jedoch, aus einem plötzlichen Entschluß heraus, einfach nicht ins Nierenlabor. Er hinterließ die Nachricht, sie sollten an seiner Stelle einen anderen Patienten an die Maschine anschließen.

Vielleicht würde Kender versuchen, ihn zu überreden, an die Maschine zurückzukehren, aber der Nierenspezialist unternahm am nächsten Tag nichts, um ihn zu sprechen.

Zwei Abende später bemerkte er, daß seine Knöchel infolge eines Ödems angeschwollen waren. Er lag den größten Teil der Nacht wach, rief morgens zum erstenmal seit Jahren seine Sekretärin an und sagte ihr, daß er heute nicht kommen würde.

Einige Kapseln erlaubten es ihm, bis zwei Uhr zu schlafen. Er erwachte nervös und gereizt, machte sich etwas Suppe aus der Dose, die er nicht wirklich wollte, nahm dann noch eineinhalb Tabletten und schlief wieder bis fünf Uhr dreißig.

Da er nichts besseres zu tun hatte, duschte er, rasierte sich und zog sich an. Dann saß er in dem dunkel werdenden Wohnzimmer, ohne Licht zu machen. Nach einer Weile ging er zum Vorzimmerschrank und nahm eine Flasche Chateau Mouton-Rothschild Jahrgang 1955 heraus, die ihm vor drei Jahren ein dankbarer Patient mit dem Rat geschenkt hatte, sie für eine besondere Gelegenheit aufzubewahren. Er öffnete sie mühelos und schenkte sich ein Glas ein, dann ging er in das Wohnzimmer zurück, saß in der Dämmerung und schlürfte den warmen dunklen Wein.

Er überlegte scharf.

So weiterzumachen hatte einfach keinen Sinn. Es war nicht so sehr der Schmerz, als die Würdelosigkeit dieser Krankheit, was ihn entmutigte.

Die Schlaftabletten waren wirklich schwach, man würde sehr viele nehmen müssen, aber in der kleinen Flasche waren mehr als genug.

Er versuchte sich Situationen vorzustellen, in denen man ihn vielleicht gebrauchen würde.

Liz hatte Meomartino und ihren kleinen Jungen, und weiß Gott, ihr bei irgendeinem ihrer Probleme zu helfen, war ihm nicht gelungen.

Marge Snyder würde ihn vermissen, aber sie hatten einander schon seit Jahren sehr wenig gegeben. Sie hatte ihren Mann knapp vor Frances' Tod verloren, und sie hatten in der Zeit der gemeinsamen Not ein Verhältnis gehabt, aber das war schon sehr lange her. Sie würde ihn nur als alten Freund vermissen, und in ihrem geordneten Leben würde er keine Lücke hinterlassen.

Eher vielleicht im Krankenhaus, aber obwohl Kender lieber Spezialist für Transplantationen bleiben würde, würde er die Verantwortungen des Chefchirurgen als eine Verpflichtung auffassen, und Longwood wußte, daß er die Rolle sehr gut, zweifellos sogar glänzend spielen würde.

Somit blieb nur das Buch.

Er ging in sein Arbeitszimmer und blickte auf die zwei schäbigen Karteikästen mit den vier Laden voll Krankengeschichten und auf die Stapel von Verweiskarten auf dem Schreibtisch.

Würde es wirklich der große Beitrag werden, den er sich vorstellte?

Oder war es letzten Endes doch nur ein letztes Aufbäumen einer einst lebensnotwendigen Eitelkeit, die nur da-nach strebte, Medizinstudenten die Möglichkeit zu geben, statt im Mosely oder Bradstedt im »Longwood« nachzuschlagen?

Er nahm die Flasche mit den Schlaftabletten und steckte sie in die Tasche.

Trotzig trank er ein zweites Glas Wein und verließ die Wohnung. Er nahm den Wagen, fuhr durch die umwölkte frühe Dunkelheit zum Harvard Square und überlegte, ob er vielleicht in ein Kino gehen sollte, aber man spielte einen alten Bogart-Film, und so fuhr er über den Platz weiter, den Frances sicher nicht mehr erkennen würde, nichts als Barfüßige und Bärtige und entblößte Schenkel.

Er fuhr rund um den Yard und parkte unweit der Appleton-Kapelle, ohne zu wissen, warum er ausstieg und eintrat, denn sie war still und verlassen; wie es auch die Religion immer für ihn gewesen war.

Bald darauf erklangen Schritte. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Longwood wußte nicht, ob der höfliche junge Mann ein Kaplan war, aber er sah, daß er kaum älter als ein Spitalsarzt war.

»Ich glaube nicht«, sagte er.

Er ging wieder hinaus und stieg in den Wagen. Diesmal wußte er, wohin er fuhr. Er fuhr nach Weston, und als er das Bauernhaus erreichte, parkte er den Wagen so, daß er die Wiese überblicken konnte, auf der sie Ball gespielt hatten.

In der Dunkelheit vermochte er nicht viel zu erkennen, aber sie schien unverändert geblieben zu sein. In einiger Entfernung vom Wagen stand noch immer eine große, alte silbergraue Birke; er war froh, daß sie noch am Leben war.

Fast ungläubig spürte er einen einst vertrauten Druck in seiner Blase stärker werden.

Vielleicht war es der Wein, dachte er in steigender Erregung.

Er stieg aus, ging zu einer Stelle zwischen dem Auto und dem großen Baum. Vor der alten Steinmauer öffnete er den Zippverschluß, holte sein Glied heraus und konzentrierte sich.

Es dauerte sehr lang, bis zwei Tropfen herausdrangen und müde, wie von einem abgedrehten Wasserhahn, hinunterfielen.

Scheinwerfer tauchten auf und näherten sich. Er stopfte sein Glied in die Hose zurück wie ein kleiner Junge, der von einer sich öffnenden Tür überrascht wird. Der Wagen brauste vorbei, und er stand zitternd da, ein Idiot, ein Idiot, dachte er wütend, der versuchte, in der Dunkelheit auf ein Beet Maiglöckchen zu pissen, die er hier vor einem Vierteljahrhundert gepflanzt hatte.

Ein Regentropfen küßte ihn kalt auf die Stirn. Er fragte sich, ob das Todeskomitee, wenn die Zeit kam, entscheiden würde, daß das Versagen Harland Longwoods vermeidbar oder unvermeidlich gewesen war.

Falls er durch irgendeinen Wiedergeburtstrick jener Konferenz Vorsitzen sollte, würde er die Verantwortung unzweideutig Dr. Longwood zuschreiben, dachte er.

Für so viele falsche Entscheidungen. Erschüttert sah er es ganz deutlich:

Die Krankengeschichte begann mit dem ersten Augenblick des verantwortungsbewußten Daseins.

Und früher oder später - zuerst nur im Schneckentempo, dann aber mit verblüffender Schnelligkeit - kam für jeden Menschen der Augenblick, daß die Krankengeschichte ab-geschlossen werden mußte. Und er stand vor der Summe seiner eigenen unvollkommenen Leistung.

Und so anfechtbar, so schrecklich anfechtbar.

Meine Herren, überlegen wir uns den Fall Longwood.

Vermeidbar oder unvermeidlich?

Als er wieder in den Wagen stieg, regnete es bereits so stark, als hätte sein Körper das Wasser vom Himmel heruntergezogen.

Als er den Wagen wendete, beleuchteten die Scheinwerfer das Schild am Ende der Auffahrt, und er sah, daß die Ban-crofts den Besitz an Leute namens Feldstein verkauft hatten.

Er hoffte, daß die Feldsteins ebenso nett wie die Rosenfelds waren.

Plötzlich begann er zu lachen, bis es ihn schüttelte und er den Wagen wieder am Straßenrand abstellen mußte.

Oh, Frances, sagte er zu ihr, wie konnte ich, ohne es zu merken, zu diesem dummen, schlechtfunktionierenden alten Mann geworden sein?

In der Erinnerung fühlte er sich innerlich noch immer als der selbe junge Mann, der nackt vor ihr gekniet war, als sie einander zum erstenmal geliebt hatten.

Und nachdem er sein ganzes Leben lang ein solches Heiligtum angebetet hatte, konnte er nicht plötzlich an einen rettenden Gott zu glauben beginnen, einfach weil er es jetzt nötig hatte, gerettet zu werden.

Und er konnte aber auch nicht - wurde ihm plötzlich erschreckend klar -, nachdem er sein ganzes Leben lang den Tod bekämpft hatte, sich jetzt selbst zum Tod verhelfen.

Als er das Krankenhaus erreichte, fand er Kender noch immer im Nierenlabor, wo er mit dem jungen Silverstone Röntgenaufnahmen durchsah.

»Ich möchte an die Maschine zurück«, sagte er.

Kender studierte einen Film, den er hochhielt. »Sie sind alle für den Rest des Abends besetzt«, sagte er. »Ich kann Sie erst morgen anschließen.«

»Wann?«

»Oh, sagen wir, zehn Uhr. Wenn Sie mit der Maschine fertig sind, will ich, daß Sie eine Bluttransfusion bekommen.«

Es war eine Feststellung, keine Bitte; Kender sprach zu einem Patienten, erkannte Longwood.

»Wir glauben nicht, daß die Maschine auf die Dauer die Lösung für Sie ist«, sagte Kender. »Wir werden versuchen, Ihnen eine Niere zu verschaffen.«

»Ich weiß, wie schwer es ist, Nierenempfänger zu wählen«, sagte Dr. Longwood steif. »Ich will keine Begünstigungen.«

Dr. Kender lächelte. »Sie erhalten keine. Ihr Fall wurde auf Grund seines Interesses für Lehrzwecke durch das Transplantationskomitee ausgewählt, aber Sie haben eine seltene Blutgruppe, und natürlich kann es sehr lange dauern, bis wir einen Spender finden. Bis dahin werden Sie zuverlässig zweimal wöchentlich zur Behandlung mit der Maschine hier erscheinen.«

Dr. Longwood nickte. »Gute Nacht«, sagte er.

Draußen vor dem Laboratorium war dank den geschlossenen Türen das Geräusch der Maschine nicht zu hören, und es war still. Er hatte schon fast den Lift erreicht, als er die Tür öffnen und schließen und das Geräusch eiliger Schritte hörte.

Als er sich umdrehte, sah er, daß es Silverstone war.

»Sie haben das hier auf Dr. Kenders Tisch liegengelassen«, sagte Adam und hielt ihm die Phiole mit den Schlaftabletten hin.

Longwood suchte in den Augen des Jüngeren nach Mitleid, fand aber nur wachsames Interesse. Gut, dachte er, der da könnte vielleicht einen Chirurgen abgeben.

»Danke«, sagte er, als er die Flasche entgegennahm. »Ich werde vergeßlich.«

4

ADAM SILVERSTONE

Die Sechsunddreißig-Stunden-Schichten ließen die Tage und Nächte seltsam ineinanderfließen, so daß Silverstone in Zeiten zusätzlicher Arbeit nicht sicher war, ob es draußen dunkel oder hell war.

Er entdeckte, daß das Suffolk County General etwas war, nach dem er unbewußt schon lange gesucht hatte.

Das Krankenhaus war alt und schäbig, nicht so sauber, wie er es gern gehabt hätte; die ungewaschene Armut der Patienten war nervenzermürbend; die Verwaltung geizte auf üble, kleinliche Art, indem sie zum Beispiel an die Hausärzte nicht oft genug saubere weiße Anzüge ausgab. Aber die Chirurgie, die sie auf der Station praktizierten, war ungeheuer aufregend. Von Anfang an operierte er fast pausenlos, schon in den ersten Monaten, interessantere Fälle verschiedenster Art, als er sie je in Georgia in einem halben Jahr gehabt hatte.

Er hatte ein Gefühl der Entmutigung verspürt, als er zum erstenmal hörte, daß Rafe Meomartino mit der Nichte des Alten verheiratet war, mußte jedoch zugeben, daß die guten Fälle unparteiisch zwischen ihnen aufgeteilt wurden. Zwischen Meomartino und Longwood herrschte jedoch eine unerklärliche Kälte, und er war zu der Erkenntnis gelangt, daß das Verwandtschaftsverhältnis für Rafe eher ein Nachteil war.

Unbehaglich fühlte er sich nur, wenn er den sechsten Stock betrat, den er in einem unbedachten Augenblick zu einem kalten, einsamen Ort gemacht hatte.

Das Schlimmste an der ganzen Seifenepisode war, daß er Spurgeon Robinson wirklich gern hatte.

Er war eines Morgens ins Badezimmer gekommen, in dem sich der Spitalsarzt eben rasierte, und sie hatten über Baseball gesprochen, während er aus seinen Kleidern und unter die Dusche stieg.

»Zum Teufel«, murmelte er.

»Was ist los?«

»Verdammt nochmal, ich habe keine Seife.«

»Nehmen Sie meine.«

Adam hatte die weiße Seife in Robinsons Hand angesehen und den Kopf geschüttelt. »Nein, danke.«

Unter dem warmen Sprühregen verflog sein Ärger, und einige Minuten später nahm er - gedankenlos - die dünne Scheibe gebrauchter Seife aus der Seifenschüssel und seifte seinen Körper damit ein.

Als Robinson ging, hatte er einen Blick in die Dusche geworfen. »Ah, ich sehe, Sie haben ja doch eine gefunden«, sagte er.

»Ja«, sagte Adam in plötzlichem Unbehagen.

»Das ist dasselbe Stück, das ich gestern benützt habe, um meinen schwarzen Arsch zu waschen«, hatte Spur liebenswürdig gesagt.

Geldmangel bedrohte ihn nicht mehr. Er wurde Nachtarbeiter, dank einem Freundschaftsdienst des dicken Anästhesisten, den die OP-Schwestern den »fidelen grünen Riesen« nannten, und den er im Stillen den »Dicken« nannte, der jedoch schlicht und einfach Norman Pome-rantz hieß. Eines Tages schlenderte Pomerantz in das Ärztezimmer und fragte, während er sich Kaffee einschenkte, ob jemand daran interessiert sei, einige Nächte in der Woche Dienst in der Unfallstation eines Gemeindekrankenhauses zu machen, westlich von Boston.

»Es ist mir egal, wo es ist«, sagte Adam, noch bevor sonst jemand antworten konnte. »Wenn es was einbringt, mache ich es.«

Pomerantz lachte. »Es ist in Woodborough. Sie werden von der Krankenhausversicherung bezahlt.«

Also verhökerte er seinen Schlaf und war mit dem Handel durchaus nicht unzufrieden. Am ersten dienstfreien Abend im Suffolk County General nahm er die Hochbahn zum Park Square und einen Bus nach Woodborough; es war ein wunderliches New-England-Fabriksdorf, das sich erst vor kurzem in einen sich ständig ausbreitenden und dicht bevölkerten Pendlervorort verwandelt hatte. Das Krankenhaus war gut, aber klein, die Arbeit kaum anregend - Schwellungen und Prellungen, Schrammen und Schnitte; der komplizierteste Fall, der ihm unterkam, war eine Colles-Fraktur im Handgelenk - aber finanziell war es wunderbar. Am folgenden Abend saß er im Bus nach Boston, als ihm plötzlich einfiel, daß er solvent war, und es erfüllte ihn fast mit Ehrfurcht. Natürlich war das Geld direkt aus seiner Haut geschnitten; er war sechzig Stunden lang nicht mehr im Bett gewesen - sechsunddreißig Stunden Dienst im Suffolk County General und anschließend weitere vierundzwanzig Stunden in Woodborough, aber das plötzliche Gefühl von Wohlstand war es wert. Als er in sein Zimmer im Krankenhaus zurückkehrte, schlief er acht Stunden durch und erwachte mit leerem Kopf, pelzigem Mund, aber - seltsamerweise - reich.

Er absolvierte die Busfahrt nach Woodborough jedesmal, wenn er dienstfrei war. Als er immer erschöpfter wurde, gewöhnte er sich gierige kleine Nickerchen an -auf Krankentragen, im Ärztezimmer sitzend, einmal sogar an eine Korridorwand gelehnt, und er genoß die Augenblicke des Schlafs wie ein Kind, das an einer Kugel aus hartem Zuckerwerk lutscht.

Er fühlte sich noch einsamer als gewöhnlich. Eines Nachts lag er auf seinem Bett und hörte Spurgeon Robinson auf der Gitarre spielen. Er hatte nicht gewußt, daß es solche Musik gab. Sie erzählte ihm eine Menge über den Spitalsarzt. Nach einer Weile stand er auf, ging in einen Spirituosenladen und kaufte eine Sechserpackung Bier. Als er anklopfte, öffnete Robinson die Tür, stand einen Augenblick wortlos da und sah ihn an.

»Beschäftigt?« fragte Adam.

»Nein. Kommen Sie herein.«

»Ich dachte, wir könnten wieder auf das Dach hinaus und einen Schluck trinken.«

»Verrückte Idee, aber -«

Ganz perfekter Gastgeber, öffnete Robinson das Fenster, ergriff den Papiersack und ließ Adam als ersten über das Fensterbrett steigen.

Sie tranken und plauderten belangloses Zeug, dann aber ging ihnen plötzlich der Faden aus und sie fühlten sich unbehaglich, bis Adam rülpste und Spur wild anstarrte.

»Gott verdammt«, sagte er, »es tut mir leid. Wir können nicht herumgehen und aufeinander böse sein wie zwei kleine Jungen. Wir haben einen Beruf. Wir haben es mit Kranken zu tun, die darauf angewiesen sind, daß wir uns verständigen.«

»Wenn ich wütend werde, platze ich heraus«, sagte Spurgeon.

»Zum Teufel, Sie hatten recht. Ich mag überhaupt keine fremde Seife benützen -«

Spurgeon grinste. »Ich würde die Ihre auch nicht benützen, und wenn es um eine Wette ginge.«

»- aber je mehr ich darüber nachdenke, um so mehr weiß ich, daß das nicht der eigentliche Grund war, warum ich ablehnte«, sagte er leise.

Spurgeon sah ihn bloß an.

»Ich habe noch nie einen Farbigen wirklich gut gekannt. Als ich ein kleiner Junge in einer italienischen Umgebung in Pittsburgh war, fielen oft Banden schwarzer Kinder über uns her. Bis jetzt war das der erste Versuch, Kontakt mit der anderen Rasse anzuknüpfen.«

Spurgeon sagte noch immer nichts, und Silverstone griff nach einer frischen Bierdose. »Sie kennen viele Weiße?«

»In den letzten zwölf Jahren lebte ich mitten unter ihnen und war ihnen zahlenmäßig unterlegen.«

Sie schauten beide über die benachbarten Dächer zum Meer.

Robinson streckte ihm etwas entgegen, Adam griff danach, in der Meinung, es sei eine Bierdose, aber es war eine Hand.

Die er drückte.

Mit dem ersten Scheck von der Versicherung zahlte er den Vorschuß zurück, den er am Tage seiner Ankunft vom Krankenhaus erhalten hatte, und als der zweite Scheck eintraf, ging er in eine Bank und eröffnete ein Sparkonto. In Pittsburgh gab es den alten Mann, derzeit stumm, der sich aber jeden Augenblick melden und Geld verlangen konnte. Adam schwor sich, ihm zu widerstehen: Mein ganzes Vermögen im Fall einer Katastrophe, aber keinen einzigen Cent für Schnaps. Obwohl er das Geld nicht abhob und die Gebrauchtwagenhöfe abzugrasen begann, er-lebte er zum erstenmal das Verlangen, rücksichtslos Geld hinauszuwerfen. Er wollte ein Fahrzeug besitzen, mit dem er parken und in dem er mit jemandem ringen konnte, mit Gaby Pender vielleicht.

Nach sechs Wochen hatte er sie noch immer nicht gesehen. Er hatte ein paarmal mit ihr telephoniert, sich jedoch mit einer Einladung zurückgehalten, da er dem Drang nicht widerstehen konnte, nach Woodborough zu fahren, um seinen kleinen Schatz zu vergrößern.

Wenn sie wirklich miteinander ausgehen sollten, sagte er sich, würde er nicht jeden Penny umdrehen müssen.

Aber dann merkte er, daß sie am anderen Ende des Drahtes merklich steifer und mit jedem Anruf kühler wurde, und schließlich fühlte er sich gezwungen, ihr zu sagen, was er mit seiner dienstfreien Zeit anfing.

»Aber Sie werden vor Erschöpfung tot umfallen«, sagte sie entsetzt.

»Ich bin gerade dabei, mich zu bremsen.«

»Versprechen Sie mir, daß Sie sich das nächste Wochenende freinehmen.«

»Ich tue es, wenn Sie mit mir ausgehen. Sonntag abend.«

»Schlafen Sie sich lieber aus.«

»Erst nachdem ich Sie gesehen habe.«

»Schön«, sagte sie nach kurzer Pause. Es klang, als gebe sie gern nach, dachte er optimistisch.

»Wir gehen ganz groß aus.«

»Hören Sie«, sagte sie. »Ich habe eine wunderbare Idee. Heute abend wird ein Konzert der Bostoner Symphoniker aus Tanglewood übertragen. Ich bringe meinen Transistor mit, wir können eine Decke auf dem Gras der Esplanade ausbreiten und es uns anhören.«

»Sie wollen mir sparen helfen. Aber ich kann mir einen besseren Abend leisten.«

»Kostspieliger, nicht besser. Bitte. Wir können dort ungestört plaudern.« Sie war mit sechs Uhr einverstanden, damit ihnen mehr Zeit blieb.

»Sie sind verrückt«, sagte er, und das mit der Decke gefiel ihm großartig.

Sonntag nachmittag war seine frohe Erwartung auf ihrem Höhepunkt angelangt. Es war ein ruhiger Tag. Vorausschauend erledigte er alle routinemäßigen Einzelheiten schon frühzeitig, um jede lästige Verzögerung von vornherein auszuschalten. Über dem Schwesternzimmer hing eine große alte Uhr, die Zeiger standen auf fünfundzwanzig Minuten vor fünf, wie die Beine eines Charleston-Tänzers, der unmittelbar nach dem Kniefächeln erstarrt war. Noch fünfundachtzig lange Minuten, dachte er. Er würde duschen, sich umziehen und nach allen Seiten abgesichert das Krankenhaus verlassen. Gesalbt, gegürtet und behelmt, rasiert, das Gesicht mit Lotion abgerieben, gepudert, Schuhe geputzt, Haare niedergebürstet, mit hochfliegenden Träumen - um Gaby Pender abzuholen.

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloß die Augen. Das große Gebäude war wie ein schlafender Hund, dachte er; es konnte zufrieden dahindösen, aber früher oder später ...

Das Telephon surrte.

Schon war die alte Hündin wach, dachte er mit gequältem Lächeln und meldete sich: Unfallstation mit drei Verbrennungsfällen. »Ich komme«, sagte er und ging. Im Lift überfiel ihn Angst, ob es wohl etwas war, weshalb er sich bei seiner Verabredung verspäten würde?

Schon im Gang zur Halle schlug ihm Brandgeruch entgegen.

Es waren ein Mann und zwei Frauen. Adam sah sofort, daß die Frauen nicht allzu schlimm dran und bereits sediert waren; zwei Punkte für den neuen Facharztanwärter der Unfallstation, ein Bürschchen namens Potter, das gute Noten dringend brauchte. Potter hatte eine Tracheotomie bei dem Mann durchgeführt, wahrscheinlich seine erste (ein Pluspunkt für den Mut, und fünf Punkte minus: in diesem Fall hätte er noch ein paar Minuten warten und sie im Operationssaal machen sollen), und hantierte geschäftig und zitternd mit einem Beatmungskatheter herum und versuchte, Sekretionen abzusaugen.

»Hat man Meomartino angerufen?«

Potter schüttelte den Kopf, und Adam rief den Fellow an. »Wir könnten Hilfe brauchen, Doktor.«

Meomartino zögerte. »Können Sie nicht allein damit zurechtkommen?« fragte er scharf.

»Nein«, sagte Adam und legte den Telephonhörer auf die Gabel zurück.

»Gott, schauen Sie sich dieses Zeug an, das ich ihm aus der Lunge ziehe«, sagte Potter.

Adam sah hin und stieß ihn mit der Schulter beiseite. »Das ist gastrischer Inhalt aus dem Magen. Erkennen Sie denn nicht, daß er aspiriert ist?« sagte er ärgerlich. Er begann, soweit das möglich war, die Kleidung von dem verbrannten Fleisch abzuschneiden und abzuziehen. »Wie ist es passiert?«

»Der Branddirektor untersucht den Fall, Doktor«, sagte Maish Meyerson von der Tür her. »Es war in einem Delikatessenladen. Soweit wir herausbekommen konnten, explodierte eine Bratpfanne. Der Laden war wegen Renovierung geschlossen. Dem Geruch nach zu schließen war die

Pfanne mit einer Mischung aus Kerosin und Heizöl gefüllt. Wahrscheinlich entzündete sie sich, knapp bevor man sie zudeckte.«

»Ein Glück für ihn, daß es keine Pizzeria war. Nichts Schlimmeres als Mozarella-Verbrennungen dritten Grades«, sagte Potter und bemühte sich mühsam, seine Fassung einigermaßen wiederzugewinnen.

Der Mann stöhnte.

Adam versicherte sich, daß er noch nicht sediert worden war, gab ihm fünf Milligramm Morphium und sagte dem Facharztanwärter, er solle die Verletzten soweit wie möglich reinigen, was unter den gegebenen Umständen nicht viel war; Feuer verursacht so viel Schweinerei.

Meomartino erschien mit steinernem Gesicht, wurde jedoch etwas umgänglicher, als er sah, daß tatsächlich mehr Hände benötigt wurden, nahm den Frauen Blut für Laborzwecke ab und bestimmte die Blutgruppen, während Adam dasselbe bei dem Mann durchführte; dann gaben sie den Patienten die ersten Elektrolyten und Kolloide mit denselben Nadeln, mit denen sie das Blut entnommen hatten. Als man die drei Patienten in den OP 3 brachte, hatte eine Schwester inzwischen die Brieftasche des Patienten durchsucht, Namen und Alter festgestellt, Joseph P. - für Paul - Grigio, 48. Rafael Meomartino überwachte Potter, der sich um die Frauen kümmerte, während Adam den Harnkatheter bei Mr. Grigio einführte und dann einen Schnitt auf der langen Vena saphena des Knöchels machte, eine Kunststoffkanüle einführte und sie mit Seidenligaturen fixierte, um die intravenöse Rettungsleine herzustellen.

Der Mann hatte schwere Verbrennungen, etwa fünfunddreißig Prozent seiner Körperoberfläche - Gesicht (Lunge?), Brust, Arme, Leistengegend, an einem kleinen Teil der Beine und des Rückens. Früher einmal war er muskulös gewesen, jetzt aber war er schlaff. Wieviel Kraftreserven besaß wohl dieser Körper mittleren Alters?

Adam merkte plötzlich, daß ihn Meomartino beobachtete, wie er den Patienten abschätzte.

»Nichts zu machen, morgen ist er nicht mehr da«, sagte der Fellow, als sie ihre Handschuhe abstreiften.

»Ich glaube doch«, sagte Adam unwillig.

»Warum?«

Er zuckte die Achseln. »Bloß so ein Gefühl. Ich habe ziemlich viel Verbrennungen erlebt.« Im selben Augenblick wurde er wütend über sich: er hatte sich wohl kaum auf Verbrennungen spezialisiert.

»In Atlanta?«

»Nein, als ich noch an der Medical School in Philadelphia war, arbeitete ich als Famulus in der Leichenkammer.«

Meomartino sah ihn gequält an. »Es ist nicht dasselbe wie an Lebenden zu arbeiten.«

»Das weiß ich. Aber ich habe das Gefühl, daß es dieser Bursche schaffen wird«, sagte er störrisch.

»Ich hoffe es, aber ich glaube es nicht. Er gehört Ihnen.« Meomartino wandte sich zum Gehen, blieb dann aber stehen. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Falls er es schafft, bezahle ich Ihnen eine Woche lang den Kaffee in Maxies Laden.«

Verfluchter Witzbold, dachte Adam, als er ihm, die Frauen begleitend, nachsah.

Er verabreichte dem Mann eine vorbeugende Tetanusspritze und folgte ihm dann, als er in die Station hinaufgebracht wurde. Er errechnete nach der Evansregel, wieviel Flüssigkeitsersatz für einen Mann von fünfundachtzig Kilo

Körpergewicht nötig war, kam auf 2100 Kubikzentimeter Kolloide, 2100 Kubikzentimeter Salze und 2000 Kubikzentimeter Wasser zwecks Harnabsonderung. Die Hälfte davon mußte in den ersten acht Stunden in die Vene geträufelt werden, gleichzeitig mit einer massiven Dosis Antibiotika, um die Bakterien zu bekämpfen, die sich auf der gesamten verkohlten und verschmutzten Fläche einnisten würden.

Als sie im zweiten Stock das Bett aus dem Lift schoben, sah er mit plötzlicher Bestürzung auf die Uhr. Sechs Uhr fünfzehn.

Er hätte sich schon längst für Gaby fertigmachen sollen. Statt dessen lagen noch mindestens zwanzig Minuten Arbeit vor ihm, bis er seinen Patienten verlassen konnte.

Das Zimmer 218 war frei, er legte Mr. Grigio hinein und überlegte, wie er die Verbrennungen lokal behandeln könnte; was wohl Meomartino bei den Patienten in der Frauenabteilung unternahm?

Miss Fultz saß in der Schwesternstation und arbeitete mit ihrer dicken schwarzen Füllfeder an den unvermeidlichen Krankengeschichten. Wie gewöhnlich hätte er auch der Schatten einer Mücke sein können. Es war sinnlos zu warten bis sie aufschaute; er räusperte sich. »Wo finde ich ein großes steriles Becken? Und ich brauche noch einige andere Sachen.«

Eine Lernschwester eilte soeben vorbei. »Miss Anderson, geben Sie ihm, was er braucht«, sagte die Oberschwester leise, ohne die Feder abzusetzen.

»Joseph P. Grigio liegt auf 218. Er braucht Spezialschwestern für mindestens drei Schichten.«

»Keine verfügbar«, sagte sie zu ihrem Schreibtisch.

»Zum Teufel, wieso nicht?« sagte er, mehr verärgert über ihre Weigerung, mit ihm zu sprechen, als über das Problem selbst.

»Aus irgendwelchen Gründen werden Mädchen heute nicht mehr Krankenschwestern.«

»Wir werden ihn auf die Station für Intensivpflege legen müssen.«

»Die Pflege auf der Station für Intensivpflege ist gar nicht so intensiv. Sie ist seit einer Woche überbelegt«, sagte sie, während die große Lanze der Feder enge kleine Kreise in der Luft zog, bevor sie auf die Seite niederstieß und einen Punkt festnagelte.

»Fordern Sie Spezialschwestern an. Benachrichtigen Sie mich, sobald Sie etwas wissen, bitte.«

Er nahm eine weiße sterile Schüssel von Miss Anderson entgegen und mischte darin seinen Hexentrank. Eiswürfel, um die Verbrennungen zu kühlen und zu betäuben und das Anschwellen soweit wie möglich niederzuhalten. Bittersalz, weil gewöhnliches Wasser eine auslaugende Wirkung auf die Elektrolyten des Körpers gehabt hätte. Phiso-hex zum Reinigen; es gerann zu Wirbeln, als er die Mischung umrührte. Fehlten nur noch Drachenblut und die Zunge eines Wassermolchs ...

Er wollte Mulltupfer aus einem Schrank nehmen, als er jedoch auf einem höheren Bord Monatsbinden entdeckte, nahm er drei Schachteln Kotex heraus, ideal für seine Zwecke.

»Ah - Sie sind zufällig nicht frei, um diesem Patienten eine kleine Hilfe zu leisten?«

»Nein, Herr Doktor. Miss Fultz beschäftigt mich mit tausend Dingen gleichzeitig, einschließlich Austragen von Leibschüsseln für die ganze Station.«

Er nickte seufzend. »Würden Sie wenigsten eines für mich tun? Schnell einen Anruf machen?« Er schrieb Ga-brielle Penders Namen und Telephonnummer auf einen

Rezeptblock und riß den Zettel ab. »Sagen Sie ihr, daß ich mich etwas verspäten werde.«

»Gut. Sie wird warten. Ich jedenfalls täte es.« Das Mädchen grinste und war weg; er dachte eine Weile über die Anziehungskraft kleiner skandinavischer Hinterbacken nach, aber nicht lange. Er trug das Becken vorsichtig auf Zimmer 218, verschüttete nur wenig auf dem gewachsten Boden des Ganges und ließ die Bauschen in das Gebräu fallen. Er drückte sie leicht aus, um die überflüssige Nässe zu entfernen, und legte dann jeden nassen Bausch auf verbranntes Fleisch, beim Kopf beginnend und nach unten arbeitend, bis Mr. Grigio einen verrückten Anzug aus durchtränkten Kotextüchern trug. Als er die Schienbeine bedeckt hatte, fing er wieder oben an und ersetzte die ersten, schon erwärmten Bauschen durch kalte, nasse.

Mr. Grigio schlief, von einer Opiumwelle getragen. Vor zehn Jahren war sein Gesicht zweifellos schön gewesen, das Gesicht eines italienischen Fechters, aber das gute Aussehen des Südländers hatte durch den zurückweichenden Haaransatz und die Hängebacken gelitten. Morgen früh würde das Gesicht ein grotesker Ballon sein.

Der Verbrannte bewegte sich. »Dove troviamo i soldi?« stöhnte er. Er fragte sich, woher er Geld bekommen konnte. Nicht von der Versicherung, dachte Adam. Armer Mr. Grigio. Das Öl und das Kerosin waren auf dem Ofen gewesen, aber jetzt, da sich das Amt des Branddirektors für den Fall interessierte, hieß das für Mr. Grigio, Öl ins Feuer gießen.

Der Mann bewegte sich unruhig und murmelte einen Namen, vielleicht den seiner Frau, gepeinigt von seinem Gewissen oder einer Vorahnung kommender Schmerzen, falls er am Leben blieb. Adam tauchte die Bäusche in die eisige Schüssel, wand sie aus, legte sie auf, und die Armbanduhr, die er am Arm hochgeschoben hatte, tickte spöttisch.

Kurz nachdem er den Inhalt der vierten eisgekühlten Schüssel aufgebraucht und wieder aufgefüllt hatte, machte er eine Pause und bemerkte, daß Miss Fultz neben ihm stand und ihm eine bauchige Kanne hinstreckte.

Erstaunt nahm er den Tee entgegen.

»Ich glaube, ich habe für heute abend eine Spezialschwester aufgetrieben«, sagte Miss Fultz. »Sie ist um elf fällig, und ich bin bis dahin frei. Es ist nur eine Stunde. Gehen Sie jetzt.«

»Ich hatte tatsächlich eine Verabredung«, sagte er, als er seine Sprache wiedergefunden hatte.

Zehn Uhr fünf!

In der nächsten Telephonzelle wählte er Gabys Nummer und hörte gleich darauf eine amüsierte weibliche Stimme. »Das muß wohl Doktor Silverstone sein?«

»Ja.«

»Hier spricht Susan Haskell, Gabys Zimmergenossin. Sie wartete und wartete. Vor ungefähr einer Stunde sagte sie mir, wenn Sie anrufen, soll ich Ihnen sagen, daß Sie sie auf der Esplanade treffen sollen.«

»Sie ist allein hingegangen, um in der Dunkelheit am Fluß zu warten?« fragte er und dachte an Mord und Vergewaltigung.

Es entstand eine Pause. »Sie kennen Gaby nicht sehr gut, nicht wahr?« sagte die Stimme.

»Wo auf der Esplanade?«

»Neben dem Podium der Musikkapelle, das wie eine Muschel geformt ist. Kennen Sie es?«

Er kannte es nicht, wohl aber der Taxilenker. »Heute abend gibt's kein Konzert«, sagte der Taxilenker.

»Ich weiß, ich weiß.«

Als er aus dem Taxi stieg, ging er vom Storrow Drive über das weiche Gras in die Dunkelheit hinein. Zuerst dachte er, sie sei nicht da, dann aber sah er sie ziemlich weit vorne auf ihrer Decke unter einem Laternenpfahl sitzen, als sei er eine schützende Tanne.

Als er sich neben sie auf die Decke fallen ließ, lächelte sie ihn warm an, und er vergaß, daß er müde war.

»War es etwas Welterschütterndes, dessentwegen Sie mich fast sitzen ließen?«

»Ich bin soeben erst fertiggeworden. Ich war überzeugt, daß Sie nicht warten würden.« Er wies auf seinen Ärztekittel. »Ich habe mir nicht einmal Zeit genommen, mich umzuziehen.«

»Ich bin froh, daß Sie schließlich doch gekommen sind. Sind Sie hungrig?«

»Am Verhungern.«

»Ich habe Ihre belegten Brote verschenkt.«

Er sah sie an.

»Sie sind nicht aufgetaucht. Da sind drei hochaufgeschossene Schuljungen dahergekommen, und sie haben mich nicht geschändet oder sonst etwas. Einer war ein lieber kleiner Kerl, dem herausrutschte, daß sie kein Geld fürs Abendessen hätten. Hier ist eine Pflaume.«

Er nahm und aß sie, weil ihm nichts Charmantes einfiel, das er hätte sagen können. Die Pflaume war peinlich saftig. Er bekleckerte sich und fühlte sich im Nachteil, wo er doch diesem Mädchen Eindruck machen wollte. Ihre Zimmergenossin hatte, während er fast krank war vor Sehnsucht, sie wiederzusehen, absolut recht gehabt: er kannte sie überhaupt nicht; praktisch war er nur drei Stunden mit ihr beisammen gewesen, eine davon mitten in einer Gesellschaft in dem überfüllten Wohnzimmer von Herb Shagers Schwester in Atlanta.

»Schade, daß Sie die Symphonie versäumt haben«, sagte sie. »Kommt das häufig vor?«

»Nicht ganz so häufig«, sagte er, weil er sie nicht abschrecken wollte.

Er legte sich auf die Decke zurück. Später erinnerte er sich daran, daß er mit ihr über Musik und ihren Lehrplan in Psychologie gesprochen hatte und ihm dann die Augen zugefallen waren. Als er sie wieder öffnete, merkte er, daß er geschlafen hatte, wußte jedoch nicht, wie lange. Sie saß da, blickte zum Fluß hinüber und wartete geduldig. Wie hatte er dieses Gesicht nur vergessen können. Falls die Nase das Ergebnis einer Schönheitsoperation war, hatte sich das Geld dafür gelohnt. Die Augen waren braun, jetzt still, aber sehr lebendig. Ihr Mund war vielleicht etwas groß, die Oberlippe dünn und deutete auf Bissigkeit, die Unterlippe üppig. Das dunkelblonde Haar, das in dem Laternenlicht schimmerte, hatte Sonnenstreifen. Ein Muttermal saß unter dem linken Auge und betonte den Backenknochen. Ihre Züge waren nicht regelmäßig genug, um sie zu einem wirklich hübschen Mädchen zu machen. Sie war zwar sehr klein, aber sexuell zu anziehend, um das Prädikat »nett« nett zu verdienen. Etwas zu dünn, entschied er.

»Das ist die tiefste Sonnenbräune, die ich seit langem gesehen habe. Sie müssen Ihr Leben am Strand verbringen«, sagte er.

»Ich habe eine Bestrahlungslampe. Drei Minuten täglich, das ganze Jahr hindurch.«

»Auch im Sommer?«

»Aber sicher. Mehr Abgeschlossenheit in meinem Schlafzimmer.«

Es würden keine weißen Flecken oder Trägerstreifen vorhanden sein. Er spürte eine Schwäche in den Knien.

»Einer der Jungen an der Uni behauptet, meine Leidenschaft für körperliche Wärme rühre daher, daß ich aus einer zerrütteten Familie komme. Ich liebe heiße Tage.«

»Ihr analysiert einander im Psychologieunterricht?«

Sie lächelte. »Nach dem Unterricht. Ständig.« Sie legte sich neben ihn auf die Decke zurück. »Sie riechen nach starken männlichen Säften«, sagte sie, »und als wären Sie bei einem Brand gewesen.«

»Gott, so schlimm ist es? Ich hatte vor, duftend wie eine Blume zu Ihnen zu kommen.«

»Wer will schon, daß ein Mann wie eine Blume riecht?«

Ihre Köpfe waren einander auf der Decke sehr nahe, und es bedurfte nur geringer Anstrengung, sie zu küssen.

Er küßte das Muttermal.

Aus dem Transistor klang leise das Leitmotiv aus »Sonntags nie«.

»Können Sie Hasapiko?«

»Ich möchte es gern lernen«, sagte er wollüstig.

»Den griechischen Tanz.«

»Oh, den. Nein.«

Er erhob sich unwillig, als sie darauf bestand, ihm die Schritte zu zeigen. Er hatte den angeborenen Rhythmus eines guten Tauchers und lernte den Grundschritt schnell. Sie hielten einander an den Händen, tanzten zu dem trägen Rhythmus und dann, als die Musik aus dem Apparat zu einem Crescendo anschwoll, immer wilder. Sorbas und seine Frau auf dem weichen Gras der Esplanade, aber natürlich machte er einen Fehler, und sie stürzten, lachend und atemlos, und er küßte sie wieder und fühlte ihre Wärme unter seinem Mund, in seinen Armen.

Es war hübsch. Sie lagen da, ohne zu reden und mit einem Gefühl der Geborgenheit, während hinter ihnen der

Verkehr über den Storrow Drive donnerte und der Fluß vor ihnen bis zu den Lichtern des Memorial Drive auf dem Cambridge-Ufer dunkel dahinzog; in seiner Mitte schwebte ein verschwommenes weißes Segel.

Natürlich wurden sie unter ihrem Laternenpfahl von den Scheinwerfern des Bootes erfaßt.

Das Segel zog weiter. »Ich möchte eine Bootsfahrt machen«, sagte er.

»Im Segelklub, gleich hinter der Konzertmuschel, gibt es ein paar Ruderboote.«

Er streckte die Hand aus, sie ergriff sie, und sie liefen zum Dock.

Die Ruder fehlten, aber er half ihr trotzdem in ein Boot. »Wir können so tun, als sei ich Odysseus«, sagte er, noch immer in hellenischer Stimmung. »Du bist eine Sirene.«

»Nein. Ich bin einfach nur Gabrielle Pender.«

Sie saßen im Heck, mit dem Gesicht zum gegenüberliegenden Ufer und den Lichtern, die eigentlich die Stimmung hätten stören müssen, es aber nicht taten, Cambridge Electric und die Electronic Corporation of America und alle anderen. Wieder küßte er sie, und als er sich von ihr löste, sagte sie: »Er war verheiratet.«

»Wer?«

»Odysseus. Erinnerst du dich an die arme Penelope, die daheim in Ithaka wartete?«

»Er hatte sie zwanzig Jahre lang nicht mehr gesehen. Also schön, dann bin ich jemand anderer.« Er vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. Gott, roch sie gut. Ihr kaum merkbarer Atem wurde schneller, als er ihren Hals küßte, und ihr zarter Puls trommelte kleine Hammerschläge auf seinen Lippen. Das Boot hob und senkte sich auf den winzi-gen Wellen, die von der Flußmündung zu ihnen kamen und unter dem Dock plätscherten.

»Ah, Adam«, sagte sie zwischen Küssen. »Adam Silver-stone, wer bist du jetzt? Wer bist du wirklich?«

»Finde es heraus und laß es mich wissen«, sagte er.

Die Stechmücken trieben sie an Land. Er half ihr die Dek-ke zu falten, und sie verstauten sie in ihrem Wagen, einem arg mitgenommenen blauen Plymouth Convertible Baujahr 1963, der abseits vom Storrow Drive geparkt war. Sie gingen in eine Cafeteria in der Charles Street, saßen an einem Tisch an der Wand und tranken Kaffee.

»War es ein Unfall, der dich im Krankenhaus festhielt?«

Er erzählte ihr von Grigio. Sie war eine gute Zuhörerin und stellte intelligente Fragen.

»Ich fürchte mich nicht vor Feuer oder Ertrinken«, sagte sie.

»Das heißt, daß du dich doch vor etwas fürchtest.«

»Wir hatten viele Krebsfälle in der Familie, auf beiden Seiten. Meine Großmutter ist vor kurzem daran gestorben.«

»Das tut mir leid. Wie alt war sie?«

»Einundachtzig.«

»Auf das würde ich mich einlassen.«

»Nun ja, ich auch. Aber meine Tante Louisa zum Beispiel. Eine junge, schöne Frau. Ich will nicht sterben, bevor ich wirklich alt bin«, sagte sie. »Sterben sehr viele Patienten in dem Krankenhaus? Eine hohe Ziffer, meine ich?«

»In einer Abteilung wie der unseren monatlich ein paar. Wenn auf unserer Station ein Monat ohne Todesfall vergeht, gibt der Oberarzt oder der Fellow ein Fest.«

»Feiert ihr viele Feste?«

»Nein.«

»Ich könnte das nicht tun, was du tust«, sagte sie. »Ich könnte den Schmerzen und dem Sterben nicht zusehen.«

»Es gibt viele Arten zu sterben. Auch in der Psychologie gibt es Leiden, denen man zusehen muß, nicht?«

»Sicher, in der klinischen. Das ist auch der Grund, warum ich dabei landen werde, süße kleine Jungen zu testen, um zu sehen, warum sie nicht unter dem Bett hervorkommen.«

Er nickte lächelnd.

»Wie ist das, jemanden sterben zu sehen?«

»Ich erinnere mich an das erste Mal ... Ich war noch Student. Da war dieser Mann ... Nun, ich sah ihn auf meinen Visiten. Er war einfach prima, lachte und riß Witze. Während ich seine I. V. fixierte, blieb sein Herz stehen. Wir versuchten alles nur mögliche, um ihn zurückzuholen. Ich erinnere mich, wie ich ihn ansah und mich fragte: Wohin ist er gegangen? Was war es, das fortging? Was hat ihn von einem Menschen in . das hier verwandelt?«

»Gott«, sagte sie. Dann: »Ich habe so einen Knoten bekommen.«

»Was?« sagte er.

Sie schüttelte den Kopf.

Aber er hatte es doch gehört. »Wo?«

»Das möchte ich lieber nicht sagen.«

»Um Christi willen«, sagte er, »ich bin doch Arzt, nicht?« Wahrscheinlich die Brust, dachte er.

Sie schaute weg. »Bitte. Es tut mir leid, daß ich es erwähnt haben. Ich bin überzeugt, es ist nichts. Ich gehöre zu der Sorte, die sich pausenlos Sorgen macht.« »Warum meldest du dich dann nicht bei einem Arzt zu einer Untersuchung an?«

»Ich werde es tun.«

»Versprichst du es mir?«

Sie nickte, lächelte ihn an und wechselte das Thema, erzählte ihm von sich. Eltern geschieden; Vater wiederverheiratet und Kurdirektor in einem Ort in den Berkshires, Mutter mit einem Viehzüchter in Idaho wiederverheiratet. Er erzählte ihr, daß seine Mutter Italienerin gewesen und gestorben, und sein Vater Jude war, vermied es aber sorgfältig, mehr von sich zu erzählen. Sie merkte es und drängte ihn nicht.

Als jeder drei Tassen Kaffee getrunken hatte, bestand sie darauf, ihn zum Krankenhaus zurückzufahren. Er gab ihr keinen Gutenachtkuß, teils weil sie am Eingang zum Krankenhaus nicht ungestört waren, teils, weil er zu müde war, um Sorbas oder Odysseus oder sonst jemand sein zu wollen, außer einer schlafenden Gestalt auf einem Bett in dem Zimmer im obersten Stock.

Dennoch ließ er den Lift im zweiten Stock anhalten und ging wie von einem Magnet angezogen zu Zimmer 218. Nur einmal schnell nachsehen, versprach er sich, dann würde er zu Bett gehen.

Helen Fultz lehnte steif über Joseph Grigio.

»Was tun Sie da?«

»Die Schwester von elf bis sieben ist nicht aufgetaucht.«

»Nun, jetzt bin ich hier.« Sein Schuldgefühl äußerte sich in Ärger. »Bitte gehen Sie schlafen.« Wie alt sie wohl war, fragte er sich. Sie sah erledigt aus, ihr graues Haar hing in Strähnen über das zerfurchte Gesicht mit den verkniffenen Lippen.

»Ich gehe nicht. Es ist zu lange her, seit ich altmodischen Schwesterndienst verrichtet habe. Schreibarbeiten verwandeln einen in einen Beamten.« Ihr Ton duldete keine Widerrede, aber er suchte sie doch zu überreden. Schließlich schlossen sie einen Kompromiß. Es war kurz nach Mitternacht. Er sagte, sie könne bis ein Uhr bleiben.

Die Anwesenheit eines Zweiten, fand er, machte einen großen Unterschied. Sie hüllte sich zwar weiterhin in ihr neurotisches Schweigen, braute jedoch einen Kaffee, der heißer war als Gabys Fleisch und schwärzer als Robinsons Haut. Sie wechselten einander beim Auflegen der Verbände ab, wenn ihre Hände durch das ständige Eintauchen in die eisgekühlte Salzlösung steif wurden.

Joseph Grigio atmete weiter. Diese alte Schraube, diese stumme graue Hexe, diese müde, alternde Frau hatte ihn am Leben erhalten. Mit Hilfe eines Chirurgen erholte er sich jetzt vielleicht doch und würde sich als Esel erweisen. Shakespeare.

Um zwei Uhr früh vertrieb er sie trotz ihrer bösen Blicke. Allein war es schwerer. Die Augenlider fielen ihm zu, in seinen verkrampften Rückenmuskeln meldete sich ein leiser Schmerz. Das linke Bein seiner einst weißen Hose war vom tropfenden Salzwasser der Naßpackungen feuchtkalt.

Das Krankenhaus war still.

Still.

Mit Ausnahme gelegentlicher kleiner Geräusche. Schmerzensschreie, unterdrücktes hohles Trommeln von Urin in Leibschüsseln, das Klopfen von Gummiabsätzen auf Linoleumböden; alles verschmolz mit dem Hintergrund wie Grillenzirpen und Vogelrufen auf dem Land, mehr erahnt, als tatsächlich gehört.

Zweimal döste er kurz ein und riß sich wach, um hastig die Eiswasserpackungen zu wechseln.

Entschuldigen Sie, Mr. Grigio, sagte er stumm zu der auf dem Bett liegenden Gestalt.

Wäre ich nicht so geldgierig gewesen, dann wäre ich jetzt ausgeruhter, besser imstande, mich um Sie zu kümmern. Aber ich bin mit gutem Grund geldgierig und ich brauche das Geld, das ich für die Nachtarbeit erhalte. Brauche es wirklich.

Nur bitte, sterben Sie nicht, weil ich einschlafe.

Gott, laß mir das nicht zustoßen. Laß ihm das nicht zustoßen.

Seine Hände tauchten in das Eiswasser.

Würgten das kalte Tuch.

Legten die eisige Packung auf.

Nahmen das Gewebe, das für warme weibliche Lenden bestimmt war, dessen Hitze jedoch jetzt von einem männlichen Fleisch ausging, und ließen es zum Erkalten wieder in die Schüssel fallen.

Er wiederholte die Prozedur immer wieder, während Joseph Grigio unbewußt leise Seufzer hauchte, hie und da unverständliche italienische Sätze wimmerte. Sein verbranntes Gesicht und sein Körper waren nun merklich geschwollen.

Höre, sagte Adam zu ihm.

Wenn du stirbst, komme ich in höllische Schwierigkeiten. Du wirst mir nicht wegsterben, du erbarmungswürdiger Hurensohn von einem Brandopfer.

Tu's lieber nicht, drohte er.

Einmal meinte er, den Harlekin durch die Gänge der Station gehen zu hören.

»Weg von hier«, sagte er laut.

Scutta mal occhio, pf, pf, pf.

Und wiederholte es wie eine Litanei, als er die Hände in die kalte Nässe zwang.

Er merkte nicht mehr, wie die Stunden vergingen, aber er mußte nicht mehr gegen den Schlaf kämpfen. Schmerzen spornten ihn an und hielten ihn nach. Manchmal weinte er fast vor Schmerz, wenn er in die Schüssel griff, deren Eis er im Laufe der Nacht noch dreimal nachgefüllt hatte. Seine Hände schwollen an und wurden blau, die Finger ließen sich nur schwer krümmen, die Fingerspitzen waren runzelig und gefühllos.

Einmal vergaß er vor eigener Qual auf den Patienten und verließ ihn. Er stand auf, rieb sich die Hände, streckte sich, krümmte den steifen Rücken, bog die Finger, blinzelte heftig, ging in die Toilette, erleichterte sich, wusch die wunden Hände in wunderbar warmem Wasser.

Als er ins Zimmer 218 zurückkehrte, waren die Packungen auf Mr. Grigios Körper warm, viel zu warm. Wütend drückte er neue aus, legte sie auf, ließ die gebrauchten in die Schüssel fallen.

Mr. Grigio stöhnte, und er antwortete ihm mit einem Stöhnen.

»Sie waren doch nicht die ganze Nacht hier?« sagte Meomartino.

Er erwiderte nichts.

»Cristos. Offenbar tun Sie alles, um den Kaffee zu gewinnen.«

Er hörte die Stimme wie durchs Telephon, obwohl der Fellow jetzt neben ihm stand.

Es war Tag, erkannte er.

Mr. Grigio atmete noch immer.

»Zum Teufel, Sie gehen jetzt hinauf schlafen.« »Eine Schwester?« fragte er.

»Ich werde jemanden auftreiben, Dr. Silverstone«, sagte Miss Fultz. Er hatte nicht gesehen, daß sie in der Tür stand.

Er stand auf.

»Soll ich Ihnen das Frühstück hinaufschicken? Oder Kaffee?« fragte Miss Fultz.

Er schüttelte den Kopf.

»Los. Ich fahre mit Ihnen hinauf«, sagte Meomartino.

Als sie den Lift betraten, sprach ihn Helen Fultz wieder an. »Haben Sie besondere Anweisungen, Dr. Silverstone?«

Er schüttelte den Kopf. »Wecken Sie mich, wenn es Schwierigkeiten geben sollte.« Er merkte, daß er sehr sorgfältig artikulieren mußte.

»Sie wird mich rufen«, sagte Rafe Meomartino verärgert.

»Sicher, Dr. Silverstone. Schlafen Sie gut«, sagte sie, als sei Meomartino gar nicht vorhanden.

Während der Lift hinauffuhr, sah ihn Meomartino neugierig an. »Wie lange sind Sie jetzt hier, sechs, sieben Wochen? Noch keine zwei Monate. Und sie spricht mit Ihnen. Ich habe zwei Jahre dazu gebraucht. Einigen Burschen gelingt es nie. Sechs Wochen sind die kürzeste Zeit, von der ich je gehört habe.«

Adam öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es wurde nur ein Gähnen.

Um 7 Uhr 15 sank er in Schlaf und wurde irgendwann nach 11 Uhr 30 durch ein Trommeln an seiner Zimmertür geweckt. Meyerson, der Ambulanzfahrer, stand draußen und sah ihn mit freundlicher Verachtung an.

»Nachricht aus dem Büro, Doktor. Sie haben auf Ihren Aufruf nicht reagiert.«

Adams Kopf tobte. »Herein«, flüsterte er, sich die Schläfen reibend. »Gottverfluchter Traum.«

Meyerson sah ihn scharf mit neuem Interesse an. »Worum ging's?«

Er und Gaby Pender waren gestorben. Sie hatten einfach aufgehört, lebendig zu sein, waren jedoch nirgendwohin gegangen; es hatte sich nichts geändert, es war weder ein Leben nach dem Tod, noch auch kein solches.

Meyerson hörte interessiert zu.

»Sie haben keine Zahlen geträumt?«

Adam schüttelte den Kopf. »Was wollen Sie mit Zahlen?«

»Ich bin ein Mystiker.«

Ein Mystiker? »Was geschieht mit der Seele nach dem Tod, Maish?«

»Wie gut kennen Sie Ihren Talmud?«

»Das Alte Testament?«

Meyerson sah ihn sonderbar an. »Nein. Jesus Christus, wo sind Sie in die hebräische Schule gegangen?«

»Ich habe keine besucht.«

Der Ambulanzfahrer seufzte. »Ich weiß ja nicht viel, aber soviel weiß ich. Der Talmud ist das Buch der alten Gesetze. Darin heißt es, daß die guten Seelen unter Jeho-vas Thron gestellt werden.« Er grinste. »Es muß ein verflucht großer Thron sein, oder aber es gibt verdammt wenige, die was taugen.«

»Und die bösen Seelen?« fragte Adam unwillkürlich.

»An den entgegengesetzten Ecken der Welt stehen zwei Engel und spielen Fangball mit den schlechten Kerlen.«

»Sie ziehen mich auf.«

»Nein. Schmeißen die armen momsers hin und her.« Meyerson erinnerte sich an seinen Auftrag. »Hören Sie, unten ist ein R-Gespräch aus Pittsburgh. Wenn Sie es annehmen, wählen Sie die Zentrale ...« Er sah auf einem Zettel nach. »... Apparat 284.«

O Gott.

»Danke. He!« Er rief ihn zurück. »Können Sie mir wechseln?«

»Nur mein Schmu-Geld.«

»Was?«

»Meinen Spieleinsatz. Pokergeld.«

»Oh, geben Sie mir etwas davon ab?« Er reichte ihm zwei Noten und erhielt dafür Silbermünzen.

»Nur Sie und das Weibsbild in dem Traum? Keine Zahlen?«

Adam schüttelte den Kopf.

»Das sind zwei Leute. Ich werde 222 spielen. Kleines Lotto. Wollen Sie, daß ich einen halben Dollar für Sie setze?«

So etwas nennt sich Mystiker. »Nein.«

»Vielleicht 284, den Apparat der Zentrale?«

»Nein.«

Maish zuckte die Achseln und ging. Adams Kopf schmerzte, und sein Mund war trocken, als er zu dem Wandtelephon in der Halle ging.

Einmal mußte es ja kommen, dachte er.

Endlich ist er von einer Brücke gestürzt. Oder hinuntergesprungen.

Oder er ist vielleicht in einem Krankenhaus, möglicherweise verbrannt wie Mr. Grigio. Es passiert jeden Tag, daß Kinder Betrunkene anzünden.

Aber der Anruf kam von seinem Vater persönlich, sagte die Telephonistin. Fünfmal ein 25-Centstück, ein 5- und ein 10-Centstück.

»Adam? Bist du's, mein Sohn?«

»Was ist los, Paps?«

»Nun, ich brauche ein paar Hunderter. Ich will, daß du sie mir beschaffst.«

Erleichterung und Zorn, wie eine Kinderschaukel.

»Ich habe dir das letzte Mal Geld gegeben. Deshalb bin ich auch wie ein Vagabund hier hergekommen und mußte mir selbst Geld leihen, einen Vorschuß vom Krankenhaus.«

»Ich weiß, daß du selbst keines hast. Ich habe gesagt: beschaff es mir. Hör zu. Borg es dir wieder aus.«

»Wozu brauchst du es?«

»... krank wie ein Hund.«

Plötzlich war es ganz leicht. Er mußte betrunken sein, sonst hätte er nicht so plump gelogen. Nur nüchtern war er gerissen und gefährlich. »Geh in die Medical School und sag Maury Bernhardt - Dr. Bernhardt -, daß ich dich schicke. Er wird mich anrufen, und ich sage ihm, daß er dir alle Pflege angedeihen lassen soll, die du brauchst.«

»Ich brauche Geld, das Geld.«

Es hat eine Zeit gegeben, dachte Adam, da hätte ich etwas versetzt, nur damit du es bekommst.

»Von mir bekommst du nichts mehr.«

»Adam -«

»Wenn du stockbesoffen bist, und es klingt ganz danach, dann werde nüchtern und such dir Arbeit. Ich schicke dir zehn Dollar Zehrgeld.«

»Adam, tu mir das nicht an. Sei barmherzig, Sohn ...« Das Schluchzen kam prompt wie auf ein Stichwort. Er war

geschickt; er konnte weinen, einfach weil er sich vor die Wirklichkeit gestellt sah. Lachen zu imitieren war schwieriger.

Adam wartete, bis der Anfall vorbei war, und wurde um eine Spur nachgiebiger. »Ich lege noch fünf drauf. Fünfzehn Dollar, aber das ist alles.«

Sein Vater schneuzte sich gemächlich in Pittsburgh auf Kosten der Zusatzgebühr für Ferngespräche. Als er wieder sprach, lag die alte Arroganz wieder in seiner Stimme. »Ich habe ein Zitat für deine Sammlung, du Dampfplauderer.«

»Paps .« Aber dann wartete er aufmerksam.

»Schade, daß du klüger geworden bist, schade, daß du größer geworden bist . Verstanden?«

Adam wiederholte es.

»Ja«, sagte Myron Silberstein und legte auf. Oh, der alte Schurke, wie er den großen Abgang liebte!

Adam stand mit dem Hörer am Ohr da und wußte nicht, sollte er lachen oder weinen, die Augen geschlossen gegen das beharrliche Dröhnen im Kopf, das immer lauter wurde. Er spürte, wie er wegen seiner Gedanken von dem Engel gepackt, hochgehoben, durch die eisige Finsternis geschleudert, von den schrecklichen wartenden Händen aufgefangen und wieder zurückgeschleudert wurde. Als er den Hörer auflegte, läutete das Telephon sofort wieder, und gehorsam warf er die von der Zentrale geforderten zusätzlichen dreißig Cents ein.

Er ging wieder zu Bett, aber an Schlaf war nicht zu denken. Er kannte das Zitat nicht. Schließlich gab er es auf, zog sich an und ging in die Krankenhausbibliothek, um in Bartletts »Zitatenschatz« nachzuschlagen. Das Zitat stammte von Aline Kilmer, deren Gatte Joyce schon früh, als sie sich vermutlich noch immer liebten, getötet worden war. Es standen noch zwei Zeilen dabei:

Schade, daß du klüger geworden bist, schade, daß du größer geworden bist. Mir warst du lieber, als du noch dumm warst, mir warst du lieber, als du noch klein warst.

Der Stich saß, wie sein Vater es beabsichtigt hatte. Ich sollte ihn einfach vergessen, dachte er, ihn aus meinem Leben streichen.

Statt dessen setzte er sich hin, schrieb einen kurzen Brief, legte die fünfzehn Dollar bei und sandte ihn mit einer Flugpostmarke ab, die er im Schwesternzimmer stahl, während Helen Fultz so tat, als bemerkte sie es nicht.

Gaby Pender.

Sie hatte ihn hypnotisiert, mit ihrer Sonnenbräune am ganzen Körper und mit ihrer saftigen Pflaume. Er dachte ständig an sie, rief sie zu oft an. Sie war beim Studentischen Gesundheitsdienst gewesen, erzählte sie, als er fragte; der Knoten hatte sich als ein Nichts herausgestellt, es war nicht einmal ein Knoten, nur ein Muskel, eine Einbildung. Dankbar sprachen sie über anderes. Er wollte sie wiedersehen, so bald wie möglich.

Susan Garland trat dazwischen, als sie starb. Die Rettung von Joseph Grigios Leben wog den Verlust von Susan Garland nicht auf: Adam entdeckte, daß es in der Medizin keinen Punkteausgleich gibt.

Er wurde von einer Weltmüdigkeit angesteckt, die ihn erschreckte, aber er vermochte sie nicht abzuschütteln. Vielleicht hatte ihn Gabys Angst vor dem Sterben sensibler gemacht, als ihm lieb war, dachte er. Was immer der Grund sein mochte, eine tiefe Wut über die Ohnmacht der Ärzte, der Verschwendung schöner Leben nicht Einhalt gebieten zu können, wallte in ihm hoch.

Zum erstenmal, seit er die Medical School verlassen hatte, überfielen ihn große Zweifel bei seinen Visiten auf der Station. Er entdeckte, daß er eine Bestätigung seiner fachlichen Meinungen suchte, daß er davor zurückscheute, selbständige Entscheidungen zu treffen, die er noch vor wenigen Wochen ohne Zögern getroffen hätte.

Er kehrte seinen Zorn gegen sich selbst und fand tausende Fehler an Adam Silverstone.

An seinem Körper, zum Beispiel.

Die alten Zeiten des Tauchens waren vorbei, aber er war noch immer jung, sagte er sich verdrossen, als er in den Spiegel blickte und an die weichen weißen Maden dachte, die sein Onkel mit dem Spaten zutage beförderte, wenn er im Frühling die Erde in seinem Tomatengarten umgrub.

Wenn er in der Unterwäsche dastand und an sich hinunterblickte, konnte er eine leichte Wölbung des Bauches sehen, die Art Abdomen, die nur eine Schwangere im Frühstadium haben durfte, nicht aber ein junger Mann.

Er kaufte Turnschuhe und einen Turnanzug im HarvardKonsumladen und begann regelmäßig zu laufen, ein halbdutzendmal um den Block, wann immer er eine Dienstpause hatte. Nachts schützte ihn die Dunkelheit, aber wenn er morgens trainierte, mußte er vor kichernden Schwestern Spießruten laufen.

Eines Morgens blickte ein kleiner farbiger Junge, etwa sechs oder sieben Jahre alt, vom Staubsieben im Rinnstein auf. »Mensch, wer ist hinter dir her?« rief er leise.

Das erstemal antwortete Adam nicht, um Luft zu sparen. Als ihm jedoch die Frage jedesmal wieder gestellt wurde, wenn er um die Ecke des Blocks bog, begann er dem Jungen Antworten, kleine Geständnisse zuzuwerfen.

»Susan Garland.«

»Myron Silberstein.«

»Spurgeon Robinson.«

»Gaby Pender.«

Er litt unter dem Zwang, die Frage ehrlich zu beantworten. Als er daher auf seiner letzten Strecke um den Block herumkam, mit Beinen wie Pumpenschwengel, mit Armen, die wie Dreschflegel durch die Luft flogen, rief er dem Kind über die Schulter zu: »Ich bin hinter mir selbst her!«

An dem Vormittag, an dem sie den Fall Susan Garland diskutierten, entdeckte er etwas Neues an der Exituskonferenz.

Er machte die Erfahrung, daß das Todeskomitee dann, wenn man selbst in einen der untersuchten Fälle verwik-kelt war, plötzlich zu einem ganz anderen Tier wurde.

Es war wie der Unterschied zwischen dem Spiel mit einer Hauskatze und mit einem Leoparden.

Er schlürfte Kaffee, der ihm sofort den Magen versäuerte, während Meomartino die Krankengeschichte vortrug und dann Dr. Sack den post-mortem-Bericht erstattete.

Die Autopsie hatte ergeben, daß die transplantierte Niere in Ordnung gewesen war, was Meomartino sofort freisprach.

Bei der Transplantationsmethode Dr. Kenders hatte es mit den Anastomosen oder irgendeinem anderen Faktor kein Problem gegeben.

Damit blieb nur einer übrig, erkannte Adam.

»Dr. Silverstone, wann haben Sie sie das letztemal untersucht?« fragte Dr. Longwood.

Plötzlich waren alle Augen auf ihn gerichtet. »Knapp vor neun Uhr abends«, sagte er.

Die Augen des Alten sahen größer aus als gewöhnlich, weil der Gewichtsverlust seine langgezogenen häßlichen Gesichtszüge fast hager gemacht hatte. Dr. Longwood fuhr sich nachdenklich mit den Fingern durch das schüttere weiße Haar. »Es waren keinerlei Anzeichen einer Infektion vorhanden?«

»Nein, keine.«

Die Schwester hatte sie um 2 Uhr 42 früh tot vorgefunden.

Dr. Sack räusperte sich. »Die Zeit ist unwichtig. Sie wäre in verhältnismäßig kurzer Zeit verblutet. Vielleicht in eineinhalb Stunden.«

Dr. Kender klopfte die Asche von seiner Zigarrenspitze. »Hat sie über etwas geklagt?«

Sie wollte die Haare gewaschen haben, dachte Adam idiotischerweise. »Allgemeines Unbehagen«, sagte er. »Leichte Bauchschmerzen.«

»Welche Anzeichen?«

»Der Puls leicht erhöht. Auch ihr Blutdruck schien erhöht, war jedoch normal, als ich ihn maß.«

»Wie haben Sie sich diese Tatsache erklärt?« fragte Dr. Kender.

»Zu der Zeit hielt ich es für ein günstiges Zeichen.«

»Wofür halten Sie es jetzt, nach allem, was Sie heute wissen?« fragte Dr. Kender nicht unfreundlich.

Sie behandelten ihn sehr sanft. Vielleicht war das ein Zeichen dafür, daß sie eine gute Meinung von ihm hatten. Dennoch war ihm elend zumute. »Vermutlich blutete sie innerlich bereits, als ich sie untersuchte, was den gesenkten Blutdruck erklärt.«

Dr. Kender nickte. »Sie haben einfach noch keine genügend große Anzahl von Transplantationspatienten erlebt.

Daraus kann man Ihnen keinen Vorwurf machen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte Ihnen jedoch klarmachen, daß Sie in Zukunft, wenn Sie bei einem meiner Patienten vor einem Rätsel stehen, einen der Stabsangehörigen holen müssen. Jeder Konsiliarchirurg an unserer Station hätte sofort gewußt, was los ist. Wir hätten ihr Blut spenden, sie sofort aufmachen und versuchen können, die Arterie zu reparieren, ein tiefes Entleerungsrohr hinter die Niere setzen und sie mit Antibiotika vollpumpen können. Selbst wenn die Niere nicht zu reparieren gewesen wäre, hätten wir sie entfernen können.«

Und Susan Garland wäre noch am Leben, dachte Adam. Er erinnerte sich dumpf, seither mit dem latenten Wissen herumgegangen zu sein, daß er in jener Nacht einen Kon-siliarchirurgen hätte rufen sollen. Das war der Grund, warum er in letzter Zeit selbst in Routineangelegenheiten Konsiliarärzte befragt hatte.

Er nickte Kender zu.

Der Transplantationsspezialist seufzte. »Das verdammte Abstoßungsphänomen verfolgt uns noch immer. Als chirurgische Mechaniker sind wir gerade gut genug, um rein physisch alles transplantieren zu können - Herzen, Glieder oder Hundejungenschwänzchen. Aber dann machen sich die Antikörper des Empfängers an die Arbeit, das übertragene Organ abzustoßen, und um das zu verhindern, vergiften wir den Organismus mit Chemikalien und setzen den Patienten weitgehend einer Infektion aus.«

»Planen Sie bei der nächsten Transplantation - der Niere für Mrs. Bergstrom - eine Verminderung der Dosis?« fragte Dr. Sack.

Dr. Kender zuckte die Achseln. »Wir werden ins Laboratorium zurückmüssen. Wir werden weitere Tierversuche machen und dann erst entscheiden.« »Kehren wir zum Fall Garland zurück«, sagte Dr. Longwood ruhig. »Wie klassifizieren Sie den Tod?«

»Oh, Himmel, vermeidbar«, sagte Dr. Parkhurst.

»Vermeidbar«, sagte Dr. Kender, und sog an seiner Zigarre.

»Auf jeden Fall«, sagte Dr. Sack.

Als Meomartino an die Reihe kam, hatte er die Gnade, bloß stumm zu nicken.

Der Alte fixierte Adam mit seinen riesigen Augen. »Wann immer ein Patient an unserer chirurgischen Station verblutet, Dr. Silverstone, wird angenommen, daß der Tod hätte vermieden werden können.«

Wieder nickte Adam. Es schien zwecklos, etwas zu sagen.

Dr. Longwood stand auf, die Sitzung war geschlossen.

Adam schob seinen Stuhl heftig vom Tisch zurück und sah zu, daß er verdammt schnell aus dem Amphitheater entkam.

Am selben Abend nach Dienstschluß suchte er Dr. Kender im Tierlabor auf und traf ihn beim Zusammenstellen einer neuen Reihe von Medikamentexperimenten an Hunden an.

Kender begrüßte ihn herzlich. »Ziehen Sie sich einen Stuhl herbei, mein Sohn. Anscheinend haben Sie Ihre Feuerprobe überlebt.«

»Nicht ohne mich versengt zu haben«, sagte Adam.

Der ältere Mann zuckte die Achseln. »Sie haben es verdient, sich den Arsch zu verbrennen, aber es war ein Fehler, den die meisten von uns mit Ihrer Unerfahrenheit in Transplantationen begangen hätten. Sie machen sich ausgezeichnet. Zufällig weiß ich, daß Dr. Longwood ein Auge auf Sie hält.«

Adam zitterte innerlich vor Freude und Erleichterung.

»Natürlich würde ich mich nicht darauf verlassen, falls Sie regelmäßig vor die Exituskonferenz zitiert werden«, sagte Kender nachdenklich, während er sich am Ohrläppchen zupfte.

»Das werde ich nicht.«

»Ich glaube es auch nicht. Nun, was kann ich für Sie tun?«

»Ich glaube, es wäre gut, wenn ich etwas über diese Seite der Medaille lerne«, sagte Adam. »Könnte ich mich hier nützlich machen?«

Kender warf ihm einen interessierten Blick zu. »Wenn Sie einmal so lange hiergewesen sind wie ich, werden Sie niemanden ablehnen, der sich freiwillig zur Arbeit meldet.« Er ging zu einem Wandschrank und nahm ein Tablett voll Fläschchen heraus. »Vierzehn neue Medikamente. Wir bekommen sie zu Dutzenden von den Krebsleuten. Auf der ganzen Welt entwickeln die Forscher Chemikalien zur Krebsbekämpfung. Wir haben herausgefunden, daß die meisten Agenzien, die gegen Tumore wirksam sind, auch die Fähigkeit des Körpers, Fremdgewebe abzustoßen oder zu bekämpfen, ausschalten.« Er wählte zwei Bücher von seinem Bücherbord und reichte sie Adam. »Wenn Sie wirklich daran interessiert sind, lesen Sie das hier. Dann schauen Sie wieder herein.«

Drei Abende später war Adam wieder im Tierlabor, diesmal, um Kender bei der Übertragung einer Hundeniere zuzusehen und die beiden Bücher gegen ein drittes einzutauschen. Sein nächster Besuch verzögerte sich wegen seiner Geldgier und der Gelegenheit, seine Freizeit in Wood-borough zu verkaufen. Aber eine Woche später, abends nach Dienstschluß, war er wieder auf dem Weg zum Labor und stieß die alte Tür mit der abgeblätterten Farbe auf.

Kender begrüßte ihn ohne Überraschung, schenkte ihm Kaffee ein und sprach mit ihm über eine neue Reihe von Tierexperimenten, die er beginnen wollte.

»... Meinen Sie, daß Sie das alles verstanden haben?« fragte er schließlich.

»Ja.«

Kender grinste und griff nach seinem Hut. »Prima, pri-missima. Dann gehe ich heim und versetze meiner Frau einen Schock.«

Adam sah ihn an. »Sie wollen, daß ich allein damit anfange?«

»Warum nicht? Ein Medizinstudent namens Kazandjian kommt in einer halben Stunde. Er arbeitet als Techniker hier und weiß, wo alles zu finden ist.« Er nahm ein Heft vom Bücherbord und warf es auf den Schreibtisch. »Machen Sie genaue Aufzeichnungen. Wenn Sie nicht weiter wissen, dann ist hier das ganze Schema skizziert.«

»Prima primissima«, sagte Adam schwach.

Er sank auf einen Stuhl und erinnerte sich, daß er am nächsten Tag in der Unfallstation in Woodborough eingeteilt war.

Als der Medizinstudent eintraf, hatte er das Notizbuch schon studiert und war froh, daß er hier war. Er half Ka-zandjian, eine Hündin namens Harri et für die Operation vorzubereiten, einen Colliebastard mit glänzenden braunen Augen und einem gräßlichen Atem, der ihm mit einer warmen rauhen Zunge die Hand leckte. Am liebsten hätte er einen Knochen gekauft und die Hündin heimlich in das Zimmer im sechsten Stock geschmuggelt, aber er dachte an Susan Garland, stählte sich und betäubte stattdessen den Hund mit einer kräftigen Spritze Pentothal. Er schrubbte ihn ab und machte ihn bereit, genauso wie er es bei einem menschlichen Patienten getan hätte, und wäh-rend Kazandjian einen deutschen Schäferhund, der Wilhelm hieß, vorbereitete, entfernte er bei Harriet eine Niere, später, während Kazandjian Harri ets Niere durchschwemmte, eine bei Wilhelm, und von da an vergaß er, daß es Hunde waren. Die Venen waren Venen und die Arterien Arterien, und er wußte nur, daß er seine erste Nierenübertragung durchführte. Er arbeitete sehr sorgfältig und sauber, und als Harriet endlich eine von Wilhelms Nieren besaß und Wilhelm eine von Harriets, war es fast ein Uhr morgens, aber er spürte Kazandjians stummen Respekt, der ihn mehr freute, als wenn der Student etwas gesagt hätte.

Sie gaben Harriet eine Minimaldosis Imuran, Wilhelm eine Maximaldosis; es war kein neues Mittel - es war dasselbe, das sie bei Susan Garland verwendet hatten -, aber Kender wollte zuerst mit den schon eingeführten Medikamenten experimentieren, um für die kommende Transplantation bei Mrs. Bergstrom gerüstet zu sein. Kazandjian stellte einige intelligente Fragen über Immunounterdrük-kung, und nachdem sie die Hunde in ihre Kotter zurückgebracht hatten, braute der Student Kaffee über einem Bunsenbrenner, während ihm Adam erklärte, daß die Antikörper in dem Organismus des Empfängers wie Verteidigungssoldaten wirken, die so reagieren, als sei das übertragene Gewebe eine einmarschierende Armee, und daß das immunounterdrückende Medikament einen entscheidenden Schlag gegen die Verteidigungskräfte führen sollte, damit diese das fremde Organ nicht abstoßen konnten.

Als er wieder in sein Zimmer kam, war es fast zwei Uhr geworden. Er hätte eigentlich wie ein Klotz ins Bett fallen müssen, aber der Schlaf entzog sich ihm. Das Erlebnis der Transplantation hatte ihn aufgepeitscht, und ein schrecklicher Zwang verfolgte ihn, Arthur Garland anzurufen und sich zu entschuldigen.

Es war vier Uhr vorbei, als er endlich einschlief. Spur-geon Robinsons Wecker weckte ihn um sieben. Er hatte von Susan Garland geträumt.

Viel Spaß zum Ball, Schätzchen.

Um etwa acht Uhr beschloß er, aufzustehen, einen kurzen Lauf und dann eine sehr lange Dusche zu absolvieren, nach seiner Erfahrung beides zusammen fast ein Schlafersatz.

Er zog seinen Turnanzug und die Turnschuhe an, ging hinunter und begann dahinzutraben. Als er um die Ecke zum Negerviertel bog, sah er, daß der kleine Junge bereits aus der Höhle geflohen war, die seine Familie bewohnte.

Der Junge hockte im Rinnstein und siebte Staub. Sein dunkles Gesicht leuchtete auf, als er Adam müde auf sich zutrotten sah.

»Mensch, wer ist hinter dir her?« flüsterte er.

»Das Todeskomitee«, antwortete Adam.

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