5
RAFAEL MEOMARTINO
Die einzigen Geräusche im Büro Rafe Meomartinos waren die Stimme der Frau und das Singen der komprimierten Luft, die wie Blut durch die Rohre kreiste, die an der Dek-ke des kleinen Raumes entlang liefen. Das summende Geräusch erfüllte ihn immer mit dem Gefühl einer unerklärlichen heimwehkranken Euphorie, bis er eines Morgens erkannte, daß es dasselbe Gefühl war, das er in einer anderen Welt, in jenem anderen Leben erlebt hatte, als er auf der Veranda des Klubs saß, El Ganso Oro, der »Goldenen Gans«, eines der Stammlokale seines Bruders am Prado; damals war er zwar von Alkohol betäubt gewesen, aber er hörte doch, wie der heiße kubanische Wind in den Palmen krächzend stöhnte, ähnlich dem Geräusch, das jetzt aus den Heißluftrohren des Krankenhauses kam.
Sie sieht müde aus, dachte er, aber es war nicht nur Müdigkeit, die die Gesichter der beiden Schwestern unterschied; die Frau auf Zimmer zu hatte einen weichen, fast schlaffen Mund, etwas schwächlich vielleicht, aber auch sehr feminin. Der Mund dieser Zwillingsschwester war ... eher weibhaft als weiblich, entschied er. Da war keine Schwäche. Wenn die harten, gemeißelten Züge durch das Make-up hindurch überhaupt etwas ausstrahlten, dann war es die Andeutung einer Sprödigkeit, die wie eine Schutzmaske über dem Gesicht lag.
Während er sie beobachtete, strichen seine Finger über die winzigen Engel, die als Basrelief in die schweren Silberdeckel seiner Taschenuhr, die jetzt vor ihm auf dem Schreibtisch lag, gebosselt waren. Das Spielen mit der Uhr war eine Schwäche, ein nervöser Fetischismus, in den er nur verfiel, wenn er sich in einem Spannungszustand befand; als er es merkte, ließ er davon ab.
»Wo haben wir Sie endlich erwischt?« fragte er.
»Bei Harold in Reno. Ich habe gerade ein vierzehntägiges Engagement beendet.«
»Vor drei Tagen waren Sie in New York. Ich habe Sie abends im Fernsehen in der Sullivan Show gesehen.«
Sie lächelte zum erstenmal. »Nein, dieser Teil der Show wurde schon vor Wochen auf Band aufgenommen. Ich habe gearbeitet und daher nicht einmal Gelegenheit gehabt, es mir selbst anzuschauen.«
»Es war sehr gut«, sagte er wahrheitsgetreu.
»Danke.« Das aufblitzende Lächeln wurde automatisch strahlender und verschwand sofort wieder. »Wie geht's Melanie?«
»Sie braucht eine neue Niere.« Wie Dr. Kender dich schon telephonisch unterrichtete, dachte er, bevor du ihm die Andeutung machtest, daß es wahrscheinlich keine von dir sein würde. »Gedenken Sie eine Zeitlang in Boston zu bleiben?«
Sie erkannte die Bedeutung dieser Frage. »Ich weiß noch nicht. Wenn Sie mich erreichen müssen: ich bin im Sheraton Plaza abgestiegen. Als Margaret Weldon gemeldet«, fügte sie nachträglich hinzu. »Mir wäre es lieber, wenn es nicht bekannt wird, daß Peggy Weld hier ist.«
»Ich verstehe.«
»Warum muß es meine sein?« fragte sie.
»Es muß nicht«, sagte er.
Sie sah ihn an, bemüht, ihre Erleichterung zu verbergen.
»Wir könnten Mrs. Bergstrom eine Niere aus einer Leiche übertragen, aber wir werden keine immunologisch so gut passende wie die Ihre bekommen.«
»Kommt das daher, weil wir Zwillinge sind?«
»Wenn Sie eineiige Zwillinge wären, dann würden Ihre Gewebe voll harmonieren. Aber soviel uns Melanie erzählt hat, sind Sie zweieiige Zwillinge. Wenn das stimmt, dann ist die Sache schon nicht mehr so vollkommen, aber Ihre Gewebe würden vom Körper Ihrer Schwester bereitwilliger angenommen werden als irgendein anderes, das wir finden könnten.« Er zuckte die Achseln. »Sie hätte damit eine größere Chance.«
»Ein Mädchen hat nur zwei Nieren«, sagte sie.
»Nicht jedes Mädchen.«
Sie schwieg. Dann schlug sie die Augen auf und sah ihn an.
»Man braucht nur eine Niere zum Leben. Viele Leute sind bloß mit einer Niere geboren worden und haben doch ein hohes Alter erreicht.«
»Und einige Leute haben eine Niere gespendet, und dann ist mit der anderen etwas schiefgegangen. Und sie sind gestorben«, sagte sie ruhig. »Ich habe das Meine getan.«
»Stimmt«, gab er zu.
Sie nahm eine Zigarette aus der Handtasche und zündete sie geistesabwesend selbst an, noch bevor er eine Bewegung machen konnte.
»Wir können die Risiken nicht verkleinern. Wir dürfen Sie in moralischer Hinsicht gar nicht dazu drängen. Es ist eine absolut persönliche Entscheidung.«
»Es ist sehr viel mit hineinverwickelt«, sagte sie müde. »Ich soll an die Westküste fahren, um einen Film über die große Zeit des Jazz zu machen. Es ist die Chance, auf die ich immer gewartet habe.«
Diesmal schwieg er.
»Sie verstehen nicht, wie das zwischen manchen Schwestern ist«, sagte sie. »Ich habe gestern abend im Flugzeug viel darüber nachgedacht.« Sie lächelte freudlos. »Ich bin die Ältere, wußten Sie das?«
Er lächelte ungläubig.
»Um zehn Minuten. Nach dem Getue meiner Mutter könnte man meinen, es seien zehn Jahre. Melanie war die Babypuppe mit dem hübschen Namen, und Margaret war die verläßliche ältere Schwester. Unser ganzes Leben lang war ich diejenige, die sich um sie kümmern mußte. Seit unserem sechzehnten Lebensjahr sangen wir in Kneipen, wo wir uns fürchteten, die Toilette zu benützen, und ich mußte sie überwachen, daß sie es hinter dem Podium nicht mit irgendeinem lausigen Trompeter trieb. So ging das sechs Jahre lang. Aber nach einer guten Saison mit Leonard Rathbones Fernsehshow begannen wir Erfolg zu haben, wurden für Blinstrub gebucht, und unser Agent stellte Melly seinem Bostoner Vetter vor. Und das war das Ende der Weldon-Zwillinge.«
Sie stand auf, ging zum Fenster und starrte auf den Parkplatz hinaus. »Ich habe mich für sie gefreut. Ihr Mann ist ein netter, anständiger Junge. Hochschulabsolvent, der recht gut verdient. Er behandelt sie wie eine Königin. Mir lag nichts an unserem gemeinsamen Auftreten. Ich habe wieder ganz von vorn angefangen, allein, als eigene Nummer.«
»Sie haben viel Erfolg gehabt«, sagte Meomartino.
»Von dem habe ich mir jedes bißchen selbst verdient. Es bedeutete, wieder ganz unten anzufangen, in den gleichen öden obskuren Lokalen, immer unterwegs. Es bedeutete, jeden Sommer mit der USO in Grönland und Vietnam und Korea und Deutschland und wer weiß wo noch überall auf Tournee zu sein, in der Hoffnung, daß mich jemand Wichtiger sehen würde. Es bedeutete auch vieles andere.« Sie sah ihn kühl an. »Sie sind Arzt, für Sie dürfte es nichts Neues sein, daß auch eine Frau ein Sexleben braucht.«
»Nichts sehr Neues.«
»Nun, es bedeutete auch viele schreckliche Affären einer einzigen Nacht, weil ich nie lange genug an einem Ort blieb, um eine echte Beziehung entwickeln zu können.«
Er nickte, wie immer empfänglich für aufrichtige Frauen.
»Schließlich hatte ich Glück und machte ein paar Platten mit Novitäten, die die kleinen Dummköpfe alle kaufen. Aber wer weiß, was für Platten sie nächstes Jahr oder vielleicht schon nächsten Monat kaufen? Mein Agent erzählt allen, ich sei sechsundzwanzig, aber ich bin dreiunddreißig.«
»Das ist kaum alt zu nennen.«
»Es ist alt, wenn man seinen ersten Film macht. Und es ist zu alt, wenn man zum erstenmal groß im Fernsehen und in den Klubs herauskommt. Dieser Erfolg hätte mir zehn Jahre früher beschieden sein sollen. Es wird immer schwieriger, die Figur zu halten, und in ein paar Jahren habe ich einen faltigen Hals. Wenn ich nicht jetzt ganz hart anziehe, ist alles vorbei. Sie verlangen daher von mir, ihr nicht nur eine Niere zu schenken. Sie verlangen von mir, ihr mehr zu geben, als ich ihr je wieder geben will.«
»Ich verlange nicht, daß Sie ihr überhaupt etwas geben«, sagte Meomartino.
Sie drückte ihre Zigarette aus. »Nun, dann tun Sie es bitte wirklich nicht. Ich muß mein eigenes Leben führen.«
»Möchten Sie sie sehen?«
Sie nickte.
Ihre Schwester schlief, als sie ihr Zimmer betraten.
»Wecken wir sie lieber nicht«, sagte Meomartino.
»Ich werde nur hier sitzen und warten.«
Aber Melanie öffnete die Augen. »Peg«, sagte sie.
»Hallo, Mellie.« Sie beugte sich über sie und küßte sie. »Wie geht's Ted?«
»Fein. Wie wunderbar, aufzuwachen, und du bist da.«
»Und den beiden kleinen Schweden?«
»Sie sind bezaubernd. Sie haben die Sullivan Show gesehen. He, du, die war so gut, ich war ganz stolz.« Sie blickte zu ihrer Schwester hoch und setzte sich im Bett auf. »Ah, nein, Peg. Nicht.«
Sie nahm ihre Zwillingsschwester in die Arme und streichelte ihren Kopf. »Bitte, Peggy. Peggy, Liebling, tu's nicht ...«
Rafe ging in sein Büro zurück. Er saß an seinem Schreibtisch und versuchte, schriftliche Arbeiten loszuwerden.
Sie verstehen nicht, wie das zwischen manchen Schwestern ist.
Aber ich weiß, wie es zwischen manchen Brüdern ist, dachte er.
Die Heißluft in den Rohren stöhnte. Unwillkürlich griff seine Hand nach der Taschenuhr, nervös berührten seine Finger die gebosselten Engel auf dem angelaufenen Silberdeckel, bis er die Uhr aufklappte und durch die altmodische Glasscheibe mit den römischen Ziffern in Ereignisse hineinstarrte, an die er sich nie mehr erinnern wollte.
Der Grundstein der brüderlichen Beziehung war gelegt worden, als Rafael fünf und Guillermo sieben Jahre alt war.
Leo, das Familienfaktotum - ein großes, watschelndes Menschentier, das Rafe liebte -, versuchte es ihm eines Tages zu erklären, als er Rafael eben dabei erwischt hatte, wie er mit Papierflügeln, die ihm Guillermo an die Schultern gebunden hatte, aus dem Fenster springen wollte.
»Er wird dein Ruin sein, dieser kleine Hurensohn, möge deine Mutter mir verzeihen«, sagte Leo und spuckte durch das offene Fenster. »Höre nie auf ihn, denk daran, was ich dir sage.«
Aber es war immer so interessant, Guillermo zuzuhören.
Wochen später sagte Guillermo: »Ich hab' was.«
»Laß es mich sehen.«
»Es ist ein Ort.«
»Nimm mich mit.«
»Es ist ein Ort für große Jungen. Du pißt noch immer in die Hose.«
»Nein«, sagte Rafael hitzig und fürchtete, daß er weinen würde, weil er genau in dieser Minute das leise Ziehen in seiner Leistengegend spürte und sich erinnerte, daß er erst vor drei Tagen das Badezimmer nicht rechtzeitig erreicht hatte.
»Es ist ein wunderbarer Ort. Aber ich glaube nicht, daß du schon groß genug bist, um dich mitnehmen zu können. Wenn du dort in die Hose machst, wird dich die alte Hexe holen. Sie kann sich in jedes Tier verwandeln, in das sie will. Und dann heißt's Addio.«
»Du hältst mich zum Narren.«
»Nein. Aber es ist ein großartiger Ort.«
Rafael schwieg. »Hast du sie gesehen?« fragte er schließlich.
Guillermo starrte ihn düster an. »Ich mach' nie in die Hose.«
Sie spielten und wanderten nach einer Weile in das Elternzimmer. Guillermo stellte sich auf das Bett, um die oberste Lade der Kommode zu erreichen, und nahm die rote Samtschachtel heraus, in die der Vater allabendlich die Uhr legte und aus der er sie jeden Morgen holte.
Er öffnete und schloß sie mit einem Knall, öffnete und schloß sie wieder, ein befriedigendes Geräusch.
»Du wirst bestraft«, sagte Rafael.
Guillermo gab ein rüdes Geräusch von sich. »Ich darf sie anfassen, weil sie mir gehören wird.« Die Uhr wurde jeweils an den ältesten Sohn weitergegeben, hatte man den Jungen erklärt. Dennoch legte er sie in die Lade zurück und schlenderte in sein Zimmer zurück, Rafael im Schlepptau.
»Nimm mich mit, Guillermo. Bitte.«
»Was schenkst du mir dafür?«
Rafael zuckte die Achseln. Sein Bruder wählte die drei Spielsachen, von denen er wußte, daß sie dem Herzen des kleinen Jungen am nächsten standen, einen roten Soldaten, ein Bilderbuch über einen traurigen Clown, einen Teddybären namens Fabio, bucklig, weil Rafael ihn immer so krampfhaft an sich drückte, wenn er nachts mit ihm schlief.
»Nicht den Bär.«
Guillermo warf ihm einen eiskalten Blick zu und willigte dann ein.
Am selben Nachmittag, als man meinte, daß sie ihr Schläfchen hielten, führte ihn Guillermo durch den Wald mit den verkrüppelten Tannen hinter dem Haus. Sie brauchten zehn Minuten über den alten gewundenen Pfad, um die kleine Lichtung zu erreichen. Die Räucherkammer war ein großer fensterloser Kasten. Die rohen Balken waren von der Sonne gebleicht und vom Regen silbergrau geworden.
Innen war Nacht.
»Geh voraus«, drängte Guillermo. »Ich gehe direkt hinter dir.«
Aber als Rafe eintrat und die Welt des Lichts und Grüns verließ, fiel hinter ihm die Tür zu, und der Riegel wurde mit einem Klicken zugeworfen.
Rafe plärrte.
Gleich darauf hörte er auf.
»Guillermo«, sagte er dann mit einem glucksenden Lachen, »halt mich nicht zum Narren.«
Ob er die Augen öffnete oder schloß, sie waren erfüllt von Licht. Purpurschatten schwangen an ihm vorbei, auf ihn zu, durch ihn hindurch, Formen, die er nicht erkennen wollte, die Farbe des Bluts von dem großen Schwein, das hier gehangen hatte. Sein Vater hatte ihn ein paarmal zum Schlachten mitgenommen. Er erinnerte sich an die Gerüche und das Blut und das Grunzen, an das wilde Augenrollen.
»Guillermo«, schrie er keuchend, »du kannst Fabio haben.«
Die Stille war schwarz.
Weinend warf er sich vorwärts und stieß unerwartet an die nicht sichtbare Wand, die er erst einige Fuß weiter vermutet hatte. Anstelle seiner Nase war nichts als ein großer Schmerz. Als die Knie unter ihm nachgaben, riß ein vorstehender Nagel seine weiche Wange auf, knapp an seinem rechten Auge vorbei. Auf seinem Gesicht war etwas Nasses, das weh tat, so weh, und in seinem Mundwinkel sammelte sich Salz.
Als er auf den kühlen harten Lehmboden sank, spürte er eine sich ausbreitende weiche Wärme, ein gräßliches Hinunterrieseln an der Innenseite seiner Schenkel.
In der dunklen Ecke raschelten Blätter, und etwas Kleines hastete davon.
»Ich will ein großer Junge sein, ich will ein großer Junge sein«, kreischte Rafael.
Fünf Stunden später, als man auf der Suche nach ihm, seinen Namen schreiend, immer wieder an ihm vorbeigegangen war, hatte jemand - das Faktotum Leo - die Idee, die Tür der Räucherkammer zu öffnen und hineinzuschauen.
In dieser Nacht, beruhigt, behutsam gewaschen, die Rißwunde im Gesicht vernäht und mit grotesker, aber versorgter Nase, schlief er in den Armen seiner Mutter ein.
Leo hatte berichtet, daß die Räucherkammer von außen verriegelt gewesen war. Im Bett des Kindräubers entdeckte man Fabio. Guillermo beichtete und wurde gebührend verprügelt. Am nächsten Morgen fand er sich bei seinem Bruder ein und brachte eine beredte und bußfertige Entschuldigung vor. Zur Verblüffung der Eltern spielten die beiden Knaben zehn Minuten später wieder miteinander, und Rafael lachte zum erstenmal seit vierundzwanzig Stunden.
Aber sein Intelligenzquotient betrug 147, und selbst im Alter von fünf Jahren war er schon klug genug, um zu wissen, daß er etwas gelernt hatte.
Sein Leben wurde davon geformt, daß er seinem Bruder auswich.
Die Männer der Meomartinos pflegten im Ausland zu studieren; als Guillermo sich entschieden hatte, an die
Sorbonne zu gehen, wurde Rafael ein Jahr später Student an der Harvard Universität.
Vier angenehme Jahre lang wohnte er mit einem Jungen aus Portland, Maine, zusammen, George Hamilton Cur-rier, dem derbknochigen Erben einer Konservenfabrik für gebackene Bohnen, deren Produkte als Grundvorrat in drei von zehn amerikanischen Küchenschränken standen. »Beany« Currier verlieh ihm seinen ersten und einzigen Spitznamen - Rafe - und setzte ihm ständig seine Ansichten über die Herrlichkeiten der medizinischen Laufbahn auseinander. Guillermo hatte beschlossen, an der Universität von Kalifornien Jus zu studieren - es war Tradition bei den Männern der Meomartinos, sich für einen Intelligenzberuf zu entscheiden, wenn sie auch später ihr Leben damit verbrachten, sich den Zuckerinteressen der Familie zu widmen, und als Rafe Cambridge als Zweitbester verließ, entschloß er sich nach genauer Überlegung, in Kuba Medizin zu studieren. Sein Vater war einige Jahre zuvor einem Schlaganfall erlegen. Die Welt seiner Mutter, die immer um das milde Feuer ihres Gatten gekreist war, erhielt ihre Stabilität durch eine ähnliche Kreisbahn um ihren Jüngsten. Sie war eine schöne Frau mit einem süßen, aber gequälten Lächeln, eine altmodische kubanische Dame, deren lange schlanke Hände leicht und geschickt Frivolitätenspitze zauberten, die aber doch so modern war, um abstrakte Kunst zu sammeln und sofort zum Hausarzt der Familie zu gehen, als sie schließlich den Knoten in ihrer rechten Brust entdeckte. Das schreckliche Wort wurde in ihrer Gegenwart nie ausgesprochen. Die Brust wurde eilig und unter besänftigenden Worten entfernt.
Rafes Jahre an der Facultad de Medicina de la Universi-dad de la Habana waren schön, so wie sie nur einmal im Leben kommen, zusammengesetzt aus Jugend und Unsterblichkeit und Sicherheit in allem, woran er glaubte.
Von Anfang an war der Krankenhausgeruch für ihn berauschender als die ekelerregende Süße des Preßrückstands von Zuckerrohr. Es war ein Mädchen da, eine Kommilitonin, Paula, klein und dunkel und warm, mit leicht vorstehenden Zähnen, mit nicht ganz vollkommenen Beinen, aber mit einem birnenförmigen Gesäß und einer Wohnung in der Nähe der Universität und einer absolut klinischen Verläßlichkeit in Sachen Geburtenkontrolle. Wurde Bati-sta erwähnt, sah sie finster drein und verlor alles Interesse, daher ließ er es, Batista zu erwähnen - kaum ein Problem. Es gab Zeiten, da er in ihre Wohnung kam und eine kleine Gruppe, nie mehr als ein halbes Dutzend schnell redender Männer und Frauen, antraf, die seltsam verstummte, wenn er in das Zimmer trat, das er dann sofort, ohne verstimmt zu sein, verließ.
Er kümmerte sich nicht um die Fädchen, die Paula in den geheimen Zusammenkünften ohne ihn spann; es verlieh dem Gewürz Paula nur ein zusätzliches Ingrediens. Was die Zusammenkünfte selbst betraf, so hatte es in Kuba immer geheime Treffen gegeben, wer regte sich schon über Zusammenkünfte auf? Über Zukünftiges, das nie kam, zu träumen und zu planen, gehörte genauso zu der Atmosphäre wie die Sonne, die Liebenden auf dem Gras, das Handballspiel jai alai, wie Hahnenkämpfe, wie die geheimnisvollen Flecken auf den Marmorgehsteigen des Prado, wenn man auf die dunkelblauen Beeren trat, die von den niedrig gestutzten Bäumen fielen. Er kümmerte sich um seine eigenen Angelegenheiten, und niemand nahm sich die Mühe, ihn zu Zusammenkünften einzuladen, da er ein Meomartino war, einer Familie angehörte, welche die jeweiligen Machthaber bereicherte, mochte auch die Regierung unvermeidlicherweise und periodisch wechseln.
Guillermo kehrte heim, als Rafael sein letztes Jahr an der medizinischen Fakultät absolvierte, das Jahr als Spitalsarzt am Hospital Universitario General Calixto Garcia. Guillermo hängte sein Jus-Diplom an die Wand eines Büros in der Zuckerfabrik und verbrachte seine Zeit damit, so zu tun, als zeichnete er Tabellen, die das Verhältnis zwischen Zuckerrohr, braunem Rohzucker und Sirup zeigten. Die Feder in seiner Hand schwankte oft dank einer leidenschaftlichen Vorliebe für doppelt und dreifach destillierte Getränke, einheimische und importierte. Rafael sah ihn selten, da seine Spitalspraxis seine ganze Zeit beanspruchte und die Tage in der Hitze des Gefechts mit zusätzlicher Arbeit, zu vielen Kranken und zu wenig Ärzten dahin-schmolzen.
Zwei Tage nach seiner Graduierung zum Doctor en Me-dicina kam Erneida Pesca auf Besuch. Der Bruder seiner Mutter war ein großer hagerer Mann mit militärischem Gehaben, einem grauen, aber gefärbten Schnurrbart in einem faltigen, eingefallenen Gesicht und einer Vorliebe für Partagas-Zigarren und gut gebügelten, weißen Leinenanzügen. Er nahm seinen Panamahut ab, enthüllte seine blaugraue Mähne, seufzte, verlangte einen Drink - worunter er Rum verstand - und sah mißbilligend zu, als sich sein Neffe einen Scotch einschenkte.
»Wann trittst du in die Firma ein?« fragte er schließlich.
»Ich dachte«, sagte Rafael, »mich vielleicht der Medizin zu widmen.«
Erneido seufzte. »Dein Bruder«, sagte er, »ist ein Narr und ein liederlicher Schwächling. Vielleicht Schlimmeres.«
»Ich weiß.«
»Dann mußt du in die Firma eintreten. Ich werde nicht ewig leben.«
Sie stritten leise, aber hitzig.
Schließlich kam es zu einem Kompromiß. Er würde das Büro neben Guillermo in der Zuckerfabrik bekommen. Er würde auch ein Laboratorium an der medizinischen Fakultät erhalten, Erneido würde dafür sorgen. Drei Tage der Woche in der Fabrik, zwei Tage der Woche an der Medizinischen Fakultät; soweit war Erneido als Familienoberhaupt und Nachfolger von Rafes Vater bereit, nachzugeben.
Resigniert stimmte Rafe zu. Es war mehr, als er erhofft hatte.
Der Dekan, ein in akademischen Diensten ergrauter Veteran mit einer Begabung im Auftreiben von Stiftungsgeldern, führte ihn persönlich in das große, aber schäbige Laboratorium mit einer Ausstattung, die für drei Forscher gereicht hätte, und das Rafe zusammen mit dem Titel eines wissenschaftlichen Assistenten als Geschenk erhielt.
Als er Paula das Labor zeigte, war er stolz wie ein kleiner Junge auf ein neues Spielzeug. Sie sah ihn verwundert und amüsiert an. »Du hast nie etwas von Forschung gesagt«, sagte sie. »Woher dieses plötzliche Interesse?« Sie hatte eine Stellung beim Gesundheitsdienst der Regierung angenommen und war im Begriff, wegzufahren und Gesundheitsbeamtin in einem kleinen Bergdorf in der Provinz Oriente in der Sierra Maestra zu werden.
Weil ich bis zum Arsch in Preßrückständen von Zuckerrohr stecke, weil ich nicht in Zucker ertrinken will, dachte er. »Forschung ist notwendig«, sagte er und überzeugte damit weder sich noch sie.
Im Laboratorium nebenan saß ein Dr. phil. und Biochemiker, Rivkind, der aus dem Staat Ohio dank einem kleinen Stipendium der Krebs-Foundation nach Kuba gekommen war. Der Grund seiner Anwesenheit hier war, wie er Rafael gestand, daß man in Havanna billiger als in Columbus lebte. Das einzige Mal, daß Rivkind ein Gespräch begann, war eine bittere Klage, daß ihm die Uni-versität keine lausige 270-Dollar-Zentrifuge kaufen wollte. Rafe besaß eine in seinem neuen Labor, schämte sich jedoch, es zu erwähnen. Sie freundeten sich nicht an. Jedesmal, wenn Rafe in Rivkinds enge, überfüllte Koje kam, schien der Amerikaner zu arbeiten.
Verzweifelt beschloß er, selbst zu arbeiten.
Er begann zu schreiben und verfaßte eine Liste.
Leptospirose, ein gemeiner kleiner Kerl.
Lepra, ein zerlumpter Bettler.
Gelbsucht, ein gelber Bastard.
Malaria, etwas zum Schwitzen.
Andere fieberhafte Krankheiten, viele heiße Probleme.
Elephantiasis, ein einziges großes Problem.
Dysenterie-ähnliche Krankheiten, ein Haufen
Scheiße.
Tuberkulose, können wir ihr einen Tritt geben?
Parasiten, leben von der Substanz.
Er trug die Liste tagelang gefaltet in der Tasche und zog sie immer wieder heraus, um sie zu lesen, bis sie zerfetzt und reif zur Vernichtung war.
Auf welches Problem sollte er sich zuerst konzentrieren?
Er begann zu lesen. Aus der Bibliothek holte er ganze Stapel von Büchern, saß jede Woche Montag und Dienstag mitten unter ihnen in seinem Privatlaboratorium, las und machte sich ausführliche Notizen, deren einige er sogar zu retten vermochte. Mittwoch, Donnerstag und Freitag ging er in sein Büro in der Zuckerfabrik und sammelte andere Literatur, Pythium Root Rot and Smut in Sugar Ca-ne, The Genesis and Prevention of Chlorotic Streak, Marktberichte, Traktate des U. S.-Landwirtschaftsmini-steriums, Verkaufsberichte, vertrauliche Memoranden, eine ganze Zuckerbibliothek, die Onkel Erneido liebevoll für ihn zusammentrug. Die las er allerdings mit geringerem Interesse. Ab der dritten Woche ignorierte er die Zuk-kerliteratur, brachte in der Aktentasche ein medizinisches Buch in das Büro der Zuckerfabrik und las es wie ein Dieb bei versperrter Tür.
Oft ließ sich am späten Nachmittag ein zaghaftes Kratzen an der Tür hören. »Psst. Gehen wir doch heute abend aus und versuchen wir unser Glück«, sagte dann Guillermo mit einer schon vom Whisky heiseren Stimme. Es war eine Einladung, die er oft vorbrachte, eine, die Rafe mit, wie er hoffte, brüderlicher Liebenswürdigkeit ablehnte. Hätte Pasteur die Mikrobiologie begründen, hätte Semmelweis das Wochenbettfieber bremsen, hätte Hippokrates den verfluchten Eid schreiben können, wenn sie sich die ganze Zeit gedrückt hätten, um mit Weibern zu schlafen? Er verbrachte seine Abende im Laboratorium, trödelte herum, zerbrach Glasretorten, züchtete Schimmelpilze, betrachtete im Mikroskopspiegel seine Wimpern.
Eines Nachmittags kam Paula aus dem kleinen Dorf in der Sierra Maestra, wo sie als Gesundheitsbeamtin eingesetzt war, nach Havanna.
»Woran arbeitest du?« fragte sie.
»Lepra«, sagte er in plötzlichem Entschluß.
Sie lächelte skeptisch. »Ich werde lange nicht mehr nach Havanna kommen«, sagte sie.
Er verstand, daß sie ihm Lebewohl sagte. »Gibt es dort so viele Kranke, die auf dich angewiesen sind?« Der Gedanke erfüllte ihn mit Neid.
»Das ist nicht der Grund. Es ist etwas Persönliches.«
Etwas Persönliches? Was war bei ihr persönlich? Sie erörterten ihre Monatsregel wie Baseballpunkte. Das einzige
Persönliche in ihrem Leben war Politik. Fidel Castro steckte irgendwo in jenen Bergen und veranstaltete in regelmäßigen Abständen einen Wirbel. »Bring dich nicht in Schwierigkeiten«, sagte er, streckte die Hand aus und berührte ihr Haar.
»Läge dir etwas daran?« Überraschenderweise standen Tränen in ihren Augen.
»Natürlich«, sagte er. Zwei Tage später war sie aus seinem Leben verschwunden. Er sollte erst wieder an sie denken, als er ihre Stimme - zum letztenmal - hörte.
Da er ihr erzählt hatte, daß er über Lepra arbeite, studierte er eifrig den Index Medicus, stellte lange Listen von Quellenmaterial auf, holte weitere Berge von Zeitschriften aus der Bibliothek, um noch mehr zu lesen.
Es führte zu nichts.
Er saß einfach in seinem kostspieligen Labor, sah zu, wie Stäubchen in dem Sonnenstrahl schwebten, der durch die leicht verschmutzten Fenster hereinfiel, und versuchte, ein Forschungsprogramm aufzustellen.
Wäre er fähig gewesen, sich etwas Böses auszudenken, hätte er auch nicht verschreckter sein können.
Es kam überhaupt nichts dabei heraus.
Schließlich schob er alle Angst von sich. Er sah sein Spiegelbild an, kritisch, aber aufrichtig, und gestand sich zum erstenmal ein, daß dieser Mensch, den er da sah, kein Forscher war.
Den Korridor auf und ab und über drei Stockwerke, manchmal fast laufend, verschenkte er, wie ein kubanischer Weihnachtsmann der modernen Medizin, alle kleineren tragbaren Ausrüstungsgegenstände, alle Retorten, alle die schönen unbenutzten Chemikalien. Er nahm die
Zentrifuge und trug sie in das kleine Labor Rivkinds. Das Mikroskop - ein nützlicher Gegenstand für die öffentliche Gesundheitsfürsorge? - packte er sorgfältig ein und sandte es an Paula in die wilden Berge, wo sie eine wirkliche Ärztin war. Dann hinterließ er seinen Schlüssel und einen kurzen, aber dankbaren Brief mit der Mitteilung seines Rücktritts im Briefkasten des Dekans, verließ das Gebäude, und sein Herz ließ, fast sichtbar, große schmerzliche Tropfen zurück.
Das war es also.
Er war kein medizinischer Forscher.
Er würde den Genen seines Vaters gehorchen und ein Zuckermensch werden.
Er ging täglich in das Büro im central.
Zu Onkel Erneidos Linker (Guillermo zu dessen Rechter) wohnte er Verkaufsberatungen bei, Produktionssitzungen, Beratungen über die Besetzung wichtiger Posten und der Entlassung wichtiger Angestellter, Programmsitzungen, Transportkonferenzen.
Kein großer, zu schnell aufgeschossener kleiner Junge mehr, der Wissenschaftler spielte.
Jetzt war er ein großer aufgeschossener kleiner Junge, der Geschäftsmann spielte.
Jeden Abend, wenn er das Büro verließ, ging er, wie verabredet, in eines der verschiedenen Sauflokale, wo kurz darauf Guillermo mit den Frauen aufzutauchen pflegte, meist Halbberuflichen, manchmal aber auch nicht, quasi als Appetitanreger; wenn sie durch den Raum auf Rafe zugingen, versuchte er zu erraten, was sie waren, irrte sich aber oft. Von einem Paar, das er als Callgirls eingestuft hatte, stellte sich heraus, daß es zwei Lehrerinnen aus Flint in Michigan waren, die bei allem Schuldbewußtsein doch ihrem Bedürfnis nachgaben, sich nützlich zu fühlen.
Guillermo war, wie Rafe bald erkannte, auch in diesen Angelegenheiten nur zweitklassig. Sie besuchten banalverruchte Lokale, Suchtgifthöhlen, Sex-Bumsen, Klischees, die beschlagene und klügere Habaneros als Fallen für verlegene Yankeetouristen und Hemingway-Sucher verächtlich abtaten. Er erkannte, daß er einer aufgedunsenen Zukunft zutrieb. Er sah sich, wie er in zehn Jahren trübäugig und gleichgültig an einer Zuckerwarze saugte und mit Guillermo in den Bars am Prado dreckige Geschichten austauschte. Trotzdem fühlte er sich seltsam machtlos, sich aus diesem Sumpf zu ziehen, als sei er eine Hindufigur, die gegen ihren Willen in einem obszönen Steinfries erstarrt war und den Bildhauer verfluchte.
Später bestand für ihn kein Zweifel, daß ihn Fidel Castro gerettet hatte.
Einige Tage blieben alle in ihren Häusern. Da und dort kam es zu Zerstörung und Plünderung im Namen der Gerechtigkeit, wie etwa dem Deauville-Kasino, wo Batista mit amerikanischen Spielern die Einnahmen geteilt hatte.
Überall waren Castroleute in allen möglichen schmutzigen Kleidern. Ihre Uniformen bestanden aus rotschwarzen Armbinden, 26 de Julio, geladenen Gewehren und Bärten, wodurch einige Christus, andere aber nur Ziegen ähnelten. Im Sportpalast von Havanna begannen die Hinrichtungskommandos mit ihrer Arbeit, die täglich fortgesetzt wurde, manchmal schon morgens.
Als Rafe eines Nachmittags in dem fast verlassenen Jok-key-Klub saß, wurde er ans Telephon gerufen. Er hatte niemandem gesagt, wohin er gegangen war. Jemand muß mir gefolgt sein, dachte er.
»Hallo?«
Die Frau am anderen Ende der Leitung nannte sich »eine Freundin«. Er erkannte Paulas Stimme sofort.
»Diese Woche ist gut zum Verreisen.«
Kleine Kinder, die Theater spielen, dachte er, aber unwillkürlich fühlte er den weichen Kuß der Angst. Was hatte sie erfahren?
»Meine Familie?«
»Auch. Es sollte eine lange Reise werden.«
»Wer spricht?« fragte er barmherzig.
»Stellen Sie keine Fragen. Noch etwas. Ihr Telephon daheim und im Büro wird überwacht.«
»Haben Sie das Mikroskop bekommen?« fragte er und machte Schluß mit der Barmherzigkeit.
Jetzt weinte sie, trocken und schmerzlich, als sie zu sprechen versuchte.
»Ich liebe dich«, sagte er und haßte sich dafür.
»Lügner.«
»Nein«, log er.
Das Telephon verstummte plötzlich. Er stand mit dem Hörer in der Hand da, ein Gefühl der Lähmung und der Dankbarkeit erfaßte ihn zugleich, und er fragte sich, was er sich wohl hatte entgehen lassen, als er sie so sorgsam von seinen Problemen ferngehalten hatte. Dann legte er den Hörer auf und eilte zu seinem Onkel.
Sie schliefen nicht in jener Nacht. Den Boden, die Gebäude, die Maschinen, die langen guten Jahre konnten sie nicht mitnehmen. Wohl aber waren Wertsachen vorhanden, Juwelen, die kostbarsten Gemälde seiner Mutter sowie Geld auf der Bank. Vom Standpunkt der Meomarti-nos aus gesehen würden sie arm sein; an den gängigen
Maßstäben gemessen würden sie noch immer wohlhabend sein.
Das Schiff, das Erneido besorgte, war kein Fischerboot. Es war eine Motorbarkasse, eine siebzehn Meter lange Chris-Craft 320 mit Zwillingsdieselmotoren der General Motors, einer Luxuskabine, einem mit Teppichen ausgelegten Salon und einer Küche; ein schnelles, komfortables Boot, als Hobby für reiche Leute gebaut. Als sie in der darauffolgenden Nacht in Matanzas ablegten, gab er seiner Mutter 0,16 Gramm Nembutal. Sie schlief fest.
Seine Mutter und er blieben nur zehn Tage in Miami. Guillermo und Onkel Erneido richteten sich ein Wohn-und Hauptquartier in zwei Zimmern des Holiday Inn ein und entwarfen einen juristischen Feldzugsplan, von dem sie hofften, daß er ihnen irgendwie die Besitzungen der Familie Meomartino in absentia erhalten würde. Sie betrachteten Rafes Entschluß, in den Norden zu gehen, als vorübergehende Geistesverwirrung.
Seine Mutter genoß die Eisenbahnfahrt nach Boston mit dem East Coast Champion sehr. Sie fuhren durch die eiskalte Frühlingsluft New Englands direkt zum Ritz.
Einige Wochen lang spielten sie Touristen und trieben sich in den Welten Paul Reveres und George Apleys herum. Die Kräfte seiner Mutter verrieselten wie Sägemehl aus einer zerrissenen Puppe. Als sie ständig erhöhte Temperatur aufzuweisen begann, fand er einen berühmten Krebsarzt im Massachusetts General Hospital und blieb bei ihr, bis das Fieber verschwunden war. Dann nahm er seine rastlose Suche - wonach? - ohne sie wieder auf.
Es war ein kühler, grausamer März. Die Flieder- und Magnolienbüsche an der Commonwealth Avenue hatte noch feste harte Knospen, braun und schwarz, aber in dem öffentlichen Park gegenüber dem Ritz setzten Beete mit Glashaustulpen Farbkleckse auf den noch schlafenden Rasen.
Er fuhr die kurze Strecke nach Cambridge, ging im Yard auf und ab, betrachtete die rosenwangigen Studenten, von denen einige Castrobärte trugen, studierte die robusten, nüchternen Studentinnen des Radcliffe-College mit ihren Büchersäcken aus grünem Filz und fühlte sich nicht wieder zu Hause.
Er traf sich einmal mit Beany Currier, nunmehr Facharztanwärter für Pädiatrie im zweiten Jahr am Bostoner Floating Hospital for Infants and Children. Durch Beany lernte er andere junge Spitalsärzte kennen, trank mit ihnen Bier bei Jake Wirth und hörte ihnen zu. Eines Morgens erkannte er glücklich, daß die Medizin für ihn doch nicht erledigt war. Er begann das Gebiet aus einer neuen Perspektive zu betrachten, langsam und sorgfältig, und Krankenhäuser und chirurgische Abteilungen zu studieren. Er verbrachte ganze Abende damit, durch die Gänge des Massachusetts General zu wandern, des Peter Bent Brigham, Varney, Beth Israel, Boston City, des New England Medical Center. In dem Augenblick, in dem er das Suffolk County General Hospital erblickte, spürte er ein seltsames Flattern im Bauch, als hätte er eben ein begehrenswertes Mädchen erblickt. Es war ein großes altes Ungeheuer von einem Krankenhaus, vollgestopft mit Armen. Seine Mutter hätte er nicht hierher geschickt, aber er wußte, daß es ein Haus war, in dem er die Chirurgie mit einem Skalpell in der Hand erlernen würde. Es zog ihn an, und die Geräusche und Gerüche, die zu ihm herausdrangen, erwärmten ihm das Blut.
Dr. Longwood, der Chef der Chirurgie, war alles andere als herzlich. »Ich weiß nicht, ob ich Ihr Ansuchen ermutigen kann«, sagte er.
»Warum nicht?«
»Lassen Sie mich offen sein, Doktor«, sagte Longwood mit einem kalten Lächeln. »Ich habe sowohl persönliche wie berufliche Gründe, Ärzten, die im Ausland geschult wurden, zu mißtrauen.«
»Ihre persönlichen Gründe gehen mich nichts an«, sagte Rafe vorsichtig. »Aber würde es Ihnen etwas ausmachen, mir Ihre beruflichen zu verraten?«
»Wie alle Krankenhäuser im Land haben auch wir Schwierigkeiten mit ausländischen Hausärzten gehabt.«
»Was für Schwierigkeiten?«
»Wir haben gierig nach ihnen gegriffen, um das Problem unseres Ärztemangels zu lösen. Und wir haben entdecken müssen, daß manche nicht einmal eine Krankengeschichte aufnehmen können. Oft können sie zu wenig Englisch, um überhaupt zu verstehen, was in Notfällen zu geschehen hat.«
»Ich glaube, Sie werden sehen, daß ich eine Krankengeschichte aufnehmen kann. Englisch beherrschte ich von Kindheit an, noch bevor ich Harvard besuchte«, sagte er und bemerkte Dr. Longwoods eigenes Harvarddiplom an der Wand.
»Die Schulen im Ausland behandeln die gleichen breiten Gebiete nicht mit der Gründlichkeit amerikanischer Fakultäten.«
»Ich weiß nicht, wie das in Zukunft sein wird, aber meine medizinische Fakultät wurde in diesem Land immer anerkannt. Sie hat eine berühmte Tradition.«
»Sie würden hier die Spitalspraxis wiederholen müssen.«
»Das wäre für mich nur nützlich«, sagte Rafe ruhig.
»Und Sie würden die Prüfung des Erziehungsrats für Absolventen ausländischer medizinischer Fakultäten ma-chen müssen. Ich darf hinzufügen, daß ich zu jenen gehöre, die für die Einführung der Prüfung verantwortlich waren.«
»Gut.«
Er legte die Prüfung im State House in Gesellschaft eines Nigerianers ab, mit zwei Männer aus Irland und einer Gruppe unglücklicher, schwitzender Puertorikaner und Lateinamerikaner. Es war die einfachste Prüfung über die einfachsten Grundregeln der Medizin und der englischen Sprache, fast eine Beleidigung für einen Mann, der die Hochschule mit magna cum absolviert hatte.
Den Vorschriften der American Medical Association entsprechend legte er sein Diplom der Facultad de Medi-cina de la Universidad de la Habana zusammen mit einer beglaubigten Berlitz-Übersetzung vor.
Im weißen Ärzteanzug, wieder Spitalsarzt, meldete er sich am 1. Juli im Krankenhaus zum Dienst. Longwood behandelte ihn so, wie er selbst einst die Aussätzigen an der Küste von Havanna behandelt hatte, höflich, aber mit gezwungener Duldung. Er besaß kein großes Labor mehr, niemand hätte im Traum daran gedacht, ihm eine Zentrifuge oder sonst etwas zu kaufen; aber er fühlte sich noch immer wohl und ohne Angst, wenn er ein Skalpell in der Hand hielt, und er war überzeugt, daß er im Laufe der Zeit immer besser werden würde; er ging mit langen, glücklichen Schritten über das gewachste braune Linoleum der Gänge und konnte sich nur mit Mühe zurückhalten, nicht laut herauszujubeln.
Es war im Massachusetts General Hospital. Seine Mutter wartete in einem Büro im achten Stock des Warren Building auf ihre wöchentliche Untersuchung und einen frischen Vorrat an zeitgewinnenden Steroiden. Er wanderte in Bakers Cafe im Erdgeschoß und bestellte eine Tasse schwarzen Kaffee bei einem Mädchen in dem üblichen blauen Arbeitskittel, in die über der linken Brust das Wort »Freiwillige« gestickt war. Sie war dunkelblond, hatte schwere Lider und war attraktiv in einer sicheren, überlegenen Art, die ihn im allgemeinen nicht anzog, vielleicht deshalb, weil es genau das war, was Guillermo bei einer Frau in Schwung brachte, ein Hauch von früherer Wollust.
Er hatte seinen Kaffee halb ausgetrunken, als das Mädchen die Theke verließ und zu seinem Tisch mit einem Tablett herüberkam, auf dem eine Zeitschrift, eine Tasse Tee und ein Dessertteller mit einem Stück Torte lagen.
»Darf ich?«
»Natürlich«, sagte er.
Sie machte es sich bequem. Es war ein kleiner Tisch, und ihre Zeitschrift war groß. Sie stieß mit ihr an seine Untertasse, als sie sie auf den Tisch legte, so daß der Kaffee schaukelte, aber nicht überlief.
»Verzeihung!«
»Unsinn, nichts passiert.«
Er trank und starrte durch die Glaswände in den Gang hinaus. Sie las, trank, knabberte an ihrer Torte. Er spürte ein zartes, zweifellos teures Parfüm, Moschus und Rosen, entschied er. Unwillkürlich schloß er die Augen und sog es ein. Neben ihm blätterte sie eine Seite um.
Er riskierte einen schnellen Seitenblick und wurde dabei ertappt - direkte graue Augen, die Kraft und Tiefe verrieten, eine Andeutung von Krähenfüßen in den Augenwinkeln, Lachfältchen oder Lasterspuren? Statt wegzuschauen, wandte er trotz seiner Verlegenheit den Kopf nicht ab, sondern schlug nur die Augenlider schuldbewußt wie Falltüren nieder.
Sie lachte wie ein Kind.
Als er die Augen wieder aufschlug, sah er, daß sie eine Zigarette aus ihrer Handtasche geholt hatte und nach einem Streichholz tastete. Er entzündete eines, überzeugt, daß seine Chirurgenhände nicht zittern würden, aber dann, als ihre Fingerspitzen seine Hand streiften, um die Flamme an das Zigarettenende zu führen, zitterten sie doch.
Dieser Augenblick gab ihm die Chance, sie anzusehen. Ihr Blond war nicht ihre eigene Haarfarbe, eine zwar kostspielige, aber trotzdem erkennbare Tönung. Ihre Haut war gut, die Nase leicht vorspringend, gebogen, leidenschaftlich; der Mund um eine Spur zu breit, aber voll.
Sie merkten beide gleichzeitig, daß er sie anstarrte. Sie lächelte, und er kam sich wie ein Abenteurer vor.
»Sind Sie mit einem Patienten hier?«
»Ja«, sagte er.
»Es ist ein sehr gutes Krankenhaus.«
»Ich weiß«, sagte er. »Ich bin Arzt, Spitalsarzt am Suff-folk County General.«
Sie hob den Kopf. »Welche Abteilung?«
»Chirurgie.« Er streckte die Hand aus. »Ich heiße Rafe Meomartino.«
»Elizabeth Bookstein.« Aus irgendeinem Grund lachte sie, was ihm ärgerte. Er hatte sie nicht für eine dumme Frau gehalten. »Dr. Longwood ist mein Onkel«, sagte sie, als sie ihm die Hand gab.
Christos.
»Oh?«
»Ja«, sagte sie. Sie lachte nicht mehr, beobachtete jedoch sein Gesicht und lächelte. »Himmel. Sie mögen meinen Onkel nicht. Gar nicht.«
»Nein«, sagte er, zurücklächelnd. Er hielt noch immer ihre Hand.
Zu ihrer Ehre fragte sie nicht warum. »Es heißt, er sei ein guter Lehrer«, sagte sie.
»Das ist er auch«, sagte Rafe. Die Antwort schien sie zu befriedigen. »Ihr Name. Woher haben Sie das ,Bookstein'?«
»Ich bin eine geschiedene Frau.«
»Geschieden von jemandem im besonderen?«
Sie zog ihre Hand zurück, aber das Lächeln blieb. »Von niemandem im besonderen.«
Er sah seine Mutter durch die Tür kommen, sie sah viel kleiner aus als gestern und bewegte sich viel langsamer, als sie sich einst bewegt hatte.
»Mama«, sagte er und stand auf. Als sie herüberkam, stellte er sie einander vor. Dann verabschiedete er sich höflich von dem Mädchen und verließ langsam das Kaffeehaus, seinen Schritt dem seiner Mutter anpassend.
Bei ihren späteren Krankenhausbesuchen suchte er das Mädchen, aber sie war nicht im Kaffeehaus; die Freiwilligen arbeiteten unregelmäßig und kamen mehr oder weniger, wann sie wollten. Er hätte ihre Telephonnummer finden können - aber er nahm sich nicht einmal die Mühe, das Buch aufzuschlagen. Die Arbeit im Krankenhaus war sehr schwer, und der sich verschlimmernde Zustand seiner Mutter lag mit jedem Tag schwerer auf seinen Schultern. Ihr Fleisch schien dünner und durchsichtiger zu werden, sich fester über das zarte Rahmenwerk ihrer Knochen zu spannen. Ihre Haut entwickelte eine leuchtende Helligkeit, die er für den Rest seines Lebens bei Krebskranken sofort erkennen sollte, wann immer er sie sah.
Sie sprach jetzt öfter von Kuba. Manchmal, wenn er heimkam, fand er sie im Zimmer am Fenster sitzen und auf den Verkehr hinunterschauen, der leise über die Ar-lington Street glitt.
Was sah sie, fragte er sich: Kubanische Gewässer? Kubanische Wälder, kubanische Felder? Gesichter von Geistern, von Menschen, die er nie gekannt hatte?
»Mamacita«, sagte er eines Abends, unfähig zu schweigen. Er küßte ihren Scheitel. Er wollte die Hand ausstrek-ken, ihr Gesicht streicheln, sie sanft an sich ziehen, seine Arme um sie legen, damit nichts sie erreichen und alles, was ihr schaden konnte, zuerst durch ihn hindurchgehen mußte. Aber er fürchtete, daß er sie erschrecken würde, daher tat er nichts von alledem.
Nach sieben Wochen hatten sich Aspirin und Kodein als unwirksam erwiesen. Der Krebsarzt ersetzte diese Mittel durch Demerol.
Elf Wochen später brachte sie Rafe wieder in das hübsche sonnige Zimmer im Phillips House des Massachusetts General Hospital. Reizende Schwestern füllten ihre Venen regelmäßig mit der Gabe der Mohnblumen.
Zwei Tage, nachdem seine Mutter in Koma verfiel, sagte ihm der Krebsspezialist gütig, aber sachlich, er könne zwar weiterhin einiges unternehmen, um das Funktionieren ihrer lebenswichtigen Organe zu verlängern, er könne aber auch damit aufhören, so daß sie ziemlich schnell sterben würde.
»Wir sprechen nicht von Euthanasie«, sagte der alternde Arzt. »Wir sprechen von dem Entschluß, ein Leben zu stützen, in dem keine Hoffnung mehr auf ein wirkliches Leben besteht; nur Perioden schrecklicher Schmerzen. Ich treffe diesen Entschluß nie allein, wenn ein Verwand-ter vorhanden ist. Überlegen Sie es sich. Es ist ein Entschluß, vor dem Sie als Arzt immer wieder stehen werden.«
Rafe brauchte nicht lange zu überlegen. »Lassen Sie sie gehen«, sagte er.
Als er am folgenden Morgen das Krankenzimmer seiner Mutter betrat, sah er einen dunklen Schatten über sie gebeugt, einen großen mageren Priester, dessen sommersprossiges Babygesicht und Karottenhaar über seiner schwarzen Soutane wie ein Witz wirkten.
Schon schimmerte Öl auf den Augenlidern seiner Mutter und spiegelte winzige Lichtfünkchen.
»... Möge dir der Herr deine Sünden vergeben, welche immer du begangen hast«, sagte der Priester soeben; sein in Weihwasser getauchter Daumen machte das Kreuzzeichen auf ihrem verzerrten Mund, seine Stimme war ein Greuel, ärgster Südbostoner Akzent.
Du ungesund nüchterner junger Mann, was für ernsthafte Sünden konnte sie schon begangen haben, fragte sich Rafe. Wieder wurde der jugendliche Daumen eingetaucht. »Durch diese Heilige Ölung .«
Gott, es heißt, es gäbe dich nicht, denn, wenn du existiertest, würdest du uns dann so quälen? Ich liebe dich, Mutter. Stirb nicht. Ich liebe dich. Bitte.
Aber laut sagte er nichts.
Er verharrte am Fußende des Bettes seiner Mutter und fühlte sich plötzlich allein, eine gräßliche Isolierung, und wußte, daß er nichts als ein Fleckchen Taubenmist in der grauenhaften Leere war.
Bald darauf bemerkte er, daß sie nicht mehr atmete. Er ging zu ihr, schob die Hand des Priesters mit einem Achselzucken beiseite, und nahm sie in die Arme.
»Ich liebe dich. Ich liebe dich. Bitte.« Seine Stimme war laut in dem stummen Zimmer.
Seine Mutter ging in kostspieligem, aber einsamem Prunk dahin. Rafe veranlaßte, daß sie in Blumen schwamm. Der Sarg war ein kupferner Cadillac, mit blauem Samt austapeziert. Das Letzte, das er noch für sie tun konnte, war, die feierliche Seelenmesse in der Cäcilienkirche zu bezahlen. Guillermo und Onkel Erneido flogen von Miami her. Die Wirtschafterin und das Zimmermädchen aus dem Ritz kamen und saßen in der letzten Reihe. Ein zitternder Trunkenbold, der vor sich hinmurmelte und zu den falschen Zeiten niederkniete, saß allein in der Ecke, vier Sitze vom Meßner entfernt. Ansonsten war die St.-Cäcilia-Kirche völlig leer, ein poliertes Echo, das nach Bodenwachs und Weihrauch roch.
Am Grab in Brookline standen sie allein, fröstelnd vor Kummer und Angst und der bis in die Knochen dringenden Kälte. Als sie zum Ritz-Carlton zurückkehrten, entschuldigte sich Erneido und ging mit Kopfschmerzen und Pillen zu Bett. Rafe und Guillermo zogen sich in die Hotelhalle zurück und tranken Scotch. Es war wie in den schlimmen alten Zeiten: trinken und Guillermo nicht zuhören. Schließlich verstand er durch einen Alkoholdunst wie aus der Ferne, daß Guillermo ihm etwas höchst Wichtiges erzählte.
». geben uns Waffen, Flugzeuge, Panzer. Schulen uns ein. Sie werden Schulter an Schulter mit uns kämpfen, diese Marinesoldaten sind wundervolle Kämpfer! Wir werden Deckung aus der Luft haben, wir werden jeden Offizier brauchen, du wirst mit jedem, den du kennst, Kontakt aufnehmen müssen. Ich bin Hauptmann. Auch du wirst zweifellos Hauptmann werden.«
Rafe konzentrierte sich, erkannte, worüber sein Bruder sprach, und lachte freudlos. »Nein«, sagte er. »Danke.«
Guillermo hörte zu reden auf und sah ihn an. »Was meinst du damit?«
»Ich brauche keine Invasionen. Ich gedenke hierzubleiben. Ich werde um die amerikanische Staatsbürgerschaft ansuchen.«
Sechzig Prozent Entsetzen, dreißig Prozent Haß, zehn Prozent Verachtung rechnete er, als er die verschleierten Meomartino-Augen seines Bruders beobachtete.
»Du glaubst nicht an Kuba?«
»Glauben?« Rafe lachte. »Ich werde dir die Wahrheit sagen, großer Bruder. Ich glaube an überhaupt nichts, nicht so, wie du meinst. Ich glaube, daß alle ideologischen Bewegungen, alle großen Organisationen dieser Welt Lügen und Profit für irgend jemanden sind. Vermutlich glaube ich nur an Menschen, die anderen Menschen so wenig wie möglich schaden.«
»Edel. Was dir fehlt, ist Mut.«
Rafe starrte ihn an.
»Du hast nie welchen gehabt.« Guillermo stürzte seinen Drink hinunter und schnalzte mit den Fingern nach dem Kellner. »Ich habe Mut, genug für alle Meomartinos. Ich liebe Kuba.«
»Du redest nicht über Kuba, alcahuete.« Sie hatten spanisch gesprochen; plötzlich entdeckte Rafe, daß er aus unerfindlichen Gründen in Englisch verfallen war. »Du redest über Zucker, Kuba ist nur das Alibi. Was wird es schon den armen Schweinen helfen, die das wirkliche Kuba sind, wenn wir Fidel in den nalgas zum Teufel jagen und uns alle unsere Schätze zurückholen?« Wütend nahm er einen Schluck Scotch. »Würde sie einer, den wir an sei-ne Stelle setzen, anders behandeln? Niemals«, beantworte er seine eigene Frage. Zu seinem Verdruß merkte er, daß er zitterte.
Guillermo wartete, bis er ausgesprochen hatte.
»In unserer Bewegung sind nur wenige Zuckerleute. Darunter sind einige der Besten«, sagte er, als spräche er zu einem Kind.
»Vielleicht sind sie alle Patrioten. Selbst wenn sie es sind, sind ihre Gründe zweifellos genauso schlecht wie deine.«
»Es ist wundervoll, allwissend zu sein, du rückgratloser Hurensohn.«
Rafael zuckte die Achseln. Guillermo war auf seine Art ein liebevoller Sohn gewesen. Rafe wußte, daß die gedankenlose Beleidigung ihm und nicht ihrer Mutter gegolten hatte. Endlich, dachte er mit einem seltsamen Gefühl der Erleichterung, beschimpfen wir einander laut mit den Bezeichnungen, die wir immer verdrängt haben.
Dennoch bedauerte Guillermo offensichtlich seine Wortwahl. »Mama«, sagte er.
»Was ist mit ihr?«
»Glaubst du, sie kann friedlich in einem Grab ruhen, auf dem Schnee liegt? Sie muß zurückgebracht werden, um in Kubas Erde zu schlafen.«
»Warum gehst du nicht zum Teufel«, sagte Rafe wütend. Er stand auf, ließ den Rest seines Getränks stehen, ging weg und ließ seinen Bruder sitzen und ins Glas starren.
Guillermo und Onkel Erneido fuhren am selben Abend zurück, nachdem sie ihm wie Fremde die Hand gegeben hatten.
Vier Tage später versetzte der letzte Nordostwind des kalten Frühlings New England einen weißen Schlag, in-dem er von Portland bis Block Island die Küste entlang zwölf Zentimeter hoch Schnee ablud. Am späten Nachmittag nahm Rafe ein Taxi zum Holyhood-Friedhof. Der Sturm war vorbei, aber der Wind blies Schneewirbel hoch, die in den Kragen und in die Ärmel seines Mantels drangen. Auf dem Weg zum Grab stieg ihm Schnee in die Schuhe. Der Hügel war noch immer hoch aufgehäuft; zwischen den gefrorenen Erdklumpen liefen Adern gefangenen Schnees. Er stand da, so lange er konnte, bis seine Nase lief und er seine erstarrten Füße nicht mehr spürte. Als er in sein Zimmer zurückkam, saß er im Finstern am Fenster, wie sie dagesessen war, und sah dem Verkehr zu, der sich weiter über die Ar-lington Street bewegte. Zweifellos zum Teil dieselben Maschinen; Autos sterben langsamer als Menschen.
Er übersiedelte aus dem Ritz in eine Pension. Jenseits der Halle lebten zwei aalglatte Studenten, vielleicht in Sünde. Einen Stock höher wohnte ein schielendes Mädchen, das er für eine Hure hielt, obwohl es keine Anzeichen dafür gab.
Er verbrachte den Großteil seiner Freizeit im Krankenhaus, verstärkte seinen Ruf kompetenter Verläßlichkeit und erreichte, daß er im folgenden Jahr für eine fachärztliche Ausbildung ausgewählt wurde, lehnte es jedoch ab, formell dort zu wohnen, weil er sich selbst nicht eingestehen wollte, daß er eine Zuflucht brauchte.
Der Frühling überfiel ihn unversehens. Er vergaß, sich die Haare schneiden zu lassen; brütete über der Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod und kam dank seiner Intelligenz zu dem Schluß, daß es kein Jenseits gab; er erwog, sich psychotherapeutisch behandeln zu lassen, bis er in einem Artikel Anna Freuds las, daß der einzelne außerhalb der Reichweite des Analytikers steht, wenn er in Trauer um einen Toten oder verliebt ist.
Die Invasion in der Schweinebucht riß ihn jäh aus seiner Lethargie. Er hörte die Nachricht zuerst über einen Transistorapparat in der Frauenabteilung. Der Bericht klang optimistisch in bezug auf den Erfolg der Invasion, war jedoch skizzenhaft und übermittelte sehr wenige Tatsachen außer der, daß die Landung in der Schweinebucht erfolgt war.
Rafe erinnerte sich gut an sie, ein Gebiet mit Erholungsorten, wohin ihn seine Eltern manchmal mitgenommen hatten, als er noch klein war. Er und Guillermo hatten jeden Morgen, während die Eltern noch schliefen, am Strand große Haufen Schätze aus dem Meer gesammelt, die abends bereits stanken, und kleine, glatte, weiße Steine wie versteinerte Vogeleier.
Mit jedem Bericht wurden die Nachrichten schlechter.
Er versuchte Guillermo in Miami anzurufen, ohne Erfolg, erreichte jedoch endlich Onkel Erneido.
»Unmöglich zu sagen, wo er ist. Er ist irgendwo dort. Es scheint sehr schlecht zu stehen. Dieses gottverfluchte Land, von dem wir glaubten, daß es unser Freund sei ...«
Der alte Mann konnte nicht weitersprechen.
»Laß es mich wissen, sobald du etwas hörst«, sagte Rafe.
In wenigen Tagen war es möglich, einen Teil des schrecklichen Bildes zu rekonstruieren und den Rest zu erraten: das ungeheure Ausmaß der Niederlage, die geringe Vorbereitung der angreifenden »Brigade«, die veraltete Ausrüstung, die mangelhafte Unterstützung aus der Luft, die arrogante Pfuscherei des CIA, die offensichtliche Qual des jungen amerikanischen Präsidenten, das Fehlen der Marine der Vereinigten Staaten, als sie so verzweifelt gebraucht wurde.
Rafe verbrachte viel Zeit damit, sich vorzustellen, wie es gewesen sein mußte. Das Meer in ihrem Rücken, vor ih-nen der Sumpf und Fidel Castros von den Sowjets bewaffnete Miliz. Die Toten, die spärlichen Einrichtungen zur Behandlung der Verwundeten.
Als er langsam durch das Krankenhaus ging, sah er bestimmte Dinge zum erstenmal.
Einen Wiederbelebungsapparat, einen Schrittmacher.
Einen Absaugapparat.
Betten, die Wärme und Ruhe für geschockte Patienten boten.
Die einfach phantastische Reihe von Operationssälen, die aufeinander eingespielten Ärzte und Schwestern.
Gott, die Blutbank. Alle Meomartinos hatten seltene Blutgruppen.
Er hatte nie ein Hehl daraus gemacht, daß er Kubaner war; eine Anzahl der Stabsangehörigen und einige Patienten murmelten mitfühlende Worte, aber die meisten vermieden das Thema. Manchmal verstummte das Gespräch schuldbewußt, wenn er eintrat.
Plötzlich konnte er nachts schlafen; sowie er sich ins Bett legte, versank er in den tiefen bewußtlosen Schlummer eines Menschen, der die Flucht ergreift.
Eines Tages, im Mai, kam die schwere Silberuhr mit den Engeln auf dem Deckel wie eine weiße Feder daherge-schwebt, von Onkel Erneido eingeschrieben übersandt. Der Begleitbrief war kurz, enthielt jedoch einige Mitteilungen.
Mein Neffe,
Wie Du weißt, gehört diese Familienuhr zum Meomarti-no-Erbe. Sie wurde von jenen, die sie mit treuen Händen für Dich bewahrten, in Ehren gehütet. Bewahre sie sorgfältig. Mögest Du sie noch an viele Generationen Meomartinos weitergeben.
Wir wissen nicht, wie Dein Bruder starb, aber wir haben es aus ersten Quelle, daß er zugrunde ging und sich vor seiner Vernichtung gut hielt. Ich will versuchen, im Laufe der Zeit mehr zu erfahren.
Ich glaube nicht, daß wir einander in naher Zukunft treffen. Ich bin ein alter Mann, und die Energien, die mir noch geblieben sind, will ich anwenden, so gut ich nur kann. Ich hoffe und vertraue darauf, daß Deine ärztliche Laufbahn gut verläuft. Ich glaube nicht mehr daran, mein Kuba in Freiheit zu erleben. Es gibt nicht genügend Patrioten mit Männerblut in den Adern, um Fidel Castro das zu entreißen, was zu Recht das Ihre ist.
Dein Onkel Erneido Pesca
Rafe legte die Uhr in seinen Schreibtisch und fuhr ins Krankenhaus. Als er vierzig Stunden später zurückkehrte und die Lade öffnete, war sie da und wartete auf ihn. Er starrte sie an, schloß die Lade, zog den Mantel an und verließ die Pension. Draußen versuchte der Nachmittag mit sich ballenden Regenwolken zu entscheiden, ob er Ausklang des Frühlings oder Auftakt des Sommers war. Rafe ging lange, Block um Block, über die Gehsteige Bostons durch die Nachmittagshitze.
Auf der Washington Street verspürte er, wie eine plötzliche Überraschung, Hunger und betrat ein Gasthaus im Schatten der Hochbahn. Der Bostoner Herald-Traveler war einen Häuserblock entfernt. Es war ein gutes Lokal, eine Bar für arbeitende Menschen, voll von Zeitungsleuten, die ihr Abendessen einnahmen oder tranken, einige Setzer trugen noch immer die Kappe aus gefalteten Zeitungsblättern, um das Haar vor Druckerschwärze und Fett zu schützen.
Auf dem Barhocker am Ende der Theke bestellte er ein Kalbskotelett mit Parmesan. Ein Fernsehapparat über dem Spiegel spie eine Nachrichtensendung aus, die letzten Daten der Katastrophe in der Schweinebucht.
Wenige Invasoren waren evakuiert worden.
Ein großer Prozentsatz von ihnen war getötet worden.
Praktisch alle Überlebenden waren in Gefangenschaft.
Als sein Kalbskotelett kam, nahm er sich nicht einmal die Mühe, es anzuschneiden. »Einen doppelten Scotch.«
Er trank ihn, dann einen zweiten und fühlte sich besser, und dann einen dritten, von dem ihm sehr schlecht wurde. Da er Luft brauchte, ließ er eine Banknote auf die Mahagoniplatte fallen und ging auf müden Beinen fort.
Draußen hing der neue Nachthimmel niedrig und schwarz, der Wind klatschte wie eine Reihe nasser Handtücher vom Meer herein. Er suchte einen Unterstand, als ein Taxi stehenblieb.
»Bringen Sie mich zu irgendeiner guten Bar. Und warten Sie dort, bitte.«
Park Square. Das Lokal hieß The Sands. Die Beleuchtung war trüb, aber der Scotch entschieden nicht verwässert. Als er hinauskam, stand das Taxi da, ein gespenstiges Schlachtroß, das ihn mit tickendem Taxameter im Galopp zu den neonerleuchteten Vergnügungspalästen der Lebenden brachte. Sie rückten mit häufigen Pausen nach Norden vor. Als Rafe vor einer Taverne in der Charles Street ausstieg, drückte er dem Fahrer dankbar für seine Loyalität eine Banknote in die Hand und bemerkte den Irrtum erst, als das Taxi wegfuhr.
Als er das Lokal in der Charles Street verließ, waren alle Gegenstände verschwommene Flecken, einige heller als andere. Der Wind vom Charles River herüber war rauh und naß. Der Regen trommelte und zischte auf dem Gehsteig zu seinen Füßen. Seine Kleider und Haare sogen ihn auf, bis sie ihn nicht mehr halten konnten, und liefen dann über, wie die übrige Welt. Der Regen, hart und kalt, biß ihn ins Gesicht und bewirkte, daß ihm unerklärlich übel wurde.
Er ging an der Massachusetts-Augenklinik und an den triefenden Umrissen des Allgemeinen Krankenhauses vorbei. Er war sich nicht sicher, wann eigentlich die Feuchtigkeit in ihm hochwallte, um der Nässe draußen zu begegnen, aber plötzlich entdeckte er, daß er von tief, tief innen her weinte.
Um sich selbst.
Um den Bruder, den er so sehr gehaßt hatte und nie wieder sehen würde.
Um seine tote Mutter.
Um den Vater, an den er sich kaum erinnern konnte.
Um seinen verlorenen Onkel. Um die Tage und Orte seiner Kindheit.
Um die lausige Welt.
Er hatte ein erleuchtetes Vordach vor einem scheinwerfererhellten Hafen erreicht, wo von Menschen errichtete Springbrunnen im Regen plätscherten.
»Weg da«, sagte der Türhüter des Charles River Park drohend sotto voce. Rafe drückte sich beiseite, um zwei Frauen vorbeizulassen, die nach zerquetschten Rosen rochen. Die eine war schon in das Taxi gestiegen, als die andere zurückkam und die Hand ausstreckte, als wollte sie ihn berühren. »Doktor?« sagte sie ungläubig.
Er erinnerte sich von irgendwoher an sie und versuchte zu sprechen.
»Doktor«, sagte sie. »Ich habe Ihren Namen vergessen.
Wir haben einander in dem Kaffeehaus im Massachusetts General kennengelernt. Ist Ihnen nicht gut?«
Ich bin ein Feigling, sagte er, aber es kam kein Ton heraus.
»Elizabeth!« rief das andere Mädchen aus dem Taxi.
»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte Elizabeth.
Jetzt war das andere Mädchen ausgestiegen. »Wir sind doch ohnehin schon spät daran«, sagte sie.
»Weinen Sie nicht«, sagte Elizabeth. »Bitte.«
»Elizabeth«, sagte das andere Mädchen, »was fällt dir eigentlich ein? Was glaubst du, wie lange die Burschen warten?«
Liz Bookstein legte den Arm um seine Mitte und begann ihn unter dem Vordach über den blutroten Teppich zum Eingang des Hotels hinunterzulotsen. »Sag ihnen, es täte mir leid«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.
Als er das erstemal erwachte, sah er in dem trüben Licht der Nachtlampe, daß sie in dem Sessel neben dem Bett schlief; sie trug noch immer ihr Kleid, aber ihr Strumpfbandgürtel, die Strümpfe und Schuhe lagen auf dem Boden, und sie hatte die bloßen Füße unter sich gezogen, um sich gegen die Kälte zu schützen. Das zweitemal lag das graue Licht der ersten Dämmerung im Zimmer, sie war wach und sah ihn mit jenen Augen an, an die er sich jetzt mühelos erinnerte; sie lächelte nicht, sie sagte nichts, sondern schaute nur, und nach einer kleinen Weile schlief er wieder, ohne es zu wollen. Als er erwachte, strömte die helle Vormittagssonne durch die Fenster. Sie saß in demselben Sessel, trug noch immer ihr Kleid, ihr Kopf war auf die Seite gesunken; sie war seltsam wehrlos und sehr schön im Schlaf.
Er erinnerte sich nicht, daß er entkleidet worden war, aber als er aus dem Bett stieg, war er nackt. Zu seiner eigenen Verlegenheit hatte er eine starke Erektion und tappte hastig ins Badezimmer. Er war ein schlechter Betrunkener, überlegte er düster, als er seinen Körper von Giften reinigte.
Nach einer Weile klopfte sie an die Tür.
»Im Arzneischränkchen ist eine neue Zahnbürste.«
Er räusperte sich. »Danke.«
Er entdeckte sie neben einem Rasierapparat, was ihm einen Schock versetzte, bis er sich wütend sagte, daß er ihr gehörte, für die Beine. Unter der Dusche merkte er, daß die Seife mit dem Duft zerdrückter Rosen imprägniert war, zuckte jedoch die Achseln und wurde er zum Sybari-ten. Er vergönnte sich eine Rasur und öffnete dann die Tür einen Spaltbreit, während er sich fertig abtrocknete.
»Kann ich meine Kleider haben?«
»Sie waren verschmutzt. Ich habe alles zum Reinigen geschickt, bis auf Ihre Schuhe. Sie kommen bald zurück.«
Er schlang das feuchte Handtuch um seine Lenden und ging hinaus.
»Na also. Jetzt sehen Sie schon besser aus.«
»Entschuldigen Sie, daß ich Ihr Bett benützt habe«, sagte er. »Als Sie mich gestern abend gefunden haben -«
»Nicht«, sagte sie.
Er setzte sich in den Sessel, und dann kam sie auf ihren bloßen Füßen zu ihm. »Entschuldigen Sie sich nicht dafür, daß Sie ein Mann sind, der weinen kann«, sagte sie.
Die Erinnerung überfiel ihn, und er schloß die Augen. Ihre Finger berührten seinen Kopf, er stand auf und legte die Arme fest um sie, fühlte ihre weichen warmen Handflächen und ausgestreckten Finger auf seinem nackten
Rücken. Er wußte, daß sie ihn durch das Handtuch hindurch spürte, aber sie trat nicht zurück.
»Meine einzige Absicht war, Sie aus dem Regen hereinzuholen.«
»Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Sie kennen mich schon gut. Ich glaube, Sie könnten der eine sein. Ich habe so sehr gesucht.«
»Wirklich?« sagte er traurig.
»Sind Sie irgendein Südamerikaner?« fragte sie dann.
»Nein. Kubaner.«
»Warum muß ich immer in Minoritätengruppen geraten!« sagte sie in seine Brust hinein.
»Vielleicht weil Ihr Onkel ein solches Schwein in diesen Dingen ist.«
»Ja, aber seien Sie nett. Bitte, entpuppen Sie sich nicht als garstiges Etwas. Ich könnte es nicht ertragen.« Sie hob das Gesicht, und er mußte den Kopf neigen, um sie auf den Mund zu küssen, der bereits weich war und sich bewegte. Er tastete an ihrem Nacken, um die Knöpfe des zerdrückten Kleides zu öffnen. Als er es schließlich aufgab und sie zurücktrat, um es selbst zu tun, rutschte das Handtuch an ihm hinunter, und ihre Kleidungsstücke fielen eines nach dem anderen daneben auf den blauen Teppich. Ihre Brüste waren klein, aber schon Jahre jenseits des Knospenstadiums, ja, sie waren leicht überreif, mit Warzen wie Fingerspitzen. Sie trug sonnenbraune Strümpfe an ihren hübschen, molligen, muskulösen Beinen - Tennisspielerin? -, deren volle Schenkel wie ein Begrüßungskomitee bereit waren.
Einige Augenblicke später mußte er zu seinem Entsetzen feststellen, daß es genauso war wie am Abend vorher, als er halb verhungert eine Mahlzeit bestellt und sich dann außerstande gesehen hatte, sie zu essen.
»Mach dir nichts draus«, sagte sie schließlich und drückte ihn sanft nach hinten, bis er rücklings mit geschlossenen Augen auf der Matratze lag; die Sprungfedern seufzten, als sie aufstand.
Sie war eine sehr erfahrene Frau.
Als er nach ganz kurzer Zeit die Augen öffnete, stand ihr Gesicht dicht vor seinem und verdeckte die ganze Welt für ihn, ein sehr ernstes Gesicht, wie das eines kleinen Mädchens, das in ein Problem versunken ist; dort, wo sich die Nasenflügel an der grausam gebogenen Nase weiteten, begann Schweiß zu schimmern, die grauen Augen waren sehr groß, die Iris flammender Jett, die Pupillen warm und feucht, allumfassend; die Augen wurden größer und größer, bohrten sich in seine und sogen seinen Blick an, bis er es zuließ, daß der seine in sie hineinglitt, tief, tief, mit einer Zärtlichkeit, die seltsam und neu war. Vielleicht, Gott, dachte er flüchtig, ein eigenartiger Augenblick, um religiös zu werden.
Monate später, als sie zum erstenmal jenen Morgen in Worte zu fassen und zu erörtern vermochten - es war lange bevor sie wieder rastlos geworden war und er begonnen hatte, ihre Liebe wie Sand zwischen seinen Fingern verrieseln zu spüren -, erzählte sie ihm, daß sie sich ihrer Erfahrenheit geschämt hatte und traurig gewesen war, ihm nicht das Geschenk der Unschuld machen zu können.
»Wer kann das schon?« hatte er sie gefragt.
Jetzt wurde das stöhnende Geräusch der in den Rohren gefangenen Luft zu einem hohlen Pfeifen. Angewidert gab Meomartino jeden Versuch auf, sich auf die schriftlichen Arbeiten zu konzentrieren, und schob den Stuhl zurück.
In der Tür erschien Peggy Weld mit geröteten Augen und das Gesicht von allem Make-up reingewaschen. Ihr Maskara muß zerflossen sein, sagte er sich.
»Wann wollen Sie meine Niere herausnehmen?«
»Ich weiß es nicht genau. Es sind viele Vorbereitungsarbeiten zu machen. Tests und solche Dinge.«
»Wollen Sie, daß ich ins Krankenhaus ziehe?«
»Wenn es soweit ist, ja, aber noch nicht gleich. Wir verständigen Sie, wenn es an der Zeit ist.«
Sie nickte. »Vergessen Sie lieber, daß ich Ihnen erzählt habe, ich sei im Hotel zu erreichen. Ich werde bei meinem Schwager und den Kindern in Lexington wohnen.«
Mit dem frischgewaschenen Gesicht war sie unendlich anziehender, dachte Meomartino.
»Wir nehmen die Sache in Angriff«, sagte er.
6
SPURGEON ROBINSON
Spur lebte genau im Mittelpunkt einer ihm vertrauten Insel, die sich mit ihm bewegte, wohin er auch ging. Einige Patienten schienen dankbar für seine Hilfe zu sein, aber er wußte, daß andere ihre Augen nicht von dem Purpur seiner Hände auf ihrer blassen Haut losreißen konnten. Eine uralte Polin stieß seine Finger von ihrem verrunzelten Bauch dreimal zurück, bis sie ihm erlaubte, ihr Abdomen abzutasten.
»Sie Arzt?«
»Ja.«
»Echter Arzt? Auf Schule gewesen, und so alles?«
»Ja.«
»Na ja ... ich weiß nicht ...«
Bei den Negerpatienten war es meistens leichter, aber nicht immer, da ihn einige automatisch für einen Überläufer hielten: Wenn ich hier niggerarm und voller Schmerzen im Bett liege, und der Weiße da die ganze Zeit an mir herumbohrt und mir wehtut, was hast dann du in diesem weißen Anzug und einem feinen Leben zu suchen?
Er fühlte sich nie ganz wohl in seiner Rolle als Neger in einem Intelligenzberuf, umgeben von Weißen, so wie es zum Beispiel für die Orientalen im Stab ganz selbstverständlich war, voll anerkannt zu werden. Eines Tages sah er im OP Dr. Chin und Dr. Lee warten, um Dr. Kender als dem chirurgischen Chefstellvertreter in seinen Operationsanzug hineinzuhelfen. Alice Takayawa, eine der Anästhesieschwestern, Tochter eingewanderter Japaner und in erster Generation Amerikanerin, also eine nisei, hatte soeben einen Hocker dicht an den Kopf des Patienten gerückt und setzte sich nieder. Dr. Chins Gesicht war ausdruckslos, als er Dr. Kender die Handschuhe geöffnet hinhielt.
»Sir, Sie kennen ja wohl das Blaue Team und auch das Rote Team?«
Dr. Kender wartete.
»Darf ich Ihnen das Gelbe Team vorstellen?«
Der Ausspruch rief großes Gelächter hervor, wurde im ganzen Krankenhaus herumgetragen und machte die chinesischen Ärzte noch beliebter, als sie es schon vorher gewesen waren. So etwas hätte Spur in nüchternem Zustand einem weißen Vorgesetzten niemals über seine Farbe sagen können. Seine Freundschaft mit Adam Silverstone ausgenommen, wußte er von Stunde zu Stunde nie wirklich, wie er mit dem übrigen Stab stand.
Als er eines Morgens um drei Uhr eben auf seinem Weg zu einer Kaffeepause allein dahinschlenderte, sah er Lew Holtz und Ron Preminger einen dritten Spitalarzt, Jack Moylan, im Gang aufhalten. Sie flüsterten mit heftig zitternden Schultern und vielen verstohlenen Blicken in Richtung Unfallstation miteinander. Moylan zog zuerst eine Grimasse wie bei einem schlechten Geruch, dann jedoch grinste er und ging zur Unfallstation.
Holtz und Preminger gingen breit grinsend durch die Halle hinunter, und beide sagten Hallo zu Spur. Holtz sah aus, als wollte er stehenbleiben und noch etwas sagen, aber Preminger zupfte ihn am Ärmel, und sie gingen weiter.
Spurgeon hatte noch zehn Minuten frei. Er schlenderte selbst langsam zur Unfallstation.
Ein schwarzer Junge - vermutlich sechzehn Jahre alt -saß auf der Holzbank allein in dem nur schwach erhellten Gang. Er sah Spurgeon an. »Sind Sie ein Spezialist?«
»Nein. Nur ein Spitalsarzt.«
»Wieviele Ärzte braucht man? Ich hoffe, sie kommt wieder in Ordnung.«
»Bestimmt sorgt man gut für sie«, sagte er vorsichtig. »Ich bin gerade auf einen Kaffee heruntergekommen. Willst du einen?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
Spur warf zwei Münzen in die Kaffeemaschine, zog den vollen Becher heraus und setzte sich neben den Jungen auf die Bank. »Unfall?«
»Nein . Ah, es ist etwas Persönliches. Ich habe es dem Doktor drinnen erklärt.«
»Oh.« Spurgeon nickte. Langsam schlürfte er den Kaffee. Jemand hatte einen Daily Record auf der Bank liegengelassen. Das Boulevardblatt war vom Druck der Sitzbak-ken nur leicht zerknittert, und er hob es auf und las die Baseballberichte.
Zwei Türen weiter unten kam Jack Moylan aus der Unfallstation. Spurgeon meinte ihn lachen zu hören, als er die Halle hinunterging. Jedenfalls sah er, wie Moylan den Kopf schüttelte.
»Jetzt paß auf. Ich bin Arzt«, sagte Spurgeon. »Wenn du mir sagst, was geschehen ist, kann ich vielleicht helfen.«
»Haben die hier viele farbige Ärzte?«
»Nein.«
»Wir, äh, haben geparkt, ja?« sagte der Junge, der beschlossen hatte, ihm zu trauen.
»Ja.«
»Wir haben das gemacht. Sie wissen, was ich meine?«
Spurgeon nickte.
»Bei ihr war es zum erstenmal. Nicht bei mir. Das, äh, Ding rutschte von mir herunter und blieb in ihr drin.«
Wieder nickte Spurgeon, schlürfte Kaffee und hielt die Augen auf den Becher gerichtet.
Er begann das Ausspülen zu erklären, aber der Junge unterbrach ihn.
»Sie verstehen nicht. Ich habe alles darüber gelesen. Aber wir konnten es nicht einmal aus ihr herauskriegen. Uuh, wurde sie hysterisch! Wir konnten nicht zu meinem Bruder oder auch nicht zu ihrer Mutter gehen. Die hätten uns umgebracht. Daher habe ich sie direkt hier hergebracht. Der Doktor da drinnen hat fast eine Stunde lang Spezialisten hineingerufen.«
Spurgeon trank seinen Kaffee aus und stellte den Becher sorgfältig auf die Zeitung. Er stand auf und ging in die Unfallstation.
Sie waren in einem Untersuchungszimmer mit zugezogenen Vorhängen. Das Mädchen hielt die Augen geschlossen. Ihr Gesicht, der Wand zugekehrt, war wie eine geballte braune Faust. Sie lag in Lithotomiestellung auf dem Tisch, die Füße in den Steigbügeln. Potter, der durch einen otolaryngologi schen Kopfspiegel, der ein Auge bedeckte, spähte, verwendete eine dünne Stablampe als Zeigestab und hielt einem Spitalsarzt, der hinter dem Kopf des Mädchens stand, einen gelehrten Vortrag. Der Spitalsarzt war aus der Anästhesiologie. Spurgeon kannte seinen Namen nicht. Er krümmte sich vor stummem Gelächter.
Als der Vorhang geteilt wurde, fuhr Potter erschrocken auf, aber als er Spurgeon erkannte, grinste er. »Ah,
Dr. Robinson, ich bin froh, daß Sie für eine Konsultation frei sind. Hat Sie Dr. Moylan geschickt?«
Ohne einen der beiden Männer anzusehen, nahm Spur-geon eine Zange, fand den verpönten Gegenstand, entfernte ihn und ließ ihn in den Abfalleimer fallen. »Ihr Freund wartet draußen, um Sie heimzubringen«, sagte er.
Sie entfernte sich sehr schnell.
Der Spitalsarzt aus der Anästhesiologie hatte zu lachen aufgehört. Potter stand da und schaute Spurgeon durch den dummen runden Spiegel auf seiner Stirn an. »Es war harmlos, Robinson. Nur ein Witz.«
»Du gottverdammter Halunke.«
Er wartete einen Augenblick auf einen Wirbel, aber natürlich kam keiner; er verließ die Unfallstation und ging nur leicht zitternd in seine Abteilung hinauf.
Wenn er sich einen Feind im Stab hätte machen müssen, dann wäre seine Wahl auf Potter gefallen; er war ein völliger Versager.
Als er angewiesen wurde, einem Spitalsarzt zu zeigen, wie man eine Krampfader herauszieht, hatte Lew Chin den ganzen Vorgang theoretisch mit ihm durchgesprochen. Als der Konsiliarchirurg in den danebenliegenden OP geholt worden war, um bei einem Herzstillstand zu helfen, war Potter hingegangen und hatte irrtümlicherweise statt der Krampfader die Oberschenkelarterie herausgezogen. Dr. Chin, so wütend, daß er kaum sprechen konnte, hatte versucht, den Schaden zu beheben und die lebenswichtige Arterie durch einen Nylonschlauch zu ersetzen. Aber es war ein Schlamassel: die Übertragung war unmöglich durchzuführen; und eine Frau, die wegen einer einfachen Korrektur in den Operationssaal gekommen war, wurde mit einer Amputation in die Abteilung zurückgebracht. Dr. Longwood hatte sich in einer Diskussion über die
Komplikationen der Woche sehr scharf zu dem Fall geäußert. Aber kaum eine Woche später hatte Potter, als er die einfachste Bruchoperation durchführte, die Samenschnur mit dem Bruchsack zusammen abgebunden. Die Blutversorgung in diesem Gebiet war schwer gefährdet, und innerhalb von Tagen hatte der Mann unwiederbringlich die Funktion einer Hode verloren. Diesmal hatte der Alte den Fall noch schärfer kritisiert und den Stab daran erinnert, daß die Medizin noch keinen Zutritt zu einem Ersatzteillager habe.
Potter hatte Spurgeon leid getan, aber die arrogante Dummheit des Facharztanwärters machte jedes Mitgefühl weiterhin unmöglich, und jetzt genoß er es, verächtlich ignoriert zu werden, wann immer er Potter auf dem Gang traf. Auf Jack Moylan hatte der Vorfall in der Unfallstation die entgegengesetzte Wirkung, er versuchte besonders freundlich zu sein, eine Bestechung, die Spur verachtete.
An dem Vorfall waren nur wenige Leute beteiligt gewesen, und die meisten Kollegen behandelten ihn wie vorher. Er und Silverstone hatten den sechsten Stock rassenintegriert. Ansonsten aber lebte er allein auf seiner Insel. Hie und da war ihm seine Einsamkeit sogar lieb.
Mitte September gab es einige kalte Tage, dann einen Hitzeeinbruch, aber trotzdem konnte er es in der Luft spüren, die jeden Morgen durch sein offenes Fenster wehte, eine seltsame Mischung von Meeresozon und Stadtgestank, daß selbst der Nachsommer bald vorbei sein würde. An seinem nächsten freien Tag, einem Sonntag, zog er die Decke vom Bett, nahm seinen Badeanzug und fuhr mit dem alten Volkswagenbus zum Revere-Strand, dort war es hübscher als am Coney, wenn auch bei weitem nicht so nett wie am Jones. Als Spur um halb elf Uhr vormittags hinkam, lag der Strand fast verlassen da, aber nach dem
Essen, das für ihn aus heißen Wursteln, einem Brötchen und einer Flasche Millers' bestand, kamen die Leute.
Er nahm seine Decke, beschloß auf Erkundung auszugehen und wanderte mühsam am Rand des Wassers dahin, bis er die städtischen Strandanlagen verlassen hatte. Die Anlagen hier waren zwar noch immer öffentlich, wurden jedoch nicht instandgehalten. Der Sand war aschgrau und spärlich statt weiß und tief, mit Lastwagen herangeführt, und streckenweise gab es nur rauhe Steine. Aber hier waren weniger Menschen. In unmittelbarer Nachbarschaft ließen sich vier gutgewachsene Kerle voll Selbstgefälligkeit und strotzenden Muskeln nieder; ein dicker Mann mit einem blassen Bauch lag wie ein Schwamm im Sand, das Gesicht mit einem Handtuch bedeckt; zwei Kinder liefen und sprangen tänzelnd am weißschäumenden Rand der Brecher dahin und kreischten wie kleine Tiere; ein Negermädchen lag ausgestreckt in der Sonne.
Er ging langsam an dem Mädchen vorbei, um mehr Zeit zu haben, es zu betrachten, dann kehrte er um und wählte einen Platz etwa vier Meter von der Stelle entfernt, wo sie mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag. Anderswo gab es schöne Sandstellen, dort, wo er seine Decke ausbreitete, nur Steine; als er sich setzte, gruben sie sich in sein Fleisch.
Sie war heller als er, eine Art Schokoladebraun gegenüber seinem Purpurschwarz. Sie trug einen einteiligen Trikotanzug, sehr weiß, auf Sittsamkeit bedacht, ein Eindruck, der jedoch dank der Figur des Mädchens nicht zustande kommen konnte. Ihr Haar war kraus, schwarz und so kurz geschnitten, daß es ihren schönen Kopf wie eine prächtige enganliegende Kappe schmückte. Sie war, wie kein weißes Mädchen je zu sein erhoffen konnte.
Nach einer Weile waren es die Kerle müde, alle möglichen Muskeln spielen zu lassen, und warfen sich in den
Atlantik. Der vierte, anscheinend von Johnny Weismüller mit Isadora Duncan gezeugt, trabte verächtlich über das entmutigende Gelände und hockte sich neben die Decke des Mädchens. Ah, er bestand nur aus Muskeln, vom Scheitel bis zur Sohle: er redete über das Wetter, die Gezeiten und lud sie großzügig auf ein Coca-Cola ein. Endlich sah er seine Niederlage ein und zog sich finster zurück, um einen Bizeps, groß wie eine nachgeburtliche Brust, anschwellen zu lassen.
Spurgeon hielt sich zurück und gab sich damit zufrieden, sie einfach nur zu beobachten, gewarnt, daß das keine Frau für eine beiläufige Annäherung war.
Nach unbestimmter Zeit setzte sie ihre Badekappe auf, stand auf und ging ins Meer. Klinisch geschult wie er war, bemerkte er interessiert, daß es ihn körperlich schmerzte, ihr zuzusehen.
Er verließ seine Decke und machte die lange Wanderung zu dem blauen Volkswagenbus zurück; er ging schnell, zwang sich jedoch, nicht zu laufen. Die Gitarre lag, wo er sie gelassen hatte, auf dem Boden unter dem zweiten Sitz. Er trug sie zur Decke zurück und verbrannte sich auf den heißen Steinen jämmerlich die Sohlen. Er war überzeugt, daß sie, wenn er zurückkam, für immer fort sein würde, aber sie saß auf ihrer Decke, nachdem sie sichtlich lange geschwommen und ihr Haar trotz der Kappe naß geworden war. Sie hatte sie abgenommen und saß zurückgelehnt, das Gewicht auf die Arme gestützt. Von Zeit zu Zeit schüttelte sie den Kopf, während ihr Haar in der Sonne trocknete.
Er setzte sich nieder und begann die Saiten zu zupfen. Auf Gesellschaften und bezahlten Veranstaltungen hatte er diese Kraftprobe unzählige Male versucht, ein Mädchen ohne Worte, nur mit den Klängen seiner Gitarre zu erobern. Manchmal hatte es funktioniert, manchmal war es
danebengegangen. Er vermutete, daß meistens, wenn es funktioniert hatte, auch alles andere funktioniert hätte, Augen, Rauchsignale, ein gesungenes Telegramm oder ein winkender Finger.
Trotzdem, in der Liebe ist jede Waffe erlaubt.
Die Gitarre sprach sie schüchtern an, in offener, tapfer jede Erotik zurückdrängender Unaufrichtigkeit.
Ich möchte Ihr Freund sein, namenloses Fräulein.
Ich möchte wie ein Bruder zu Ihnen sein.
Glauben Sie mir.
Das Mädchen starrte aufs Meer hinaus.
Ich möchte mit Ihnen über die Trugschlüsse Schopenhauers reden.
Ich möchte mit Ihnen über die besten künstlerischen Filme streiten.
Ich möchte mit Ihnen an einem Regennachmittag fernsehen und Ihnen die Hälfte meiner Haferflockenkekse schenken.
Sie warf ihm schnell einen Blick zu, sichtlich verblüfft.
Ich möchte über Ihre Wortspiele kichern, gleichgültig, wie pathetisch sie sind.
Ich möchte von Herzen über alle Ihre Witze lachen, selbst wenn sie mir unverständlich sind. Seine Finger flogen dahin, spielten Läufe und freudige kleine Lachausbrüche, und sie wandte ihm den Kopf zu ... und ... ah, sie lächelte!
Ich möchte diesen amüsierten afrikanischen Mund küssen. Vorsicht, heimtückische Gitarre.
Du bist eine schwarze Blüte, die nur ich auf diesem wunderbaren schmutziggrauen Strand entdeckt habe.
Jetzt war die Musik kaum mehr unerotisch zu nennen. Sie flüsterte ihr ins Ohr, streichelte sie.
Das Lächeln verblaßte. Jetzt wandte sie das Gesicht von seinen Augen ab.
Ich muß mein Gesicht in dem runden Braun deines Bauchs vergraben.
Jetzt träume ich davon, nackt mit dir zu tanzen, dein Gesäß in meinen Handflächen.
Das Mädchen stand auf. Sie hob ihre Decke auf, ohne sie zu falten, und verließ den Strand, sie ging schnell, vermochte jedoch nicht, ihren wunderbaren Gang zu verbergen, zu verstellen oder zu ruinieren.
Gottverdammte heißärschige Gitarre.
Er hörte zu spielen auf und sah erst jetzt einen Wald häßlicher Knie vor sich. Die vier Kerle, der Dicke, die beiden Kinder und einige Fremde standen wie erstarrt neben seiner Decke.
»Huui«, flüsterte er, ihr nachblickend.
Die folgenden sechsunddreißig Stunden waren arg. Noch am selben Abend bereitete er vier Patienten für einen chirurgischen Eingriff vor, eine Aufgabe, die er haßte; den Bauch oder den Hodensack eines Patienten zu rasieren, mit dem Messer in unerwartete Muttermale zu geraten, unvermutete Flecken abzuschneiden und widerborstige kleine Haarbälge, die der schärfsten Klinge spotteten, war etwas ganz anderes, als das eigene, wenn auch häßliche Gesicht zu rasieren. Er assistierte Silverstone am Montagmorgen getreulich bei einer Blinddarmoperation und durfte zur Belohnung ein übles Paar infizierter Mandeln ausschälen.
Dienstag, acht Uhr früh, war er dienstfrei und um zehn Uhr dreißig auf dem Strand. Der Vormittag war bedeckt und windig, und als er hinkam, waren nur sehr wenige
Leute da. Er sah den Möwen zu und lernte eine Menge über leichte Aerodynamik. Um etwa elf Uhr dreißig brach die Sonne durch, er fror nicht mehr so, und als er vom Mittagessen zurückkam, waren allmählich mehr Leute eingetroffen, aber es blieb leicht windig, und von dem Mädchen keine Spur.
Er verbrachte den frühen Nachmittag damit, auf der Suche nach sinnlichen braunen Beinen über andere zu steigen. Aber er fand das richtige Paar nicht, daher übte er Kraulen und Hand-über-Hand-Schwimmen, schlief etwas, wobei er von Zeit zu Zeit mit einem jähen Ruck erwachte, sich aufsetzte und auf dem Strand herumstarrte. Schließlich las er eine Sechsjährige namens Sonja Cohen auf, und sie bauten aus Sand Jerusalem, ein interkonfessionelles Bauprojekt, das um vier Uhr sieben von einer römischen Welle zerstört wurde. Das kleine Mädchen setzte sich ans Wasser und weinte.
Er verließ den Strand im allerletzten Augenblick, kehrte gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus zurück, um ganz schnell zu duschen, und meldete sich in der Abteilung zum Dienst, immer noch mit leicht knirschendem Sand aus Sonjas Schaufel auf der Kopfhaut.
Die Schicht in der Abteilung war langweilig, aber leichter zu ertragen. Er hatte sich mittlerweile mit der Tatsache abgefunden, daß er das Mädchen nie wiedersehen würde, und er war zu der Überzeugung gelangt, daß sie nicht so auffallend gewesen sein konnte, wie in seiner Erinnerung. Am Donnerstagabend stellte der Kretin Potter in einer Selbstdiagnose einen Virus fest, was wahrscheinlich bedeutete, daß er etwas ganz anderes hatte, und befahl sich ins Bett. Adam stellte die Diensteinteilung um, mit dem Ergebnis, daß Spurgeon vier Stunden Dienst in der Unfallstation bezog.
Als er dort eintraf, saß Meyerson trübsinnig auf einer Bank und las eine Zeitung.
»Was muß ich über den Betrieb hier wissen, Maish?«
»Sehr wenig, Doc«, sagte der Fahrer. »Merken Sie sich eines: Wenn jemand hereinkommt, der aussieht, als kratzte er ab, dann weisen Sie ihn in eine der Abteilungen ein. Schnell. Alte ungeschriebene Regel.«
»Warum?«
»In Stoßzeiten ist dieser Laden gerammelt voll. Manchmal müssen die Patienten lange warten. Sehr lange. Es spricht sich herum, daß irgendwer im Unfall abgekratzt ist, und das erste, was die Leute denken, ist, daß in dieser gottverdammten Station jeder stirbt, bevor sich einer um ihn kümmert.«
Dies veranlaßte Spurgeon, sich auf eine anstrengende Arbeit gefaßt zu machen, aber es wurden vier ruhige Stunden, überhaupt nichts von der wahnwitzigen Tätigkeit, die er erwartet hatte. Er las die einzige Notiz auf dem Wandbrett dreimal,
An: Das gesamte Personal
Von: Emmanuel Brodsky, R. N., Ph. B., Chefpharmazeut Betrifft: Fehlende Rezeptblöcke
Der pharmazeutischen Abteilung kam zur Kenntnis, daß in den vergangenen zwei Wochen eine Anzahl von Rezeptblöcken verschiedener Kliniken als fehlend gemeldet wurden. Im Sommer dieses Jahres entdeckte man, daß auch eine gewisse Menge von Barbituraten und Amphe-taminen fehlte. Wegen des zunehmenden Mißbrauchs von Rauschgiften legt die pharmazeutische Abteilung dem Personal nahe, weder Rezeptformulare noch Drogen und Medikamente an Stellen zu hinterlassen, wo sie in unverantwortliche Hände fallen können.
Am frühen Abend brachte Maish eine Alkoholikerin herein, die Spur nicht sehr überzeugend erzählte, die Quetschungen an ihrem mißhandelten Körper rührten von einem Sturz auf der Treppe her. Er wußte, daß sie jemand -ihr Mann, ein Liebhaber? - geschlagen hatte. Die Röntgenaufnahmen erwiesen sich als negativ, aber er wartete mit der Entlassung, bis er, der Krankenhausregel folgend, daß nur vorgesetzte Fachärzte endgültige Anordnungen über Unfallpatienten treffen dürften, einen Oberarzt herbeigerufen hatte. Adam hatte einen freien Abend und arbeitete in Woodborough. Endlich kam Meomartino und schickte die Frau zu heißen Bädern heim. Es war genau das, was er selbst zwanzig Minuten früher getan hätte, dachte Spurgeon, und hielt Krankenhausregeln für läppisch.
Kurz nach zehn Uhr abends kam ein farbiges Paar namens Sampson mit seinem vierjährigen Kind, das schrie und aus einer zerschnittenen Handfläche blutete. Nachdem er Glassplitter entfernt hatte, legte er ein Dutzend Nähte an; der kleine Junge war irgendwie vom Waschbecken im Badezimmer heruntergefallen, während er eine Medizinflasche in der Hand hielt.
»Was war in der Flasche?«
Die Frau blinzelte. »Irgendein altes Zeug. Ich habe vergessen, was. Es war rötlich. Ich hatte es schon sehr, sehr lange.«
»Sie haben Glück. Er hätte den Inhalt auch trinken können. Jetzt wäre er vielleicht tot.«
Sie schüttelten verständnislos den Kopf, als spräche er eine fremde Sprache.
Diese Leute, dachte er.
Er konnte ihnen nur eine kleine Flasche Ipecac geben und hoffen, daß sie, falls der Junge je etwas Giftiges, aber Nichtätzendes schluckte, daran denken würden, ihm sofort eine Dosis davon zu geben, so daß er speien würde, während sie auf den Arzt warteten.
Falls sie einen Arzt rufen, dachte er.
Knapp nach Mitternacht brachte ein Polizeistreifenwagen Mrs. Therese Donnelly herein; sie war angeschlagen, aber wütend.
»Ich habe ein Rätsel für Sie. Was wird aus einem Iren, wenn man ihn zum Polizisten macht?«
»Ich passe«, sagte er.
»Ein Engländer.« Der Polizist an ihrer Seite bewahrte sorgfältig eine ausdruckslose Miene.
Mrs. Donnelly war einundsiebzig. Sie war mit ihrem Wagen mit voller Wucht an einen Baum gefahren. Sie hatte sich bei dem Aufprall den Kopf angeschlagen, behauptete jedoch, sie fühle sich wohl. Es war erst der dritte Unfall, den sie in mehr als achtunddreißig Jahren vorsichtigen Fahrens gehabt hatte, betonte sie.
»Die beiden anderen waren ganz winzig, verstehen Sie, und ich war nie schuld. Die Männer, diese Esel, zeigen ihre wahre Natur erst, wenn man sie hinter ein Steuer setzt.« Und gab, zusammen mit ihrer Empörung, die schwachen Dünste von geistigen Getränken von sich.
»Jetzt habe ich ein Rätsel für Sie«, sagte Spurgeon und zog aus irgendeiner Gedächtnislade die Witzfrage heraus, die er vor Jahren in einem zweifellos schon lange verbrannten Witzbuch gelesen hatte: »Falls Irland versinkt, was würde auf dem Wasser schwimmen?«
Der Polizist und die alte Dame dachten angestrengt nach, sagten jedoch nichts.
»Kork«, sagte er.
Sie kreischte vor Entzücken. »Was ist der größte Teil eines Pferdes?«
Über ihren Kopf hinweg tauschten er und der Polizist ein Grinsen wie einen heimlichen brüderlichen Händedruck.
»Nein, ihr Schmutzfinken! Die Antwort lautet: der Haupt-teil!«
Senilität? fragte er sich. Sie war munter genug, um bissig zu sein, und protestierte während der ganzen Untersuchung, die nichts Bemerkenswertes ergab.
Er ordnete Schädelaufnahmen an und studierte eben das feuchte Röntgenbild, als ihr Sohn eintraf. Arthur Donnelly hatte ein fleischiges Gesicht und war sichtlich besorgt.
»Ist sie in Ordnung?«
Die Filme zeigten keine Schädelfrakturen. »Anscheinend ja. Aber ich halte es für unklug, sie in ihrem Alter noch selbst fahren zu lassen.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber es ist ihr größtes Vergnügen. Seit dem Tod meines Vaters ist es ihre einzige Freude, mit dem Wagen Freundinnen zu besuchen. Sie spielen Bridge zu dritt und genehmigen sich vielleicht hier und da einen kleinen Schluck.«
Oder auch zwei, dachte Spurgeon. »Sie scheint ausgezeichnet in Form zu sein«, sagte er. »Aber angesichts der Tatsache, daß sie einundsiebzig ist, behalten wir sie vielleicht über Nacht zur Beobachtung hier.«
Mrs. Donnelly machte bei dem Vorschlag ein steinernes Gesicht. »Was ist ein Narr?« fragte sie.
»Ich passe«, sagte er hilflos.
»Jemand, der nicht verstehen kann, daß ich nach dem, was ich durchgemacht habe, im eigenen Bett schlafen will.«
»Schauen Sie, wir kennen dieses Haus«, sagte ihr Sohn. »Mein Bruder Vinnie - Sie kennen ihn, Vincent X. Don-nelly, den Abgeordneten?«
»Nein«, sagte Spurgeon.
Donnelly sah verärgert drein. »Nun, er ist einer der Treuhänder des Krankenhauses, und ich weiß, er würde wünschen, daß sie heimgeht.«
»Wir werden Ihrer Mutter hier alle Pflege angedeihen lassen, Mr. Donnelly«, sagte Spurgeon.
»Lassen Sie das. Wir kennen dieses Haus. Es ist kein Rosenbeet. Euch fallen genug Menschen zur Last, ohne daß ihr euch auch noch um unsere alte Dame Sorgen machen müßt. Seien Sie nett und lassen Sie sie mich heimnehmen in ihr eigenes Bett. Wir werden Dr. Francis Dela-hanty rufen, der sie seit dreißig Jahren kennt. Wir stellen sogar Privatschwestern zu ihrer Pflege an. Solange Sie wollen.«
Spurgeon rief Meomartino an, der ungeduldig zuhörte, während Spurgeon kurz die Befunde umriß.
»Ich beobachte unter anderem gerade einen Herzstillstand«, sagte Meomartino. »Außerdem brauche ich heute abend unbedingt noch etwas Schlaf. Brauchen Sie mich wirklich?«
Es war bestenfalls ein stillschweigender Vertrauensbeweis, aber er klammerte sich daran. »Ich kann es selbst erledigen«, sagte er. Er entließ die alte Frau aus dem Krankenhaus und kam sich wie ein richtiger Arzt vor.
Der Rest der Nacht verlief ruhig. Er machte seine eigenen Nachtvisiten, gab Medikamente aus, wechselte einige Verbände, sagte dem gespenstigen alten Gebäude gute Nacht, es gelang ihm sogar, drei Stunden ununterbrochener Ruhe vor dem Morgen zu erhaschen, und er kehrte am Ende seiner Schicht ins Bett zurück, um bis mittags zu schlafen.
Auf dem Weg zum Eßsaal der Hausärzte änderte er seinen Entschluß fast mitten in einem Schritt, und ohne erst seine Badesachen zu holen, verließ er das Krankenhaus und fuhr zum Revere-Strand.
Sonja Cohen war nirgendwo zu sehen, aber das Mädchen lag auf dem Platz, wo er sie zuerst gesehen hatte, und beobachtete ihn, als er mit Sand in seinen Wildlederschuhen auf sie zuging.
Er meinte etwas zu erkennen - ein kurzes freudiges Aufblitzen in den Augen? -, bevor sie ihn anblickte, als hätte sie ihn noch nie gesehen.
»Darf ich mich neben Sie setzen?«
»Nein«, sagte sie.
Er humpelte mit seinen sandgefüllten Schuhen zu der steinigen Stelle für stumme Verehrer, wo er seine Decke am ersten Tag ausgebreitet hatte. Als er sich niedersetzte, verbrannten ihm die Steine das Fleisch durch den Stoff seiner Hose.
Er blieb einfach stumm dort sitzen und sah sie an. Die Sonne war sehr heiß.
Das Mädchen versuchte sich zu benehmen, als sei sie allein auf dem Strand, bewegte sich von Zeit zu Zeit mit zielloser Anmut, um ins Wasser zu gehen, schwamm mit einem Vergnügen, das ungeziert und echt zu sein schien, und verließ dann das Wasser, um sich wieder auf der alten U. S.-Navy-Decke niederzulassen.
Es war einer jener frühherbstlichen Tage, wie sie manchmal direkt aus den Tropen nach New England kommen. Er saß in der strahlenden Sonne und spürte die Säfte aus seinen Poren fließen, bis sein verfilztes, kurz gestutztes Haar naß war, der Schweiß wie Regentropfen über seine Wangen rollte, seine Kleidung an seinem Körper klebte.
Er hatte das Mittagessen versäumt. Gegen drei Uhr hatte er ein hohles, leichtes Gefühl im Kopf, als sei sein Gehirn durch die mächtig ausdörrende Sonne zu gewichtloser Asche verbrannt. Seine Augen schmerzten von seinem eigenen Salz. Wenn er sie jetzt offenhielt, sah er drei Mädchen, die sich wie ein schickes modernes Ballett-Team in anmutiger Eintracht bewegten. Periodischer Strabismus, sagte er sich und dachte, wie wunderbar tüchtig Augenmuskeln für gewöhnlich sind.
Kurz nach drei Uhr dreißig gab sie auf und entfloh wie am ersten Tag. Diesmal jedoch folgte er ihr.
Er wartete vor dem Badehaus, als sie herauskam. Jetzt trug sie ein gelbes Baumwollkleid, ihre Decke und die Badesachen. Er ging ihr entgegen.
»Hören Sie ...«, sagte sie.
Er sah, daß sie Angst hatte.
»Bitte«, sagte er. »Ich bin weder ein Lustmörder noch ein Zuhälter noch sonst etwas Derartiges. Ich heiße Spurgeon Robinson. Ich bin ehrbar, äußerst - sogar bis zur Langeweile, aber ich will es nicht riskieren, Sie nicht mehr zu treffen. Es ist ja niemand da, der uns einander vorstellen könnte.«
Sie wandte sich zum Gehen. »Werden Sie morgen wieder hier sein?« fragte er, ihr folgend.
Sie antwortete nicht.
»Sagen Sie mir wenigstens Ihren Namen.«
»Ich bin nicht das, was Sie suchen«, sagte sie. Sie blieb vor ihm stehen, sah ihn an, und die harte Verachtung in ihren Augen gefiel ihm. »Sie wollen ein kleines aufregendes Mädchen, um die langweiligen Tage am Strand amüsanter zu gestalten. Ich habe Ihnen nichts Aufregendes zu bieten, Mister. Warum versuchen Sie es nicht einfach bei einer anderen?«
Das nächste Mal sah sie sich um, als sie die Treppe an der Hochbahn erreichte.
»Sagen Sie mir bloß Ihren Namen. Bitte«, sagte er leise.
»Dorothy Williams.«
Dazustehen und hinaufzustarren, wie sie die steile Treppe emporkletterte, war kaum etwas Ehrbares, aber er konnte seine Augen nicht losreißen, bis sie die Marke in das Drehkreuz oben fallen ließ und verschwand.
Sehr bald löschte ein Zug, ein Drache, der alles erbeben ließ, das Licht oben, und als er abfuhr, ging auch Spur.
Die Sonne schien, aber die Hitze war vorbei, zweifellos endgültig. Er trug trotzdem seine Badehose und war irgendwie nicht überrascht, sie dort zu finden, als er ankam. Sie begrüßten einander schüchtern, und sie protestierte nicht, als er seine Decke neben der ihren ausbreitete, wo der Sand am weichsten war.
Sie plauderten.
»Ich habe mir die ganze Woche die Augen aus dem Kopf geschaut.«
»Ich war in der Schule. Gestern war mein erster freier Tag.«
»Sie sind Studentin?«
»Lehrerin. Kunstunterricht an der Mittelschule, siebente und achte Klasse. Sie sind Musiker?«
Er nickte in dem Bewußtsein, daß es keine Lüge war, und weil er noch nicht auf den Rest eingehen wollte und zunächst lieber alles über sie erfahren wollte. »Malen Sie, bildhauern Sie, machen Sie Sachen aus Ton?«
Sie nickte.
»Welches davon?« fragte er. »Ich meine, was ist Ihr Spezialfach?« »Ich bin in allem ganz gut, aber nirgends wirklich gut. Deshalb unterrichte ich. Wenn ich eine Begabung wäre -wenn ich so arbeiten könnte, wie Sie spielen -, würde ich es ausschließlich und ständig machen wollen.«
Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Das ist der Ausspruch eines Amateurs. ,Tut das Schöpferische oder sterbt dafür, alle ihr schrecklich Begabten, während wir übrigen Unglückseligen euch behaglich zusehen.'«
»Sie haben kein Recht, mich als Heuchlerin hinzustellen«, sagte sie.
Selbst ihr Mißvergnügen machte ihm Freude. »Das tue ich nicht.
Aber mein ursprünglicher Eindruck ist der, daß Sie kein Mädchen sind, das Risiken auf sich nimmt.«
»Eine altjüngferliche Tante.«
»Zum Teufel, nein. Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber ich bin ja fast eine alte Jungfer«, räumte sie ein.
»Wie alt?«
»Letzten November vierundzwanzig.«
Das überraschte ihn; sie war nur um ein Jahr jünger als er. »Sie glauben, daß Sie schon zu verwelkt zum Heiraten sind?«
»Oh, es hat nichts mit Heiraten zu tun. Ich spreche über eine Geistesverfassung. Ich werde allmählich konservativ.«
»Eine kleine Farbige hat kein Recht darauf, konservativ zu werden.«
»Interessieren Sie sich sehr für Politik?«
»Dorothy, ich bin schwarz«, sagte er. Es war das erstemal, daß er sie bei ihrem Namen nannte; sie schien erfreut, entweder darüber oder über seine Antwort.
Er begann Sandburgen zu bauen, und sie kniete nieder und grub ein Loch, damit sie feuchten Sand von unten bekämen, dann begann sie selbst mit dem feuchten Sand zu spielen, modellierte ein Gesicht, die Augen auf seine Züge gerichtet, während sie mit langen zarten Fingern den Sand in einer Art streichelte, daß sich seine Knochen in Gelee verwandelten. Sie hatte recht mit ihrem Talent, dachte er, als er das Gesicht im Sand betrachtete, das keine sehr starke Ähnlichkeit mit dem seinen trug.
Als sie schließlich voll Sand waren, sprang sie plötzlich auf und lief ins Wasser, und er folgte ihr durch die eisige Brise und entdeckte zu seiner Erleichterung, daß das Wasser zum Unterschied von der kalten Luft seine Haut wie warme Seide bedeckte. Sie schwamm direkt ins Meer hinaus, und er plantschte tapfer dahin, um neben ihr zu bleiben. Als er fast aufgeben mußte, kehrte sie um, und sie begannen Wasser zu treten, die Körper nahe beisammen, aber einander nicht berührend. »Sie sind eine tolle Schwimmerin«, keuchte er mit einem stechenden Schmerz in der Brust.
»Wir wohnen in der Nähe eines Sees. Ich bin sehr viel im Wasser.«
»Ich habe erst mit sechzehn Jahren schwimmen gelernt, an der Riviera.« Sie glaubte, er scherze. »Nein, ehrlich.«
»Was haben Sie denn dort gemacht?«
»Ich habe meinen Vater nie gekannt. Er war Matrose der Handelsmarine, auf Öltankern. Meine Mutter heiratete wieder, als ich zwölf war, einen wunderbaren Menschen. Meinen Onkel Calvin. Als ich nach meinem wirklichen Vater fragte, war alles, was sie mir je erzählten, nur, daß er tot sei. In dem Sommer, als ich sechzehn wurde, beschloß ich, den Versuch zu machen, die Welt so zu sehen, wie er sie gesehen hatte. Jetzt erscheint es dumm, aber vermutlich dachte ich' irgendwie, daß ich ihn vielleicht finden würde. Zumindest aber verstehen.«
Sie trat das Wasser mit sehr wenig Bewegung, der weiße Badeanzug war untergetaucht, ihre glatten braunen Schultern über der Oberfläche sahen nackt und lieblich aus. »Es ist nicht dumm«, sagte sie. Auf ihrer Oberlippe über dem vollen rosa Mund lag eine ganz schwache weiße Staubschicht, als das Meerwasser in der Sonne trocknete. Er hätte sie lieber mit seiner Zunge gelöscht, hob jedoch einen nassen Daumen und fuhr ihr sanft über die Lippe.
»Salz«, erklärte er, als sie zurückzuckte. »Nun, ich konnte keinen Job auf einem Tanker bekommen, was ein Glück für mich war. Aber ich sagte, ich sei achtzehn, und wurde auf der Ile de france als Pianist aufgenommen. Die erste Nacht in Le Havre herrschte dichter Nebel, und ich lungerte einfach nur in den Straßen herum, sah mir alles an, sagte nein zu den Huren und versuchte mir vorzustellen, daß ich älter und zäher sei und eine Frau und einen Babysohn hätte, die auf mich in den Staaten drüben warteten, aber natürlich ging das nicht. Ich konnte es mir nicht vorstellen, wie es für meinen Vater wirklich gewesen war.«
»Gott. Das ist das Traurigste, das ich je gehört habe.«
Er beschloß, ihre Traurigkeit auszunutzen, und bewegte sich wie ein ungeschickt werbender Seelöwe, um mit seinem Mund den ihren zu berühren. Sie riß sich los, überlegte es sich dann, legte die Hände auf seine Schultern und für einen kurzen Augenblick die Lippen weich auf die seinen, ein Kuß, der nach Meer schmeckte, ohne Leidenschaft, aber mit sehr viel Zärtlichkeit.
»Ich kann mich an viel Traurigeres erinnern«, sagte er und griff wieder nach ihr, und sie zeigte ihm ihre schönen Zähne, stemmte beide Füße gegen seine Brust und stieß sich von ihm ab, kein wirklicher Fußtritt, aber es genügte, daß er unterging und Ozean inhalierte, und als er zu husten aufhörte, waren sie einer Meinung, daß es Zeit war, das Wasser zu verlassen.
Sie schwammen an Land, zitterten vor Kälte, bekamen eine Gänsehaut, und er bot ihr an, sie mit dem Handtuch warm zu reiben, aber sie lehnte ab. Sie lief den Strand entlang, um sich aufzuwärmen, und es war sogar noch schöner als wenn sie ging. Es war zu schnell vorbei, sie kehrten zur Decke zurück, und sie öffnete einen Sack, den er für einen Strickbeutel gehalten hatte, und teilte einen sehr guten Lunch mit ihm. »Aber Sie haben mir noch immer nicht erzählt, wie Sie schwimmen lernten«, sagte sie.
»Oh.« Er schluckte Thunfischsalat auf Roggenbrot. »Ich machte die Rundfahrt den ganzen Sommer mit, Manhattan - Southampton - Le Havre, zwei Tage Pause, und dann denselben Weg retour. Es war ein elegantes Schiff, und ich sparte Geld, aber alles, was ich sah, war Wasser. Ich hatte viel zu große Angst, auch nur den Nachtzug nach Paris zu nehmen. Gerade um diese Jahreszeit blieb das Schiff zum Überholen eine Woche lang in Le Havre. Auf dem Schiff gab es einen Zahlmeister, einen Burschen, der Dus-seault hieß. Seine Frau führte eine Boutique für Schmarotzer in Cannes, und er bot mir an, mitzufahren, wenn ich abwechselnd mit ihm den Peugeot lenkte. Die Fahrt dauerte dreißig Stunden. Während er es mit seiner Frau trieb, saß ich täglich am Strand und starrte in Bikinis. Eine französische Teenagerbande adoptierte mich gewissermaßen. Eines der Mädchen lehrte mich in drei Tagen schwimmen.«
»Haben Sie sie geliebt?« fragte sie nach einer Pause.
»Es war ein weißes Mädchen. Meine Erinnerungen an die Amsterdam Avenue waren noch zu deutlich. Damals hätte ich mir eher die Kehle aufgeschlitzt.«
»Und jetzt?«
»Jetzt?« Jahrelang war das kleine französische Mädchen eine Hauptfigur seiner sexuellen und sozialen Phantasien gewesen. Wiederholt hatte er sich gefragt, was wohl geschehen wäre, wenn er dortgeblieben wäre, sie wirklich kennengelernt, sie umworben, sie geheiratet hätte, ein Europäer geworden wäre. Manchmal hatte ihn der verlorene Traum in Sehnsucht und Bedauern erstarren lassen; meistens jedoch sagte er sich, daß es eine Katastrophe geworden wäre. Das liebliche junge Mädchen wäre wahrscheinlich zu einer zänkischen Frau herangewachsen, die Leute hätten mit der Zeit ihre Farbblindheit verloren, die Schlange hätte sich ihren Weg ins Paradiese geschlängelt. »Jetzt ... Ich meine, daß Sie zu viele Fragen stellen«, sagte er.
Er bat sie, mit ihm abendessen zu gehen, aber sie lehnte ab. »Meine Eltern erwarten mich.«
»Ich fahre Sie heim.«
»Es ist zu weit«, sagte sie, aber er bestand darauf. Sie lachte, als sie den VW-Bus sah. »Sie sind kein Musiker. Sie sind irgendein Lieferant.«
»Ein Band-Leader ist ein Lieferant. Man transportiert einen Baßspieler, ein paar Hörner, einen Sänger und einen Burschen, der ein ganzes Bündel von Trommeln schleppt.«
Sie schwieg.
»Was ist los?«
»Nichts«, sagte sie.
»Sie tun, als hätten Sie Angst.«
»Woher soll ich wissen, wer Sie sind?« platzte sie heraus. »Ein Mann, dem ich erlaubte, mich an einem öffentli-chen Strand aufzulesen. Sie können ein Pusher sein. Sie können etwas viel Schlimmeres sein.«
Er lachte hell auf. »Ich bin ein Strandgutjäger«, sagte er. »Ich werde Sie auf eine einsame Insel entführen und Ihnen Frangipani ins Haar flechten.« Fast hätte er ihr die Sache mit der Medizin erzählt, aber er unterhielt sich zu gut, und sein Heiterkeitsausbruch war so spontan, daß sie beruhigt war. Ihre Stimmung schlug um, sie wurde gesprächig, fast heiter. Es machte ihm Spaß, nur mit ihr beisammen zu sein, und bevor er es merkte, bog der Volkswagen auch schon bei einem Ort namens Natick von der Massachusetts-Autobahn ab. Das Haus war nur einige Minuten von der Mautstraße entfernt, ein peinlich sauberer Bungalow, mit verwitterten Schindeln verkleidet, in einer ansonst weißen Umgebung. Die Mutter war dünn und mager, mit scharfen Zügen, die auf eine längst vergessene weiße Vergewaltigung hindeuteten. Der Vater war ein brauner, stiller Mann, der aussah, als verbringe er seine freien Stunden damit, den Rasen zu maniküren, die Hecke zu stutzen, ängstlich vergleichende Blicke auf die nahegelegenen angelsächsischen und semitischen Rasen und Büsche zu werfen.
Die Eltern gaben ihm unsicher die Hand, waren jedoch aufrichtig erfreut, daß das Mädchen jemanden heimgebracht hatte. Es war ein Kind da, eine dreijährige Marion mit verfilztem schwarzem Haar und einer Milchkaffeehaut. Er entdeckte, daß er unwillkürlich von einem Gesicht zum anderen schaute und die sich wiederholenden Züge bemerkte.
Ihr Kind, sagte er sich.
Mrs. Williams besaß eine feine angeborene Wahrnehmungsgabe. »Wir nennen sie Midge«, sagte sie. »Die Tochter meiner Jüngsten, Janet.«
Sie führten ihn in die Laube hinter dem Haus, einem Platz im tiefen Schatten, nach Trauben duftend, aber voll Stechmücken. Während Spurgeon nach ihnen schlug, schenkte Mr. Williams Bier ein, bei dessen Herstellung er mitgeholfen hatte.
»Qualitätskontrolle. Vom Produkt Proben nehmen, während es durch die einzelnen Herstellungsphasen geht. Chemische und bakteriologische Überprüfungen jeder Partie während der Gärung durchführen.« Er hatte in der Brauerei als Kehrer begonnen und dann sechs Jahre als Verlader gearbeitet, vertraute er Spur an, während seine Frau und seine Tochter mit einer Geduld schwiegen, die deutlich lange Praxis verriet. Er mußte eine Unzahl von Prüfungen bestehen, um den Job zu erhalten. Und dann kam sein Schlager:
»Gegen drei Weiße!«
»Wunderbar«, sagte Spurgeon.
»Bildung ist wunderbar«, sagte Mr. Williams. »Das ist der Grund, warum es mich freut, Dorothy als Lehrerin und das tun zu sehen, was sie für die jungen Leute nur tun kann.« Er hob den Kopf. »Was machen Sie, mein Sohn?«
Er und das Mädchen sprachen gleichzeitig.
»Er ist Musiker.«
»Ich bin Arzt.«
Ihre Eltern waren offensichtlich verblüfft. »Ich bin Arzt«, sagte er. »Spitalsarzt an der chirurgischen Abteilung im Suffolk County General Hospital.«
Sie sahen ihn an, die Eltern staunend, das Mädchen angewidert.
»Mögen Sie Hühnerpastete?« fragte Mrs. Williams und strich sich die Schürze glatt. Er mochte sie so, wie sie aufgetragen wurde, dampfend, mit Semmelbröseln überbak-ken und mit mehr mageren Hühnerstücken als Gemüse darin, mit frischem Sommerkürbis und kleinen Kartoffeln, die sie wahrscheinlich selbst in dem großen Gemüsegarten hinter dem Haus zogen. Als Nachtisch gab es eisgekühltes Rhabarber-Apfelmus, gefolgt von eisgekühltem Zitronentee. Während die Frauen das Geschirr spülten, spielte Mr. Williams alte Carusoplatten, die zerkratzt, aber interessant waren.
»Er konnte mit seiner Stimme ein Glas zum Bersten bringen«, sagte Mr. Williams. »Vor einigen Jahren, bevor ich Qualitätskontrollor wurde, habe ich hie und da an Wochenenden einen Dollar dazu verdient. An einem Samstagmorgen räumte ich eine Garage drüben im Framingham Center aus, und so eine hochnäsige Dame kam heraus und legte einfach einen großen Stapel Carusoplatten auf den Mist.
,Ma'am', sagte ich, ,Sie werfen soeben ein Stück Ihrer Kultur weg.' Sie maß mich nur geringschätzig, und so legte ich die Platten auf den Rücksitz meines Wagens.«
Sie lauschten der großen toten Stimme, wie sie sich hochschwang; das kleine Mädchen saß leicht wie eine Schneeflocke auf Spurgeons Knie, während aus der Küche das Geräusch von Geschirr kam, das mit der Hand gespült wurde. Nachher sah Spurgeon den Berg Platten durch und suchte nach Dixie oder moderner Musik, fand jedoch nichts Gutes. Es stand ein altes Pianino da, abgenutzt und nachgestrichen, aber, als er einige Tonleitern versuchte, von schönem Klang. »Wer spielt?«
»Dorothy hat einige Stunden genommen.«
Die Frauen waren eben zurückgekommen. »Ich habe genau acht Stunden genommen. Ich spiele drei Kinderlieder von Anfang bis zum Ende und eine Handvoll Bruchstücke. Spurgeon spielt wie ein Berufsmusiker«, erzählte sie ihren Eltern boshaft.
»Oh, spielen Sie uns einige Hymnen vor«, bat die Mutter.
Was zum Teufel, dachte er. Er saß auf dem Drehschemel und spielte Steal Away, Go Down Moses, Rock of Ages, That Old Rugged Cross und My Lord, What a Morning. Keiner von den vieren hatte eine anständige Stimme, und jeder mistige Weiße, der behauptet, alle Neger besäßen einen angeborenen Rhythmus, hätte den alten Herrn hören sollen. Aber er lauschte dem Mädchen, nicht wie er einer Berufssängerin zugehört hätte, sondern als ein Mensch, der einem anderen zuhört, und als sich ihre Stimme erhob, dünn und schrill wie eine Rohrpfeife und voll echten Gefühls, als sie so mit ihrer Mutter und ihrem Vater sang, fühlte er sich wie ein Fisch, der mit einem Köder herumgespielt hat und plötzlich erkennt, daß ihm der Widerhaken in der Kehle sitzt.
Sie sagten allerlei Herzliches über sein Spiel, und er murmelte Heucheleien über ihren Gesang, dann gingen die Eltern das Kind schlafen legen und Kaffee kochen. Sobald sie allein waren, behandelte sie ihn, als sei er keinen Fußtritt wert.
»Warum mußten Sie lügen?«
»Habe ich nicht.«
»Sie haben ihnen erzählt, daß Sie Arzt seien.«
»Das bin ich.«
»Mir haben Sie gesagt, daß Sie Musiker seien.«
»Das bin ich. Ich war Musiker, bevor ich Arzt wurde, aber jetzt bin ich Arzt.«
»Ich glaube Ihnen nicht.«
»Ihr Pech.«
Der Vater kam zurück, dann die Mutter mit einem Tablett, und sie tranken Kaffee und aßen Bananenbrot. Er sah, daß es draußen dunkel geworden war, und sagte, daß er gehen müsse.
»Sind Sie Kirchgänger?« fragte die Mutter.
»Nein, Ma'am. Ich glaube, ich war in den letzten fünf Jahren keine sechsmal in der Kirche.«
Sie schwieg einen Augenblick. »Ich schätze Ihre Aufrichtigkeit«, sagte sie endlich. »Welche Kirche besuchen Sie, wenn Sie gehen?«
»Meine Mutter ist Methodistin«, sagte er.
»Wir sind Unitarier. Wenn Sie morgen früh mit uns kommen wollen, sind Sie willkommen.«
»Ich habe irgendwo gehört, daß ein Unitarier jemand ist, der an die Vaterschaft Gottes, die Brüderlichkeit der Menschen und an seine Bostoner Adresse glaubt.«
Henry Williams warf den Kopf zurück und brüllte vor Lachen aber Spurgeon sah die zusammengepreßten Lippen von Mrs. Williams, und merkte, daß er sich wie ein verdammter Narr betrug. »Ich habe die nächsten beiden Sonntage Dienst im Krankenhaus. Ich möchte sehr gern in drei Wochen in der Kirche neben Dorothy sitzen, wenn die Einladung bis dahin noch gilt.«
Er sah, daß beide Eltern sie ansahen.
»Ich gehe nicht in die Kirche«, sagte sie rundheraus. »Ich bin in den Bostoner Tempel Elf gegangen.«
»Sie sind Muselmanin?«
»Nein«, sagte ihre Mutter schnell. »Sie interessiert sich nur sehr für diese Bewegung.«
»Einiges an dieser Religion klingt ganz vernünftig«, sagte Henry Williams unbehaglich. »Ohne Frage.«
Spur bedankte sich bei ihnen und verabschiedete sich, und das Mädchen begleitete ihn zur vorderen Veranda.
»Mir gefallen Ihre Eltern«, sagte er.
Sie lehnte sich an die Haustür und schloß die Augen. »Mein Vater und meine Mutter sind Onkel Tom und seine alte Dame. Und Sie«, sagte sie, öffnete jetzt die Augen und sah ihn an, »Sie haben sie wie ein Scharlatan aus der Hand fressen lassen. Mir erzählen Sie, daß Sie der und der sind, und ihnen sagen Sie, daß Sie ganz jemand anderer seien.«
»Kommen Sie nächstes Wochenende mit mir auf den Strand.«
»Nein«, sagte sie.
»Ich halte Sie für ein sehr schönes Mädchen. Aber ich bettle nicht. Danke für die Einladung.«
Er kam bis zur Gartentür, als ihn ihre Stimme zurückhielt. »Spurgeon.«
Das Weiße ihrer Augen schimmerte in der Dunkelheit auf der weinbewachsenen Veranda. »Auch ich bettle nicht. Aber kommen Sie vor dem Mittagessen und bringen Sie einen warmen Sweater mit. Wir machen einen Spaziergang.« Sie lächelte. »Ich habe mir den Hintern abgefroren, als ich auf dem elenden Strand auf Sie wartete.«
Im Krankenhaus war alles so, wie er es verlassen hatte. Derselbe Geruch kranker Armut hing schwer und verdrossen in der Luft. Der Aufzug knarrte und stöhnte, als er langsam hochstieg. Einem Impuls folgend stieg Spurgeon im vierten Stock aus und schaute prüfend in die Abteilung. Sie war unterbesetzt, da sich einige Schwestern mit dem gleichen Coxsackie-Virus hingelegt hatten, der Potter und mehrere andere Stabsmitglieder gefällt hatte.
»Bitte«, sagte eine Stimme. Hinter einem zugezogenen Vorhang lag die uralte Polin, die Glieder dürr wie Stöcke, von eitrigen Wunden übersät, und starb in den schrecklichen Gerüchen ihrer Ausscheidungen langsam dahin. Er reinigte sie, wusch sie vorsichtig, gab ihr ein Betäubungsmittel, richtete ihren Harnkatheter, beschleunigte das Fließen der intravenösen Flüssigkeit und ließ sie süßer sterbend zurück, als sie vorher dahingestorben war. Als er auf dem Rückweg zum Lift an Silverstones Büro vorbeikam, öffnete sich die Tür.
»Spurgeon.«
»Hallo, Chefmensch.«
»Komm herein, ja?«
Er fühlte sich wieder wohl, hatte die alte Frau, deren Leben verebbte, schon vergessen und erinnerte sich an die junge Frau, deren Leben erst heranreifte. »Was ist los, Baby?«
»Du hattest unlängst abends im Unfall eine Patientin namens Mrs. Therese Donnelly?«
Die Rätseldame. Ein winziger Angstknoten bildete sich in seiner Brust. »Ja, sicher. Ich erinnere mich an den Fall.«
»Sie kam vor sechs Stunden ins Krankenhaus zurück.«
Der Knoten wuchs, versteifte sich. »Willst du, daß ich vorbeigehe und sie mir anschaue?«
Adams Augen waren direkt und ohne zu blinzeln auf ihn gerichtet. »Es wäre eine gute Idee für uns beide, in der Früh dem Pathologen bei der Autopsie über die Schulter zu schauen«, sagte er.
7
ADAM SILVERSTONE
Innerlich hatte Adam Silverstone große Achtung vor den Pathologen, beneidete sie aber nicht. Er hatte ihre lebenswichtige Arbeit oft genug selbst verrichtet, um zu wissen, daß sie die Kenntnisse eines Wissenschaftlers und die Geschicklichkeit eines Detektivs erforderte, aber gefühlsmäßig hatte er nie verstanden, daß sie jemand als Lebensaufgabe der Ausübung der Medizin an Lebenden vorzog.
Er mochte Obduktionen noch immer nicht.
Ein Chirurg lernt den menschlichen Körper als wunderbare Maschine aus Fleisch kennen, eingehüllt in eine bemerkenswerte epidermische Verpackung. Das ganze Ding pulst vor vielschichtigen Prozessen. Seine Säfte und Fasern, die eindrucksvolle Kompliziertheit seiner wunderbaren Substanz sind durchströmt von Leben und ständiger Veränderung. Chemikalien reagieren auf Enzyme; Zellen ersetzen sich selbst, manchmal sogar verbrecherisch; Muskel wirken auf Hebel und Glieder bewegen sich auf Kugellagern; daneben gibt es noch Pumpen, Ventile, Filter, Verbrennungskammern, neutrale Netzwerke, komplizierter als die elektronischen Anlagen eines Riesencomputers - alles arbeitet, während der Arzt versucht, die Bedürfnisse des ganzen integrierten Organismus vorauszusehen.
Im Gegensatz dazu müht sich der Pathologe an verwesenden Objekten ab, in denen nichts arbeitet.
Dr. Sack kam herein, mürrisch vor Sehnsucht nach seinem Morgenkaffee. »Was führt Sie her?« begrüßte er Adam. »Wissensdurst? War doch nicht Ihre Patientin, oder?« Er kochte den Kaffee in einer riesigen angeschlagenen grünen Kanne mit der Aufschrift MUTTER.
»Nein, aber sie wurde auf meiner Station behandelt.«
Dr. Sack knurrte etwas.
Als er ausgetrunken hatte, begleiteten sie ihn in den weißgekachelten Obduktionsraum. Mrs. Donnellys Leiche lag auf dem Tisch. Die Instrumente waren vorbereitet und warteten.
Adam sah sich beifällig um. »Sie müssen einen guten Famulus haben«, sagte er.
»Verdammt richtig«, sagte Dr. Sack. »Er ist seit elf Jahren bei mir. Was wissen Sie über Famuli?«
»Ich habe in meiner Studentenzeit als Famulus gearbeitet. Für den Leichenbeschauer in Pittsburgh.«
»Für Jerry Lobsenz? Gott geb ihm die ewige Ruh', er war ein guter Freund von mir.«
»Auch von mir«, sagte Silverstone.
Dr. Sack hatte es nicht sehr eilig anzufangen. Er saß in dem einzigen Sessel des Raums und las langsam und sorgfältig die Krankengeschichte durch, während sie warteten.
Endlich verließ er seinen Sessel und ging zu der Leiche. Er hielt den Kopf in den Händen und bewegte ihn von einer Seite zur anderen. »Dr. Robinson«, sagte er nach einem Augenblick, »wollen Sie bitte herkommen?«
Spurgeon ging hin, und Adam folgte ihm. Dr. Sack bewegte den Kopf wieder. Im Tod schien die alte Frau etwas hartnäckig zu leugnen. »Hören Sie?«
»Ja«, sagte Spurgeon.
Adam, der neben ihm stand, vermochte das kleine kratzende Geräusch ebenfalls zu vernehmen. »Was ist das?«
»Das werden wir bald mit Sicherheit wissen«, sagte Dr. Sack. »Helft mir, sie umzudrehen. Ich glaube, wir werden einen Bruch des processus odontoideus, des Zahnfortsatzes, am zweiten Halswirbel finden«, sagte er zu Spurgeon. »Kurz, das arme alte Frauenzimmer hat sich den Hals gebrochen, als sie sich bei dem Autounfall den Kopf anschlug.«
»Aber sie hatte keine Schmerzen, als ich sie sah«, sagte Spurgeon. »Es war überhaupt kein Schmerz vorhanden.«
Dr. Sack zuckte die Achseln. »Es müssen nicht unbedingt Schmerzen auftreten. Sie hatte alte, mürbe Knochen, die leicht brechen konnten. Der Zahnfortsatz ist nur ein winziges Ding, ein knochiger Vorsprung des Wirbels. Ihr Sohn berichtete, daß sie sich gestern abend sehr wohl fühlte, mit gutem Appetit aß, praktisch nur eine Stunde vor ihrem Tod. Sie lag im Bett, mit drei Kissen als Stütze im Rücken. Sie war hinuntergerutscht und warf sich ziemlich gereizt auf die Kissen zurück. Ich würde sagen, daß der Stoß und dazu eine teilweise Drehung des Kopfes das lose Bruchstück in das Rückenmark trieb, was den Tod fast sofort eintreten ließ.«
Er führt eine Laminektomie durch, indem er in den Nak-ken schnitt, um die Wirbel der Halswirbelsäule bloßzulegen, und durchtrennte gekonnt den roten Muskel und die weißlichen Sehnen. »Haben Sie den harten Überzug des Rückenmarks bemerkt, Dr. Robinson?«
Spurgeon nickte.
»Genau wie die Membran, die das Gehirn einhüllt.« Mit seiner behandschuhten Fingerspitze und dem Skalpell hielt er den Einschnitt weit offen, so daß sie das Gebiet des Blutergusses und das durch das Knochenstückchen zerdrückte Rückenmark, die Todesursache, sehen konnten.
»Da haben wir's«, sagte er heiter. »Sie haben keine Halsröntgen machen lassen, Dr. Robinson?«
»Nein.«
Dr. Sack schürzte die Lippen und grinste. »Ich prophezeie Ihnen, daß Sie es das nächste Mal tun werden.«
»Ja«, sagte Spurgeon.
»Drehen Sie sie wieder herum«, sagte Dr. Sack. Er sah Silverstone an. »Schauen wir, wie gut Sie der alte Jerry unterrichtet hat«, sagte er. »Machen Sie das statt mir.«
Ohne zu zögern nahm Adam das Skalpell von ihm entgegen und machte den breiten, tiefen Y-Einschnitt über dem Brustbein.
Als er einige Minuten später aufblickte, las er in Dr. Sacks Augen Befriedigung. Aber als er zu Spurgeon hinüberblickte, erstarb sein frohes Gefühl. Die Augen des Spitalsarztes waren auf Adams Messer gerichtet, aber sein Gesicht war starr und verstört.
Was immer er sah, war von der kleinen Gruppe um den Seziertisch sehr weit entfernt.
Spurgeon tat Adam leid. Aber das lähmende Wissen, daß man allein dafür verantwortlich ist, den Tod nicht verhindert zu haben, ist ein Gorgonenhaupt, das sich früher oder später vor jedem Arzt erhebt, und Adam wußte instinktiv, daß es dem Spitalsarzt erlaubt werden mußte, sich ihm auf eigene Weise zu stellen.
Adam hatte seine eigenen Probleme im Tierlabor.
Der deutsche Schäferhund Wilhelm, der erste Hund, dem er eine große Dosis Imuran gegeben hatte, entwickelte fast dieselben Symptome wie Susan Garland vor ihrem Tod, und innerhalb von drei Tagen ging Wilhelm an einer Infektion zugrunde.
Die Mischlingshündin Harriet, der er eine Minimaldosis des immunounterdrückenden Medikaments gegeben hatte, stieß die übertragene Niere am Tag vor Wilhelms Tod ab.
Adam operierte eine Reihe von Hunden, einige alt und häßlich, andere ganz jung und so reizend, daß er sein Herz wappnen mußte, um nicht an die wunderlichen, verrückten Zeitungsaufrufe der Antivivisektionsgruppen zu denken, die lieber Kinder opferten, um Tiere zu retten. Im Lauf seiner Arbeit steuerte er auf die wirkungsvollsten Dosen hin, indem er die Maximalmengen senkte und die Minimaldosen anhob, und verzeichnete die Ergebnisse sorgfältig in Kenders kaffeefleckigem Heft.
Drei der Hunde, die große Mengen des Medikaments erhalten hatten, entwickelten Infektionen und starben.
Vier von den Tieren, die kleinere Dosen erhalten hatten, stießen die übertragene Niere ab.
Als er das Gebiet der Wahlmöglichkeiten eingeengt hatte, zeigte sich, daß der Grad der wirkungsvollsten und zugleich sichersten Dosierungen zwischen Abstoßung der übertragenen Niere auf der einen Seite und der Herausforderung einer Infektion auf der anderen hauchdünn war.
Er fuhr fort, andere Medikamente zu prüfen, und hatte über neun Agenzien Tierstudien abgeschlossen, als Dr. Kender Peggy Weld für eine voroperative Untersuchung im Krankenhaus aufnahm.
Kender studierte das Laborheft sorgfältig. Miteinander berechneten sie das Verhältnis von tierischen und menschlichen Gewichten sowie die entsprechende Medikamentendosierung.
»Welches die Immunitätsreaktion unterdrückende Medikament werden Sie bei Mrs. Bergstrom anwenden?« fragte Adam.
Kender ließ seine Fingerknöchel knacken, ohne zu antworten, dann zupfte er sich am Ohrläppchen. »Welches würden Sie verwenden?«
Adam zuckte die Achseln. »Unter den Medikamenten, die ich bisher getestet habe, scheinen keine Allheilmittel zu sein. Ich vermute, daß vier bis fünf unbefriedigend sind. Ein paar sind ungefähr so wirkungsvoll wie Imuran, würde ich sagen.«
»Aber nicht besser?«
»Ich glaube nicht.«
»Ich stimme mit Ihnen überein. Ihr Versuch ist ungefähr der zwanzigste, den wir hier gemacht haben. Ich selbst habe zehn oder zwölf von ihnen durchgeführt. Zumindest ist unser Übertragungsteam mit dem Medikament vertraut. Wir bleiben bei Imuran.«
Adam nickte.
Sie setzten die Transplantation auf den Operationskalender für den Donnerstagmorgen an. Mrs. Bergstrom im OP 3 und Miss Weld im OP 4.
Adam war gut bei Kasse und machte wesentlich weniger Nachtarbeit, kam jedoch noch immer nicht zu genügend Schlaf, jetzt wegen Gaby Pender. Sie besuchten Museen, gingen in Konzerte und nahmen an einigen Parties teil. Eines Abends blieben sie in Gabys Wohnung, und alles ließ sich sehr erfolgversprechend an, aber ihre Zimmergenossin kam nach Hause. An Tagen, an denen sie einander nicht sehen konnten, telephonierten sie miteinander.
Dann erzählte sie ihm Anfang November beiläufig, daß sie auf vier Tage nach Vermont fahren müsse, und fragte ihn, ob er mitkommen könne. Er überlegte, was sich aus diesem Angebot alles ergeben konnte, und dann ihre Wortwahl. »Was meinst du mit: du mußt?«
»Ich muß meinen Vater besuchen.«
»Oh.«
Warum nicht, dachte er. Er war der BergstromTransplantation zugeteilt, aber Donnerstagabend konnten sie abreisen.
Regulär hatte er nur sechsundreißig Stunden frei, aber er tauschte mit Meomartino eine künftige Doppelschicht, so daß sie mehr Zeit haben würden.
Miriam Parkhurst und Lewis Chin, die beiden Konsiliar-chirurgen, hatten in den frühen Morgenstunden des Donnerstag im OP 3 einen dringenden Fall gehabt, einen mit viel Schmutz verbundenen Fall, was bedeutete, daß der ganze Operationssaal geschrubbt werden mußte, bevor Mrs. Bergstrom hineingebracht werden konnte. Adam wartete im Gang vor dem OP mit Meomartino neben den fahrbaren Krankentragen, auf denen die Zwillinge lagen, sediert, aber bei Bewußtsein.
»Peg?« sagte Melanie Bergstrom schläfrig.
Peggy Weld stützte sich auf einen Ellbogen und sah zu ihrer Schwester hinüber.
»Ich wollte, sie hätten uns eine Probe gegönnt.«
»Das hier können wir aus dem Stegreif.«
»Peg?«
»Mmm?«
»Ich habe dir die ganze Zeit noch nicht danke gesagt.«
»Fang nicht jetzt damit an, ich könnte es nicht aushalten«, sagte Peggy Weld trocken. Sie grinste. »Erinnerst du dich, daß ich dich, als wir noch Kinder waren, immer in die Damentoilette führte? In gewisser Weise nehme ich dich noch immer in die Damentoilette mit.«
Berauscht von Pentothal bekamen sie einen Kicheranfall, der in Schweigen verrann.
»Wenn mir irgend etwas zustößt, kümmere dich um Ted und die Mädchen«, sagte Melanie Bergstrom.
Ihre Schwester antwortete nicht.
»Versprichst du's, Peggy?« fragte Melanie.
»Oh, halt den Mund, du dumme Gans.«
Die Türen des OP 3 flogen auf und zwei Pfleger kamen heraus, die den fahrbaren Kippeimer mit den Füßen vor sich her stießen. »Gehört ganz Ihnen, Doc«, sagte der eine.
Adam nickte, und sie schoben Mrs. Bergstrom in den OP.
»Peg?« sagte sie wieder.
»Ich liebe dich, Mellie«, sagte Peggy Weld.
Sie weinte, als Adam ihren Wagen in den OP 4 schob. Ohne daß man es ihm sagen mußte, gab ihr der Dicke eine weitere Injektion in den Arm, bevor man sie auf den Operationstisch hob.
Adam ging sich die Hände schrubben. Als er zurückkam, saß der Anästhesist bereits auf seinem Hocker neben ihrem Kopf und hantierte an seinen Ziffernscheiben herum. Rafe Meomartino, der dem anderen OP zugeteilt war, stand über Peggy Weld und wischte ihr mit einem sterilen Mullstück sanft streichelnd die Nässe vom Gesicht.
Es ging reibungslos. Peggy Weld hatte sehr gesunde Nieren. Adam assistierte, während Lew Chin eine von ihnen entfernte, dann spülte er die Niere durch und sah im anderen OP zu, während Meomartino Kender bei der Übertragung half.
Danach verlief der Tag ohne Höhenpunkte und rückte nur langsam vor, und Adam war sehr glücklich, Gaby zu sehen, als sie abends vorfuhr um ihn abzuholen.
Auf der Straße sprachen sie sehr wenig. Die Landschaft war auf eine strenge herbstliche Weise sehr hübsch, aber bald wurde es finster, und außerhalb des Wagens war nichts zu sehen als sich bewegende Schatten; drinnen war Gaby im spärlichen Licht des Armaturenbretts eine liebliche Silhouette, die sich nur hie und da veränderte, etwa wenn sie einen langsamer fahrenden Wagen überholte oder bremste, um nicht durch ein Lastauto hindurchzusausen. Sie fuhr zu schnell; sie raste dahin, als jagten sie den Teufel oder Lyndon Johnson.
Sie merkte, daß er sie betrachtete, und lächelte.
»Paß lieber auf die Straße auf«, sagte er.
Als sie ins Vorgebirge kamen, sank die Temperatur. Er kurbelte das Fenster herunter und zog den scharfen Herbstgeruch ein, der in der Luft lag, die von den pflaumenblauen Bergen auf sie herunterströmte, bis Gaby ihn bat, das Fenster zu schließen, weil sie Angst hatte, sich zu erkälten.
Das Kurhotel ihres Vaters hieß Pender's North Wind. Es war ein großes, unregelmäßig angelegtes Landhaus, das in friedlicheren Zeiten große Tage erlebt hatte. Gaby bog von der Straße ab, fuhr zwischen zwei steinernen Wasserspeiern durch, einen langen, knirschenden Kiesweg entlang auf ein viktorianisches Herrenhaus zu, das unglaublich hoch aufragte, weil nur im Mittelteil des Erdgeschosses Lichter brannten.
Als sie aus dem Wagen stiegen, stieß irgend etwas in der Nähe, ein Tier oder ein Vogel, einen schrillen, hohen, klagenden Schrei aus, der immer wieder in einer rastlosen, kummervollen Litanei wiederholt wurde.
»Gott«, sagte er, »was ist das?«
»Ich weiß nicht.«
Ihr Vater kam zu ihrer Begrüßung heraus, als Adam die Reisetaschen aus dem Wagen holte. Pender war ein großer Mann, mager und in guter Form, in Arbeitshosen und einem blauen Baumwollhemd. Sein Haar war grau, aber dicht und gewellt. Er sah sehr gut aus mit einem klaren Profil, das besonders eindrucksvoll gewesen sein mußte, als er noch jünger war.
Er scheute sich, seine Tochter zu küssen, merkte Adam. »Na«, sagte er. »Also hast du's geschafft, mit einem Freund. Freue mich, daß du diesmal jemanden mitgebracht hast.«
Sie machte die beiden Männer miteinander bekannt, und sie reiten einander die Hand. Mr. Penders Augen waren hell und hart. »Nennen Sie mich Bruce«, befahl er. »Lassen Sie die Taschen. Wir werden dafür sorgen, daß man sich um sie kümmert.« Er führte sie einen Seitenpfad hinunter, an einem Golfplatz vorbei, wo die letzten Nachtfalter um die Lichtträger flitzten, und blieb vor einer stummen, schimmernden Wasserfläche stehen. »Das hast du noch nicht gesehen, nicht wahr?«
»Nein«, sagte sie.
»Olympische Ausmaße. Darin könnte eine ganze verdammte Armee schwimmen, Wettschwimmen darin abhalten. Dennoch hättest du sehen sollen, wie es in diesem Sommer an schönen heißen Wochenenden mit Fleisch vollgepackt war. Hat mich einen Haufen Geld gekostet, war es aber wert.«
»Sehr hübsch«, sagte sie mit einer seltsam förmlichen Stimme.
Er führte sie durch eine Seitentür eine Innentreppe hinunter, durch einen Tunnel, und bald befanden sie sich in einer Kellerbar. Der Raum war für etwa zweihundert Menschen gebaut. Vor dem großen Kamin, in dem die Flammen über den Leichen dreier Scheiter tanzten und knisterten, saßen eine Frau und zwei kleine Mädchen und warteten, die gleichen schlanken bloßen Beine gegen das Feuer gestreckt, das sich schimmernd in dreißig gelackten Zehennägeln wie in kleinen blutroten Muscheln spiegelte.
»Sie hat einen Freund mitgebracht«, sagte Gabys Vater. Pauline, Gabys Stiefmutter, war eine sorgfältig gepflegte Rothaarige; ihr üppiger Körper war noch immer jung, aber nicht so jung, wie nach ihrem Haar zu schließen gewesen wäre. Die Mädchen, Susan und Buntie, waren ihre Töchter aus einer früheren Ehe, elf und neun Jahre alt und noch im Kicherstadium. Ihre vorsichtige Mutter redete wenig; wenn sie etwas sagte, schien jedes Wort vorausgeplant zu sein.
Bruce Pender warf noch ein Scheit ins Feuer, das für Adams Geschmack ohnehin schon zu heiß war. »Habt ihr gegessen?« Sie hatten schon vor langer Zeit gegessen, und Adam war jetzt hungrig, aber beide nickten. Mr. Pender schenkte mit schwerer Hand Drinks ein.
»Was hörst du von deiner Mutter?« fragte er Gaby.
»Es geht ihr gut.«
»Noch immer verheiratet?«
»Soweit ich weiß, ja.«
»Gut. Prima Frau. Zu schade, daß sie so ist, wie sie ist.«
»Ich glaube, es ist Zeit, daß ihr Kinder zu Bett geht«, sagte Pauline. Die Mädchen protestierten, fügten sich jedoch, schlüpften in ihre Schuhe und sagten schläfrig gute Nacht. Adam bemerkte, daß Gaby sie mit einer Wärme küßte, die sie Pauline oder ihrem Vater gegenüber nicht aufbrachte.
»Pauline kommt gleich wieder zurück«, sagte Bruce, als sie allein waren. »Das Haus ist gleich unten an der Straße.«
»Oh, Sie leben nicht hier im Hotel?«
Pender lächelte und schüttelte den Kopf. »Den ganzen Sommer lang und jedes Wochenende in der Skisaison ist dieses Haus ein Irrenhaus. Musikalische Betten. Mehr als tausend Gäste, hauptsächlich Alleinstehende, die heraufkommen, um einen Höllenwirbel zu veranstalten und Orgasmen zu haben.«
»Wie du siehst, ist mein Vater sehr taktvoll«, sagte Gaby.
Pender zuckte die Achseln. »Man muß die Dinge beim richtigen Namen nennen. Ich mache Geld damit, daß ich ein legalisiertes Puff führe. Alle wirtschaftlichen Vorteile, keinerlei legales Risiko. Hauptsächlich New Yorker, aber gute Zahler, Unmengen von Bargeld.«
Sie schwiegen. »Silverstone«, sagte er. Er zwinkerte Adam zu. »Sie sind ein Judenjunge?«
»Mein Vater ist Jude. Meine Mutter war Italienerin.«
»Oh.« Er schenkte weiter Schnaps für sich, Gaby und die abwesende Pauline ein. Adam legte abwehrend die Hand über das Glas.
»Im vergangenen Sommer, eines Morgens um ungefähr zwei Uhr«, sagte Pender, »wäre um ein Haar einer im Springbrunnen auf dem Rasen ertrunken. Nicht im Schwimmbecken, wohlgemerkt, im Springbrunnen. Originell. Zwei Collegestudenten, stockbesoffen.«
Gaby sagte nichts und nippte an ihrem Drink.
»Einige Mädchen sind außerdem zum Anbeißen. Aber Pauline hält mich kurz.« Er trank nachdenklich. »Das ist natürlich ihr Haus. Ich meine, es ist auf ihren Namen geschrieben. Gabys Mutter hat mich ausgeräumt. Hat mich bar zahlen lassen.«
»Sie hatte ihre Gründe, teurer Vater.«
»Zum Teufel mit den Gründen.« Er trank.
»Ich kann mich noch gut an die Szenen aus meiner Kindheit erinnern, Väterchen. Bietet ihr, du und die liebe Pauline, Suzy und Bunde das gleiche Theater?«
Pender sah seine Tochter ausdruckslos an »Ich habe geglaubt, daß man leichter mit dir auskommt, wenn ein Gast da ist«, sagte er.
Draußen setzte das klagende Tremolo wieder ein. »Was ist das nur?« fragte Adam.
Pender schien gewillt, das Thema zu wechseln. »Kommen Sie«, sagte er. »Ich zeig' es Ihnen.«
Auf dem Weg hinaus schaltete er ein Außenlicht an, das einen Teil des Rasens hinter dem Schwimmbecken beleuchtete. In einem Drahtkäfig schritt ein großer Waschbär wie ein Löwe auf und ab, die kleinen Augen funkelten bösartig rot in der schwarzen Gesichtmaske.
»Wo haben Sie den her?« fragte Adam.
»Einer der Collegejungen holte ihn mit einer Stange aus einem Baum und fing ihn, indem er einen Brotkarton darüberstülpte.«
»Werden Sie ihn als eine - Touristenattraktion halten?«
»Teufel, nein, sie sind gefährlich. Eine Bärin wie die hier kann einen Hund umbringen.« Er hob einen Besen auf, stieß den Stiel durch den Draht und bohrte ihn in die Rippen des Tieres. Die Waschbärin drehte sich um; ihre Pfoten, die zierlichen Damenhänden glichen, ergriffen den Stock, das Maul schnappte nach ihm und zersplitterte ihn. »Sie ist läufig. Ich habe sie hierhergebracht, damit sie Bärenmännchen anlockt.« Er wies auf zwei kleinere Kisten am Rand des Lichttümpels. »Fallen.«
»Was tun Sie mit ihnen, wenn Sie sie gefangen haben?«
»Köstlich rösten, mit Süßkartoffeln. Delikatesse.«
Gaby wandte sich ab, ging ins Haus zurück, und sie folgten ihr. Als sie sich mit frischen Drinks vor den Kamin setzten, kam Pauline herein.
»Brr«, sagte sie und klagte über die Nachtkühle. Sie schmiegte sich an ihren Mann und stellte Gaby Fragen über die Hochschule. Bruce legte den Arm um sie und zwickte besitzbetont einmal in eine der melonenrunden Brüste. Adam schaute weg. Die beiden Frauen sprachen weiter und taten, als hätten sie nichts bemerkt.
Das Gespräch schleppte sich mühsam dahin und wurde mitunter aus reiner Verzweiflung wieder lebhafter. Sie sprachen über Theater, Baseball, Politik. Mr. Pender beneidete Kalifornien, weil es Ronald Reagan hatte, murmelte in sein Glas, daß die Republikanische Partei durch Ro-ckefeller und Javits nur verdorben werde, behauptete, die Vereinigten Staaten sollten die Kraft aufbringen und Rotchina in einem 4. Juli-Feuerwerk von Atomexplosionen ausradieren. Adam, nunmehr fasziniert von seiner ungeheuren Abneigung gegen den Mann, konnte es nicht über sich bringen, ernsthaft über den Massenwahn zu streiten. Außerdem war er unglaublich müde. Nachdem er dreimal gegähnt hatte, nahm Pender endlich die fast leere Flasche Bourbon an sich zum Zeichen, daß der Abend vorbei sei. »Gewöhnlich bringen wir Gabrielle bei uns im Haus unter. Aber angesichts dessen, daß sie sich einen Spielgefährten mitgebracht hat, haben wir euch im dritten Stock Zimmer nebeneinander gegeben.«
Sie sagten Pauline gute Nacht, die dasaß und sich nachdenklich mit einem der scharfen Fingernägel, die in der Farbe zu ihren blutroten Zehen paßten, den schmalen weißen Fuß kratzte. Pender führte sie hinauf.
»Gute Nacht«, sagte Gaby kalt, sichtlich zu beiden Män-nern. Sie ging in ihr Zimmer, ohne sie anzusehen, und schloß die Tür.
»Alles, was Sie brauchen, müssen Sie sich selbst holen. Gabrielle weiß, wo alles ist. Ihr habt das ganze gottverdammte Haus für euch.«
Wie konnte ein Mann so lüstern grinsen, wenn das Mädchen, von dem er glaubt, daß es sofort Verkehr haben wird, seine eigene Tochter ist, fragte sich Adam.
Er war überzeugt, daß Gaby auf der anderen Seite der geschlossenen Tür horchte.
»Gute Nacht«, sagte er.
Pender winkte ihm zu und ging.
O Gott.
Adam legte sich angezogen aufs Bett. Er hörte, wie Pender die Treppe hinunterging, kurz mit seiner Frau zusammen lachte, und dann das Geräusch beider, als sie das Hotel verließen. Das alte Haus war sehr still. Im Zimmer nebenan konnte er Gaby Pender herumgehen hören, offensichtlich machte sie sich zum Schlafen bereit.
Die Zimmer waren durch ein Badezimmer getrennt. Er durchquerte es und klopfte an die geschlossene Tür.
»Was ist?«
»Möchtest du gern mit mir reden?«
»Nein.«
»Nun, dann gute Nacht.«
Er schloß die beiden Badezimmertüren, zog seinen Pyjama an, löschte das Licht und lag im Dunkeln. Vor dem offenen Fenster zirpten Grillen eine schrille Serenade, vielleicht in der Ahnung, daß der Frost, der sie töten würde, irgendwo dicht über dem Horizont lauerte. Die Waschbärin jammerte verzweifelt und weinerlich. Gaby Pender ging ins Badezimmer, und er konnte durch die ge-schlossene Tür das Rieseln und die Wasserspülung hören, Geräusche, die ihn trotz seiner langen klinischen Erfahrung starr daliegen und ihren Vater hassen ließen.
Er stand auf und schaltete das Licht ein. Auf dem Schreibtisch lag Briefpapier mit dem Briefkopf des Hotels. Er benützte seine eigene Feder und schrieb so schnell, als kritzelte er ein Rezept.
An den Beauftragten für Fischerei und Wildhege Montpellier, Vermont
Sehr geehrte Herren,
Ein großer weiblicher Waschbär, ungesetzlicherweise gefangen, wird in diesem Hotel in einem Käfig als Köder für illegales Fangen männlicher Waschbären gehalten. Ich habe mitangesehen, wie das Tier mißhandelt wurde, und ich stelle mich gerne als Zeuge zur Verfügung. Ich bin an der Chirurgischen Station des Suffolk County General Hospital in Boston zu erreichen. Ich ersuche um Ihre unverzügliche Untersuchung des Falles, da die Waschbären verzehrt werden sollen.
Hochachtungsvoll Dr. med. Adam R. Silverstone
Er steckte das Schreiben in einen Briefumschlag, befeuchtete den Umschlag mit der Zunge und versiegelte ihn sorgfältig, fand Marken in seiner Brieftasche und klebte eine auf, dann steckte er den Brief in seine Reisetasche und legte sich wieder ins Bett. Ungefähr eine Viertelstunde lang warf er sich herum, trotz seiner überwältigenden Müdigkeit überzeugt, daß er jetzt nicht einschlafen konnte.
Das alte Hotel knarrte, als hüpften wollüstige Geister von Zimmer zu Zimmer in die Betten und schwangen befreite Keuschheitsgürtel statt Ketten. Die Grillen zirpten ihren schrillen Schwanengesang. Der Waschbär weinte und wütete. Einmal dachte Adam, er höre Gaby weinen, entschied jedoch, daß er sich vielleicht geirrt hatte.
Und schlief ein.
Er wurde - seinem Gefühl nach fast sofort danach - von ihrer Hand geweckt.
»Was ist?« fragte er und dachte zuerst, er sei im Krankenhaus.
»Adam, bring mich weg von hier.«
»Natürlich«, sagte er benommen, halb in Schlaf, halb wach, und schloß dann die Augen gegen das Licht, als sie es aufdrehte. Er sah, daß sie in Hosen und Sweater war. »Du meinst, jetzt?«
»Auf der Stelle. Jetzt sofort.« Ihre Augen waren verweint. Eine Welle von Zärtlichkeit und Mitleid überschäumte ihn. Gleichzeitig drückte ihm die Müdigkeit den Kopf in das Kissen zurück.
»Was werden sie denken?« sagte er. »Ich glaube nicht, daß wir einfach bei Nacht und Nebel verschwinden sollten.«
»Ich hinterlasse einen Brief. Ich sage ihnen, daß du vom Krankenhaus zurückgerufen wurdest.«
Er schloß die Augen.
»Wenn du nicht mitkommst, fahre ich allein.«
»Geh den Brief schreiben. Ich ziehe mich inzwischen an.«
Sie mußten sich die breite Treppe im Finstern hinuntertasten. Der Mond stand jetzt niedrig, warf jedoch ein
Licht, durch das sie ihren Weg zum Wagen leicht zurücklegen konnten. Die Grillen waren eingeschlafen, oder was immer sie taten, wenn sie zu zirpen aufhörten. Hinter dem Becken sang der arme Waschbär noch immer sein Klagelied.
»Warte«, sagte sie.
Sie drehte die Scheinwerfer auf und kniete in ihrem Licht nieder, um einen großen Stein auszusuchen. Als er ihr folgen wollte, hielt sie ihn zurück. »Ich will es allein machen.«
Er saß auf dem Ledersitz, der naß vom Tau war, und fröstelte, während sie das Schloß des Käfigs zerschlug, und fragte sich, ob er den Brief mit der Anzeige gegen ihren Vater wirklich abgesandt hätte. Nach einem Augenblick verstummte das Wehklagen. Er hörte, daß sie zu ihm zurücklief, dann das Geräusch eines Aufschlages und ihr Fluchen.
Als sie den Wagen erreichte, lachte und schluchzte sie gleichzeitig und sog an ihrer abgeschürften Handfläche. »Ich hatte Angst, daß sie mich beißen würde, und als ich wegrannte, stolperte ich über eine der Fallen«, sagte sie. »Ich bin fast in das gottverdammte Schwimmbecken gestürzt.«
Er begann mit ihr zu lachen; sie lachten den ganzen Weg die lange Auffahrt hinunter, an den steinernen Wasserspeiern vorbei und auf der Überlandstraße. Als er zu lachen aufhörte, sah er, daß sie weinte. Einen Augenblick überlegte er, ob er das Lenkrad von ihr übernehmen sollte, damit sie ungestört weinen konnte, aber er war so müde, daß er möglicherweise hinter dem Steuer eingeschlafen wäre.
Sie gehörte zu den Menschen, die geräuschlos weinen; es ist viel schlimmer, solche Leute zu beobachten, als die dramatischen, dachte er.
»Hör zu«, sagte er schließlich mühsam, da seine Stimme schwer vor Müdigkeit war, als sei er betrunken. »Du hast kein Monopol auf gräßliche Eltern. Bei deinem Vater ist es der Sex, bei meinem die Flasche.«
Er erzählte ihr die wesentlichen Einzelheiten über Myron Silberstein, nüchtern, sachlich und ohne Erregung, und ließ nur sehr wenig aus: die Geschichte eines Wandermusikanten aus Dorchester, der zufällig in eine Anstellung im Orchesterraum des Davis-Theaters in Pittsburgh geraten war und eines Abends ein viel jüngeres und unerfahrenes kleines italienisches Mädchen kennenlernte.
»Ich bin überzeugt, er hat sie nur geheiratet, weil ich unterwegs war«, sagte er. »Er begann zu trinken, noch bevor ich mich an ihn erinnern konnte, und er hat noch nicht damit aufgehört.«
Als sie wieder auf der Route 128 waren und der Wagen sich in die Nacht hinein in die Richtung bohrte, aus der sie gekommen waren, berührte sie seinen Arm.
»Wir könnten der Beginn einer neuen Generation sein«, sagte sie.
Er nickte und lächelte. Dann schlief er ein.
Als er erwachte, überquerten sie soeben die SagamoreBrücke.
»Wo zum Teufel sind wir?«
»Wir hatten unsere Freizeit schon arrangiert«, sagte sie. »Es schien mir zu schade, einfach heimzufahren und die freien Tage zu verschwenden.«
»Aber wohin fahren wir?«
»An einen mir bekannten Ort.«
Er schwieg wieder und ließ sie fahren. Fünfundvierzig Minuten später waren sie in Truro, dem Wegweiser zufol-ge, der kurz aufleuchtete, als sie den Wagen von der Route 6 weg und auf eine Straße nach Cape Cod lenkte, zwei Wagenspuren aus weißem Sand, zwischen denen ein Streifen Riedgras wuchs. Sie fuhren eine kleine Anhöhe hinauf, und rechts, hoch über ihnen, tastete ein sich drehender Lichtfinger den schwarzen Himmel am Rand des Meeres ab. Plötzlich war der Lärm der Brandung da, als hätte ihn jemand mit einem Schalter angedreht.
Der Wagen rollte ganz langsam dahin. Er wußte nicht, was sie suchte, aber sie fand es schließlich und lenkte das Auto von der Straße weg. Er sah nichts als tintenschwarze Nacht, aber als sie ausstiegen, vermochte er die massigere Dunkelheit eines kleinen Hauses zu erkennen.
Ein sehr kleines Gebäude, ein Bauernhaus oder eine Hütte.
»Hast du einen Schlüssel?«
»Es gibt keinen Schlüssel«, sagte sie. »Es ist von innen verriegelt. Wir gehen durch den Geheimeingang.«
Sie führte ihn hinten herum, und kleine Föhren zerrten mit unsichtbaren Fingern an ihnen. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt, sah er bei näherer Untersuchung. »Zieh fest an den Brettern«, sagte sie.
Er tat es, und die Nägel glitten so leicht heraus, als wären sie es gewohnt. Sie schob das Fenster hoch und schlüpfte über das niedrige Fensterbrett hinein. »Gib auf deinen Kopf acht«, sagte sie.
Er schlug sich ihn trotzdem an, an der oberen Schlafkoje. Das Zimmer war nicht viel größer als ein Wandschrank und ließ seine Kammer im Krankenhaus im Vergleich dazu geräumig erscheinen. Die derben Holzkojen nahmen den meisten Platz ein, so daß man gerade knapp zur Tür durchgehen konnte. Die nackten Glühbirnen leuchteten auf, wenn man an Schnüren zog. Es waren noch zwei andere Kammern vorhanden, ganz ähnlich der, durch die sie eingedrungen waren; ein winziges Badezimmer mit Dusche, aber ohne Wanne; ein Mehrzweckraum mit Kücheneinrichtung, ein altersschwacher Schaukelstuhl und ein mottenzerfressenes Sofa voller Beulen und Gruben. Der Zimmerschmuck war klassischer Cape-Cod-Stil: Meeresmuscheln als Aschenbecher, ein Hummerkorb als Kaffeetisch, Seeigel und Seesterne auf dem Kaminsims, eine gebrauchsfertige Angelrute lehnte in einer Ecke, in einer anderen stand ein Gasherd, den sie fachmännisch in Gang setzte und mit Leichtigkeit anzündete.
Er stand schwankend da. »Was kann ich tun?« fragte er.
Sie sah ihn an und erkannte zum erstenmal, wie müde er war. »O Gott«, sagte sie. »Adam, es tut mir so leid.« Sie führte ihn zu einer unteren Koje, zog ihm die Schuhe aus, deckte ihn zärtlich mit einer braunen Wolldecke zu, die ihn am Kinn kitzelte, küßte ihn auf die Augen, schloß ihm damit die Lider und ließ ihn allein, damit er im Tosen der Brandung versinken konnte.
Endlich erwachte er beim Tuten von Nebelhörnern, das wie ein ungeheures Magenknurren klang, dem Duft und Gebrutzel von Essen und dem Gefühl, daß er im Zwischendeck auf einem sehr kleinen Schiff reiste. Ein rauchiger Nebel trübte das Fenster und machte es stumpf wie die Augen eines kleinen Waisenmädchens.
»Ich habe gehofft, daß du lange schläfst«, sagte sie, den Speck wendend. »Aber ich bin so verdammt hungrig geworden, daß ich zu dem Laden am Campingplatz um Lebensmittel fahren mußte.«
»Wem gehört diese Hütte?« fragte er und sah sich schon samt Gaby wegen Einbruchs verhaftet.
»Mir. Sie wurde mir als kleines Legat von meiner Großmutter vermacht. Mach dir keine Sorge, wir sind legal hier.«
»Jesus, eine Erbin.«
»Es gibt viel heißes Wasser aus einem guten Boiler«, sagte sie stolz. »Zahncreme ist im Schränkchen.«
Die Dusche stellte seine Begeisterung wieder her, aber der Inhalt der Hausapotheke dämpfte sie wieder. Da lag ein Ding, von dem er zuerst fürchtete, daß es eine Birn-spritze sei, das sich aber als Klistierspritze herausstellte, daneben Arzneien, Nasentropfen und Augentropfen, Aspirin und schmerzstillende Mittel verschiedenster Art, sowie ein Durcheinander von Vitaminen, unbeschrifteter Pillen und Fläschchen, die Ansammlung einer Hilf-dir-selbst-Apotheke einer pillensüchtigen Neurotikerin.
»Gott«, sagte er verdrießlich, als er auftauchte, »willst du mir einen Gefallen tun?«
»Was für einen?«
»Diesen ... Mist in deinem Schränkchen wegschmeißen.«
»Ja, Herr Doktor«, sagte sie zu nachgiebig.
Sie frühstückten Pfirsiche aus der Dose, Speck und Eier und tiefgekühlte Maiskolben, die am Toaster kleben blieben und als Krümel gegessen werden mußten.
»Du machst den besten Kaffee der Welt«, sagte er in milderer Stimmung.
»Spezielle Kenntnis der Kaffeebraukunst. Ich habe ein Jahr lang allein hier gelebt.«
»Ein ganzes Jahr? Du meinst, den ganzen Winter hindurch?«
»Gerade im Winter. Unter solchen Umständen kann eine gute Tasse Kaffee absolut lebensrettend sein.«
»Warum wolltest du dich verkriechen?«
»Nun, ich will es dir sagen. Man hat mich sitzengelassen.«
»Wirklich?«
»Wirklich.«
»Der verdammte Narr.«
Sie lächelte. »Danke, Adam. Das ist sehr lieb.«
»Es ist mein Ernst.«
»Nun, wie dem auch sei. Zusammen mit meinem nicht gerade idealen Verhältnis zu meinen Eltern - mit dem du etwas vertraut geworden bist - bin ich echt gemütskrank geworden. Ich glaubte, was für einen Thoreau gut war, müsse für alle gut sein. Also nahm ich einige Bücher und bin hergekommen. Um die Dinge zu Ende zu denken. Um herauszufinden, wer ich wirklich bin.«
»Hast du das? Herausgefunden, meine ich.«
Sie zögerte. »Ich glaube ja.«
»Dann bist du zu beneiden.«
Er half ihr beim Geschirrspülen. »Es sieht so aus, als wären wir eingenebelt«, sagte er, als sie die Tassen aufstapelten.
»O nein. Hol dir eine Jacke. Ich will dir etwas zeigen.«
Vor der Hütte führte sie ihn über einen Pfad, der in der niedrigen, dichten Vegetation fast nicht zu erkennen war. Adam erkannte Lorbeer und hie und da eine blattlose Strandpflanze. Der Nebel war so dicht, daß Adam nur die nächsten paar Schritte weit und den schönen Schwung ihrer Hüfte in den enganliegenden Blue jeans direkt vor sich sehen konnte.
»Weißt du auch, wohin du gehst?«
»Ich könnte mit geschlossenen Augen gehen. Vorsicht jetzt. Langsam. Wir sind fast da.«
Die Klippe, an deren Rand sie stehenblieben, schien senkrecht in die Tiefe zu fallen. Der Nebel stand wie eine
Wand vor ihnen, aber er spürte den Abgrund unter ihnen -trotz des dichten Nebels -, der in Adams Phantasie grauenerregend war, ähnlich dem, in den er sich einst, um Geld in Bensons Aquacade zu machen, vom Dreißig-Meter-Turm stürzte.
»Ist es steil? Und tief?«
»Sehr steil. Und ziemlich tief. Es erschreckt alle, wenn sie ihn zum erstenmal sehen. Aber es ist ungefährlich. Ich komme hinunter, wenn ich mich niedersetze und mit dem Hintern auf einer kleinen Erdscholle hinunterfahre.«
»Na, kein übles Fahrzeug.«
Sie grinste, nahm es als Kompliment. Während er sich nervös in einiger Entfernung hinter sie setzte, ließ sie die Füße über den Rand der Klippe baumeln und sog mit geschlossenen Augen den kalten salzigen Nebel ein.
»Du liebst es«, sagte er vorwurfsvoll.
»Die Küste hier ändert sich ständig, ist aber trotzdem noch immer so, wie sie war, als mein Großvater diese Hütte für meine Großmutter bauen ließ. In Provincetown bietet mir ein Grundstücksmakler ständig ein kleines Vermögen für den Grund, aber ich will, daß meine Kinder es sehen, und ihre Kinder auch. Es ist ein Teil der John-F.-Kennedy-Seashore, daher darf hier nichts anderes gebaut werden, aber der Ozean knabbert an dem Land und nimmt jedes Jahr ein paar Fuß weg. In ungefähr fünfzig Jahren wird die Klippe fast bis zur Hütte abgenagt sein. Ich werde das Haus zurücksetzen lassen müssen, sonst holt es sich der Ozean.«
Ihm war es, als hingen sie schwebend im Nebel. Weit unten dröhnte und zischte die Brandung. Er lauschte und schüttelte den Kopf.
»Was ist?« fragte sie.
»Der Nebel. Es ist eine fremdartige Atmosphäre.«
»An Land nicht ganz so. Im Wasser ist er etwas völlig Fremdes, ein fast mystisches Erlebnis«, sagte sie. »Als ich hier lebte, brauchte ich keinen Badeanzug und ging im Nebel nackt baden. Es war unbeschreiblich - als würde man zu einem Teil des Meeres.«
»Ist das nicht gefährlich?«
»Man kann die Brandung hören, selbst von weit draußen. Sie sagt einem, wo das Land ist. Ein paarmal ...« Sie ließ den Anfang des Satzes ungewiß in der Luft hängen, dann aber, als hätte sie einen Entschluß gefaßt, fuhr sie fort: »Ein paarmal schwamm ich hinaus, hatte aber nicht den Mut, weiterzuschwimmen.«
»Gaby, warum wolltest du weiterschwimmen?« Hinter ihnen im Nebel begann eine Wachtel zu rufen. »Hat dir der Mann, der dich verließ, soviel bedeutet?«
»Nein, er war ein Junge, kein Mann. Aber ich war ... Ich dachte, daß ich im Sterben liege.«
»Warum?«
»Ich hatte furchtbare Schmerzen. Dann wieder stellenweise Gefühllosigkeit, überwältigende Müdigkeit. Die gleichen Symptome, die meine Großmutter hatte, als sie im Sterben lag.«
Ah. Plötzlich paßte die Sammlung von Quacksalbereien im Medizinschränkchen zu der Erzählung. »Klingt wie ein klassischer Fall von Hysterie«, sagte er sanft.
»Natürlich.« Sie ließ eine Handvoll Sand durch die Finger rieseln. »Ich weiß, daß ich eine Hypochonderin bin. Aber damals war ich überzeugt, daß mich eine schreckliche Krankheit das Leben kosten würde. Wenn man überzeugt ist, daß man so eine Krankheit hat, kann das genauso schlimm sein, als hätte man sie wirklich. Glauben Sie mir, Herr Doktor.«
»Ich weiß.«
»Vermutlich war das Schwimmen ein Weg herauszufinden, was ich fürchtete, ein Versuch, Schluß damit zu machen.«
»Jesus, aber warum bist du hierhergekommen? Warum bist du nicht zu einem Arzt gegangen?«
Sie lächelte. »Ich bin ja bei Ärzten gewesen, noch und noch. Ich habe ihnen einfach nicht geglaubt.«
»Glaubst du ihnen jetzt, wenn sie sagen, daß du in Ordnung bist?«
Sie lächelte. »Meistens.«
»Das freut mich«, sagte er. Irgendwie wußte er, daß sie log.
Der Nebel um sie herum begann sich zu lichten. Über ihnen drang ein Glanz durch den Dunst.
»Was haben deine Eltern dazu gesagt, daß du hier draußen allein lebst?«
»Meine Mutter hatte eben wieder geheiratet. Sie war ... zu beschäftigt. Gelegentlich kam ein Brief von ihr. Von meinem Vater nicht einmal eine Postkarte.« Sie schüttelte den Kopf. »Er ist wirklich ein Schwein, Adam.«
»Gaby .« Er suchte die richtigen Worte. »Ich mag ihn nicht, aber wir haben alle unsere Fehler, jeder von uns. Ich wäre ein Heuchler, wenn ich ihn verurteilte. Ich bin überzeugt, daß ich das meiste von dem getan habe, weswegen du ihn haßt.«
»Nein.«
»Ich war den größten Teil meines Lebens auf mich allein gestellt. Ich habe viele Frauen gekannt.«
»Du verstehst nicht. Er hat mir nie etwas gegeben. Nie einen Teil von sich. Er bezahlte mein Hochschulstudium, dann lehnte er sich bequem zurück und wartete, daß ich ihm gebührend dankbar sei.«
Adam sagte nichts.
»Ich habe das Gefühl, daß du dir dein Mittelschulstudium selbst verdient hast«, sagte sie.
»Ich bin dank meinem Onkel Vito durch die Mittelschule in Pittsburgh gekommen.«
»Deinem Onkel?«
»Ich hatte drei Onkel. Joe, Frank und Vito. Frank und Joe waren stark wie Stiere, sie arbeiteten in Stahlwerken. Vito war groß, aber zart. Er starb, als ich fünfzehn war.«
»Er hinterließ dir Geld?«
Er lachte. »Nein. Er hatte kein Geld. Er war Wäschebeschließer im Umkleideraum der Zweigstelle East Liberty des Pittsburgher christlichen Jungmännervereins. Und unter anderem drückte er auf den kleinen Summer, wenn die Leute in das Schwimmbecken durften. Jeden Tag, wenn ich aus der Schule kam und die Pittsburgh Press ausgetragen hatte, ging ich in die Whitfield Street, und Vito ließ mich in das Schwimmbecken. Als sie schließlich mitkriegten, daß ich kein Eintrittsgeld zahlte, kannte mich schon jeder, und sie gaben mir ein Stipendium des Zeitungsjungen-Klubs. Ein großer Trainer, Jack Adams, nahm mich in die Hand, und als ich zwölf war, war ich Kunsttaucher. Ich tauchte so viel, daß ich mir eine Ohreninfektion zuzog, deshalb höre ich jetzt schlecht.«
»Das habe ich nie bemerkt. Bist du taub?«
»Nur ganz leicht, links. Gerade genug, um nicht zum Militär eingezogen zu werden.«
Sie berührte sein Ohr. »Armer Adam. Hat es dich sehr gestört?«
»Nicht wirklich. Als Taucher vertrat ich den Verein und meine Mittelschule, und als Mitglied der Schwimmannschaft lebte ich vier Jahre in Pitt von einem Sportstipendi-um. Ich schöpfte aus dem Vollen. Dann entdeckte ich in meinem ersten Jahr an der Medizinischen Schule, daß ich plötzlich wieder arm war. Um Geld für Essen und ein Bett aufzutreiben, holte ich jeden Morgen die Wäsche von allen Schlafsälen für eine Trockenreinigung und lieferte sie wieder ab. Und jeden Abend legte ich dieselbe Tour mit einem Karton Sandwiches zurück.«
»Ich wollte, ich hätte dich damals gekannt«, sagte sie.
»Ich hätte keine Zeit gehabt, mit dir auch nur zu reden. Nach einer Weile mußte ich sowohl den Reinigungsdienst als auch die Tour mit den belegten Broten aufgeben, die Schule stellte zu hohe Anforderungen. Zwei Semester arbeitete ich in einem billigen Restaurant für meine Mahlzeiten, und für mein Zimmer lieh ich mir Geld von der Universität. Im ersten Sommer arbeitete ich als Kellner in einem Hotel in den Poconos. Ich hatte eine Affäre mit einem der weiblichen Gäste, einer reichen Griechin, deren Mann sich nicht scheiden ließ; er war Präsident eines Warenhauskonzerns. Sie lebte in Drexel Hill, nicht weit von meiner Universität. Ich sah sie ständig, fast ein Jahr lang.«
Gaby saß da und hörte zu.
»Es war nicht bloß eine Affäre. Manchmal gab sie mir Geld. Ich mußte nicht arbeiten. Wenn sie mich anrief, ging ich zu ihr, und nachher steckte sie mir oft eine Banknote in die Tasche. Eine große Banknote.«
Sie hatte den Kopf von ihm abgewandt. »Hör auf«, sagte sie.
»Schließlich stellte ich meine Besuche ein. Ich konnte mich selbst nicht mehr ausstehen. Ich bekam einen Job als Kohlenschaufler, wo ich für mein Geld wirklich schwitzen mußte, wie zur Sühne.«
Von weit her begann eine zweite Wachtel der ersten zu antworten.
Jetzt sah sie ihn an. »Warum erzählst du mir das?«
Weil ich ein Narr bin, dachte er staunend. »Ich weiß nicht. Ich habe es noch nie jemandem erzählt.«
Wieder streckte sie die Hand aus und berührte sein Gesicht. »Darüber bin ich froh.« Nach einem Augenblick sagte sie: »Darf ich dich etwas fragen?«
»Natürlich.«
»Wenn du mit jener Frau beisammen warst . nun, das war eine flüchtige Affäre. Aber mit jemandem, den du liebst - ist es dann anders?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich habe noch nie jemanden geliebt.«
»Das ist wie ... wie bei Tieren.«
»Wir sind Tiere. Es ist nichts dabei, Tier zu sein.«
»Aber wir sollten mehr sein.«
»Das ist nicht immer möglich.«
Der Nebel zerriß. Adam sah einen ungeheuren Sonnenreflektor durch den Dunst schimmern, viel mehr Ozean, als er je gesehen hatte. Der Strand war breit, weiß, nur an den höher gelegenen Rändern von Strandgut und Treibholz gesäumt, an der tiefergelegenen Küste glänzend und hart und von Brechern glattgehämmert, so daß er in der Sonne funkelte.
»Ich wollte, daß du das siehst«, sagte sie. »Hier saß ich immer und sagte mir, wenn man dort unten alle die scheußlichen Schmerzen und das Leid aufhäufte, würde sie die Flut wegschwemmen.«
Er dachte darüber nach, als sie zu seinem Entsetzen einen freudigen Schrei ausstieß und vor seinen Augen über den Rand des Abgrunds verschwand, der weit unten in einem schwindelerregenden Winkel von mindestens hundert Grad endete. Ihre Sitzbacken hinterließen in dem weichen roten Sand eine gerade Furche. Im nächsten Augenblick lachte sie von unten zu ihm herauf. Es blieb ihm nur eines übrig. Er setzte sich auf den Rand, schloß die Augen und glitt hinunter. Die Allmacht schleuderte ihn lodernd in furchtbarem Verderben und Brand aus den ewigen Himmeln hinab in bodenlose Verdammnis. John Milton. Er hatte Sand in den Schuhen, und zweifellos war seine Scholle nicht groß genug gewesen: sein Gesäß war aufgeschunden. Das Mädchen bog sich vor Lachen. Als er die Augen öffnete, sah er, daß sie, wenn sie glücklich war, äußerst hübsch war; nein, mehr als das, sie war das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte.
Sie kämmten den Strand ab, fanden eine Anzahl stinkender Schwämme, aber keinen Schatz; beobachteten einen Hundshai, der mit wellenförmiger Bewegung durch eine klare kleine Bucht zog; hoben acht unzerbrochene Seeigel auf; gruben roten Ton aus der Klippe und formten einen Topf, der zerbrach, als ihn die kalte Brise getrocknet hatte.
Als sie zu frieren begannen, versuchten sie erfolglos, den Sand aus ihren Schuhen zu klopfen, kletterten die steile Klippe über die altersschwache Holztreppe empor und gingen in die warme Hütte zurück. Die Sonne strömte durch das Fenster und übergoß das verbeulte Sofa. Während er im Kamin Feuer machte, legte sie sich nieder, und als es prasselte, machte sie Platz für ihn; er legte sich neben sie, und sie schlossen die Augen und ließen den Sonnengott ihre Welt in einen großen roten Kürbis verwandeln.
Nach langer Zeit öffnete er die Augen, rollte sich herum, küßte sie sehr zart und berührte sie noch zärtlicher mit den Fingerspitzen. Ihre Lippen waren warm und trocken und salzig. Es war still, mit Ausnahme der Brandung und dem Gekreisch einer Möwe draußen, dem Knistern des Feuers und ihres Atmens drinnen. Er berührte ihre kleine, feste Brust durch das blaue Wollhemd, und sie dachten beide an ihren Vater, als er die gleiche Geste in ein verächtliches Brandmal verwandelte, mit dem er seine Frau gezeichnet hatte.
Das hier ist etwas anderes, sagte er ihr stumm. Verstehe es. Bitte verstehe es. Er konnte in ihr ein schwaches Zittern wie einen unterdrückten Schauer spüren, mehr Angst als Verlangen, die sich irgendwie, trotz all der Mädchen und Frauen, die er besessen hatte, auf ihn übertrug, so daß auch er zu zittern begann; dennoch ließ er seine Hand weiter den Raum zwischen ihnen überbrücken, bis er spürte, daß das Zittern nachließ, seines und ihres.
Diesmal küßte sie ihn, zuerst zögernd, und dann in einem Gefühlsausbruch, als wollte sie ihn verschlingen, und es erschütterte ihn; schließlich trennten sie sich in stummer Übereinkunft und halfen einander hastig mit Dingen wie Knöpfen, Reißverschlüssen und Schnallen. Es war, wie er es erwartet hatte: keine weißen Stellen, keine Trägerzeichen, sah er mit flüchtigen Blicken, die seine Beine unter ihm wegzogen.
»Du hast einen kleinen Dickbauch«, bemerkte sie.
»Ich bin regelmäßig gelaufen«, sagte er, sich verteidigend.
»Du bist sehr fest«, sagte er.
»Nicht immer.«
Dann lagen sie wieder dicht beieinander. Gott, wie süß in der warmen Sonne! Sie küßte sein beschädigtes Ohr und weinte, und er erkannte mit einem plötzlichen neuen Gefühl, daß er nichts nehmen wollte, er sehnte sich nur danach, zu geben, ihr zärtlich alles, was er in der Welt besaß, zu geben, alles, das Adam Silverstone war.
Schließlich verspürten sie Hunger.
»Morgen«, sagte sie, »stehen wir rechtzeitig für die frühe Flut am Head-of-the-Meadow auf. Ich fange dir einige kleine, aber dicke Flundern, und du kannst sie als guter Chirurg für mich putzen, und ich röste sie dir auf Holzkohle, eingerieben mit frischem Zitronensaft und einer Menge Butter.«
»Mmm .« Dann: »Aber was ist mit heute?«
»Heute ... wir haben noch einige Eier übrig.«
»Glaube ich nicht.«
»Portugiesische Suppe?«
»Was ist das?«
»Specialite de la region. Nudeln und Gemüse, hauptsächlich Kohl und Tomaten, mit Schweinefleisch zusammen gekocht. In Provincetown gibt es ein gutes Lokal. Mit heißem knusprigem Weißbrot serviert. Dazu gutes kaltes Bier vom Faß, wenn du magst.«
»Gemacht, Charlie.«
»Ich bin kein Charlie.« Sie funkelten einander an, und er grinste.
»Das habe ich gemerkt.«
Sie wanderten im Zimmer herum, hoben hingeworfene Kleidungsstücke vom Fußboden auf, zogen sich nur leicht verlegen an, gingen dann zum Wagen hinaus und fuhren langsam durch den vollkommenen Tag die Route 6 hinunter, an den Dünen vorbei, die fünf Meilen nach Province-town. Sie aßen die Suppe, die heiß und rauchig schmeckte, voll köstlicher Fleischstücke, gingen dann, als ein Boot einlief, an den Fischkai, und Gaby handelte schamlos, bis sie für fünfunddreißig Cents eine noch immer um sich schlagende wunderschöne große Flunder kaufte, als Versicherung gegen die Möglichkeit, daß es am nächste Mor-gen regnete oder sie verschlafen und nicht fischen gehen würden.
Als sie in die Hütte zurückkamen, legte sie den Fisch in den Eisschrank, kam zu ihm, nahm sein Gesicht in ihre Hände und hielt es fest. »Deine Hände riechen nach Flunder«, klagte er, küßte sie dann lange und sah sie an, und sie wußten beide, daß er sie wieder lieben würde, ohne ihr die Möglichkeit zu geben, sich den Fischgeruch von den Händen wegzuwaschen.
»Adam«, sagte sie mit schwankender Stimme, »ich will dir sechs Kinder schenken. Mindestens sechs. Und fünfundsiebzig Jahre lang mit dir verheiratet sein.«
Verheiratet, dachte er.
Kinder?
Dieses verrückte Weibsbild.
»Gaby, hör zu ...«, sagte er ängstlich.
Sie zog sich zurück, und er griff wieder nach ihr, um sie festzuhalten, während er sprach, aber sie wollte nichts davon hören. Sie sah ihn fest an.
»Oh, Herrgott«, sagte sie.
»Hör zu .«
»Nein«, sagte sie. »Ich will nichts hören. Ich bin nicht sehr geschickt. Es ist keine Überraschung für mich, ich habe es immer gewußt. Aber du. Gott«, sagte sie. »Armer Adam. Du bist ein - ein Nichts.«
Sie lief ins Badezimmer und versperrte die Tür. Er hörte kein Weinen, aber nach einer Weile kam das Geräusch von etwas Schrecklichem, das stoßweise Geräusch von Speien, das Ziehen der Wasserspülung.
Mit einem tiefen Schuldgefühl klopfte er an die Tür. »Gaby, fühlst du dich nicht wohl?«
»Geh zum Teufel«, keuchte sie, und jetzt weinte sie.
Nach langer Zeit hörte er das Geräusch von fließendem Wasser, als sie sich wusch, und endlich öffnete sich die Tür, und sie erschien.
»Ich will weg«, sagte sie.
Er trug die Reisetaschen zum Wagen, sie drehte das Gas ab und versperrte die Tür von innen und kletterte durch das Fenster, an dem er die Bretter wieder festmachte. Als er versuchte, sich hinter das Lenkrad zu setzen, fauchte sie ihn an. Sie fuhr selbstmörderisch, bis sie schließlich auf der Route 128 in Hingham ein Strafmandat wegen überhöhter Geschwindigkeit bekam, wobei der Polizist als Hüter und Bewahrer der öffentlichen Sicherheit bissig und sarkastisch war.
Nachdem sie den Strafzettel bekommen hatte, fuhr sie vorsichtiger, begann jedoch zu husten, eine Reihe krächzender asthmatischer Anfälle, die ihre ganze Gestalt schüttelten, während sie sich über dem Lenkrad krümmte.
Er ertrug das Geräusch, solange er nur konnte. »Fahr von der Autobahn herunter und suche eine Apotheke«, sagte er. »Ich schreibe dir ein Rezept für Ephedrin.«
Aber sie fuhr weiter.
Die Dämmerung brach schon herein, als sie schließlich mit dem Wagen vor dem Krankenhaus anhielt. Sie hatten ihre Fahrt nicht unterbrochen, um zu essen, und Adam war wieder müde, hungrig und zermürbt.
Er stellte seine Reisetasche auf den Gehsteig.
Er konnte ihr Husten hören, als sie das Gaspedal heftig niedertrat. Der Plymouth schoß auf die Straße, einem herankommenden Taxi in den Weg und wieder heraus, der Fahrer fluchte und drückte heftig auf seine Hupe.
Adam stand auf dem Gehsteig, und plötzlich fiel ihm ein, daß sie vergessen hatte, den Fisch aus dem Eisschrank zu holen. Wenn sie das nächstemal in ihre Hütte fuhr, würde sie der ekelerregende Geruch an ihre unterbrochenen Ferien erinnern. Widersprechende Gefühle, Kummer, Schuld und Bedauern bedrückten ihn. Er hatte sie mit peinlichen Geständnissen der entwürdigendsten Art bis über beide Ohren angefüllt, und dann hatte er sich erlaubt .
Verdammt, dachte er, habe ich denn etwas versprochen?
Habe ich einen Vertrag unterzeichnet?
Aber in plötzlichem Ekel vor sich selbst wußte er, daß er, während er ihren Körper zärtlich behandelte, wie ein Tier ihre Seele zerfleischt hatte.
Er warf den Kopf zurück und schaute zu dem alten Ungeheuer von Gebäude hinauf.
Na, da bin ich wieder, sagte er zu dem Krankenhaus. Hast du mich sehr vermißt.
Als die Dunkelheit hereinbrach, gingen die Lichter an, und das Krankenhaus sah ihn mit vielen Augen an. Er dachte an das, was drinnen vorging, an all die Ameisen in dem großen Haufen, und fragte sich, wieviele Patienten der Abteilung in der kommenden Woche von ihm operiert werden würden.
Als Mensch bin ich ein leidiges Miststück und ein Narr, dachte er, aber als Chirurg funktioniere ich gut, und das ist immerhin etwas. Gott gebe denen Klugheit, die sie schon haben; und diejenigen, die Narren sind, sollen ihre Talente anwenden. Will Shakespeare.
Er hob seine Reisetasche auf. Das Haupttor öffnete sich wie ein Maul, und grinsend schluckte ihn das Gebäude.
Als er ausgepackt hatte, ging er in die Station hinunter, um sich eine Tasse Kaffee zu stehlen, und es tat ihm fast sofort doppelt leid, daß er wieder da war.
Mrs. Bergstrom war es sehr gut gegangen, erzählte ihm Helen Fultz, aber seit dem frühen Nachmittag gab es Anzeichen dafür, daß sie die Niere abstieß. Ihre Temperatur war hoch, und sie klagte über Unbehagen und Schmerzen in der Wunde.
»Sondert die Niere Urin ab?« fragte er.
Miss Fultz schüttelte den Kopf. »Sie hat prächtig funktioniert, aber heute ist die Leistung abgesunken.«
Er warf einen Blick auf die Tabelle und sah, daß Dr. Kender versuchte, durch Anwendung von Prednison und Imuran die Abstoßung zu unterbinden.
Das hat als Krönung des Tages noch gefehlt, sagte er sich.
Er dachte kurz daran, ins Tierlabor zu gehen und zu arbeiten, konnte sich jedoch nicht dazu aufraffen. Für den Augenblick hatte er genug von Hunden und Frauen und Chirurgie. Er ging hinauf, um sich schlafen zu legen, als sei das eine Medizin, und genoß mit Behagen die Aussicht auf Bewußtlosigkeit.
8
SPURGEON ROBINSON
Spurgeon verbrachte viel Zeit damit, sich Sorgen zu machen.
Wenn schon einer deiner Fälle der Exituskonferenz vorgelegt werden muß, überlegte er, so sollte es dann sein, wenn sonst alles in Ordnung war. Jetzt aber, mit einer Nierenübertragung, die eine zunehmende Zahl von Abstoßungserscheinungen zeigte und der Alte wie der Teufel dreinsah, würden die Stabsangehörigen bei der Konferenz in der Stimmung sein, jemanden zu zerfleischen.
Er fragte sich, was er anfangen würde, falls sie ihn hinauswarfen.
Statt zu schlafen, dachte er an die Rätsel der Mrs. Donnelly. Eines Nachts träumte er wieder von dem Vorfall in der Unfallstation, nur statt die Frau aus dem Krankenhaus zu entlassen und sie in den Tod zu schicken, erlaubte ihm diesmal seine große ärztliche Kunst, sofort zu erkennen, daß ein Bruch des Zahnfortsatzes vorlag. Am Morgen erwachte er mit einem Glücksgefühl in jeder Faser seines Körpers, und als er sich fragte, warum, erinnerte er sich, daß er Mrs. Donnelly gerettet hatte. Schließlich aber wußte er wieder, daß es ein Traum gewesen war und sich nichts an den Tatsachen geändert hatte. Er hatte sie umgebracht. Todunglücklich lag er da, unfähig, aus dem Bett zu steigen.
Er war Doktor der Medizin. Das konnten sie ihm nicht nehmen.
Aber sonst - falls man ihn aus der Spitalspraxis entfernte, blieb ihm einzig eine Stellung mit Gehalt, irgendwo. Onkel Calvin würde ihm liebend gern einen medizinischen Posten bei der American Eagle Life geben, Aufstieg garantiert. Und manche große pharmazeutische Firmen stellten Negerärzte an. Aber er wußte, wenn sie ihn aus dem Krankenhausstab feuerten und er die Medizin nicht so ausüben konnte, wie er wollte, dann würde er dorthin zurückkehren, wo er vor ein paar Jahren gewesen war, und versuchen, seine Vorstellungen von Musik zu verwirklichen.
Er begann Vorwände zu erfinden, um in Peggy Welds Zimmer gehen und die Sängerin in Gespräche über Musik verwickeln zu können.
Zuerst hielt sie ihn nur für einen jungen Burschen, der ein bißchen spielte und sich einbildete, Musiker zu sein, dann aber entdeckten sie einen Namen, den sie beide kannten.
»Sie wollen sagen, daß Sie bei Dino in der 52. Straße spielten? In Manhattan?«
»Meine kleine Band. Drei andere Burschen, ich am Klavier.«
»Wer ist der Manager?« forderte sie ihn heraus.
»Vin Scarlotti.«
»Das stimmt. Ich habe selbst ein paarmal dort gesungen. Sie müssen gut sein. Vin ist schwer zufriedenzustellen.«
Aber mit der Zeit gingen ihm die Ausreden aus, über Musik mit ihr zu reden, und sie hatte ihre Schwester im Kopf. Er hörte auf, sie zu belästigen.
Wenn er nach sechsunddreißig Stunden dienstfrei war und sich nach Schlaf sehnte, saß er auf seinem Bett und spielte Gitarre und zwang sich zu üben, wie er es einige Jahre nicht mehr getan hatte.
Er brauchte dringend ein Klavier.
An einem Nachmittag nahm er nach einem kurzen Schlaf die Hochbahn nach Roxbury, stieg an der Haltestelle Dudley Street aus, wo viele Farbige ausstiegen, und ging die Washington Street hinunter, bis er das Lokal fand, das er suchte, eine schäbige Gettokneipe mit rotschwarz bemalten Fenstern, deren noch dunkles Neonschild eine Pokerhand und den Namen des Klubs in weißen Glasröhren zeigte, »Ace High«. Nachtklub wäre ein zu großartiges Wort dafür gewesen, es war eine billige Kaschemme für Farbige, aber in einer Ecke stand ein Pia-nino.
Er bestellte einen Scotch mit Milch, den er nicht wollte, und trug ihn zum Klavier. Der zerkratzte Baldwin war verstimmt, aber als er zu spielen begann, war es Musik wie Balsam. Er vergaß alles, was Onkel Calvin sagen würde, wenn sich sein Junge heimschleppen und ihm mitteilen würde, daß er doch nicht so fähig war wie die Weißen. Er vergaß sogar die tote Irin und ihre Rätsel.
Der Barmann kam herüber. »Kann ich Ihnen sonst etwas bringen, Freund?« fragte er und warf einen Blick auf den Drink auf dem Klavier, den Spurgeon kaum berührt hatte.
»Tja, ich trinke noch einen.«
»Sie spielen wirklich gut, aber wir haben schon einen Pianisten. Einen Burschen namens Speed Nightingale.«
»Ich spiele nicht zur Probe.«
Der Kellner brachte den zweiten Drink, und Spur bezahlte einen Dollar achtzig. Danach ließ ihn der Barmann in Ruhe. Am späten Nachmittag verließ Spur das Klavier, setzte sich auf einen Barhocker und bestellte noch einen Drink. Die Augen des Barmanns huschten zu den zwei noch immer auf dem Klavier stehenden Gläsern, von denen nur eines leer war.
»Sie brauchen nichts zu bestellen, nur um mit mir zu reden. Wollen Sie mich etwas fragen?«
»Ich bin Arzt drüben im Distriktkrankenhaus. Ich kann mir kein Klavier in mein Zimmer stellen. Ich möchte herkommen und an einigen Nachmittagen der Woche spielen, so wie heute.«
Der Barmann zuckte die Achseln. »Mir tut es nicht weh, ist mir doch völlig egal.«
Aber es stellte sich heraus, daß es ihm doch nicht egal war. Er liebte Debussy, den er mit Scotch-and-Milk statt Applaus belohnte. Spurgeon versuchte den Drink zu bezahlen, gab es jedoch mit Anstand auf; ein Professioneller beleidigt einen Musikliebhaber nie.
Als er einige Tage später wieder in den Klub kam, stand ein magerer brauner Mann mit Zulu-Haaren und einer dünnen Schnurrbartlinie an der Bar und sprach mit dem Barmann. Spurgeon nickte und ging sofort zum Klavier. Den ganzen Weg herüber hatte Musik in seinem Kopf geklungen, und jetzt setzte er sich nieder und spielte sie. Bach. Das Wohltemperierte Klavier, und dann das eine und andere aus den Französischen Suiten und der Chromatischen Phantasie und Fuge.
Nach einer Weile kam der magere Braune mit zwei Scotch-and-Milk herüber.
»Große Klasse, wie Sie klassische Klaviermusik spielen.« Er hielt ihm ein Glas hin.
Spurgeon nahm es entgegen und lächelte. »Danke.«
»Können Sie auch etwas weniger Anstrengendes?«
Spur nahm einen kleinen Schluck, stellte dann das Glas hin und spielte etwas von Shearing.
Der Mann zog einen Stuhl heran, seine Linke übernahm den Baß und seine Rechte schlich sich in die Harmonie ein, Spur rückte nach rechts und begann auf den hohen Tasten zu improvisieren, immer wilder, als ihn der Baß in ein schnelleres Tempo drängte. Der Barmann vergaß die Gläser zu polieren, und hörte einfach zu. Abwechselnd übernahmen sie die Führung, kämpften es untereinander aus, bis Schweiß auf ihren Gesichtern glänzte, und als sie in gegenseitigem Einverständnis Schluß machten, hatte Spur das Gefühl, als sei er eine lange Strecke durch strömenden Regen gerannt.
Er streckte die Hand aus, und sie wurde ergriffen.
»Spurgeon Robinson.«
»Speed Nightingale.«
»Oh, diese Musicbox gehört Ihnen?«
»Unsinn. Gehört dem Lokal. Ich bin bloß Angestellter. Danke für's Mitspielen. Es hat schon lange nicht mehr so gut bei mir geklungen.«
Sie übersiedelten an einen Tisch, und Spurgeon gab eine Runde aus.
»Ein paar von uns treffen sich regelmäßig und improvisieren, schon am frühen Vormittag, in einer kleinen Wohnung in der Columbus Avenue, unten in der Wohnhausanlage, Wohnung 4-D, Haus 11. Wirkliche Musik. Kommen Sie doch hin.«
»He.« Spur zog sein Notizbuch heraus und schrieb die Anschrift nieder. »Abgemacht.«
»Gut. Wir spielen ein bißchen, rauchen und trinken ein bißchen. Sie können auch einen Joint nehmen - meistens bringt jemand einen guten Stoff mit.«
»Ich nehme keine Drogen.«
»Überhaupt keine?«
Spur schüttelte den Kopf.
Nightingale zuckte die Achseln. »Kommen Sie trotzdem. Wir sind demokratisch.«
»Schön.«
»Seit kurzem ist guter Stoff in dieser Stadt schwerer zu bekommen als eine gute Hure.«
»Wirklich?«
»Tja. Sie sind Arzt?«
»Wer hat Ihnen das gesagt?« Der Mann hinter der Bar polierte beflissen Gläser. Spur wartete. Im nächsten Augenblick kam es, wie es kommen mußte.
»Bringen Sie etwas Stoff zu einer unserer kleinen Sitzungen mit, wir wären Ihnen wirklich dankbar.«
»Aber woher soll ich ihn nehmen, Speed?«
»Zum Teufel, jeder weiß doch, daß in Krankenhäusern alles mögliche Zeug herumliegt. Niemand wird ein bißchen davon vermissen. Nicht, Doc?«
Spurgeon stand auf und ließ eine Banknote auf den Tisch fallen.
»Wissen Sie was«, sagte Nightingale. »Vergessen Sie es. Unterschreiben Sie mir nur ein paar Rezepte. Ich verschaffe uns einen erstklassigen Stoff.«
»Adieu, Speed«, sagte er.
»Verdammt guten Stoff.«
Als er an dem Mann hinter der Bar vorbeiging, blickte der Musikliebhaber nicht einmal vom Gläserpolieren auf.
Er fand in der Musik jene Katharsis, die ihn im OP lockerer machte, ihn als Chirurg tüchtiger und intensiver arbei-ten ließ. Verglichen mit den anderen war er wirklich nicht schlecht. An einem Freitag sah er sich als Assistent für Dr. Parkhurst und Stanley Potter eingeteilt. Es ließ sich nicht vermeiden, immer wieder mit dem Facharztanwärter zusammenzuarbeiten, aber jedesmal war es ein unerfreuliches Erlebnis, ohne die üblichen, kollegialen Neckereien, bei dem die Zeit nur langsam verging.
An jenem Morgen machten sie an Joseph Grigio, dem Verbrennungsfall, weitere Hautübertragungen und verpflanzten frische Haut vom Schenkel auf die Brust. Dann hatten sie eine Blinddarmoperation bei einem sehr dicken Patienten namens Macmillan, einem Sergeanten der Städtischen Polizei. Die Fettleibigkeit des Mannes zwang sie, durch anscheinend nicht endenwollendes Fett zu schneiden, und dann entfernte Dr. Parkhurst den Wurmfortsatz und ließ sie den Darmstumpf abbinden und schließen.
Spurgeon schnitt, während Potter festhielt und abband. Es schien Spur, daß der Facharztanwärter den Katgutfaden zu fest um den Stumpf anzog, und er war sich dessen sicher, als die Naht im Gewebe zu verschwinden begann.
»Sie haben zu straff angezogen.«
Potter sah ihn kalt an. »Das ist genau so, wie ich es bisher immer mit Erfolg gemacht habe.«
»Die Naht sieht aus, als könnte sie durch die Serosa schneiden.«
»Es ist schon in Ordnung so.«
»Aber ...«
Potter hielt die Naht, starrte ihn höhnisch an und wartete, daß Spur schnitt.
Spurgeon zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. Dieser Kerl ist Facharztanwärter und ich bin Spitalsarzt, dachte er, und schnitt wie ein braver kleiner Junge weiter.
Er ging nie wieder ins Ace High. Statt dessen bat er an diesem Sonntag Mrs. Williams, ob er hie und da auf ihrem Klavier üben dürfe. Es war ein schlechtes Instrument, und nach Natick zu fahren war nicht so bequem wie die Untergrundbahn zur Washington Street zu nehmen, aber die Musik erfreute Mrs. Williams und gab ihm die Möglichkeit, Dorothy zu sehen.
Am Dienstagabend, während draußen der erste Winterschnee fiel, saßen sie flüsternd im Wohnzimmer beieinander, während die Eltern und das kleine Mädchen nebenan hinter teilweise geschlossenen Türen schliefen, und sie sagte ihm, sie habe bemerkt, daß ihn irgend etwas quäle.
Schließlich erzählte er ihr heiser flüsternd von der alten Dame, die seinetwegen gestorben war, vom Todeskomitee und davon, daß er mit seiner Musik immer noch ganz gut verdienen konnte.
»Oh, Spurgeon.«
Sie zog seinen Kopf an sich, und er ruhte so weich wie bei Roe-Ellen, als er noch ein kleiner Junge war. Dorothy beugte sich nieder, um seine geschlossenen Augen zu küssen, und er spürte alles aus ihr hervorbrechen, während sie ihn in den Armen hielt, Mitgefühl, Verlangen, die Bereitschaft, in seiner Welt alles wieder in Ordnung zu bringen.
Aber als er auf diese Annahme hin handelte, heimste er nur eine zerbissene Lippe ein, einen zerkratzten Handrük-ken, und die Erkenntnis, daß sie noch immer an einer der Grundlehren der Muslims festhielt.
Er konnte es nicht glauben. In den Milieus, in denen er aufgewachsen war, den schwarzen und weißen, gab es nur wenige vierundzwanzigjährige Jungfrauen. Es erfüllte ihn mit Ehrfurcht, aber er lächelte trotz der schmerzenden Lippe über sie.
»Ein Stückchen Fleisch. Dünn, oft sehr zart. Hat nichts mit Intimität zu tun. Was bedeutet es schon? Wir sind ja schon intim.«
»Kennst du dieses Haus, diesen Hof? Es ist nichts anderes als Bauholz, Glas, ein paar Bäume, ein halbes Dutzend Sträucher. Aber weißt du, was es für meine Familie bedeutet?«
»Achtbarkeit des Mittelstandes?«
»Genau.«
Ungeduldig rief er aus: »Gott, was für eine Analogie! Ihr wollt so sehr konform gehen, daß ihr schließlich als Nonkonformisten endet. Es gibt in dieser Straße kein zweites Anwesen, das so gut gehalten ist wie das deines Vaters. Und ich würde wetten, daß ärztliche Untersuchungen bestimmt keine Armee vi erundzwanzigj ähriger Jungfrauen feststellen könnten. Du glaubst, du müßtest strenger zu dir sein als zu allen diesen Weißen, um dir deinen Weg in ihre Welt zu erkaufen?«
»Wir versuchen nicht, konform zu gehen. Wir glauben nur, daß viele Weiße etwas verloren haben, das sie einmal besaßen, etwas sehr Wertvolles. Wir versuchen, es zu gewinnen«, sagte sie und griff in seine Tasche um eine Zigarette. Er zündete ein Streichholz an. Im Aufflammen des weichen, flüchtigen Lichts ließ das afrikanische Gesicht seine Hand erzittern, und das Streichholz ging aus, aber die Zigarettenspitze glühte, als Dorothy den Rauch einsog. »Schau«, sagte sie, »du hast geglaubt, Midge sei mein Kind, nicht wahr? Nun, du warst fast auf der richtigen Spur. Sie gehört meiner Schwester. Meiner unverheirateten Schwester Janet.«
»Deine Mutter hat es mir erzählt. Ich wußte nicht, daß kein Ehemann vorhanden ist.«
»Nein, keiner. Du weißt, wie Lena Horne aussah, als sie jung war? Füge eine Portion . unbekümmerter Wildheit hinzu. Das ist meine kleine Schwester.«
»Wieso habe ich sie noch nicht kennengelernt?«
»Sie kommt nur selten nach Hause. Dann spielt sie mit Midge, aber nicht wie eine Mutter, sondern als wäre sie selbst ein kleines Mädchen. Sie sagt, sie fühle sich nicht als Mutter. Sie lebt in Boston mit einem Pack weißer Hippies zusammen.«
»Das tut mir leid.«
Sie zuckte die Achseln. »Janet sagt, bei ihnen spiele ihre Farbe keine Rolle. Sie wird nie lernen. Midges Vater war ein Baseballspieler aus Minneapolis, der einige Wochen probeweise bei den Red Sox war. Er spielte Third base. Und mit meiner Schwester.«
»Sie ist nicht das erste Mädchen, das diesen Fehler gemacht hat«, sagte er sanft.
»Sie hätte wissen sollen, daß sich weiße Baseballspieler nicht mit farbigen Mädchen verabreden, um die amerikanische Demokratie zu fördern. Als er in der Unterliga war, blieb ihre Periode zum erstenmal aus.« Sie drückte die Zigarette aus. »Sie wäre froh gewesen, das Kind herzugeben, aber mein Vater ist der seltsamste Mensch. Er nahm das Baby zu sich, wollte den Baseballspieler nicht wegen Unterhaltspflicht klagen und gab Midge seinen Namen. Er sah allen weißen Nachbarn in die Augen und forderte sie stillschweigend heraus, ihm zu sagen, daß seine Familie eben doch der Mist sei, aus dem er sich alle die Jahre herauszuarbeiten bemüht hatte. Meines Wissens sagte nie jemand ein Wort zu ihm. Aber mein Vater, sehr viel an ihm .«
Er nahm sie in die Arme.
»Sie war sein Liebling«, sagte sie in seine Schulter hinein. »Er würde es leugnen, aber ich weiß, daß sie es war.«
»Liebling, du kannst deinen Vater nicht damit entschädigen, daß du wie eine Nonne lebst«, sagte er leise.
»Spur, es wird dich zweifellos sofort verjagen, aber ich sage es dir trotzdem. Er geht den ganzen Tag mit angehaltenem Atem herum, weil er glaubt, es bestehe eine Chance, daß sich zwischen uns etwas Ernstes entwickelt, daß du mich vielleicht bittest, dich zu heiraten. Ein schwarzer Schwiegersohn, der Arzt ist, mein Gott!«
Er ließ seine Handfläche auf ihrem Rücken auf und ab gleiten. »Ich glaube nicht, daß es mich verjagen wird.« Als er sie diesmal küßte, küßte sie ihn wieder.
»Vielleicht sollte es das doch«, sagte sie atemlos. »Ich will, daß du mir etwas versprichst.«
»Was?«
»Sollte ich je ... die Beherrschung verlieren ... bitte, schwöre mir ...«
Er war nur einen Augenblick lang erbittert, dann mußte er sehr kämpfen, um nicht zu grinsen. »Wenn du heiratest, bekommt dein Gatte das Päckchen ganz, mit unversehrtem Siegel«, sagte er trocken. Dann warf er den Kopf zurück, brüllte vor Lachen, machte sie schrecklich böse und weckte ihre Eltern auf. Mr. Williams kam im Bademantel und Pantoffeln heraus, und Spurgeon sah, daß er in langer Unterhose schlief. Ihre Mutter tauchte blinzelnd und murrend und ohne ihr oberes Gebiß auf. Sie machte ihm heißen Kakao, bevor sie wieder ins Bett ging, aber sein Gelächter hatte Midge geweckt, und als das kleine Mädchen zu weinen begann, schalt sie ihn unverfroren, weil er so laut und äußerst rücksichtslos war.
Als er ins Krankenhaus zurückkehrte, war es zwei Uhr vorbei. Auf dem Weg zu seinem Zimmer kontrollierte er einige Patienten, darunter auch Macmillan. Er traf den dicken Po-lizisten stöhnend und fiebernd an. Die Tabelle zeigte eine erschreckend hohe Temperatur und hundert Puls.
»Hat Dr. Potter diesen Mann heute abend gesehen?« fragte er die Schwester.
»Ja, er hat über Unbehagen und Schmerzempfindlichkeit geklagt. Dr. Potter sagt, er habe eine sehr niedrige Schmerzschwelle. Er verordnete Demerol«, sagte sie und wies auf die Anordnung auf der Tabelle.
Noch eine Sorge mehr, dachte er, als er auf den Lift wartete.
Er lag wach in seinem Bett und spähte in die Dunkelheit, auf die verschiedenen Pfade, die er einschlagen konnte.
Wenn sie ihn hinauswarfen, konnte ihm vielleicht einer seiner ehemaligen Professoren helfen, ihn in einem der New Yorker Krankenhäuser unterzubringen.
Aber er würde Dorothy verlassen müssen. Er konnte es sich noch nicht leisten, sie zu heiraten: er wollte nicht, daß Onkel Calvin seine Frau erhielt.
Bis zur Exituskonferenz, die den Fall Donnelly prüfen würde, war nur noch eine Woche .
Es war sein letzter Gedanke, bis er im trügerischen Licht der frühen Dämmerung erwachte; trotz des kalten Zimmers waren die Laken feucht von Schweiß.
Er konnte sich deutlich erinnern, daß er sowohl von dem Mädchen als auch vom Todeskomitee geträumt hatte.
Als er Samstag in die Abteilung kam, ging es Macmillan viel schlechter. Das Gesicht des Mannes war hochrot, die Lippen trocken und aufgesprungen. Er stöhnte vor Schmerzen, die, wie er sagte, tief in seinem harten Bauch wühlten. Sein Puls hämmerte hundertzwanzigmal in der Minute und seine Temperatur war auf vierzig gestiegen.
Potter war auf einer mit viel Publicity aufgemachten Exkursion zu den Fleischtöpfen von New York City. Oh, du elender Schlampsack, ich wünsche dir viel Vergnügen, dachte Spurgeon, und hoffentlich entgeht dir auch nichts. Er ging zum Telephon und verlangte Dr. Chin, den Konsi-liarchirurgen, der Bereitschaftsdienst hatte. »Wir haben einen Fall hier, der einen klassischen septischen Verlauf nimmt«, sagte er. »Ich bin fast sicher, daß es Bauchfellentzündung ist.« Er beschrieb die Symptome.
»Rufen Sie den OP an und setzen Sie die Operation sofort an«, sagte Dr. Chin.
Sie brachten den Mann hinunter und machten ihn auf. Der Blinddarmstumpf war geplatzt. Von Ödemen angeschwollen, hatte sich das Gewebe gegen den engen Ring des Katguts gepreßt wie Käse gegen ein scharfes Messer, mit dem gleichen Ergebnis.
»Wer hat dieses verdammte Ding abgebunden?«
»Dr. Potter«, sagte Spurgeon.
»Wieder dieser Kerl.« Der Konsiliarchirurg schüttelte den Kopf. »Das Gewebe ist ödematös. Es ist zu brüchig, um damit herumzuspielen. Wenn wir es mit einer Zange anrühren, fällt es auseinander. Wir werden den Blinddarm zur Bauchwand hinaufziehen und eine Coecostomie machen müssen.«
Unter der geduldigen Anleitung des älteren Chirurgen brachte Spurgeon Potters Pfuscherei in Ordnung.
Am Montagmorgen gab es einen Turnuswechsel im Dienst, und Spurgeon sah fünf Wochen Unfallstation vor sich; er erstarrte innerlich, weil dies ein Ort war, wo er bereits einmal versagt hatte, ein Ort, wo alles sehr schnell vor sich ging, wo Entscheidungen schnell getroffen werden mußten. Eine Wiederholung des Falles Donnelly, wußte er, und .
Er versuchte, nicht daran zu denken.
Er machte Ambulanzdienst mit Maish Meyerson, das bedeutete einen intensiven Debattierkurs, einen »Überblick über die Weltnachrichten«, einen mündlichen Schmierzettel, ein Seminar in Philosophie. Die Ansichten des Ambulanzfahrers waren endgültig und aufreizend, und mittags konnte ihn Spurgeon nicht mehr ertragen.
»Nehmen Sie zum Beispiel das Rassenproblem«, sagte Meyerson.
»Schön, in dem stecke ich bereits.«
Maish sah ihn mißtrauisch an. »Warten Sie nur, Sie werden nichts zu lachen haben. Zwei Armeen, eine weiß, eine schwarz. Das Land wird in Flammen stehen.«
»Warum?«
»Sie glauben, alle Weißen seien Liberale in Brooks-Brothers-Uniformen?«
»Nein.«
»Wetten Sie Ihren Arsch dagegen. Für viele von uns ist der Farbige eine Bedrohung.«
»Ich bin eine Bedrohung für Sie?«
»Sie?« sagte Meyerson verächtlich. »Nein, Sie sind ein gebildeter junger Hund, ein Doktor. Ein schwarzer Weißer. Ich bin mehr Nigger als Sie, ich bin ein weißer Nigger. Es sind die schwarzen Nigger, die eine Gefahr für mich sind, und es gibt verdammt viele schwarzer Nigger. Zuerst werde ich mir selbst helfen. Das Hemd ist mir näher als die Jacke.«
Spurgeon sagte nichts. Meyerson warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Ich bin ein schlechter Kerl, stimmt's?«
»Stimmt verdammt.«
»Sie sind besser?« »Ja«, sagte Spurgeon, aber weniger nachdrücklich.
»Einen Dreck sind Sie. Haben Sie sich je selbst mit einem farbigen Patienten reden gehört? Es klingt, als täten Sie dem armen Schlucker aus reiner Herzensgüte einen ungeheuren Gefallen.«
»Tun Sie mir einen Gefallen. Halten Sie den Mund«, sagte Spur mit einem wilden Blick.
Triumphierend zwängte sich Meyerson hinter einen langsamen, von einer Frau gelenkten Sportwagen und erschreckte sie mit schnellen, ungeduldigen Signalen, obwohl der Krankenwagen leer war und sie gemächlich ins Spital zurückfuhren.
Irgendwie brachte Spurgeon die Stunden herum. An diesem Abend tat ihm Stanley Potter sehr leid.
»Bist du sicher?« fragte er Adam.
»Ich habe es selbst gesehen«, sagte Adam. »Er war im Zimmer der Jungchirurgen, las die Zeitung und trank eine Tasse Kaffee, als er in das Büro des Alten hinuntergerufen wurde. Als er bald darauf zurückkam, sah er aus, als hätte man auf ihm herumgetrampelt, er räumte seinen Schrank aus und trug seine Sachen in einem Papiersack weg. Adieu, Dr. Stanley Potter.«
»Amen. Der nächste bin ich.«
Er wußte nicht, daß er laut gesprochen hatte, bis er sah, daß ihn Adam anblickte.
»Sei kein Esel«, sagte Adam scharf.
»Noch zwei Tage, Mensch. Das Todeskomitee wird mich in der Luft zerreißen.«
»Bestimmt. Aber wenn man dich hinausschmeißen wollte, Freundchen, würde man auf keine Komiteesitzung warten. Man hat bei Potter nicht viel Zeit verschwendet, oder? Weil er überhaupt eine Niete war. Du bist ein Spitalsarzt, der einen Fehler gemacht hat. Eine Frau starb, und das ist eine lausige Schande, aber wenn man jeden Arzt vor die Tür setzte, der einen Fehler gemacht hat, dann gäbe es bald keine Ärzte mehr im Krankenhaus.«
Spurgeon antwortete nicht. Sollen sie mir nur die Facharztanwartschaft vorenthalten, sagte er stumm. Wenn ich nur als Spitalsarzt arbeiten darf!
Er mußte in der Medizin bleiben.
Er brauchte die Musik, um von der Häßlichkeit der Krankheit, die ihn verfolgte in die Schönheit fliehen zu können. Aber selbst wenn die Welt auf vierzig verschiedene Arten zum Teufel ginge, konnte er sich nicht einreden, daß er den Rest seines Lebens nur mit Klavierspielen verbringen wollte.
Am Mittwochmorgen war er nicht mehr so sicher. Der Tag begann unheilverkündend. Adam Silverstone blieb mit Fieber im Bett, als letztes Opfer des Virus, der den Krankenhausstab in Patienten verwandelte. Spurgeon hatte bis dahin nicht gewußt, wie sehr er von Adams stiller Unterstützung abhängig war.
»Kann ich irgend etwas für dich tun?« fragte er unglücklich.
Adam sah ihn an und stöhnte. »O Gott, geh einfach hinunter und bring es hinter dich.«
Er schlang das Frühstück hinunter. Draußen schneite es heftig. Einige Gastärzte hatten telefoniert, sie würden an der Sitzung nicht teilnehmen; er hielt das für eine gute Nachricht, bis durchgegeben wurde, daß die Exituskonferenz vom Operationssaal in die Bibliothek verlegt worden war; diese Intimität würde die Untersuchung noch qualvoller machen.
Als er um neun Uhr fünfzig telephonisch gesucht und ihm gesagt wurde, er möge sich in Dr. Kenders Büro melden, reagierte er wie betäubt, überzeugt, daß man ihn noch vor der Exituskonferenz von seiner Entlassung unterrichten würde: In dieser Woche räumten sie die Versager aus.
Als er in das Büro kam, waren zwei Männer bei Kender, die Spurgeon als Leutnant James Hartigan vom Rauschgiftdezernat und Mr. Marshall Colfax, einen Pharmazeuten aus Dorchester, vorgestellt wurden.
»Haben Sie dies hier geschrieben, Dr. Robinson?« fragte Kender ruhig.
Spurgeon nahm die Rezepte und blätterte sie durch. Jedes war auf vierundzwanzig Tabletten Morphiumsulfat ausgeschrieben, 0,015 Gramm, für Namen, die ihm unbekannt waren. George Moseby, Samual Parkes, Richard Meadows.
Alle waren mit seinem Namen unterzeichnet.
»Nein.«
»Weshalb können Sie so sicher sein?« fragte der Leutnant.
»Erstens habe ich bis zur Beendigung meiner Spitalspraxis nur eine beschränkte Lizenz zu praktizieren: das heißt, daß ich zwar Rezepte für die Krankenhausapotheke ausschreibe, jedoch keine Rezepte für auswärts ausstellen darf. Zweitens ist das zwar mein Name, nicht aber meine Unterschrift. Und außerdem hat jeder Arzt eine Registrierungsnummer des Bundesrauschgiftdezernats, aber die Nummer auf diesen Rezepten ist nicht meine.«
»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Dr. Robinson«, sagte Kender schnell. »Sie sind nicht der einzige Arzt hier, dessen Name verwendet wurde. Bloß der neueste. Ich bitte Sie, das hier niemandem gegenüber zu erwähnen.«
Spurgeon nickte.
»Was veranlaßte Sie zu dem Verdacht, daß diese Rezepte gefälscht waren«? fragte Kender Mr. Colfax.
Der Apotheker lächelte. »Mir fiel allmählich auf, wie sauber sie ausgefüllt waren. Und so vollständig. Nehmen Sie zum Beispiel die Abkürzungen. Wissen Sie, tast jeder Arzt, den ich kenne, kritzelt nur prn, für pro re nata.«
»Was heißt das?« fragte Hartigan.
»Lateinisch, ,wie es die Umstände verlangen'«, sagte Spurgeon.
»Ja. Nun schauen Sie sich einmal diese Rezepte an«, sagte Colfax. »Die Abkürzung ist ausgeschrieben. Als ich zurückblätterte, sah ich, daß ein Rezept wie das andere war, als hätte der Mann, der sie geschrieben hat, alle auf einen Sitz kopiert.«
»Aber er hat einen Fehler gemacht«, sagte Hartigan. »Als mir Mr. Colfax die Rezepte am Telephon vorlas, wußte ich sofort, daß es ein Schwindel ist. Der Mann verwendete eine Bundesnummer mit sechs Ziffern. So viele Ärzte haben wir in Massachusetts gar nicht.«
»Haben Sie den Mann gefunden, der das hier weitergegeben hat?« fragte Kender.
Hartigan schüttelte den Kopf.
»Ich habe ihm einige Fragen gestellt, als er das letztemal hereinkam, kurz bevor ich die Polizei anrief«, sagte Col-fax. »Ich muß ihn abgeschreckt haben.« Er lächelte. »Ich bin ein lausiger Detektiv.«
»Im Gegenteil«, sagte Hartigan. »Es gibt nicht viele Apotheker, denen das aufgefallen wäre. Können Sie Dr. Robinson den Mann beschreiben?«
Colfax zögerte. »Nun, es war ein Neger ...« Er schaute unbehaglich zur Seite.
Schau dir nur unsere Gesichter an, sagte ihm Spurgeon stumm.
»Er hatte einen Schnurrbart. Leider kann ich mich sonst an keine besonderen Merkmale erinnern.«
Speed Nightingale?
Hartigan lächelte. »Es ist mir klar, daß man damit nicht sehr viel weiterkommt.«
Es wäre unfair gewesen, Nightingale zu nennen, dachte Spurgeon; es gab sehr viele Schwarze mit Schnurrbärten, von denen sicher einige Drogen nahmen. »Es könnte jeder sein.«
Hartigan nickte. »Viele Leute können ihre Hand auf leere Rezeptformulare legen. Arbeiter in der Druckerei, Leute im Krankenhaus, Patienten und ihre Familien, wenn ihr ihnen den Rücken zukehrt.« Er seufzte.
Dr. Kender sah auf seine Armbanduhr und schob den Stuhl vom Schreibtisch zurück. »Sonst noch etwas, meine Herren?«
Beide Besucher lächelten und standen auf.
»Leider müssen Dr. Robinson und ich einer Konferenz beiwohnen«, sagte Dr. Kender.
Um zehn Uhr dreißig saß Spurgeon auf einem der Stühle an dem langen blankpolierten Tisch, knabberte Kekse, schlürfte Cola und blickte auf die Wand vor sich, die mit dem Kunstdruck einer pharmazeutischen Firma, einem Porträt Marcello Malpighis, geschmückt war, dem Entdecker der Kapillarzirkulation; er sah ein bißchen wie Dr. Sack aus und trug einen Bart.
Sie kamen nacheinander herein, und schließlich stand er beim Eintritt Dr. Longwoods mit ihnen zusammen auf.
Meomartino trug einen Fall vor, einen langen. Meomar-tino trug einen weiteren verdammten Fall vor. Nicht den Fall. Vielleicht, betete Spur, werden sie ihn überhaupt nicht aufgreifen. Vielleicht würde keine Zeit mehr bleiben. Aber als er die Augen zu der Wanduhr hob, sah er, daß noch mehr als genug Zeit bleiben würde; sein Magen drehte sich um, und er dachte schon, er würde der erste Spitalsarzt in der Geschichte des Krankenhauses sein, der sich über den polierten Tisch, die Pepsi-Flaschen und die Kekse und den Chef der Chirurgie hin übergeben würde.
Und dann trug Meomartino weiter vor, und er hörte alle Einzelheiten, die er so gut kannte. Ihren Namen und ihr Alter und die Umstände des Autounfalls, das Datum, an dem er sie in der Unfallstation gesehen hatte, ihre frühere Krankengeschichte, die Filme, die im Röntgenlabor gemacht worden waren, und, o Gott, die Filme, die nicht gemacht wurden, wie er sie aus eigener Initiative entlassen hatte, wie sie heimgefahren war -
Jetzt aber halt, dachte er plötzlich. Was geht hier vor?
O du gemeiner Schweinehund.
Was ist mit meinem Anruf beim Surgical Fellow? Dem Anruf, den ich bei dir machte, dachte er dumpf.
Aber Meomartino kam zum Schluß und erzählte, wie die Rätseldame zum letztenmal ins Krankenhaus kam, tot.
Dr. Sack beschrieb, was sie bei der Obduktion erfahren hatten, und legte die Ergebnisse in wenigen Minuten knapp und bündig dar.
Dr. Longwood lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Einen solchen Fall zu verlieren ist das Schlimmste«, sagte er. »Dennoch verlieren wir immer wieder solche Patienten. Warum, glauben Sie, geschieht das, Dr. Robinson?«
»Ich weiß es nicht.«
Die hohlen Augen hielten ihn fest. Er sah mit einer erschreckenden Faszination, daß ein schwacher Tremor
Dr. Longwoods Kopf fast unmerklich zu schütteln begonnen hatte.
»Es kommt daher, weil gerade ein solcher Fall verlangt, daß wir auch eine ungewöhnliche Verletzung erkennen, die uns nicht alle Tage begegnet. Eine Verletzung, die korrigierbar ist, die aber, wenn sie nicht korrigiert wird, den Tod verursachen kann.«
»Ja«, sagte Spurgeon.
»Niemand braucht mir zu erzählen, unter welchem Druck und welcher schweren Arbeitslast unsere Hausärzte stehen. Vor ziemlich vielen Jahren war ich hier Spitalsarzt und Facharztanwärter, dann Konsiliarchirurg, bis ich eine Ganztagsstellung in diesem Krankenhaus übernahm. Ich weiß, wir bekommen vernachlässigte Fälle, komplizierte, und sie werden uns in solcher Zahl aufgehalst, daß einige Privatinstitutionen einfach nicht glauben würden, was wir vollbringen.
Aber es ist gerade die armselige Verfassung vieler unserer Patienten und die Anforderungen an unsere Zeit, die uns eine doppelte Aufmerksamkeit auferlegen, die es einem Spitalsarzt nicht ersparen, sich zu fragen, ob tatsächlich jeder diagnostische Vorgang, jede nötige Röntgenaufnahme durchgeführt wurde. Haben Sie sich diese Dinge gefragt, Dr. Robinson?«
Der Tremor war stärker geworden. »Ja, das habe ich, Dr. Longwood«, sagte er fest.
»Warum also ist diese Frau gestorben?«
»Ich nehme an, ich wußte nicht genug, um ihr helfen zu können.«
Dr. Longwood nickte. »Es fehlte Ihnen die Erfahrung. Und dies ist der Grund, warum ein Spitalsarzt es niemals auf sich nehmen sollte, einen Patienten aus diesem Krankenhaus zu entlassen, obwohl sich der Patient vielleicht
bitter beklagt, daß man ihn warten läßt, bis ein erfahrenerer Arzt Zeit finden kann, ihn zu entlassen. Kein Patient ist je daran gestorben, weil er klagte. Wir sind dafür verantwortlich, ihn vor sich selbst zu schützen. Wissen, Sie, was geschehen wäre, wenn Sie die Frau nicht entlassen hätten?«
Spurgeon suchte mit den Augen Meomartino, aber der Surgical Fellow war in die Krankengeschichte vertieft. »Sie würde noch leben«, sagte er.
Alles schwieg, und er sah wieder Dr. Longwood an. Die tiefliegenden blauen Augen, die ihn die ganze Sitzung hindurch beunruhigt hatten, waren noch immer auf ihn gerichtet, aber er sah, daß ihr Glitzern verschwunden war und sie durch ihn hindurch auf etwas gerichtet waren, das nicht in diesem Zimmer lag.
»Dr. Longwood?« sagte Dr. Kender. »Harland«, sagte Dr. Kender sanft. »Sollen wir abstimmen lassen?«
»Wie?«
»Sollen wir abstimmen lassen, Harland?«
»Ja«, sagte er.
»Ein vermeidbarer Tod«, sagte Dr. Kender.
Dr. Longwood fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und sah Dr. Sack an.
»Vermeidbar.«
Dr. Parkhurst.
»Vermeidbar.«
Vermeidbar.
Vermeidbar.
Vermeidbar.
Wieder versuchte Spurgeon, Meomartinos Augen einzu-fangen, vermochte es jedoch nicht. Es konnte auch unbe-absichtigt gewesen sein, sagte er sich, als er dasaß und Marcello Malpighis Porträt studierte.
Als er in Silverstones Zimmer im sechsten Stock kam, dachte er, daß Adam in seiner Wut die Wände hochgehen würde.
Eine Wut, die sich gegen Spurgeon richtete, entdeckte er erstaunt.
»Wie konntest du Meomartino so etwas durchgehen lassen?«
»Er hat mir nicht gesagt, ich solle sie entlassen. Es stimmt, daß ich ihn anrief, aber er hat mir nicht ein verdammtes Wort gesagt, Mensch. Er fragte mich nur, ob ich ihn wirklich brauchte, und ich sagte, ich könne selbst damit zurechtkommen.«
»Aber du hast ihn angerufen«, sagte Adam. »Er hätte dir sagen müssen, daß du die Patientin festhalten sollst, bis er hinunterkommen könnte. Das Komitee hätte das gewußt.«
Spurgeon zuckte die Achseln.
»Ich gehe zum Alten.«
»Es wäre mir lieber, wenn du es nicht tätest. Er sieht so schlecht aus, daß ich nicht sicher bin, ob er fähig ist, sich mit einer solchen Situation auseinanderzusetzen.«
»Dann geh zu Kender.«
Spurgeon schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Weil«, sagte er, »es tatsächlich eine Regel gibt, nach der Spitalsärzte Patienten nicht entlassen dürfen, und ich habe diese Regel gebrochen. Weil Meomartino mir nicht sagte, ich solle sie heimschicken. Weil ich, wenn ich irgendeine Beschwerde hätte vorbringen wollen, das in der Konferenz hätte tun sollen.«
»Robinson, du bist der dümmste Mensch, dem ich je in meinem Leben begegnet bin«, hörte er Adam hinter sich rufen, als er hinausging.
Meomartino hatte sich als jämmerlicher Feigling entpuppt, dachte er, als er todunglücklich zum Lift stapfte.
Während der qualvollen Fahrt vom sechsten Stock ins Kellergeschoß zwang er sich jedoch, besessen von der alten, widerlichen Furcht, den eigentlichen Grund einzugestehen, warum er während der Sitzung nichts von dem Anruf erwähnt hatte.
Alle diese weißen, weißen Gesichter hatten ihm Entsetzen eingeflößt.
Der Tag ging weiter, wie er begonnen hatte.
Katastrophal.
Er und Meyerson hatten nichts zu tun und ödeten einander bis in den tiefen Nachmittag hinein an. Von drei Uhr dreißig bis kurz vor acht Uhr dreißig hatten sie sechs Abholfahrten, vier davon lange und schwierige Transporte. Um acht Uhr fünfunddreißig wurden sie ausgeschickt, um Mrs. Thomas Catlett zu holen, eine bevorstehende Entbindung, Simmons Court 31, Charlestown. Meyerson verließ jedoch die Schnellstraße und wand sich durch Straßen, die nicht mehr verbreitert worden waren, seit man sie als breit genug für Paul Reveres Pferd erklärt hatte. Zum Schluß fuhr er in eine Parkverbotszone vor Shapiros Buchladen in der Essex Street ein.
»Wohin fahren Sie?« fragte Spurgeon mißtrauisch.
»Ich habe Hunger. Ich hole ein belegtes Brot und einen Drink im Delikatessenladen, Sie fahren, während ich esse. In Ordnung?«
»Machen Sie schnell.«
»Beruhigen Sie sich. Soll ich Ihnen etwas mitbringen? Ein Corned beef?«
»Nein, danke.«
»Pastrumi? Das Fleisch wird dort gedünstet.«
»Maish, ich will keine Zeit verschwenden.«
»Essen müssen wir.«
Spurgeon gab nach und reichte ihm einen Dollar aus seiner Brieftasche. »Schweizerkäse auf Weißbrot. Kaffee, normal.«
Er saß auf dem Fahrersitz der Ambulanz und studierte die Bücher in Shapiros Auslagen, während die Sekunden zu Minuten wurden und Maish nicht auftauchte. Nach einer Weile stieg er aus, ging zur Ecke und spähte durch die Auslage des Essex-Delikatessenladens. Durch die Scheibe sah er Maish, eingerahmt von einem riesigen Salamiring im Schaufenster, den Torso hinter einer Pyramide von Knackwürsten versteckt, Schlange stehen und mit zwei Taxifahrern reden.
Ungeachtet der etlichen hundertzwanzig Augen, die sich ihm sofort zuwandten, klopfte Spurgeon an das Fenster und deutete auf seine Armbanduhr.
Maish zuckte die Achseln und deutete auf den Ladentisch.
Himmel, er war noch immer nicht bedient worden.
Spur drehte sich um und ging in die andere Richtung, an dem Buchladen vorbei zum Ende des Wohnblocks. Drüben lag Chinatown, ein blitzender Neondschungel von Palmen und Drachen.
Er ging zurück. Eine Weile lehnte er am Krankenwagen.
Schließlich hielt er es nicht länger aus, ging zum Essex und trat ein.
»Lösen Sie einen Scheck«, sagte der Mann am Eingang.
»Ich kaufe nichts.«
»Dann geben Sie ihn auf dem Weg hinaus zurück.«
Maish saß mit den Taxifahrern an einem Ecktisch, den Teller vor sich bis auf ein paar Fleischkrümel leer. In seiner Flasche war noch zwei Finger hoch Bier.
»Jetzt aber raus hier und in den Krankenwagen, verdammt noch mal«, sagte Spurgeon.
Maish sah die Taxifahrer an und hob die Augenbrauen. »Ein Neuling«, sagte er.
Im Wagen reichte er Spurgeon einen braunen Papiersack und zwanzig Cent Wechselgeld. »Ich hab' mir gedacht, ich freß es lieber drinnen«, sagte er. »So kann ich selbst fahren. Ich kenne Charlestown. Ich hab' mir gedacht, Sie könnten sich verfahren.«
»Beeilen wir uns lieber, diesen Entbindungsfall abzuholen. Wäre vielleicht keine schlechte Idee, was?«
»Sobald wir sie eingeliefert haben, garantiere ich Ihnen, daß sie noch eineinhalb Tage brauchen wird.«
Sie fuhren durch Chinatown zur Schnellstraße. »Essen Sie«, befahl Maish, die jüdische Mutter des AmbulanzKorps. Das belegte Brot schmeckte auf Spurs nervöser Zunge wie Pappe, der Kaffee war ekelhaft kalt, und er schluckte ihn herunter, als sie über die Tobin-Gedächtnisbrücke rumpelten. »Haben Sie fünfundzwanzig Cent?« Es war Sache des Fahrers, Mauten zu bezahlen, aber Spurgeon rückte mit dem Geld heraus und nahm sich vor, es später einzutreiben.
Die Straßen sahen alle gleich aus, die Häuser sahen alle gleich aus.
Maish brauchte zehn Minuten, bis er zugab, daß er Sim-mons Court nicht finden konnte, und weitere fünf, bis er die Suche auf der Straßenkarte aufgab.
Nach längeren Beratungen mit zwei Polizisten und einer Küstenpatrouille der Marine fanden sie ihren Bestimmungsort, eine unbeleuchtete Sackgasse am Ende einer Privatstraße mit tiefen Schneefurchen. Natürlich wohnten die Catletts im dritten Stock. Die Wohnung war dunkel und schmutzig und roch nach Unterstützungsgeldern. Aus dem Schlaf gerissene Kinder und ein stummer, mürrischer Mann. Die Frau war aufgeschwemmt von allzu stärkehaltiger Ernährung, Sorgen und zu häufigen Geburten. Sie legten sie, beide keuchend, auf die Krankentrage. Das älteste Mädchen legte einen braunen Papiersack neben die Mutter auf die Tragbahre.
»Mein Nachthemd und so Sachen«, sagte die Frau stolz zu Spurgeon.
Sie gingen zur Tür, dann aber blieb Spurgeon stehen, wobei sich ihm die Tragbahre in die Kniekehlen bohrte. »Wollen Sie ihr nicht Adieu sagen?« fragte er den Mann.
»'dieu.«
»'dieu«, sagte sie.
Sie war sehr schwer. Spurgeon und Meyerson manövrierten sie die schmalen knarrenden zwei Treppen hinunter und aus dem düsteren Gestank des Vorhauses hinaus.
»Vorsicht auf dem Eis«, warnte Maish.
Ihre Arme und Beine waren steif und zitterten, als sie sie endlich in den Krankenwagen schoben.
Sie schrie wild auf.
»Was ist los?« fragte Spurgeon.
Es dauerte fast eine Minute, bis sie antworten konnte. In seinem ersten Schrecken hatte er nicht daran gedacht, auf die Uhr zu schauen.
»Ich hab' Schmerzen.«
»Was für Schmerzen?« »Sie wissen doch.«
»War das die erste Wehe?«
»Nein. Hab' schon eine Menge gehabt.«
»Meyerson, fahren Sie lieber los«, sagte er. »Schalten Sie Ihr Spielzeugpfeifchen ein.«
Maish, der Prahler, der Kretin, drückte sofort auf die Sirene, und sie fuhren durch den leeren Hof und die leere Straße hinunter, während in jeder Wohnung Lichter angingen und ein schwarzes oder braunes Gesicht aus einem Fenster spähte.
Spur setzte sich neben die Frau und stemmte die Füße gegen die gegenüberliegende Wand, um auf seinen Knien schreibend ihre Personalien aufzunehmen.
»Ich stelle lieber gleich den ersten Teil der Krankengeschichte zusammen«, brüllte er gegen das anstürmende Sirenengeheul. »Wie ist Ihr voller Name, Mutter?«
»Was?«
»Ihr voller Name!«
»Martha Hendricks Catlett. Hendricks ist mein Mädchenname.« Heiser buchstabierte sie.
Er nickte. »Wo geboren?«
»Rochester.«
»New York?« Sie nickte. »Thomas heißt Ihr Mann. Mittlerer Anfangsbuchstabe?«
»C. Für Charlie.« Ihr Gesicht verzog sich, sie kreischte auf und rollte sich auf der Tragbahre herum.
Diesmal blickte er auf die Uhr. 9,42. Die Wehe dauerte fast eine Minute.
»Wo ist Ihr Mann geboren?«
»Choctaw, Alabama. Verdammter Lügner.«
»Warum?« »Erzählt den Kindern, daß er Halbindianer ist.«
Grinsend nickte er. Allmählich mochte er sie. »Wo arbeitet er?«
»Arbeitslo - oos« - der Schrei verwandelte sich in Angstgekreisch.
Er blickte wieder auf seine Uhr. 9,44. Zwei Minuten.
Ich kann kein Kind entbinden, dachte er benommen.
Seine Erfahrung beschränkte sich auf fünf Tage Unterricht in Geburtshilfe während seines dritten Jahres an der Medizinischen Schule, vor zwei Jahren.
Hatte er sich etwas von damals gemerkt?
»Haben Sie eine Leibschüssel, Doc?«
»Können Sie nicht warten?«
»Ich glaube nicht.«
Das war die Entscheidung; er wußte, daß das Kind fast da war.
Er stürzte nach vorn und klopfte Meyerson auf die Schulter. »Fahren Sie an den Straßenrand und halten Sie.«
»Warum?«
»Ich will Ihnen noch ein gottverdammtes Corned-Beef-Sandwich kaufen!« schrie er.
Der Krankenwagen verlangsamte sein Tempo, hielt an, verschluckte sein Sirenengeheul mit einem Geräusch, das wie Schluckauf klang. Plötzlich war es sehr still, mit Ausnahme des Fsch, fsch, fsch der sehr schnell und sehr dicht vorbeifahrenden Autos.
Spurgeon blickte hinaus, ihm wurde schwach. Sie standen auf der Brücke.
»Haben Sie Rauchsignale, Sie wissen schon, Verkehrsfackeln?« fragte er Meyerson.
Maish nickte.
»Nun, stellen Sie sie auf, damit wir nicht umgebracht werden.«
»Soll ich sonst noch was tun?«
»Reiben Sie zwei Hölzer aneinander und machen Sie Feuer. Kochen Sie viel Wasser. Bitte. Bleiben Sie mir zum Teufel vom Leib.«
»Aaach«, stöhnte die Frau.
Unter der Bahre befand sich ein kleiner Behälter mit Ni-trooxyd und eine Gesichtsmaske für Notfälle. Und ein geburtshilfliches Instrumentarium. Er zerrte die Sachen heraus und dachte angestrengt nach. Sie war bestimmt keine primipara, keine Erstgebärerin. Aber wieviele Kinder waren dort gewesen? Eine Vielgebärerin?
»Wieviele Kinder haben Sie, Mutter?«
»Acht«, sagte sie keuchend.
»Wieviele Buben?« fragte er, obwohl es ihn überhaupt nicht interessierte. Sie war eine multipara, und die Chance war groß, daß sie das Baby wie eine Bombe fallen ließ.
»Die beiden ersten sind Buben, sonst lauter Mädchen«, sagte sie, als er ihr die Schuhe auszog. Natürlich waren keine Steigbügel vorhanden. Er hob ihre Füße und stemmte sie gegen die Bänke auf beiden Seiten der Trage, damit das Blut abfließen konnte.
Meyerson öffnete die Tür und ließ Verkehrsgeräusche ein. »Doktor, haben Sie Kleingeld? Ich geh' zu einem Telephon, das Krankenhaus anrufen.«
Er gab ihm eine Münze.
»Ich muß noch einige andere Anrufe machen.«
Also gab er ihm eine Handvoll Kleingeld, drängte ihn aus dem Krankenwagen und versperrte die Tür von innen. Die Frau stöhnte. »Ich gebe Ihnen ein bißchen was gegen die Schmerzen, Mutter.«
»Zum Einschlafen?«
»Nein. Nur für einen kleine Schwips.«
Sie nickte, und er ließ sie ein, zwei Züge Nitroxyd einatmen, wobei er die Menge aufs Geratewohl dosierte, aber sehr vorsichtig war, um keinen Fehler zu begehen. Es wirkte schnell.
»Froh«, murmelte sie.
»Worüber?«
»Farbiger Doktor. Hab' noch nie einen farbigen Doktor gehabt.«
Mein Gott, arme Frau, dachte er. Ich würde mit Freuden zulassen, daß das Baby von George Wallace oder Louise Day Hicks entbunden würde, wenn der eine ein Geburtshelfer oder die andere eine Hebamme, aber beide bloß hier wären.
Er öffnete den Instrumentenkasten, der nicht viel enthielt: einen kleinen Absaugballon, ein paar blutstillende Mittel, Scheren und Zangen. Er zog ihr Kleid hoch und legte Schenkel wie Eichenstämme und eine braunseidene Unterhose bloß, die er von ihr abzuschneiden begann.
Sie fing zu weinen an. »Geschenk von meiner Zweitältesten.«
»Ich kaufe Ihnen eine neue.«
Bloßgelegt war der Bauch erschreckend, eine Masse dunklen Fleisches mit Fettwülsten, die Haut voll Schwangerschaftsstreifen; auf ihm hatte ihr Mann gelegen und sich dem einzigen Vergnügen hingegeben, das sich ein armer Schwarzer leisten kann, der einzigen Freude, die kein Geld kostet, billiger als Kino, billiger als Suff, um den winzigen Samen abzulegen, der zu diesem Ding geworden war, groß und fest wie eine Wassermelone unter ihrer Haut.
So tief unten, so tief.
Ich habe eine Frage an Sie, Doktor Robinson. Wie bekomme ich einen Gegenstand, der so groß wie das zweifellos dicke Baby dieser fetten Frau ist, durch eine Öffnung, die - obwohl ich kleinere gesehen habe - dennoch verhältnismäßig klein ist?
So klein.
Es war eine Gelegenheit, erkannte er grimmig, gleich zwei Patienten auf einmal zu verlieren, Schlag zwei und Schlag drei auf dem Schuldkonto zu buchen, sozusagen.
Es war eine Flasche Zephiran vorhanden. Er schraubte die Kappe ab und goß es großzügig über den Scheideneingang und den Damm, dann etwas davon auf seine Hände und schlenkerte sie, bis sie trocken waren kein vollwertiger Ersatz für das Bürsten der Hände, aber immerhin der beste verfügbare.
Die Frau keuchte, schnaubte, blies, als versuchte sie, ein ganzes Haus niederzublasen.
»Wie geht's, Mutter?« Sie knurrte bloß.
Bitte, Gott.
Ein großer Wassersturz ergoß sich über seine weiße Hose, ein strohfarbener Niagarafall. Sie hielt die Augen geschlossen, die großen Beinmuskeln waren verkrampft. In der Öffnung tauchte ein kleiner kahler Kopf auf und trug die Haare der unvorbereiteten und daher unrasierten mütterlichen Genitalien wie eine Tonsur.
Zwei weitere Wehen, und der Kopf lag frei. Spurgeon verwendete den Ballon, um Flüssigkeit aus dem winzigen Mund zu saugen, und erkannte dann, daß die Frau es mit den Schultern des Kindes schwerer hatte. Er machte einen kleinen Einschnitt in den Damm, der sehr wenig blutete. Als sich die Frau das nächste Mal zusammenkrümmte, half er mit den Händen nach, und das ganze Baby war draußen in der kalten Welt. Er steckte zwei Klemmen auf die Nabelschnur, schnitt sie zwischen ihnen durch und sah sofort pflichtbewußt auf die Uhr; es war aus legalen Gründen wichtig, die Zeit der Geburt zu verzeichnen.
In einer Hand hielt er den winzigen Hals und Kopf, mit der anderen den kleinen Steiß, warmer Samt, weich wie -eben wie ein Babyarsch. Du Musikschreiber, Musikmacher, versuch's doch und verwandle dieses Geschehen in Klang, sagte er sich, und er wußte, daß es nicht zu machen war. Das Baby öffnete den Mund, machte eine Backpflaume aus seinem Gesicht, stieß einen kleinen Schrei aus und sandte gleichzeitig einen Urinstrom aus dem winzigen Penis - ein strammer Junge.
»Sie haben einen prächtigen Buben«, sagte er zu der Frau. »Wie wird er heißen?«
»Wie heißen Sie, Doktor?«
»Spurgeon Robinson. Sie wollen ihn nach mir nennen?«
»Teufel, nein. Nenne ihn nach seinem Paps. Wollte nur Ihren Namen wissen.«
Einen Augenblick später lachte er noch immer, als Mey-erson und der Polizist an die Tür des Krankenwagens klopften.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Doktor?« fragte der Polizist.
»Ich habe alles unter Kontrolle, danke.« Hinter ihnen staute sich der Verkehr eine halbe Meile weit. Das Hupen kam ihm zum erstenmal zu Bewußtsein. Es war ohrenbetäubend.
»Einen Augenblick. Kommen Sie herein und halten Sie Thomas Catlett einen Augenblick, ja, bitte?«
Bei einer Entbindung war es genauso wie bei jedem anderen chirurgischen Eingriff, die Möglichkeit eines
Schocks war vorhanden. Er leitete eine intravenöse Infusion bei ihr ein, Dextrose und Wasser.
Dann deckte er sie mit einer Decke zu und beschloß, zur Entbindung der Nachgeburt auf aseptischere Verhältnisse zu warten. Er nahm dem Polizisten das Baby wieder ab.
»Mr. Meyerson«, sagte Dr. Robinson sehr würdevoll, »wollen Sie uns bitte von dieser verdammten Brücke wegfahren?«
Als sie den Hof des Krankenhauses erreichten und er die Tür des Krankenwagens öffnete, überraschte ihn das erste Blitzlicht.
»Halten Sie das Baby hoch, Doktor. Steigen Sie noch einmal ein und setzen Sie sich neben die Mutter«, befahl ein Kameramann.
Es waren zwei Photographen, drei Reporter und zwei Fernsehteams da.
Wie zum Teufel, fragte er sich, und dann erinnerte er sich an all das Kleingeld, das Meyerson gebraucht hatte, um Anrufe zu machen. Er sah sich böse um.
Maish war eben dabei, durch den Eingang zur Ambulanz zu verschwinden. Wie ein Blatt vor dem Wind, nein, wie ein Märzhase hoppelte Meyerson eilig davon.
Viel später kam Spurgeon in sein Zimmer. Er schälte sich aus dem weißen Anzug, der stark nach Blut und Fruchtwasser roch. Die Dusche in der Halle unten lockte, aber lange saß er in seiner Unterwäsche einfach nur auf dem Bett, dachte wenig, und fühlte sich großartig.
Champagner, dachte er schließlich. Er würde duschen und sich umziehen und zwei kleine Flaschen erstklassigen Champagners holen. Die eine würde er mit Adam Silver-stone trinken. Die zweite mit Dorothy.
Dorothy.
Er ging hinaus, ließ zwei Münzen ins Hallentelephon fallen und wählte Dorothys Nummer.
Mrs. Williams kam ans Telephon.
»Wissen Sie, wie spät es ist?« fragte sie scharf, als er Dorothy verlangte.
»Ja. Das ist eben eines der Dinge aus dem Leben eines Arztes. Gewöhnen Sie sich lieber schon jetzt daran, Mamma.«
»Spurgeon?« fragte Dorothy einen Augenblick später. »Was war in der Konferenz?«
»Ich bleibe Spitalsarzt.«
»War es gräßlich?«
»Sie haben mir die Nase drin gerieben, wie man das bei einem Hundejungen macht.«
»Geht's dir halbwegs?«
»Mir geht's prima. Die größte lebende Kapazität der Welt in Sachen Zahnfortsatz.« Plötzlich erzählte er mit belegter Stimme von der großen dicken Seelenschwester und dem süßesten kleinen, weichärschigen, gut gebauten Babyjungen, der das Licht der Welt erblickte, weil Dr. Robinson als furchtloser Arzt an der vordersten Front stand.
»Ich liebe dich, Spurgeon«, sagte sie, sehr leise, aber deutlich, und er konnte sich vorstellen, wie sie da in der Küche in ihrem Nachthemd stand, ihre wunderschöne Hand um den Hörer gekrümmt, und ihre Mutter wie ein großer dunkler Schmetterling herumflatterte.
»Hör zu«, sagte er ganz laut, und es war ihm gleichgültig, ob Adam Silverstone oder sonst jemand auf der ganzen Welt ihn hörte. »Auch ich liebe dich, sogar mehr, als ich deinen heiratsfähigen nubischen Körper besitzen will. Was sehr viel mehr als beträchtlich ist.« »Du bist verrückt«, sagte sie mit ihrer altjüngferlichen Lehrerinnenstimme.
»Aha. Aber wenn deine Fahrkarte in die große Welt des weißen Mittelstandes endlich gelocht ist, werde ich das Annullierungswerkzeug sein.«
Er glaubte sie lachen zu hören, war sich jedoch nicht sicher, weil sie einfach eingehängt hatte. Er blies einen lauten schmatzenden Kuß in das summende Telephon.
9
HARLAND LONGWOOD
Im Verlauf seiner Krankheit gewöhnte sich Harland Longwood an sie wie an ein häßliches, verhaßtes Kleidungsstück, das man aus wirtschaftlichen Gründen nicht wegwerfen kann. Er fand nachts immer weniger Schlaf, worüber er jedoch nur zum Teil unglücklich war, da er am besten schreiben konnte, wenn das Wohnhaus in Cambridge in schwarzen Samt gehüllt war und die Welt mit einem Minimum an Geräuschen durch die geschlossenen Fenster drang.
Er schrieb schnell, arbeitete das Material auf, das im Laufe vieler Jahre gewissenhaft und langsam angesammelt worden war, und vollendete für jedes Kapitel einen sorgfältigen zweiten Entwurf, bevor er zum nächsten schritt. Als er drei Kapitel geschrieben hatte, wußte er, daß es Zeit für eine Überprüfung war, und nach langer Überlegung wählte er drei hervorragende Chirurgen, die weit genug von Boston lebten, so daß die Nachricht von seiner Krankheit noch nicht zu ihnen gedrungen sein konnte. Das Kapitel über Thoraxchirurgie ging an einen Professor am McGill-Institut, das Kapitel über Bruchoperationen an einen Chirurgen am Lo-ma-Linda-Hospital in Los Angeles, das Kapitel über die Methodik an einen Mann an der Mayo-Klinik in Minnesota.
Als ihre Rezensionen eintrafen, wußte er, daß er keinem aus bloßer Ichsucht geborenen, närrischen Traum nachgejagt war.
Der Professor vom McGill war von dem Teil über die Thoraxchirurgie begeistert und bat um die Erlaubnis, ihn in einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift zu veröffentlichen. Der Chirurg der Mayo-Klinik zollte ihm hohes Lob, wies jedoch auf ein zusätzliches Gebiet hin, das in diesem Zusammenhang interessant sein würde, was drei weitere Wochen mühevoller Arbeit bedeutete. Der Kali-fornier, ein eifersüchtiger Pedant, mit dem er jahrelang in Streit gelegen war, räumte zwar mürrisch den Wert des Materials ein, fügte aber drei haarspalterische redaktionelle Korrekturen hinzu, mit denen Longwood nicht übereinstimmte und die er überging.
Er schrieb mit einer Feder und füllte liniertes Papier mit einer verkrampften, spinnenartigen Schrift. Gelegentlich überwältigte ihn der Schlaf bei Tag, wenn er einen Teil an dem Buch fertiggeschrieben hatte, und zum erstenmal im Leben begann er häufig im Krankenhaus zu fehlen und daheim zu bleiben, dankbar für Bester Kenders Fähigkeit, ihn abzulösen.
Er fühlte sich jetzt sicher genug, eines Tages beim Mittagessen das Buch Elizabeth gegenüber zu erwähnen, und war gerührt, als sie sich freiwillig anbot, das Manuskript zu tippen, weil er glaubte, sie wolle über ihn wachen. Zwei Tage spielte sie wie ein Kind an der Schreibmaschine herum, am dritten Vormittag stand sie jedoch nach zwanzig Minuten auf und verbrachte lange Zeit vor dem Spiegel, um sich den Hut aufzusetzen.
»Ich habe Edna Brewster versprochen, mit ihr einkaufen zu gehen, Onkel Harland«, sagte sie, und als er nickte, küßte sie ihn auf die Wange.
Nach einigen Tagen war es Bernice Lovett, die krank war und besucht werden mußte.
Zwei Vormittage später sagte sie, Helen Parkinson habe darauf bestanden, daß sie dem Komitee die neue VincentClub-Show planen helfe.
Danach wurde ihre Anwesenheit von Susan Silberger, Ruth Moore, Nancy Roberts gebraucht, während der Stapel ungetippten Manuskripts neben der Schreibmaschine wuchs.
Der Kubaner war nicht fähig, ihr Halt zu geben, dachte er, endlich in seiner Mißbilligung Meomartinos bestätigt.
Sie blieb immer eine Weile in seiner Wohnung und ging dann, nachdem sie nachdrücklich die Frau genannt hatte, mit der sie den Tag verbringen würde. Er brauchte nur bis zu dem Vormittag mit Helen Parkinson, um sich die Dinge zusammenzureimen.
»Du meinst, falls dein Mann anruft«, sagte er, als sie es ihm sagte.
Liz sah ihn an und lächelte dann. »Jetzt sei nicht töricht und sage ja nichts, das wir beide bedauern würden, Onkel Harland«, sagte sie.
»Elizabeth, du bist hergekommen, um mir bei der Arbeit zu helfen. Möchtest du mit mir über ... irgend etwas sprechen? Kann ich dir helfen?«
»Nein«, sagte sie.
Statt darüber nachzudenken, rief er ein Schreibbüro an und traf eine Vereinbarung für die stundenweisen Dienste einer Typistin, die jederzeit für ihn bereit stand.
Am schlimmsten waren die Nächte, die er an dem Blutwäscheapparat verbrachte, festgehalten von Nadelfingern, während sich die Glasrohre hellrot färbten, ihm wie ein Vampir das Blut aussaugten, und er dalag, lange Stunden an das Bett gefesselt, Gefangener einer Maschine, die ihm Leben spendete.
Sie machte keinen Lärm, aber sie plätscherte leise. Er wußte, daß es ein lebloses Produkt der menschlichen Be-gabung für Mechanik war, dennoch kam ihm mitunter das Plätschern wie ein leises spöttisches Lachen vor.
Wenn er befreit wurde, entfloh er ihr erleichtert und ging in die Stadt wie ein Seemann auf Urlaub, nahm einen Drink im Ritz-Carlton, aß bei Locke-Ober, wo er oft seine Diätregeln mit dem Gefühl durchbrach, daß ihm die Kochsalzbeschränkung buchstäblich etwas vom Salz des Lebens raubte. Regelmäßig bestellte er nach dem Essen reichlich Brandy. Er war nie knausrig gewesen, jetzt aber erstaunte er Louie, den Kellner, der ihn seit dreißig Jahren bediente, mit verschwenderischen Trinkgeldern.
Besessen von dem Wunsch, das Buch fertigzuschreiben, arbeitete er jede Nacht; er schrieb so schnell er nur konnte und beobachtete sich mit der Distanz eines Fremden, der einem Pferderennen zusieht und ironisch amüsiert fragt, wer wohl gewinnen würde.
Ein-, zweimal ließ Elizabeth den kleinen Jungen bei ihm in der Wohnung, und Longwood spielte mit seinem Großneffen auf dem Boden, während die Sonne durch das Fenster strömte, und er sich in seiner Schwäche mit dem Jungen gleichaltrig fühlte, sich zufrieden gab, die Spielzeugautos, die Miguel mitgebracht hatte, herumzurollen; das blaue wurde von der kleinen dicken Hand und das rote von den langen knochigen Fingern geschoben, die noch vor kurzem chirurgische Instrumente gehalten hatten, um den Teppich herum, zwischen den Sesselbeinen hindurch und unter dem Speisezimmertisch. Manchmal nahm er nachmittags den Jungen auf wirkliche Fahrten in einem wirklichen Auto mit, gewöhnlich auf kurze Ausflüge, aber eines Nachmittags befand er sich auf der Route 128, hielt das Gaspedal niedergedrückt, die Tachometernadel rückte immer höher und höher, und der Wagen jagte über die Straße.
»Du fährst zu schnell, Lieber«, sagte Frances milde.
»Ich weiß«, sagte er grinsend.
Dann hörte er, wie er glaubte, einen Krankenwagen, und als er seinen Irrtum erkannte, hatte der Verkehrspolizist bereits sein Motorrad neben ihm angehalten, und er fuhr den Wagen an den Straßenrand.
Der Polizist sah sein graues Haar, und dann die Nummerntafel des Arztes am Wagen. »Ein Notfall, Doktor?«
»Ja«, sagte er.
»Soll ich Sie begleiten?«
»Nein, danke«, sagte er, und der Polizist nickte, salutierte und fuhr weg.
Als Longwood wieder nach Frances blickte, war sie verschwunden, bevor er sie hatte fragen können, was er wegen Elizabeth tun solle, und der kleine Junge schlief auf dem Vordersitz, eingerollt wie ein Kätzchen. Longwood begann zu zittern, zwang sich jedoch, weiterzufahren, kehrte mit dreißig Stundenkilometer nach Cambridge zurück, und hielt sich dicht an der rechten Straßenseite.
Er nahm den Jungen nie wieder auf eine Fahrt in dem wirklichen Auto mit.
Die Kanülen eiterten in seinem Fleisch. Man versetzte die Anschlußstücke mehrmals, bis die kleinen Einschnittnarben ein Muster auf seinem Bein bildeten. In seinem Organismus hatten sich Toxine angesammelt, und eines Nachmittags begann sein ganzer Körper zu jucken. Er kratzte sich, bis er blutete, und dann lag er im Bett und wand sich, und Tränen strömten ihm über das Gesicht.
Am Abend ging er zur Blutwäsche ins Krankenhaus, und als sie die Kratzspuren sahen, verschrieben sie ihm Bena-dryl und Stelazin, und Dr. Kender sagte ihm, daß er statt zweimal wöchentlich nunmehr dreimal an die Maschine müsse. Sie gaben ihm Montag, Mittwoch und Freitag neun Uhr früh als Termine, statt wie bisher Dienstag und Donnerstag abend. Das bedeutete, daß er, selbst wenn er sich an jenen Tagen wohlfühlte, nicht zur Arbeit ins Krankenhaus kommen konnte. Er rief noch immer jeden Abend Silverstone oder Meomartino an, um einen Bericht über die Station zu erhalten, stellte jedoch die Visiten ein.
Gelegentlich, wenn er allein war, weinte er. Einmal blickte er auf und sah Frances neben seinem Bett sitzen.
»Kannst du mir nicht helfen?« fragte er sie.
Sie lächelte ihn an. »Du mußt dir selbst helfen, Harland«, sagte sie.
»Was hätten wir für diesen Mann tun können, meine Herren?« fragte er das Todeskomitee.
Aber niemand antwortete.
Er versuchte nicht mehr in die Appleton-Kapelle oder eine andere Kirche zu gehen, aber eines Nachts, als er dasaß und an dem Buch arbeitete, erfüllte ihn plötzlich eine neue Gewißheit: er würde es beenden. Dieses Wissen war sehr stark. Es überfiel ihn nicht in einem Ausbruch farbiger Lichter oder aufklingender Musik, wie solche Augenblicke immer in schlechten Fernsehsendungen am Oster-morgen geschildert wurden. Es war einfach ein ruhiges, kraftvolles Versprechen.
»Danke, Herr«, sagte er.
Am nächsten Morgen ging er, bevor er sich an der Maschine meldete, in Mrs. Bergstroms Zimmer und stand an ihrem Bett. Sie schien zu schlafen, aber nach einigen Augenblicken öffnete sie die Augen.
»Wie fühlen Sie sich?« fragte er.
Sie lächelte. »Nicht sehr gut. Und Sie?« »Sie wissen von mir?« fragte er interessiert.
Sie nickte. »Wir sitzen im selben Boot. Sie sind der Doktor, der krank ist, nicht?«
Also wußten es sogar die Patienten. Es gehörte zu jenen Neuigkeiten, die sich in einem Krankenhaus schnell verbreiten.
»Kann ich irgend etwas für Sie tun?« fragte er.
Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Dr. Kender und seine Leute kümmern sich um alles. Machen Sie sich keine Sorgen. Sie werden sich auch um Sie kümmern.«
»Ja, bestimmt«, sagte er.
»Sie sind wunderbar. Es ist gut, jemanden zu haben, dem man vertrauen kann.«
»Ja, wirklich«, sagte er.
Kender kam herein und sagte ihm, daß sie warteten, um ihn an den Apparat anzuschließen. Sie verließen zusammen das Zimmer, und auf dem Gang wandte sich Longwood an den jüngeren Mann. »Sie hat ein unglaubliches Vertrauen zu Ihnen. Sie glaubt, Sie seien unfehlbar.«
»Das kommt vor und ist kein Nachteil. Es hilft uns«, sagte Kender.
»Aber es ist natürlich ein Nachteil, daß ich mir Ihrer Grenzen bewußt bin«, sagte er.
Longwood legte sich nieder und ließ sich von der Schwester an die Maschine anschließen. Im nächsten Augenblick begann der Apparat spöttisch zu plätschern. Er legte sich zurück und schloß die Augen. Vorsichtig am Ausschlag kratzend, begann er von Anfang an Gott alles zu erzählen.
10
RAFAEL MEOMARTINO
Meomartino kam an diesem Abend nach Hause, als Hunt-ley eben Brinkley im Fernsehen Gute Nacht sagte. Liz lag in einem Hauskleid auf der Couch im Wohnzimmer, die Schuhe auf dem Boden, das Haar nur ganz leicht in Unordnung, und ihre Müdigkeit betonte die zarten Linien um ihre Augen. Sie drehte den Kopf herum und bot ihm die Wange zum Kuß. »Wie war es heute?«
»Schrecklich«, sagte er. »Wo ist der Junge?«
»Im Bett.«
»So früh?«
»Weck ihn nicht. Er ist total erschöpft, und ich auch.«
»Pappi?« rief Miguel aus seinem Zimmer.
Er ging hinein und setzte sich auf das Bett. »Wie geht's?«
»Gut«, sagte der Junge; er fürchtete sich im Dunkeln, und sie ließen eine Lampe mit einer schwachen Birne auf dem Schreibtisch brennen.
»Kannst du nicht einschlafen?«
»Nein«, sagte er. Als Rafe die Hand des Kindes unter der Decke hervorholte, sah er, daß sie schmutzig war.
»Hast du nicht gebadet?«
Miguel schüttelte den Kopf. Rafe ging ins Badezimmer, ließ eine Wanne mit warmem Wasser vollaufen und trug dann den Jungen aus dem Bett ins Bad, zog ihn aus und wusch ihn sehr behutsam. Gewöhnlich schlug Miguel um sich und plantschte, jetzt aber war er schläfrig und lag still. Er begann schneller zu wachsen, als sein Fleisch nachkommen konnte. Seine Hüftknochen standen vor, seine Arme und Beine waren dünn.
»Du wirst ein sehr großer Mann werden«, sagte Rafe.
»Wie du.«
Rafe nickte. Er rieb ihn mit einem Tuch ab, zog ihm einen frischen Pyjama an und trug ihn ins Schlafzimmer zurück.
»Mach ein Zelt«, bat Miguel.
Er zögerte, denn er war müde und hungrig.
»Bitte«, sagte der Junge.
Also ging er in sein Arbeitszimmer und kam mit einer Ladung Bücher zurück, nahm eine Decke vom Bett, breitete sie zwischen Bett und Schreibtisch aus und beschwerte jede Ecke des Tuchs mit vier, fünf Büchern. Dann löschte er das Licht, und er und sein Sohn krochen in das Zelt. Der Acrylteppich war weicher als ein Rasen. Der kleine Junge schmiegte sich an ihn und umfing ihn mit den Armen.
»Erzähl mir über den Regen. Du weißt schon.«
»Draußen regnet es sehr stark. Alles ist kalt und naß«, sagte Rafe gehorsam.
»Was noch?« Der Bub gähnte.
»Im Wald zittern die kleinen Tiere vor Kälte und vergraben sich im Laub und in der Erde, damit ihnen warm wird. Die Vögel haben die Köpfe unter ihre Flügel gesteckt.«
»Aber ist uns kalt und sind wir naß?«
»Nein«, murmelte der Junge.
»Warum nicht?«
»Ein Zelt.«
»Ganz richtig.« Er küßte die Wange, die noch immer babyweich war, und berührte seinen Sohn sanft zwischen den dünnen Schulterblättern, halb tätschelnd, halb streichelnd.
Nach einer Weile verriet ihm das ruhige gleichmäßige Atmen, daß das Kind schlief. Vorsichtig machte er sich frei, kroch dann hinaus, nahm das Zelt auseinander und brachte Miguel wieder in sein Bett.
Im Wohnzimmer lag Liz noch immer auf der Couch.
»Das hättest du nicht tun müssen«, sagte sie.
»Was?«
»Ihn baden. Ich hätte ihn in der Früh gebadet.«
»Es macht mir nichts aus, ihn zu baden.«
»Er wird nicht vernachlässigt. Ich habe viele Fehler, aber ich bin eine gute Mutter.«
»Was gibt's zum Abendessen?« fragte er.
»Ich hab' eine casserole. Ich brauche nur den Herd anzudrehen, um sie zu wärmen.«
»Bleib' nur«, sagte er. »Ich mach' schon.«
Während er wartete, daß das Essen warm wurde, dachte er, ein Drink würde sie beide erfrischen. Er suchte in einem Küchenschrank nach dem Kräuterlikör, als er die Beefeater-Flasche hinter einer runden Hafermehlschachtel erblickte. Sie war noch immer kalt, als er sie berührte, und war sichtlich bis knapp vor seiner Heimkehr im Eisschrank gestanden.
Es wird Zeit, dachte er, daß du diesen Dingen ins Auge blicken mußt.
Er stellte die Flasche auf ein Tablett mit zwei Gläsern und trug sie in das Wohnzimmer.
»Martini?«
Sie sah die Flasche an, sagte aber nichts. Er goß den Drink ein und reichte ihn ihr.
Sie schlürfte. »Er müßte kälter sein«, sagte sie. »Aber sonst hätte selbst ich keinen besseren mixen können.«
»Liz«, sagte er, »warum das Theater? Du willst untertags trinken? Dann trinke. Du brauchst die Flaschen nicht vor mir zu verstecken.«
»Halte mich«, sagte sie nach einem Augenblick. »Bitte.«
Er legte sich neben sie und hielt sie in den Armen, während er auf dem Rand des schmalen Sofas balancierte.
»Warum hast du getrunken?«
Sie lehnte sich zurück und sah ihn an. »Es hilft«, sagte sie.
»Wogegen?«
»Ich habe Angst.«
»Warum?«
»Du brauchst mich nicht mehr.«
»Liz -«
»Es ist wahr. Als ich dich kennenlernte, hast du mich schrecklich gebraucht. Jetzt bist du stark. Selbstständig.«
»Muß ich schwach sein, um dich zu brauchen?«
»Ja«, sagte sie. »Ich werde es verderben, Rafe. Ich weiß es. Ich tue es immer.«
»Unsinn, Liz. Siehst du nicht, wie dumm das ist?«
»Vor unserer Ehe kam es nie wirklich darauf an. Nachdem ich es mit Bookstein verpfuscht hatte und wir geschieden waren, war ich tatsächlich glücklicher. Aber ich kann den Gedanken nicht ertragen, es wieder zu verpfuschen.«
»Wir werden nichts verpfuschen«, sagte er hilflos.
»Wenn du daheim bist, ist alles in Ordnung. Aber das verdammte Krankenhaus nimmt dich alle sechsunddreißig Stunden wieder weg. Wenn du nächstes Jahr in die Praxis gehst, wird es noch schlimmer werden.«
Er zog ihre Lippen mit dem Finger nach, aber sie wandte den Kopf ab. »Wenn du mit dem Krankenhaus ins Bett gehen könntest, würde ich dich überhaupt nie sehen«, sagte sie.
»Nächstes Jahr wird es besser sein«, sagte er. »Nicht schlimmer. Ich verspreche es dir.«
»Nein«, sagte sie. »Wenn ich mich an Tante Frances erinnere, dann sehe ich sie vor mir, wie sie auf meinen Onkel wartete. Sie sah ihn fast nie. Er verkaufte seine Praxis und ging erst, nachdem sie gestorben war, ins Krankenhaus arbeiten. Als es zu spät war.«
»Du wirst dein Leben nicht damit verbringen, auf mich zu warten«, sagte er. »Das verspreche ich dir.«
Sie umschlang ihn fester. Um nicht von der Couch zu fallen, hielt er sie dort fest, wo die Rückseite des Schenkels breiter wurde, eine massive Stelle zum Festhalten. Bald darauf wurde ihr Atem an seinem Hals langsam und regelmäßig; sie schlief ein wie der Junge, dachte er. Er spürte Verlangen, unternahm jedoch nichts, da er die behagliche Vertrautheit nicht verletzten wollte. Gleich darauf döste er selbst ein und träumte unerklärlicherweise, daß er wieder ein kleiner Junge war, der in seinem Schlafzimmer in dem großen Haus in Havanna schlief. Es war ein unglaublich klarer und realistischer Traum, und er war sicher, daß seine Eltern in dem großen geschnitzten Bett im Schlafzimmer unten bei der Halle lagen und Guillermo nebenan schlief.
Der Summer am Herd der Bostoner Wohnung weckte sie gleichzeitig, die schlafende Traumfamilie und den Mann, dessen Frau aus Fleisch und Blut aufsprang, um die Herduhr abzudrehen, bevor diese ihren Sohn störte.
Meomartino blieb auf dem Sofa liegen.
Der Fernsehapparat brachte noch immer Nachrichten, und er beobachtete einen dreizehnjährigen Südvietnamesen, der von einem amerikanischen Infanterieregiment gegen den Wunsch seiner Eltern adoptiert worden war. Die Soldaten hatten dem Jungen Zigaretten und Bier und ein Gewehr gegeben, und er hatte bereits zwei Vietkong getötet.
»Was für ein Gefühl war es, zwei Menschen zu töten?«
»Ein gutes Gefühl. Sie waren schlecht«, sagte der Junge, obwohl er seine zwei erschossenen Landsleute erst knapp vor dem Abdrücken gesehen hatte, als er das automatische Gewehr abfeuerte; es war so konstruiert, daß es reibungslos und ohne Rücksicht auf die Mentalität des Benutzers arbeitete.
Rafe stand auf und stellte den Apparat ab.
Sie weiß nicht das geringste von mir, dachte er.
Manchmal träumte er jetzt wieder vom Krieg.
Die Albträume begannen immer mit der Schweinebucht und betrafen auch Guillermo, aber gewöhnlich endeten sie in Vietnam. Als eingebürgerter Staatsbürger und Arzt würde ihn der Einberufungsbefehl erreichen, sowie er das letzte Jahr der Facharztanwartschaft beendet hatte, und viele der jungen Doktoren, die im vergangenen Jahr am Krankenhaus gewesen waren, dienten jetzt in Vietnam. Einer war schon getötet und einer verwundet worden. Das war ein Krieg, der keinen Respekt vor Ärzten hatte, überlegte er düster. Statt rekrutierter Medizinstudenten waren Fachchirurgen an die Front geschickt worden, und die Krankenhäuser in Saigon waren genauso exponiert wie die Truppenverbandplätze.
Seine Frau hatte teilweise recht, entschied er. Er war tatsächlich stärker geworden.
Denn nunmehr stellte er sich mutig der Tatsache, daß er ein Feigling war.
Es war sehr ungewöhnlich. Der Brief enthielt nur eine Zeile: »Sind Sie zum Mittagessen frei?« Er war mit »Harland Longwood« unterzeichnet. Kein Titel. Wenn es eine berufliche Angelegenheit betroffen hätte, wäre unter der Unterschrift säuberlich »Chefchirurg« getippt gewesen. Das hieß, daß die Zusammenkunft wahrscheinlich irgend etwas mit Liz zu tun haben würde. Das einzige persönliche Thema, das Ra-fe mit dem Onkel seiner Frau erörterte, war seine Frau.
Er sprach im Vorbeigehen im Büro des Alten vor und sagte der Sekretärin, er stehe für das Mittagessen zur Verfügung. Er hatte nur einmal mit Dr. Longwood allein gegessen, fünf Tage vor seiner Hochzeit mit Liz. Sie waren in die Herrenbar des Locke-Ober gegangen, wo Dr. Longwood inmitten von Zinngeschirr und poliertem Mahagoni ihm taktvoll und mürrisch nahezulegen versuchte, daß Liz zwar viel zu gut für einen Ausländer sei, trotzdem nicht unproblematisch war, Alkohol, Sex und anderes, das er bloß andeutete, und Dr. Meomartino würde allen Beteiligten, besonders aber sich selbst einen großen Gefallen erweisen, wenn er seine Besuche sofort einstellte.
Und so heirateten sie.
Diesmal nahm ihn Longwood zu Pier Four mit. Die Krabben in den weichen Schalen waren sehr gut. Der Wein war mild und hatte genau die richtige Temperatur. Er half Rafe durch das mühsame Einleitungsgeplauder.
Beim schwarzen Kaffee, den er allein trank, riß ihm die Geduld. Er sah Longwood fest an.
»Was haben Sie auf dem Herzen?«
Dr. Longwood nahm einen kleinen Schluck Brandy. »Ich möchte gern wissen, wohin Sie nächstes Jahr gehen.«
»Vermutlich in die Privatpraxis. Wenn ich durch ein Wunder der Armee entgehe.«
»Ihre Frau ist eine Frau mit Problemen. Sie braucht einen Halt«, sagte Longwood.
»Das weiß ich.«
»Sie haben für das kommende Jahr noch keine Maßnahmen getroffen?«
Diese Frage verriet Rafe sofort den Grund der Einladung zum Mittagessen. Der alte Mann fürchtete, daß er Liz und den Jungen um die halbe Welt entführen würde.
Longwood sah jetzt wirklich sehr krank aus, dachte er mitleidig. Er wandte den Blick ab und ließ ihn über das gut besuchte Restaurant gleiten. »Ich habe noch keine Maßnahmen getroffen, obwohl es vermutlich an der Zeit ist, daß ich damit beginne. Boston ist mit Chirurgen überfüllt, und wollte ich hier eine Praxis eröffnen, müßte ich mit einigen der besten Leute der Welt konkurrieren. Ich könnte versuchen, mich einem von ihnen als Partner anzuschließen. Wissen Sie jemanden mit einer vielbeschäftigten Praxis, der Unterstützung sucht?«
»Es gibt ein, zwei Leute.« Longwood holte ein Zigarrenetui aus einer Innentasche, öffnete es, bot Rafe eine an, der jedoch ablehnte. Dr. Longwood beschnitt die Zigarre und beugte sich vor, als Rafe das Feuerzeug aufschnappen ließ, dann nickte er dankend, während er an ihr sog. »Sie sind finanziell unabhängig. Sie brauchen kein großes Anfangsgehalt. Stimmt das?«
Rafe nickte.
»Haben Sie je an eine wissenschaftliche Laufbahn gedacht?«
»Nein.«
»Wir werden im September einen Dozenten für Chirurgie einstellen.«
»Bieten Sie mir die Ernennung an?«
»Nein«, sagte Dr. Longwood vorsichtig. »Wir werden noch mit einigen anderen Leuten sprechen. Ich glaube, Ihr einziger Konkurrent könnte Adam Silverstone sein.«
»Ein guter Mann«, sagte Meomartino zögernd.
»Man hält ihn für gut, aber das sind Sie auch. Wenn Sie auf die Stelle reflektieren, würde ich mich natürlich für Sie verwenden. Dennoch glaube ich, daß Sie dank Ihrer Verdienste eine vortreffliche Chance haben.«
Rafe merkte leicht amüsiert, daß ihm der Alte mit dem gleichen Mangel an Begeisterung Lob zollte, mit dem er von Adams Verdiensten gesprochen hatte.
»Eine Dozentur bedeutet Forschung«, sagte er. »Silver-stone hat mit Kenders Hunden gearbeitet. Ich weiß längst, daß ich kein Forscher bin.«
»Sie muß nicht unbedingt Forschung bedeuten. In der Jagd nach Zuschüssen und Laborgebäuden haben die Medizinischen Schulen den Grund für ihre Existenz aus den Augen verloren - die Studenten -, und wir beginnen das allmählich zu erkennen. Gute Lehrer werden immer wichtiger, denn der Unterricht wird immer schwieriger.«
»Jedenfalls ist da noch mein Militärdienst«, sagte Rafe.
»Wir suchen für Dozenten um Aufschub an«, sagte Dr. Longwood. »Man kann ihn jährlich erneuern.«
Seine Augen verrieten nichts, aber Rafe hatte das unbehagliche Gefühl, daß Longwood jetzt innerlich lächelte.
»Ich werde es mir überlegen«, sagte er.
In den nächsten zwei Tagen versuchte er sich einzureden, es bestehe eine Möglichkeit, sich nicht um die Stellung zu bewerben.
Dann kam der Vormittag mit der Exituskonferenz, und er saß benommen und voll Scham da, während Longwood Spurgeon Robinson an die Wand der Bibliothek nagelte, obwohl er wußte, daß er die Wucht des Angriffs - die Kreuzigung - mit der Feststellung mildern konnte, daß ihn der Spitalsarzt angerufen hatte, bevor er die Frau aus dem Krankenhaus entließ.
Es hätte nur eines einfachen erklärenden Satzes bedurft.
Nachher versuchte er sich mit wenig Erfolg zu überzeugen, daß er ihn nicht ausgesprochen hatte, da er den kranken Dr. Longwood schonen und die Sitzung so schnell wie möglich beenden wollte.
Aber er war sich bewußt, daß sein Schweigen der erste Schritt zu seiner Kandidatur gewesen war.
Am Abend traf er auf seinem Weg zum Speisesaal Adam Silverstone, der eben aus dem Lift trat.
»Ich sehe, daß Sie das Krankenbett verlassen haben«, sagte er. »Fühlen Sie sich besser?«
»Ich habe es überlebt.«
»Vielleicht sollten Sie sich etwas länger ausruhen. Diese Viren können gemein sein.«
»Hören Sie. Sie haben heute morgen Spurgeon Robinson in Stich gelassen.«
Meomartino starrte ihn an, sagte jedoch nichts.
»Er leidet mehr als andere an dieser Quälerei«, sagte Silverstone.
»Von jetzt ab heißt es: was Sie ihm antun, tun Sie mir an.«
»Sehr heroisch von Ihnen«, sagte Meomartino ruhig.
»Ich bin für solche Situationen gewappnet, verstanden?«
»Ich werde es mir vormerken.«
»Aug um Aug, Zahn um Zahn«, sagte Adam. Er nickte und ging weiter zum Speisesaal.
Rafe folgte ihm nicht. Statt Hunger erfüllte ihn jene kalte, dunkle Angst, die er seit Jahren nicht mehr gekannt hatte. Er brauchte die Aufmunterung seiner Familie, dachte er; vielleicht würde Liz' Reaktion auf die Neuigkeit, daß er sich um den Lehrauftrag bemühen würde, etwas davon verjagen.
Er rief Harry Lee an und bat ihn, für ihn einzuspringen, während er zum Essen nach Hause fuhr.
Es war eine noch nie dagewesene Bitte, und dem Facharztanwärter gelang es nicht ganz, seine Überraschung zu verbergen, als er zustimmte. Ich sollte das öfter tun, dachte Rafe. Der Junge wird mit der Zeit seinen eigenen Vater nicht mehr erkennen.
Die Stoßzeit war lange vorbei, und der Verkehr auf der Schnellstraße floß ruhig dahin. Rafe umfuhr die Innenstadt, bog dann in die Seitengasse der Charles Street ein und parkte so, daß der Wagen fast den Verkehr in der engen Gasse blockierte. Seine Armbanduhr zeigte sieben Uhr zweiundvierzig, als er die Treppe hochstieg. Zeit genug, dachte er, um schnell ein belegtes Brot zu essen, den Jungen zu küssen, seine Frau zweimal an sich zu drücken und zum Krankenhaus zurückzufahren, ohne dort auch nur vermißt worden zu sein.
»Liz?« rief er, als er mit einem Schlüssel aufsperrte.
»Sie ist nicht zu Hause.« Es war das Babysittermädchen, an deren Namen er sich nie erinnern konnte, und ein Junge, der neben ihr auf der Couch saß. Beide waren leicht zerzaust und offenkundig beim Schmusen unterbrochen worden.
»Wo ist sie?«
»Sie sagte, falls Sie anriefen, solle ich Ihnen sagen, daß sie sich mit ihrem Onkel zum Abendessen trifft.«
»Dr. Longwood?«
»Ja.«
»Wann?«
»Das sagte sie nicht.« Das Mädchen stand auf. »Ah, Herr Doktor, darf ich Ihnen meinen Freund Paul vorstellen.«
Rafe nickte und fragte sich, ob es wohl im Interesse seines Sohnes lag, daß sie beim Kinderhüten Gesellschaft hatte. Vielleicht gedachte der Junge wegzugehen, bevor Liz und ihr Onkel heimkamen. »Wo ist Miguel?«
»Im Bett. Er ist gerade eingeschlafen.«
Rafe ging in die Küche, zog sein Jackett aus, hängte es über den Stuhl und fühlte sich in seiner eigenen Wohnung wie ein Eindringling, als das Gespräch im Wohnzimmer zu einer Reihe kurzer geflüsterter Sätze und einem gelegentlichen unterdrückten Kichern wurde.
Brot war da, etwas altbacken, und Reste von Schinken und Käse. Und eine Beefeater-Flasche, halbvoll, mit Martini, die sie, sicher vor seiner programmgemäßen Rückkehr aus dem Krankenhaus am nächsten Morgen aus dem Eisschrank genommen hätte.
Er machte sich das Sandwich, öffnete eine kleine Flasche Ingwerbier, trug alles durch das Wohnzimmer in das Schlafzimmer seines Sohns und schloß die Tür vor den neugierigen Augen der beiden jungen Leute auf der Couch.
Miguel schlief mit einer ausgestopften orangefarbenen Schlange namens Irving quer über dem Gesicht, das Kissen lag auf dem Fußboden. Rafe stellte Sandwich und Ge-tränk auf dem Schreibtisch ab, hob das Kissen auf und starrte seinen Sohn im Schein des trüben Nachtlichts an. Sollte er das ausgestopfte Tier wegnehmen? Er wußte sehr gut, daß keine Erstickungsgefahr bestand, rückte es aber doch weg, es gab ihm die Möglichkeit, das kleine Gesicht zu betrachten. Miguel bewegte sich, wurde jedoch nicht wach. Der Junge hatte dunkles, strähniges Haar, schon im Alter von zweieinhalb Jahren im Beatlestil geschnitten, hinten lang, über der Stirn in Fransen; Liz mochte es so, Rafe gefiel es überhaupt nicht. Liz' Onkel haßte den Haarschnitt sogar noch mehr, als er den »ausländisch« klingenden Namen des Jungen ablehnte, den er durch das annehmbarere »Mike« ersetzte. Miguel hatte männliche, sogar häßliche abstehende Ohren, die seine Mutter unglücklich machten. Sonst war er schön, zäh und drahtig, mit der hellen Haut seiner Mutter und den warmblütigen zarten Zügen seiner Großmutter väterlicherseits. Der Senora Mamacita.
Das Telephon klingelte.
Er erreichte es vor dem Mädchen und erkannte Longwoods kultivierte Aussprache, die eine Nennung des Namens überflüssig machte.
»Ich dachte, Sie haben heute abend Dienst in der Abteilung.«
»Ich bin zum Essen heimgefahren.«
Longwood erkundigte sich nach mehreren Fällen, und Rafe berichtete, während beide wußten, daß der Chefchirurg keine Möglichkeit mehr hatte, das Wohlergehen der betreffenden Patienten aktiv zu beeinflussen. An Rafes Ohr drangen Restaurantgeräusche aus dem Hintergrund, leises Murmeln von Stimmen, das Klirren von Metall gegen Glas.
»Kann ich Elizabeth guten Abend sagen?« fragte Longwood, als Rafe mit seinem Bericht fertig war.
»Ist sie nicht mit Ihnen zusammen?«
»Heiliger Himmel, sollte ich sie treffen?«
»Zum Abendessen.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann bemühte sich der alte Knabe angestrengt um eine Ausrede. »Diese verdammte Sekretärin! Das Mädchen hat meinen Terminkalender völlig durcheinandergebracht. Ich weiß nicht, wie ich das Elizabeth je erklären soll. Wollen Sie ihr meine aufrichtigste Entschuldigung übermitteln?« Die Verlegenheit in seiner Stimme war echt, aber es war noch mehr, und Rafe erkannte mit plötzlichem Widerwillen, daß es Mitgefühl war.
»Ja«, sagte Rafe.
Er hängte ein, holte das Sandwich und das Ingwerbier, setzte sich an das Fußende des Bettes seines Sohns, kaute, trank und schluckte und dachte an viele Dinge und beobachtete das regelmäßige, ruhige Heben und Senken von Miguels Brust beim Atmen. Die Ähnlichkeit des Kindes mit der Senora war in dem Zwielicht besonders stark.
Etwas später überließ er die Wohnung den jungen Verliebten und kehrte ins Krankenhaus zurück.
Früh am nächsten Morgen machten Dr. Kender und Lewis Chin Mrs. Bergstrom auf und entfernten das Stückchen verdorbene Fleisch, das einst Peggy Welds Niere gewesen war. Sie brauchten keinen Pathologiebericht, um zu wissen, daß das verwüstete Organ von Mrs. Bergstroms Körper zur Gänze abgestoßen worden war.
Nachher saßen sie alle im Aufenthaltsraum der Chirurgen und tranken bitteren Kaffee.
»Was jetzt?« fragte Harry Lee.
Kender zuckte die Achseln. »Das einzige, das uns bleibt, ist, es wieder mit der Niere einer Leiche zu versuchen.« »Man wird es Mrs. Bergstroms Schwester sagen müssen«, sagte Rafe.
»Ich habe es ihr bereits gesagt«, sagte Kender.
Als Rafe den Aufenthaltsraum verließ und in Peggy Welds Zimmer kam, traf er sie beim Packen an.
»Sie verlassen das Krankenhaus?«
Sie nickte. Ihre Augen waren rot, aber ruhig. »Dr. Kender sagte, ich brauchte nicht länger zu bleiben.«
»Wohin gehen Sie?«
»Nur nach Lexington. Ich werde Boston erst verlassen, bis meine Schwester diese Sache hinter sich gebracht hat. So oder so.«
»Ich möchte Sie gern irgendwann einmal am Abend sehen«, sagte er.
»Sie sind verheiratet.«
»Wieso wissen Sie das?«
»Ich habe gefragt.«
Er schwieg.
Sie lächelte. »Sie versteht Sie vermutlich nicht.«
»Ich verstehe sie nicht.«
»Nun, das ist nicht mein Problem.«
»Nein.« Er sah sie an. »Tun Sie mir einen Gefallen?«
Sie wartete.
»Verwenden Sie weniger Make-up. Sie sind sehr anziehend. Es tut mir leid wegen der Niere. Es tut mir leid, wenn ich es war, der Sie dazu überredet hat, sie zu spenden.«
»Mir auch«, sagte sie. »Aber es täte mir nicht leid, wenn sie nicht abgestoßen worden wäre. Daher brauchen Sie sich nicht länger schuldig zu fühlen, weil ich meine Entscheidungen selbst treffe. Auch über mein Make-up.«
»Kann ich irgend etwas für Sie tun?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe mir die Dinge ganz gut zurechtgelegt.« Sie tätschelte seine Hand und lächelte. »Doktor, eine Frau, die nur eine Niere hat, kann es sich nicht leisten, nach jedem Mann zu greifen, der mit ihr herumspielen will.«
»Ich will nicht herumspielen«, sagte er nicht überzeugend. »Ich möchte Sie kennenlernen.«
»Wir haben nichts gemeinsam.« Der Koffer schnappte mit einem harten, entscheidenden Knacken zu.
Er ging in sein Büro und rief Liz an.
»Wie schade, daß ich dich gestern abend verfehlt habe«, sagte sie.
»Hast du das Abendessen genossen?«
»Ja, aber es war zu dumm. Ich habe die Verabredungen verwechselt. Ich war gar nicht mit Onkel Harland zum Abendessen verabredet.«
»Ich weiß«, sagte er. »Was hast du unternommen?«
»Ich rief schließlich Edna Brewster an. Zum Glück mußte Bill bis spät abends arbeiten, daher aßen wir beide bei Charles und saßen dann in ihrer Wohnung herum und haben den neuesten Klatsch ausgetauscht. Kommst du nach Hause?«
»Ja«, sagte er.
»Ich sage es Miguel.«
Er räumte seinen Schreibtisch auf, schloß die Tür und zog sich um. Dann setzte er sich und suchte Edna Brew-sters Nummer im Telephonbuch.
Sie war Liz' Freundin, nicht seine, und sie war verblüfft, aber erfreut, von ihm zu hören.
»Ich habe versucht, mir zu Weihnachten für Liz etwas
Besonderes auszudenken«, sagte er. »Ihr Mädchen habt ja alles.«
Sie stöhnte. »Ich bin die Ungeeignetste, zu der man um Geschenkvorschläge kommen könnte.«
»Keine Vorschläge. Halten Sie nur Ihre Ohren offen, wenn Sie mit ihr beisammen sind. Versuchen Sie herauszufinden, ob es etwas gibt, das sie wirklich gern hätte.«
Sie versprach getreulich zu spionieren, und er dankte ihr. »Wann sehen wir Sie beide einmal? Liz sagte erst unlängst, sie hätte Sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.«
»Seit Monaten. Ist das nicht schrecklich?« sagte sie. »Anscheinend hat man nie Zeit, die Leute zu sehen, die man wirklich sehen möchte. Spielen wir doch einmal eine Partie Bridge! Sagen Sie Liz, daß ich sie anrufe.« Sie kicherte. »Wenn ich es mir genauer überlege, sagen Sie ihr lieber nicht, daß wir miteinander gesprochen haben. Es bleibt unser Geheimnis. Einverstanden?«
»Einverstanden«, sagte er.
11
ADAM SILVERSTONE
Adam schrieb es seiner Wut auf Meomartino zu, ihn aus dem Bett getrieben zu haben, aber er kehrte aus dem Gleichgewicht gebracht und brütend in den Dienst zurück, dachte in den unwahrscheinlichsten Momenten an Gaby Pender, wie sie rein und unbefleckt, mit geschlossenen Augen, in der Sonne geruht hatte, an ihre vollkommene, eindringliche kleine Gestalt, an ihr scheues, gebrochenes Lachen, als sei sie nicht sicher, ob sie ein Recht darauf habe.
Er versuchte sie aus seinen Gedanken zu verdrängen, indem er an alles mögliche dachte.
Dr. Longwood unterrichtete ihn von der bevorstehenden Postenbesetzung an der Chirurgischen Fakultät, und er verstand plötzlich, was in Meomartino vorgegangen war. Er erzählte Spurgeon davon, als sie in seinem Zimmer saßen und Bier tranken, das sie im Schnee auf dem Fensterbrett kühlten.
»Ich werde diesen Job festnageln«, sagte Adam. »Meomartino wird ihn nicht bekommen.« Seine Finger umklammerten eine leere Bierdose so fest, daß er sie zusammendrückte.
»Nicht nur, weil du ihn nicht magst«, sagte Spurgeon. »So unsympathisch kann dir niemand sein.«
»Stimmt zum Teil. Ich will den Posten wirklich haben.«
»Weil er in das Plansoll Silverstones paßt?«
Adam lächelte und nickte.
»Die Prestigestellung, die geradewegs zu einer anderen führt, die dicke Gelder einbringt?«
»Jetzt hast du's erraten.«
»Du betrügst doch nur dich selbst, Freundchen. Weißt du, was das Plansoll Silverstones in Wirklichkeit ist?«
»Was denn?« fragte Adam.
»Scheißdreck und Kuhmist.«
Adam lächelte nur.
Spurgeon schüttelte den Kopf. »Mensch, du glaubst, du hättest dir alles fein ausgerechnet, nicht?«
»Alles, woran ich nur denken kann«, sagte Adam.
Unter anderem hatte er sich ausgerechnet, daß Spurge-ons Episode mit dem Zahnfortsatz ein Zeichen dafür war, daß der Spitalsarzt mehr über Anatomie wissen mußte. Als er ihm das Angebot machte, mit ihm zu arbeiten, nahm es Spurgeon voll Eifer an, und Dr. Sack erlaubte ihnen, im Pathologielabor der Medizinischen Schule zu sezieren. Sie arbeiteten dort mehrmals in der Woche, Spurgeon lernte schnell, und Adam machte die Lehrtätigkeit Spaß.
Eines Abends kam Sack herein und nickte ihnen zur Begrüßung zu. Er sagte wenig, aber statt wieder zu gehen, zog er einen Stuhl herbei und sah ihnen zu. Zwei Abende später kam er wieder, und diesmal bat er Adam, als sie fertig waren, in sein Büro zu kommen.
»Wir könnten eine stundenweise Hilfe in der Pathologischen Abteilung des Krankenhauses brauchen«, sagte er. »Wollen Sie uns helfen?«
Die Arbeit würde bei weitem nicht so viel einbringen wie die Nachtarbeit in der Unfallstation in Woodborough, aber sie würde auch nicht so an seinen Kräften zehren oder seinen wertvollen Schlaf so stark beschneiden. »Ja«, sagte er ohne Zögern.
»Jerry Lobsenz hat gute Arbeit an Ihnen geleistet. Könnten wir Sie vielleicht nächstes Jahr in die Pathologie lokken?«
Langsam kamen die Angebote, ein Zeichen, daß der Kampf zu Ende war. »Leider nein.«
»Die Bezahlung nicht hoch genug?«
»Stimmt zum Teil, aber nicht ganz. Ich möchte es nicht hauptberuflich machen.« Es lag nicht im Plansoll Silver-stones.
Sack nickte. »Nun, Sie sind diesbezüglich wenigstens ehrlich. Lassen Sie es mich wissen, sollten Sie es sich je anders überlegen.«
Er hatte also wenig Grund, das Krankenhaus zu verlassen. Die alten Backsteingebäude wurden seine Welt. Seine Stunden in der Pathologie waren unregelmäßig, aber nicht unangenehm. Es machte ihm Spaß, allein in der summenden Stille des weißen Labors in dem Bewußtsein zu arbeiten, daß es eine Umwelt war, in der einige Leute zusammenklappten, er jedoch wieder einmal imstande war, Höchstleistungen zu vollbringen.
Er teilte seine Freizeit zwischen der Pathologie und dem Tierlabor, wo er sehr viel von Kender lernte. Die Verschiedenheit der beiden Männer, die ihn das meiste gelehrt hatten, verblüffte ihn.
Lobsenz war ein kleiner, introspektiver Jude gewesen, mit einem leichten deutschen Akzent, der nur dann hörbar wurde, wenn er müde war. Und Kender ...
Kender war eben Kender.
Aber vielleicht hatte er sich zuviel vorgenommen. Zum erstenmal im Leben schlief er regelmäßig schlecht und träumte wieder, nicht den Hochofentraum, sondern den Tauchertraum.
Zu Beginn des Traums kletterte er immer die Leiter in das gleißende Sonnenlicht hinauf. Es war sehr realistisch: er spürte die Kühle des Stahlgerüsts in seinen Händen vibrieren, wann immer es vom Wind getroffen wurde. Der Wind setzte ihm zu. Im Klettern schaute er unentwegt zu der oberen Plattform hinauf, wo die Leiter hoch über ihm wie eine Bleistiftspitze immer schmäler wurde, bis seine Augen in der Sonne zu tränen begannen und er sie schließen mußte. Er blickte nie hinunter. Wenn er schließlich die Plattform erreichte, schaute er mit angespannten Sitzbacken und trockenem Mund in die Welt hinaus, die sich dreißig Meter tief unter ihm dehnte. Die Plattform schwankte und zitterte im Wind, das Schwimmbecken unten blitzte winzig und hart in der Sonne, mehr eine Hundemarke als ein Fangnetz. Er trat von der Plattform ins Leere hinaus, ließ den Kopf zurückfallen, breitete die Arme aus, als sein Körper sich hoch, hoch in der Luft drehte, während der Wind sich in ihm wie in einem Segel fing, ihn stieß, sein Gleichgewicht störte, ihn von seinem Kurs abdrängte. Er versuchte verzweifelt, es wettzumachen, weil er wußte, daß er das Becken ebensogut völlig verfehlen wie schlecht landen konnte, nur nicht an der tiefsten Stelle, wo das Wasser drei Meter tief als Stoßkissen wirkte. Er würde schlecht landen, dachte er dumpf, während er grotesk in der Luft hing und das Wasser auf ihn zuraste. Er würde sich verletzen, und er würde nie Chirurg werden.
O Gott.
Der Traum endete immer auf halbem Weg zwischen der Spitze des Sprungturms und dem Wasser. Wenn er erwachte und in der Finsternis lag, sagte er sich, daß er nie wieder etwas so Törichtes tun würde, daß er ja bereits Chirurg sei, daß ihn jetzt nichts mehr aufhalten würde.
Warum kam der Traum immer wieder?
Er konnte keine Ursache finden, bis er eines Nachts in der Pathologie die Augen schloß, tief atmete und durch einen Geruch, der herben Essenz von Formaldehyd, über Zeit und Raum hinweg in das Pathologie-Labor Lobsenz' versetzt wurde, wo er den Tauchertraum zum erstenmal geträumt hatte.
Es war in seinem dritten Jahr an der Medizinischen Schule in Pennsylvanien gewesen, in der Zeit seiner größten finanziellen Schwierigkeiten.
Die Schande und der Ekel vor der alternden Geliebten und ihren Almosen lagen hinter ihm. Das Kohlenschaufeln hatte ihn durch den kalten Winter gebracht und versorgte ihn bis zum Frühjahrsbeginn; dann aber begann er regelmäßig während des Unterrichts einzuschlafen und mußte die Arbeit aufgeben, denn hätte er sie behalten, wäre er aus zwei Kursen ausgeschieden worden. Er gewöhnte sich so sehr an die Verzweiflung, daß er sie die meiste Zeit zu ignorieren vermochte. Seine Schulden waren auf sechstausend Dollar Studentenanleihe angewachsen. Er war mit seiner Miete im Rückstand, aber die Hausfrau war bereit, zu warten. Er strich das Mittagessen mit der Begründung, daß er ohnehin zuviel aß, und zwei Wochen lang überfiel ihn mittags Hunger, nachmittags Schwäche, dann aber machte er von Anfang April bis Mitte Mai Dienst im Krankenhaus und bekam das Stationsessen umsonst, indem er den richtigen Schwestern schöntat.
Im Juni erwog er, eine Stellung als chirurgischer Techniker anzunehmen, mußte jedoch mit Bedauern erkennen, daß er das nicht konnte: bei der mageren Bezahlung hätte er nicht genug sparen können, um das Abschlußjahr an der Medizinischen zu überleben. Schon begann er zu erwägen, in den Kurort in den Poconos zurückzukehren, als er eine winzige Annonce im Philadelphia Bulletin sah, in der Berufstaucher für eine Wassershow am Strand von Jersey gesucht wurden. Barneys Aquacade war mit zwei Filipinos und einem Mexikaner eine Attraktion der Seepromenade, aber sie brauchten fünf Taucher für die Show, und Adam war einer der beiden College-Taucher, die angestellt wurden. Die Bezahlung betrug fünfunddreißig Dollar pro Tag, sieben Tage in der Woche. Obwohl er noch nie dreißig Meter tief gesprungen war, fiel es ihm nicht schwer, richtig zu tauchen: einer der Filipinos zeigte ihm in unzähligen Trockenläufen, wie er, sobald er auf die Oberfläche des Schwimmbeckens traf, die Arme zurückwerfen und die Knie an die Brust ziehen mußte, so daß er die drei Meter Wasser in einem Bogen hinunterglitt und schließlich sanft auf dem Grund aufsetzte. Als er zum erstenmal auf dem Turm stand, war die Höhe das Schlimmste an dem Erlebnis.
Die Stahlleiter fühlte sich zu glatt, fast schlüpfrig an, unmöglich, sie im Griff zu behalten. Er kletterte sehr langsam und versicherte sich jedesmal, ob er auch eine Hand fest um eine Sprosse geschlossen hatte, bevor er die andere Hand losließ und seinen Fuß höher setzte. Er versuchte, geradeaus zu schauen, zum Horizont, aber die große untergehende Sonne war noch immer da, und sie erschreckte ihn, ein goldenes böses Auge - er hielt in seinem Aufstieg inne, hängte sich mit der Armbeuge fest um eine Sprosse und machte mit den Fingern das Zeichen der Teufelshör-ner, scutta mal occhio, pf, pf, pf - dann blickte er entschlossen hinauf und heftete seinen Blick auf die hohe Plattform, die, während er kletterte, mit tödlicher Langsamkeit immer größer wurde und näher rückte, die er aber endlich doch erreichte. Als seine Füße auf der Plattform standen, fiel ihm das Loslassen der Leiter und das Umdrehen sehr schwer, aber es gelang ihm.
Die Höhe betrug, wußte er, nicht mehr als fünf Stockwerke, aber sie erschien ihm höher; zwischen ihm und der Wasseroberfläche lag nichts, und alle Gebäude der Umgebung hockten dicht am Boden. Er stand auf seinem Horst und schaute nach rechts, wo die Seepromenade endete, die Küste abfiel und einen Bogen beschrieb, und nach links, wo weit weg und tief unten winzige Wagen über die Gleise einer Hochschaubahn krochen.
Hallo, Gott.
»Los«, stieg die ungeduldige Stimme Bensons, des Managers, zu ihm herauf.
Er trat hinaus.
Die Doppelrolle war sehr leicht. Man hatte dafür viel mehr Zeit als vom vier Meter-Brett aus. Aber er hatte sich noch nie vorher durch einen so langen Fall steif gehalten. Er begann sich einzurollen, sowie seine Zehen das Wasser berührten. Im nächsten Augenblick war er nach vorn geglitten und landete schräg mit der rechten Hinterbacke auf Grund. Er setzte zwar hart, aber nicht zu hart auf. Dann richtete er sich auf, saß blasenwerfend und grinsend da, stieß sich von dem Zementboden ab und schoß an die Oberfläche.
Kein Mensch schien beeindruckt zu sein, aber nach zwei Übungstagen begann er an der Show teilzunehmen, zweimal täglich.
Der andere neue Mann, der Jensen hieß, erwies sich als prachtvoller Taucher, ein ehemaliger Angehöriger der Universitätsmannschaften in Exeter und in Brown. Er studierte Schriftstellerei an der Universität von Iowa und war unbezahlter Bühnenautor an einem nahegelegenen Provinztheater. Er gab Adam den Tip für eine billige Pension, wo sich in der Nacht Mäuse, laut wie Löwen, herumtrieben und es auch sonst noch Lärm und Balgereien gab, aber die Matratze war in Ordnung. Das gute Wetter hielt an, ebenso seine Nerven. Ein Mädchen vom Wasserballett mit wunderschönen Brüsten begann mit ihm zu liebäugeln, und er machte Pläne, sie an seinen Busen und vice versa zu nehmen. Er führte lange Gespräche über Eliot und Pound mit Jensen, mit dem er sich vielleicht befreunden würde. Er tauchte wie eine Maschine und dachte viel darüber nach, was er anfangen würde, wenn er als ungeheuer reicher Mann an die Schule zurückkehrte.
Die Geschichten über Unglücksfälle erschienen ihm wie Fabeln. Am fünften Tag jedoch krümmte sich Jensen zu früh zusammen und landete auf dem Rücken im Becken. Als er auftauchte, war er weiß vor Schmerzen, konnte jedoch noch weggehen und sich selbst ein Taxi rufen, das ihn ins Krankenhaus brachte. Er kam nie wieder zu der Show zurück. Als Adam im Krankenhaus anrief, hieß es, sein Zustand sei ganz gut und er sei zur Beobachtung aufgenommen worden. Der nächste Tag war grau, aber ohne Regen, der Wind rüttelte an der Leiter und die Plattform schwankte. Die hoch oben stehen, werden von vielen Windstößen erschüttert. Shakespeare. Adam machte seine zwei Sprünge ohne Zwischenfall und war am nächsten Morgen erleichtert, daß die Sonne herausgekommen und der Wind verschwunden war. Am gleichen Abend machte er seinen ersten Sprung, fast ohne über ihn nachzudenken. In der zweiten Show erkletterte er die Leiter und stand im gelben Licht der großen Scheinwerfer auf der Plattform. Weit draußen im Meer enthüllten ihm die Lichter eines Fischdampfers dessen geheimnisvolle, ferne Anwesenheit, und die Lichter der Seepromenade lagen wie verstreute Juwelen in langer Reihe vor ihm.
Du gottverdammter Narr, sagte er sich.
Er hatte keine Angst. Aber plötzlich wußte er, daß er nicht springen würde. Das Geld, das er in diesem Sommer verdienen konnte, wäre nichts wert, wenn er sich derart verletzte, daß es ihn als Arzt beeinträchtigen oder verhindern würde, Chirurg zu werden. Es war sinnlos.
Er drehte sich um und begann die Leiter hinunterzuklet-tern.
»Fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte Benson über das Mikrophon. »Wollen Sie, daß jemand hinaufkommt und Ihnen hinunterhilft?« Wie Insektengeräusch drang das Summen der Menge zu ihm herauf.
Er blieb stehen und machte ein Zeichen, daß er in Ordnung war und keine Hilfe brauchte, aber das zwang ihn, zum erstenmal direkt hinunterzuschauen, und plötzlich war ihm durchaus nicht wohl. Er kletterte sehr vorsichtig weiter abwärts. Er hatte den halben Weg noch nicht hinter sich, als die Buh-Schreie und das Höhnen begann; es waren viele junge Leute im Publikum.
Benson war wütend, als Adam den Boden erreichte.
»Sind Sie krank, Silverstone?«
»Nein.«
»Zum Teufel, dann gehen Sie wieder hinauf. Jeder bekommt hie und da einmal Angst. Man wird Ihnen mehr Beifall spenden als sonst, wenn Sie wieder hinaufgehen und tauchen.«
»Nein.«
»Sie werden nie wieder beruflich tauchen, Sie gelber kleiner Judenbastard, das versprech' ich Ihnen!«
»Danke sehr«, sagte Adam höflich, und er meinte es ehrlich.
Am nächsten Morgen nahm er den Bus nach Philadelphia zurück. Tags darauf ging er in das Krankenhaus, um als chirurgischer Techniker zu arbeiten, ein Posten, der ihm viele Erfahrungen im Operationssaal vermittelte.
Drei Wochen vor Beginn des Herbstsemesters las er eine Notiz auf der Anschlagtafel der Medizinischen Schule.
Wenn Sie sich für Anatomie interessieren
und Geld brauchen, habe ich vielleicht eine Stellung
für Sie.
Wenden Sie sich an das Büro des amtl. Leichenbeschauers
Dr. med. Gerald M. Lobsenz Medical Examiner Philadelphia County, Pennsylvania.
Das Bezirks-Leichenschauhaus war ein altes dreistöckiges Steingebäude, das dringend einen Verputz nötig gehabt hätte, das Büro des Leichenbeschauers ein angeräumtes, staubiges Raritätenkabinett im ersten Stock. Ein mageres Negermädchen saß hinter einem Schreibtisch und klapperte auf der Schreibmaschine. »Ja?«
»Ich möchte bitte Dr. Lobsenz sprechen.«
Ohne im Tippen innezuhalten, deutete das Mädchen mit dem Kopf auf einen Mann in Hemdsärmeln hinter einem Schreibtisch im Hintergrund des Zimmers.
»Setzen Sie sich«, sagte er. Er kaute an einer Zigarre, die ausgegangen war, und schrieb in einem Verzeichnis der Sektionsfälle. Adam saß auf einem Holzstuhl mit gerader Lehne und schaute um sich. Die Schreibtische, die sonstigen Tischflächen und die Fensterbretter waren mit zum Teil bereits vergilbten Büchern und Papieren beladen. Eine Buntnessel leuchtete in einem billigen rosa Plastikbehälter. Daneben stand ein kleiner Zweig voll absterbender Blätter,
den Adam nicht identifizieren konnte und dessen trockene Wurzeln verzweifelt nach einem Zoll trüben Wassers auf dem Grund einer Laborretorte aus Pyrex angelten. Eine Whiskeyflasche, halbvoll, mit einem Schildchen, stand auf einem Bücherstapel. Auf dem Boden abgetretenes, nacktes Linoleum. Die Fenster waren schmutzig und vorhanglos.
»Sie wünschen?«
Dr. Lobsenz hatte verblichene, aber durchdringende blaue Augen. Sein Haar war grau. Er war schlecht rasiert, und sein weißes Hemd sah nicht mehr ganz frisch aus.
»Ich habe Ihre Notiz in der Schule gelesen. Ich bewerbe mich um den Posten.«
Dr. Lobsenz seufzte. »Sie sind der fünfte Bewerber. Wie heißen Sie?«
Adam sagte es ihm.
»Ich habe eine kleine Arbeit vor. Wollen Sie mitkommen? Ich interviewe Sie unterwegs.«
»Ja«, sagte Adam. Er wunderte sich, warum das Negermädchen grinste, während es ohne aufzublicken auf seiner Maschine dahinhämmerte.
Dr. Lobsenz führte ihn ins Kellergeschoß, zwei Dutzend Stufen tief, und die Temperatur sank um mindestens ebenso viele Grade.
Auf Tischen und Tragen lagen Leichen, einige mit Tüchern bedeckt, einige nicht. Sie blieben bei der Leiche eines alten mageren und abgezehrten Mannes mit sehr schmutzigen Füßen stehen. Lobsenz wies mit der kalten Zigarre auf die Augen. »Sehen Sie den weißen Ring in der Hornhaut? Arcus senilis. Bemerken Sie die Schwellung in der Tiefe der Brust? Das ist Altersemphysem.« Er drehte sich um und sah Adam an. »Werden Sie sich an diese Dinge erinnern, wenn Sie sie das nächste Mal sehen?«
»Ja.«
»Hm. Möglich.«
Er ging zu einer der Laden entlang der Wand, zog sie auf und blickte auf den darinliegenden Toten. »Verbrennungstod. Ungefähr fünfundvierzig Jahre alt. Sehen Sie die rosa Farbe? Zwei Ursachen. Erstens Kälte, zweitens Karbonmon-oxyd im Blut. Wann immer Rauch oder gelbbrennende Flamme vorhanden ist, ist auch Karbonmonoxyd vorhanden.«
»Wie ist er gestorben?«
»Wohnungsbrand. Ging hinein, seine Mutter suchen. Alles, was man je von ihr fand, konnte von der übrigen Asche nicht unterschieden werden.«
Er führte Adam zu einem Lift und nahm ihn schweigend in den dritten Stock mit.
»Noch immer an der Stellung interessiert?«
»Worin besteht die Arbeit?«
»Sich um sie kümmern.« Er deutete mit dem Kopf zu dem kalten Kellerspeicher hinunter.
»Gut«, sagte Adam.
»Und bei Obduktionen assistieren. Haben Sie je einer Obduktion beigewohnt?«
»Nein.«
Er folgte Lobsenz in einen weißgekachelten Raum. Auf dem weißen Seziertisch lag eine winzige Gestalt, eine Puppe, dachte er, und erkannte dann, daß es ein farbiges Baby war, höchstens ein Jahr alt.
»Tot im Kinderbett gefunden. Weiß nicht, warum sie starb. Tausende Kinder tun uns das jedes Jahr an. Eines der Geheimnisse. Der verdammte Narr von einem jungen Hausarzt machte Mund-zu-Mund-Beatmung bei ihr, bis er es aufgab. Wartete einen Tag und geriet dann allmählich in Panik, als ihm klar wurde, daß sie vielleicht an irgend etwas Ansteckendem gestorben sein konnte. Hepatitis, Tb, wer weiß. Geschähe ihm recht, wenn wir etwas fänden, der Dummkopf.«
Er schob die Hände in die Handschuhe, lockerte die Finger, nahm dann ein Skalpell und machte einen Schnitt, der von jeder Schulter zum Brustbein und dann zum Bauch hinunter verlief. »In Europa macht man das in einer geraden Linie vom Kinn abwärts. Wir ziehen das Y vor.« Die braune Lederhaut teilte sich magisch, darunter lag eine gelbe Schicht, Babyfett, dachte Adam etwas vorschnell, und darunter weißes Gewebe.
»Man muß sich immer vor Augen halten«, sagte Lobsenz nicht unfreundlich, »daß das kein Fleisch ist. Das ist kein menschliches Wesen mehr. Was einen Körper zu einem Menschen macht, ist Leben, Persönlichkeit, die göttliche Seele. Die Seele ist aus diesem Käfig fortgegangen. Was übrigbleibt ist Ton, eine Art plastischen Materials, von einem höchst tüchtigen Hersteller erzeugt.«
Während er sprach, forschten die behandschuhten Hände, das Skalpell schnitt auf, er entnahm Proben, hier ein Stückchen, dort ein Klümpchen, ein Teilchen von diesem, eine kleine Schnitte von jenem. »Die Leber ist wunderschön. Haben Sie je eine hübschere Leber gesehen? Bei Hepatitis wäre sie geschwollen, wahrscheinlich mit Blutungsflecken. Sieht auch nicht nach Tuberkulose aus. Der Dummkopf hat Glück.«
Er ließ die Proben für Laboruntersuchungen in irdene Töpfe fallen, legte alles wieder in die Höhlung zurück und nähte den Brustschnitt zu.
Es hat mir überhaupt nichts ausgemacht, dachte Adam. Ist das alles?
Lobsenz führte ihn die Halle hinunter in einen weiteren Sezierraum, fast ein Duplikat des ersten. »Wenn wir es ei-lig haben, richtet der Famulus den einen Raum her, während ich in dem anderen arbeite«, erklärte er. Auf dem Tisch lag eine alte Frau, verbrauchter Körper, schlaffe Zitzen, verrunzeltes Gesicht: Mein Gott, mit einem Lächeln. Die Arme waren über der Brust gefaltet. Lobsenz entfaltete sie, ächzend vor Anstrengung. »Die Lehrbücher erzählen einem, daß der rigor mortis in den Kiefern beginnt und sich schön ordentlich den Körper hinunter fortsetzt. Lassen Sie sich von mir gesagt sein: so ist es nie.«
Als sie offen war, duftete sie nicht gerade nach Rosen. Adam hielt die Kiefer fest zusammengepreßt - rigor vitae -, atmete so sparsam wie möglich und spürte, wie sich sein Bauch unter seinem leeren Magen zusammenkrampf-te. Wer hielt Speien für ein großes Vergnügen? Samuel Butler. Ich werde mir dieses Vergnügen nicht gönnen, sagte er sich energisch.
Schließlich nähte Lobsenz die Brust wieder zu.
Als sie in das Büro zurückkehrten, nahm der amtliche Leichenbeschauer zwei zerkratzte Schnapsgläser aus der Mittellade seines Schreibtischs und goß Adam und sich aus der Whiskeyflasche mit dem Schildchen puren Schnaps ein. Die Aufschrift lautete »Probe Nummer Zwei - Elliot Johnson«. Sie gossen den Whiskey hinunter.
»Muß aufs Klo«, sagte Lobsenz und nahm einen Schlüssel von einem Nagel an der Wand.
Als er hinausgegangen war, sagte das magere Mädchen ohne von der Schreibmaschine aufzublicken: »Er wird Ihnen ein Zimmer und monatlich fünfundsiebzig bieten. Nehmen Sie den Job nicht unter hundert. Er wird Ihnen sagen, daß er andere Kandidaten hat, aber es war nur ein Bewerber da, der sich während der Obduktion erbrach.« Die Tasten klapperten weiter. »Er ist ein phantastischer Bursche, aber voller Tricks«, sagte sie.
Dr. Lobsenz kam händereibend zurück. »Nun, was meinen Sie? Wollen Sie den Job? Sie können hier mehr über den menschlichen Körper lernen als in vier Medizinischen Schulen. Ich unterrichte Sie, während wir arbeiten.«
»Gut«, sagte Adam.
»Wir haben ein gutes Zimmer für Sie hier. Fünfundsiebzig Dollar monatlich.«
»Das Zimmer und hundert Dollar.«
Lobsenz' Lächeln verschwand. Er blickte mißtrauisch zu dem Mädchen hinter dem Schreibtisch hinüber, das weitertippte. »Ich habe andere Bewerber.«
Vielleicht war es der Schnaps, der gerade jetzt seinen Magen wie eine Faust traf; er hatte das Gefühl, daß sein Kopf riesengroß wie ein Ballon in der Luft schwebte. »Doktor, in einigen Monaten werde ich verhungern, wenn ich nicht sofort Arbeit bekomme. Wenn es nicht so wäre, würde ich diese schöne Stellung hier nicht mit einem nassen Fetzen anrühren.«
Lobsenz sah ihn an und lächelte plötzlich. »Los, kommen Sie, Silverstone. Ich lade Sie zum Mittagessen ein«, sagte er.
Das Zimmer im zweiten Stock mit der Milchglastür sah von außen wie ein Büro aus, aber es enthielt ein Bett und einen Schreibtisch. Die Laken konnten gewechselt werden, sooft er wollte; er konnte die Dienste der Bezirkswäscherei für seine persönlichen Bedürfnisse in Anspruch nehmen, eine wunderbare Zulage, die Dr. Lobsenz zu erwähnen vergessen hatte. Reinheit des Körpers wurde schon immer als eine Folge von Gottesfurcht erachtet. Francis Bacon.
Die Aufgaben waren für einen, der zwei Jahre medizinischer Schulung hinter sich hatte, nicht schwer. Anfangs störten ihn die Gerüche noch sehr, und er haßte das Kratzen der Säge, wenn sie sich durch einen Schädel biß. Aber Lobsenz unterrichtete während seiner Arbeit, und er war ein guter Lehrer. Im ersten Jahr der Medizinischen Schule hatte Adam in einem Anatomielabor einen konservierten Kadaver namens Cora mit sechs anderen Studenten geteilt. Als er Cora erbte, waren ihre Teile und Organe bis zur Unkenntlichkeit zerschnitten und untersucht. Jetzt hielt er die Augen offen und hörte Lobsenz aufmerksam zu, der sich sichtlich über sein Interesse freute, aber brummte, daß er eigentlich für den Unterricht bezahlt werden sollte. Insgeheim war auch Adam davon überzeugt; es war ein erstklassiger Privatunterricht in Anatomie.
Anfangs waren die Nächte schlimm. Das Nachttelephon stand in seinem Zimmer. Von sieben bis acht Uhr dreißig telephonierten Leichenbestatter, um die fünfunddreißig Dollar einzutreiben, die ihnen die Bezirksverwaltung jedesmal zahlte, wenn sie eine Leiche, um die sich niemand kümmerte, formlos in einer gewöhnlichen Holzkiste bestatteten; es war der gleiche Preis, den Benson für zwei Sprünge vom Turm gezahlt hatte.
In der ersten Nacht nahm er die Anrufe der Leichenbestatter entgegen, studierte zwei Stunden, richtete seinen Wecker, legte sich nieder, schlief ein und träumte vom Tauchen.
Als er erwachte, lachte er sich in der Dunkelheit aus. Typisch für einen Narren, wie ihn: während der Arbeit am Sprungturm war ihm alles egal gewesen, aber jetzt zitterte er in seinem Bett vor dem, was hätte geschehen können.
In der zweiten Nacht sprach er mit den Leichenbestattern am Telephon, studierte bis nach Mitternacht, richtete den Wecker, drehte das Licht ab und lag hellwach in der Dunkelheit.
Er zählte Schafe, kam bis sechsundfünfzig, bis sich jedes Schaf in eine Leiche verwandelte, die langsam über das Drehkreuz schwebte, während er sie abzählte. Er zählte von hinten, begann bei hundert und erreichte zweimal die Eins ohne das geringste Anzeichen von Schlaf, während seine Augen die Dunkelheit um ihn durchforschten.
Er dachte an seine Großmutter, erinnerte sich, wie sie ihn an ihre flache Brust hielt, wenn sie ihn in der Küche in Schlaf wiegte. Fa nana, fa nana, schlaf ein, Adamo. Bete zum heiligen Michael, er wird den Teufel mit seinem Schwert vertreiben.
Es war ein großes Gebäude, und es machten sich allerlei Geräusche bemerkbar, das Rütteln des Windes am Fensterglas, Knarren und Stöhnen, eine Art Geklingel, das Geräusch von Schritten.
Geklingel, das Geräusch von Schritten.
Geklingel?
Schritte?
Er war doch angeblich allein im Haus. Er stand auf und machte Licht, um seine Kleider zu finden. Nicht Geister beunruhigten ihn; als Wissenschaftler glaubte er selbstverständlich nicht an das Übernatürliche. Aber das Eingangstor und der Eingang zur Ambulanz waren beide versperrt. Er hatte sie selbst verschlossen. Daher hatte sich vielleicht jemand gewaltsam den Eintritt zu irgend einem Zweck verschafft.
Er verließ sein Zimmer und drehte die Lichter an, als er durch das Gebäude ging, zuerst hinauf, durch die Sezierkammern, dann an den Büros im zweiten und ersten Stock vorbei. Es war niemand da.
Schließlich stieg er in die Kälte des Leichenschauhauses hinab und tastete nervös nach dem Schalter. Auf den Steinplatten außerhalb der Laden lagen vier Leichen, eine von ihnen die alte Frau, bei deren Obduktion er Dr. Lobsenz assistiert hatte. Er betrachtete das erstarrte Lächeln.
Wer warst du, Tantchen?
Er ging zu einem sehr mageren, wahrscheinlich tuberkulösen Chinesen.
Bist du sehr weit weg von daheim gestorben? Hast du Söhne in der Roten Armee, Vettern auf Formosa?
Zweifellos war der Mann in Brooklyn geboren, sagte er sich. Närrische Idee. Er ging den Weg zurück, drehte die Lichter ab, in sein Zimmer und stellte das Radio an, ein schönes Haydnkonzert.
Er meinte die Leichen tanzen zu hören und konnte sich vorstellen, wie sich die alte Frau in ihrer Nacktheit vor dem Orientalen verbeugte und die anderen aus ihren geöffneten Eisboxladen spähten, der stumme Harlekin stand in seinem bunten funkelnden Anzug da, lächelte und wiegte den Kopf im Takt der Musik.
Die Schellenmütze klingelte.
Nach einer Weile verließ er das Zimmer wieder und drehte alle Lichter an. Er versperrte die Tür zur Leichenhalle, stellte seinen Wecker auf sechs Uhr, damit er alle Lichter abdrehen und die Leichenhalle aufsperren konnte, bevor am nächsten Morgen der erste Angestellte eintraf, dann schlief er ein und träumte vom Tauchen.
In der nächsten Nacht ließ er die Lichter brennen und träumte nicht. In der darauffolgenden Nacht vergaß er die Leichenhalle zuzusperren, aber der Traum kam wieder. Schließlich lernte er klopfende Rohre, das Klingeln lockerer Fensterscheiben und andere durchaus erklärbare Geräusch zu unterscheiden, er löste sich von seinem Traum, und sein Schlummer wurde wieder tief und erholsam. Sein Dasein erschien ihm allmählich uninteressant. Zwei Monate, nachdem er Famulus geworden war und mit einer Kommilitonin vom Penn in ihrem Zimmer rang, amüsierte es ihn, als sie plötzlich innehielt und ihr Gesicht an seiner Brust barg.
»Du hast einen verdammt erotischen Geruch«, sagte sie.
»Du auch, Puppe«, sagte er zu ihr und meinte es ehrlich. Er unterließ es zu erwähnen, daß es bei ihm der schwache, unzerstörbare Geruch von Formaldehyd war.
Als er jetzt in Dr. Sacks Pathologielabor arbeitete, gewöhnte er sich wieder an den herben Geruch chemischer Schutzmittel, und schließlich träumte er nicht mehr, wenn er einschlief. Es kam niemand dicht genug an ihn heran, um die Essenz des Formaldehyds zu riechen. Er erwog, sich mit der kleinen blonden Lernschwester Anderson zu verabreden, aber irgendwie kam er nie dazu.
Er hatte versucht, Gaby anzurufen.
Susan Haskell, ihre Zimmergenossin, informierte ihn eisig und wiederholt, daß Gaby nicht in der Stadt und nicht zu erreichen war.
Schon gar nicht von Dr. Silverstone, hatte der Tonfall des Mädchens angedeutet.
Er hatte ihr fünf Tage nach ihrer Rückkehr aus Truro geschrieben.
Gaby,
immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht, daß ich ein verdammter Narr bin.
Wirst du bitte einen Anruf entgegennehmen oder diesen Brief beantworten?
Ich habe herausgefunden, daß es ganz anders ist mit jemandem, den man liebt.
Adam.
Aber es kam kein Antwortbrief, und sie blieb unerreichbar, wenn er anrief.
Der Winter zog sich dahin. Schnee fiel, wurde von dem großstädtischen Schmutz besudelt, fiel wieder und wurde wieder schmutzig, bis sich, wenn Schaufeln die Haufen durchschnitten, der Kreislauf an aufeinanderliegenden Schichten von Weiß und Grau ablesen ließ.
Eines Morgens erzählte Meomartino im Aufenthaltsraum der Chirurgen den kaffeetrinkenden Kollegen, er habe seinen Sohn nach Jordan Marsh mitgenommen, um ihm den Weihnachtsmann zu zeigen.
»Bist du ein Mann?« hatte Miguel gefragt.
Die bärtige Gestalt hatte genickt.
»Ein wirklicher Mann?«
Wieder ein Nicken.
»Hast einen Penis und alles?«
Die Chirurgen brüllten vor Lachen, und selbst Adam lächelte.
»Was hat der Weihnachtsmann dazu gesagt?« fragte Lew Chin.
»Er fand es gar nicht lustig«, sagte Meomartino.
Die Kaufleute Bostons nahmen die bevorstehende Weihnachtszeit gebührend zur Kenntnis. Die Warenhausfenster waren voll Stechpalmen und Lebenden Bildern, und an den Wänden der Krankenhauslifte tauchten grüne Plastikkränze auf. Schwestern summten Weihnachtslieder, und Dr. Longwood reagierte auf die Festesfreude so, als bestätigte sie seine schlimmsten Befürchtungen über die menschlichen Schwächen junger Chirurgen.
»Ich glaube, mit Longwood geht's abwärts«, sagte Spurgeon zu Adam.
»Ich glaube, er ist ein großer Mann.«
»Vielleicht war er ein großer Mann, aber jetzt kann er nicht praktizieren, weil er krank ist, und benimmt sich wie ein permanentes Ein-Mann-Todeskomitee. Dieser Bursche sieht jedesmal, wenn jemand stirbt, einen ärztlichen Kunstfehler. Man weiß genau, an welchem Vormittag die Exituskonferenz angesetzt ist, allein an der Art, wie der gesamte Stab unter hochgradiger Spannung steht.«
»Wir bezahlen für sein Pech mit ein wenig zusätzlichem Stress. Das ist ein geringer Preis, wenn es ihn noch ein kleines bißchen länger in Gang hält«, sagte Adam.
Ironischerweise war er zwei Stunden später bei Meomar-tino, als Longwood anrief, um eine Blinddarmoperation in Frage zu stellen, die beide vor zwei Tagen durchgeführt hatten. Der Chefchirurg war nicht überzeugt, daß die Operation nötig gewesen war. Er ordnete an, daß der Fall am nächsten Morgen bei der Hauptvisite vorgelegt werde.
»Treten Sie den Fall nicht breit«, sagte Adam kurz angebunden zu Meomartino. »Die mikroskopischen Gewebs-proben der Pathologie zeigen eine starke Entzündung und viele weiße Zellen. Der Fall liegt absolut klar.«
»Ich weiß«, sagte Meomartino. »Ich habe die Objektträger gestern mit heimgenommen und sie eine Zeit lang im Mikroskop betrachtet. Oh, zum Teufel.«
»Was ist?«
»Ich habe vergessen, sie zurückzubringen. Wir werden sie bei der Erörterung des Falles zur Vorlage brauchen.«
»Ich bin in zwei Stunden dienstfrei; dann muß ich sie wohl holen«, sagte Adam.
»Würden Sie das tun? Nehmen Sie meinen Wagen.«
»Nein, danke«, sagte Adam. Es machte ihm jedoch nichts aus, von Spurgeon einen Gefallen anzunehmen, und als er seine Schicht beendet hatte, fuhr ihn Robinson in dem Volkswagenbus durch den düsteren Winterabend quer durch die Stadt. Meomartino hatte ihnen die Route angegeben, aber im letzten Augenblick hatten sie Schwierigkeiten; die Gasse war eher ein Gäßchen, und Schneehaufen, die sich auf beiden Seiten türmten, machten es noch schmäler.
»Schau, ich kann den Bus nicht allein hier stehen lassen und die Straße blockieren. Ich warte herunten auf dich«, sagte Spurgeon.
»Gut.«
Meomartino hat einen guten Geschmack und das Geld sich ihn zu leisten, dachte Adam neiderfüllt, als er läutete. Die umgebauten Stallgebäude ergaben ein reizendes Wohnhaus.
Ein Dienstmädchen mittleren Alters öffnete die Tür. »Ja?«
»Ist Mrs. Meomartino zu Hause?«
»Ich glaube nicht, daß sie jemanden empfangen kann.«
Er erklärte ihr seinen Auftrag.
»Nun, in diesem Fall kommen Sie lieber herein« sagte sie zögernd. Er folgte ihr ins Haus, und da er nicht wußte, was sonst tun, in die Küche, wo ein kleiner Junge am Tisch saß und sein Abendbrot aß.
»Hallo«, sagte Adam lachend, als er sich an die Weihnachtsmanngeschichte erinnerte. Es war leicht, Meomarti-no in dem Kind zu erkennen.
»Hallo.«
»Ich weiß nichts von irgendwelchen Glasplättchen«, sagte das Mädchen mürrisch.
»Sie dürften bei seinem Mikroskop sein. Vielleicht kann ich sie finden.«
»Im Arbeitszimmer«, sagte sie mit einer Kopfbewegung, als sie sich wieder dem Herd zuwandte. »Nicht die erste Tür, das ist das Schlafzimmer. Die zweite.«
Es war ein hübsches Zimmer mit einem teuren Perserteppich und tiefen Lederfauteuils. Die Wände waren mit Bücherborden bedeckt. Die meisten Bücher waren gediegene medizinische Werke, aber es gab auch Biographien und geschichtliche Werke, eine Mischung aus englischen und spanischen Titeln. Sehr wenig Belletristik, mit Ausnahme einer kleinen Abteilung, die auch moderne Lyrik enthielt.
Die Lyrik mußte seiner Frau gehören, dachte er und warf einen Blick auf die geschlossene Tür zwischen dem Schlaf- und dem Arbeitszimmer.
Die Glasplättchen standen direkt neben dem Mikroskop, einige lagen noch auf dem Tisch, und er steckte sie in die Schachtel zurück. Er wollte eben wieder gehen, als sich die Schlafzimmertür öffnete.
Sie trug den Pyjama ihres Mannes, der ihr zu groß war. Ihr Haar war zerrauft, die Füße nackt, und vielleicht trug sie sonst Brillen und vermißte sie jetzt: sie sah ihn mit komisch schielenden Augen an. Der Gesamteindruck war wundervoll anziehend. Er registrierte, daß sie nicht zu den Frauen gehörte, die aufkreischten und um einen Morgenrock rannten.
»Hallo«, sagte er. »Ich bin kein Einbrecher. Ich bin Adam Silverstone.«
»Silverstone. Irgendwie mit den Booksteins verwandt?«
Ihre Stimme klang belegt, aber sowohl das tiefe Register als auch das kurzsichtige Starren waren vielleicht darauf zurückzuführen, daß sie getrunken hatte. Sie tappte herein und stand schwankend da.
»He«, sagte er, streckte den Arm aus, um sie zu stützen, und entdeckte einen Augenblick später zu seiner Verblüffung, daß sie sich an ihn lehnte, den Kopf an seiner Brust.
»Nicht verwandt«, sagte er. »Ich arbeite mit Rafe. Er hat die Objektträger vergessen.«
Sie ließ den Kopf zurücksinken und sah ihn an, ohne von ihm abzurücken. »Er hat von Ihnen gesprochen. Der Rivale.«
»Ja.«
»Der arme Rafe«, sagte sie. »Guten Tag.« Sie küßte ihn; ihr Mund war warm und bitter von Gin.
»Guten Tag«, sagte er höflich. Diesmal küßte er sie, und der Gedanke war da, bevor der Kuß vorbei war. Als er sie ansah, wußte er, daß er Meomartino auf eine absurd klassische Art vernichten konnte: im eigenen Haus des Gegners, während Spurgeon unten im Wagen wartete und das Dienstmädchen sie jeden Augenblick überraschen konnte.
Aus einem anderen Teil der Wohnung hörte er den kleinen Jungen fröhlich lachen.
Außerdem war die Dame betrunken.
»Entschuldigen Sie mich«, sagte er.
Er machte sich los, nahm die Glasplättchen und ließ die Frau mitten im Zimmer zurück. Der kleine Junge war mit seinem Essen fertig und saß vor dem Fernsehschirm.
»Wiedersehen!« rief er, ohne die Augen von Bozo dem Clown abzuwenden.
»Wiedersehen«, sagte Adam.
Zwei Tage später kam sie ins Krankenhaus.
Sie kamen eben alle von den Visiten in Adams Büro, und als er die Tür öffnete, sah er als erstes den über seinen Stuhl geworfenen Nerzmantel. Sie trug ein schickes schwarzes Kostüm und sah wie ein Photomodell einer Zeitschrift der eleganten Welt aus.
»Liz«, sagte Meomartino.
»Man sagte mir, daß ich dich hier treffen könnte, Rafe.«
»Ich glaube, du kennst diese Herren noch nicht«, sagte Meomartino. »Spurgeon Robinson.«
»Oh, hallo«, sagte Spurgeon und drückte ihr die Hand.
»Adam Silverstone.«
Sie streckte ihm die Hand hin, und er nahm sie, als sei es eine verbotene Frucht. »Guten Tag.«
»Guten Tag«, sagte sie.
Er konnte Meomartino nicht ansehen. Ein Shakespearezitat über einen Hahnrei fiel ihm ein. Er murmelte einen Abschiedsgruß, während die übrigen vorgestellt wurden, kehrte auf die Station zurück, arbeitete schwer, war jedoch unfähig, den Gedanken an die Frau, die sich ihm im Pyjama ihres Mannes angeboten hatte, zu verdrängen.
Mitten am Nachmittag, als er zum Telephon gerufen wurde, wußte er schon, bevor er sich meldete, wer es war.
»Hallo«, sagte sie.
»Wie geht's?« murmelte er mit schwitzenden Handflächen.
»Ich fürchte, ich habe etwas in Ihrem Büro verloren.«
»Was denn?«
»Einen Handschuh. Schwarzes Ziegenleder.«
»Ich habe ihn nicht gesehen. Leider.«
»O Himmel. Wenn Sie ihn finden, verständigen Sie mich?«
»Ja. Natürlich.«
»Danke. Adieu.«
»Adieu.«
Als er eine Viertelstunde später in sein Büro zurückkehrte, kroch er unter den Schreibtisch, wo der Handschuh noch immer lag, und wohin sie ihn zweifellos geworfen hatte. Er holte ihn hervor, saß einen Augenblick da und rieb das weiche teure Leder zwischen den Fingern. Wenn er ihn an die Nase hielt, brachte das Parfüm sie zu ihm zurück.
Jetzt ist sie nüchtern, dachte er.
Er suchte die Nummer im Telephonbuch, wählte sie, und sie antwortete sofort, als hätte sie gewartet.
»Ich habe ihn gefunden«, sagte er.
»Was?«
»Den Handschuh.«
»Oh, fein«, sagte sie. Und wartete.
»Ich kann ihn Rafe mitgeben.«
»Er ist so zerstreut. Er wird ihn nie heimbringen.«
»Nun, ich bin morgen dienstfrei. Ich kann vorbeikommen.«
»Ich hatte vor, Einkäufe zu machen.«
»Ich muß auch verschiedenes besorgen. Treffen wir uns doch, ich übergebe Ihnen den Handschuh und lade Sie auf einen Drink ein.«
»Gut«, sagte sie. »Zwei Uhr?«
»Wo?«
»Kennen Sie The Parlor? Es ist nicht weit vom Prudential Center.«
»Ich werde es finden«, sagte er.
Er war zu früh dran. Er setzte sich auf eine Steinbank im Prudential Center und sah den Eisläufern zu, bis seine Sitzbacken und Füße erstarben, dann gab er es auf, ging die Boylston Street hinunter und in die Halle. Abends würden hier zweifellos einige Quartalsäufer und Männer und Frauen nach Vergnügen jagen. Jetzt waren nur Stundenten zu einem späten Mittagessen da. Er bestellte eine Tasse Kaffee.
Als sie hereinkam, waren ihre Wangen vor Kälte hochrot. Er bemerkte zum zweitenmal, daß sie einen ausgezeichneten Geschmack besaß. Sie trug einen schwarzen Tuchmantel mit Biberpelz, und als er ihr heraushalf, sah er anerkennend ein beigefarbenes Strickkleid, sehr einfach geschnitten, als ein einziges Schmuckstück eine alte Kamee.
»Möchten Sie einen Drink?« fragte er.
Sie blickte auf seine Kaffeetasse und schüttelte schnell den Kopf. »Es ist wirklich zu früh dafür, nicht?«
»Ja.«
Sie bat um eine Tasse Kaffee, und er bestellte ihn, aber als er gebracht wurde, sagte sie, sie wolle ihn nicht. »Fahren wir ein Stück?« fragte sie.
»Ich besitze keinen Wagen.«
»Oh, dann gehen wir zu Fuß.«
Sie zogen die Mäntel an, verließen die Halle und gingen in Richtung Copley Square. Er konnte sie nicht ins Ritz oder ins Plaza oder sonst ein elegantes Hotel führen, dachte er. Sie würden unweigerlich in jemanden hineinlaufen, den sie kannte. Es war sehr kalt, sie begannen beide zu frösteln. Er sah sich verzweifelt nach einem Taxi um.
»Ich fürchte, ich muß einmal verschwinden«, sagte sie. »Macht es Ihnen etwas aus, zu warten?«
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag das Regent, ein drittklassiges Hotel, und er lächelte sie bewundernd an.
»Aber gar nicht«, sagte er.
Während sie in der Damentoilette war, nahm er ein Zimmer. Der Portier nickte uninteressiert, als er sagte, daß ihr Gepäck vom Flughafen Logan nachkommen würde. Als sie in die kleine Halle zurückkam, nahm Adam sie am Ellbogen und führte sie sanft zum Lift. Sie sprachen nicht. Sie hielt den Kopf hoch und starrte vor sich hin. Als er die Tür des Zimmers Nr. 314 hinter sich geschlossen hatte, wandte er sich ihr zu, und sie sahen einander an.
»Ich habe vergessen, den Handschuh mitzubringen.«
Später schlief sie, während er neben ihr in dem überheizten Zimmer lag und rauchte, und schließlich erwachte sie und sah, daß er sie beobachtete. Sie streckte die Hand aus, nahm ihm die Zigarette aus den Lippen, zerdrückte sie sorgfältig in dem Aschenbecher neben dem Bett, dann wandte sie sich ihm zu, und das Ritual begann von neuem, während sich draußen das graue Licht verdunkelte.
Um fünf Uhr stieg sie aus dem Bett und begann sich anzukleiden.
»Muß das sein?«
»Es ist fast Zeit fürs Abendessen.«
»Wir können hinuntertelephonieren. Ich würde aber liebend gern darauf verzichten.«
»Ich habe einen kleinen Jungen zu Hause«, sagte sie. »Er muß gefüttert und zu Bett gebracht werden.«
»Oh.«
Sie kam im Unterkleid zu ihm, setzte sich auf das Bett und küßte ihn. »Warte hier auf mich«, sagte sie. »Ich komme zurück.«
»Gut.«
Als sie gegangen war, versuchte er zu schlafen, konnte aber nicht atmen, das Zimmer war zu heiß. Es roch nach
Samen, nach Zigarettenrauch und nach ihr. Er öffnete ein Fenster und ließ die arktisch kalte Luft herein, dann zog er sich an, ging hinunter und bestellte ein Sandwich, das er gar nicht wollte, und eine Tasse Kaffee, ging zum Copley Square, setzte sich in die öffentliche Leihbücherei und las alte Exemplare der Saturday Review.
Als er um acht Uhr zurückging, war sie bereits da, unter der Bettdecke. Das Fenster war geschlossen, und es war wieder zu heiß. Die Lampen waren abgedreht, aber das Hotelschild vor dem Fenster blinkte, und wenn es aufblitzte, sah das Zimmer wie eine psychedelische Malerei aus. Sie hatte ihm ein Sandwich mitgebracht, Eiersalat. Sie teilten es miteinander um elf Uhr, und der Geruch von hartgekochtem Ei wurde zu einem Teil der starken Gerüche, die den Tag in sein Gedächtnis einbrannten.
Am Weihnachtsmorgen hatte Adam als Bereitschaftschirurg allein Dienst im OP. Er lag auf der langen Bank in der Küche der chirurgischen Station und hörte den einsamen Geräuschen der Kaffeemaschine zu, als das Telephon läutete.
Es war Meomartino. »Sie werden heute nachmittag irgendwann eine Amputation vornehmen müssen. Ich bin dann schon weg.«
»Schön«, sagte er kalt. »Wie heißt der Patient?«
»Stratton.«
»Den kenne ich gut«, sagte er mehr zu sich als zu Meo-martino.
In der vergangenen Woche hatten sie versucht, auf einem arteriellen Umweg die Zirkulation in Mr. Strattons Bein zurückzubringen. Der ursprüngliche Plan war gewesen, die saphena, die Große Vene im Unterschenkel, herauszuziehen und sie als ein arterielles Übertragungsstück umgekehrt einzupflanzen, so daß die Ventile sich in die gleiche Richtung öffnen würden, in der das Blut durch die Arterie floß. Aber Mr. Strattons Venen hatten sich als miserabel erwiesen, nur zwei Zehntel Zentimeter im Durchmesser, ungefähr ein Viertel des Durchmessers, den die Ärzte gern gesehen hätten. Sie hatten die große arteri-osklerotische Platte herausgeschnitten, die den Kreislauf blockierte, und hatten die Arterie mit einem Plastikersatz zusammengefügt, was nur für ein oder bestenfalls zwei Jahre gehalten hätte, aber es ging von Anfang an daneben. Nun war das Bein ein weißes, totes Ding, das man abnehmen mußte.
»Wann wird er heraufgebracht?«
»Ich weiß nicht. Wir versuchen seinen Anwalt zu erreichen, damit er ihn dazu bringt, die Dokumente zu unterzeichnen. Mr. Stratton ist verheiratet, aber seine Frau liegt mit einer gefährlichen Erkrankung im Beth Israel, daher kann nicht sie unterzeichnen. Ich vermute, daß er oben sein wird, sobald der Rechtsanwalt da ist. Wir versuchen ihn seit gestern abend zu erreichen.«
Adam seufzte, als er auflegte, nahm einen grünen Operationsanzug vom Stapel und ging in den Umkleideraum der Jungchirurgen, um seinen weißen Anzug abzulegen. Der Operationsanzug fühlte sich vertraut und behaglich an. Er hob ein Paar schwarzer Plastikstiefel auf, riß die perforierten Oberteile ab und legte die so gewonnenen Plastikstreifen zwischen seinen bestrumpften Fuß und seinen Schuh, bevor er die Stiefel mit elastischen Bändern an seinen Knöcheln befestigte. Dann, zum Kampf gegürtet, gestiefelt und gespornt gegen die Möglichkeit eines elektrischen Funkens, der einen sauerstoffgeladenen OP in einer feurigen Explosion hochgehen lassen könnte, kehrte er zu seiner Küchenbank und seinem Buch zurück, aber nicht für lange.
Als er sich diesmal am Telephon meldete, war es die Unfallstation. »Wir schicken euch einen Mesenterialinfarkt hinauf. Sie können schon anfangen, sich die Hände zu schrubben. Dr. Kender treibt eine ganze Versammlung zusammen, um den Fall zu besetzen.«
»Louise«, rief er, als er auflegte. Die OP-Schwester, die am Fenster saß, legte ihre Stickerei hin.
»Fröhliche Weihnachten«, sagte sie.
Es war eine erfreuliche Tatsache, daß man so viele chirurgische Talente in so kurzer Zeit versammeln konnte. Vierzehn Leute - Schwestern, Chirurgen, Anästhesisten -drängten sich in dem kleinen OP mit den vielen Geräten. Der Patient war grauhaarig, unrasiert und im Koma. Er mochte in den späten Fünfzigern oder frühen Sechzigern sein, hatte einen kräftigen Körper, aber einen großen weichen Bierbauch. Die Polizei, die ihn in seiner Wohnung im Koma gefunden hatte, wußte bereits, daß er herzkrank war und Digitalis nahm. Man nahm an, daß sein Kreislauf als Nebeneffekt der Digitalisdosis in Mitleidenschaft gezogen worden war, obwohl man keine Ahnung hatte, wieviel und wann er es genommen hatte.
Man hatte ihn heraufgebracht, während er schon intravenöse Flüssigkeit bekam, und ein Facharztanwärter für Anästhesie betätigte ein fahrbares Sauerstoffgerät, um ihm atmen zu helfen.
Adam beobachtete Spurgeon Robinson, wie er die Brust des Mannes wusch. »He«, sagte Spurgeon und winkte ihn herbei. Eine Tätowierung. Adam las über den Patienten gebeugt den Satz, und ihm war lächerlich zumute, als er betete: »Lieber Gott, bitte nimm diesen Mann in den Himmel auf ... seine Zeit in der Hölle hat er schon abgedient.« Was für ein Leben mochte wohl eine solche Ver-zweiflung ausgelöst haben, daß sie den Mann veranlaßt hatte, diesen Gedanken wie eine Rüstung zu tragen? Er prägte ihn sich ein, als Spurgeon mit seinen Bausch darüberfuhr und der Satz unter Betadin verschwand. Falls es eine Quelle für dieses Zitat gab, funktionierte Adams Computer nicht.
Der Patient war bereits an einen Schrittmacher angeschlossen. Andere Apparate waren dicht an den Operationstisch gerollt worden, ein Gerät zur Messung der Blutgase, eines zur Messung des Blutvolumens, ein Elektro-kardiograph, der wie ein tollwütiges Tier aus Glas und Metall ein Biip-biip-biip von sich gab, und die aufleuchtenden Kurven marschierten über seinen Schirm, während das Herz des Mannes weiter kämpfte.
Kender wartete ungeduldig, bis die Vorbereitungen für die Sterilisation des Operationsfeldes vollendet waren, dann trat er an den Operationstisch heran, nahm das Skalpell von Louise entgegen und machte schnell den Schnitt. Adam stand mit dem Absaugapparat bereit, und der Behälter an der Wand begann wie ein Niagarafall zu tosen, als die peritonale Flüssigkeit aus der Bauchhöhle des Patienten in ihn gesogen wurde.
Ein Blick, und er wußte, daß er eine Bauchfellentzündung und Gangräne vor sich hatte. Kenders Hände kneteten und bewegten sich über den geschwollenen und entfärbten Eingeweiden, als streichelte er eine kranke Pythonschlange. »Rufen Sie Dr. Sack zu Hause an«, rief er einem Studenten im vierten Jahr zu. »Sagen Sie ihm, daß wir einen gangränösen Bauch haben, ganz hinunter bis zum Dickdarm. Fragen Sie ihn, ob er sofort mit seiner Ausrüstung ins Krankenhaus kommen kann.«
»Was für einer Ausrüstung?«
»Er weiß schon.«
Unter Kenders Anleitung injizierten sie ein Kontrastmittel in die Hauptschlagader des Bauches, das im Röntgen enthüllen würde, was im Blutkreislauf des Patienten vor sich ging, und es wurde noch ein Apparat hereingebracht, diesmal ein tragbarer Röntgenapparat.
Adam bemerkte, daß das Blut im Operationsgebiet sehr dunkel war. Die Oberarmmuskeln des Patienten begannen zu zucken wie bei einem Pferd, das Fliegen verjagt. »Es sieht aus, als habe er Schwierigkeiten mit dem Sauerstoff«, sagte er.
»Wie steht's mit ihm?« fragte Kender den Anästhesisten.
»Blutdruck kaum der Rede wert. Das Herz verteufelt arhythmisch.«
»Säurewert?«
Spurgeon prüfte ihn. »6,9.«
»Stellt lieber Natriumbikarbonat bereit«, sagte Kender. »Der Herzstillstand kann jeden Augenblick eintreten.«
Die gelben Kurven auf dem Kontrollschirm, deren jede ein Zusammenziehen des sterbenden Herzmuskels bedeutete, lebten immer seltener auf, die kleinen Lichtkämme erschienen als schwächere Linien mit niedrigeren Spitzen, bis schließlich, während sie hinsahen, die Kurven verschwanden.
»Mein Gott, er geht dahin«, sagte Spurgeon.
Kender begann mit seinem Handballen einen regelmäßigen, immer wieder aussetzenden Druck auf die Brustwand auszuüben. »Bikarbonat«, sagte er.
Adam injizierte es in eine Beinvene. Er beobachtete Dr. Kender.
Niederdrücken.
Hochheben.
Nieder.
Der regelmäßige Druck mit gestreckten Armen, der Körper des Chirurgen, der vor- und zurückschaukelte, erinnerte ihn - woran? Dann fiel ihm seine italienische Großmutter ein, wie sie Teig für das hausgemachte Brot knetete. In der Küche (zerrissene Jalousien, verschossene gelb-weiße Vorhänge, Kruzifix auf dem Kaminsims, II Giornale der letzten Woche auf der alten Singernähmaschine und der verdammte Kanarienvogel, der ständig trillerte); sie knetete das Brot auf einem großen alten Holzbrett mit den Kerben, die ständig mit weißem, hartgewordenen Makkaroniteig gefüllt waren, der dem abkratzenden Messer entgangen war. Mehl auf ihren braunen Armen. Ein sizilianischer Fluch für seinen Vater auf den Lippen unter dem leichten Bartanflug.
Zum Teufel, fragte er sich und versuchte seine Aufmerksamkeit wieder dem Mann auf dem Operationstisch zuzuwenden.
»Epinephrin«, sagte Kender.
Die diensthabende Schwester riß die Glasampulle heraus und kappte sie mit den Fingern. Adam zog mit einer Injektionsspritze das Hormon auf und injizierte es in eine andere Beinvene.
Los, du gottverdammter Muskel, sagte er stumm. Schlag doch.
Er blickte zu der OP-Uhr hinauf, die genauso stillstand wie das versagende Herz. Sämtliche Uhren in den OPs waren nutzlos. Eine Krankenhauslegende behauptete, sie seien jahrelang von einem alten Bezirksingenieur betreut worden, der wußte, wie man sie in Gang brachte, und als er in Pension ging, taten das auch die Uhren.
»Wie lange dauert es schon?« fragte er.
Eine der Schwestern, die nicht keimfrei sein mußte und daher ihre Armbanduhr tragen durfte, blickte kurz auf ihr Handgelenk.
»Vier Minuten und zehn Sekunden.«
O Gott. Nun, wir haben es versucht, wer immer du warst, dachte er. Er sah Kender an und wünschte, daß er mit seinen Bemühungen aufhörte. Nach vier Minuten ohne sauerstoffgeladenes Blut war das Gehirn nur noch ein Brei. Selbst wenn dieser Körper ins Leben zurückgezerrt werden sollte, würde er nie wieder denken oder fühlen; nie mehr wirklich leben.
Kender schien nicht gehört zu haben. Er schaukelte weiter vor und zurück, sein Handballen drückte die Brust zusammen und ließ sie wieder hochschnellen.
Wieder.
Und wieder.
Und ...
»Dr. Kender?« sagte Adam schließlich.
»Was ist?«
»Es sind fast fünf Minuten.« Laß das arme Schwein gehen, wollte er sagen.
»Versuchen Sie nochmals Bikarbonat.«
Noch eine Injektion in die Vene. Dr. Kender schaukelte weiter und handelte nach dem alten Spruch der amerikanischen Luftwaffe: No sweat, bombs away, never say die -Ruhig Blut, Bomben los, nie »sterben« sagen.
Die Sekunden schwanden dahin.
»Jetzt haben wir einen Herzschlag«, sagte der Anästhesist.
»Adrenalin«, sagte Kender, als befehle er Adam, die Napalmbombe auszuklinken.
Auf dem Kontrollschirm erschien eine Nova, dann eine zweite, und die kleinen Lichtkurven begannen zu marschieren; sie nahmen den alten Rhythmus wieder auf, der
Muskel zog sich zusammen, erfrischt, pulsierend, und schlug wieder so, wie er es fast für immer vergessen hätte.
Er ist auferstanden, dachte Adam.
Dr. Sack kam mit zwei Kameras herein, eine für Objektträger, eine für Farbfilm.
»Halten Sie den Schnitt weit auseinander«, befahl Kender.
Adam tat es. Die Kamera surrte, und er, jetzt ein Filmstar, zuckte zurück.
Es war nur ein Take, in wenigen Augenblicken hatten die Kameras ausgedient, und sie wurden wieder zu Chirurgen. Er sah zu, während sie das abdominale Ganglion herausschnitten und Medikamente injizierten, um den Muskelkrampf zu lösen und den Blutkreislauf wieder in Gang zu bringen. Der Darm war natürlich inoperabel. Sie nahmen sich die Mühe, den Bauch mit Drahtnähten zu schließen.
Nach getaner Arbeit rieben Adam und Spurgeon das Feld mit Alkohol ab. Während Blut und Betadin weggewaschen wurden, erschienen langsam wieder die Buchstaben: »Lieber Gott, bitte nimm diesen Mann in den Himmel auf ... seine Zeit in der Hölle hat er schon abgedient.«
»Ich brauche ständig zwei Leute, um sein Herz in Gang zu halten«, sagte Kender soeben.
Adam half den Patienten auf die Tragbahre heben. Dann zog er die Stoffmaske von seinem schwitzenden Gesicht und sah ihnen nach, als sie mit einem Anästhesisten, der den Sack des fahrbaren Sauerstoffgeräts betätigte, um für den Patienten zu atmen, das Stück vegetabilen Daseins wegrollten.
Es gab Tage, an denen Adam Chirurgie im Dienst des Lebens praktizierte. Die Operationen, die er durchführte, waren für die Lebenden gedacht, Vorgänge, die ihr Leben leichter, ihr Dasein behaglicher, schmerzfrei machen würden. Es gab andere Tage, an denen er Chirurgie gegen Tod und Verzweiflung praktizierte, an denen er die Menschenschale öffnete, um Zellen zu entdecken, die zu einer Häßlichkeit entartet waren, die man nur wegsperren und verstecken konnte, und er arbeitete verzweifelt, um Gehirn und Hände zu koordinieren, in dem Wissen, daß selbst sein Möglichstes unzulänglich war, um großes Leiden und schließlich den Tod zu verhindern.
Heute war so ein Tag; er spürte es.
Spät nachmittags wurde Mr. Stratton in die chirurgische Station heruntergebracht. Mit ihm kam ein Mann, zweifellos der Rechtsanwalt, dessen Erlaubnis zur Amputation nötig war. Den Mann trug einen ausgebeulten braunen Anzug; sein Hemdkragen war schmutzig und der Krawattenknoten viel zu groß; er hatte ein müdes Gesicht, das zu seinem Hut paßte, der um das Schweißband herum fleckig war. Er sah durchaus nicht wie Melvin Belli oder F. Lee Bailey aus. Er stand im Gang vor dem OP und sprach leise mit Mr. Stratton, bis Adam ihn bat, wegzugehen, was er schnell und ohne den Versuch tat, seine Dankbarkeit über diese Bitte zu verhehlen.
»Hallo, Mr. Stratton«, sagte Adam. »Wir werden uns Ihrer gut annehmen.«
Der Mann schloß die Augen und nickte.
Helena Manning, Facharztanwärterin im ersten Jahr, kam herein, gefolgt von Spurgeon Robinson. Adam beschloß, ihr das Erlebnis einer Amputation zu schenken. Da nur eine Schwester Dienst hatte, bat er sie, die Hilfsarbeiten zu übernehmen, und fragte Spurgeon, ob es ihm etwas ausmache, die OP-Schwester zu spielen. Im Waschraum gab es eine weitere erheiternde Note. Der Heißwasservorrat konnte mit dem alten Rohrsystem nicht Schritt halten;
jetzt gaben die Heißwasserhähne, wie das mehrmals in der Woche vorkam, oft eine ganze Stunde lang nur eisigkaltes Wasser her. Keuchend und fluchend schrubbten sich die drei Chirurgen Hände und Arme die vorgeschriebenen zehn Minuten lang unter dem eisigen Strom und gingen dann rücklings, die gefühllos gewordenen Hände hochhaltend, durch die Schwingtüren in den OP.
Die diensthabende Schwester war verhältnismäßig neu und, wie sie zitternd gestand, nervös, weil sie zum erstenmal allein im OP Dienst tat.
»Das macht nichts«, sagte Adam, innerlich stöhnend.
Er sah zu, wie Spurgeon das Amputationsbesteck vorbereitete und die Instrumente in säuberlichen glitzernden Reihen anordnete, die Fäden und das Nahtmaterial so unter ein steriles Tuch steckte, daß sie der Reihe nach herausgezogen werden konnten. Die Ärztin rückte den Patienten zurecht und begann unter den Augen des Anästhesisten eine Rückenmarksinjektion zu geben.
Mr. Stratton stöhnte.
Helena Manning schrubbte das Bein hinunter und legte mit Adam zusammen die Tücher zurecht.
»Wo?« fragte er sie.
Mit ihrem behandschuhten Zeigefinger zeichnete sie den Verlauf des Einschnitts unterhalb des Knies.
»Gut. Schneiden Sie lange vordere und kurze hintere Hautlappen, damit die Geschichte ordentlich vernarbt und er es leichter hat, wenn er wieder zu gehen anfängt. Los.«
Spurgeon reichte ihr das Messer und begann Adam Klemmen zu reichen, der die Blutgefäße ebenso schnell abklemmte, wie sie sie durchschnitt. Sie arbeiteten gleichmäßig weiter, dann hielten sie inne, um die Blutgefäße abzubinden und die Klemmen zu entfernen.
»Richten Sie das Licht«, sagte Helena zur Schwester.
Die Schwester stellte sich auf einen Hocker und richtete die Lampe über dem Operationstisch. Als diese um ihre Achse schwang, sah Adam, wie ein Schauer feinen Staubes von der Deckenbefestigung herabschwebte und auf das Operationsfeld niederging. Die OP-Lampen waren ebenso wie die OP-Uhren und die Heißwasserversorgung Überbleibsel aus einer Vergangenheit, die das Krankenhaus einem anderen Zeitalter zuordneten. Seit er aus Georgia gekommen war, hatte er sich immer wieder gefragt, wie ernsthafte Universitätschirurgen soviel Zeit und Geduld für Abbürsten, Desinfizieren und andere aseptische Einzelheiten aufwenden konnten und dann nachlässig das Operationsfeld mit Staub berieseln ließen, sooft die Lampe gerichtet wurde.
Helena verrichtete schlampige Arbeit, sie schnitt zu tief. »Nein«, sagte er. »Sie sollen die linea aspera höher legen. Wenn Sie die Beinhaut hinaufschieben, wird sie verknöchern und einen Sporn bilden.«
Sie schnitt noch einmal, diesmal höher, wodurch die Amputationszeit um Minuten verlängert wurde. Die Klimaanlage machte ein schwirrendes Geräusch. Der Kontrollapparat ließ sein einschläferndes Biip-biip-biip hören. Adam spürte das erste sanfte Streicheln des Schlafes und zwang sich zur Konzentration. Er dachte voraus und nahm vorweg, was die Chirurgin brauchen würde.
»Wollen Sie uns etwas reinen Alkohol besorgen?« bat er die Schwester.
»O Himmel.« Sie blickte verstört herum. »Wozu brauchen Sie den?«
»Um ihn in den Nerv zu injizieren.«
»Oh.«
Die Ärztin hatte die Oberschenkelarterie lokalisiert und abgebunden. Jetzt kehrte die Schwester rechtzeitig mit dem Alkohol zurück. Helena fand den Ischiasnerv, klemmte ihn ab, fixierte ihn mit einer Schlinge, verband ihn und injizierte den Alkohol.
»Würden Sie bitte das Knochenwachs holen?« bat Adam die Schwester.
»Aha.« Vor eine neue Herausforderung gestellt, verschwand die Schwester wieder.
Adam reichte Helena die Säge. Hier wurde zu seinem großen Entzücken die Ärztin zur Frau. Sie wußte nicht, wie sie die Säge halten sollte. Sie ergriff sie zimperlich und schob sie sehr würdevoll, mit wackelndem Blatt, auf dem Knochen vor und zurück.
»Sie haben in der Untermittelschule nie einen Fußschemel für Ihre Mutter gemacht«, sagte er. Sie funkelte ihn an und sägte mit zusammengebissenen Zähnen weiter.
Die Schwester kam zurück. »Wir haben kein Knochenwachs.«
»Was benützen Sie, um Nähte zu wachsen?«
»Wir ölen Nähte.«
»Nun, verdammt, sie wird aber Knochenwachs brauchen. Sehen Sie in der Orthopädischen nach.« Es war das sichere Ende ihrer herzlichen beruflichen Beziehung, aber sie ging. In wenigen Minuten kam sie damit zurück.
»Kein Knochenwachs?« sagte er lächelnd.
»Nun, oben war keines.«
»Ich danke Ihnen vielmals.«
»Bitte sehr«, sagte sie kühl und ging.
Helena nähte den Lappen sehr genau, zweifellos hatte sie viel Erfahrung mit Puppenkleidernähen gehabt.
»Mr. Stratton«, sagte der Anästhesist soeben, »Sie können jetzt aufwachen. Wachen Sie auf, Mr. Stratton.«
Der Patient öffnete die Augen. »Alles ging einfach wunderbar«, sagte Adam zu ihm. »Es wird Ihnen prima gehen.« Mr. Stratton starrte mit zusammengekniffenen Augen zur Decke des OP hinauf, in die weihnachtlichen Gedanken eines einbeinigen Lastwagenfahrers vertieft, dessen Frau in einem anderen Krankenhaus an einer so schweren Krankheit litt, daß sie nicht einmal ein Dokument unterzeichnen konnte.
Die Schwester hatte das amputierte Bein in zwei Tücher gehüllt. Als Adam wieder im weißen Anzug war, nahm er es und Helenas Operationsbericht für die Pathologie und ging zum Lift, der endlich ankam. Die Pathologie war im vierten Stock. Im ersten betraten einige Fahrgäste den Lift, und während sich die Kabine zum zweiten hob, bemerkte Adam, wie eine Dame mittleren Alters von der Sorte, die Bulldoggen in Babysprache ansäuselt, das Bündel in seinen Armen anstarrte.
»Darf ich mir das Kleine nur gerade einmal ansehen?« fragte sie und griff nach dem oberen Teil des Tuchs.
»Nein.« Adam trat schnell einen Schritt zurück. »Ich möchte es nicht wecken«, sagte er.
Dies Kind ich zu mir selbst will nehmen. Wordsworth. Den ganzen Weg zum Vierten tätschelte er zärtlich Mr. Strattons Wade.
Von Gaby kam kein Wort. Wieder rief er an und wurde von Susan Haskell, die er nunmehr haßte, abgespeist.
Er fühlte sich Liz Meomartino gegenüber schuldig, weil er sie, genauso wie einst die Griechin, nur für seinen schäbigen Triumph über ihren Mann ausgenützt hatte.
Er würde sie nie wieder anrufen, sagte er sich erleichtert. Es war eine unwürdige Episode, aber er würde sie begraben.
Und dennoch entdeckte er, daß er an sie dachte. Sie war eine große Überraschung gewesen, nicht von der üblichen Sorte reicher Frauen. Sie besaß Bildung, gutes Aussehen, Geschmack, Geld, sie war so wunderbar sinnlich .
»Hallo?« sagte sie.
»Hier Adam«, sagte er, während er die Tür der Telephonzelle schloß.
Sie spielten die gleiche Scharade, trafen sich im Parlor, gingen durch den schmutzigen Schnee zum Regent. Er verlangte dasselbe Zimmer.
»Bleiben Sie lange?« fragte der Portier.
»Nur über Nacht.«
»In drei bis vier Stunden werden wir voll sein. Ein Treffen in der Krieger-Gedenkstätte unten an der Straße. Ich mache Sie lieber aufmerksam, falls Sie das Zimmer für den Rest der Woche zu reservieren wünschen.«
Die Tür der Damentoilette öffnete sich, und er sah sie in die Halle zurückkommen.
Warum nicht? Nichts hielt ihn im Krankenhaus, wenn er nicht arbeitete.
»Verrechnen Sie den Wochenpreis«, sagte er.
An diesem Nachmittag lagen sie im Zimmer 314 zur Orchesterbegleitung von Gekreisch und Gelächter unsichtbarer Männer, die in den blaugoldenen Mützen des ÜberseeEinsatzes Beschimpfungen und Botschaften durch Türen brüllten, leere Flaschen und wassergefüllte Säcke den Luftschacht hinunterbombardierten, die irgendwo weit unten aufklatschten.
»Welche Farbe hatte es ursprünglich« fragte er, ihr strohfarbenes Haar streichelnd.
»Schwarz«, sagte sie stirnrunzelnd.
»Du hättest es so lassen sollen.«
Sie wandte den Kopf ab. »Nicht. Das sagt auch er immer.«
»Deshalb ist es nicht unbedingt falsch. Es sollte deine natürliche Farbe haben«, sagte er sanft. »Es ist dein einziger Fehler.«
»Ich habe andere«, sagte sie.
»Ich habe nicht geglaubt, daß du mich anrufen würdest«, sagte sie nach einer Weile.
Im Flur marschierten sie und zählten im Takt. Er betrachtete die Decke und rauchte seine Zigarette. »Ich hatte es nicht vor.« Er zuckte die Achseln. »Ich konnte dich nicht vergessen.«
»Bei mir war es genauso. Ich habe viele Männer gekannt. Macht dir das etwas aus? Nein« - sie hielt ihm die Lippen mit den Fingerspitzen zu -, »antworte nicht.«
Er küßte ihre Finger. »Warst du je in Mexiko?« fragte sie.
»Nein.«
»Als ich fünfzehn Jahre alt war, fuhr mein Onkel zu einer Medizinerkonferenz und ich fuhr mit.«
»Oh?«
»Cuernavaca. In den Bergen. Strahlend bunte Häuser. Ein wunderbares Klima, Blumen das ganze Jahr hindurch. Eine hübsche kleine Plaza. Wenn sie die Gehsteige nicht vor Mittag fegen, werden sie zur Polizei vorgeladen.«
»Kein Schnee«, sagte er. Draußen schneite es.
»Nein. Es ist nicht weit bis Mexiko City. Fünfzig Meilen. Sehr international, wie Paris. Große Krankenhäuser. Großes Gesellschaftsleben. Ein talentierter Norteamerica-no-Doktor kann dort äußerst gut verdienen. Ich habe soviel Geld, um jede Praxis zu kaufen, die dir gefällt.«
»Worüber sprichst du?« sagte er.
»Über dich und mich und Miguel.«
»Wen?«
»Meinen kleinen Jungen.«
»Du bist verrückt.«
»Nein, bin ich nicht. Dir würde der Kleine nichts ausmachen. Ich könnte ihn nicht verlassen.«
»Das heißt, es braucht mir nichts auszumachen. Es ist unmöglich.«
»Versprich mir bloß, daß du darüber nachdenkst.«
»Schau, Liz ...«
»Bitte. Nur darüber nachdenken.«
Sie rollte sich herum und küßte ihn, ihr Körper ein Sommer, in dem er spielte, Honigtau, Brombeeren, Pfirsichflaum, Moschus.
»Ich werde dir den Palast der Cortez zeigen«, sagte sie.
Am frühen Sonntagabend brachte Kender den Peritonitis-fall wieder in den OP, und als sie ihn zum zweitenmal aufmachten, entdeckten sie, daß die Maßnahmen vom Samstagmorgen offensichtlich den Blutkreislauf angeregt hatten. Es war bereits genügend Gewebe frei von Gangräne, um eine Rückoperation zu erlauben; sie entfernten den größten Teil des Dünndarms und einen Teil des Dickdarms. Während der ganzen Operation schlief der Patient den Schlaf des permanent Komatösen.
Beim Frühstück am Montag morgen hörte Adam, daß das Herz des Mannes neuerlich zweimal versagt hatte. Er erhielt eine massive Therapie, alles, was Kender tun konnte, um ihn technisch am Leben zu erhalten. Mindestens zwei Ärzte waren ständig bei ihm, beobachteten die Le-benszeichen, verabreichten ihm Sauerstoff und Medikamente, atmeten für ihn, tropften lebenserhaltende Flüssigkeiten in seine Venen.
An diesem Nachmittag schaute Adam in die Küche der chirurgischen Station und sah Kender in einem Sessel in einer Ecke sitzen, schlafend oder einfach nur sehr ruhig mit geschlossenen Augen. Adam schenkte sich so geräuschlos wie möglich eine Tasse Kaffee ein.
»Schenken Sie mir auch eine ein, ja?« Adam reichte sie dem Stellvertretenden Chef der Chirurgie, und sie tranken schweigend. »Ein komischer Beruf, diese Chirurgie«, sagte Kender. »Ich habe mich jahrelang mit Transplantationen herumgeschlagen. Nächstes Jahr wird ein neuer Lehrstuhl für Chirurgie an der Medizinischen Schule geschaffen. Sie wollen ihn mit einem Transplantationsspezialisten besetzen, aber ich werde nicht auf ihm sitzen. Ich werde Chefchirurg sein.«
»Bedauern Sie es?« fragte Adam.
Kender grinste müde. »Nicht wirklich. Aber ich lerne allmählich, daß Dr. Longwood keinen leichten Job hatte. Ich habe alle seine Fälle übernommen.«
»Ich weiß«, sagte Adam.
»Kennen Sie auch die Sterblichkeitsrate für die Fälle Dr. Longwoods und Dr. Kenders zusammengerechnet in den letzten drei Monaten?«
»Sie muß hoch sein, sonst würden Sie nicht fragen. Fünfzig Prozent?«
»Sagen Sie ruhig hundert«, erwiderte Kender leise. Er griff in seine Tasche und zog eine Zigarre heraus. »In drei Monaten. Das ist eine lange Zeit ohne einen einzigen überlebenden Patienten. Ein Haufen Operationen.«
»Wie kommt das?«
»Weil, gottverdammt, die leichten an euch Burschen gehen. In einem Haus wie diesem bekommt sie der Oberste erst, wenn sie bereits arschtief in der Grube sitzen.«
Zum erstenmal erkannte Adam, daß das stimmte. Gott. »Nächstesmal, wenn ich einen Bruch oder einen Blinddarm bekomme, bitte ich Sie, mir zu assistieren.«
Kender lächelte. »Dafür wäre ich dankbar«, sagte er. »Sehr.« Er zündete die Zigarre an und blies den Rauch zur Decke. »Wir haben eben den Burschen mit den gangrösen Eingeweiden verloren«, sagte er.
Adams Mitgefühl zerrann. »Würden Sie nicht sagen, daß wir ihn in Wirklichkeit schon während des ersten Herzstillstands von sechs Minuten verloren haben?«
Kender sah ihn an. »Nein«, sagte er. »Nein, das würde ich nicht sagen.« Er stand auf und ging zum Fenster. »Sehen Sie jenes Backsteinmausoleum gegenüber?«
»Das Tierlabor?«
»Es wurde vor einer teuflisch langen Zeit erbaut, noch vor dem Bürgerkrieg. Oliver Wendell Holmes sezierte einst Katzen in jenem Gebäude.«
Adam wartete unbeeindruckt.
»Nun, Sie und ich und Oliver Wendell Holmes sind nicht die einzigen, die dort gearbeitet haben. Seit langer Zeit haben sich Dr. Longwood und Dr. Sack, und einige andere Hunde vorgenommen, die an Gangräne in den Eingeweiden starben, und indem sie mit ihnen dasselbe taten wie wir mit diesem Burschen in unserem OP, konnten sie einige dieser Hunde retten.«
»Das hier aber war ein Mensch«, sagte Adam. »Kein Hund.«
»In den letzten zwei Jahren hatten wir sechzehn solcher Patienten. Jeder von ihnen starb, aber jeder hat länger ge-lebt als sein Vorgänger. Dieser Mann lebte achtundvierzig Stunden lang. Die Experimente haben sich bei ihm ausgewirkt. Sie verwandelten einen inoperablen gangränösen Zustand in einen, den wir chirurgisch behandeln konnten. Wer weiß - der nächste Patient wird vielleicht, falls wir Glück haben, keinen Herzstillstand mehr erleiden.«
Adam sah den älteren Chirurgen an. Alle möglichen Empfindungen strömten gleichzeitig auf ihn ein. »Aber wann sagen Sie sich eigentlich: Dieser Mann ist weg, wir können ihn nie zurückbringen, lassen wir ihn friedlich und in Würde sterben?«
»Das entscheidet jeder Arzt selbst. Ich sage es nie.«
»Nie?«
»Verdammt, mein junger Freund«, sagte Kender, »sehen Sie sich doch einmal an, was in diesem Krankenhaus schon alles geschehen ist, noch gar nicht lange her, Leute, die hier arbeiten, können sich noch gut daran erinnern. Im Jahre 1925 begann ein junger Arzt namens Paul Dud-ley White ein fünfzehn Jahre altes Mädchen aus Brockton zu behandeln. Drei Jahre später lag sie im Sterben, weil ihr Herz von einem lederartigen pericordialen Überzug zu Tode gewürgt wurde. Er ließ sie acht oder neunmal in das Massachusetts General Hospital einliefern, und jeder sah sie sich an und behandelte sie, aber keiner konnte etwas unternehmen. Also schickte er das arme Ding wieder heim und wußte, daß es sterben mußte, falls das Pericar-dium nicht irgendwie entfernt werden konnte. Er grübelte und grübelte darüber nach und ließ Katherine noch einmal in das M. G. H. aufnehmen, in der Hoffnung, daß sich ein chirurgischer Eingriff doch irgendwie als möglich erweisen würde. Durch einen Glücksfall - nennen Sie es einen Fall der zufälligen, ,glücklichen Entdeckungen' - war gerade um jene Zeit ein junger Chirurg namens Edward Delos Churchill aus Europa in das Massa-chusetts General zurückgekehrt, er hatte eben ein, zwei Jahre fortgeschrittenere Schulung in Thoraxchirurgie hinter sich, sowie eine Zeit lang unter dem großen Ferdinand Sauerbruch in Berlin gearbeitet. Natürlich sollte Churchill später Chefchirurg am Massachusetts General Hospital werden.
Nun, Dr. White traf ihn in dem alten Backsteinkorridor dort drüben und überredete ihn, in die Station hinaufzukommen und sich Katherine anzusehen. In den Vereinigten Staaten war es noch nie jemandem gelungen, einer konstriktiven Pericarditis mit dem Messer oder Medikamenten beizukommen. Dr. White bat jedoch Dr. Churchill, es doch zu versuchen, schließlich -« Kender zuckte die Achseln - »starb das Mädchen langsam dahin.
Nun, Churchill operierte. Und sie lebte. Tatsache ist, daß sie heute Großmutter ist. Und in den letzten vierzig Jahren wurden Hunderte mit konstriktiver Pericarditis erfolgreich operiert.«
Adam sagte nichts. Er saß einfach da und trank seinen Kaffee.
»Wollen Sie noch weitere Beispiele? Dr. George Minot. Glänzender junger Bostoner Forscher, starb fast an Diabetes, als es noch keine wirksame Behandlung gab. Knapp vor seinem Ende erhielt er eine der frühesten Proben eines funkelnagelneuen, von zwei Kanadiern, Dr. Fredrick C. Banting und Dr. Charles H. Best, entdeckten Hormons -Insulin. Er starb nicht. Und weil er nicht starb, bekam er schließlich den Nobelpreis, weil er die Heilmethode für perniziöse Anämie ausarbeitete, und eine ungeheure Zahl anderer Leute wurden gerettet, wer weiß, wie viele davon gerade noch rechtzeitig.« Er schlug Adam kräftig auf den Schenkel und blies ihm Zigarrenrauch ins Gesicht. »Das ist der Grund, warum ich keine eleganten Zugeständnisse an einen leichten Tod mache, mein Sohn. Das ist der
Grund, warum ich lieber bis ans Ende kämpfe, obwohl es scheußlich ist und schmerzt.«
Adam schüttelte nicht überzeugt den Kopf. »Es spricht trotzdem sehr viel dafür, angesichts einer unvermeidlichen Niederlage schreckliche und grausame Schmerzen nicht zu verlängern.«
Kender sah ihn an und lächelte. »Sie sind jung«, sagte er. »Ich bin neugierig, ob Sie Ihre Ansichten nicht ändern.«
»Das bezweifle ich.«
Kender blies ihm eine Wolke stinkenden Zigarrenrauchs ins Gesicht. »Wir werden sehen«, sagte er.
Als er mitten in der Nacht in Turnanzug, Handschuhen, Halstuch und Pelzstiefeln über weichen Neuschnee lief, der wie zermalmtes Glas unter den Straßenlampen glitzerte, und er seine Kreise um das Krankenhaus, seine Sonne, zog, bis sich die Kälte des Weltraums in seine Lungen fraß und sein Lebenszentrum mit Speeren durchbohrte, wußte er, daß Spurgeon Robinson recht hatte: Silverstones Plansoll war Scheiße und Kuhmist. Liz Meomartino bot ihm die Erfüllung von Silverstones Plansoll auf einem Silbertablett an, und er erkannte blitzartig, daß es durchaus nicht das war, was er wollte. Er sehnte sich verzweifelt danach, in zwanzig Jahren eine Mischung aus Lobsenz und Sack und Kender und Longwood zu werden, und diese Verwandlung würde sich nicht in Cuernavaca oder sonst irgendwo mit Liz Meomartino vollziehen.
In der Früh rief er sie an und sagte es ihr so taktvoll wie möglich.
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Treffen wir uns, Adam.«
Er wußte, sie glaubte seinen Entschluß ändern zu können. »Lieber nicht, Liz.«
»Rafe ist heute abend zu Hause, aber ich werde wegkommen. Ich will dir nur Lebewohl sagen.«
»Lebewohl, Liz. Alles Gute«, sagte er.
»Sei dort. Bitte.« Sie hängte ein.
Er arbeitete den ganzen Tag wie ein freigelassener Sklave, der jetzt auf eigene Rechnung werkte. Er war um sechs dienstfrei, aß mit gutem Appetit sein Abendessen und schaltete einige Stunden im Tierlabor ein.
Als er in den sechsten Stock kam, duschte er, lag in der Unterhose auf dem Bett, las drei Zeitschriften und zog dann den Straßenzug an. Er suchte ein frisches Taschentuch, als sich seine Hand um etwas in der Schreibtischlade schloß, es aufhob, hin und herdrehte und untersuchte, als hätte er den schwarzen Ziegenlederhandschuh noch nie im Leben gesehen.
Diesmal war das Regent vollgestopft von Legionären und ihren Frauen, und er mußte sich mühsam durch die Halle drängen.
»Felix, hast du die Karten?« kreischte eine dicke Frau in einer zerknitterten Hilfskräfteuniform.
»Sicher«, sagte ihr Mann und stupste Adam plötzlich aus Jux mit einem Stachelstock in das Gesäß.
Adam fuhr hoch, erregte allgemeines Gelächter, wurde jedoch in den Lift geschoben.
Sie waren in den Gängen, auf den Treppen; er hatte das Gefühl, als säßen sie selbst unter seinen Fingernägeln.
Er steckte den Schlüssel ins Schloß, und als er die Tür von 314 öffnete, blitzte draußen das elektrische Schild auf und knipste ein weiteres psychedelisches Photo, in dessen
Brennpunkt die blaugoldene Soldatenmütze des Überseeeinsatzes auf dem Toilettetisch lag. Adam hob die lächerliche Kopfbedeckung auf. Der Mann im Bett sah ihn unsicher an. Nicht Vietnam. Sogar für Korea zu alt. Jahrgang Zweiter Weltkrieg, dachte Adam. Alte Soldaten scheinen, ich weiß nicht warum, unansprechbarer zu sein als alte Seeleute. Hawthorne.
Der Mann war ganz offensichtlich sehr erschrocken. »Was wollen Sie? Geld?«
»Hinaus.« Adam reichte ihm die Mütze und hielt die Tür auf, während der Mann in seine Hose schlüpfte und dankbar entfloh.
Sie sah ihn an. Sie war betrunken. »Du hättest mich retten können«, sagte sie.
»Ich bin nicht einmal sicher, ob ich mich selbst retten kann.«
Er hob ihre Strümpfe auf und legte sie und den schwarzen Handschuh in ihre Handtasche.
»Geh«, sagte sie.
»Ich muß dich heimschicken, Liz.«
»Es ist viel zu spät.« Sie lächelte. »Ich sagte, daß ich nur Zigaretten holen gehe.«
Sie hatte ihr Unterkleid an, aber das Kleid machte Schwierigkeiten. Sie half ihm nicht, und es dauerte eine Weile, alles an Ort und Stelle zu bringen. Der Reißverschluß klemmte auf halbem Weg. Schwitzend kämpfte Adam mit ihm, aber es nützte nichts, der Reißverschluß kam weder vor noch zurück.
Der Mantel würde es verdecken, sagte er sich.
Als er ihr die Schuhe anzog und sie auf die Beine stellte, schwankte sie. Seinen Arm um ihre Taille, ihren um seinen Hals gelegt, führte er sie wie eine Patientin zur Tür.
Im Flur reichten die Generale Bier und Whisky-Soda herum.
»Nein, danke«, sagte Adam höflich und drückte mit dem Rücken auf den Liftknopf.
Als er sie unten in die Halle brachte, sah er, daß der Mann mit dem Viehstock zu einem neuerlichen Spaß ansetzte.
»Wenn Sie mit diesem Ding einen von uns berühren, Felix«, sagte er, »wickle ich es Ihnen um Ihren gottverdammten Hals.«
Felix sah verletzt drein. »Hast du diesen Schweinehund gehört?« fragte er die dicke Frau.
»Ich habe dir ja gesagt, die Leute hier sind genauso kalt wie ihr Wetter«, sagte sie, als Adam mit seiner Last weiterging. »Das nächste Mal wird man auf uns hören und es in Miami abhalten.«
Draußen fiel Schnee wie dünner Haferschleim. Adam wagte nicht, sie gegen die Hauswand zu lehnen; aneinan-dergeklammert schwankten sie in den nassen Matsch hinaus.
»Taxi!« schrie er.
Spritzend fuhren die Autos vorbei, unter ihnen mehrere Taxis.
»Taxi!«
»Du hast mich im Stich gelassen«, sagte sie.
»Ich liebe dich nicht«, sagte er. »Verzeih.«
Sein Haar war bereits triefnaß; in seinem Nacken schmolz der Schnee und durchweichte seinen Hemdkragen. »Außerdem sehe ich nicht ein, wieso du das Gefühl haben kannst, mich zu lieben. Wir kennen einander kaum.«
»Das macht nichts.«
»Natürlich macht es etwas. Um Christi willen, man muß einander doch wirklich kennen. Taxi!« schrie er einem vorbeifahrenden Schatten zu.
»Ich meine, das Lieben. Es wird überschätzt. Ich mag dich einfach.«
»Gott«, sagte er. Wieder schrie er und merkte, daß er heiser wurde. Wie ein Wunder blieb ein Taxi stehen, aber bevor er Liz von der Stelle rühren konnte, war ein listiger Exkorporal mit einer Mütze hineingesprungen und hatte die Tür zugeschlagen. Das Fahrzeug fuhr ab.
Wieder kam ein Taxi in Sicht, glitt vorbei, aber dann blieb es stehen, drei Meter vor ihnen, und zwei Männer stiegen aus.
»So komm doch«, sagte er und zog sie hinter sich her. »Bevor es uns entwischt.« Er rief nach dem Taxi, während sie ausrutschten und dahinschlitterten. Die beiden Männer waren jetzt ausgestiegen und kamen auf sie zu, und er sah, daß der eine Meomartino und der andere Dr. Longwood war. Der Alte sollte in einer solchen Nacht nicht ausgehen, dachte er.
Er zog sie nicht weiter. Sie sackten einfach zusammen und warteten. Meomartino starrte sie an, als er sie erreichte, sagte jedoch nichts.
»Wo bist du gewesen?« fragte Dr. Longwood. »Wir haben dich überall gesucht.« Er warf einen Blick auf Adam. »Wo haben Sie sie gefunden?«
»Hier«, sagte Adam.
Er wurde sich bewußt, daß ihr Arm noch immer um seinen Hals lag, daß er sie noch immer um die Taille hielt. Er machte sich los und übergab sie Meomartino, der stumm wie ein Fisch war und ihn anstarrte.
»Ich danke Ihnen sehr«, sagte Longwood steif. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Ihr Mann und ihr Onkel teilten sich die Last und brachten sie zum Taxi. Die Tür öffnete sich und schloß sich endlich, der Motor heulte auf, die Hinterräder drehten durch. Matsch flog zurück und traf ihn wie eine Strafe am rechten Hosenbein, aber das war schon naß, und es kümmerte ihn nicht, denn er erinnerte sich an den verklemmten Reißverschluß.
»Taxi«, murmelte er hoffnungslos, als ein besetztes gelbes Taxi aus der Finsternis auf ihn zuschoß.
In den folgenden Tagen wartete er, an einer schweren Erkältung leidend, daß Longwood Blitz und Donner auf den Verführer seines Fleischs und Bluts herunterprasseln lassen würde. Der Alte konnte ihn auf alle möglichen Arten vernichten. Aber zwei Tage nach der Katastrophe vor dem Hotel hielt ihn Meomartino im Aufenthaltsraum der Chirurgen auf. »Meine Frau erzählte mir, daß Sie, als ihr schlecht wurde, so freundlich waren, sich beträchtliche Mühe zu machen, um ihr ein Taxi zu verschaffen.« Seine Augen sahen ihn herausfordernd an.
»Nun ...«
»Es war ein Glück, daß Sie sie zufällig getroffen haben. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken.«
»Nicht der Rede wert.«
»Sie wird Ihre Hilfe bestimmt nicht wieder brauchen.« Meomartino nickte und ging, irgendwie Sieger. Nie hatte Adam soviel Abneigung und soviel Respekt empfunden. Was war aus seiner Revanche geworden, fragte er sich.
Longwoods Wut brach nicht über ihn herein. Adam arbeitete schwer, blieb im Krankenhaus und verbrachte seine dienstfreien Stunden in seinem Zimmer oder in der Patho-logie oder im Tierlabor. Er erbte alle möglichen chirurgischer Fälle, einen Blinddarm, eine Gallenblase, mehrere Magenoperationen, weitere Hautverpflanzungen bei Mr. Grigio.
Mrs. Bergstrom bekam ein Weihnachtsgeschenk: eine Niere. In der vorletzten Dezembernacht schmiß ein plötzlicher sonntäglicher Schneesturm vier Zoll reines Weiß auf die schmutzige Stadt herunter. Jenseits des Flusses, in Cambridge, stahl der sechzehnjährige, stockbesoffene Sohn eines berühmten Gelehrten einen Wagen, und als er vor dem Polizeifahrzeug davonsauste, das ihn vorsichtig über die Schneeglätte des Memorial Drive verfolgte, fuhr er an einen Betonpfeiler und war auf der Stelle tot. Seine kummervollen Eltern verlangten nur, nicht genannt zu werden, um der unbarmherzigen Publicity zu entgehen, und spendeten die Augenhornhaut des Jungen der Augenklinik und je eine Niere dem Bringham- und dem Suffolk-County-Krankenhaus. Adam saß bei Kender und quälte sich mit dem Problem ab, welche Dosis immunounter-drückende Medikamente man Mrs. Bergstrom mit der neuen Niere geben sollte.
Kender entschied sich für 130 mg Imuran.
»Ihre Nierenfunktion ist sehr niedrig«, sagte Adam zweifelnd.
»Wären 100 mg nicht genug?«
»Das letzte Mal habe ich 90 mg gegeben«, sagte Kender, »und sie stieß die Niere entschieden ab. Ich will sie nicht wieder das Ganze durchmachen lassen.« Sie operierten nach Mitternacht, und als man Mrs. Bergstrom aus dem Operationssaal brachte, gab die neue Niere Urin ab.
Am Silvesterabend war Adam wieder im Operationssaal und bereitete sich auf eine Milzoperation bei dem ersten betrunkenen Fahrer vor, der so vernünftig gewesen war, sich die Milz nur zwei Wohnblöcke vom Krankenhaus entfernt auf der Autobahn zu zerreißen. Adam wartete, die behandschuhten Hände auf der Brust gekreuzt, mit Harry Lee als Assistenten. Norm Pomerantz gab die allgemeine Anästhesie, wobei die Dosierung nicht einfach war, weil sich der Mann bereits mit Alkohol betäubt hatte. Es war sehr still im OP.
»Es ist zwölf Uhr, Adam«, sagte Lee.
»Ein glückliches Neues Jahr, Harry.«
Am folgenden Abend studierte Adam, besorgt über die Medikamentendosierung, die Kender Mrs. Bergstrom gegeben hatte, ihre Aufzeichnungen stundenlang, fand jedoch keine Beruhigung in ihnen, gab schließlich auf und schlief über seinem Heft ein, den Kopf auf den Armen. Er träumte von Zimmer 314 und der Frau; die Gestalt, die sich ihm anbot, verschmolz mit einer anderen, wurde schlanker, fester und weniger reif, bis er Gaby liebte, statt einen Ritus mit Liz Meomartino durchzuführen.
Als er erwachte, lachte er sich aus.
Irgendwie aber wußte er, daß der Mann, der schließlich bei Gaby Pender landete, sich nie sorgen müßte, wenn er einen anderen Arzt heimsandte, um einige Glasplättchen abzuholen.
Bei ihr gab es andere Probleme. Gut, daß er das verrückte kleine Weibstück los war, sagte er sich.
Eine Stunde später ging er zum Telephon und wählte ihre Nummer.
Er erwartete Susan Haskell, aber statt der Stimme der Zimmergenossin war es ihre, die Hallo sagte.
»Gaby?«
»Ja.« »Hier Adam.«
»Oh.«
»Wie ist es dir gegangen?«
»Fein. Das heißt, zunächst nicht, aber jetzt.«
»Wirklich?« fragte er sehnsüchtig.
»Ja.«
»Mir nicht. Glückliches Neues Jahr, Gaby.«
»Glückliches Neues Jahr, Adam.«
»Gaby, ich -«
»Adam.« Sie hatten gleichzeitig gesprochen, und jetzt warteten sie beide.
»Ich muß dich sehen«, sagte er.
»Wann?«
»Ich habe heute abend Dienst. Höre, komm um neun Uhr auf den Parkplatz des Krankenhauses. Falls ich nicht gleich auftauche, warte auf mich.«
»Wieso glaubst du, daß ich gelaufen komme, wenn du mit dem Finger schnalzt?« fragte sie kalt. »Und wartend herumstehe?«
Er erschrak, Verdruß und großes Bedauern erfüllte ihn.
»Oh, Adam, mir geht's auch nicht gut«, platzte sie heraus. Sie lachte und weinte gleichzeitig, seines Wissens das einzige Mädchen, das das zustande brachte. »Ich bin dort, Liebling. Adam-Liebling.« Und legte auf.