DRITTES BUCH Der Kreis schließt sich Frühling und Sommer

12

ADAM SILVERSTONE

Adam hatte ruhig und sehr ausführlich mit Gaby gesprochen, als sie auf dem Parkplatz des Krankenhauses in dem blauen Plymouth saßen, bei aufgedrehter Heizung, während draußen der Schnee fiel; das Blinklicht eines Krankenwagens blinzelte sie an, bis eine Schicht Weiß die Windschutzscheibe so dicht bedeckte, daß die restliche Welt ausgeschlossen war.

»Es war meine Schuld«, sagte er. »Ich werde es nie wieder zulassen, daß wir einander das antun.«

»Du hast mich fast erledigt. Ich konnte nicht einmal mehr mit einem anderen Mann reden.«

Er schwieg.

Es blieben noch andere unerfreuliche Tatsachen, denen man sich stellen mußte.

»Mein Vater ist ein hoffnungsloser Alkoholiker. Derzeit scheint er sich zu beherrschen wenn man das so nennen kann. Aber er ist schon früher einmal schwer zusammengebrochen und wird es wahrscheinlich wieder. Wenn es soweit ist, werde ich jeden Cent, den ich zusammenkratzen kann, brauchen, um ihn in Pflege zu geben. Ich kann nicht heiraten, solange ich nicht in der Lage bin, etwas Geld zu verdienen.«

»Wann wird das sein?« »Nächstes Jahr.«

Sie besaß nichts von Liz' triebhafter Sinnlichkeit und dennoch war sie für ihn so viel begehrenswerter. Lieb und teuer. Er war darauf bedacht gewesen, sie nicht zu berühren, und er machte auch jetzt keinen Versuch, es zu tun.

»Ich will nicht bis nächstes Jahr warten, Adam«, sagte sie fest.

Er erwog, mit jemandem in der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses zu sprechen, und erinnerte sich dann, daß Gerry Thornton, ein ehemaliger Studienkollege, jetzt an der Massachusetts Nervenklinik arbeitete. Er rief ihn an, und sie plauderten fünf Minuten über das Wie und Wo der anderen, früheren Studienkollegen.

»Ah - hast du mich wegen etwas Bestimmtem angerufen?« fragte ihn Thornton schließlich.

»Nun, eigentlich ja«, sagte er. »Ich habe eine Freundin. Eine sehr enge Freundin, die ein Problem hat, und ich dachte, es wäre gut, mich mit jemandem darüber zu unterhalten, der Verständnis hat und schon psychoanalysiert ist.«

»Meine eigene Analyse wird zwar noch einige Jahre dauern«, sagte Thornton gewissenhaft und wartete.

»Gerald, wenn dein Terminkalender sehr besetzt ist, muß es nicht diese Woche sein ...«

»Adam«, sagte Thornton vorwurfsvoll, »wenn ich mit einem akuten Blinddarm zu dir käme, würdest du mich bitten, bis nächste Woche zu warten? Wie wär's mit Donnerstag?«

»Mittagessen?«

»Oh, ich glaube, in meinem Büro ist es besser«, sagte Thornton.

»... Du siehst also«, sagte er, »die Möglichkeit, daß ihr unsere Affäre seelisch schadet, macht mir Sorgen.«

»Nun, natürlich kenne ich das Mädchen nicht. Aber ich glaube, man kann mit Sicherheit sagen, wenn sie ernsthaft engagiert ist, du aber nur mit ihr herumschmust, falls du den Ausdruck entschuldigen willst .«

»Es geht mir nicht nur ums Schmusen. Aber ich will wissen, du Klugscheißer und Freudianer, wie und ob eine Affäre einem Mädchen schaden kann, das anscheinend an ausgesprochener Hypochondrie leidet.«

»Hm. Nun, ich kann sie ebensowenig diagnostizieren, wie du am Telephon sagen kannst, ob ein Patient Krebs hat.« Thornton langte nach dem Tabak und begann seine Pfeife zu stopfen. »Du sagst, ihre Eltern seien geschieden?«

Adam nickte. »Sie hat sich seit einiger Zeit von beiden getrennt.«

»Nun, das kann es natürlich sein. Wir lernen langsam etwas über eingebildete Krankheiten. Einige Hausärzte schätzen, daß von zehn Patienten in ihrem Wartezimmer acht aus psychosomatischen Gründen da sind. Ihr Schmerz ist natürlich genauso echt wie der anderer Patienten, aber er wird durch den Geist verursacht, und nicht durch den Körper.« Er zündete ein Streichholz an und paffte. »Kennst du die Gedichte von Elizabeth Barrett Browning?«

»Einige.«

»Es gibt einige Zeilen, die sie an ihren Hund, Fluff, schrieb.«

»Ich glaube, der Hund hieß Flush.«

Thornton war ärgerlich. »Stimmt, Flush.« Er ging zu einem Bücherschrank, zog einen Band heraus und blätterte darin. »Da ist es.«

But of thee it shall be said, This dog watched beside a bed Day and night unweary, Watched within a curtained room Where no sunbeam broketh bloom Round the sick and dreary.

»Alle Zeugnisse deuten darauf hin, daß sie vierzig Jahre lang ein klassischer Fall von Hypochondrie war. So schwer erkrankt, daß man sie die Treppen hinauf und hinunter tragen mußte. Dann verliebte sich Robert Browning zuerst in den Geist ihrer Dichtung, dann in sie selbst, berannte die Festung des alten, ehrwürdigen Barrett in der Wimpole Street, und die Hypochondrie war wie vom Winde verweht oder vielleicht vom Hochzeitsbett. Ich weiß es nicht. Sie gebar ihm sogar ein Kind, als sie über vierzig war. Wie heißt dein Mädchen?« fragte er unvermittelt.

»Gaby, Gabrielle.«

»Bezaubernder Name. Wie fühlt sich Gabrielle derzeit?«

»Derzeit zeigt sie keine Symptome.«

»Hat sie sich je einer Psychotherapie unterzogen?«

»Nein.«

»Weißt du, Leuten mit Ängsten wird täglich geholfen.«

»Willst du sie sehen?«

Thornton runzelte die Stirn. »Lieber nicht. Ich glaube, es wäre besser, wenn sie einen klugen Jungen drüben im Beth Israel aufsuchen würde, der sich sozusagen auf Hypochondrie spezialisiert hat. Laß es mich wissen, wann es ihr paßt, und ich rufe ihn an und vereinbare einen Termin mit ihm.«

Adam drückte ihm die Hand. »Danke, Gerry.«

Gerald, du endest noch als aufgeblasener Hohlkopf, prophezeite er, als er durch den Pfeifenrauch watete und das Büro verließ. Dann grinste er. Thornton würde diese Bemerkung zweifellos gelassen als ein negatives Übertragungsphänomen tolerieren.

Gaby sah Dorothy sehr häufig. Sie hatten sofort Gefallen aneinander gefunden, und wenn Adam und Spurgeon arbeiteten, trafen sich die beiden Mädchen fast regelmäßig. Es war Dorothy, die Gaby in die Gegend von Beacon Hill mitnahm, wo sie die Wohnung fand.

»Meine Schwester lebt hier in der Nähe«, sagte Dorothy. »Meine Schwester Janet.«

»Oh? Sollen wir bei ihr vorbeigehen und guten Tag sagen?«

»Nein. Wir vertragen uns nicht.«

Gaby spürte, daß Dorothy bedrückt war, stellte jedoch keine Fragen. Zwei Tage später, als sie Adam in die Beacon Street führte, hatte sie den Vorfall vor Aufregung vergessen.

»Wohin führst du mich?« fragte er sie.

»Du wirst schon sehen.«

Die vergoldete Kuppel des State Hause glühte in der Morgensonne wie der brennende Dornbusch, verbreitete jedoch keine Wärme. Nach einer Weile nahm sie sein Hand in ihren Fäustling und führte ihn aus dem windigen Bostoner Common in die verhältnismäßig geschützte Joy Street.

»Wie weit noch?« sagte er, und sein Atem blies Frostwolken.

»Du wirst schon sehen«, sagte sie wieder.

Sie trug eine rote Skijacke und blaue Stretchhosen, die sich an das schmiegten, was er am Vorabend streichelnd als das reizendste Glutealgebiet bezeichnet hatte, das er je auf einem Operationstisch oder außerhalb davon gesehen hatte; und eine blaue Wollmütze mit einer weißen Quaste, an der er zupfte, als sie auf halbem Weg den Beacon Hill heruntergekommen waren, damit sie stehenbliebe.

»Ich rühre mich nicht von der Stelle. Keinen Schritt, bevor du mir nicht sagst, wohin wir gehen.«

»Bitte, Adam. Wir sind fast da.«

»Schwöre einen Sex-Eid.«

»Auf dein Ding.«

Sie gingen durch die Phillips Street bis zur Mitte des nächsten Häuserblocks und blieben vor einem vierstöckigen Wohnhaus mit zersprungenen Stuckwänden stehen. »Vorsicht, Stufen«, sagte sie und deutete auf den Eingang, der sehr tief lag.

»Selbstmörderisch«, murmelte er. Die Betonstufen waren mit sechs Zentimeter dickem, zerkratztem Eis bedeckt, über das sie sich vorsichtig bewegten. Unten nahm sie einen Schlüssel aus der Tasche und sperrte auf.

Das einzige Fenster ließ nur wenig Licht in das Zimmer.

»Warte einen Augenblick«, sagte sie hastig und drehte alle drei Lampen auf.

Es war ein Atelierraum. Die Tapete war mit einem Braun gestrichen, das für die geringe Beleuchtung zu dunkel war. Der Boden bestand aus ziegelfarbenen, stellenweise zersprungenen Asphaltplatten, von einer Staubschicht bedeckt. Eine ziemlich neue Couch stand da, die zweifellos in ein Bett verwandelt werden konnte, ein dickgepolsterter, mit verblichenem Damast bezogener Sessel und ein zweiter, der aus einer Garnitur geflochtener Verandamöbel stammte.

Sie zog ihre Fäustlinge aus und knabberte am Daumenknöchel, was sie immer tat, wenn sie sich in gespannter Erregung befand. »Nun, was meinst du?«

Er zog ihr die Hand vom Mund. »Was meine ich wozu?«

»Ich habe der Hausfrau gesagt, daß ich sie bis zehn Uhr wissen lasse, ob ich es miete.«

»Es ist ein Keller.«

»Ein Kellergeschoß.«

»Selbst der Boden ist schmutzig.«

»Ich werde ihn schrubben und wachsen, bis er glänzt.«

»Gaby, ist das dein Ernst? Es ist nicht so hübsch wie deine Wohnung in Cambridge. Bei weitem nicht.«

»Außer diesem Wohnschlafzimmer gibt es noch ein Badezimmer und eine Kochnische. Schau einmal.«

»Du kannst mir nicht erzählen, daß es Susan Haskell hier besser gefallen wird als in der anderen Wohnung.«

»Susan Haskell wird nicht hier wohnen.«

Er überlegte einen Augenblick. »Nein?«

»Wir werden hier wohnen. Du und ich.«

Sie standen da und sahen einander an. »Es kostet fünfundsiebzig Dollar monatlich. Ich glaube, es ist ein gutes Geschäft, Adam«, sagte sie.

»Oh, wirklich«, sagte er. »Stimmt.«

Er legte die Arme um sie.

»Gaby, bist du überzeugt, daß du das tatsächlich willst?«

»Fest überzeugt. Außer du willst es nicht.«

»Ich werde die Wände streichen«, sagte er nach einer Pause.

»Sie sind häßlich, aber die Wohnung ist phantastisch gelegen. Die Hochbahnstation ist nur ein paar Häuserblocks entfernt«, sagte sie. »Ebenso das Gefängnis in der Charles Street. Und die Hausfrau sagte mir, daß man von hier nur drei Minuten zu der Wohnung in der Bowdon Street braucht, wo Jack Kennedy wohnte.«

Er küßte sie auf die Wange und entdeckte, daß sie naß war. »Wie bequem«, sagte er.

Er hatte sehr wenig einzupacken. Er nahm seine Sachen aus der Kommode und steckte sie in die Reisetasche. Im Schrank hingen nur wenige Kleidungsstücke und lagen einige Bücher, die er in einen braunen Papiersack steckte, damit war die Sache erledigt. Das Zimmer sah genauso aus wie an dem Abend, als er eingezogen war. Nichts blieb von ihm in dieser kleinen Zelle zurück.

Spurgeon hatte Dienst in der Abteilung, und daher war niemand im sechsten Stock, von dem man sich verabschieden konnte.

Sie fuhren zu der Wohnung in Cambridge, und Susan Haskell half Gaby, ihre Sachen zu verpacken, während er den Inhalt zweier Bücherregale in Pappkartons verstaute.

Susan war sehr aufgeregt, behandelte Adam jedoch mit eisiger Höflichkeit.

»Der Plastikeimer gehört mir«, sagte Gaby schuldbewußt. »Ich habe zwar einen Haufen Vorräte und Sachen gekauft, vergaß aber, einen Eimer zu besorgen. Macht es dir etwas aus, wenn ich ihn mitnehme?«

»Natürlich nicht. Nimm, was du bezahlt hast, Dummes.«

»In einigen Tagen veranstalten wir ein Mittagessen«, sagte Gaby. »Ich rufe dich an.«

Sie schwiegen beide, als sie über die Harvard-Brücke und dann den Charles River entlang auf der Bostoner Seite fuhren. Der Himmel war aschgrau und ihre Stimmung gesunken, aber als sie in der Phillips Street eintrafen, brach das Ausladen den Bann.

Er führte zwar einen bewegten, halsbrecherischen Tanz auf den vereisten Stufen auf, als er die Sachen hineintrug, aber es gelang ihm, nicht zu stürzen. Als der letzte Karton auf dem Fußboden stand, hatte sie die Laden der Kommode mit einem Desinfektionsmittel ausgewischt und legte sie eben mit Butterbrotpapier aus. »Es ist nur die eine Kommode da«, sagte sie. »Ist es dir egal, in welche Laden ich deine Sachen lege?«

»Tu, was dir beliebt«, sagte er plötzlich fröhlich. »Ich will das Eis von den Stufen räumen.«

»Großartige Idee«, sagte sie und machte ihn stolz, daß er ein so verantwortungsbewußter Hausvater war.

Als er ins Haus zurückkam, erfroren, aber über Naturgewalten triumphierend, hinderte sie ihn daran, den Mantel auszuziehen.

»Wir brauchen Bettwäsche«, sagte sie.

Er ging zu Jordan, wo ihn die Frage bewegte, ob weiß oder bunt, glatt oder geschlungen. Schließlich entschied er sich für beige und geschlungen und kaufte vier Garnituren.

Als er die Tür öffnete, sah er sie auf allen vieren den Boden schrubben.

»Dicht an der Wand entlang, Liebling«, sagte sie. »Ich habe einen Streifen für dich ausgespart.«

Er ging rund um das Zimmer. »Kann ich sonst etwas tun?«

»Nun ja, die Böden im Klo und in der Kochnische müssen noch gewaschen werden«, sagte sie. »Du kannst sie schrubben, während ich hier den Boden wachse.«

»Ist das unbedingt nötig?« fragte er schwach.

»Wir können nicht in einer Wohnung leben, ohne sie erst zu säubern«, sagte sie entsetzt.

Daher nahm er den Plastikeimer, schüttete das gebrauchte Wasser weg, spülte ihn aus, bereitete eine neue Seifenlauge, ging ebenfalls in die Knie und schrubbte. Die Bö-den schienen zu wachsen, wenn man sich niederkniete, aber er sang bei der Arbeit.

Als er fertig war, war es draußen dunkel geworden, und sie waren beide hungrig. Er verließ sie, als sie gerade den Boden des Badezimmers wachste, und obwohl er stark schwitzte, überließ er es seinen Gummibeinen, ihn über die kalte, windige Nordseite des Beacon Hill zur Roastbeefbude neben dem Gefängnis von Charles Street zu tragen, wo er Sandwiches und Limonade bestellte und das deutliche Gefühl hatte, der Mann hinter dem Ladentisch sei überzeugt, er bringe das Essen einem Gefangenen.

Als sie gegessen hatten, wäre er am liebsten tot ins Bett gefallen, aber sie bat ihn, die Schränke in der Kochnische auszuwaschen, während sie die Kästchen und Armaturen im Badezimmer reinigte.

Diesmal sang er nicht. Als es gegen das Ende zuging, arbeiteten beide nur noch mechanisch und verbissen. Sie war zuerst fertig, und während sie duschte, wartete er im Rohrstuhl, zu müde, um etwas anderes zu tun, als zu atmen. Als sie in ihrem Bademantel herauskam, ging er hinein und ließ sich von dem schönen heißen Sprühregen durchweichen, der jedoch schnell kühler wurde, so daß er einen Wettlauf mit der sinkenden Temperatur veranstalten mußte und sich im Bruchteil einer Sekunde einseifte und abspülte, bevor das Wasser unerträglich kalt wurde.

Sie hatte die Couch geöffnet, das Bett gemacht, lag in einem blauen Nachthemd da, las eine Zeitschrift und zeichnete Rezepte an, die ihr gefielen.

»Das ist ein miserables Licht. Du wirst dir die Augen ruinieren«, sagte er.

»Warum löschst du es nicht aus?«

Er drehte der Reihe nach die drei Lampen mit den schwachen Birnen aus und stolperte auf dem Rückweg im

Finstern über ihre Schuhe. Vorsichtig ließ er sich neben sie ins Bett gleiten, unterdrückte ein Stöhnen, weil seine Muskeln bereits schrecklich steif geworden waren, und hatte sich ihr gerade zugewandt, als irgendwo eine Frau kreischte; es war ein langgezogener, entsetzter Schrei, dem ein dumpfer Schlag irgendwo vor ihrer Wohnungstür im Kellergeschoß folgte.

»Mein Gott!«

Er sprang aus dem Bett. »Wo hast du meine Arzttasche hingetan?«

»In den Schrank.«

Sie lief, reichte sie ihm, er fuhr mit den bloßen Füßen in die Schuhe, mit den Armen in seinen Bademantel und stürzte hinaus.

Es war sehr kalt, und er konnte nichts sehen. Irgendwo oben kreischte die Frau wieder. Er stürzte die Haupttreppe hinauf, die in die oberen Stockwerke führte, und als er in die Halle kam, öffnete sich die Tür der Wohnung Nr. 1 und eine Frau schaute heraus.

»Ja?«

»Wir haben etwas gehört. Wissen Sie, was das war?«

»Ich habe nichts gehört. Wer sind Sie?«

»Ich bin Dr. Silverstone. Wir sind eben eingezogen. Unten.«

»Oh, ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Die Tür öffnete sich weiter und enthüllte einen kleinen untersetzten Körper, angegrautes Haar, ein rundes schlaffes Gesicht mit einem leichten Bartanflug auf der Oberlippe. »Ich bin Mrs. Walters. Die Hausfrau. Ihre Gattin ist eine reizende kleine Frau.«

»Danke«, sagte er; die Frau oben kreischte wieder.

»Das«, sagte er.

»Oh, das ist nur Bertha Krol«, sagte die Frau.

»Oh. Bertha Krol.«

»Ja. Lassen Sie sich nicht durch sie stören. Sie hört von selbst wieder auf.« Sie sah ihn an, wie er, bloßfüßig in den Schuhen, in dem aufgekrempelten Pyjama und in dem alten Bademantel dastand, die Arzttasche in der Hand, und ihre Schultern begannen zu zucken.

»Gute Nacht«, sagte er steif.

Als er die erste Treppenflucht der Vorderstiege hinunterging, plumpste etwas nach unten, und mit einem dumpfen Schlag zerplatzte der zweite Sack mit Müll mitten auf der Straße. Verblüfft sah er nun im Licht der Straßenlampe den unsauberen Inhalt des ersten Sacks, den sie vor wenigen Minuten auf die Straße hatten fallen gehört. Er blickte rechtzeitig hoch, um oben im Fenster einen Kopf zurückzucken zu sehen.

»Das ist ja fürchterlich!« rief er. »Hören Sie auf damit, Bertha Krol!«

Etwas pfiff an seinem Kopf vorbei und klirrte auf die Stufen.

Eine Bierdose.

Drinnen saß Gaby verängstigt im Sessel. »Was war es?« fragte sie.

»Nur Bertha Krol. Die Hausfrau sagt, sie hört von selbst wieder auf.«

Er stellte die Arzttasche in den Wandschrank zurück, löschte die Lichter aus, warf den Bademantel ab, stieg aus den Schuhen, und sie gingen wieder zu Bett.

»Adam?«

»Was?«

»Ich bin erschöpft«, sagte sie mit einer kleinen Stimme.

»Ich auch«, sagte er erleichtert. »Außerdem steif und wund.«

»Morgen hole ich irgendein Einreibmittel und reibe dich ein«, sagte sie.

»Mmmm. Gute Nacht, Gaby.«

»Gute Nacht, Adam-Liebling.«

Oben heulte die Frau. Draußen klapperte wieder eine Dose auf das eisige Pflaster. Neben ihm fröstelte sie leicht, und er drehte sich herum und legte seinen Arm um ihre Schultern.

Nach einer Weile spürte er, wie es sie unter seinem Arm genauso schüttelte, wie es die Hausfrau geschüttelt hatte, er konnte jedoch nicht sagen, ob vor Kummer oder Heiterkeit.

»Was ist denn los?« fragte er sanft.

»Ich bin so entsetzlich müde. Und ich denke ständig, so also ist das, wenn man ein gefallenes Mädchen ist.«

Er lachte mit ihr, obwohl es ihm an allen möglichen Stellen wehtat.

Ein kleiner kalter Fuß fand seinen Weg in seinen Spann. Oben jammerte die Frau - betrunken oder geistesgestört? - nicht mehr. Gelegentlich fuhr draußen ein Wagen vorbei, das Eis und Mrs. Krols Mist zermalmend, und ließ kurz aufflammende Schattenbilder über die Wand flitzen. Ihre Hand kam und fiel leicht und warm auf seinen Schenkel. Sie schlief, und er entdeckte, daß sie schnarchte, fand jedoch, daß das leise, rhythmische Zischen musikalisch und anziehend war, Gurren von Tauben in uralten Ulmen und Summen zahlloser Bienen. Ein Geräusch, das er bereits sehr lieb hatte.

Am Morgen wachten sie früh auf, und trotz großer Muskel- und Knochenschmerzen liebten sie einander voll Entzücken unter der Schicht dicker Decken in dem stillen, kalten Zimmer, und weil es in den Küchenschränken noch nichts zu essen gab, zogen sie sich an und gingen den Berg hinunter, der in der Nacht von weichem, weißem Schnee bedeckt worden war, und frühstückten ausgiebig in einer Cafeteria in der Charles Street.

Sie ging mit ihm zur Hochbahnstation, küßte ihn zum Abschied für die nächsten sechsunddreißig Stunden, und sie konnten ihre Freude einander vom Gesicht ablesen; aber keiner von ihnen versuchte, es in Worte zu fassen, vielleicht aus Angst es dadurch zu zerstören.

Sie ging zum Supermarkt und kaufte ein, wobei sie sehr sparsam und vernünftig zu sein versuchte, weil er einen Komplex hatte, was ihr Leben von seinem Krankenhausscheck betraf; sie wußte, er würde nicht weit reichen, wenn sie mit ihrer üblichen Sorglosigkeit Geld ausgab.

Aber als sie die reifen Avocados sah, konnte sie nicht widerstehen und kaufte zwei. Trotz ihrer Vorsicht und der Tatsache, daß sie nur zu zweit waren, kaufte sie Vorräte, um den leeren Küchenschrank zu füllen; schließlich waren es fünf volle Papiersäcke. Sie überlegte, ob sie den Wagen holen sollte, fragte dann aber den Geschäftsführer, ob sie sich einen Einkaufswagen leihen dürfe. In der Regel war es verboten, aber er war so überwältigt, daß sie sich die Mühe genommen hatte zu fragen. Er half ihr sogar, die Bündel aufzuladen. Zunächst schien es eine gute Lösung, bis sie das Ding den Berg hinaufzuschieben begann. Die Stahlräder waren für den Schnee zu glatt. Sie glitten aus und rutschten, und sie auch.

Ein farbiges Mädchen mit einem grauen Streifen im Haar kam ihr aus dem Nichts zu Hilfe. »Schieben Sie auf der einen und ich auf der anderen Seite«, sagte sie.

»Danke«, keuchte Gaby. Zusammen gelang es ihnen, die Phillips Street zu erreichen. »Sie haben mir das Leben gerettet! Kommen Sie auf eine Tasse Tee herein?«

»Gern«, sagte das Mädchen.

Sie trugen die Lebensmittel hinein, zogen die Mäntel aus und ließen sie auf die Couch fallen. Das Mädchen trug verschossene Blue jeans und ein altes Baumwollhemd. Sie hatte hohe Backenknochen und eine reizende samtbraune Haut. Sie sah aus wie siebzehn. »Wie heißen Sie?« fragte sie.

»Oh, Verzeihung. Ich bin Gabrielle -« Sie unterbrach sich, weil sie nicht wußte, sollte sie Pender oder Silverstone sagen.

Das Mädchen schien es nicht zu merken. »Ein sehr hübscher Name.«

»Und wie heißen Sie?«

»Janet.«

Gaby stand auf Zehenspitzen, um die Teekanne herunterzuholen. »Doch nicht Dorothys Janet?«

»Ich habe eine Schwester, die Dorothy heißt.«

»Aber das ist ja meine Freundin!«

»Oh?« sagte das Mädchen fast teilnahmslos.

Gaby braute zum erstenmal Tee in der Kochnische und öffnete ein Päckchen Kekse, sie tranken Tee und aßen ein paar Kekse und plauderten. Janet wohnte in der Joy Street. »Der Name war einer der Gründe, warum wir dort einzogen. In dieses riesengroße Haus.«

Gaby lachte. »Das klingt ja ungeheuer groß.«

»Ist es auch.«

»Wie viele Zimmer?«

»Ich habe sie nie gezählt. Achtzehn, vielleicht zwanzig. Wir brauchen Platz. Ich lebe in einer ungewöhnlich großen Familie.«

»Wie viele Leute?«

Sie zuckte die Achseln. »Das ist verschieden. Manchmal gehen welche weg, andere kommen und bleiben. Ich weiß nicht, wie viele wir gerade jetzt sind. Eine ganze Menge.«

»Oh«, sagte Gaby und verstand.

»Es funktioniert recht gut«, sagte Janet und nahm noch ein Keks. »Jeder tut einfach das Seine.«

»Was zum Beispiel?«

»Sie wissen schon, Poster machen. Oder Blumen, oder Sandalen. Alles, was gefragt ist«.

»Was tun Sie?«

»Ich treibe Essen auf. Ich bin ein Digger. Ich geh' aus und bring' Essen heim.«

»Wo bekommen Sie das?«

»Oh, überall. Auf den Märkten und in Bäckereien. Man gibt uns altbackenes Zeug und verdorbenes Gemüse und so Sachen. Sie würden staunen, wieviel Brauchbares übrigbleibt, wenn man die verdorbenen Teile wegschneidet. Und die Leute hier in der Gegend schenken uns Sachen. Es gibt noch fünf andere Digger in meiner Familie. Wir kommen prima zurecht.«

»Ich verstehe«, sagte Gaby schwach. Nach einer Weile nahm sie die Tassen und stellte sie in das Spülbecken in der Kochnische.

»Ich bringe lieber den Karren zurück«, sagte sie.

»Ich bringe ihn zurück. Ich gehe sowieso dorthin.«

»O nein, wirklich ...«

»Trauen Sie mir nicht?«

»Aber natürlich traue ich Ihnen.«

»Schön, dann tu' ich's.«

Gaby ging in die Kochnische und steckte ein Glas Erdnußbutter, zwei Gläser Jam, einen Brotlaib und - warum eigentlich? - eine der Avocados in einen Sack. »Darf ich Ihnen das hier schenken?« fragte sie das Mädchen und schämte sich aus einem ihr unverständlichen Grund.

Janet zuckte gleichgültig die Achseln. »Sie haben eine Menge Bücher«, sagte sie und wies auf die auf dem Fußboden aufgestapelten Bände. »Orangenkisten ergeben großartige Bücherborde. In verschiedenen Farben gestrichen.« Sie winkte mit der Hand und ging. Als sie fort war, wirkte die Wohnung still und verlassen.

Gaby räumte ihre Einkäufe weg, wobei ihr einfiel, daß sie jetzt noch einmal um Erdnußbutter, Jam und Brot den Berg hinuntergehen mußte. Sie schnitt zwei Streifen Klebeband ab, tippte »Gabrielle Pender« auf das eine und »Dr. med. Adam R. Silverstone« auf das andere und klebte sie dann beide draußen auf den verrosteten schwarzmetallenen Briefkasten.

Im Supermarkt ersetzte sie die Sachen, die sie dem Dig-germädchen gegeben hatte, bat impulsiv um Orangenkisten und bekam sechs. Sie füllten den Plymouth aus. Auf dem Heimweg hielt sie bei der Eisenwarenhandlung an und kaufte zwei Pinsel, Farbverdünner und Dosen mit schwarzer, orange und weißer Emailfarbe.

Der Rest des Tages wurde dem geplanten Unternehmen gewidmet. Sie breitete die Morgenzeitung auf dem Boden aus und arbeitete peinlich genau ohne Unterbrechung und strich je zwei Kistchen in einer Farbe; sie wollte, daß sie gut ausfielen, damit sie Adam überraschen konnte. Als alle sechs Kistchen gestrichen waren, reinigte sie die Pinsel und räumte sie samt den Farbdosen unter das Spülbecken, duschte lange und stieg in den Pyjama. Sie war nicht ganz glücklich über die Einordnung ihrer Sachen in den Kommodeladen; jetzt nahm sie die Hälfte von Adams Sachen aus seinem und die Hälfte ihrer aus ihrem Fach und vertauschte sie, bis alle Fächer gemischt waren, seine Socken sich an ihre Strümpfe schmiegten, ihre Höschen ordentlich aufgestapelt neben seinen kurzen Unterhosen lagen. Unter ihre Blusen und neben seine Hemden steckte sie die kleine runde Schachtel aus imitiertem Perlmutter mit den Pillen, den Glückssteinen ihrer Beziehung, den magischen Tränken, die ihnen ihr illegitimes Zusammenleben erlaubten.

Sie studierte bis zehn Uhr, versperrte dann die Tür, legte die Kette vor, nahm eine der gräßlichen kleinen Pillen, drehte die Lichter ab und ging zu Bett.

In der Dunkelheit liegen war das Einsamste, das es gab, entschied sie nach einer Weile.

Die Wohnung roch stark nach Farbe. Mrs. Krol kreischte dreimal, war aber anscheinend nicht ganz bei der Sache und schmiß auch nichts aus dem Fenster auf die Straße. Aus der Richtung des Massachusetts General stöhnte eine Ambulanzsirene, und sie fühlte sich Adam nahe. Wenn Autos auf der Phillips Street vorbeifuhren, malten ihre Scheinwerfer weiterhin Ungeheuer, die einander von den Wänden jagten.

Sie hatte zu dösen begonnen, als jemand klopfte.

Sie sprang aus dem Bett, stand im Finstern hinter der Tür und öffnete sie nur den Spalt, den die kleine Kette zuließ.

»Wer ist da?«

»Janet schickt mich.«

Im Licht der Straßenlampe konnte sie durch den Spalt einen Mann sehen, nein, einen Burschen. Einen großen Burschen mit langem blondem Haar, das in dem trüben Licht fast die Farbe von Janets Haar hatte.

»Was wollen Sie?«

»Sie schickt etwas.« Er streckte ihr ein formloses Bündel entgegen.

»Können Sie es vor die Tür legen? Ich bin nicht angezogen.«

»Gut«, sagte er heiter. Er legte es nieder, und sein bärenhafter Schatten hüpfte weg. Sie zog ihren Bademantel an, drehte alle Lichter an und wartete lange, bis sie Mut gefaßt hatte, dann schob sie rasch die Kette zurück, packte das Bündel, warf die Tür zu, versperrte sie und saß klopfenden Herzens auf dem Bett. In eine lose Hülle aus altem Zeitungspapier war ein großer Strauß bunter Papierblumen eingewickelt. Große Blüten, schwarz, gelb und orange schattiert. Genau die richtigen Farben.

Sie ging ins Bett zurück, ließ das Licht brennen, lag da und blickte weniger ängstlich in das Zimmer. Schließlich hörte sie auf, sich einzubilden, daß sich jemand an ihrer Tür zu schaffen machte, schlief bald nachher ein, zum erstenmal mit dem Gefühl, im eigenen Heim zu sein.

13

RAFAEL MEOMARTINO

Als Meomartino ein kleiner Junge war, begleitete er Leo, das Familienfaktotum, regelmäßig zur Sankt-Raphaelska-pelle, einer kleinen weißgekalkten Kirche mitten in den Zuckerrohrfeldern seines Vaters; dort legte ihm Vater Ignacio die kühle Oblate auf die Zunge, ein guajiro-Arbei-terpriester mit schlechtem Mundgeruch, dem er regelmäßig die Sünden seiner frühen Jugend beichtete, und von dem er die milden respektvollen Strafen für Privilegierte erhielt.

Ich hatte böse Gedanken, Vater.

Fünf Ave Maria und fünf Bußgebete, mein Sohn.

Ich habe meinen Körper mißbraucht, Vater.

Fünf Ave Maria und fünf Bußgebete. Kämpfe gegen die Schwäche des Fleisches, mein Sohn.

Bei Hochzeiten und Begräbnissen war die Familie an den Prunk der Kathedrale in Havanna gewöhnt, aber zu den gewöhnlichen Gelegenheiten fühlte sich Rafe in der kleinen Kirche zu Hause, die am Tage seiner Geburt von den Arbeitstrupps seines Vaters erbaut worden war. Wenn er in dem dunklen feuchten Inneren vor der Gipsstatue seines Schutzheiligen kniete, verrichtete er seine Buße und bat dann den Erzengel um Fürsprache gegen einen tyrannischen Lehrer, ihm Latein lernen zu helfen, ihn vor Guil-lermo zu schützen.

Als Rafe jetzt Schenkel an Schenkel mit seiner schlafenden Frau lag, der er vor einer Stunde kalte, verzweifelte Liebe geschenkt hatte, dachte er an den heiligen Raphael und wünschte brennend, wieder zwölf Jahre alt zu sein.

In Harvard hatte er seinen Glauben aufgegeben. Es war lange her, daß er gebeichtet hatte, Jahre, seit er mit einem Priester aufrichtig gesprochen hatte.

Heiliger Raphael, betete er in das dunkle Zimmer. Zeig mir, wie ich ihr helfen kann.

Hilf mir zu sehen, wo ich sie im Stich gelassen habe, warum ich ihren Durst nicht stillen kann, warum sie zu anderen Männern geht.

Silverstone, dachte er.

Er war ein besserer Mann und ein besserer Chirurg als Silverstone, und dennoch bedrohte Silverstone seine Existenz auf beiden Gebieten.

Er lächelte freudlos und dachte, daß Longwood sichtlich entschieden hatte, es gäbe schlimmere Dinge als einen Kubaner in der Familie. Der Alte war beim Anblick von Liz und Silverstone entsetzt gewesen. Seit jener Nacht war er Rafe gegenüber fast herzlich und freundlich gewesen, als versuchte er anzudeuten, daß er wußte, wie schwierig seine Nichte war.

Jetzt aber setzte ihn Longwood täglich stärker unter Druck, um sicherzustellen, daß er, und nicht Silverstone, die Dozentur bekam.

Meomartino quälte sich mit Zweifeln an sich selbst.

Heiliger Raphael, sagte er. Bin ich nicht Mann genug? Ich bin Arzt. Ich weiß doch, daß sie, sowie wir miteinander fertig sind, befriedigt ist.

Zeige mir, was ich tun muß. Ich verspreche, daß ich beichten gehe, kommuniziere, daß ich wieder ein echter Katholik werde.

Es war still in dem dunklen Zimmer, bis auf das Geräusch ihres tiefen Atmens.

Er erinnerte sich, daß er trotz all seinem Knien vor der Statue in Latein durchgefallen, daß sein Körper von Guil-lermo gewöhnlich grün und blau geschlagen worden war, bis er stark genug war, um seinen älteren Bruder zu besiegen.

Der heilige Raphael hatte auch damals nicht geholfen.

Am Morgen ging er mit müden Augen ins Krankenhaus und kämpfte sich durch die frühen Stunden. Seine Stimmung war schon schlecht, als er die Hausärzte durch die Morgenvisite führte, und sie besserte sich nicht, als er James Roche erreichte, einen neunundsechzigjährigen Herrn mit vorgeschrittenem Dickdarmkrebs, der für den nächsten Morgen sehr früh zur Operation eingeteilt war.

Während Schwestern und Diätspezialisten mit Tabletts durch die Höhlen der Abteilung eilten, umriß Meomartino den Fall, mit dem die meisten Hausärzte schon vertraut waren, und wollte eben einige Lehrfragen stellen.

Aber er hörte mitten im Satz zu sprechen auf.

»Cristos, ich kann es nicht glauben.«

Mr. Roche aß eben sein Mittagessen. Auf seinem Teller lagen Huhn, Kartoffeln, grüne Bohnen.

»Dr. Robinson, wieso ißt dieser Mann das hier?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Spurgeon. »Die Anordnung, seine Diät zu ändern, steht im Buch. Ich habe sie selbst eingetragen.«

»Bitte geben Sie mir das Auftragsbuch.«

Als er es öffnete, stand tatsächlich die Anordnung drinnen, in Robinsons sauberer, beherrschter Handschrift, aber es besänftigte seinen Zorn nicht.

»Mr. Roche, was hatten Sie zum Frühstück?« fragte er.

»Übliches Frühstück. Obstsaft, ein Ei, Haferflocken. Und ein Glas Milch.«

»Streichen Sie seinen Namen vom Operationsprogramm«, sagte Meomartino. »Setzen Sie ihn für übermorgen an, verdammt.«

»Oh, und Toast auch«, sagte der Patient.

Meomartino sah die Hausärzte an. »Können Sie sich vorstellen, was geschehen wäre, wenn wir den Dickdarm beim Vorhandensein dieses kompakten Stuhls aufgemacht hätten? Können Sie sich vorstellen, durch einen solchen Mist hindurch Blutgefäße abzuklemmen? Können Sie sich das Übermaß an Infektionsmöglichkeiten vorstellen? Nein, wahrscheinlich können Sie es erst, wenn Sie es selbst erlebt haben.«

»Doktor«, sagte der Patient ängstlich, »soll ich den Rest stehenlassen?«

»Sie lassen sich Ihr Huhn jetzt gut schmecken«, sagte er. »Morgen früh werden Sie die Diät bekommen, die Sie heute hätten bekommen sollen, eine flüssige Diät. Wenn irgend jemand versucht, Ihnen morgen etwas Festeres als Gelee zu geben, essen Sie es nicht und lassen Sie mich sofort holen, comprende?«

Der Mann nickte.

Seltsamerweise wußte keine der Schwestern, wer Mr. Roche das Frühstück und Mittagessen serviert hatte.

Zwanzig Minuten später saß Meomartino in seinem Büro. Er bereitete eine Dienstbeschwerde gegen die unbekannte Schwester vor, welche die beiden Tabletts ser-viert hatte, und unterzeichnete sie mit einem zornigen Gekritzel.

Nachmittags kam ein Anruf von Longwood.

»Ich bin durchaus nicht glücklich über die Zahl der Bewilligungsscheine für Obduktionen, die Sie abgeliefert haben.«

»Ich habe mein Bestes getan«, sagte er.

»Surgical Fellows an anderen Stationen haben doppelt soviele Bewilligungen erhalten wie Sie.«

»Vielleicht gab es auf ihren Stationen mehr Todesfälle.«

»An unserer eigenen Abteilung hat ein anderer Chirurg in diesem Jahr weitaus mehr Bewilligungen bekommen als Sie.«

Er brauchte Longwood nicht nach dem Namen des Chirurgen zu fragen. »Ich werde mir in Zukunft größere Mühe geben«, sagte er.

Kurz darauf kam Harry Lee ins Büro.

»Ich habe soeben eins aufs Dach gekriegt, Harry. Dr. Longwood will mehr Obduktionsbewilligungen von mir haben. Ich werde diesen Anschnauzer an jeden Hausarzt weitergeben, der an einem meiner Fälle arbeitet.«

»Wir sind nicht jedesmal, wenn wir einen Patienten verloren haben, vor der Familie auf die Knie gefallen«, sagte der chinesische Facharztanwärter. »Das wissen Sie selbst. Wenn sie einer Obduktion zugestimmt haben, dann haben wir ihre Unterschriften bekommen. Wenn sie triftige persönliche Gründe für die Ablehnung haben ...« Er zuckte die Achseln.

»Longwood wies darauf hin, daß Adam Silverstone viel mehr Zustimmungen eingebracht hat, als ich.«

»Ich wußte nicht, daß Sie beide miteinander im Wettstreit liegen.« Lee sah ihn neugierig an.

»Jetzt wissen Sie es.«

»Jetzt weiß ich es. Soll ich Ihnen verraten, wie einige Stationen die Bewilligungen bekommen?«

Rafe wartete.

»Sie treiben den Hinterbliebenen den Widerstand mit Angst aus, deuten an, daß die ganze Familie den Keim zu irgendeiner geheimnisvollen Krankheit in sich tragen könnte, die auch den Patienten tötete, und daß durch eine Obduktion der Chirurg nur ihr Leben retten will.«

»Das ist ekelhaft.«

»Stimmt. Wollen Sie, daß auch wir damit anfangen?«

Rafe sah ihn an und lächelte. »Nein, tun Sie einfach nur Ihr Möglichstes. Wie viele Bewilligungsscheine haben wir letzten Monat eingereicht?«

»Keinen«, sagte Lee.

»Verdammt.«

»Wir konnten nicht gut Obduktionsbewilligungen bekommen«, sagte Lee milde.

»Warum zum Teufel nicht?«

»Weil wir letzten Monat auf der Station keinen Patienten verloren haben.«

Ich will mich nicht entschuldigen, dachte er. »Das bedeutet, daß ich euch allen ein Fest schulde.«

Lee nickte. »Sie oder Silverstone.«

»Ich werde es geben«, sagte Meomartino. »Ich habe eine Privatwohnung.«

»Adam hat jetzt auch eine Wohnung, soviel ich höre«, sagte Lee. »Zumindest wohnt er nicht mehr im Krankenhaus.«

Dort also geht Liz hin, dachte Meomartino betäubt.

Lee lächelte. »Une necessite d'amour, vielleicht. Selbst auf Formosa hatten wir solche Arrangements.«

Zu seinem Ärger merkte Meomartino, daß er wieder die Engel auf der Taschenuhr mit dem Daumenballen rieb.

»Sie können die Nachricht verbreiten«, sagte er. »Das Fest findet bei mir statt.«

Liz war entzückt.

»Oh, ich liebe Feste. Ich werde die Gastgeberin sein, die dir Onkel Harlands Stellung einträgt, wenn er in Pension geht«, sagte sie, zog die langen Beine auf die Couch und füllte einen Schmierblock mit einer Liste alles dessen, worum man sich kümmern mußte, Schnaps, Canapes, Blumen, Servierhilfe .

Er erinnerte sich plötzlich voll Unbehagen, daß die meisten Leute auf der Station nicht an große Blumenrechnungen oder Dienstbotengehälter gewöhnt waren, wenn sie einander bewirteten.

»Wir wollen es ganz einfach machen«, sagte er. Sie schlossen einen Kompromiß: nur einen Barmann und Helga, die Frau, die für sie regelmäßig stundenweise arbeitete.

»Liz«, sagte er, »ich wäre dir dankbar, wenn du nicht .«

»Ich werde keinen Tropfen trinken.«

»Das ist nicht nötig. Nur übertreib es nicht.«

»Keinen Tropfen. Laß mich dir beweisen, daß ich es kann«, sagte sie.

Der Waffenstillstand mit dem Tod war nicht von Dauer. Am Freitag, dem Tag vor dem Fest, bekam Melanie Bergstrom eine Lungenentzündung. Angesichts einer rasch steigenden Temperatur und der Tatsache, daß beide Lun-gen betroffen waren, pumpte sie Kender mit Antibiotika voll.

Peggy Weld saß neben dem Bett ihrer Schwester und hielt ihre Hand unter dem Rand des Sauerstoffzeltes. Meomartino fand Ausreden, um ins Zimmer zu kommen, aber Peggy interessierte sich nicht für ihn. Ihr Augen waren auf das Gesicht ihrer Schwester geheftet. Er hörte nur einmal ein Gespräch.

»Durchhalten, Baby«, befahl Peggy.

Melanie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die durch ihr mühsames Atmen ausgetrocknet waren. »Du wirst dich um sie kümmern?«

Der Sauerstoff zischte laut.

»Was?«

»Ted und die Mädchen.«

»Hör zu«, fauchte Peggy. »Ich habe dein ganzes Leben lang deine Dreckarbeit gemacht. Du wirst dich selbst um sie kümmern.«

Melanie lächelte. »Ah, Peg.«

»Du wirst jetzt nicht nachgeben!«

Aber am frühen Morgen starb sie in der Abteilung für Intensivpflege.

Joan Anderson, die kleine blonde Lernschwester, entdeckte es.

Joan war ruhig und diszipliniert, aber nachdem sie Meomartino die Meldung gemacht hatte, begann sie zu zittern.

»Schicken Sie sie heim«, sagte er zu Miss Fultz.

Aber die Oberschwester hatte hundert junge Mädchen erlebt, die plötzlich vor der Realität des Todes gestanden waren. Für den Rest des Tages teilte sie Miss Anderson den unangenehmsten Patienten der Abteilung zu, Männern und Frauen, die überflossen von Verbitterung und Selbstmitleid.

Meomartino wartete auf Peggy Weld, als sie ins Krankenhaus kam.

»Hallo«, sagte er.

»Guten Morgen. Wissen Sie, wie es meiner Schwester geht?«

»Setzen Sie sich einen Augenblick und plaudern wir miteinander.«

»Es ist vorbei, nicht?« sagte sie leise.

»Ja«, sagte er.

»Arme Mellie.« Sie wandte sich zum Gehen.

»Peg«, sagte er, aber sie schüttelte den Kopf, ging weiter und verließ das Krankenhaus.

Einige Stunden später kam sie zurück, um die Sachen ihrer Schwester abzuholen. Sie war blaß, hatte jedoch trok-kene Augen, was ihn bekümmerte. Er hatte das Gefühl, daß sie eine Frau war, die warten würde, bis sie völlig allein war, und wenn es Wochen dauern sollte, dann aber einen hysterischen Anfall bekommen würde.

»Fühlen Sie sich wohl?« fragte er.

»Ja. Ich bin nur spazierengegangen.«

Sie saßen schweigend eine Weile da.

»Sie hat es besser verdient«, sagte sie. »Wirklich. Sie hätten sie kennen sollen, als sie gesund war.«

»Ja. - Was werden Sie jetzt tun?« fragte er sanft.

Sie zuckte die Achseln. »Das einzige, das ich kann. Nach ... allem ... werde ich meinen Agenten anrufen und ihm sagen, daß ich wieder einsatzfähig bin.«

»Das ist gut«, sagte er, und die Erleichterung war nicht zu überhören.

Sie sah ihn neugierig an. »Was soll das heißen?«

»Verzeihung, aber ich habe ein Gespräch mit angehört .«

Sie sah ihn an und lächelte wehmütig. »Meine Schwester war sehr unpraktisch. Mein Schwager möchte mich nicht einmal auf einem Silbertablett präsentiert haben«, sagte sie. »Er glaubt, ich sei ein lockeres Dämchen. Um die Wahrheit zu sagen, ich kann den ekelhaften Spießer nicht ausstehen.«

Sie stand auf und streckte ihm die Hand hin. »Leben Sie wohl, Rafe Meomartino«, sagte sie, ohne den Versuch, ihr Bedauern zu verbergen.

Er nahm ihre Hand und dachte, wie sinnlos Menschenleben einander überkreuzen, und fragte sich, was geschehen wäre, wenn er diese Frau vor jener Nacht getroffen hätte, als Liz einen betrunkenen Fremden aus dem Regen zu sich genommen hatte.

»Leben Sie wohl, Peggy Weld«, sagte er und ließ ihre Hand los.

Nachmittags traten die Stationsärzte in Abwesenheit Dr. Longwoods und mit Dr. Kender als Vorsitzenden zur Exituskonferenz zusammen und widmeten die ganze Sitzung dem Fall Melanie Bergstrom.

Dr. Kender stellte sich ohne Umschweife dem Thema und schrieb den Tod der Infektionsempfänglichkeit zu, die durch die Anwendung von zu hohen Dosen unterdrückender Medikamente hervorgerufen worden war. »Dr. Silverstone schlug Dosierungen von 100 mg vor«, sagte er. »Ich entschied mich für 130 mg.«

»Hätte sich Ihrer Meinung nach eine Lungenentzündung auch dann ergeben, wenn Sie ihr die von Dr. Silverstone vorgeschlagenen 100-mg-Dosierungen gegeben hätten?« fragte Dr. Sack.

»Wahrscheinlich nicht«, sagte Kender. »Aber ich bin ziemlich sicher, daß sie mit nur 100 mg das übertragene Organ abgestoßen hätte. Dr. Silverstone hat die Tierexperimente durchgeführt, und er wird Ihnen bestätigen, daß es nicht einfach so ist, daß x Einheiten des Körpergewichts y Einheiten des Medikaments verlangen. Es kommen andere Faktoren hinzu - der Lebenswille der Patientin, die Stärke ihres Herzens, der ihr innewohnende Widerstand gegen Krankheit, zweifellos noch andere Dinge, die wir nicht einmal ahnen.«

»Welchen Weg schlagen Sie jetzt ein, Doktor?« fragte Sack.

Kender zuckte die Achseln. »Es gibt eine Substanz, gewonnen aus Pferden, denen man zermahlene Lymphknoten aus menschlichen Leichen injiziert hat. Sie heißt Anti-Lymphocytenserum, abgekürzt ALS. Bisherigen Berichten zufolge ist es in Fällen wie diesem sehr wirksam. Wir werden mit den Tierexperimenten beginnen.«

»Dr. Kender.« Es war Miriam Parkhurst. »Wann gedenken Sie Harland Longwood eine Niere einzusetzen?«

»Wir suchen einen Spender«, sagte Kender. »Seine Blutgruppe ist B-negativ. Spender an sich schon sind rar, dazu noch die Komplikation einer seltenen Blutgruppe .« Er schüttelte den Kopf.

»Ein verdammtes Hindernis«, sagte Joel Sack. »Kaum zwei von hundert Spendern, die in unsere Blutbank kommen, sind B-negativ.«

»Haben Sie die anderen Krankenhäuser verständigt, daß wir einen B-negativen suchen?« fragte Miriam.

Kender nickte. »Es gibt noch etwas, das Sie alle wissen sollten«, sagte er. »Wir sind zwar imstande, Dr. Longwoods körperliche Verfassung am Blutwäscheapparat zu erhalten. Aber er ist emotional für die Behand-lung ungeeignet. Aus psychischen Gründen kann er nicht länger auf Dialyse gehalten werden.«

»Das meine ich ja«, sagte Miriam Parkhurst. »Wir müssen etwas unternehmen. Einige von uns kennen diesen Mann - diesen großen Chirurgen - seit Jahren als Freund und Lehrer.«

»Dr. Parkhurst«, sagte Kender sanft, »wir tun, was möglich ist. Keiner von uns kann Wunder vollbringen.« Offensichtlich entschlossen, zum eigentlichen Thema der Sitzung zurückzukehren, wandte er sich an Joel Sack. »Ist die Obduktion Bergstrom schon durchgeführt?«

Dr. Sack schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Einwilligung für die Autopsie erhalten.«

»Ich habe mit Mr. Bergstrom gesprochen«, sagte Adam Silverstone. »Er weigert sich, eine Obduktion in Betracht zu ziehen.«

Kender runzelte die Stirn. »Glauben Sie, daß seine Entscheidung endgültig ist?«

»Ja«, sagte Silverstone.

»Ich möchte versuchen, seinen Entschluß zu ändern«, sagte Meomartino plötzlich.

Sie starrten ihn an.

»Das heißt, falls Dr. Silverstone nichts dagegen hat.«

»Sicherlich nicht. Ich halte es nicht für wahrscheinlich, daß er das Dokument unterzeichnet, aber wenn Sie es versuchen wollen .«

»Es kann nichts schaden«, sagte Kender und warf Meo-martino einen beifälligen Blick zu. Er sah die versammelten Chirurgen an. »Solange wir nicht die Ergebnisse einer Obduktion haben, ist es sinnlos, in diesem Fall abzustimmen. Aber es scheint auf der Hand zu liegen, daß bei unserem gegenwärtigen Wissensstand über das Abstoßungsphänomen dieser Tod unvermeidlich war.« Er schwieg wegen möglicher Einwände, und als er die allgemeine Zustimmung spürte, nickte er zum Zeichen, daß die Sitzung zu Ende war.

Meomartino rief von seinem Büro aus an.

»Hallo?« sagte Ted Bergstrom.

»Mr. Bergstrom? Hier spricht Dr. Meomartino vom Krankenhaus.«

»Was ist?« fragte Bergstrom mit einer Stimme, in der Meomartino den unterbewußten Haß des Hinterbliebenen gegenüber den Chirurgen, den Verlierern, spürte.

»Es handelt sich um die Obduktion«, sagte er.

»Ich habe meine Einstellung bereits dem anderen Doktor mitgeteilt. Es ist vorbei. Wir haben alle genug durchgemacht. Mit ihrem Tod ist der Fall abgeschlossen.«

»Ich meine, ich sollte Ihnen gegenüber noch etwas erwähnen«, sagte er.

»Und das wäre?«.

»Sie haben zwei Töchter.«

»Und?«

»Wir halten sie zwar nicht für gefährdet, da wir noch keinen echten Beweis dafür haben, daß eine Veranlagung für ein Versagen der Nieren erblich ist.«

»O mein Gott«, sagte Bergstrom.

»Bestimmt wird die Obduktion zeigen, daß absolut kein Anlaß zu Sorge besteht«, sagte Meomartino.

Bergstrom schwieg. Dann kam ein heiseres Knurren, der Laut eines Tieres in Not.

»Ich schicke sofort jemanden mit dem Einwilligungsformular hinüber. Sie brauchen es nur zu unterzeichnen, Mr. Bergstrom«, sagte er.

Meomartino saß da, lauschte dem schrecklichen Laut eine, wie ihm schien, sehr lange Zeit. Dann legte er behutsam den Hörer auf.

Am Abend um acht Uhr zwanzig, als die Türglocke läutete und den ersten Ankömmling meldete, öffnete er selbst.

»Hei, Doktor«, sagte Maish Meyerson.

Meomartino führte den Ambulanzfahrer herein und stellte ihn Liz vor. Sie war am Vormittag beim Friseur gewesen und hatte Meomartino damit überrascht, daß sie mit schwarzem Haar heimgekommen war.

»Gefällt es dir?« hatte sie fast schüchtern gefragt. »Sie sagten, es würde sich zu meiner eigenen Farbe auswachsen, so daß man es kaum merkt.«

»Sehr.« Es erschreckte ihn etwas, rückte sie noch ferner, machte sie zu einer völlig Fremden. Aber er hatte sie lange dazu gedrängt, und war glücklich, daß sie es um seinetwillen getan hatte, voll Hoffnung, daß es ein gutes Zeichen sei.

Meyerson wählte Sour Mash-Bourbon. Sie prosteten einander zu.

»Für Sie nichts, Mrs. Meomartino?«

»Nein, danke.«

Sie gossen den Drink beide auf einen Zug hinunter und schnappten nach Luft.

»Was ist das, Maish?« fragte Meomartino.

»Was?«

»Dieses Teufelszeug.«

»Nicht die leiseste Ahnung.« Sie grinsten einander an, und er füllte Meyersons Glas und dann sein eigenes noch einmal.

Wieder läutete es, und in Liz' Gesicht malte sich Erleichterung, aber nur einen Augenblick lang. Es war Helen Fultz. Sie überließ Helga ihren Mantel und schloß sich ihnen an, wollte jedoch nichts Stärkeres als Tomatensaft nehmen. Die vier saßen da, sahen einander an und versuchten zu plaudern, aber dann begann die Türglocke regelmäßig zu läuten, und die Wohnung füllte sich. Bald standen überall Leute herum, und es gab den bei Gesellschaften üblichen Lärm. Rafe fragte sich plötzlich, ob Peggy Weld schon eine Möglichkeit gehabt hatte, zu weinen, dann aber ertrank er als Gastgeber allmählich in einem Menschentümpel.

Einige der Hausärzte waren verheiratet und brachten ihre Frauen mit.

Mike Schneider, dessen Ehe weithin als festgefahren bekannt war, stellte eine leicht fettleibige Rothaarige als seine entfernte Kusine aus Cleveland, Ohio, vor.

Im Gegensatz dazu war Jack Moylan mit der reservierten Joan Anderson gekommen. Die Augen der Lehrschwester strahlten etwas zu stark, aber es schien ihr trotz des Schocks, den sie heute morgen erlitten hatte, nicht schlecht zu gehen.

»Ich war noch nie betrunken, Rafe«, sagte sie. »Kann ich das heute abend ändern?«

»Seien Sie mein Gast«, sagte er.

»Ändern ist das Schlüsselwort. Nieder mit dem Establishment«, sagte Moylan und führte sie zur Bar.

Harry Lee, den noch nie jemand mit einem Mädchen gesehen hatte, war mit Alice Tayakawa, der Anästhesistin, gekommen.

Spurgeon Robinson, begleitet von einer schwarzen Athene, der er Meomartino kühl vorstellte, war mit Adam

Silverstone und einer kleinen Blonden mit einer FloridaSonnenbräune eingetroffen. Meomartino beobachtete sie, als ihr Weg den der Gastgeberin kreuzte.

Seine Frau betrachtete sie neugierig. »Guten Tag«, sagte sie.

»Guten Tag.«

Die beiden Frauen lächelten einander an.

Um zehn Uhr dreißig hatte Meyerson Helen Fultz überredet, einen Screw Driver zu versuchen, weil Orangensaft Vitamin C enthält. Harry Lee und Alice Tayakawa saßen in einer Ecke und diskutierten erregt über die Gefahren einer Leberschädigung als negative Folge der Halothan-Narkose. »Nehmen Sie noch einen«, rief Jack Moylan Joan Anderson zu, die in ihrem Programm schon so weit fortgeschritten war, daß sie eine bemerkenswerte Leistung im Limbo vollbrachte, indem sie unter einer Vorhangstange, die nur sechzig Zentimeter über dem Fußboden schwebte, durchschlüpfte, während Moylan und Mike Schneider dasaßen und sie vom klinischen Standpunkt aus studierten.

»Enges Becken«, bemerkte Moylan.

»Masters und Johnson sollten eine Arbeit über die Pe-nisempfänglichkeit junger Schwestern nach Ersterfahrung mit dem Tod schreiben«, sagte Schneider, als das Mädchen den Rücken bog und das enge Becken unter die Stange drückte.

Moylan eilte zur Bar, um ihr Glas wieder zu füllen.

»Kann ich Ihnen etwas holen?« fragte Meyerson Liz Meomartino.

Sie lächelte ihn an. »Nein, danke«, sagte sie.

»... und ich nähte gerade die Schnittwunde in ihrem Del-toid«, sagte Spurgeon soeben. »Und ich sagte zu ihr: Du bist also in dem Spektakel verwundet worden, und sie sagte zu mir: Nein, in der Schulter ...«

Damit begann eine Runde von Anekdoten, wie Patienten ihre Krankheiten beschrieben: Fibroide des Uterus wurden zu fiebrigen Mutterrissen, Sichelzellen zu Sicherstellen, alte Jungfern mit geschwollenen Drüsen behaupteten, sie hätten Mumps, und Eltern von ihren krätzigen Kindern, sie hätten die Windpocken. Meyerson wußte Saftigeres und erzählte von einer Dame, die jahrelang in den Kramladen seines Onkels im West End gekommen war, um statt Fari-na, Tante Vaginas Pfannkuchenmehl zu kaufen.

»Werden Sie nach Formosa zurückkehren?« fragte Alice Tayakawa Harry Lee.

»Wenn ich meine Ausbildung beendet habe.«

»Wie ist es dort?«

Er zuckte die Achseln. »In vieler Hinsicht halten sie noch an alten Bräuchen fest. Achtbare unverheiratete Männer und Frauen würden an einer Zusammenkunft wie dieser nie teilnehmen .«

Alice Tayakawa runzelte die Stirn. Sie war in Darien, Connecticut, geboren. »Sie sind ein sehr ernster Mensch«, sagte sie.

Wieder zuckte er die Achseln.

»Ich möchte Sie etwas fragen«, sagte sie mit schüchterner Förmlichkeit.

»Ja?«

»Ist es wahr, was man über chinesische Burschen sagt?«

Er sah sie verwirrt an. Dann blinzelte er.

Zu seiner großen Verblüffung entdeckte er, daß er sie angrinste.

Die Sache mit ihrem Haar war ein völliger Fehlschlag, dachte Elizabeth Meomartino niedergeschlagen. Als es blond gewesen war, war es nicht mit dem sonnenstreifigen Lichtbronze der kleinen Penderhure vergleichbar, und jetzt, da es wieder seine eigene Farbe hatte, ließ es das schimmernde afrikanische Haar des Negermädchens als das aussehen, was es war: gefärbtes Stroh. Sie sah Doro-thy Williams verstimmt an und bemerkte dann, daß Adam Silverstone und Gaby Pender engumschlungen miteinander tanzten. Gaby lächelte, als er ihr etwas zuflüsterte, und berührte seine Wange mit den Lippen.

»Ich glaube, ich werde doch einen ganz winzigen Martini nehmen«, sagte Liz zu Meyerson.

»Es ist so heiß hier herinnen«, sagte Joan Anderson.

»Ich hole Ihnen noch einen Drink«, sagte Moylan.

»Mir ist schwindlig«, flüsterte sie.

»Gehen wir in ein Zimmer, wo mehr Luft ist.«

Händehaltend schlenderten sie in die Küche und dann weiter in ein Schlafzimmer.

Dort lag ein kleiner Junge schlafend im Bett.

»Wohin?« flüsterte sie. Er küßte sie, ohne das Kind aufzuwecken, und sie wanderten einen Gang hinunter in das Elternschlafzimmer.

»Ich glaube, Sie sollten sich hinlegen«, sagte Moylan und schloß die Tür.

»Da liegen Mäntel auf dem Bett.«

»Wir werden ihnen schon nichts tun.«

Sie lagen auf ihrem Nest von Kleidungsstücken, und sein Mund fand ihr Gesicht, ihren Mund, ihren Hals.

»Darfst du denn das?« fragte sie nach einer Weile.

Er bemühte sich erst gar nicht um eine Antwort. »Doch«, sagte sie verträumt. »Jack«, sagte sie einen Augenblick später. »Jack.«

»Ja, Joannie«, sagte Moylan, jetzt großartig zuversichtlich.

»Jack .«

»Wir wollen es nicht überstürzen«, sagte er.

»Jack, du verstehst nicht. Ich muß mich übergeben«, sagte sie. Und tat es.

Auf seinen Mantel, sah Moylan zu seinem Entsetzen.

»Gibt es viele Japaner auf Formosa?« fragte Alice Taya-kawa und drückte Harry Lees Hand.

Rafe ging in Miguels Zimmer und steckte die Decken um die kleinen dünnen Schultern zurecht. Er saß auf dem Bett und sah den schlafenden Jungen an, während aus dem Wohnzimmer noch immer das Geräusch von Lachen und Musik und das Singen der heiseren Rothaarigen drang.

Jemand kam in die Küche. Durch die offene Tür konnte er hören, wie Eis in Gläser geworfen und eingeschenkt wurde.

»Sie sind ganz allein hier draußen?« Es war Liz' Stimme.

»Ja. Nur ein paar letzte Drinks machen.« Spurgeon Robinson, dachte Meomartino. »Sie sind zu nett, um allein zu sein.« »Danke.«

»Sie sind sehr groß, nicht wahr?«

Er hörte sie etwas flüstern.

»Es ist allseits bekannt, daß wir Farbige begabt sind.« Die Stimme war plötzlich tonlos geworden. »Darin und im Steppen.«

»Von Steppen verstehe ich nichts«, sagte sie.

»Mrs. Meomartino, ich habe ein netteres, süßeres Mädchen in einem grüneren, reineren Land.«

Einen Augenblick Stille.

»Wo liegt das?« fragte sie. »In Afrika?«

Meomartino trat in die Küche.

»Haben Sie alles, was Sie brauchen, Spurgeon?« fragte er.

»Durchaus alles, danke.« Robinson verließ die Küche mit den Drinks.

Meomartino sah sie an. »Nun, glaubst du, daß du mich zum Chefchirurgen gemacht hast?« fragte er.

Später, als sie endlich gegangen waren, brachte er es nicht über sich, sich neben sie zu legen. Er nahm ein Kissen und Decken und legte sich auf die Couch mitten in das verlassene Schlachtfeld, das nach Whiskyresten und kaltem Rauch stank. Als er in Halbschlaf versank, sah er ihren Körper, die wunderbar blassen Schenkel, blockiert von vielen männlichen Rücken in allen Hautfarben; einige gehörten Fremden, andere waren allzu leicht zu erkennen.

Halbwach, tötete er sie in seiner Phantasie und wußte zugleich, daß er dazu nicht fähig war, ebensowenig wie er es fertigbrachte, die Wohnung zu verlassen und wegzufahren.

Wenn es Narkotika wären, argumentierte er wütend, würde ich sie dann verlassen?

Jetzt war er hellwach.

Heiliger Raphael, sagte er in das dunkle Zimmer hinein.

Er überlegte die ganze Nacht, und am nächsten Morgen rief er vom Krankenhaus aus eine der Nummern im Branchenverzeichnis an.

»Hier Mr. Kittredge«, sagte eine neutrale Stimme.

»Ich heiße Meomartino. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie einige Informationen für mich einholen könnten.«

»Möchten Sie mich irgendwo treffen, oder kommen Sie in mein Büro?«

»Können wir es nicht gleich jetzt besprechen?«

»Wir nehmen neue Klienten nie über Telephon an.«

»Nun . ich werde erst um sieben herum in Ihr Büro kommen können.«

»Ausgezeichnet«, sagte die Stimme.

Wieder bat er Harry Lee, in der Abendpause für ihn einzuspringen, und fuhr zu der im Telephonbuch angegebenen Anschrift, die sich als ein baufälliges altes Haus in der Washington Street erwies, in dem sehr viele Firmen des Juwelengroßhandels untergebracht waren. Die Büros sahen wie sehr gewöhnliche Geschäftsräume aus, die auch einer Versicherungsgesellschaft hätten gehören können. Mr. Kittredge war ungefähr vierzig und konservativ gekleidet. Er trug einen Freimaurerring und sah aus, als legte er nie die Füße auf den Tisch.

»Ein Familienproblem?« fragte er.

»Meine Frau.«

»Haben Sie eine Photographie?«

Meomartino grub eine aus seiner Brieftasche aus: kurz nach der Geburt Miguels aufgenommen, ein Bild, auf das er stolz gewesen war, Liz lachend, den Kopf schiefgelegt, Sonnenlicht und Schatten gut ausgenützt.

Mr. Kittredge warf einen Blick darauf. »Wollen Sie sich von ihr scheiden lassen, Herr Doktor?« »Nein. Das heißt, vermutlich hängt es davon ab, was Sie herausfinden«, sagte er müde.

Die erste Konzession an eine Niederlage.

»Ich frage nur«, sagte Mr. Kittredge, »um zu wissen, ob schriftliche Berichte nötig sein werden.«

»Oh.«

»Wissen Sie, daß Sie jetzt keine Schlafzimmerbilder und diesen ganzen Unsinn mehr brauchen?«

»Ich weiß wirklich sehr wenig darüber«, sagte Meomar-tino steif.

»Alles, was das Gesetz verlangt, ist ein Beweis für Zeit, Ort und Gelegenheit, damit Ehebruch als begangen gilt. Das ist der Punkt, an dem meine schriftlichen Berichte aktuell wären.«

»Ich verstehe«, sagte Rafe.

»Für schriftliche Berichte wird keine zusätzliche Gebühr eingebogen.«

»Vielleicht nur mündliche Berichte«, sagte Meomartino. »Zumindest vorderhand.«

»Kennen Sie die Namen irgendwelcher ihrer Freunde?«

»Ist das nötig?«

»Nein, aber es könnte mir helfen«, sagte Kittredge geduldig.

Rafe wurde übel, die Wände rückten leicht zusammen. »Ich glaube, Adam Silverstone. Er ist Arzt am Krankenhaus.«

Kittredge notierte es sich.

»Mein Honorar beträgt zehn Dollar pro Stunde, zehn Dollar täglich für Wagenmiete und zehn Cent pro Meile. Zweihundert Dollar Minimum, im voraus zu bezahlen.«

Das war der Grund, warum er keine Klienten über das

Telephon annahm, dachte Meomartino. »Genügt ein Scheck?« fragte er.

»Durchaus«, sagte Mr. Kittredge höflich.

Als Meomartino ins Krankenhaus zurückkam, wartete Helen Fultz auf ihn. Ohne die Wohltat des Alkohols war sie wieder eine von Sorgen zermürbte alternde Frau.

Eine müde Frau, dachte er, als er durch die Uniform hindurch den Menschen sah.

»Ich möchte Ihnen sehr gern das hier zurückgeben, Dr. Meomartino«, sagte sie.

Er nahm das Papier und sah, daß es die Dienstbeschwerde war, die er gegen die nicht identifizierte Schwester eingebracht hatte, die Mr. Roche entgegen der schriftlichen Anordnung zwei Mahlzeiten am Tag vor der Operation serviert hatte.

»Was soll ich damit?«

»Ich hoffe, Sie zerreißen es.«

»Warum sollte ich?«

»Ich weiß, welches Mädchen diese Mahlzeiten serviert hat«, sagte sie. »Ich werde mich auf meine Weise der Sache annehmen.«

»Sie verdient einen ernsten Verweis«, sagte Meomarti-no. »Der alte Mann hat genug gelitten. Mit der Operation konnten wir nur die Schmerzen seiner letzten Tage erleichtern. Weil irgendein Biest zu faul war, die Anordnungen zu lesen, bekam er zu seinem Todesurteil noch zusätzlich zwei Tage Qual.«

Miss Fultz nickte zustimmend. »Als ich angefangen habe, hätten wir sie als Schwester erst gar nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Sie ist eine Kuh.«

»Warum verteidigen Sie sie dann?«

»Schwesternmangel - wir brauchen jede Kuh, die wir behalten können. Wenn der Verweis durchgeht, wird sie den Dienst quittieren und hat in einer halben Stunde einen anderen Posten. Man wird sich um sie streiten.«

Er starrte auf das Papier in seiner Hand.

»Es hat Abende gegeben, an denen ich in dieser Abteilung ganz allein war«, sagte sie leise. »Bisher hatten wir Glück. Noch hat uns kein Notfall bei zu knappem Personal erwischt. Verlassen wir uns nicht auf unser Glück. Die Kuh hat ein Paar Hände und ein Paar Beine. Verweigern Sie meinen echten Schwestern nicht die Verwendung dieser Hände und Beine.«

Er riß das Papier zweimal durch und ließ die Fetzen in den Papierkorb fallen.

»Danke«, sagte Helen Fultz. »Ich werde dafür sorgen, daß sie von jetzt an jede Tabelle liest, bevor sie die Mahlzeiten serviert.« Sie lächelte ihn an.

»Helen«, sagte er, »wie würde dieses Haus ohne Sie funktionieren?«

»Wie immer«, sagte sie.

»Sie hetzen sich zu sehr ab. Sie sind nicht mehr sechzehn.«

»Nicht sehr galant heute, was, Doktor?«

»Wie alt sind Sie? Im Ernst?«

»Wozu, was würde das ändern?« sagte sie.

Sie war dem Pensionsalter zu nahe, um darüber sprechen zu wollen, erkannte er. »Es ist nur, weil Sie müde aussehen«, sagte er sanft.

Sie schnitt eine Grimasse. »Alter hat damit nichts zu tun. Ich glaube, daß ich vielleicht ein Geschwür bekomme.«

Er sah sie plötzlich nicht als Helen Fultz, sondern als erschöpfte alte Dame, die Patientin war.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Ich habe genug Geschwüre gepflegt, um die Symptome zu kennen. Ich kann vieles nicht mehr essen, was ich früher vertragen habe. Und ich habe leichte rektale Blutungen.«

»Los mit Ihnen ins Untersuchungszimmer«, sagte er.

»Ich will nicht.«

»Schauen Sie, wenn Dr. Longwood routinemäßige Vorsichtsmaßnahmen getroffen hätte, wäre er heute ein gesunder Mann. Nur weil Sie Schwester sind, entbindet Sie das nicht der Verantwortung gegen sich selbst. Ab ins Untersuchungszimmer. Das ist ein dienstlicher Befehl.«

Er grinste, als er ihr in das Zimmer folgte, weil er wußte, daß sie wütend auf ihn war.

Sie war nicht leicht zu untersuchen, aber das Ergebnis brachte keine Überraschungen. Sie litt an zu hohem Blutdruck, 190 zu 90. »Haben Sie je Brustschmerzen gehabt?« fragte er, ihr Herz abhorchend.

»Ich kenne dieses basilare systolische Gemurmel seit neun Jahren«, sagte sie schroff. »Wie Sie schon andeuteten, bin ich nicht mehr sechzehn.«

Während der Rektaluntersuchung, die sie in gedemütigtem Schweigen über sich ergehen ließ, sah er, daß sie Hä-morrhoiden hatte, zweifellos die Ursache der Blutung.

»Na?« fragte sie, als sie angekleidet und ihre Würde wieder hergestellt war.

»Sie dürften eine ziemlich gute Diagnostikerin sein«, sagte er. »Meine Vermutung wäre ein Zwölffingerdarmgeschwür. Aber ich werde Ihnen einen Termin für eine gas-tro-intestinale Untersuchungsreihe festsetzen lassen.«

»Ah, soviel Schererei.« Sie schüttelte den Kopf, unfähig, ihm zu danken, aber dann lächelte sie ihn an. »Ich habe mich gestern abend sehr gut unterhalten, Dr. Meomartino. Ihre Frau ist sehr schön.«

»Ja«, sagte er. Unerklärlicherweise spürte er zum erstenmal seit Guillermos Tod hinter seinen Augenlidern ein scharfes, salziges Brennen, das er ignorierte, bis es, wie alles sonst, verging.

14

SPURGEON ROBINSON

Nach der Übersiedlung Adams in die Wohnung am Bea-con Hill blieb Spurgeon ganz allein und einsam im sechsten Stock zurück und begann den alten Wänden immer häufiger auf der Gitarre vorzuspielen; seine Musik war wie der Spiegel eines Lachkabinetts, der das Spiegelbild seiner Seele verzerrte. Er war schwer verliebt und hätte eigentlich in Ekstase sein sollen. Aber die Songs, die er spielte, kicherten mit jener Heiterkeit, die auf eine so tiefe Traurigkeit hindeuteten, daß es ihm unerträglich war, darüber nachzudenken. Um glücklichere Musik zu machen, hätte er sich ein Banjo kaufen und auf den Feldern arbeiten müssen.

Es war um ihn herum, und jeden Tag sah er es deutlicher.

»Können Sie mir sagen«, fragte ihn Moylan eines Morgens, »wieso so etwas hier geschehen kann?« Er betrachtete ein Baby mit einer Faszination, die sich aus Entsetzen und Angst zusammensetzte. Sein Ausdruck erinnerte Spurgeon an die Gesichter von Medizinstudenten, die zum erstenmal Photos abnormaler Fötusse im Lehrbuch betrachteten.

Das Baby war farbig. Es war schwer, sein Alter zu bestimmen, weil Unterernährung das Babyfett, eine Geburtstagsgabe der Natur, aufgefressen und das magere, runzlige Gesicht eines alten Mannes zurückgelassen hatte. Die Muskeln atrophiert, lag das Kind schwach und sterbend da, und die streichholzdünnen Glieder betonten das aufgeschwollene Bäuchlein.

»Das kann überall geschehen«, sagte Spurgeon. »Überall, wo ein Kind nicht genug Essen bekommt, um das Lebenslicht zu nähren.«

»Nein. Ich kann verstehen, daß man so etwas vielleicht in der Hütte eines Erntearbeiters in Mississippi findet«, sagte Moylan.

»Das können Sie verstehen, Mensch?«

»Zum Teufel, Sie wissen doch, wie ich das meine. Aber hier, in dieser Stadt ...« Er schüttelte den Kopf, und sie wandten sich ab.

Spurgeon konnte nicht weit genug fliehen.

Wenn er seine sechsunddreißig Stunden abgedient hatte, nahm er fast gegen seinen Willen die Hochbahn nach Roxbury, stieg an der Pudley-Street-Haltestelle aus, passierte das Ace High, ohne hineinzugehen, wanderte ohne ein bestimmtes Ziel dahin, bis er kein weißes Gesicht mehr sah, nur Häute in allen Schattierungen von Lederbraun bis Schwarz.

Bruchstücke seiner Kindheit tauchten auf, da ein Anblick, dort ein Gestank oder ein Geräusch, die müden Häuser mit zerborstenen Stufen, der Abfall und Mist auf den Straßen, das wilde Kindergeschrei, ein zerbrochenes Fenster mit einer herzzerreißendrührenden Pflanze in einer Tomatendose auf dem Fensterbrett.

Was war aus Fay Hartnett mit den dicken Schenkeln geworden, was aus Petey und Ted Simpson, Tommy White, Fats McKenna?

Wenn er die Macht gehabt hätte, die Leute zu sehen, aus denen sich das Gefüge seiner Kindheit zusammengesetzt hatte - so, wie sie gerade jetzt, in diesem Augenblick waren - hätte er das wollen?

Er wußte, daß er es nicht gewollt hätte.

Sie waren wahrscheinlich tot, oder schlimmer: Huren, Zuhälter, Zutreiber, menschliches Strandgut, aktenkundig bei der Polizei, fast selbstverständlich in der mühelosen, von Drogen gebotenen Flucht verstrickt, wenn nicht durch sie getötet.

Ein kleiner Junge mit weichem Wollhaar kam um die Ecke gestürmt, wich ihm mit einer Drehung der Hüfte wie ein laufender Torero aus, fegte dicht an ihm. mit einem kurzen, spöttischen Fluch vorbei. Spur blieb stehen und sah dem laufenden Jungen mit einem traurigen Lächeln nach.

Gleichgültig, wie schnell du rennst, Söhnchen, dachte er, falls du nicht selbst einen Calvin J. Priest triffst, bist du eine Fliege, gefangen im heißen Teer, schon im Schatten der Dampfwalze. Als er die Chancen berechnete, die der Junge zu einer Flucht hatte, blickte er erschrocken im plötzlichen Bewußtsein seiner eigenen wunderbaren Rettung um sich.

Als er ins Krankenhaus zurückkehrte, sah er nach seiner Post, fand aber nur einen Katalog einer pharmazeutischen Firma, den er im Lift öffnete und durchsah, während die alte Kabine gegen die Schwerkraft kämpfte.

Auf dem Gang vor seinem Zimmer wartete jemand, ein kleiner rotgesichtiger Mann in einem schwarzen Mantel mit Samtkragen; er trug, wie Spur ungläubig bemerkte, eine Melone.

»Dr. Robinson?«

Der Mann streckte ihm einen Briefumschlag entgegen. »Für Sie.«

»Ich habe soeben meine Post abgeholt.«

Der Mann kicherte. »Per Eilboten«, sagte er. Spurgeon nahm den Briefumschlag und sah, daß er keine Marke trug. Er tastete nach einer Münze, aber der Mann setzte die Melone auf und wandte sich lächelnd zum Gehen. »Ich bin kein Botenjunge«, sagte er. »Stellvertretender Sheriff.«

Im Zimmer setzte sich Spurgeon auf das Bett und öffnete den Umschlag.

Commonwealth of Massachusetts Landesgericht Suffolk, SS: An Spurgeon Robinson Boston, Suffolk

Mit Schreiben vom 21. Februar 1968 hat Arthur Donnel-ly, Boston, Suffolk, eine Klage wegen falscher ärztlicher Behandlung gegen Sie eingebracht und fordert als Schadenersatz die Summe von 100000 Dollar. Die Verhandlung findet am 20. Mai 1968 statt. Im Falle Ihres Nichterscheinens ergeht das Urteil in Ihrer Abwesenheit.

Bezeugt von R. Harold Montano, Boston, am 21. September 1967

Homer P. Riley Schriftführer

Als erstes rief er Onkel Calvin an. Er versuchte die Geschichte sachlich zu erzählen und schonte sich nicht, übersah jedoch auch keinen wichtigen Punkt.

»Überlaß nur alles mir«, sagte Calvin.

»Das will ich nicht«, sagte Spurgeon.

»Versicherungswesen ist mein Beruf. Ich kenne viele Leute. Ich kann die Sache ohne viel Aufhebens in die Hand nehmen.«

»Nein, ich will sie selbst in die Hand nehmen.«

»Warum hast du mich dann angerufen?«

»Mein Gott, Calvin, kannst du mich nicht ausnahmsweise einmal verstehen? Ich wollte einen Rat. Ich will nicht, daß du es für mich erledigst. Ich wollte nur, daß du dir mein Problem anhörst und mir sagst, was ich tun soll.«

»Die Versicherungsgesellschaft hat einen guten Anwalt in Boston. Setz dich sofort mit ihm in Verbindung. Wie hoch bist du versichert?«

»Diesbezüglich ist alles in Ordnung, auf 200000, doppelt so hoch als die meisten meiner Kollegen.« Es war Calvin gewesen, der darauf bestanden hatte, daß er sich auf mindestens diese Summe gegen ärztliche Kunstfehler versichern ließ.

»Schön. Gut. Brauchst du sonst noch etwas?«

Calvin fühlte sich zurückgewiesen; Spurgeon merkte es an seiner Stimme. »Nein. Wie geht's meiner Mutter?«

»Roe-Ellen?« Die Stimme wurde weich. »Gut. Sie verbringt ihre Vormittage im Geschenkladen der Vereinten Nationen, hat großen Spaß daran und verkauft Dschungeltamtams an kleine weiße Mädchen aus Dubuque.«

»Erzähle ihr nichts von dieser Angelegenheit.«

»Nein. Paß gut auf dich auf, Junge.«

»Auf Wiedersehen, Calvin«, sagte Spur und fragte sich, warum er nach diesem Anruf deprimierter war denn je.

Vier Tage später waren sie in Boston.

»Calvin mußte geschäftlich herkommen«, erzählte ihm Roe-Ellen, als sie ihn im Krankenhaus anrief. »Er meinte, es wäre eine gute Gelegenheit für mich, meinen Sohn zu sehen«, sagte sie bedeutungsvoll.

»Es tut mir leid, daß ich euch nicht öfter besucht habe, Mamma«, sagte er bedauernd.

»Nun, wenn der Berg nicht zum Propheten kommt .«

Sie waren im Ritz-Carlton abgestiegen. »Kannst du mit uns hier Abendessen?«

»Ja, sicher.«

»Um sieben Uhr?«

Blitzschnell rechnete er, wie lange er brauchen würde, um nach Natick und zurück zu kommen. »Acht Uhr wäre besser. Ich möchte jemanden mitbringen.«

»Oh?«

»Ein Mädchen.«

»Oh, Spurgeon, Liebling! Wie nett.«

Zum Teufel, dachte er resigniert. »Bei näherer Überlegung möchte ich drei Leute mitbringen.«

»Drei Mädchen?« fragte sie hoffnungsvoll.

»Sie hat Mutter und Vater.«

»Wunderbar.«

Er hörte die Vorsicht heraus, die sich während des einen Wortes in ihre Stimme schlich.

Als sie jedoch Dorothy sah, bemerkte Spurgeon die Erleichterung seiner Mutter, und wußte, daß sie befürchtet hatte, er habe mit irgendeinem weißen Gänschen angebändelt. Als die Priests sie in ihrem einfachen braunen Seidenkleid und mit ihrem kurzen afrikanischen Haar sahen, schlossen sie sie sofort ins Herz. Ihre Eltern gefielen ihnen. Die Williams' waren noch nie in einem Lokal wie dem Ritz gewesen, aber sie besaßen Würde, und Calvin und Roe-Ellen waren einfache Leute. Als der Nachtisch serviert wurde, waren sie alle vier Freunde geworden, und die New Yorker hatten versprochen, bei ihrem nächsten Bostonbesuch zum Abendessen in das Haus nach Natick zu kommen.

»Kannst du auf dem Rückweg auf einen Sprung vorbeikommen?« fragte Calvin, als Spur sich bereitmachte, Do-rothy und ihre Eltern nach Hause zu fahren.

»Wirst du noch auf sein?«

Calvin nickte. »Deine Mutter nicht. Aber ich habe noch einige Schreibarbeiten zu erledigen.«

»Gut, ich komme zurück«, sagte Spurgeon.

Als er an die Tür klopfte, kam Calvin sofort und hielt den Finger an die Lippen.

»Sie schläft«, flüsterte er.

Sie hatten zwar einen Salon, aber die beiden Männer beschlossen, in den öffentlichen Park gegenüber zu gehen.

Die Nachtluft war ziemlich kühl, so daß sie die Kragen ihrer Wintermäntel hochschlugen. Sie fanden eine Bank neben einem Hyazinthenbeet, das im Lampenlicht leuchtete. Sie saßen mit dem Gesicht zur Boylston Street und sahen dem vorbeiflutenden späten Verkehr zu.

»Ein nettes Mädchen«, sagte Calvin.

Spurgeon lächelte. »Der Meinung bin ich auch.«

»Deine Mutter hat sich Sorgen um dich gemacht.«

»Das tut mir leid«, sagte Spurgeon. »Das Jahr der Spitalspraxis ist das schwerste. Ich hatte nicht viel Freizeit.«

»Du könntest sie hie und da anrufen.«

»Ich werde von nun an öfter anrufen«, sagte er.

Calvin nickte. »Hübscher Park. Gibt's Fische in dem Teich?«

»Ich weiß nicht. Im Sommer gibt es Paddelboote mit großen weißen Schwänen drauf.«

»Hast du den Anwalt aufgesucht?«

»Ja. Er sagte, ich brauchte mir keine Sorgen zu machen. Er meinte, für einen jungen Arzt sei ein Prozeß wegen eines ärztlichen Kunstfehlers heutzutage reine Routinesache, wie man sozusagen erst dann ein Mann ist, wenn man die erste Gonorrhöe gehabt hat.«

Calvin sah ihn an. »Was hast du darauf geantwortet?«

»Ich sagte ihm, ich hätte einige sehr häßliche Fälle von Gonorrhöe gesehen, und einige von ihnen bei äußerst armseligen Exemplaren von Männern.«

Calvin lächelte. »Ich mache mir keine Sorgen um dich«, sagte er.

»Danke.«

»Ich mache mir mehr Sorgen um mich«, sagte er. »Warum weist du mich immer ab, Spurgeon?«

Auf der gegenüberliegenden Seite der Boylston Street erhoben sich Stimmen, Gesang und Gelächter, Wagentüren wurden zugeschlagen.

»Das ist der Playboy-Klub«, sagte Spurgeon. »Ein Haufen aufreizender Weiber mit Hasenschwänzchen am Arsch.«

Calvin nickte. »Ich war in dem New Yorker Klub«, sagte er. »Aber danke für die Definition.«

»Es fällt mir schwer, es in Worte zu fassen«, sagte Spur-geon.

»Es ist aber an der Zeit, daß du es versuchst«, sagte Calvin. »Ich könnte dich nicht mehr lieben, wenn ich dein leiblicher Vater wäre. Das weißt du.«

Spurgeon nickte.

»Du hast mich nie im Leben um etwas gebeten. Nicht einmal als Kind.«

»Du hast mir immer Sachen geschenkt, bevor ich noch darum bitten konnte. Weißt du noch, wie Rap Brown und Stoke-ly gesagt haben, die Weißen schnitten uns die Hoden ab?«

Calvin sah ihn an und nickte.

»Nun, so ungefähr ist es.«

»Ich habe dir die Hoden abgeschnitten?« fragte Calvin leise.

»Nein, nein, so meine ich es nicht. Schau, du hast mir das Leben gerettet. Wohin ich auch schaue, sehe ich es. Du hast mein Leben gerettet.«

»Ich bin kein Lebensretter. Ich will dein Vater sein.«

»Dann hör' zu, was ich dir sage. Und versuche zu verstehen. Du bist ein besonderer Mensch. Es wäre leicht, wenn ich dich für den Rest meines Lebens alles für mich tun ließe. Ich müßte ersticken.«

Calvin sah ihn scharf an und nickte. »Ja. Das verstehe ich.«

»Laß mich ein Mann sein, Calvin. Biete mir keine Hilfe mehr an.«

Calvin sah ihn noch immer an. »Wirst du deine Mutter anrufen? Wirst du heimkommen, wenn es dir möglich ist?«

Spurgeon lächelte und nickte.

»Und falls du mich je brauchst - meine Hilfe wirklich brauchst -, wirst du sie verlangen? Als wäre ich dein leiblicher Vater?«

»Das verspreche ich dir.«

»Was hättest du getan, wenn sie mich gehaßt hätten?« fragte ihn Dorothy einige Tage nachdem Roe-Ellen und Calvin nach New York zurückgeflogen waren.

»Sie haben dich nicht gehaßt.«

»Aber wenn?«

»Das weißt du«, sagte er.

Ohne viele Worte war zwischen ihnen das Verstehen der gegenseitigen Abhängigkeit entstanden, aber er fand es immer schwieriger, sie zu behandeln, als hätten sie einander eben erst kennengelernt; erschwert wurde dies noch durch den Umstand, daß sie Adam Silverstone und Gaby Pender sehr häufig sahen, die so offenkundig in fleischlicher Lust schwelgten, daß er sich manchmal in ihrer Gegenwart wie ein Voyeur vorkam.

An ruhigen Nachmittagen erforschten sie zu viert Bea-con Hill, wanderten über den Hügel mit einem Gefühl, als gehörte er ihnen. Sie bewunderten alles, die elegante alte Bostoner Ordentlichkeit des Louisburg Square, das glatte Kopfsteinpflaster, das noch aus der Zeit stammte, als die Straßenbaukontrakte von Politikern vergeben wurden, lächelten spöttisch über die dicken Politiker, die in dem Kaffeehaus hinter dem State House debattierten; sie bewunderten die noch erhaltenen reizenden Laternen in der Re-vere Street; an dunklen Abenden hatten sie das Gefühl, daß auf der anderen Seite des Hügelkammes noch immer das Jahr 1775 wartete. Immer wenn sie zur plebejischen Nordseite des Hügels zurückkehrten, zu ihrer Seite, hauptsächlich von arbeitenden Menschen und einer schnell wachsenden Kolonie von Bärtigen und leicht Verrückten bewohnt, stimmten sie darin überein, daß es die bessere von beiden war, die lebendigere, die saft- und kraftvollere.

Eines Morgens wanderten die vier nach Anweisungen, die Gaby von ihrer Hausfrau bekommen hatte, durch einen kalten, nebelfeinen Frühlingsregen und fanden das gewohnlich aussehende Rathaus in der Bowdon Street Nr. 121, in dem ein außergewöhnlicher Präsident der Vereinigten Staaten seine Wahlrede gehalten hatte, und sie fragten sich, was wohl mit der Welt geschehen wäre, wenn es dem jungen Mann erlaubt gewesen wäre, älter und klüger zu werden.

Plötzlich drehte sich Dorothy um und lief weg.

Spur folgte ihr und holte sie in der Beacon Street auf den Stufen des State House ein, legte die Arme um sie und küßte ihr nasses Gesicht, das nach Salz schmeckte.

»Der Gouverneur des ganzen Staates kann uns jetzt aus einem dieser Fenster zusehen«, sagte sie.

»Dann geben wir ihm etwas zu sehen«, sagte er und zog sie an sich, so daß sie leicht schwankend auf den Stufen im Regen dicht beisammenstanden.

»Verzeih«, sagte sie.

»Schon gut. Er war ein großer Mensch.«

»Nein, du verstehst nicht«, sagte sie. »Ich trauere nicht um Kennedy. Ich habe geweint, weil du mich so glücklich machst und ich dich so sehr liebe, und Gaby und Adam so kühl und schön sind und ich weiß, daß diese herrliche Zeit für keinen von uns von Dauer sein wird.«

»Sie wird von Dauer sein«, sagte er.

»Aber sie wird sich verändern. Nichts bleibt, wie es ist.«

Auf ihrer braunen Haut über der Oberlippe standen Wasserperlen, und er wischte sie sanft mit seinem Daumen weg, wie er an jenem ersten Tag am Strand das trockene Salz weggewischt hatte.

»Ich will ja, daß es sich zwischen uns ändert«, sagte er.

»Armer Spurgeon«, sagte sie. »Ist es sehr schwer für dich?«

»Ich werde es überleben. Aber ich wünsche mir verzweifelt, daß es sich ändert.«

»Heirate mich«, sagte sie. »Bitte, Spurgeon.«

»Ich kann nicht. Zumindest nicht, bevor ich meine Spitalspraxis im Juli beendet habe.«

Sie blickte auf die vom Regen trübe goldene Kuppel des State House. »Dann könnten wir wenigstens manchmal die Wohnung in der Phillips Street benützen. Gaby und ich haben darüber gesprochen.«

Er nahm ihren nassen, wolligen Kopf in seine Hände. »Ich könnte ihnen einen Hund kaufen. Und wir könnten unsere Besuche so einrichten, daß sie inzwischen den Hund um den Häuserblock spazierenführen.«

Sie lächelte ihn an. »Sie könnten mit dem Hund sogar zweimal um den Block gehen.«

»Wir könnten den Hund Bimbam nennen«, sagte er.

»O Spurgeon.« Sie begann wieder zu weinen.

»Nein, danke, Gnädigste«, sagte er. Er vergrub sein Gesicht in der schwarzen Wolle. »Wir heiraten im Juli«, sagte er in ihr nasses Haar hinein. Dann faßte er sie an der Hand, sie winkten dem Gouverneur Lebewohl, gingen zurück und fanden Gaby und Adam. Sie hatten sich nicht abgesprochen, aber in stummer Übereinkunft sagte keiner von beiden den Freunden etwas von der bemerkenswerten Veränderung, die in der Welt stattgefunden hatte.

Am nächsten Morgen holte er sie ab und fuhr mit ihr zum Roxbury-Getto. Er parkte den Volkswagen, und sie gingen langsam die Straßen entlang, ohne miteinander zu reden. Der Regen hatte in der Nacht aufgehört, aber die Sonne war grausam.

»Warum hast du mich hierhergebracht?« fragte sie schließlich.

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich fahre manchmal hierher.«

»Ich hasse diese Gegend. Bitte, bring mich weg.«

»Schön«, sagte er. Sie drehten um und gingen zum Wagen zurück.

Auf der Straße spielten einige Jungen Baseball und ignorierten den Winter. »Huh, Charlie«, höhnte der eine am Schlagholz den Werfer. »Du hast Jim Lonborg nicht gevögelt. Dein Arsch ist zu sonnverbrannt.«

»Aufgepaßt!« brüllte der Werfer und schleuderte den Ball heftig gegen ihn.

»Du hast auch Looey Tiant nicht gevögelt. Du hast nicht einmal Jim Wyatt gevögelt.«

Als sie den Wagen erreicht hatten, verließ er Roxbury ohne jeden Umweg.

»Ich ertrüge es nicht, hier ein Kind aufzuziehen«, sagte sie.

Er summte ein paar Takte einer heiteren Melodie. »Es leben nicht nur arme Leute hier, sondern auch viele Akademiker. Sie schaffen es, ihre Kinder hier aufzuziehen.«

»Dann möchte ich lieber keine Kinder haben.«

»Da kannst du auch unbesorgt sein«, sagte er gereizt. »Du wirst deine Kinder nicht in einer solchen Umgebung aufziehen müssen.«

»Du hast mir einmal eine Insel und Frangipani im Haar versprochen.«

»Das Versprechen halte ich«, sagte er.

»Warum können wir nicht wirklich dorthin?«

»Wohin? Auf eine einsame Insel?« »Nach Hawaii.«

Er sah sie an, überzeugt, daß es nicht ihr Ernst war.

»Dort gibt es keine Rassenfrage. Es ist genau die Welt, in der ich meine Kinder aufziehen will.«

»Deine Enkel bekämen Schlitzaugen.«

»Oh, ich würde sie lieben. Sie würden deine Nase haben.«

»Das möcht ich ihnen geraten haben.«

»Es ist mein Ernst, Spurgeon«, sagte sie nach einer Weile.

Das konnte er sehen. Er begann sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, und ihn auf seine schwachen Punkte hin zu prüfen. »Ich habe erst noch meine dreijährige Facharztausbildung zu absolvieren«, sagte er.

»Könnten wir nicht danach hingehen? Ich würde auch nach unserer Heirat arbeiten, und wenn wir wie Geizhälse sparen, könnten wir vielleicht in ein, zwei Jahren hinfahren, uns umsehen und Pläne schmieden.« Sie war jetzt ganz aufgeregt und überzeugt, daß sie schon ihre Zukunft planten.

»Das könnte sich ausgehen«, sagte er vorsichtig, von ihrem Glück angesteckt.

Als sie nach Natick zurückkamen, entdeckte er, daß jemand die Radkappe vom linken Hinterrad gestohlen hatte, während der Wagen in Roxbury geparkt war. Den ganzen Weg zum Krankenhaus sang er aus voller Kehle.

15

ADAM SILVERSTONE

Adam gefielen die Bücherregale aus Orangenkistchen. Sie inspirierten ihn, weiße Farbe und eine Walze zu kaufen, und bevor die alten Schmerzen nachließen, hatte er sich neue erworben, aber die weißen Wände weiteten den Raum und machten ihn zu einem völlig anderen Zimmer. Gaby kaufte in der Newsbury Street zwei billige Drucke, die Reproduktion einer Bauernmutter mit Kind von Käthe Kollwitz und ein buntes abstraktes Bild voll Kugeln und Würfeln, das gut zu den Papierblumen paßte.

Sie hob eine Avocadohälfte auf, spickte sie mit Zahnstochern und legte sie in ein Wasserglas - sie hatte in einer Zeitschrift darüber gelesen -, wartete und beobachtete sie neugierig. Drei Wochen lang geschah nichts, aber gerade als sie beschlossen hatte, sie wegzuwerfen, keimte eine kleine lichtgrüne Schlange, ein Schößling und dann ein Blatt, das dunkler und glänzend wurde, als sie es in fette schwarze Erde umsetzte, die sie in einem Sack im Supermarkt gekauft hatte. Die Avocadopflanze trieb zwei weitere Blätter, fiederig und glänzend, und wurde in dem immer rasch verschwindenden Sonnenfleck des einzigen Fensters löffelweise mit Liebe und Pflanzendünger aufgepäppelt.

Die Kellerwohnung wurde zum festen Rahmen ihres Lebens; sie hätten sie nicht gegen das Weiße Haus eingetauscht. Sie liebten einander fröhlich und oft und nur mit einem kaum merkbaren Schuldgefühl, und lernten einander immer besser kennen. Gaby fühlte sich stark und frei, eine Pionierfrau. Sie wußte, daß sie die ersten und einzigen Liebenden auf der Welt waren, obwohl Adam ihr sagte, daß sie trotz all ihrer Phantasien und aller Bücher, die er in der Medizinischen Schule gelesen hatte, nie eine Erbsünde schaffen würden.

Zum erstenmal in ihrem Leben machte sie sich keine Sorgen um ihre Gesundheit. Das einzige Unbehagen, woran sie litt, war dem Hormondruck der Pille zuzuschreiben, auf die sie noch nicht eingespielt war und der ihr manchmal ekelhafte Anfälle von Morgenübelkeit verursachte. Adam versicherte ihr, daß die Symptome verschwinden würden.

Sie war stolz auf das, was sie aus der Wohnung gemacht hatten, und hätte gern alle ihre und Adams Bekannte eingeladen, traute sich jedoch nur Dorothy und Spurgeon zu. Susan Haskell kam einmal zum Mittagessen, war schüchtern und unglücklich und wartete so offensichtlich auf spannende Enthüllungen, wie Adam Gaby mißhandelte, daß sie die Einladung nie mehr wiederholen würde. Aber sie merkte, daß ihre Wohnung für einige ihrer Nachbarn aus der Joy Street eine Art zeitweiliger Kneipe darstellte. Janet Williams kam häufig vorbei, aber nicht so oft, daß sie lästig geworden wäre. Mehrmals brachte sie einen zweiten Digger mit, den großen blonden Jungen, der die Papierblumen abgeliefert hatte. Er hieß Carl, war sanft und höflich und wußte eine Menge über Musik und Kunst. Ein andermal brachte sie jemand namens Ralph mit, der einen schütteren Bart trug und aussah, als hätte er schon lange nicht mehr gebadet. Er war benebelt und geistesabwesend und stand offensichtlich unter Einwirkung eines Rauschgiftes. Janet schien es nicht zu bemerken. Sie behandelte ihn genauso wie Carl.

Oder übrigens auch wie Gaby. Nach jedem Besuch trugen die Diggers einen Teil ihres Lebensmittelbudgets davon.

Natürlich kamen sie eines Abends, als Dorothy und Spurgeon da waren.

»Hei«, sagte Janet zu ihrer Schwester.

»Hallo«, sagte Dorothy.

Sie wartete, während alle einander vorgestellt wurden, und sagte dann: »Möchtest du nicht wissen, wie es Midge und Paps und Mama geht?«

»Wie geht's Midge?«

»Gut.«

»Wie geht es Paps und Mama?«

»Gut.«

»Prima«, sagte Janet.

Sie waren sehr höflich. Adam bot Drinks an, mischte sie, reichte Salznüsse herum und beteiligte sich an dem Gespräch. Es begann, als Spurgeon etwas über die Wahlen sagte.

Ralph runzelte die Stirn und blinzelte. Er war auf seinen Stuhl geklettert und saß nun auf der Lehne, die Füße auf dem Sitz, wie auf einem Thron, und schaute auf sie herunter. »Wenn man nur auf uns hören wollte«, sagte er. »Und das Ganze ins Rollen bringen und dann abhauen. Die Schweinehunde hätten dann niemanden, den sie beherrschen könnten. Wir versuchen es euch zu sagen, aber ihr wollt einfach nicht hören.«

»Sie glauben doch nicht wirklich, daß das funktionieren würde«, sagte Spurgeon milde.

»Halten Sie mir keine Vorträge, was ich glaube oder nicht, Mensch. Ich glaube, alle sollten einfach in die Wälder abhauen und high werden und ihr Dings machen.«

»Was würde aus der Welt werden, wenn jeder high wäre?«

»Was wird denn jetzt Großartiges aus der Welt, mit euch stocknüchternen Spießern?«

»Ihr braucht uns stocknüchterne Spießer zu eurer bloßen Existenz«, sagte Adam. »Ohne uns könntet ihr euer >Dings< gar nicht machen. Wir ernähren euch, Freundchen, und machen eure Kleider und die Häuser, in denen ihr lebt. Wir stecken die Sachen in die Dosen, die ihr kauft, wenn ihr genügend Blumen und Plakate verkauft, um Dosen kaufen zu können, und wir liefern das Heizöl, das eure Betten im Winter warmhält. Wir machen euch gesund, wenn ihr die schönen Körper, die Gott euch gegeben habt, verderbt.«

Er sah Ralphie an und lächelte. »Jedenfalls würdet ihr, wenn wir alle so wären wie ihr, wieder etwas anderes sein wollen. Ihr könnt es einfach nicht ertragen, so zu sein wie alle übrigen.«

»Mensch, Sie reden Mist.«

»Warum zum Teufel sitzen Sie dann so da, thronend wie ein erhabener Guru, der auf die Welt herabblickt?«

»Weil ich eben gern so sitze. Es tut niemandem weh.«

»Es tut Gaby und mir weh«, sagte Adam. »Sie verschmutzen mit Ihren Schuhen den Sitz unseres Stuhls.«

»Psychoanalysieren Sie mich nicht«, sagte Ralphie. »Ich kann den Spieß umdrehen. Sie sind ein richtig aggressiver Hund, wissen Sie das? Wahrscheinlich würden Sie als Schlächter arbeiten, statt als Chirurg, und Ihre Aggressivität abreagieren, indem Sie Messer in Kühe statt in Menschen stecken, wenn Sie nicht reiche Eltern gehabt hätten, die Sie ins College und an die Medizinische Schule geschickt haben. Haben Sie sich das je überlegt?«

Gaby und Adam waren unfähig, ihr Gelächter zu beherrschen, und versuchten auch gar nicht, es zu erklären.

Janet brachte die anderen Digger nie wieder mit und kam selbst nie mehr am Abend, aber gelegentlich schaute sie weiterhin zum Morgenkaffee herein.

Eines Tages saß sie auf der Couch, als die Übelkeit Gaby aus dem Zimmer trieb. Als sie endlich wiederkam, mit weißem Gesicht, und sich entschuldigte, sah Janet sie mit einem Mona-Lisa-Gesicht an. »Sind Sie schwanger?«

»Nein.«

»Aber ich.«

Gaby sah das Mädchen an und sagte dann sehr vorsichtig:

»Sind Sie sicher, Janet?«

»Mhm.«

»Was werden Sie tun?«

»Es von der Familie aufziehen lassen.«

»Wie Midge?«

Das Mädchen sah sie kalt an. »Von meiner echten, wirklichen Familie. Hier in der Joy Street. Alle werden seine Eltern sein. Das wird sehr nett sein.«

Das Gespräch verfolgte Gaby. War Carl der Vater des Kindes? Oder Ralphie? Oder, ein noch erschreckenderer Gedanke: Wußte Janet überhaupt, wer der Vater war?

Eines war sicher. Das Mädchen würde ab sofort ärztliche Betreuung brauchen. Als sie mit Adam darüber sprach, schloß er die Augen und schüttelte den Kopf. »Verdammt. Jemand hat also nicht gewußt, wie er das >Dings< zu machen hat.«

»In unserer Situation dürfen wir uns wohl kaum solche Bemerkungen erlauben.«

»Siehst du denn keinen Unterschied?« fragte er sie.

Sie gab nach. »O Adam, natürlich. Aber ich werde nachts nicht schlafen können, wenn wir nicht etwas für diese kleine Närrin tun. Sollen wir es Dorothy sagen?«

»Lieber nicht. Zumindest noch nicht. Wenn sie ins Krankenhaus kommt, werde ich dafür sorgen, daß sie untersucht wird und ihre Vitamine und alles Nötige bekommt.«

Sie küßte ihn und wartete ungeduldig auf Janets nächsten Besuch, aber das Mädchen kam nicht wieder. Sechs Tage später, als sie einen Sack Lebensmittel den Hügel hinaufschleppte, kam ihr Ralphie entgegen.

»Hei. Wie geht's Janet?« fragte sie.

Seine Augen waren glasig. »Was, dem Kind?« fragte er. »Die Familie kümmert sich um sie.« Er ging weiter, zum Takt einer anderen Trommel marschierend.

Zwei Tage später sah sie Carl Plakate abliefern und fragte wieder nach dem Mädchen.

»Sie lebt nicht mehr bei uns.«

»Wo ist sie?«

»Ich glaube, in Milwaukee.«

»Milwaukee?« fragte Gaby schwach.

»Dieser Kerl, den sie kennengelernt hat, ist gekommen und hat sie uns weggenommen.«

»Haben Sie ihre Adresse?«

»Ich habe sie irgendwo zu Hause aufgeschrieben.«

»Könnten Sie sie mir einmal geben? Ich möchte ihr schreiben.«

»Sicher tu ich das.«

Aber er tat es nie.

Gaby vermißte die Kaffeebesuche. Sie hatte das sichere Gefühl, daß Mrs. Walters gern hereingekommen wäre, sich hingesetzt und geklatscht hätte, wenn sie gebeten worden wäre, aber Gaby mochte die Hausfrau nicht und wich ihr aus. Eine andere Bewohnerin des Hauses faszinierte sie, eine kleine gebeugte Frau, die alle paar Tage in ihren Schal gewickelt wegeilte und immer mit einem einzigen Papiersack zurückkam. Ihr Gesicht war wie gegen eine feindliche Welt fest verkniffen. Das arme Ding sah aus wie eine Hexe mit Katzenjammer, dachte Gaby, und wußte sofort, wer es war.

Eines Morgens öffnete sie die Tür und trat hinaus, um sie abzufangen. »Mrs. Krol«, sagte sie.

Bertha Krol zitterte, als Gabys Hand ihren Ellbogen berührte.

»Ich bin Ihre Nachbarin, Gabrielle Pender. Möchten Sie nicht hereinkommen und eine Tasse Tee mit mir trinken?«

Die verschreckten Augen durchforschten die Phillips Street, wie Vögel, die einem Käfig zu entkommen suchen. »Nein«, flüsterte sie.

Gaby ließ sie gehen.

Es regnete sehr viel, ein nasser Frühling. Die von der Pille verursachte Übelkeit verschwand. Die Erde verwandelte sich, die Tage wurden länger und weniger kalt; alle paar Tage regnete es, und die Abwässer stürzten die gepflasterten Rinnsteine des Hügels hinunter und in kleinen Wasserfällen in die alten Kanäle und Abzugsrohre. Adam assistierte im Krankenhaus bei einigen Thoraxfällen, und die Herzchirurgie wirkte wie LSD auf ihn. Nachts, wenn sie im Bett lagen und in der Dunkelheit leise miteinander plauderten, erzählte er ihr, daß er die Hand in die aufgeschnittene Brust gelegt und durch die dünnen Gummihandschuhe das Pulsieren der sich zu-sammenziehenden rosaroten Pumpe, des lebendigen Herzens, gespürt hatte.

»Wie war das?« fragte sie ihn.

»So, wie wenn ich dich berühre.«

Adam hatte aufgehört, die Hunde beim Namen zu nennen. Es berührte ihn nicht weiter, im Tierlabor von Kazandjian zu erfahren, daß das chirurgische Experiment Nr. 37 ein Fehlschlag gewesen war; es war etwas ganz anderes, vom Tod einer lebendigen Kreatur zu erfahren, die Lovely oder May, Wallace oder Blumenkind hieß. Er zwang sich, die Hundezungen zu übersehen, die versuchten, seine Hand zu küssen, und sich stattdessen auf die mikrokosmischen Kriege zwischen Antigenen und Antikörpern zu konzentrieren, die im Inneren der Hunde wüteten.

Nachdem Kender ihn monatelang vertrauensvoll allein hatte arbeiten lassen, begann er immer wieder das Labor zu besuchen und Adam genau zu beobachten.

»Die Fakultätsernennung dürfte kurz bevorstehen«, sagte er eines Abends zu Gaby und erzählte ihr von Kender, während sie sich unter der Bestrahlungslampe mit Babyöl einrieb.

»Vielleicht ist es gar nicht das«, sagte sie, drehte sich auf den Bauch und reichte ihm das Öl. »Vielleicht interessiert er sich nur so für die Experimente, daß er einfach nicht wegbleiben kann.«

»Er hat sich immer für die Experimente interessiert, ohne mich zu beobachten«, sagte Adam. Seine ölige Handfläche machte saugende Geräusche, als er seine Lieblingsstelle einrieb, die kleine Höhlung, wo ihr Rückgrat endete und die gluteale Erhebung begann. Er atmete den Duft des Öls auf warmem Fleisch ein, und sie konnten es beide nicht aushalten, als er versuchte, ihre Kniekehlen einzu-reiben. Als sie sich endlich umdrehte, bekamen seine Kleider Fettflecke, und als er am nächsten Tag zur Arbeit ging, scheuerte sein Hemd an dem leichten Sonnenbrand auf seinem Rücken und Nacken.

Zwei Abende später, als Kender ihn bat, ihm einen Vorgang zu erklären, den er bereits in allen Einzelheiten im Arbeitsbuch beschrieben hatte, war Adam sicher.

Er wiederholte das Experiment mündlich, sah dann den älteren Chirurgen an und lächelte.

»Was mich betrifft, sind Sie durchgekommen«, sagte Kender.

»Wie, glauben Sie, werde ich bei den anderen, auf die es ankommt, abschneiden?« fragte Adam, mit dem intuitiven Gefühl, daß dies der richtige Augenblick sei, offen zu sein.

Kender wickelte eine Zigarre aus. »Das ist schwer zu sagen. Ich kann Ihnen nur verraten: es ist ein kleines Feld. Man zieht nur Sie und einen zweiten in Betracht. Ich nehme an, Sie wissen, wen?«

»Ich bin ziemlich sicher.«

»Es spricht viel für Sie.«

»Wann werden wir verständigt?« Kender schüttelte den Kopf.

»Man verständigt nur einen, denjenigen, der ernannt wird. Der andere Kandidat erfährt davon durch geheime Verbindungskanäle, Gerüchte. Man wird ihm nie sagen, warum er nicht berufen wurde, und er wird nie erfahren, wer gegen ihn gestimmt hat.« Kender zuckte die Achseln. »So ist das System«, sagte er. »Zumindest erlaubt es dem erfolglosen Kandidaten, sich mit dem Gedanken zu trösten, daß er vielleicht deshalb verloren hat, weil irgendeinem voreingenommenen Hund die Wahl seiner Krawatten oder die Farbe seiner Augen nicht gefiel.«

»Ziehen Sie diese Möglichkeit auch in Betracht?«

Kender paffte. Die Zigarrenspitze glühte wie Neonlicht, die Luft des Labors wurde stickig vor Rauch. »Auch das dürfte vermutlich schon vorgekommen sein«, sagte er.

Am selben Abend kam Dr. Longwood ins Tierlabor, und Adam bereitete sich etwas gereizt auf eine weitere Prüfung vor.

Aber der Alte bat bloß, das Laborbuch über die Reihe mit dem Anti-Lymphocytenserum lesen zu dürfen.

Er saß da wie eine tragische Karikatur und las, während seine Hand in seinem Schoß zitterte und Adam gezwungen war, wegzuschauen. Vielleicht spürte es der Alte; seine Hand begann mit einem Schlüsselring zu spielen, während er las, und die Schlüssel machten dabei ein leises mißtönendes Geräusch wie ... was?

Die Harlekinglöckchen, dachte Adam.

»Sind die Pferde hier, in diesem Gebäude?« fragte Dr. Longwood.

»Nein«, sagte Adam. »Die Tiere gehören zwar dem Krankenhaus, aber sie stehen in den staatlichen biologischen Laboratorien. Wir sammeln Lymphknoten aus Menschenleichen, zermahlen sie und schicken sie in die Staatslabors, wo sie den Pferden zwecks Produktion des Serums injiziert werden.«

Dr. Longwood klopfte mit einem dünnen Finger auf das Heft. »Sie haben einige Ergebnisse erzielt.«

Adam nickte. »Das Serum verzögert den Abstoßungsmechanismus. Wenn wir es verwenden, können wir kräftige immununterdrückende Medikamente wie Imuran in Dosierungen geben, die klein genug sind, um dem Tier Schutz gegen Infektion zu gewähren.«

Longwood nickte, weil er anscheinend das erfahren hatte, weshalb er gekommen war. »Sie machen diese Tierversuche gern?«

»Sie machen mich, glaube ich, zu einem besseren Chirurgen.«

»Das stimmt.«

Plötzlich fühlte Adam die Gewalt dieser Augen.

»Wohin gehen Sie nächstes Jahr, wenn Sie uns verlassen?«

Die Frage traf ihn wie ein Schlag, weil er darin die Entscheidung Longwoods erkannte, daß alles vorbei war. Dann jedoch tröstete er sich damit, daß Kender dieses Gefühl offenbar nicht gehabt hatte.

»Ich weiß noch nicht.«

»Entscheiden Sie sich doch für eine bestimmte Gegend und lassen Sie es mich wissen. Ich werde mich freuen, Ihnen zu helfen, dort etwas zu finden.«

»Danke«, vermochte Adam zu sagen.

»Ich möchte gern, daß Sie etwas lesen.« Dr. Longwood griff in seine Aktentasche und nahm eine Schachtel heraus. »Es sind ungefähr zwei Drittel eines Buchmanuskripts. Ein Lehrbuch der allgemeinen Chirurgie.«

Adam nickte. »Wenn Ihnen an der Meinung eines Oberarztes etwas liegt, sollen Sie sie hören.«

»Drei sehr erfahrene Chirurgen in anderen Landesteilen haben schon einige Kapitel gelesen. Ich möchte wissen, welchen Eindruck es auf jemanden macht, der die Medizinische Schule noch vor nicht allzu langer Zeit verlassen hat.«

»Es ist mir eine Ehre.«

»Noch eines.« Wieder hielten ihn die Augen fest. »Ich will nicht, daß jemand von unserem Stab davon erfährt.

Ich kann mir meine Arbeitszeit wegen meines Zustandes nicht einteilen. Ich habe keine Zeit mehr.«

Gott, dachte Adam, was sage ich darauf? Aber es war unnötig, etwas zu sagen, weil Longwood nickte und sich aus dem Sessel hochzog.

»Gute Nacht, Sir«, sagte Adam.

Der Alte schien es nicht gehört zu haben.

Er versorgte einige Tiere mit Medikamenten, registrierte wichtige Symptome, brachte das Laborbuch auf den laufenden Stand. Es war sehr spät, als er Schluß machte, und er war versucht, das Lesen des Manuskripts zu verschieben, wußte jedoch, daß er es vielleicht nie lesen würde, wenn er damit nicht wenigstens anfing, solange er die Möglichkeit dazu hatte. Er rief die diensthabende Te-lephonistin an und sagte ihr, daß er im Labor zu erreichen sei.

Dann setzte er sich hinter den alten Eichentisch und nahm das Manuskript aus der Schachtel. Der Kaffee auf dem Bunsenbrenner brodelte, das alte Gebäude knarrte. In den Käfigen bissen einige Hunde nach Flöhen; andere stöhnten und kläfften im Schlaf, vielleicht jagten sie langsame Traumkaninchen oder besprangen läufige Hündinnen, von denen sie in der kalten, wachen Vergangenheit zähnefletschend vertrieben worden waren. Der Lärm weckte einige Tiere, und im nächsten Augenblick hatte ihr Bellen die übrigen aufgeweckt. Das Labor hallte vor Hundeprotest.

»Ist schon gut«, sagte er. »Gebt jetzt Ruhe. Geht schlafen, geht schlafen.« Albern, mit ihnen zu sprechen, als seien sie menschliche Patienten und könnten die beruhigenden Töne verstehen.

Aber sie beruhigten sich.

Er schenkte sich eine Tasse heißen schwarzen Kaffees ein, setzte sich wieder hin, schlürfte vorsichtig und begann zu lesen.

Die meisten Kapitel beeindruckten ihn tief. Der Still war eindringlich und täuschte Einfachheit vor, jene Art leichter wissenschaftlicher Lektüre, die schwer zu schreiben ist. Longwood hatte die erstklassigen chirurgischen Erfahrungen eines ganzen Lebens destilliert und nicht gezögert, sich auf die Arbeit vieler anderer chirurgischer Kapazitäten zu beziehen. Als Adam hundert Seiten des Manuskripts gelesen hatte, läutete das Telephon, und der Gedanke, daß man ihn vielleicht wegholte, erfüllte ihn mit Bedauern. Zum Glück war es Spurgeon mit der Bitte um einen Rat, den er ihm telephonisch geben konnte, ohne weggehen zu müssen. Begierig kehrte er zu dem Manuskript zurück.

Er las die ganze Nacht hindurch.

Als er mit den letzten drei Kapiteln fertig war, hatten sich die Fenster des Labors zu einem düsteren Grau erhellt.

Vielleicht, dachte er, kam es von seiner Müdigkeit. Er rieb sich die Augen, wärmte den Kaffee auf, trank noch eine Tasse und las die letzten drei Kapitel langsam noch einmal.

Es war, als seien sie von einem anderen Menschen geschrieben worden.

Trotz seiner verhältnismäßig geringen Erfahrung stieß er auf grobe Irrtümer. Der Stil war unklar, die Satzkonstruktionen gewunden, und es war schwierig, ihnen zu folgen. Im Material tauchten große Lücken auf.

Er las die Seiten noch einmal, und jetzt enthüllte sich ihm die schreckliche Entwicklung, das Bild des Dahinschwindens einer ungeheuren intellektuellen Kapazität.

Der Zerfall eines Geistes, erkannte er erschüttert.

Er versuchte zu dösen, konnte aber ausnahmsweise nicht einschlafen. Er verließ das Labor und frühstückte als Maxies erster Gast, ging dann durch die kalte Morgendämmerung wieder ins Tierlabor und legte das Manuskript sorgfältig in die Schachtel zurück.

Drei Stunden später wartete er auf Kender, der in sein Büro kam.

»Ich glaube, das sollten Sie lesen«, sagte er.

Als er in der folgenden Nacht im Finstern bei Gaby lag, erzählte er ihr, daß Longwood am Nachmittag von seinem Posten als Chefchirurg zurückgetreten war.

»Der Arme«, sagte sie. »Kann man denn nichts unternehmen?« fragte sie einen Augenblick später.

»Die Chancen, einen Leichenspender mit einer seltenen Blutgruppe zu bekommen, sind gering. Longwood kann durch Dialyse am Leben erhalten werden, aber Kender sagt, der Apparat sei die Ursache seines psychischen Versagens.«

Seite an Seite blickten sie zu einem schwarzen Himmel auf.

»Ich glaube nicht, daß ich die Maschine lange ertragen würde, wenn ich ...«, sagte sie.

»Wenn du was?« fragte er schläfrig.

»Zum Tod verurteilt wäre.«

Aber er war schon eingeschlafen.

Nach einer Weile streifte sie ihn mit ihren Zehennägeln, zweimal, bis er erwachte und sich ihr zuwandte. Ihre wilden Schreie sandten Klangkreise über das schwarze Meer.

Nachher trieb sie dahin, den Kopf an seiner Brust, während er wieder schlief und sein klopfendes Herz an ihrem Ohr flüsterte. Lebendig, sagte es. Lebendig. Lebendig ...

16

SPURGEON ROBINSON

Der Mann war gebeugt und schwarz und weinte, ein keineswegs seltsamer Anblick im Krankenhaus, aber Spurge-on blieb doch bei der Bank stehen.

»Fühlst du dich nicht wohl, Alterchen?«

»Sie haben ihn umgebracht.«

»Das tut mir leid«, sagte er sanft und fragte sich, ob es ein Sohn oder ein Bruder war, ein Straßenunfall oder Mord.

Zuerst verstand er den Namen nicht.

»Haben ihn erschossen. Tot für immer. Unser Befreier, unser King.«

»Martin Luther?« fragte er schwach.

»Weiße Mütter. Erwischen am Ende alle und jeden von uns.«

Der alte Schwarze wankte fort. Spurgeon haßte ihn für diese ungeheure Lüge.

Aber es war die Wahrheit. Bald bestätigten es sämtlich Rundfunk- und Fernsehapparate im ganzen Krankenhaus.

Spurgeon wollte sich selbst auf die Bank setzen und weinen.

»O Gott, es tut mir so leid«, sagte Adam zu ihm. Andere sagten Ähnliches. Er brauchte eine Weile, um zu erken-nen, daß die Menschen ihm ihr Beileid genau so ausdrückten, wie er es dem alten Patienten gegenüber getan hatte, in dem Glauben, dieser habe einen persönlichen Verlust erlitten; im wesentlichen ließ es ihn unberührt. Erst später wurde er wütend darüber.

Er hatte keine Zeit, sich den Luxus eines Schocks zu gönnen. Dr. Kender berief das gesamte dienstfreie Personal ein. Das Suffolk County General Hospital hatte erst einmal, im Jahr zuvor, einen Rassenkonflikt erlebt und war damals unvorbereitet gewesen. Jetzt wurde nur das notwendigste Personal in den Abteilungen belassen, man stellte jeden Operationssaal zu sofortiger Benützung bereit. Jeder Krankenwagen wurde mit zusätzlichen Tragbahren und Material ausgerüstet.

»In jedem Fahrzeug muß ein zusätzlicher Arzt sein«, sagte Dr. Kender. »Falls die Hölle losbricht, will ich nicht, daß Sie nur mit einem Patienten zurückkommen, sondern mit zwei oder sogar drei.« Er wandte sich an Meomartino und Adam Silverstone. »Einer von Ihnen bleibt hier und leitet die Unfallstation. Der andere soll mit den Krankenwagen fahren.«

»Was wollen Sie übernehmen?« fragte Meomartino Adam.

Silverstone zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf, als Moylan hereinkam und über Schüsse aus dem Hinterhalt von Dächern berichtete, von denen der Polizeifunk gewarnt habe.

»Ich kann ebensogut auch in der Unfallstation bleiben«, sagte Meomartino.

Adam teilte die Bemannung der Krankenwagen ein und setzte sich mit Spurgeon in Meyersons Wagen. Ihre erste Fahrt stellte sich als Antiklimax heraus: auf der

Schnellstraße waren drei Wagen zusammengestoßen, zwei Verletzte, keiner schwer.

»Ihr habt euch einen schlechten Zeitpunkt ausgesucht«, sagte Meyerson zu dem einen, als sie ihn zum Krankenwagen trugen.

Aber das Krankenhaus war ruhig, als sie zurückkamen. Die Berichte über Schießereien hatten sich als unrichtig erwiesen. Die Polizei war zwar weiterhin in Alarmbereitschaft, aber noch hatte sich nichts ereignet.

Ihre nächste Ausfahrt galt einem Mädchen, das in eine zerbrochene Flasche getreten war.

Ihre dritte Fahrt ging nach Roxbury, wo es eine Schießerei in einer Kneipe gegeben hatte.

»Dort fahre ich nicht hin«, sagte Meyerson.

»Warum nicht?« fragte Spurgeon.

»Soviel Geld verdiene ich nicht. Sollen sich die Schweinehunde doch gegenseitig umbringen.«

»Los, heb deinen Arsch«, sagte Spurgeon.

»Ganz wie Sie wollen«, sagte Adam ruhig. »Wenn Sie heute abend nicht fahren, sind Sie hier erledigt. Dafür werde ich sorgen.«

Meyerson sah sie an. »Pfadfinder«, sagte er.

Er stand auf und ging langsam hinaus. Spurgeon dachte, er würde vielleicht einfach am Krankenwagen vorbeigehen, aber er öffnete die Tür und setzte sich hinter das Lenkrad.

Spurgeon ließ Adam in der Mitte sitzen.

Einige Läden in der Blue Hill Avenue waren mit Brettern verschlagen. Die meisten waren dunkel. Die beleuchteten trugen hastig über die Auslagenscheiben geschmierte Auf-schriften: »Seelenbruder«, »Gehört einem Schwarzen«, »Eigentümer ist ein Bruder«. Sie fuhren an einem schon völlig ausgeplünderten Schnapsladen vorbei, einem von Ameisen kahlgefressenen Skelett, und aus den scheibenlosen Auslagen schlüpften Kinder mit Flaschen.

Spurgeons Herz brach um ihretwillen. Trauere, sagte er stumm. Weißt du nicht zu trauern?

Nicht weit von Grove Hall trafen sie auf die erste Menschenmenge, riesig ergoß sie sich wie eine Viehherde über die Straße, Gruppen, die sich drängend und schiebend von einer Straßenseite zur anderen im Kreis bewegten. Der durch die offenen Wagenfenster dringende Lärm war eine Mischung aus Karnevalsgebrüll, Flüchen und Faschingsdienstaggelächter.

»Da kommen wir nicht durch«, sagte Meyerson. Er hupte.

»Wir drehen lieber ab und umfahren sie«, sagte Adam.

Aber hinter ihnen war die Straße bereits von Leibern verstopft.

»Andere Vorschläge?« sagte Meyerson.

»Nein.«

»Pfadfinder.«

Einige Männer und Jungen begannen einen unter einer Straßenlaterne geparkten Wagen zu schaukeln, eine schwarze, viertürige Limousine. Es war ein schweres Modell, ein Buick, aber nach kurzer Zeit schwankte er wie ein Spielzeug vor und zurück. Nach jedem Stoß hoben sich zwei Räder vom Boden und krachten wieder herunter, bis er schließlich unter Gekreisch und Triumphgeschrei im Gedränge umkippte.

Meyerson stieg mit dem Fuß auf den Sirenenknopf.

»Los auf ihn!« brüllte jemand.

Der Ruf pflanzte sich fort, und sofort waren sie eine Insel in einem Menschenmeer. Hände begannen an die metallenen Seiten des Krankenwagens zu hämmern.

Meyerson kurbelte das Fenster an seiner Seite hoch. »Die werden uns umbringen.«

Im nächsten Augenblick begann der Krankenwagen zu schaukeln.

Spurgeon drückte den Türgriff nieder, stieß die Tür mit der Schulter auf, so daß draußen jemand wegflog. Er stieg aus, kletterte auf die Motorhaube und stand mit dem Rük-ken zu den beiden Männern im Inneren da.

»Ich bin ein Bruder«, brüllte er in die fremden Gesichter.

»Und was sind die dort - Vettern?« rief jemand, und alle lachten.

»Wir sind Ärzte auf dem Weg zu einem Verletzten. Er braucht unsere Hilfe, und ihr hält uns von ihm fern.«

»Ist er ein Bruder?« brüllte eine Stimme.

»Zum Teufel ja, er ist ein Bruder.«

»Laßt sie durch!«

»Zum Teufel, ja!«

»Ärzte, die einem Bruder helfen sollen!« Er konnte hören, wie die Parole weitergegeben wurde.

Er saß auf der Motorhaube: neun Jahre Studium, um eine Kühlerfigur zu werden. Meyerson drehte den Scheinwerfer wieder auf. Der Krankenwagen fuhr ganz langsam an, und die Menge teilte sich vor ihm, als sei Spurgeon Moses und sie das Rote Meer.

Sie kamen durch.

Meyerson vergewisserte sich, daß sie ein halbes Dutzend Häuserblocks weit weg waren, bevor er den Krankenwagen anhielt und Spurgeon wieder einsteigen ließ.

Sie fanden die Kneipe. Der Verwundete lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, seine Hose war von dunklem Blut durchtränkt. Weit und breit niemand, der auf ihn geschossen hatte. Auch keine Waffe. Die Zuschauer wußten von nichts.

Spurgeon schnitt die blutdurchtränkte Hose und Unterhose weg.

»Die Kugel ist glatt durch den gluteus maximus gegangen«, sagte er gleich darauf.

»Bist du sicher, daß sie nicht mehr drin ist?« fragte Adam.

Spurgeon berührte die Wunde mit der Fingerspitze und nickte; der Mann zuckte zusammen und stöhnte. Sie legten den Patienten bäuchlings auf die Tragbahre.

»Ist es schlimm?« keuchte der Mann.

»Nein«, sagte Spurgeon.

»Man hat dich in den Arsch geschossen«, sagte Meyer-son knurrend, als er sein Ende der Trage aufhob.

Im Krankenwagen gab Adam dem Patienten Sauerstoff, und Spurgeon setzte sich neben Meyerson. Maish benützte die Sirene nicht. Einige Minuten später erkannte Spurge-on, daß sie sich dem »Frontgebiet« in North Dorchester näherten, einer nicht ganz geheuren Gegend, in der sich die schwarze Bevölkerung in bisher »weiße« Straßen ausbreitete.

»Sie machen einen Umweg«, sagte er zu Meyerson.

»Es ist der kürzeste Weg aus Roxbury«, sagte Meyerson; er schlug das Lenkrad ein, der Krankenwagen bog um eine Ecke und kam quietschend zum Stehen, als Meyerson heftig auf die Bremse trat. »Was zum Teufel ist jetzt wieder los?« sagte er.

Ein geparkter Wagen mit offener Tür blockierte das Ende der schmalen Straße. Das andere Ende war ebenfalls abgeschnitten, durch zwei etwa sechzehnjährige Jungen, einem Farbigen und einem Weißen, die aufeinander eindroschen.

Meyerson hupte und ließ dann die Sirene aufheulen. Blind gegen alles rauften sie weiter. Es war keine Technik an ihrem Kampf. Sie schlugen einfach so fest wie nur möglich aufeinander los. Wer weiß, wie lange der Kampf schon dauerte. Das linke Auge des weißen Jungen war geschlossen, der schwarze blutete aus der Nase und schluchzte nervös.

Meyerson seufzte. »Entweder wir trennen diese Idioten oder wir rücken den Wagen weg«, sagte er. Sie stiegen aus.

»Passen Sie auf, daß Sie nicht eins abkriegen«, warnte Meyerson, während sie sich anschlichen.

»Jetzt packen wir sie«, sagte Adam, als die Jungen in einen Clinch gingen und fest umklammert miteinander rangen.

Es war überraschend leicht. Sie leisteten nur Widerstand, um das Gesicht zu wahren, denn beide waren zweifellos erleichtert, daß die Qual vorüber war. Spurgeon hatte die Arme des weißen Jungen von hinten gepackt. »Ist das dein Wagen?« fragte er.

Der Junge schüttelte den Kopf. »Seiner«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf seinen Gegner. Jetzt bemerkte Spurgeon, daß Adam die Arme des farbigen Jungen festhielt, während Meyersons große blasse Hände in wolliges schwarzes Haar - wie das von Dorothy - verkrampft, den Kopf des Jungen nach hinten zwangen.

»Das ist unnötig«, sagte er scharf. Der weiße Junge wimmerte.

Als er einen Blick hinunterwarf, sah er, wie seine eigenen, ihm vertrauten schwarzen Finger sich in sommer-sprossiges Fleisch gruben. Verblüfft öffnete er sie, und der Junge entfernte sich wie ein befreites Tier, steif vor gespielter Gleichgültigkeit.

Trotzig ließ der schwarze Junge seinen Vergaser aufheulen, als sie zum Krankenwagen zurückgingen.

Spurgeon befiel das gleiche Gefühl, das der alte Mann, der auf der Holzbank geweint hatte, gehabt haben mußte.

»Wir haben Partei ergriffen«, sagte er zu Adam.

»Was meinst du damit?«

»Ich konnte nicht schnell genug hinspringen, um mit dem kleinen weißen Gangster abzurechnen, und ihr beiden tapferen Weißen habt das farbige Kind grob behandelt.«

»Sei kein paranoides Arschloch«, fuhr ihn Adam an.

Auf dem Heimweg zum Krankenhaus stöhnte der Verwundete gelegentlich; die übrigen Insassen des Wagens schwiegen.

In der Unfallstation ließen sich drei Polizisten verarzten, die von Steinen getroffen worden waren, aber sonst merkte man noch immer nichts von den vorausgesagten Krawallen. Sie mußten noch einmal nach Roxbury zurückfahren, um einen Zimmermann abzuholen, der sich die Hand an der Elektrosäge aufgeschnitten hatte, als er Bretter zum Vernageln von Ladenfestern zurechtschnitt. Dann wurden sie nach einem Mann ausgeschickt, der einen Herzanfall vor der North Station erlitten hatte. Um neun Uhr zwanzig fuhren sie wieder aus, um jemanden zu holen, der sich angeblich beim Sturz von einer Leiter den Rücken verletzt hatte, als er die Decke seiner Wohnung malte.

Der nächste Ruf kam von einer Wohnhausanlage im South End. Neben dem großen plätschernden Teich wartete ein Junge in einer schmutzigen weißen Nehrujacke auf sie, ungefähr so alt wie die beiden Straßenkämpfer, aber sehr mager.

»Hier geradeaus, meine Herren«, sagte er und ging in die Dunkelheit hinein. »Ich bringe Sie zu ihm hinauf. Sieht wirklich schwer verletzt aus.«

»Sollen wir die Tragbahre mitnehmen?« fragte Spurgeon.

»He«, rief Adam dem Jungen zu, »welcher Stock?«

»Vierter.«

»Ist ein Lift vorhanden?«

»Kaputt.«

»Zum Teufel«, sagte Meyerson.

»Bleiben Sie hier«, sagte Silverstone und griff nach seiner Arzttasche. »Es ist zu hoch, um die Bahre hinaufzu-schleppen, wenn wir sie nicht brauchen sollten. Dr. Robinson und ich sehen ihn uns an. Wenn wir die Bahre brauchen, wird einer von uns herunterkommen und Ihnen tragen helfen.«

Die Wohnanlage bestand aus einer Reihe kastenförmiger Betonbauten. Das Haus 11 stand neben einem Teich und war noch nicht alt, aber schon ein Elendsquartier. Anatomisch unwahrscheinliche Bleistiftzeichnungen bedeckten die Wände des Vorhauses, waren jedoch auf höheren Treppenabsätzen nicht zu sehen, weil dort gähnende Finsternis herrschte, da die Glühbirnen gestohlen oder zerbrochen waren. Im zweiten Stock stank die Dunkelheit nach altem Müll und Schlimmerem.

Spurgeon hörte, wie Adam den Atem anhielt.

»Welche Wohnung?« fragte er.

»Folgen Sie mir nur.«

Oben spielte jemand eine wüste Sache von Little Richard, es dröhnte wie das Gestampfe wilder Pferde, die in rasender Flucht dahinjagten. Je höher sie kamen, umso lauter wurde es. Im vierten Stock ging der Junge über einen Gang auf eine Tür zu, hinter der die Musik lärmte. Wohnung D. Er hämmerte an die Tür, und drinnen nahm jemand die Nadel von der Platte.

»Aufmachen. Ich bin's.«

»Hast sie mit?«

»Ja. Zwei Doktoren.«

Die Tür öffnete sich, der Junge in der Nehrujacke ging hinein und Adam hinter ihm. Als Spurgeon folgte, kam Adams Warnung.

»Lauf, Spur! Hol -«

Aber er war schon drinnen, und die Tür wurde hinter ihm zugeschlagen. Eine einzige Lampe brannte. In ihrem Lichttümpel sah er vier Männer; nein, fünf, zählte er, als noch einer aus der Dunkelheit in den Lichtkegel trat, drei Weiße und zwei Farbige, den Jungen nicht mitgezählt. Er erkannte nur einen von ihnen, einen mageren braunen Mann mit Zuluhaaren und einem strichdünnen Schnurrbart, der ein zu einer schmalen Klinge zugefeiltes Küchenmesser in der Hand hielt.

»Hallo, Speed«, sagte er. Nightingale lächelte ihn an. »Nur herein, Doc«, sagte er.

Sie traten näher und standen vor den Männern.

»Wußte nicht, daß Sie es sein würden, Langhaar. Kein Grund zur Aufregung. Wir wollen nur die Tasche Ihres Freundes.«

»Talentverschwendung«, sagte Spurgeon. »Jemand, der so Klavier spielt wie Sie.«

Speed zuckte die Achseln, grinste jedoch geschmeichelt. »Wir haben ein paar Burschen, denen es schlecht geht. Sie brauchen etwas, ganz schnell. Tatsache ist, daß auch ich selbst zu lange ohne war.«

»Gib Ihnen die Tasche, Adam«, sagte Spurgeon.

Aber Adam ging zum Fenster.

»Mach keine Dummheit«, sagte Spurgeon. »Gib ihnen die verdammte Tasche.« Er sah entsetzt, daß Adam auf den Teich hinuntersah. »Einen so guten Taucher gibt es nicht«, sagte Spur.

Jemand lachte.

»Plansch doch«, sagte eine Stimme aus der Dunkelheit.

»Das ist nämlich ein Planschbecken, Mister«, sagte der Kleine.

Speed ging zu Adam und nahm ihm die Arzttasche weg. »Seid ihr alle miteinander besoffen?« sagte er gutmütig. Er reichte Spurgeon die Tasche. »Suchen Sie es für uns heraus, Doc.«

Spurgeon öffnete sie, fand eine Flasche Ipecac, ein Brechmittel, und reichte sie ihm. Nightingale nahm die Kappe ab, steckte seine Zungenspitze in die Flasche und spuckte aus.

»Was ist das?« fragte einer der Männer.

»Vermutlich etwas zum Speien.« Er sah Spurgeon an, diesmal ohne zu lächeln, und ging auf ihn zu.

Adam schlug bereits wild um sich.

Spurgeon versuchte einen Schlag zu landen, aber er war noch ungeschickter als die Straßenkämpfer. Jetzt wurden seine Arme von Händen festgehalten, und ein deja vu überwältigte ihn. Als die großen schwarzen Fäuste auf ihn losschlugen, drehte sich die Welt im Kreis, er war wieder vierzehn und verdrosch einen Betrunkenen in einem dunklen Eingang in der 171. West Street zusammen mit seinen Freunden Tommy White und Fats McKenna, wobei er den Platz hinter dem Opfer einnahm. Der Mann, der jetzt die Rolle Fats McKennas übernahm, würde ganze Arbeit lei-sten, erkannte er, als er mit großer Kraft in den Magen getroffen wurde und ihm der Atem stockte. Etwas stieß gegen seine Schläfe, den Rest spürte er kaum mehr. Er sah durch den Nebel jenen Mann, zu dem er vielleicht geworden wäre, wäre ihm nicht die Gnade Gottes und Calvins widerfahren, und der jetzt auf dem Fußboden kniete, die Arzttasche durchwühlte, sie schließlich umdrehte und ihren Inhalt auf den Fußboden stürzte.

»Hast es, Baby?« fragte eine Stimme.

Spurgeon hörte nicht mehr, ob Speed Nightingale es hatte. Jemand stellte die Nadel wieder auf die Platte von Litt-le Richard, und das Dröhnen der wilden Pferde überrannte alles. Auch ihn.

Er kam zweimal zu Bewußtsein.

Als er das erstemal die Augen öffnete, sah er Meyerson.

»Ich weiß nicht«, sagte Maish soeben. »Es ist schwieriger geworden, leere Formulare zu kriegen. Ich werde vielleicht einen Dollar draufschlagen müssen. Sechs Dollar pro Rezept ist nicht zu hoch.«

»Wir streiten nicht um den Preis«, sagte Speed. »Bloß her damit, Mensch. Bloß her damit.«

»Der ganze Handel könnte hochgehen, wenn ihr diese beiden Kerle ex gehen läßt«, sagte Meyerson.

»Über die brauchst du dich nicht aufzuregen«, sagte eine Stimme verächtlich.

Spurgeon wollte wissen, wie es ausging, und als die Stimmen schwanden, empfang er eine Art zornigen Bedauerns.

Das Gesicht, in das er das zweitemal blickte, war groß, irisch und häßlich. »Der Nigger dürfte sich erholen«, sagte er.

»Der andere Bursche auch. Aber ich glaube, seine Würde ist angeknackst.«

Als er sich aufsetzte, übergab er sich und sah, daß zwei Polizisten in der Wohnung standen.

»Wie geht's, Adam?« fragte er mit schmerzendem Kopf.

»Ganz gut. Dir, Spur?«

»Ich werd's überleben.«

Speed und seine Freunde waren bereits abgeführt worden.

»Aber wer hat Sie gerufen?« fragte Adam den Polizisten.

»Der Bursche sagte, er sei euer Fahrer. Er sagte, ich solle euch sagen, die Schlüssel des Krankenwagens seien unter dem rechten, hinteren Sitz.«

Die beiden Polizisten fuhren sie ins Krankenhaus zurück. In der Halle drehte sich Spurgeon um, um ihnen zu danken. Er war genauso verblüfft wie sie, als er sich sagen hörte:

»Nenn du mich ja nie wieder Nigger, du dickes Schwein.«

Er schlief lange, wachte blaugeschlagen und steif und mit dem Gefühl auf, daß er etwas vergessen habe.

Der Aufruhr.

Aber der Rundfunk unterrichtete ihn, daß es keinen gegeben hatte. Ein paar in Brand gesteckte Läden, geringfügige Plünderungen. Jimmy Brown war in der Stadt, und der Bürgermeister hatte ihn gebeten, eine Rede zu halten, die das Fernsehen aus dem Boston Garden übertrug. Die Leute, die sonst Brände gelegt hätten, blieben daheim und sahen sich Jimmy im Fernsehen an. Die anderen hielten bereits Versammlungen ab und bemühten sich, die Stimmung abzukühlen.

Er blieb fast eine Stunde unter der Dusche und trocknete eben die Haut zwischen den blauen Flecken ab, als das Telephon in der Halle läutete.

Die Polizei hatte Meyerson geholt. Er konnte gegen zweihundert Dollar freigehen. Er brauchte zwanzig Dollar, die zehn Prozent für den Kautionsbürgen.

»Ich komme hinüber«, sagte Spurgeon.

In der Polizeidirektion in der Berkeley Street bezahlte er das Geld und erhielt eine Quittung.

»Sie sehen müde aus«, sagte er, als Maish herauskam.

»Miese Matratze.«

Im Morgen lag die erste Andeutung von Frühlingswärme, und die Luft war zitronengelb vor Sonnenlicht, aber sie gingen in unbehaglichem Schweigen dahin, bis sie den Park Square überquerten.

»Danke, daß Sie die Polizei gerufen haben«, sagte Spur-geon.

Meyerson zuckte die Achseln. »Ich habe es nicht für euch getan. Wenn sie euch umgebracht hätten, wäre ich ein Helfershelfer gewesen.«

Daran hatte Spurgeon noch gar nicht gedacht.

»Sie bekommen Ihre zwanzig Dollar zurück«, sagte Maish.

»Eilt nicht.«

»Ich habe Geld in meinem Zimmer versteckt, mein Spielgeld. Sie haben gestern abend schon auf mich gewartet, als ich es holen ging. Ich schicke Ihnen die zwanzig per Post.«

»Sie werden die Kaution fahren lassen, nicht wahr?« sagte Spurgeon.

»Ich habe noch was auf dem Konto. Diesmal würde es eine unbedingte Gefängnisstrafe bedeuten.«

Spurgeon nickte. »Ein Philosoph!« sagte er traurig.

Meyerson sah ihn an. »Ich bin ein Vagabund. Ich hab's Ihnen ja gesagt, und wenn Sie ein echter Nigger wären, würden Sie so etwas nicht sagen.«

Sie waren die Boylston Street in Richtung Tremont gegangen. Als sie jetzt stehenblieben und einander anstarrten, kam ein bärtiger, bloßfüßiger Prophet vom Common herüber auf sie zu und verkündete, daß er, falls sie ihm nicht einen Dollar gäben, nichts zum Frühstück haben würde.

»Dann verhungere eben, Schmock«, sagte Meyerson, und der Junge wanderte, ohne beleidigt zu sein, davon.

»Sie wissen nicht, was das heißt, etwas so sehr haben zu wollen, daß Sie alles täten, um es zu bekommen«, sagte Maish. »Sie sind ein weißer Schwarzer, das ist's, warum Sie die Nigger nicht verstehen. Deshalb sind Sie genauso schlimm wie wir übrigen Weißen, die es einen Dreck schert, wie es anderen geht, weil wir nur an uns selber denken. Oder vielleicht sind Sie noch schlimmer.« Er drehte sich um und ging auf die Haltstelle der Untergrundbahn zu.

Nein, bin ich nicht, versicherte sich Spurgeon.

Und auch sonst keiner.

»Sie sind nicht alle wie du, Meyerson!« schrie er. »Nein, nein, nein!« Aber Maish war bereits die Treppe hinunter verschwunden.

Eine alte Dame mit blaugrauem Haar warf ihm einen angelsächsischen Blick zu wie einen Stein. »Hippies«, sagte sie kopfschüttelnd.

Wider Willen zog es ihn zum Getto.

Der Wind blies von Süden, und noch bevor er über die Grenze gefahren war, füllte sich der VW mit einem schwachen, bitteren Brandgeruch. Nicht alle waren daheimgeblieben, um Jimmy Brown zu sehen.

Er fuhr sehr langsam.

Die Bretter über den Auslagen sahen bei Tageslicht kläglich unwirksam aus. Einige waren abgerissen worden. An einem Schnapsladen war das metallene Schutzgitter aus den Angeln gerissen. Die Scheibe war zerbrochen, und er konnte im Inneren flüchtig nackte Gestelle und Trümmer auf dem Fußboden sehen. Die Aufschrift auf der Eingangstür - »Seelenbruder« - war durchgestrichen und durch eine andere ersetzt worden: »Verdammter Lügner«.

Die erste Brandstätte lag nicht weit vom Ace High, ein Miethaus. Der Brand war zweifellos von jemandem gelegt worden, der genug von Ratten und Küchenschaben gehabt hatte.

Der zweite Brand, auf den er stieß, lag eine halbe Meile weiter und war kein Brand mehr. Ein halbes Dutzend Feuerwehrleute ließen zwei Schläuche über den Schauplatz einer verlorenen Schlacht spielen. Nichts war übriggeblieben als ein geschwärztes Ziegelfundament und ein paar verkohlte Balken.

Er parkte den Wagen und ging zu der Ruine. »Was war das?« fragte er einen der Feuerwehrleute.

Der Mann warf ihm einen kühlen Blick zu, sagte jedoch nichts. Ein Punkt für Maish, dachte er.

»Ein Möbelgeschäft«, sagte ein anderer.

»Danke.«

Er hockte sich nieder und starrte eine Weile in die rauchenden Trümmer, dann richtete er sich auf und ging zu Fuß weiter.

In jedem Hausblock waren die Läden gegen den Wirbelsturm verschlagen worden. Die meisten, die nicht mit

Brettern verschlagen waren, standen leer. An einem hing ein gemaltes Schild, über das er lächeln mußte. »Hilfsstation.« Die Tür war unversperrt, er trat ein, und sein Lächeln erstarb. Es war kein Witz. In einem Kleenexkarton lagen Rollen groben Verbandzeugs, kaum aseptisch zu nennen, zweifellos von schwarzen Frauen in ihren Wohnungen aus alten Hemden und Schürzen zurechtgeschnit-ten. Wahrscheinlich hatte das zu dem größeren Plan irgendeines Black Panther gehört, vermutlich eines Vietnamheimkehrers, der den Napoleon spielen wollte, nur war diesmal nichts daraus geworden. Zweifellos freute er sich schon auf das nächstemal.

Spurgeon fragte sich, ob sie wohl Antibiotika, Blutspender, geschulte Leute hatten, wußte aber gleichzeitig, daß dies unwahrscheinlich war. Außer ein paar leeren Läden und versteckten Waffen sowie selbstverfertigten Bandagen besaßen sie sicher nur die Überzeugung, daß sie nun lange genug gewartet hatten.

Es war ein sehr großer Laden.

Im Zentrum der schwarzen Gemeinde.

Er erinnerte sich, wie Gertrude Soames, die Hure mit dem gefärbten roten Haar, das Krankenhaus aus eigenen Stücken verlassen hatte, trotz Leberkrebs, weil sie den weißen Händen nicht traute, die bohrten und weh taten, weil sie den Augen der Weißen entfliehen wollte, denen ja in Wirklichkeit nichts an ihr lag.

Er dachte an Thomas Catlett jr., dem er im Krankenwagen auf der Brücke einen Klaps auf den kleinen schwarzen Arsch gegeben hatte, Catlett jr., der acht Geschwister besaß und dessen arbeitsloser Vater jetzt wohl bereits wieder die Samen für Nummer zehn in Martha Hendricks Catletts schlaffen Schoß gebettet hatte, weil der Orgasmus gratis ist und niemand sie gelehrt hatte, zu lieben, ohne Babies zu machen.

Er fragte sich, wie die Selbstzerstörung von Menschen wie Speed Nightingale verhindert werden konnte, wer schon bereit war, einem Süchtigen bei dem Versuch zu helfen, loszukommen.

Der Schreiber des Schildes hatte einige zerbrochene Kreidestücke auf den sandigen Fußboden fallen lassen, und Spurgeon hob eines auf und zeichnete gedankenlos auf den Boden neben der Tür: ein Wartezimmer mit einem Empfangstisch, ein Untersuchungszimmer und eine unfallchirurgische Abteilung, eine Ecke für Röntgen, und in der Toilette, die von dicken Spinnweben und drei toten Motten bewohnt war, eine Dunkelkammer.

Dann hockte er sich wieder nieder und studierte die weißen Linien auf dem schmutzigen Fußboden.

Am selben Nachmittag trieb er sich in der chirurgischen Station herum, bis er den Vertreter einer pharmazeutischen Kleinhandelsfirma entdeckte, den er kannte.

Er hieß Horowitz, war ein netter Bursche und soweit Geschäftsmann, um zu wissen, daß junge Spitalsärzte manchmal in verhältnismäßig wenigen Jahren wichtige Kunden werden konnten. Er saß bei einer Tasse Kaffee in Maxies Laden und hörte Spurgeon zu.

»Es ist nicht so wild«, sagte er. »Frank Lahey startete die Lahey-Klinik 1923 bloß mit einer einzigen Operationsschwester.« Er runzelte die Stirn und begann Ziffern auf eine Papierserviette zu kritzeln.

»Gewisse Gegenstände könnte ich Ihnen umsonst verschaffen, weil die pharmazeutische Industrie so etwas unterstützt. Einen Vorrat an Medikamenten, Verbänden. Einen Teil der Ausstattung könnten Sie aus zweiter Hand bekommen. Einen Röntgenapparat brauchen Sie nicht, solche Fälle könnten Sie ins Krankenhaus schicken -«

»Nein, Röntgen wäre wichtig. Es geht ja vor allem darum, eine Klinik in einem schwarzen Stadtteil zu schaffen, in die sie gern und voll Vertrauen mit dem Bewußtsein kommen, daß sie die ihre sei. Und diese Leute haben Tuberkulose, Emphyseme, alle möglichen Atembeschwerden. Zum Teufel, sie leben in der vergifteten Luft des Stadtkerns. Röntgen wäre unbedingt nötig.«

Horowitz zuckte die Achseln. »Schön, also auch Röntgen. Für das Wartezimmer könnten Sie alte Möbel besorgen. Sie wissen ja, Faltstühle, einen hölzernen Schreibtisch, solche Dinge.«

»Sicher.«

»Sie brauchen ferner einen Untersuchungstisch, einen Behandlungstisch, chirurgische Instrumente, einen Sterilisator. Untersuchungslampen. EKG. Diathermie. Ein paar Stethoskope, ein Otoskop, ein Mikroskop, ein Ophthalmoskop. Dunkelkammer und Geräte zum Entwickeln. Wahrscheinlich noch diverse Kleinigkeiten, die mir jetzt nicht einfallen.«

»Wieviel?«

Wieder zuckte Horowitz die Achseln. »Schwer zu sagen. Man findet diese Dinge nicht immer aus zweiter Hand.«

»Stellen Sie keine Gebrauchtwarenpreise auf. Diese Menschen haben in ihrem Leben noch nie etwas gehabt, das erstklassig ist. Alte Möbel, schön, aber rechnen Sie mit einer neuen Ausrüstung.«

Der Vertreter addierte noch einiges und steckte dann seinen Kugelschreiber ein. »Neuntausend«, sagte er.

»Hm.«

»Und Sie müßten auch weitermachen können, wenn Sie eröffnet haben. Einige Ihrer Patienten haben vielleicht eine Krankenversicherung, die meisten aber nicht. Viele können nur ein sehr bescheidenes Honorar bezahlen.« »Dazu kommt noch Miete und Stromrechnungen«, sagte Spurgeon. »Glauben Sie, daß man mit zwölftausend über das erste Jahr kommen kann?«

»Klingt realistisch«, sagte Horowitz. »Lassen Sie mich wissen, wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann.«

»Ja. Danke.«

Er blieb sitzen und trank eine zweite Tasse Kaffee und dann noch eine. Schließlich bezahlte er und bat Maxie um Wechselgeld für einen Dollar. Er summte vor sich hin, als er die Zentrale wählte, aber sein Magen krampfte sich vor Nervosität zusammen.

Er kam mühelos durch, bis er die letzte Bastion erreichte, die englische Sekretärin mit der eisigen Stimme, die Calvin Priest vor den gewöhnlichen Sterblichen schützte.

»Mr. Calvin hat jemanden bei sich, Dr. Robinson«, sagte sie, wie immer mißbilligend. »Ist es sehr wichtig?«

»Nun, nein«, sagte er, und sofort empfand er Widerwillen gegen sich. »Ja, doch, es ist wichtig. Wollen Sie ihm sagen, daß sein Sohn am Apparat ist und seine Hilfe braucht?«

»O ja, Sir. Wollen Sie warten oder soll ich Mr. Priest bitten, zurückzurufen?«

»Ich werde auf meinen Vater warten«, sagte er.

Am nächsten Tag nahm er Dorothy zu dem Laden mit. Hinter ihm lag eine Nacht voller Zweifel, und er hatte viele Drachen erfunden, die er nicht alle mit Vernunftgründen zu erschlagen vermochte. Der Häuserblock und der Laden sahen irgendwie düsterer aus als zur Zeit, da er ihn verlassen hatte. Jemand hatte ein Kreidestückchen gestohlen und eine Anzahl Bilder von einem Paar in verschiedenen Liebesstellungen gezeichnet, oder vielleicht war es mehr als ein Paar, eine Gehsteigorgie. Der Künstler hatte die Kreide zurückgelassen, und jetzt spielten zwei kleine Mädchen, die sich nicht um das Bacchanal kümmerten, verbissen »Himmel und Hölle«. Der Laden war weniger geräumig als in seiner Erinnerung und schmutziger.

Sie hörte ihm zu, und sie schaute auf die Kreidelinien auf dem Boden. »Klingt ziemlich langfristig«, sagte sie.

»Nun ja.«

»Kurzfristig könntest du es nicht machen«, sagte sie. »Das merke ich schon.« Es entstand ein Schweigen, in dem sie einander nachdenklich ansahen, und er wußte, daß sie Hawaii und den sorgenfreien kleinen Enkelkindern mit den Schlitzaugen adieu sagte.

»Ich habe dir Frangipani versprochen«, sagte er schuldbewußt.

»Ah, Spurgeon«, sagte sie. »Ich hätte ja gar nicht gewußt, daß es Frangipani sind - ich kenne sie doch nicht!« Sie begann zu lachen, und einen Augenblick später lachte er mit ihr und liebte sie leidenschaftlich.

»Hast du Angst?« sagte sie.

»Ja. Du?«

»Todesangst.« Sie suchte in seinen Armen Trost, und er schloß die Augen und vergrub seine Gesicht in der flaumweichen schwarzen Wolle. Die zwei kleinen Mädchen auf dem Gehsteig beobachteten sie durch das Ladenfenster.

Nach dem letzten Kuß ging er ins Ace High, borgte vom Barmann einen Besen, und sie fegte den Boden für ihn. Während er die Spinne und die Motten aus der Dunkelkammer vertrieb, befeuchtete sie ihr Taschentuch und zerfetzte es beim Wegwaschen der kopulierenden Figuren auf dem Gehsteig. Dann gab sie den kleinen Mädchen Zei-chenunterricht. Als er herauskam, hatte die Sonne den Beton getrocknet, und der Gehsteig war mit Kreideblumen bedeckt, einem ganzen Lilienfeld.

17

ADAM SILVERSTONE

Als der April kam, war es, als müßte eine Uhr in Gaby ein wenig aufgezogen werden. Sie keuchte etwas mehr, wenn sie den Hügel erklomm, sie war etwas weniger zum Lieben bereit, sie begann nachmittags bleischwer zu schlafen. Noch vor einem Jahr hätte sie vor Sorge schlaflose Nächte verbracht und wäre zum Doktor gerast. Jetzt sagte sie sich energisch, daß das alles hinter ihr lag, daß sie kein Hypochonder mehr war.

Sie glaubte, der Winter sei für sie zuviel gewesen und jetzt habe sie die Frühjahrsmüdigkeit gepackt. Sie sagte weder Adam noch dem netten jungen Psychiater am Beth Israel etwas davon, der ihr einmal wöchentlich zuhörte, den interessanten Geschichten von der Ehe ihrer Eltern lauschte und gelegentlich mit schläfriger, fast teilnahmsloser Stimme eine Frage stellte; manchmal brauchte sie Wochen zu einer einzigen Antwort, jedesmal eine unglaublich schmerzhafte Geburt, wenn sie sich durch Narbengewebe wühlte, von dessen Vorhandensein Gaby nicht einmal etwas geahnt hatte. Sie begann ihre Eltern weniger zu hassen und sie mehr zu bemitleiden. Sie schwänzte einige Vorlesungen und wartete, bis milderes Wetter die öffentlichen Gärten und kleinen privaten Vorgärten auf dem Hügel verändern und den Sträuchern, Blumen und ihr neue Kraft bringen würde. In der Wohnung begann die Avoca-dopflanze gelb zu werden, und sie nährte sie mit Dünger und Wasser und kränkte sich über sie. Als sie das Bett machte, schlug sie sich das Schienbein an und heimste einen blauen Fleck ein, groß wie eine Steckdose; er wollte nicht vergehen, obwohl sie ihn mit Cold Cream massierte.

»Fühlst du dich wohl?« fragte Adam sie eines Morgens.

»Klage ich denn?«

»Nein.«

»Natürlich fühle ich mich wohl. Du?«

»Mir ist es noch nie besser gegangen.«

»Gut, Darling«, sagte sie stolz. Aber als die Zeit ihrer Periode kam und die Periode ausblieb, wußte sie, starr vor Gewißheit, was sie plagte.

Irgendwie hatte die verdammte Pille versagt, und sie saßen in der Falle.

Trotz ihrer großen Müdigkeit konnte sie nicht schlafen, und am Morgen - ein Syndrom von Ereignissen, die sie hatte vermeiden wollen - rief sie den Gesundheitsdienst der Studenten an und ließ sich einen Termin für eine Untersuchung geben.

Der Arzt hieß Williams. Er war grauhaarig, etwas beleibt und trug zwei dicke Zigarren in der Brusttasche.

Viel mehr Vaterfigur als ihr eigener Vater, dachte sie. Als er sie nach ihren Beschwerden fragte, fiel es ihr daher ganz leicht, ihm ihren Verdacht auf eine Schwangerschaft auszusprechen; das Einleitungsgeplauder fiel weg.

Er war seit neunzehn Jahren College-Arzt und hatte vorher als Arzt an einer privaten Vorbereitungsschule für Mädchen gearbeitet. In einem Vierteljahrhundert hatte er es noch immer nicht gelernt, diese Mitteilung ohne Mitge-fühl aufzunehmen, wohl aber hatte er sich einigermaßen an sie gewöhnt.

»Nun, wir werden sehen«, sagte er.

Als ein Tropfen ihres Urins - vermischt mit einem Tropfen Antiserum und zwei Tropfen Antigen - auf einem Glasplättchen vor ihren Augen in zwei Minuten aggluti-nierte, konnte er ihr sagen, daß sie nicht Mutter werden würde.

»Aber meine Periode«, sagte sie.

»Manchmal ist sie wie ein Lokalzug. Fassen Sie sich in Geduld, einmal wird sie ja doch eintreffen.«

Sie lächelte ihn voll törichter Erleichterung an und wollte gehen, aber er hob die Hand. »Wohin laufen Sie?«

»Doktor«, sagte sie, »ich komme mir so dumm vor. Ich gehöre zu jenen Idioten, die ihr Ärzte manchmal galant einen überängstlichen Patienten nennt. Ich dachte, ich sei darüber hinweg, bei jedem Schatten an der Wand aufzukreischen, aber ich fürchte, ich bin's doch nicht.«

Dr. Williams zögerte. Sie war früher schon öfter bei ihm gewesen, und er wußte, daß sie die Wahrheit sagte; ihre Krankengeschichte auf seinem Schreibtisch war von Berichten über eingebildete Leiden angeschwollen, die bis zu ihrem ersten Semester vor sechs Jahren zurückreichten.

»Erzählen Sie mir, wie Sie sich sonst in letzter Zeit gefühlt haben«, sagte er. »Ich glaube, wenn Sie schon einmal da sind, könnten wir genauso gut ein paar Tests machen.«

»Nun«, sagte sie fast eine Stunde später zu ihm. »Kann ich zu meinem Psychiater gehen und beichten, daß ich doch wieder rückfällig geworden bin?«

»Nein«, sagte er. »Sie sind müde, weil Sie anämisch sind.«

Sie empfand fast etwas wie Triumph: anscheinend war sie also doch nicht bloß eine dumme Neurotikerin.

»Was muß ich tun? Viel rohe Leber essen?«

»Ich möchte noch eine Untersuchung machen«, sagte er und reichte ihr ein Uringlas.

»Muß ich mich ausziehen?«

»Bitte.«

Er rief die Schwester, und gleich darauf fühlte sie den kalten Kuß eines Alkoholbausches auf ihrer Hüfte über der linken Backe und den Stich einer Nadel.

»Ist das alles?« fragte sie.

»Ich habe es noch nicht gemacht«, sagte er, und die Schwester kicherte. »Ich habe Ihnen nur etwas Novocain gegeben.«

»Warum? Wird es weh tun?«

»Ich werde Ihnen etwas Rückenmark entnehmen. Es wird ein bißchen unangenehm sein.«

Aber als er es tat, rang sie nach Luft, und Wasser schoß ihr in die Augen. »He!«

»Baby.« Er klatschte ein Pflaster auf die Stelle. »Kommen Sie in einer Stunde wieder«, sagte er ungerührt.

Sie wanderte durch die Läden, sah sich Möbel an, fand jedoch nichts, das ihr gefiel, und kaufte eine Geburtstagskarte für ihre Mutter.

Als sie in das Büro zurückkam, war Dr. Williams in Schreibarbeiten vertieft.

»Hallo. Ich möchte, daß Sie einige Bluttransfusionen bekommen.«

»Transfusionen?«

»Sie haben eine aplastische Anämie. Wissen Sie, was das bedeutet?«

Gaby faltete die Hände fest im Schoß. »Nein.«

»Ihr Knochenmark hat aus irgendeinem Grund aufgehört, genügend Blutzellen zu produzieren, und ist fettig degeneriert. Deshalb brauchen Sie Transfusionen.«

Sie überlegte. »Aber wenn ein Körper keine Blutzellen produziert ...«

»Müssen wir sie durch Transfusionen ergänzen.«

Ihre Zunge fühlte sich seltsam an. »Ist die Krankheit tödlich?«

»Manchmal«, sagte er.

»Wie lange kann ein Mensch in meinem Zustand leben?«

»Oh ... Jahre und Jahre.«

»Wie viele Jahre?«

»So etwas kann ich nicht voraussagen. Wir werden sehr hart arbeiten, um Sie durch die ersten drei bis sechs Monate zu bringen. Nachher geht's dann fast immer aufwärts.«

»Aber diejenigen, die sterben. Die meisten sterben in drei bis sechs Monaten?«

Er sah sie verärgert an. »Bei so etwas muß man sich an die positiven Seiten halten. Sehr viele werden wieder ganz gesund. Warum sollten Sie nicht eine von Ihnen sein?«

»Wieviel Prozent werden gesund?« sagte sie und wußte, daß sie es ihm schwer machte, aber es war ihr egal.

»Zehn Prozent.«

»Nun ja.« Du lieber Gott, dachte sie.

Sie ging in die Wohnung zurück und saß da, ohne Licht zu machen, obwohl das einzige Fenster nicht genug Licht zum Lesen gab.

Niemand kam an die Tür. Das Telephon läutete nicht. Nach langer Zeit bemerkte sie, daß der winzige Sonnenfleck, der jeden Nachmittag drei Stunden lang auf die Avocadopflanze fiel, verschwunden war. Sie untersuchte die vergilbende Pflanze und erwog, ihr mehr Dünger und Wasser zu geben, entschied sich aber dann anders. Das war es ja eben, dachte sie; sie hatte sie überfüttert und durchweicht, zweifellos verfaulten die Wurzeln auf dem Grund des Topfes in einem winzigen Sumpf.

Kurze Zeit später sah sie Mrs. Krol über die Haupttreppe näher kommen, und nach einigen Sekunden packte sie die Avocadopflanze und beeilte sich, Mrs. Krol im Vorhaus einzuholen.

»Hier«, sagte sie.

Bertha Krol sah sie an.

»Kümmern Sie sich um sie. Vielleicht wird sie für Sie wachsen. Stellen Sie sie in die Sonne. Verstehen Sie?«

Bertha Krol ließ nicht erkennen, ob sie verstanden hatte oder nicht. Mit starrem Blick stand sie wie angewurzelt da, bis Gaby sich abwandte und in ihre Wohnung zurückkehrte.

Sie saß auf dem Sofa und fragte sich, warum sie die Pflanze weggegeben hatte.

Schließlich begriff sie, daß sie zwar noch vor einem Augenblick mit dem Gedanken gespielt hatte, bis zum nächsten Morgen warten zu können, wenn Adam heimkam, jedoch genau gewußt hatte, daß sie nicht hier sein würde, wenn er kam.

Sie packte nur ihre Kleider ein. Alles andere ließ sie zurück. Als der Koffer geschlossen war, setzte sie sich nieder und schrieb einen Brief, hastig, aus Angst, daß sie ihn nicht würde schreiben können, wenn sie sich Zeit ließ. Sie legte ihn auf die Couch und beschwerte ihn mit der Pa-pierblumenvase, so daß er ihn bestimmt nicht übersehen konnte.

Instinktiv floh sie aus der Stadt. Als sie es merkte, war sie auf Route 128, fuhr jedoch in die falsche Richtung, nordwärts nach North Hampshire. Wollte sie zu ihrem Vater? Nein, danke, dachte sie. In Stoneham fuhr sie auf die andere Seite der Autobahn, wieder südwärts, den Fuß auf das Gaspedal gedrückt. Weder der grobe Polizist, der ihr einmal auf dieser Strecke ein Strafmandat verpaßt hatte, noch einer seiner Kollegen tauchten auf, um sie zu demütigen, als sie den Plymouth in ein Geschoß verwandelte und ruhig zwischen den großen Betonpfeilern der Überführungen durchraste.

Man sah sie in den Zeitungen und im Fernsehen, diese unbeweglichen Klötze, samt dem, was von dem Fahrzeug und den Menschen übriggeblieben war, die sie in periodischen Abständen als Tribut forderten. Aber sie wußte, daß ihr Leben unter einem Bann stand und dazu bestimmt war, zu verrieseln, nicht in einem Blitz oder Donnerschlag zu enden; ihre Hand würde ihr nicht gehorchen, wenn sie den Entschluß fassen sollte, das Lenkrad einzuschlagen, sobald sie sich einer Überführung näherte.

Erst später, als sie sich in halsbrecherischem Tempo durch den Schnellverkehr schlängelte, der über die Route 24 dahinstob, erkannte sie, wie dumm es gewesen war, Mrs. Krol die Pflanze zu geben. Sicher würde sich Bertha Krol betrinken, in ihr Geschrei ausbrechen und die Pflanze aus dem Fenster werfen. Die schwarze Erde aus dem Supermarkt würde sich zusammen mit Berthas Müll über die Phillips Street ergießen, und das Pflänzchen würde nie zu einem Avocadobaum heranwachsen.

Er klopfte, als er die Tür versperrt fand, und brummte dann vor Überraschung, als er sah, daß die Morgenzeitung nicht hineingeholt worden war. Die Wohnung war düster, aber er entdeckte den Brief unter seinem blumigen Kennzeichen sofort.

Adam,

zu sagen, daß es nett war, hieße uns beide beleidigen. Ich werde an die Zeit denken, solange ich lebe. Aber wir haben vereinbart, Schluß zu machen, wenn einer von uns die Verbindung lösen wollte. Und leider muß ich sie abbrechen, dringend. Ich wollte es schon seit einiger Zeit tun, hatte jedoch nicht den Mut, es Dir ins Gesicht zu sagen. Denke nicht allzu böse über mich. Aber denke doch manchmal an mich. Ich wünsche Dir ein wunderbares Leben, Doktor-Darling.

Gaby

Er saß auf dem Sofa, las den Brief noch einmal und rief dann den Psychiater im Beth Israel an, der ihm nichts sagen konnte.

Er sah, wie wenig sie mitgenommen hatte. Ihre Bücher waren da. Der Fernsehapparat, der Plattenspieler. Ihre Bestrahlungslampe. Alles. Nur ihre Kleider und ihr Koffer waren weg.

Nach einer Weile rief er Susan Haskell an und fragte sie, ob Gaby dort sei.

»Nein.«

»Wenn Sie von ihr hören, lassen Sie es mich wissen?«

Es entstand eine Pause. »Nein.«

»Was soll das heißen?«

»Sie hat Sie verlassen, nicht wahr?« In ihrer Stimme lag Triumph. »Sonst hätten Sie mich nicht angerufen. Nun, wenn sie herkommt, werden Sie von mir nichts erfahren.«

Sie legte auf, aber es war unwichtig. Gaby war nicht dort. Er überlegte weiter, hob dann den Hörer wieder ab und wählte die Universität.

Als sich die Telephonistin meldete, verlangte er den Studentischen Gesundheitsdienst.

Er lieh sich Spurgeons Volkswagen, und als er über die Sagamore Bridge polterte, fürchtete er sich vor dem, was ihn erwarten würde, wenn er aus dem Wagen stieg. Sowie Hyannis hinter ihm lag, drückte er das Gaspedal durch und fuhr wie sie. Die Saison war noch zu früh für starken Verkehr, und die Autobahn war fast leer. In North Truro lenkte er den Bus von der Route 6 weg, fuhr die schmale Makadamstraße hinunter und bog dann, nachdem er das Licht des Leuchtturms erblickte, mit einem Stoßgebet in die Sandstraße ein, die zum Strand führte.

Als der Volkswagen die Höhe der Bodenwelle erreichte, sah er den blauen Plymouth vor der Tür.

Die Hütte war unversperrt, aber leer. Er ging hinaus und über den Pfad zur Klippe. Von ihrer Höhe konnte er den weißen Strand unten in jeder Richtung meilenweit überblicken, der windgepeitscht und vom Strandgut der Winterstürme bedeckt war. Die Düne war verschwunden. Niemand war zu sehen.

Auf dem Meer kräuselten sich, so weit er sehen konnte, Schaumkämme.

War sie vielleicht irgendwo dort draußen, unter der Wasserfläche? Er verdrängte den Gedanken.

Als er umkehrte, um zum Haus zurückzugehen, sah er sie, eine Viertelmeile entfernt, langsam über den Kamm der Klippe gehen. Schwach vor Erleichterung lief er los, um sie einzuholen; sie schien seine Anwesenheit zu spüren, noch bevor er sie erreichte, drehte sie sich um.

»Hallo«, sagte er.

»Hallo, Adam.«

»Was ist mit der Düne geschehen?«

»Wahrscheinlich hat sie sich ungefähr eine Viertelmeile verschoben. Gegen Provincetown zu. Manchmal bewirken das die Gezeiten im Winter.«

Sie schlug die Richtung zur Strandhütte ein, und er ging neben ihr. Später würde es hier Beeren geben. Die von ihren Füßen zertretenen Pflanzen erfüllten die Luft mit dem würzigen Duft der Blaubeerstauden.

»O Adam, warum mußtest du herkommen? Es wäre schnell und glatt vorübergegangen, ohne ... das hier.«

»Gehen wir hinein, setzen wir uns hin und reden miteinander.«

»Ich will nicht hinein.«

»Dann komm in den Wagen. Wir fahren ein Stück.«

Sie gingen zum Plymouth, aber er hielt die Tür für sie auf der Beifahrerseite auf und setzte sich selbst hinter das Steuer.

Er fuhr eine Weile, ohne zu sprechen, zurück zur Autobahn, dann nordwärts.

»Ich habe mit Dr. Williams gesprochen«, sagte er.

»Oh.«

»Ich habe dir einiges zu sagen. Ich will, daß du aufmerksam zuhörst.« Aber dann wußte er nicht, wie beginnen, er hatte noch nie vorher eine Frau geliebt, und er entdeckte

plötzlich, daß es ganz anders ist, wenn man liebt. Im Bett und angesichts des Todes. Gott, betete er, von Panik ergriffen, ich habe es mir überlegt, von nun an werde ich jeden Patienten für jemanden halten, den ich liebe, nur hilf mir jetzt die richtigen Worte finden.

Sie sah aus dem Fenster.

»Wenn du wüßtest, daß ich in einem Autounfall getötet werden könnte, würdest du dir die kostbare Zeit versagen, die dir mit mir geblieben ist?« Es klang dünn, irgendwie gönnerhaft und durchaus nicht nach dem, was er zu sagen versucht hatte. Er sah, daß ihre Augen schimmerten, aber sie würde nicht weinen.

»Dr. Williams sagte mir, du hättest versucht, ihn auf eine Vorhersage festzunageln. In deinem Fall kannst du leicht an die hundert Jahre alt werden. Wir können fünfzig miteinander verleben.«

»Oder eines, Adam? Oder keines?«

»Oder eines. Stimmt. Vielleicht hast du nur noch ein Jahr zu leben«, sagte er rundheraus. »Aber verdammt, Gaby, siehst du denn nicht, was das Heute bedeutet? Wir leben am Beginn des Goldenen Zeitalters. Man nimmt bereits das menschliche Herz aus einem Körper und überträgt es in einen anderen. Und Nieren, und Hornhaut. Jetzt Lungen und Leber. Man arbeitet an einem kleinen Apparat, der in ganz kurzer Zeit das Herz ersetzen wird. Für einen Patienten ist heute jede Woche eine sehr lange Zeit. Irgendwo in dieser Welt macht ein Team von Menschen Fortschritte bei jedem nur denkbar wichtigen Problem.«

»Einschließlich aplastischer Anämie?«

»Einschließlich aplastischer Anämie und ordinären Schnupfens. Siehst du denn das nicht ein?« fragte er verzweifelt. »Hoffnung ist das Herz der Medizin. Ich habe das in diesem Jahr endlich gelernt.«

Sie schüttelte den Kopf. »Es hat keinen Sinn, Adam«, sagte sie leise. »Was wäre das für eine Ehe, wenn das über unseren Köpfen hinge? Nicht nur für dich. Auch für mich.«

»Über unseren Köpfen hängen solche Dinge auf alle Fälle. Die verfluchte Bombe kann morgen losgehen. Ich könnte nächstes Jahr sterben oder auf ein halbes Dutzend verschiedener Arten getötet werden. Es gibt keine Garantien dagegen. Du mußt einfach das Leben leben, solange du kannst, es in beide Hände nehmen und es bis auf den letzten Tropfen ausquetschen.«

Sie schwieg.

»Man braucht Zivilcourage dazu. Vielleicht ziehst du Ralphies Weg vor. Einfach abstellen. Das ist freilich leichter.«

Die Argumente gingen ihm aus. Er war erschöpft und leer und fuhr schweigend weiter, ohne zu wissen, wie er es ihr begreiflich machen sollte.

Dann bemerkten sie hoch über ihnen eine Versammlung von Möwen, die kreisten und kreischten und hinabstießen, als wären sie Falken. Entlang der Straßenseiten waren Autos geparkt.

»Was ist das?« fragte er.

»Vermutlich der Heringzug«, sagte sie.

Er parkte, sie stiegen aus und gingen ans Ufer. Adam hatte so etwas noch nie erlebt. Die Fische schwammen Körper an Körper, eine fast kompakte Masse, eine phantastische Flottille von Rückenflossen, die die Oberfläche des Wassers spalteten, darunter irisierten die grün-grausilbernen Leiber, die Bauchflossen fächelten anmutig, die gegabelten Schwänze, Hunderttausende gegabelter Schwänze, wogten in sanftem Rhythmus, während sie warteten - worauf?

»Was sind das für Fische?« fragte er.

»Alsenweibchen. Mein Großvater nahm mich jedes Frühjahr mit, um das zu sehen.«

Die Möwen schrien und hielten Festmähler ab. An den Ufern holten menschliche Räuber mit Netzen und Eimern, die ihr Ziel nicht verfehlen konnten, zappelnde Fische aus dem Strom. Einige Kinder bewarfen einander mit lebendigen Fischen.

Sowie eine Lücke in der Fischmasse entstand, wurde sie auch schon von den geduldigen, langsam schwimmenden, vom Meer heraufziehenden Leibern gefüllt.

»Woher kommen sie?« fragte er.

Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht von New Brunswick. Oder Nova Scotia. Sie kommen zurück, um in dem Süßwasser zu laichen, in dem sie selbst geboren wurden.«

»Denk an alle die natürlichen Feinde, die sie passieren mußten«, sagte er tief beeindruckt. »Mörderwale, Haie, Streifenbarben, alle anderen großen Fische.«

Sie nickte.

»Aale, Möwen, Menschen.« Sie ging stromaufwärts. Er folgte ihr und konnte bald sehen, weshalb die meisten Fische nicht weiterschwammen.

Das Strombett wies eine Reihe von Stufen auf, vielleicht ein Dutzend, deren Felsränder Tümpel bildeten, aus denen das Wasser in winzigen Wasserfällen herabfiel, gerade so breit, daß jeder nur einen Fisch fassen konnte. Der Hering schwamm die Strömung aufwärts in die Stille des nächsthöheren Tümpel; jede Stufe war schwerer zu überwinden, weil die vorangegangenen Sprünge an ihren Kräften zehrten.

»Mein Großvater und ich wählten immer einen Fisch und begleiteten ihn stromaufwärts«, sagte sie.

»Tun wir das doch auch«, sagte er. »Such' dir einen aus.«

»Schön. Den da.«

Ihr Alsenweibchen war ungefähr fünfundzwanzig Zentimeter lang. Sie sahen zu, wie es geduldig auf einen freien Zugang zur Stufe wartete, dann nach vorn schnellte und durch das Wasser, das von dem oberen Tümpel herunterströmte, aufwärts tauchte und dort neuerlich wartete. Es erklomm die ersten sechs Stufen mit offensichtlicher Leichtigkeit.

»Du hast dir einen Sieger ausgesucht«, sagte Adam.

Vielleicht brachte diese Bemerkung dem Alsenweibchen Pech. Als es sich bemühte, die nächste Stufe zu überwinden, war der herabstürzende Wasserstrom zu gewaltig; er fing ihren Schwung ab und trug sie in den Tümpel zurück.

Das nächste Mal gelang es ihr, aber die obere Stufe zwang sie, dreimal zu springen, bevor sie sie überwunden hatte.

»Warum kämpfen sie so, nur um zu laichen?« wunderte er sich.

»Vermutlich Arterhaltung.«

Ihr Fisch bewegte sich jetzt langsamer zwischen den einzelnen Versuchen, als koste selbst das Schwimmen zuviel Anstrengung. Sie hatten das Gefühl, daß die Alse jeden Sprung erfolgreich beendete, nur weil sie es wollten, aber die Kraft versickerte aus ihrem torpedoförmigen Körper. Als sie den Tümpel unterhalb der letzten Stufe erreicht hatte, rastete sie fast bewegungslos auf dem Grund, nur ihre arbeitenden Kiemen und die das Gleichgewicht haltenden Bauchflossen verrieten, daß sie noch lebte.

»O Gott«, sagte Gaby.

»Los«, ermunterte er den Fisch.

»Los, armes Ding.«

Sie sahen zu, als sie viermal vergeblich das letzte Hindernis zu nehmen versuchte. Jedesmal war die Rastzeit länger als die vorangegangene.

»Ich glaube nicht, daß sie es schafft«, sagte Adam. »Ich glaube, ich greife einfach hinein, hebe sie auf und trage sie hinüber.«

»Laß sie.«

Eine Möwe stieß herunter, an ihnen vorbei, auf den Fisch zu.

»Nein, nicht!« schrie Gaby und schlug nach dem Vogel. Plötzlich weinte sie. »Das wirst du nicht, du Mistvieh!«

Die Möwe erhob sich, kreischte empört und flog stromabwärts zu leichterem Fang. Als spürte das Alsenweibchen die eben vorbeigegangene Gefahr, schoß es aufwärts, sprang empor, wurde jedoch unbarmherzig zurückgeschlagen. Diesmal warf es sich ohne zu rasten sofort noch einmal vor und schleuderte sich durch das herabstürzende Wasser empor. Oben hing es einen Augenblick am Rand in der Schwebe, wand sich hin und her und platschte dann über ihn hinweg in das stille Wasser auf der anderen Seite.

Gaby weinte noch immer.

Nach einem Augenblick krampfte sich der Schwanz zusammen, krümmte sich in triumphierender Ekstase, und der Fisch verschwand im tiefen Wasser des Tümpels.

Adam preßte Gaby fest an sich.

»Adam«, sagte sie in seine Schulter hinein. »Ich will ein Kind haben.«

»Warum nicht.«

»Wirst du es mich haben lassen?«

»Wir heiraten sofort. Heute noch.«

»Und dein Vater?«

»Wir müssen unser eigenes Leben leben. Solange ich es mir nicht leisten kann, für euch beide zu sorgen, wird er sich einfach um sich selbst kümmern müssen. Ich hätte das schon früher wissen müssen.«

Er küßte sie. Ein zweiter Hering plumpste über den Rand, und flitzte die letzte Stufe hinauf, als fahre er in einem Lift.

Wieder lachte und weinte sie gleichzeitig. »Du hast überhaupt keine Ahnung«, sagte sie. »Man muß drei Tage warten, um heiraten zu können.«

»Wir haben massenhaft Zeit«, sagte er und dankte Gott und dem armen Fisch.

Am Dienstagmorgen ging sie den Beacon Hill hinunter und über den Fiedler-Steg zur Esplanade, wo ihrem Gefühl nach alles begonnen hatte. Am Flußufer öffnete sie die Handtasche und nahm die Pillenschachtel heraus. Sie warf sie, so weit sie nur konnte, und das falsche Perlmutter blitzte in der Sonne, bevor es auf das Wasser traf. Es war ein miserabler Wurf, aber er diente seinem Zweck. Sie setzte sich auf eine Bank am Ufer und dachte vergnügt an die kleine Schachtel in dem sanft dahinströmenden Wasser des Charles River. Vielleicht würde sie von Zeit zu Zeit von einer Wasserschildkröte oder einem Fisch angestoßen werden. Vielleicht würde sie von den Strömungen der Gezeiten in den Bostoner Hafen hinausgetragen und in ferner Zeit von jemandem am Quincy-Strand gefunden werden, zusammen mit Seeigeln und Muscheln, dem Gehäuse einer Krabbe, dem Kiefer eines Hundshais und einer vom Sand abgewetzten, einsatzpflichtigen Coca-Cola-Flasche, und man würde sie irgendwo unter Glas legen als Überbleibsel des Homo sapiens aus undenklich grauer Vorzeit, bis ins zwanzigste Jahrhundert zurück.

Am selben Nachmittag klopfte Bertha Krol zum erstenmal an Gabys Tür und gab die Pflanze ebenso stumm, wie sie sie entgegengenommen hatte, zurück, als hätte sie gewußt, daß es ein Hochzeitsgeschenk war. Sie hatte die Avocado nicht aus dem Fenster geworfen, auch hing das Laub nicht mehr schlaff herunter. Aber nichts in der Welt brachte sie zum Sprechen, als Gaby sie fragte, womit sie die Pflanze genährt hatte. Mit Bier, meinte Adam.

Sie wurden am Donnerstagvormittag getraut, mit Spurge-on und Dorothy als Brautzeugen. Als sie vom Rathaus heimkamen, riß Gaby als erstes den Klebestreifen unter dem Briefkasten ab, der ihren Mädchennamen trug. Der fehlende Streifen hinterließ eine blasse, nicht verwitterte Stelle, die sie liebte, solange sie in der kleinen Wohnung in der Phillips Street lebten.

Kurz danach arbeitete Adam eines Abends im Tierlabor, als Kender auf eine Tasse Kaffee hereinkam.

»Erinnern Sie sich noch an ein Gespräch, das wir einmal hatten, über das Erhalten des Lebens bei einem Patienten mit einer tödlichen Krankheit?« fragte ihn Adam.

»Ja, ich erinnere mich gut«, sagte Kender.

»Sie sollen wissen, daß ich meine Ansicht geändert habe.«

Kenders Augen glänzten vor Neugierde, er nickte, fragte jedoch nicht, was Adams Meinungsänderung bewirkt hatte. Sie saßen und tranken Kaffee in freundschaftlichem Schweigen. Adam fragte nicht nach der Dozentur, die er jetzt nicht nur haben wollte, sondern auch unbedingt brauchte, um da arbeiten zu können, wo bessere Männer als er mit allen Mitteln für Gaby kämpfen konnten.

18

RAFAEL MEOMARTINO

Meomartino hatte das Gefühl, daß sich die Atome seines Lebens in einer Art und Weise umordneten, über die er wenig Kontrolle hatte. Er traf sich mit dem Privatdetektiv in einer Pizzeria in der Washington Street, und sie wickelten ihr Geschäft bei salzigen linguini marinara und geharztem Wein ab.

Kittredge hatte herausgefunden, daß Elizabeth Meomar-tino wiederholt zu einem Wohnhaus am Memorial Drive in Cambridge fuhr.

»Aber wissen Sie, ob sie sich dort mit jemandem getroffen hat?«

»Ich folgte ihr nur bis zu dem Haus«, sagte Kittredge. »Ich wartete sechsmal draußen, als sie hineinging. Ein paarmal fuhr ich im Lift mit ihr, als wohnte ich dort. Es ist ein sehr gutes Haus, Leute in selbständigen Berufen, oberer Mittelstand.«

»Wie lange bleibt sie?«

»Das ist verschieden.«

»Wissen Sie die Nummer der Wohnung?«

»Nein, noch nicht. Aber sie steigt immer im vierten Stock aus.«

»Nun, das sollte uns weiterbringen«, sagte Meomartino.

»Nicht unbedingt«, sagte Kittredge geduldig. »Sie könnte von dort in den fünften Stock weiterfahren oder auch einen Stock tiefer gehen.«

»Weiß sie, daß Sie ihr folgen?«

»Nein, da bin ich ganz sicher.«

»Nun, nehmen wir an, sie fährt in den vierten Stock«, sagte er angewidert und begann den Professionalismus des Detektivs zu verachten. »Sie ist schließlich keine versierte internationale Spionin.«

»Schön«, sagte Kittredge. Er nahm sein Notizbuch heraus. »Am besten, ich lese Ihnen die Namen der Leute vor, die in dem Stockwerk wohnen, vielleicht sagt Ihnen der eine oder andere etwas.«

Meomartino wartete gespannt.

»Harold Gilmartin.«

»Nein.«

»Peter D. Cohen. Mr. und Mrs. Cohen.«

»Weiter.«

»In der nächsten Wohnung sind zwei unverheiratete Mädchen, Hilda Conway und Marcia Nieuhaus.«

Er schüttelte leicht empört den Kopf.

»V. Stephen Samourian.«

»Nein.«

»Bleibt nur noch einer. Ralph Baker.«

»Nein«, sagte Rafe deprimiert, weil er ein solches Spiel mitmachen mußte.

Kittredge zuckte die Achseln. Er nahm eine getippte Liste aus der Tasche und reichte sie Meomartino. »Hier die Namen aller übrigen Hausbewohner.«

Die Liste las sich wie eine Seite des Telephonbuchs einer fremden Stadt. »Nein«, sagte Meomartino.

»Einer der Leute im vierten Stock, Samourian, ist ein Doktor.«

»Ich höre diesen Namen zum erstenmal.« Er schwieg eine Weile. »Besteht die Möglichkeit, daß sie etwas ganz Gewöhnliches tut, wie etwa zum Zahnarzt gehen?«

»Als Sie Dienst im Krankenhaus hatten, ging sie zweimal um die Mittagszeit nach Hause und kehrte dann in das Haus am Memorial Drive zurück, um dort den Abend zu verbringen.«

»Oh.«

»Soll ich einen Bericht schreiben?« fragte Kittredge.

»Nein. Hetzen Sie mich nicht«, fuhr er ihn an. Auf Ersuchen des Detektivs schrieb er einen Scheck über hundertsiebzig Dollar aus. Und jeder Federstrich fiel ihm schwerer als der vorangegangene.

Am selben Abend um elf Uhr kam Helen Fultz zu ihm.

»Dr. Meomartino«, sagte die alte Schwester.

Sie war blaß und verschwitzt und sah aus, als hätte sie einen leichten Schock erhalten. »Was ist los, Helen?«

»Ich blute sehr stark.«

Er hieß sie hinlegen.

»Haben Sie je die Röntgenaufnahmen machen lassen?«

»Ja. Hier in der Klinik«, sagte sie.

Er schickte um Blutkonserven und um ihre Befunde und Filme. Die Röntgenaufnahmen zeigten kein Geschwür, jedoch ein kleines Aortenaneurysma, eine winzige Auftreibung im Hauptstamm der aus der linken Herzkammer aufsteigenden Aorta. Die Leute an der Klinik hatten das Aneurysma für zu klein gehalten, um die Blutungen hervorzurufen, die ihrem Gefühl nach durch ein Geschwür verursacht wurden, das im Röntgenbild nicht sichtbar war. Man hatte sie einfach auf Diät gesetzt.

Er untersuchte ihren Unterleib, tastete sie sorgfältig ab und wußte, daß sie nicht recht hatten.

Er wollte den Rat eines älteren Chirurgen einholen. Am Nachrichtenbrett sah er, daß der Konsiliarchirurg auf Abruf Miriam Parkhurst war, aber als er telephonierte, wurde ihm mitgeteilt, daß sie auf dem Weg zum Mount Auburn Hospital in Cambridge sei.

Er rief Lewis Chin an, doch der Konsiliarius war in New York. Dr. Kender wohnte, wie er wußte, einer Transplantationskonferenz in Cleveland bei, bei der er seinen Nachfolger zu bestellen hoffte. Es war kein anderer vorgesetzter Kollege greifbar.

Nur Silverstone war da.

Er ließ den Oberarzt rufen, und sie untersuchten Helen Fultz gemeinsam. Er führte Adams Hand, bis sie das Aneurysma fand. »Wie groß, würden Sie sagen?«

Silverstone pfiff lautlos. »Mindestens neun Zentimeter, würde ich sagen.«

Die Blutkonserven kamen, und Silverstone bereitete eine Intravenöse für Helen vor, während Meomartino nochmals zu telephonieren versuchte. Diesmal erreichte er Miriam Parkhurst. Man mußte sie aus dem Waschraum im Mount-Auburn-Krankenhaus holen, und sie war sehr verdrossen, daß sie die vier Minuten für das Händewaschen vergeudet hatte, beruhigte sich jedoch, als er sie über Helen Fultz informierte.

»Gott, diese Frau war Stationsschwester, als ich Hausärztin war«, sagte sie.

»Nun, dann kommen Sie lieber her, sobald Sie können«, sagte er. »Das Aneurysma kann jeden Augenblick platzen.« »Sie und Dr. Silverstone werden bereits anfangen müssen, Dr. Meomartino.«

»Sie kommen nicht?«

»Unmöglich. Ich habe selbst einen Notfall. Einer meiner Privatpatienten hat ein großes, blutendes Geschwür, das sich über den Pförtner zum Zwölffingerdarm erstreckt. Ich komme, sobald ich hier fertig bin.«

Er dankte und rief den OP an, er komme mit einem Aneurysmafall hinunter. Dann telephonierte er nacheinander um einen Konsultanten von der Internen und einen Anästhesisten.

Helen Fultz lächelte ihn an, als er es ihr sagte. »Sie und Dr. Silverstone?« fragte sie.

»Ja.«

»Ich könnte in schlechtere Hände geraten«, sagte sie.

Sie mußten warten, während Norman Pomerantz Helen mit tödlicher Langsamkeit anästhesierte, aber endlich konnte Meomartino doch beginnen. Er machte eine lange mittlere Inzision, die zwischen die Rektusscheiden führte. Wo immer ein kleines Blutgefäß auftauchte, klemmte er ab und Silverstone band.

Er arbeitete sich vorsichtig durch das Peritoneum, und sobald sie im Abdomen waren, konnte er das Aneurysma sehen, eine große pulsierende Erweiterung an der linken Seite der Schlagader.

»Da hätten wir's«, murmelte Silverstone.

Es ließ Blut in die Eingeweide sickern, die Ursache ihrer Blutung.

»Holen wir's heraus«, sagte er. Miteinander beugten sie sich über Helen Fultz' große pulsierende Aorta.

Miriam Parkhurst kam in das Büro des OP geeilt, nachdem Silverstone Helen in den Erholungsraum gebracht hatte. Sie hörte sich Meomartinos Bericht an, und versuchte, ihre Erleichterung zu verbergen. »Ich bin froh, daß wir wenigstens jemandem vom Stab helfen konnten. Haben Sie Re-tentionsnähte verwendet?«

»Ja«, sagte er. »Wie ist es mit Ihrem Notfall im Mount Auburn gegangen?«

Sie lächelte ihn an. »Wir hatten beide einen erfolgreichen Abend.«

»Das freut mich.«

»Rafe, was soll aus Harland Longwood werden?«

»Ich weiß es nicht«, sagte er.

»Ich liebe diesen alten Mann wirklich«, sagte sie müde. Sie winkte ihm gute Nacht zu und ging.

Meomartino saß da und horchte durch die offenen Türen den Schwestern zu, die leise miteinander plauderten, während sie den Operationssaal reinigten.

Sonst war nichts zu hören.

Er schloß die Augen. Er war verschwitzt und roch nach Schweiß, aber er fühlte sich fast wie nach einem Koitus, erlöst, erfüllt, durch den Liebesakt berechtigt, einen Platz auf der Erde zu beanspruchen. Ihm fiel ein, daß es stimmte, was Liz einmal zu ihm gesagt hatte: das Krankenhaus beanspruchte ihn in einem Maß, wie es eine menschliche Geliebte nicht vermochte.

Schäbige alte Schlampe, dachte er amüsiert.

Als er die Augen öffnete, brachte ihn die Idee in Verlegenheit und er verfolgte sie nicht weiter. Er streifte die grüne Stoffkappe ab und ließ sie auf den Boden fallen. Auf dem Tisch stand ein Tonbandgerät, er hob das Mikrophon ab, lehnte sich im Stuhl zurück und legte die Füße, die noch immer in den schwarzen Operationsstiefeln steckten, neben den Apparat auf den Tisch.

Er drückte den Knopf am Mikrophon und begann den Operationsbericht zu diktieren.

Es regnete. Den ganzen nächsten Tag und bis in den Abend hinein fiel jener Regen, den die Farmer in New England zunächst mit Freude begrüßten, dann mit Angst und schließlich mit Zorn verfolgten, je mehr die Saat weggewaschen wurde. Als er in der Nacht dalag und dem Regen lauschte, schwebte sie in einem gelbseidenen Nachthemd wie ein heller Schatten in das dunkle Zimmer.

»Was ist los? Bist du böse auf mich?« fragte sie.

»Nein.«

»Rafe, ich muß mich ändern oder zugrunde gehen«, sagte sie.

»Wann bist du zu dieser Erkenntnis gekommen?« fragte er nicht unfreundlich.

»Ich mache dir keinen Vorwurf, daß du mich haßt.«

»Ich hasse dich picht, Liz.«

»Wenn wir bloß die Uhr zurückdrehen und unsere Fehler ungeschehen machen könnten.«

»Das wäre schön, nicht?«

Draußen trommelte der Regen immer stärker an die Scheiben.

»Mein Haar ist wieder fast ganz nachgewachsen. Mein eigenes Haar.«

»Es ist fein und weich«, sagte er und streichelte es.

»Du warst so gut zu mir. Es tut mir so leid, Rafe.«

»Sei still.« Er drehte sich herum und nahm sie in die Arme.

»Erinnerst du dich an jene erste Regennacht?« »Ja«, sagte er.

»Ich möchte so tun, als ob«, sagte sie. »Darf ich?«

»Was?«

»Als wärst du wieder ein Junge und ich ein junges Mädchen, als hätten wir es noch nie getan.«

»O Liz.«

»Bitte, bitte, tu so, als hätten wir beide nicht die geringste Erfahrung.«

Also spielten sie wie Kinder, und er erlebte wieder, schemenhaft, halb vergessen, erste Entdeckung, erste Angst. »Amoroso«, nannte sie ihn schließlich. »Delicioso, mägico, marido«, Worte, die er sie in den ersten Wochen ihrer Ehe gelehrt hatte.

Nachher lachte er, und sie wandte sich ab und weinte bitterlich. Er stand auf, öffnete die Balkontüren, ging auf den kleinen Balkon in den Regen hinaus und brach eine Blüte in einem Blumentopf von ihrem Stengel, eine Ringelblume, kam zurück und legte sie auf ihren Nabel.

»Sie ist kalt und naß«, klagte sie, ließ es jedoch zu und hörte zu weinen auf.

»Verzeihst du mir? Läßt du mich versuchen, ganz von vorn zu beginnen?« fragte sie.

»Ich liebe dich«, sagte er.

»Aber verzeihst du mir?«

»Schlafe.«

»Sag ja.«

»Ja«, sagte er froh. Er würde Kittredge anrufen, dachte er schläfrig, und ihm sagen, daß seine Dienste nicht mehr gebraucht würden.

Er schlief ein, ihre Hand haltend, und als er erwachte, war es Morgen. In der Nacht hatte sie sich herumgerollt, die Blume war zerdrückt, auf dem Laken lagen die orangefarbenen Blumenblätter. Sie schlief tief, die Glieder entspannt, das Haar schwarz und zerzaust, das Gesicht ohne Bitterkeit, im Blute des Lamms gewaschen.

Er stand auf und zog sich an, ohne sie zu wecken, verließ die Wohnung und fuhr ins Krankenhaus, ein neuer Mann für einen neuen Tag.

Mittags rief er an, aber es meldete sich niemand. Nachmittags hatte er sehr viel zu tun. Dr. Kender war zurückgekommen und hatte zwei Konsiliarprofessoren namens Powers und Rogerson aus Cleveland mitgebracht, und sie gingen alle zusammen auf Nachmittagsvisite, eine lang hinausgezogene Formalität.

Um sechs Uhr rief er wieder an. Als sich diesmal niemand meldete, bat er Lee, einzuspringen, und fuhr in seine Wohnung in die Charles Street.

»Liz«, rief er, als er das Haus betrat.

In der Küche war niemand; auch im Wohnzimmer nicht. Das Arbeitszimmer war leer. Im Schlafzimmer standen einige Kommodenladen offen, ebenfalls leer. Ihre Kleider fehlten.

Ihr Schmuck.

Hüte, Mäntel, Gepäck.

»Miguel«? rief er leise, aber sein Sohn antwortete nicht, er war mit seiner Mutter verschwunden.

Er ging hinunter und fuhr zur Wohnung Longwoods, in die ihn eine grauhaarige Dame, eine Fremde, einließ.

»Das ist Mrs. Snyder, eine alte Freundin von mir«, sagte Longwood. »Marjorie, das ist Dr. Meomartino.«

»Elizabeth ist weg«, sagte Rafe.

»Ich weiß«, sagte Longwood ruhig.

»Wissen Sie, wohin?«

»Fort, mit einem anderen Mann. Das ist alles, was sie mir sagte. Sie verabschiedete sich heute früh von mir. Sie sagte, sie würde schreiben.« Er sah Meomartino haßerfüllt an.

Rafe schüttelte den Kopf. Anscheinend gab es sonst nichts zu sagen. Er wollte gehen, aber Mrs. Snyder folgte ihm in den dunklen Flur.

»Ihre Frau rief mich an, bevor sie wegging«, sagte sie.

»Ja?«

»Deshalb bin ich hergekommen. Sie sagte mir, Harland müsse heute zur Behandlung an irgendeinen Apparat ins Krankenhaus.«

Er nickte und blickte in das besorgte alternde Gesicht, ohne wirklich zu verstehen, was sie sagte.

»Er will aber nicht«, sagte sie.

Was geht das mich an, dachte er zornig.

»Er weigert sich absolut«, sagte sie. »Ich glaube, er ist sehr krank. Manchmal hält er mich für Frances.« Sie sah ihn an. »Was soll ich machen?«

Ihn sterben lassen, dachte er; wußte sie nicht, daß ihn seine Frau verlassen hatte, daß sein Sohn fort war?

»Rufen Sie Dr. Kender im Krankenhaus an«, sagte er. Er ließ sie stehen, und sie starrte ihm nach.

Am nächsten Morgen wurde er im Krankenhaus gesucht, und als er sich meldete, teilte man ihm mit, ein Mr. Samourian warte im Empfang auf ihn. »Wer?«

»Mr. Samourian.«

Ah, dachte er und erinnerte sich an Kittredges Liste der Mieter im vierten Stock. »Ich komme sofort.«

Der Mann war eine Enttäuschung, Mitte Vierzig, mit ängstlichen braunen Spanielaugen, einer beginnenden Glatze und einem graugesprenkelten Schnurrbart. Unglaublich, daß seine Ehe, sein Familienleben an diesem kleinen untersetzten Mann gescheitert war.

»Mr. Samourian?«

»Ja. Dr. Meomartino?«

Verlegen reichten sie einander die Hand. Es war wenige Minuten nach zehn Uhr, der Kaffeesalon und Maxies Laden würden für ein Gespräch unter vier Augen zu voll sein. »Wir können hier miteinander reden«, sagte er und ging zu einem Beratungszimmer voraus.

»Ich bin gekommen, um wegen Elizabeth mit Ihnen zu sprechen«, sagte Samourian, als sie sich setzten.

»Ich weiß«, sagte Rafe. »Ich habe Sie beide schon seit einiger Zeit von einem Detektiv beobachten lassen.«

Der Mann nickte, den Blick auf ihn geheftet. »Ich verstehe.«

»Was haben Sie für Pläne?«

»Sie und der Junge sind an der Westküste. Ich fahre zu ihnen.«

»Man sagte mir, Sie seien Doktor«, sagte Rafe.

Samourian lächelte. »Der Philosophie. Ich unterrichte Wirtschaftslehre am MIT, aber ab September lese ich in Stanford«, sagte er. »Sie will die Scheidung sofort einreichen. Wir hoffen, daß Sie einwilligen.«

»Ich will meinen Sohn haben«, sagte Rafe. Seine Kehle schnürte sich zusammen. Bis zu diesem Augenblick war ihm nicht so klar gewesen, wie sehr er ihn haben wollte.

»Auch sie will ihn haben. Im allgemeinen sind Scheidungsgerichte der Ansicht, daß es das Beste für Kinder ist, bei ihren Müttern zu bleiben.« »Vielleicht wird das diesmal nicht so sein. Wenn sie versucht, ihn von mir fernzuhalten, werde ich Einspruch erheben und meinerseits die Klage einreichen. Ich habe genügend Beweise. Schriftliche Berichte«, sagte er und dachte verdrossen, daß Kittredge der einzige Gewinner dabei war.

»Wir sollten daran denken, was das Beste für das Kind ist.«

»Daran denke ich schon seit langer Zeit«, sagte Rafe. »Ich habe versucht, meine Ehe aufrechtzuerhalten, um ihm ein erträgliches Leben zu sichern.«

Samourian seufzte. »Ich versuche nur, ihr alles so leicht wie möglich zu machen. Sie ist sehr sensibel. Zu viele Kämpfe würde sie nicht überleben. Die Krankheit ihres Onkels hat sie schrecklich mitgenommen, wie Sie wissen. Sie liebt ihn sehr.«

»Wenn das stimmt, ist es seltsam, daß sie gerade jetzt weggegangen ist«, sagte Rafe.

Der andere zuckte die Achseln. »Die Menschen zeigen ihre Liebe auf seltsame Weise. Sie konnte nicht bleiben und ihn leiden sehen.« Er sah Meomartino an. »Soviel ich höre, ist nicht viel Hoffnung.«

»Nein.«

»Ich fürchte, wenn er stirbt, würde es nicht leicht sein, ihr Halt zu geben.«

Meomartino betrachtete ihn aufmerksam. »Das fürchte ich auch«, sagte er. »Ich wußte nicht, daß Sie sie so gut kennen.«

Samourian lächelte. »Oh, ich kenne Beth«, sagte er leise.

»Beth?«

»Ich nenne sie so. Neuer Name, neues Leben.«

Rafe nickte. »An dem Bild ist nur eines falsch«, sagte er. »Es ist noch immer derselbe kleine Junge wie früher, und der gehört mir.« »Ja«, sagte Samourian. »Diese Dinge brauchen wahrscheinlich Zeit. Anwälte und Richter haben es nicht eilig. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß Miguel bis zur endgültigen Entscheidung ein gutes Heim haben wird. Sobald wir in Paolo Alto eine Adresse haben, benachrichtige ich Sie.«

»Danke«, sagte Rafe. Es war ihm unmöglich, ihn zu hassen. »Was bedeutet das V.?« fragte er, als sie aufstanden.

»Das V?«

»Das V. von Stephen?«

»Oh.« Samourian lächelte. »Vasken, ein alter Familienname.«

Sie verließen zusammen das Krankenhaus. Die Sonne versetzte ihnen einen Schlag, und sie mußten blinzeln, als sie einander die Hand reichten.

»Alles Gute, Vasken«, sagte Rafe. »Vorsicht vor jungen mexikanischen Gärtnern.«

Samourian sah ihn an, als sei er verrückt.

Am selben Nachmittag hielten sie in Anwesenheit der Gastprofessoren aus Cleveland eine Konferenz über die chirurgischen Komplikationen der vergangenen Woche ab. Rafe hörte dem Auf und Ab der Stimmen kaum zu. Er saß da, dachte an vieles, und merkte erst nach einer Weile, daß soeben der Fall Longwood diskutiert wurde.

»... Ich fürchte, er ist am Ende«, sagte Dr. Kender. »Der Apparat kann ihn zwar weiter am Leben erhalten, aber er lehnt es ab, sich weiter behandeln zu lassen, und diesmal ist es ihm ernst damit. Er zieht es vor, sich dem Tod zu stellen.«

»Wir können aber nicht einfach zusehen«, sagte Miriam Parkhurst.

Sack brummte. »Es wäre schön, Miriam, wenn wir in allen diesen Angelegenheiten eine Wahl hätten«, sagte er. »Leider haben wir sie nicht. Wir können einem Patienten die Dialyse anbieten, aber wir können ihn nicht zwingen, sie anzunehmen.«

»Harland Longwood ist nicht bloß ein Patient«, sagte sie.

»Er ist ein Patient«, sagte Sack verletzt. »Wir müssen ihn jetzt als Patienten betrachten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es ist das Beste für ihn.«

Dr. Parkhurst vermied es, Sack anzusehen. »Selbst wenn wir vergessen, was Harland jedem von uns und der Chirurgie schon gegeben hat«, sagte sie, »ist ein zwingender Grund vorhanden, warum wir nicht einfach zusehen dürfen. Einige von uns haben das Manuskript des Buches gelesen, an dem er arbeitet. Es ist ein wertvoller Beitrag, ein Lehrbuch, das viele Generationen junger Chirurgen entscheidend beeinflussen wird.«

»Dr. Parkhurst«, sagte Kender.

»Nun, das Leben Hunderter Menschen wird in Mitleidenschaft gezogen, wenn man zuläßt, daß dieser Mann stirbt.«

Sie hat recht, dachte Meomartino.

Sie sah die beiden Gastprofessoren aus Cleveland an. »Sie sind Nierenfachleute«, sagte sie. »Können Sie etwas vorschlagen, das wir versuchen könnten?«

Der Arzt namens Rogerson beugte sich vor. »Sie müssen warten, bis ein Leichenspender mit B-negativer Blutgruppe verfügbar ist«, sagte er.

»Aber das können wir nicht«, sagte sie verächtlich. »Haben Sie nicht zugehört?«

»Miriam«, sagte Dr. Kender, »du mußt dich mit der Situation abfinden. Wir bekommen keinen B-negativen

Spender. Und wir können Harland Longwood nicht ohne B-negativen Spender retten.«

»Ich bin B-negativ«, sagte Meomartino.

Sie befaßten sich zu lange mit dem Risiko seiner eventuell verminderten Lebenserwartung. »Ich habe Nieren wie ein Roß«, sagte er. »Ich werde mit einer genauso lange auskommen wie mit beiden.«

Kender und Miriam Parkhurst sprachen unter vier Augen mit ihm und gaben ihm jede Gelegenheit, das Angebot ehrenhaft zurückzuziehen.

»Wollen Sie es wirklich tun?« fragte Kender zum drittenmal. »Im allgemeinen ist der Spender ein Verwandter.«

»Er ist mein angeheirateter Onkel«, sagte Meomartino.

Kender schnaubte, Rafe aber lächelte. Er wußte, daß sie mit ihren Argumenten am Ende waren. Ihr Gewissen war beruhigt, und sie würden sich gierig auf seine Niere stürzen.

Kender bestätigte es. »Ein nicht verwandter lebender Spender ist viel besser als eine Leiche«, sagte er. »Wir werden Tests machen müssen.« Er sah Rafe an. »Was das Chirurgische dabei betrifft, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Einen lebendigen Spender hat noch nie jemand verloren.«

»Ich mache mir keine Sorgen«, sagte Rafe. »Ich habe nur eine Bedingung. Er darf nicht wissen, von wem die Niere stammt.«

Die arme Miriam sah verwirrt aus.

»Er würde sie nicht annehmen. Wir mögen einander nicht.«

»Ich sage ihm, daß der Spender keine Publicity will«, sagte Kender.

»Nehmen wir an, er will sie trotzdem nicht annehmen«, sagte Miriam.

»Dann wiederholen Sie einfach Ihre Rede über das geniale Werk, das es zu vollenden gilt«, sagte Meomartino. »Dann nimmt er sie.«

»Wir werden diesmal Anti-Lymphocytenserum nehmen«, sagte Kender. »Adam Silverstone hat die Dosis ausgearbeitet.«

Das einzige mögliche Hindernis stellte sich als nicht vorhanden heraus, als man Gewebeproben von ihm und dem alten Mann verglich und fand, daß sie durchaus miteinander verträglich waren. In einer, wie es ihm schien, erschreckend kurzen Zeit lag er im OP 3 auf dem Rücken: es war ein seltsames Gefühl, jetzt selbst in diesem Haus auf dem Operationstisch zu liegen und von Norman Pome-rantz freundlich und schmerzlos anästhesiert zu werden.

»Rafe«, sagte Pomerantz zu ihm, und die Worte kollerten in seine Ohren.

»Rafe? Kannst du mich hören, Freundchen?«

Natürlich kann ich dich hören, versuchte er zu sagen.

Er sah, wie sich Kender dem Tisch näherte, hinter ihm Silverstone.

Schneide gut, mein Feind, dachte er.

Ausnahmsweise zufrieden, einmal andere arbeiten zu lassen, schloß er die Augen und schlief ein.

Die Rekonvaleszenz war eine langsam dahinschleichende Unwirklichkeit.

Liz' Abwesenheit fiel auf, und die Leute schienen langsam zu begreifen, daß ihre Ehe gescheitert war.

Die Flut von Besuchern versickerte zu einem Geriesel, als die Zeit verging und sich die Sensation legte. Miriam

Parkhurst schenkte ihm einen kleinen trockenen Kuß und einen Korb mit Obst, der viel zu groß war. Im Lauf der Tage wurden die Bananen schwarz, und die Pfirsiche und Orangen entwickelten eine schleichende weiße Fäulnis und verbreiteten einen Geruch, der ihn zwang, alles außer den Äpfeln wegzuwerfen.

Seine Niere funktionierte in dem Alten großartig. Rafe fragte absichtlich nie danach, aber man hielt ihn über Har-land Longwoods Fortschritt auf dem Laufenden.

Das Fernsehen bot zeitweilige Ablenkung. Eines Tages blätterte er im Fernsehprogramm, als Joan Anderson mit Eiswasser in sein Zimmer kam. »Ist das Spiel heute auch im Fernsehen oder nur im Rundfunk?« fragte er.

»Fernsehen. Wissen Sie schon von Adam Silverstone?«

»Was ist mit ihm?«

»Er ist an die Fakultät ernannt worden.«

»Nein, wußte ich noch nicht.«

»Dozent für Chirurgie.«

»Fein. Auf welchem Kanal ist das Spiel?«

»Fünf.«

»Stellen Sie es mir ein? Seien Sie ein Schatz!«, sagte er.

Oft lag er einfach nur da und dachte nach. Eines Nachmittags sah er eine Annonce im Massachusetts Physician, und er las sie mehrmals mit zunehmendem Interesse, bis die Idee in ihm Wurzel faßte.

Am Tag seiner Entlassung aus dem Krankenhaus nahm er ein Taxi zum Federal Building und führte dort ein sehr langes Gespräch mit einem Repräsentanten der Behörde für Internationale Entwicklungshilfe, nach dessen Beendigung er die Dokumente für achtzehn Monate Dienst als Zivilchirurg unterzeichnete.

Auf dem Weg zu der leeren Wohnung hielt er bei einem Juweliergeschäft an und kaufte eine rotsamtene Schachtel, nicht unähnlich derjenigen, in der sein Vater die Uhr aufbewahrt hatte, als Rafe noch ein kleiner Junge war. Als er heimkam, setzte er sich in seinem stillen Arbeitszimmer nieder, nahm Feder und Papier, und entschloß sich nach mehreren Versuchen, mit »Mein lieber Miguel«, »Mein lieber Sohn«, schließlich zu folgendem Kompromiß:

Mein lieber Sohn Miguel,

Ich muß Dir zunächst für ein Glück danken, das größer war, als ich es je gekannt habe: jemanden - nämlich Dich - zu lieben. In der kurzen Zeit Deines Lebens hast Du mir die schönsten Eigenschaften meiner Familie vor Augen geführt, und nicht eine einzige Schwäche, von denen, wie Du noch sehen wirst, die Welt immer zerrissen wurde, und mit der Welt auch wir selbst.

Wenn man Dir diesen Brief irgendwann einmal zu lesen gibt - wenn Du alt genug bist, ihn zu verstehen -, dann deshalb, weil ich von der Reise, die jetzt vor mir liegt, nicht zurückgekehrt bin.

Falls ich aber doch zurückkehre, werde ich die gesamte Juristenwelt auf den Kopf stellen, um die Vormundschaft über Dich zu erlangen. Sollte es sich jedoch herausstellen, daß diese Welt unmöglich auf den Kopf zu stellen ist, werde ich es einzurichten wissen, Dich regelmäßig und oft zu sehen.

Es ist jedoch möglich, daß Du diese Worte lesen wirst. Daher wünsche ich, ich könnte sie zu einem Credo machen, nach dem man leben kann, zu all dem, was ein Vater seinem Sohn zu geben vermag, oder zumindest einem wesentlichen Rat, der Dir hilft, den Schmerz des Daseins zu erleichtern. Leider vermag ich das nicht. Ich kann Dir nur raten, Dein Leben so zu leben, daß Du anderen so wenig Schaden wie möglich zufügst. Versuche, bevor Du stirbst, etwas zu tun oder gutzumachen, das nicht geschehen wäre, wenn Du nicht vorhanden gewesen wärst.

Das beste, das ich in meinem Leben gelernt habe, ist: Wenn man Angst hat, ist es am besten, sich ihr zu stellen und entschlossen darauf loszugehen. Ich weiß, daß dies einem Unbewaffneten, der vor einem hungrigen Tiger steht, als fragwürdiger Rat erscheinen mag. Ich gehe nach Vietnam, um dem Tiger zu begegnen und herauszufinden, welche moralischen Waffen ich als Mensch und als Mann besitze.

Die Uhr, die diesen Brief begleitet, ist viele Generationen hindurch jeweils dem ältesten Sohn weitergegeben worden. Ich bete, daß sie durch Dich noch viele Male weitergegeben wird. Poliere die Engel hie und da und öle das Werk. Sei gut zu Deiner Mutter, die Dich liebt und Deine Liebe und Unterstützung brauchen wird.

Denke an die Familie, aus der Du kommst, und daß Du einen Vater hattest, der wußte, daß sehr viel Gutes von Dir kommen wird.

In tiefster Liebe Rafael Meomartino

Er packte die Uhr sorgfältig ein, indem er die Schachtel zuerst mit zusammengeknüllten Seiten des Christian Science Monitor ausstopfte, um die Uhr gegen Stöße abzusichern. Dann schrieb er einen kurzen erklärenden Begleitbrief an Samourian.

Als er fertig war, saß er da, sah sich in dem kühlen, angenehmen Raum um, dachte an Untervermietung, an Möbeleinlagerung. Nach einigen Minuten ging er zum Telephon und rief Ted Bergstrom in Lexington an, bat um eine

Telephonnummer in Los Angeles und erhielt sie, wenn auch etwas kühl. Er meldete das Gespräch sofort an, hatte jedoch nicht damit gerechnet, daß es drei Stunden dauern würde, bis die Verbindung zustande kam.

Sein Telephon läutete erst um zehn Uhr abends.

»Hallo, Peg?« sagte er. »Hier spricht Rafe Meomartino. Wie geht es Ihnen? ... Gut ... Mir geht's fein, einfach prima. Ich bin geschieden, das heißt, ich werde es vermutlich jetzt jeden Augenblick sein . Ja. Nun . Hören Sie, ich fahre in einigen Wochen durch Kalifornien und möchte Sie sehr gern wiedersehen ... Ja? Wunderbar! Erinnern Sie sich, daß Sie mir einmal sagten, wir hätten nichts gemeinsam? Nun, das ist verdammt .«

19

ADAM SILVERSTONE

Die bevorstehende Vaterschaft hatte Adam zu einem Bauch-Abtaster gemacht. »Gehen wir doch in den Park und sehen uns die Hippieversammlung an«, sagte er eines Sonntagmorgens zu seiner Frau, als er ihren Bauch streichelte. Gaby war erst drei Monate schwanger und die kleine Schwellung noch kaum bemerkbar; sie sagte, es seien Gase, aber er wußte es besser. Die Schwangerschaft hatte sie in eine Rubensfrau en miniature verwandelt, zum erstenmal in ihrem Leben zeigten die kleinen Brüste eine Andeutung von Schwere, ihre Hüften und Sitzbak-ken einen sanften Schwung, und ihr Bauch, der die Last trug, eine entschieden nach außen gekrümmte Ellipse, viel zu schön, um von Gasen zu stammen. Für seine anbetende Handfläche gab es nichts als die glatte Haut der noch unreifen Fleischknospe, die nur durch den einwärts gezogenen Nabel unterbrochen wurde, aber im Geist sah er durch alle Schichten hindurch das winzige lebendige Ding, das in der amniotischen Flüssigkeit schwebte, derzeit noch ein kleiner Fisch, der jedoch bald ihre Züge, seine Züge, Arme, Beine, Geschlechtsmerkmale entwik-keln würde.

»Ich mag nicht mitkommen«, sagte sie.

»Warum nicht?«

»Geh du. Mach einen kleinen Spaziergang, schau dir die hübschen Mädchen an, und während du weg bist, mache ich das Frühstück«, sagte sie.

So verließ er ihr gemeinsames Bett, wusch sich und zog sich an, und schlenderte an einem lieblichen Sommermorgen über den Hügel. San Francisco gehörte der Vergangenheit an. Dieses Jahr spielte sich der Hippie-Aufzug im Bostoner Common ab. Einige Teilnehmer waren Height-Ashbury-Veteranen, andere Neuankömmlinge und Möchtegern-Hippies, die sich nur gelegentlich so kostümierten, aber es war lustig, alle miteinander zu beobachten. Die Männer waren weit weniger interessant als die Frauen, und nicht nur aus physischen Gründen, sagte er sich tugendhaft; die Männer neigten dazu, sklavische Konformisten ihres Nichtkonformismus zu sein und drängten sich mit einer begrenzten Vielfalt struppiger Stammesmerkmale zusammen. Die Frauen zeigten seiner Meinung nach mehr Phantasie und versuchten nicht neiderfüllt eine nach Bongo schmeckende Rothaarige anzustarren, die trotz der Hitze auf Indianerart in eine graue Decke gehüllt war; sie trug eine Feder in ihrem mit Glasperlen besetzten Haarband, und als sie auf wunderbaren, nackten Füßen an ihm vorbeiging, bewegten sich hinten die Buchstaben U. S. Navy im Rhythmus eines Tamtams auf und ab. Adam machte die Runde, aber nicht einmal das atemberaubendste Hippie-Mädchen ließ ihn bedauern, daß er schon eine Frau hatte.

Er verbrachte jetzt viel Zeit in stummer Dankbarkeit für das, was sie besaßen. Mit jedem Tag wuchsen Gabys Chancen.

Als er die Dozentur bekam, fühlten sie sich einen Augenblick lang reich. Ein Mädchen, das Gaby von der Schule her kannte, gab ihre Wohnung im ersten Stock in der Commonwealth Avenue auf, viel hübscher als die Kel-lerwohnung in der Phillips Street, größer und in einem umgebauten Stadthaus mit einer ehrwürdigen Magnolie hinter dem winzigen Eisengitter. Aber sie hatten sich entschlossen, die Wohnung doch nicht zu nehmen. Einmal würden sie bestimmt umziehen; sie waren sich einig, daß es für ein Kind herrlich wäre, auf Wiesen im weiten Land aufzuwachsen. Aber sie besaßen das Strandgrundstück in Truro, wohin sie fahren konnten, wann immer es ihre Zeit zuließ, und vorderhand wollten sie mit dem Beacon Hill vorlieb nehmen. Gaby legte jeden Monat das Geld, das sie für die Wohnung in der Commonwealth Avenue ausgegeben hätten, beiseite. Wenn sie die Babysachen kaufen mußte, waren sie dann schon bezahlt.

Er hingegen fand die Ausrede, die er gebraucht hatte, um das Rauchen aufzugeben. Statt Schuldgefühle anzuhäufen, weil er als Arzt rauchte, ließ er in entsprechenden Abständen den Preis für ein Päckchen Zigaretten in einen Pappbehälter fallen, der für pathologische Proben bestimmt war, und sparte für den Ankauf eines englischen Kinderwagens, wie er und Gaby ihn auf Spaziergängen im Stadtpark bewundert hatten. Die finanzielle Seite des Wochenbetts war geregelt. Gaby stand unter der persönlichen Betreuung von Dr. Irving Gerstein, dem Chef der Gynäkologischen Station des Krankenhauses, der nicht nur der beste Geburtshelfer war, den Adam kannte, sondern auch äußerst verständnisvoll gegenüber werdenden Vätern. Eines Tages saß Adam mit ihm in der Cafeteria des Krankenhauses und erörterte Gabys schmales Becken und trank Kaffee, während Gerstein eine Wassermelone aß. Er nahm einen der glatten schwarzen Samen zwischen Daumen und Zeigefinger, drückte ihn zusammen, und das kleine Ei spritzte heraus. »So leicht wird Ihr Baby geboren werden«, sagte er.

Als Adam vom Common heimkam, war er zufrieden und ungeheuer hungrig. Er aß die Grapefruit, die Eier, den knusprigen Speck, die sie ihm vorsetzte, und häufte reiches Lob auf ihre frischgebackenen Brötchen vom Supermarkt, aber sie war eigenartig schweigsam.

»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte er, als er mit seiner zweiten Tasse Tee begann.

»Ich wollte dir das Frühstück nicht verderben, Darling.«

Fehlgeburt, dachte er benommen.

»Es handelt sich um deinen Vater, Adam«, sagte sie.

Sie wollte mitkommen, er bestand jedoch darauf, daß sie zu Hause blieb. Er gab den größten Teil des Geldes für den englischen Kinderwagen den Allegheny Airlines und flog nach Pittsburg. Der Rauch, der einst alles bedeckt hatte, war durch die Technik verbannt worden, und die Luft schien nicht schmutziger zu sein als die von Massachusetts. Es gibt nichts Neues unter der Sonne: der Verkehr war der gleiche wie in Boston; das Taxi entließ ihn vor einem Krankenhaus, das ganz wie das Suffolk County General aussah; im dritten Stock fand er in einem Bett, für das die Steuerzahler aufkamen, seinen Vater, und der sah ebenfalls genauso aus wie irgendeines der Wracks, denen Dr. Silverstone täglich in seiner Abteilung begegnete.

Myron Silberstein war wegen Delirium tremens schwer sediert und würde eine Zeitlang nicht zu sich kommen. Adam saß auf einem Stuhl, den er nahe ans Bett gezogen hatte, und starrte in das hagere Gesicht, dessen Blässe durch die vielsagende Tönung der Gelbsucht noch betont wurde. Aber die Züge waren seine eigenen, erkannte er mit einem Frösteln.

Welch eine Verschwendung menschlicher Kräfte, dachte er. Ein und derselbe Mensch konnte so viel tun oder auch alles wegwerfen. Und dennoch wurde einem menschlichen Wrack oft ein langes Leben geschenkt, ohne daß er es ver-diente, während ... Er dachte an Gaby und wünschte, er hätte die Macht, dem einen Körper Krankheit wegzunehmen und sie einem anderen einzupflanzen.

Voll Scham schloß er die Augen und horchte auf die Geräusche des Krankensaals, da ein Stöhnen, dort ein verächtliches Kichern im Delirium, schweres Atmen, ein Seufzer. Eine Schwester kam vorbei, und er bat, den Oberarzt sprechen zu dürfen.

»Dr. Simpson wird später vorbeikommen, auf Visite«, sagte sie. Sie deutete mit dem Kinn auf die Gestalt im Bett. »Sind Sie mit ihm verwandt?«

»Ja.«

»Als man ihn einlieferte, regte er sich schrecklich über irgendwelche Sachen auf, die man dort, wo er wohnt, zurückgelassen hatte. Wissen Sie etwas darüber?«

Sachen? Was konnte er schon Wertvolles besitzen? »Nein«, sagte Adam.

»Haben Sie seine Adresse?«

Eine Viertelstunde später kam sie mit einem Zettel zurück.

So konnte er die Wartezeit wenigstens verkürzen. Er ging hinunter, nahm ein Taxi und war nicht überrascht, als ihn der Wagen vor einer dreistöckigen Fassade mit angeschlagenen roten Ziegeln absetzte, einem alten Wohnhaus, das jetzt eine Pension war.

Durch einen nur widerwillig geöffneten Türspalt sprach er mit der Hausfrau, die, obwohl Mittag schon vorbei war, noch immer einen alten braunen Bademantel trug, das schüttere Haar auf metallenen Lockenwicklern.

Er fragte nach Mr. Silbersteins Zimmer.

»Hier wohnt niemand dieses Namens«, sagte sie.

»Er ist mein Vater. Sie kennen ihn nicht«?

»Das habe ich nicht gesagt. Er war bis vor wenigen Tagen hier Hausmeister.«

»Ich komme seine Sachen holen.«

»Es waren nur Lumpen und Mist. Ich habe sie verbrannt. Ich bekomme einen neuen Hausmeister, der morgen früh einzieht.«

»Oh.« Er wollte gehen.

»Er schuldet mir acht Dollar«, sagte sie und sah ihm zu, als er die Noten aus der Brieftasche nahm und abzählte. Ihre Hand entriß ihm das Geld, als er es hinstreckte. »Er war ein besoffener alter Landstreicher«, kam es, gleichsam als Quittung, durch den sich schließenden Türspalt.

Als er ins Krankenhaus zurückkam, war sein Vater bei Bewußtsein. »Hallo«, sagte er.

»Adam?«

»Ja. Wie geht's dir?«

Die blutunterlaufenen blauen Augen versuchten ihn zu erfassen, der Mund lächelte. Myron Silberstein räusperte sich. »Wie soll's mir schon gehen?«

»Gut.«

»Bist du für lange hier?«

»Nein. Ich komme bald wieder, jetzt muß ich sofort zurück. Heute nacht habe ich meine letzte Schicht als Oberarzt.«

»Bist schon ein großer Mann?«

Adam lächelte hilflos. »Noch nicht.«

»Wirst einen Haufen Geld verdienen?«

»Das bezweifle ich, Paps.«

»Schon gut«, sagte Myron schüchtern. »Ich habe alles, was ich brauche.«

Sein Vater dachte, daß er seine finanziellen Aussichten verkleinerte, um sie vor elterlichen Ansprüchen zu schützen, erkannte er voll Widerwillen. »Ich bin in deine Wohnung gefahren und habe versucht, deine Sachen zu holen«, sagte er unsicher, weil er nicht wußte, was fehlte oder wieviel er ihm erzählen sollte.

»Du hast sie nicht bekommen?« fragte sein Vater.

»Was war es denn?«

»Einige alte Sachen.«

»Sie hat sie verbrannt. Die Hausfrau.«

Myron nickte.

»Was für Sachen?« fragte Adam neugierig.

»Eine Fiedel. Einen siddur.«

»Einen was?«

»Siddur. Hebräische Gebete.«

»Du betest?« Irgendwie fand er den Gedanken unglaubwürdig.

»Ich fand es in einem Antiquariat.« Myron zuckte die Achseln.

»Gehst du in die Kirche?«

»Nein.«

»Ich habe dich betrogen.«

Es war keine Entschuldigung, wußte Adam; einfach die nüchterne Feststellung eines Mannes, der durch Lügen nichts mehr zu gewinnen hatte. Ja, das hast du, auf viele Arten, dachte er. Er wollte ihm noch sagen, daß er die verlorenen Sachen ersetzen würde, als das Delirium tremens wieder einsetzte. Sein Vater wurde wie von einem Sturm geschüttelt, die dünne Gestalt bäumte sich in prekordialem Schmerz auf und begann um sich zu schlagen, der Mund öffnete sich in einem stummen Schrei.

»Schwester«, sagte Adam, froh, daß Gaby nicht da war, um das zu sehen. Er half die subkutane Injektion zu verabreichen, diesmal ein leichteres Sedativ, aber in wenigen Augenblicken war der Anfall vorbei, und sein Vater schlief wieder.

Eine Weile saß er da und betrachtete die Gestalt im Bett, ein alter Mann, der nach einer Violine und einem gebrauchten Gebetbuch schrie. Schließlich bemerkte er, daß die Hände seines Vaters nicht ordentlich gereinigt worden waren. Öl oder etwas Ähnliches hatte sich vor langer Zeit eingefressen, und das Team, das den eingelieferten Kranken aufgenommen hatte, hatte nicht versucht, es zu entfernen. Er besorgte sich eine Schüssel warmen Wassers und Phisohex und Mull, ließ jede Hand ein wenig weichen und wusch sie sanft, bis sie sauber war.

Als er die rechte Hand trocknete, erforschte er sie fast neugierig, die Kratzer, die gebrochenen Nägel, die blauen Flecken und die Schwielen; die einst langen schlanken Finger waren verkrümmt und verdickt. Trotz allem, überlegte er, hatte ihn diese Hand nie geschlagen. Unwillkürlich erinnerte er sich an anderes, spürte er, wie die Finger durch sein Haar fuhren und seinen Nacken umklammerten, starr vor Liebe und Qual.

Paps, dachte er.

Er versicherte sich, daß sein Vater noch immer schlief, bevor er die feuchte Hand mit den Lippen berührte.

Als er in seine Bostoner Wohnung zurückkehrte, traf er seine Frau auf den Knien dabei an, ein Kinderbett zu streichen, das er noch nie gesehen hatte.

Sie richtete sich auf und küßte ihn. »Wie geht es ihm?« fragte sie.

»Nicht sehr gut Woher hast du denn das hier?«

»Mrs. Kender rief heute früh an und fragte, ob ich in dem Geschenkladen mithelfen könnte. Als ich hinkam, stürzte sie sich auf mich und zeigte mir das. Die Matratze war gräßlich, ich habe sie weggeworfen, aber das übrige ist in tadellosem Zustand.« Sie setzten sich.

»Wie schlimm ist es?« fragte sie.

Er erzählte ihr, was der Befund ergeben hatte: Eine schlecht funktionierende zirrhotische Leber, Blutarmut, ein möglicher Milzschaden, Delirium tremens, ausgelöst durch schlechte Ernährung und Schlaflosigkeit.

»Was kann man für einen Menschen in dieser Verfassung tun?«

»Sie können ihn nicht entlassen; noch eine einzige Sauftour, und er ist tot.« Er schüttelte den Kopf. »Seine einzige Chance ist konzentrierte Psychotherapie. Die staatlichen Krankenhäuser haben gute Leute, aber sie sind überfüllt. Es ist zweifelhaft, ob er sie dort bekommt.«

»Wir hätten das Kind nicht machen sollen«, sagte sie.

»Es hat nichts damit zu tun.«

»Wenn wir nicht geheiratet hätten ...«

»Es hätte nichts ausgemacht. Er kommt noch eineinhalb Jahre lang nicht für die staatliche Gesundheitsfürsorge in Betracht, und eine Privatklinik kostet über vierzig Dollar pro Tag. Ich werde als Dozent nicht annähernd soviel verdienen.« Er lehnte sich zurück und sah sie an. »Das Bettchen sieht hübsch aus«, sagte er müde.

»Ich habe es erst einmal gestrichen. Malst du es fertig?«

»Gern.«

»Und wir kaufen ein paar lustige Abziehbilder.«

Er stand auf, nahm ein Hemd und einen frischen weißen Anzug aus der Kommode, ging in das Badezimmer duschen und zog sich um. Er hörte, wie sie eine Nummer wählte und dann das Auf und Ab ihrer Stimme, während er das Wasser einließ.

Als er, die Krawatte bindend, ins Wohnzimmer zurückkam, wartete sie auf ihn.

»Gibt es ein gutes privates Krankenhaus hier irgendwo in der Nähe?« fragte sie.

»Es hat keinen Zweck, darüber zu reden.«

»Doch«, sagte sie. »Ich habe soeben den Grund in Truro verkauft.«

Er vergaß die Krawatte. »Mach es sofort rückgängig.«

»Es war der Realitätenmakler in Provincetown«, sagte sie ruhig. »Er hat mir meiner Meinung nach einen sehr anständigen Preis geboten. Vierundzwanzigtausend. Er sagte, er werde nur dreitausend Dollar dabei verdienen, und ich glaube ihm.«

»Sag ihm, daß du mit deinem Mann gesprochen und beschlossen hast, nicht zu verkaufen.«

»Nein«, sagte sie.

»Ich weiß genau, was dir der Platz dort bedeutet. Du brauchst ihn für deine Kinder.«

»Sollen sie sich doch ihre eigenen Liebesnester suchen«, sagte sie.

»Gaby, ich kann das nicht annehmen.«

Jetzt erst verstand sie. »Ich halte dich nicht aus, Adam. Ich bin deine Frau. Du hast zwar gelernt, mir zu geben, von mir zu nehmen aber ist schwerer, nicht wahr?«

Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich herunter. Er legte sein Gesicht zwischen ihre Brüste; der alte Radcliffe-Pullover roch nach Terpentin und Schweiß und dem Körper, den er so gut kannte. Als er hinunterschaute, sah er auf ihrem bloßen Fuß einen Fleck eingetrockneter weißer Farbe; er streckte die Hand aus und schälte ihn ab. Mein

Gott, ich liebe sie, dachte er staunend. Ihre Haut verblaßte. Sie hatte die Bestrahlungen eingestellt, als sie schwanger wurde, und je weiter der Sommer fortschritt, um so bleicher wurde sie, im umgekehrten Verhältnis zu der Sonnenbräune anderer Leute.

Er berührte den warmen runden Bauch. »Sind diese Blue jeans nicht zu eng?«

»Noch nicht. Aber ich werde sie nicht mehr sehr lange tragen können«, sagte sie eine Spur geziert.

Bitte, dachte er. Laß mich noch lange geben und lange nehmen.

»Es wird nicht derselbe sein, aber eines Tages werde ich dir dort unten einen anderen Platz kaufen.«

»Versprich nichts«, sagte sie, seinen Kopf streichelnd, zum erstenmal versucht, ihn zu bemuttern. »Mein Adam. Erwachsen werden tut verteufelt weh, nicht?«

Er kam verspätet ins Krankenhaus, aber es war ein ruhiger Abend, und er verbrachte die erste Stunde in seinem Büro. Er hatte wochenlang auf diese Schicht hingearbeitet und fast alle klinischen Berichte beendet. Jetzt notierte er die letzten Krankengeschichten, und plötzlich kam ihm zu Bewußtsein, daß in diesen Akten zwölf Monate seines Lebens auf dem Papier standen.

Hinter der Tür warteten vier Kartons von Campbells Soup, die er sich vor drei Tagen im Supermarkt in der Charles Street ausgebettelt hatte; er packte die Bücher und Zeitschriften von den Borden hinein und stand dann mit Grauen vor der Aufgabe, seinen Schreibtisch auszuräumen, jede vollgestopfte Lade, Ergebnisse seines Hamstertriebes. Die Entscheidung, was behalten und was wegwerfen, war schwierig, aber er blieb hart, und der Papierkorb schwoll an. Als letzter Gegenstand aus der letzten Lade tauchte ein kleiner glattpolierter weißer Stein auf, das Geschenk eines Patienten, als er das Rauchen aufgab. Es war ein sogenannter Stress-Stein; wenn man ihn rieb, sollte er die Spannung lösen, die die nagende Nikotinsucht verursachte. Adam war überzeugt, daß er wertlos war, aber Gewicht und Beschaffenheit des Steins gefielen ihm und er nahm ihn als Symbol dafür, daß Dinge Jahrhunderte überlebten. Jetzt allerdings verkehrte sich der Sinn des Symbols: der Stein erinnerte ihn an das Rauchen, und ein hartnäckiger Drang nach einer Zigarette plagte ihn.

Etwas frische Luft würde ihm guttun, entschied er.

Unten im Krankenwagenhof polierte Brady, ein großer magerer Mann, der jetzt Meyersons Stelle einnahm, seinen Krankenwagen liebevoll mit einem Rehleder. »'Abend, Doc«, sagte er.

»'Abend.«

Die Dunkelheit brach herein. Während er dastand, flak-kerten und blitzten die Lichter draußen auf, und fast gleichzeitig kamen große Nachtfalter aus der Finsternis und tanzten um die Glühbirnen. Aus der näheren Umgebung hörte man den Lärm von Knallfröschen, wie Schnellfeuergeknatter aus entfernten Frontabschnitten, und er dachte schuldbewußt und staunend an Meomartino, der einem Ort entgegenreiste, der Bensoi oder Nha Hoa oder Da Nang hieß.

»Bis zum vierten Juli sind es noch vier Tage«, sagte der Fahrer. »Man wüßte es nicht, wären nicht diese dummen Kerle. Noch dazu sind Feuerwerke verboten.«

Adam nickte. Die Patientenzahl der Unfallstation würde wegen des Feiertags gegen Ende der Woche ansteigen.

»He«, sagte Spurgeon Robinson, aus dem Haus zum Krankenwagen eilend.

»Was gibt's Neues, Spur?«

»Ich weiß nur, daß ich soeben meine letzten Fahrten in diesem verdammten Ding absolviere«, sagte Spurgeon.

»Morgen früh bist du ein ausgewachsener Facharztanwärter«, sagte Adam.

»Nun ja. Dazu muß ich dir noch etwas erzählen. Mir ist auf dem Weg zur Facharztanwartschaft etwas Komisches passiert Ich bin aus dem chirurgischen Dienst ausgetreten.«

Es gab Adam einen Stich; er hatte fest an Spurgeons chirurgische Begabung geglaubt. »In welches Fach gehst du?«

»Geburtshilfe. Ich habe gestern Gerstein darum gebeten, und glücklicherweise hat er einen Platz für mich. Kender hat mir seinen Segen gegeben.«

»Warum? Bist du überzeugt, daß du das wirklich willst?«

»Ich weiß, daß ich ohne das nicht leben kann. Ich muß Dinge wissen, die mich die Chirurgie nicht lehren kann.«

»Zum Beispiel?« sagte Adam, bereit, mit ihm zu streiten.

»Zum Beispiel alles, was ich über Empfängnisverhütung lernen kann. Und über den Embryo.«

»Wozu?«

»Mensch, es ist der Fötus, in dem der ganze verdammte Mist verewigt wird. Wenn schwangere Mütter unterernährt sind, entwickeln sich die fötalen Gehirne nicht genügend, um später, nachdem die Babies geboren sind, entsprechend lernen zu können. Und dann steigt die Zahl der Holzfäller und Wasserträger. Wenn ich schon in diese Sache einsteige, dann lieber gleich bis zur Quelle vordringen.«

Adam nickte und mußte sich zugestehen, daß es etwas für sich hatte.

»Hör mal, Dorothy hat eine Wohnung für uns gefunden«, sagte Spurgeon.

»Hübsch?«

»Nicht schlecht. Billig und in der Nähe der Klinik in Roxbury. Wir machen am 3. August ein großes Einstandsfest. Merk dir den Termin vor.«

»Wir kommen, falls nicht etwas in diesem wundervollen Haus passiert, das mich fernhält. Du weißt ja, wie das ist.«

»Ja«, sagte Spurgeon.

Im Krankenwagen brummte der Lautsprecher.

»Das ist für uns, Dr. Robinson,« sagte Brady.

Spurgeon stieg in den Wagen. »Weißt du, was mir soeben eingefallen ist?« sagte er, durch das Fenster herausgrinsend. »Vielleicht kann ich bei der Entbindung deines Babys schon assistieren.«

»Wenn ja, dann pfeife Bach«, sagte Adam. »Gaby liebt Bach.«

Spurgeon sah verletzt aus. »Bach pfeift man doch nicht.«

»Wenn du Gerstein bittest, läßt er dich dort vielleicht ein Klavier aufstellen«, sagte Adam, als der Krankenwagen anfuhr. Er entführte das Gelächter des Spitalsarztes.

Adam lächelte ihnen nach, zu müde und zu zufrieden, um sich zu rühren. Er wußte, daß er die Zusammenarbeit mit Spurgeon Robinson vermissen würde. Wenn in einem großen Lehrkrankenhaus die Dinge brenzlig wurden, konnten die Leute der verschiedenen Stationen genauso gut auf verschiedenen Kontinenten sein. Sie würden einander gelegentlich sehen, aber es würde nicht mehr dasselbe sein; sie waren am Ende eines guten Zwischenspiels angelangt.

Für jeden von ihnen war es aber auch der Beginn von etwas Neuem, und er war überzeugt, daß es etwas Gutes sein würde.

Morgen würden die neuen Spitalsärzte und Facharztanwärter über das Krankenhaus hereinbrechen. Die alte Regierung dankte ab, aber die Herrschaft Kenders begann soeben, und es würde genauso befriedigend sein, unter Kender zu arbeiten, wie unter Longwood, genauso schwierig und herausfordernd, wann immer die Exituskonferenz zusammentrat. Morgen würden alle Leute des Stabs da sein, und diesmal gehörte er zu ihnen. Er würde die Hausärzte in der Abteilung und im Operationssaal bis September Chirurgie lehren, bis seine ersten Studenten in der Medizinischen Schule eintrafen.

Er stand in dem leeren Hof, rieb den Stress-Stein und dachte an die entscheidende erste Unterrichtsstunde und an alle folgenden Vorlesungen, ein Band, das ihn künftig mit Männern wie Lobsenz und Kender und Longwood verknüpfen würde. Er erinnerte sich leicht verlegen, daß er Gaby ungeheuere Leistungen seitens der Medizin versprochen hatte, Lösungen für Probleme wie aplastische Anämie und ordinären Schnupfen. Und dennoch war es nicht unwahrscheinlich, daß er durch die namen- und gesichtslosen jungen Ärzte, deren Leben er beeinflussen würde, vor eindrucksvollen Errungenschaften stehen konnte. Ich habe Gaby nicht angelogen, dachte er, als er sich umdrehte und in das Gebäude zurückging.

Oben in dem ausgeräumten Büro setzte er sich auf den Stuhl, legte den Kopf auf den Schreibtisch und döste einige Minuten lang.

Wenig später fuhr er, wachgerissen, zusammen. Die Knallfrösche platzten wieder, diesmal in einer längeren unterlaubten Explosionsfolge, und im letzten Knall hörte er durch das offene Fenster das erste unheilverkündende Jammern einer weit entfernten Sirene, einen einfahrenden Krankenwagen, aber das alles war es nicht, was ihn geweckt hatte.

In dem Täschchen an seinem Rockaufschlag piepste das Rufgerät, und als er zurückrief, erfuhr er, daß eine von Miriam Parkhursts Patientinnen Schmerzen hatte und nicht bewilligte Opiate verlangte. »Rufen Sie Dr. Moylan, er soll sie sich anschauen«, sagte er, weil er wußte, daß der Spitalsarzt Dienst hatte und auf Abruf bereitstand, er aber zögerte, das Büro zu verlassen. Er legte den Hörer auf und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Seine Bücher waren in den Pappkartons, die Karteikasten mit den Krankengeschichten versperrt und die zerkratzten Metallborde leer. Das Büro sah genauso aus, wie er es angetroffen hatte, einschließlich des alten Kaffeeflecks an der Wand.

Wieder summte das Rufgerät, und diesmal wurde er bei einer chirurgischen Konsultation in der Unfallstation gebraucht.

»Ich komme sofort hinunter«, sagte er.

Langsam sah er sich zum letztenmal um.

Auf dem Fußboden lag ein Papierknäuel, er hob es auf und legte es vorsichtig auf den vollen Papierkorb, dann öffnete er die leere mittlere Schreibtischlade und ließ den Stress-Stein hineinfallen, ein Geschenk für Harry Lee, der morgen als Oberarzt hier einziehen würde.

Das Rufgerät gab wieder ein Signal von sich, während er dastand und sich, jetzt hellwach, streckte. Es war ein Geräusch, das er immer mit diesem Raum in Verbindung bringen würde, dachte er, lauter als Sirenen, lauter als Knallfrösche, sogar laut genug, falls Gott wollte, das schwache, spöttische Geklingel der Harlekinsglöckchen zu übertönen.

Unwillkürlich machten seine Finger das Zeichen der Hörner, und er grinste, als er die Tür hinter sich schloß. Scutta mal occhio, pf, pf, pf, dachte er und benützte die

Hilfe seiner Großmutter, um den Feind zu bannen, während er auf das langsame, knarrende Ungeheuer wartete, das ihn zur Unfallstation tragen sollte.

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