Angefangen hat alles an einem Abend im Herbst 2004. Auf Einladung des Verlegers Hubert Burda war ich nach München gereist, um an einem, wie es hieß, »ungezwungenen Austausch mit Intellektuellen« teilzunehmen. Nie zuvor hatte ich mich als »Intellektueller« wahrgenommen (ich habe BWL studiert und bin Unternehmer geworden – also das Gegenteil eines Intellektuellen), doch ich hatte zwei Romane veröffentlicht, und das genügte offenbar.
Am Tisch saß Nassim Nicholas Taleb, damals ein obskurer Wall-Street-Trader mit Hang zur Philosophie. Ich wurde ihm vorgestellt als Kenner der englischen und schottischen Aufklärung – speziell David Hume. Man hatte mich ganz offensichtlich verwechselt. Ich sagte nichts, lächelte etwas unsicher in die Runde und ließ die so entstandene Pause als Beleg meiner enormen Philosophiekenntnisse wirken. Sofort zog Taleb einen freien Stuhl zu sich hin und hieß mich, die Sitzfläche tätschelnd, darauf Platz zu nehmen. Zum Glück schwenkte das Gespräch nach wenigen Sätzen von Hume zur Wall Street, wo ich wenigstens mithalten konnte. Wir amüsierten uns über die systematischen Fehler, die CEOs machten, ohne uns selbst auszunehmen. Wir redeten über die Tatsache, dass unwahrscheinliche Ereignisse rückblickend betrachtet viel wahrscheinlicher erscheinen. Wir lachten darüber, dass Anleger sich bei Kursen unter dem Einstandspreis kaum von ihren Aktien trennen können.
In der Folge schickte er mir Manuskriptseiten, die ich kommentierte, teilweise kritisierte, und die sich zum Weltbestseller Der Schwarze Schwan fügten. Das Buch katapultierte Taleb in die Liga der intellektuellen Weltstars. Mit wachsendem intellektuellem Hunger verschlang ich die »Heuristics-and-Biases«-Literatur. Parallel dazu verstärkte sich der Austausch mit einer Vielzahl von Leuten, die man als amerikanische Ostküsten-Intelligenzija bezeichnen könnte. Jahre später realisierte ich, dass ich neben meinem Job als Schriftsteller und Unternehmer ein veritables Studium der sozialen und kognitiven Psychologie absolviert hatte.
Denkfehler, so wie ich den Begriff hier verwende, sind systematische Abweichungen zur Rationalität, zum optimalen, logischen, vernünftigen Denken und Verhalten. Das Wort »systematisch« ist wichtig, weil wir oft in dieselbe Richtung irren. Zum Beispiel kommt es viel häufiger vor, dass wir unser Wissen überschätzen, als dass wir es unterschätzen. Oder die Gefahr, etwas zu verlieren: Sie bringt uns viel schneller auf Trab als die Aussicht, etwas zu gewinnen. Ein Mathematiker würde von einer »skewed« (asymmetrischen) Verteilung unserer Denkfehler sprechen. Ein Glück: Die Asymmetrie macht die Fehler manchmal vorhersehbar.
Um das Vermögen, das ich im Lauf meiner schriftstellerischen und geschäftlichen Tätigkeit angehäuft hatte, nicht leichtfertig zu verspielen, begann ich, eine Liste der systematischen Denkfehler samt Notizen und persönlichen Anekdoten anzulegen. Ohne Absicht, diese jemals zu veröffentlichen. Ich tat dies ganz für mich allein. Bald merkte ich, dass mir diese Liste nicht nur im Bereich der Geldanlage von Nutzen war, sondern auch im Geschäfts- und Privatleben. Das Wissen um die Denkfehler machte mich ruhiger und besonnener: Ich erkannte meine eigenen Denkfallen frühzeitig und konnte sie abwenden, bevor sie großen Schaden angerichtet hatten. Und ich verstand zum ersten Mal, wenn andere unvernünftig handelten, und konnte ihnen gewappnet begegnen – vielleicht sogar mit einem Vorteil. Aber vor allem war damit das Gespenst der Irrationalität gebannt – ich hatte Kategorien, Begriffe und Erklärungen zur Hand, um es zu verscheuchen. Blitz und Donner sind seit Benjamin Franklin nicht seltener, schwächer oder leiser geworden, aber weniger angsteinflößend – und so geht es mir seither mit der eigenen Unvernunft.
Bald begannen sich Freunde, denen ich davon erzählte, für mein kleines Kompendium zu interessieren. Dieses Interesse führte zu einer wöchentlichen Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in der Schweizer SonntagsZeitung, zu unzähligen Vorträgen (vorwiegend vor Ärzten, Investoren, Aufsichtsräten und CEOs) und schließlich zu diesem Buch. Voilà. Sie halten es nun in der Hand – nicht Ihr Glück, so doch zumindest eine Versicherung gegen allzu großes selbst verschuldetes Unglück.
Rolf Dobelli, 2011