»In der Gemeinschaft ist es leicht, nach fremden Vorstellungen zu leben. In der Einsamkeit ist es leicht, nach eigenen Vorstellungen zu leben. Aber bemerkenswert ist nur der, der sich in der Gemeinschaft die Unabhängigkeit bewahrt.« (Ralph Waldo Emerson)
Es gibt eine heiße und eine kalte Theorie der Irrationalität. Die heiße Theorie ist uralt. Bei Platon findet sich dieses Bild: Der Reiter lenkt die wild galoppierenden Pferde. Der Reiter steht für die Vernunft, die galoppierenden Pferde für die Emotionen. Die Vernunft zähmt die Gefühle. Wenn das nicht gelingt, bricht die Unvernunft durch. Ein anderes Bild: Gefühle sind die brodelnde Lavamasse. Meistens kann die Vernunft sie unter dem Deckel halten. Doch ab und zu bricht die Lava der Irrationalität durch. Darum: heiße Irrationalität. Mit der Vernunft ist eigentlich alles in Ordnung, sie ist fehlerfrei, nur dass die Emotionen oft stärker sind.
Über Jahrhunderte brodelte diese heiße Theorie der Irrationalität. Bei Calvin sind die Gefühle das Böse, und nur die Konzentration auf Gott kann sie zurückdrängen. Menschen, aus denen die Lavamasse der Emotionen bricht, sind des Teufels. Sie wurden entsprechend gefoltert und umgebracht. Bei Freud werden die Gefühle (das Es) von Ich und Über-Ich kontrolliert. Doch das gelingt selten. Bei allem Zwang, bei aller Disziplin: Zu glauben, wir könnten unsere Emotionen restlos durch Denken kontrollieren, ist illusorisch – so illusorisch wie der Versuch, das Wachstum unserer Haare gedanklich zu steuern.
Die kalte Theorie der Irrationalität hingegen ist noch jung. Viele haben sich nach dem Krieg gefragt, wie die Irrationalität der Nazis zu erklären sei. Gefühlsausbrüche kamen in den Führungsrängen von Hitlers Regime kaum vor. Selbst seine eigenen, feurigen Reden waren nichts als schauspielerische Meisterleistungen. Keine Lavaausbrüche weit und breit, sondern eiskalte Entscheidungen führten in den nationalsozialistischen Irrsinn, und Ähnliches ließe sich von Stalin oder von den Roten Khmer sagen. Unfehlbare Rationalität? Offenbar doch nicht; etwas muss daran faul sein. In den 1960er-Jahren haben Psychologen begonnen, mit den unsinnigen Behauptungen von Freud aufzuräumen und unser Denken, Entscheiden und Handeln wissenschaftlich zu untersuchen. Das Ergebnis: eine kalte Theorie der Irrationalität, die besagt: Das Denken per se ist nicht rein, sondern fehleranfällig. Und zwar bei allen Menschen. Selbst Hochintelligente tappen immer wieder in dieselben Denkfallen. Und: Die Fehler sind nicht zufällig verteilt. Je nach Denkfehler laufen wir systematisch in eine ganz bestimmte Richtung falsch. Das macht unsere Fehler prognostizierbar, und damit zu einem gewissen Grad korrigierbar. Zu einem gewissen Grad – nicht vollständig.
Einige Jahrzehnte lang blieben die Ursprünge dieser Denkfehler im Dunkeln. Alles andere an unserem Körper funktioniert weitgehend fehlerfrei – das Herz, die Muskeln, die Atmung, das Immunsystem. Warum soll sich ausgerechnet das Hirn einen Lapsus nach dem andern leisten?
Denken ist ein biologisches Phänomen. Es ist genauso von der Evolution geformt wie die Körperformen von Tieren oder die Farben von Blüten. Angenommen, wir könnten 50.000 Jahre zurückgehen, einen beliebigen Vorfahren packen, ihn in unsere Gegenwart entführen, zum Friseur schicken und anschließend in Hugo-Boss-Klamotten stecken – er würde auf der Straße nicht auffallen. Natürlich, Deutsch müsste er lernen, Autofahren, den Mikrowellenherd bedienen, aber das mussten wir ja auch. Die Biologie hat jeden Zweifel ausgeräumt: Körperlich, und das schließt das Hirn mit ein, sind wir Jäger und Sammler in Hugo-Boss-Kleidern (oder H&M, je nachdem).
Was sich allerdings markant geändert hat seit damals, ist die Umgebung, in der wir leben. In Urzeiten war sie einfach und stabil. Wir lebten in Kleingruppen von ca. 50 Menschen. Es gab keinen nennenswerten technischen oder sozialen Fortschritt. Erst in den letzten 10.000 Jahren begann sich die Welt massiv zu verändern – Ackerbau, Viehzucht, Städte und der Welthandel kamen auf, und seit der Industrialisierung erinnert kaum mehr etwas an die Umwelt, für die unser Hirn optimiert ist. Wer heute eine Stunde durch ein Shoppingcenter schlendert, sieht mehr Menschen, als unsere Vorfahren während ihres ganzen Lebens gesehen haben. Wer heute zu wissen meint, wie die Welt in zehn Jahren aussehen wird, den lachen wir aus. In den letzten 10.000 Jahren haben wir eine Welt geschaffen, die wir nicht mehr verstehen. Wir haben alles raffinierter, aber auch komplexer und voneinander abhängiger gemacht. Das Ergebnis: erstaunlicher materieller Wohlstand, aber leider auch Zivilisationskrankheiten und, eben, Denkfehler. Nimmt die Komplexität weiterhin zu – und das wird sie, so viel lässt sich sagen –, werden diese Denkfehler häufiger und schwerwiegender.
Beispiel: In einer Jäger-und-Sammler-Umgebung zahlte sich Aktivität stärker aus als Nachdenken. Blitzschnelles Reagieren war überlebenswichtig, lange Grübeleien nachteilig. Wenn die Jäger-und-Sammler-Kumpels plötzlich davonrannten, machte es Sinn, ihnen nachzurennen – ohne nachzudenken, ob die wohl tatsächlich einen Säbelzahntiger gesehen hatten oder nur eine Wildsau. Ein Fehler erster Ordnung (es war ein gefährliches Tier und man rannte nicht davon) wurde mit dem Tod bezahlt, während der Fehler zweiter Ordnung (kein gefährliches Tier, aber man rannte davon) bloß ein paar Kalorien kostete. Es zahlte sich aus, in eine ganz bestimmte Richtung zu irren. Wer anders verdrahtet war, verschwand aus dem Genpool. Wir heutigen Homines sapientes sind die Nachfahren jener, die tendenziell den anderen nachrennen. Nur: Dieses intuitive Verhalten ist in der modernen Welt nachteilig. Die heutige Welt belohnt scharfes Nachdenken und unabhängiges Handeln. Wer einmal einem Börsenhype aufgesessen ist, weiß das.
Die evolutionäre Psychologie ist noch weitgehend eine Theorie, aber eine sehr überzeugende. Sie erklärt die meisten Denkfehler – wenn auch nicht alle. Nehmen wir folgende Aussage: »Jede Milka-Schokolade hat eine Kuh drauf. Also ist jede Schokolade, die eine Kuh drauf hat, eine Milka-Schokolade.« Dieser Fehler unterläuft selbst intelligenten Menschen ab und zu. Aber auch von der Zivilisation weitgehend unberührte Eingeborene fallen darauf rein. Und es gibt keinen Grund zu denken, dass ihn nicht schon unsere Jäger-und-Sammler-Vorfahren gemacht haben. Einige Fehler sind offenbar fest einprogrammiert und haben nichts mit der »Mutation« unserer Umwelt zu tun.
Wie erklärt sich das? Ganz einfach: Die Evolution »optimiert« uns nicht im absoluten Sinn. Solange wir besser sind als unsere Konkurrenten (zum Beispiel Neandertaler), verzeiht sie uns die Fehler. Seit Jahrmillionen legt der Kuckuck seine Eier ins Nest kleinerer Singvögel, und diese brüten sie aus, ja, ernähren die Kuckucksküken auch noch. Ein Verhaltensfehler, den die Evolution diesen Singvögeln (noch) nicht ausgetrieben hat – weil er offenbar nicht gravierend genug ist.
Eine zweite, parallele Erklärung, warum unsere Denkfehler so hartnäckig sind, kristallisierte sich Ende der 90er-Jahre heraus: Unsere Hirne sind auf Reproduktion ausgelegt und nicht auf Wahrheitsfindung. In anderen Worten: Wir brauchen unser Denken primär, um andere zu überzeugen. Wer andere überzeugt, sichert sich Macht und damit Zugang zu mehr Ressourcen. Dieser Ressourcenzugang wiederum ist ein entscheidender Vorteil bei der Paarung und Aufzucht der Nachkommen. Dass es uns beim Denken nicht primär um die Wahrheit geht, zeigt der Buchmarkt. Romane verkaufen sich viel besser als Sachbücher, trotz des unendlich höheren Wahrheitsgehalts der Letzteren.
Eine dritte Erklärung schließlich besagt: Intuitive Entscheidungen – auch wenn sie nicht ganz rational sind – sind unter bestimmten Umständen besser. Damit befasst sich die sogenannte Heuristikforschung. Für viele Entscheidungen fehlen die nötigen Informationen, also sind wir gezwungen, Denkabkürzungen und Daumenregeln (Heuristiken) anzuwenden. Wenn Sie sich zum Beispiel zu verschiedenen Frauen hingezogen fühlen (oder Männern): Wen sollen Sie heiraten? Das geht nicht rational; verlassen Sie sich nur aufs Denken, bleiben Sie ewig Junggeselle. Kurzum, oft entscheiden wir intuitiv und begründen unsere Wahl nachträglich. Viele Entscheidungen (Job, Lebenspartner, Investment) fallen unbewusst. Sekundenbruchteile später konstruieren wir eine Begründung, was uns den Eindruck gibt, bewusst entschieden zu haben. Unser Denken ist eher vergleichbar mit einem Anwalt als mit einem Wissenschaftler, dem es um die reine Wahrheit geht. Anwälte sind gut darin, die bestmögliche Begründung für einen bereits festgelegten Schluss zu konstruieren.
Also: Vergessen Sie die »linke und rechte Gehirnhälfte«, wie sie in jedem semi-intelligenten Managementbuch beschrieben werden. Viel wichtiger ist der Unterschied zwischen dem intuitiven und dem rationalen Denken. Beide haben ihr legitimes Einsatzgebiet. Das intuitive Denken ist schnell, spontan und energiesparend. Das rationale Denken ist langsam, anstrengend und verbraucht viele Kalorien (in Form von Blutzucker).
Natürlich kann das Rationale ins Intuitive übergehen. Wenn Sie ein Instrument üben, lernen Sie Note für Note und befehlen jedem einzelnen Finger, was zu tun ist. Mit der Zeit haben Sie die Klaviatur oder die Saiten intuitiv im Griff: Sie sehen eine Partitur vor sich und die Hände spielen wie von selbst. Warren Buffett liest eine Bilanz, wie ein professioneller Musiker eine Partitur liest. Das ist es, was man »Circle of Competence« nennt: intuitives Verständnis oder auch Meisterschaft. Leider springt das intuitive Denken auch dort in die Gänge, wo wir es nicht zur Meisterschaft gebracht haben – und dies, bevor die pingelige Vernunft korrektiv eingreifen kann. Und dann passieren Denkfehler.
Weil die kalte Theorie der Irrationalität so jung ist, gibt es für die wenigsten Denkfehler einen gängigen deutschen Begriff. Ich habe daher meist den englischen gewählt und den deutschen – falls eine Übersetzung existiert oder möglich ist – in Klammern dazugesetzt.
Drei Bemerkungen zum Schluss: Erstens, die Liste der im vorliegenden Buch aufgeführten Denkfehler ist nicht vollständig.
Zweitens, es geht hier nicht um pathologische Störungen. Trotz dieser Denkfehler können wir den Alltag problemlos bestreiten. Ein CEO, der wegen eines Denkfehlers eine Milliarde in den Sand setzt, läuft nicht Gefahr, in eine Klinik eingewiesen zu werden. Es gibt kein Gesundheitssystem, nicht einmal ein Medikament, das ihn von diesem Fehler befreien könnte.
Drittens, die meisten Denkfehler hängen zusammen. Das sollte nicht überraschen, denn alles im Hirn ist vernetzt. Neuronale Projektionen führen von Hirnregion zu Hirnregion. Keine einzige Hirnregion steht für sich selbst.
Seit ich begonnen habe, Denkfehler zu sammeln und zu beschreiben, werde ich oft gefragt: »Herr Dobelli, wie schaffen Sie es, ohne Denkfehler zu leben?« Antwort: Ich schaffe es nicht. Genau genommen versuche ich es gar nicht. Denkfehler zu umgehen ist mit Aufwand verbunden. Ich habe mir die folgende Regel gesetzt: In Situationen, deren mögliche Konsequenzen groß sind (bei gewichtigen privaten oder geschäftlichen Entscheidungen), versuche ich, so vernünftig und rational wie möglich zu entscheiden. Ich zücke meine Liste der Denkfehler und gehe sie durch, eine um die andere, wie ein Pilot eine Checkliste benützt. Ich habe für mich einen handlichen Checklisten-Entscheidungsbaum entworfen, mit dem ich gewichtige Entscheidungen auf Herz und Nieren prüfen kann. In Situationen, deren Konsequenzen klein sind (bei Entscheidungen wie: BMW oder VW?) verzichte ich auf rationale Optimierung und lasse mich von meiner Intuition tragen. Klar zu denken ist aufwendig. Darum: Wenn der mögliche Schaden klein ist – zerbrechen Sie sich nicht den Kopf und lassen Sie die Fehler zu. Sie leben besser damit. Die Natur scheint sich nicht groß zu kümmern, ob unsere Entscheidungen perfekt sind oder nicht, solange wir uns einigermaßen sicher durchs Leben manövrieren – und solange wir aufpassen, wenn es um die Wurst geht.