Dies sind die Erinnerungen von Myrdin Emreis, dem Druiden des heiligen Hains von Gleva, den die Römer Meridius Ambrosinus nannten. Sie wurden niedergeschrieben, damit die Ereignisse, deren letzter Zeuge ich bin, bei den Nachgeborenen nicht in Vergessenheit geraten.
Ich habe bereits vor geraumer Zeit die Schwelle zum Greisenalter überschritten und kann mir nicht erklären, warum sich mein Leben über jene Grenzen hinaus erstreckt, welche die Natur dem Menschen normalerweise setzt. Vielleicht hat mich der Engel des Todes vergessen, oder vielleicht will er mir diese letzte Frist gewähren, damit ich für meine Sünden büße, die zahlreich und schwerwiegend gewesen sind. Vor allem die der Anmaßung, denn ich habe mir viel auf die Intelligenz eingebildet, die Gott mir geschenkt hat, und aus Eitelkeit habe ich zugelassen, daß sich unter den Menschen Legenden über meine hellseherischen Fähigkeiten, ja sogar über Kräfte verbreiten konnten, die nur dem Höchsten Schöpfer und der Fürsprache der Heiligen zugeschrieben werden können. O ja, ich habe mich auch verbotenen Künsten gewidmet, jenen, deren Anleitungen die alten heidnischen Priester dieses Landes auf die Rinden der Bäume schrieben, ohne allerdings zu glauben, damit irgend etwas Schlechtes zu tun. Tatsächlich kann es nicht schlecht sein, wenn man auf die Stimme unserer Alten Mutter, der Höchsten Natur, hört und dem Raunen des Windes im Laub, dem Gluckern der Quellen im Frühling und dem Rascheln der Blätter im Herbst lauscht, - wenn die Hügel und die Ebenen während der stillen Sonnenuntergänge, die den Winter ankündigen, in leuchtenden Farben erstrahlen.
Es schneit. Große weiße Flocken tanzen in der Luft, und ein weißer Mantel bedeckt die Hügel, die dieses stille Tal, diesen einsamen Turm umgeben. Ob so wohl das Land des Ewigen Friedens aussieht? Ist dies das Bild, das wir für immer mit den Augen der Seele schauen werden? Wenn dies zuträfe, wäre der Tod gütig und sanft der Weg zur letzten Ruhestätte.
Wieviel Zeit ist vergangen! Wieviel Zeit seit den stürmischen Tagen von Blut und Haß, seit den Zusammenstößen und den Todeszuckungen einer Welt, die ich zusammenbrechen sah, obwohl ich sie einst für unsterblich und ewig gehalten hatte. Und jetzt, da ich kurz vor der Vollendung meines letzten Schrittes stehe, fühle ich die Verpflichtung, die Geschichte dieser sterbenden Welt weiterzugeben und davon zu berichten, wie der letzte Sproß jenes verdorrten Baumes vom Schicksal in dieses ferne Land getragen wurde, um dort Wurzeln zu schlagen und ein neues Zeitalter zu begründen.
Ich weiß nicht, ob der Engel des Todes mir die Zeit lassen wird, und ich weiß nicht, ob dieses alte Herz es ertragen kann, so starke Gefühle erneut zu durchleben, die es schon damals, als es noch um einiges jünger war, beinahe zermalmt hätten. Aber ich werde mich nicht von der Größe des Unternehmens entmutigen lassen. Ich spüre, daß die Woge der Erinnerungen aufsteigt wie die Flut zwischen den Klippen von Carvetia; ich fühle, wie ferne, verschwunden geglaubte Anblicke wieder Konturen annehmen wie ein altes, von der Zeit ausgeblichenes Wandgemälde.
Ich hatte geglaubt, es würde genügen, zur Feder zu greifen und zu beginnen, dieses große Stück Tierhaut mit Zeichen zu bedecken, um die Geschichte Wiederaufleben und wie einen Fluß zwischen den Wiesen dahinströmen zu lassen, so, wie der Schnee im Frühjahr schmilzt - aber ich habe mich geirrt. Zu gewaltig ist die Wucht der herandrängenden Erinnerungen, zu stark der Knoten, der mir die Kehle zuschnürt, und kraftlos sinkt die Hand auf das noch unbeschriebene Blatt. Ich werde zuerst jene Bilder heraufbeschwören und den Farben, dem Leben und jenen Stimmen Kraft verleihen müssen, die die Jahre und die Entfernung geschwächt haben. Und ich muß auch das neu erschaffen, was ich persönlich nicht gesehen habe - so, wie der Dramaturg es macht, der in seinen Tragödien Szenen aufführt, die er selbst nie erlebt hat.
Der Schnee fällt herab auf Carvetias Hügel. Alles ist weiß und still, und langsam erlischt das letzte Licht des Tages.