XXVI
In diesem Augenblick tauchten hinter Livias Rücken Wulfila und seine Krieger auf. In weitem Halbkreis angeordnet, stürmten sie hangabwärts auf Aurelius und die Seinen zu.
Livia drehte sich um, erkannte sie und begriff. »Ich habe euch nicht verraten!« schrie sie. »Ihr müßt mir glauben! Schnell, kommt rauf und steigt auf die Pferde, schnell, schnell!«
»Es ist wahr!« schrie auch Ursinus. »Dieses Mädchen wollte euch helfen. Los, nichts wie zu uns herauf!«
Ohne noch recht zu begreifen, was da los war, und vor allem, was Livia hier oben zu suchen hatte, obendrein in Gesellschaft ihrer erbittertsten Feinde, kämpften Aurelius und die anderen sich das letzte Stück bis zu dem Felsabsatz unterhalb des Gipfels empor, von dem Wulfilas Söldner - gut fünfzig Männer - herabgestürmt kamen, wenn auch sicher nicht so schnell, wie sie gerne gewollt hätten, da ihre Pferde tief im Schnee versanken. »Unten im Tal sind noch mehr«, schrie Ursinus. »Ihr könnt nicht zur Straße runter!«
»Und dort sind auch Stephanus Soldaten!« rief Livia. »Er hat mich verfolgen lassen, ohne daß ich es gemerkt habe.«
Stephanus war angesichts der Undurchführbarkeit seines Plans inzwischen umgekehrt und wollte zu seinen Söldnern zurück, doch das ließ Livia nicht zu. Sie zog ihren Bogen aus dem Sattelhalfter, spannte einen Pfeil ein, zielte und traf ihn auf hundert Schritt Entfernung mitten in den Rücken. Dann begann sie, auf seine vom Wald heraufkommenden Männer zu schießen, die nun, da ihr Anführer tot war, Hals über Kopf das Weite suchten.
Ursinus deutete auf den Westhang des Berges. »Der einzig mögliche Fluchtweg ist dort«, schrie er. »Vorsicht, er führt an einem Abgrund entlang und ist vielleicht vereist, ihr müßt höllisch aufpassen! Hier lang, schnell, schnell!«
Livia preschte als erste los und führte die kleine Kolonne an, aber Wulfila, der sie von oben beobachtete, ahnte, was sie vorhatte und schickte einen Teil seiner Männer in dieselbe Richtung. »Denkt dran!« brüllte er ihnen nach. »Ich will den Kopf des Jungen und das Schwert, um jeden Preis! Der Soldat dort unten hat es, der mit dem roten Gürtel!«
Vatrenus hatte sich unterdessen Livia angeschlossen, und hinter ihm folgten Aurelius, Batiatus und die anderen. Im Augenblick hatten sie freien Weg, und alle spornten ihre Pferde an, um den gefährlichen Hang, der im Westen mit einer Klippe über dem Abgrund endete, so schnell wie möglich hinter sich zu bringen; auch Ambrosinus, der als letzter kam, drückte seinem Maulesel immer wieder die Absätze in die Flanken. Alle waren bemüht, sich möglichst geradlinig auf halber Höhe zu halten, nur Aurelius trieb Juba noch ein Stück höher hinauf und ritt etwas oberhalb der anderen, um die Lage besser überblicken zu können. Voller Sorge sah er auf den schutzlosen, kleinen Trupp hinunter, als Wulfila und seine Männer nur wenige Schritte von ihm entfernt auch schon über die Bergkuppe gestürmt kamen. Mit gezogenen Schwertern, in eine Wolke aus Pulverschnee gehüllt, ritten sie heulend auf ihn zu.
Wulfila griff sofort an, indem er Aurelius so schwer mit seinem Roß rammte, daß dieser zu Boden stürzte, dann warf er sich auf ihn, worauf sie beide - ein unentwirrbares Knäuel aus Armen und Beinen, die Glieder steif vor Haß und Kälte - den Berg hinunterzupurzeln begannen; in dem Gemenge glitt Aurelius irgendwann das Schwert aus der Scheide und begann vor ihnen den Abhang hinunterzurutschen, während sie selbst durch einen großen, über die Schneedecke hinausragenden Felsbrocken aufgehalten wurden. Die beiden Krieger hielten gegenseitig ihre Handgelenke umklammert und starrten sich keuchend an, als Wulfila plötzlich den erhellenden Geistesblitz hatte, auf den er so lange gewartet hatte: »Endlich erkenne ich dich wieder, Römer!« stieß er hervor. »Lange ist's her, aber du hast dich kaum verändert. Du bist der, der uns die Tore von Aquileia geöffnet hat!«
Aurelius' Gesicht verzog sich zu einer entsetzten Grimasse. »Nein!« brüllte er. »Nein. Neiin!« Und sein Schrei hallte wohl ein dutzendmal von den eisigen Gebirgswänden zurück. Im gleichen Augenblick reagierte er, stemmte mit geradezu übermenschlicher Kraft die Knie gegen die Brust seines Gegners und katapultierte ihn in hohem Bogen nach hinten. Dann rollte er auf die Seite, rappelte sich auf und erblickte wenige Schritte von sich entfernt Ambrosinus, der abgestürzt war und mit allen Mitteln versuchte, nicht an den Rand des Abgrunds zu rutschen. Ihre Blicke kreuzten sich nur einen Moment, aber der genügte Aurelius, um sich darüber klarzuwerden, daß der Alte Wulfilas Worte gehört und richtig gedeutet hatte. Doch jetzt war keine Zeit für quälende Gedanken. Aurelius riß sich zusammen und begann den Berg wieder hinaufzurennen, um seinen weiter oben kämpfenden Freunden zu Hilfe zu eilen. Alle waren in wilde Gefechte verwickelt, er hörte Batiatus brüllen, wenn er einen von den Feinden hoch über den Kopf stemmte und dann den Abhang hinunterschleuderte, und er hörte Vatrenus fluchen, der es, in jeder Hand ein Schwert und bis zu den Knien im Schnee stehend, jeweils mit zwei Gegnern auf einmal aufnahm.
Bereit, sich ebenfalls in den Kampf zu stürzen und womöglich gar den Tod zu suchen, wollte Aurelius sein Schwert zucken, doch zu seinem großen Ärger fand er nur die leere Scheide. Oben, auf dem Berggipfel, tauchte in diesem Augenblick ein weiterer Trupp von Reitern auf - die Goten, die aus dem Tal nachgekommen waren. Um den steilen Abhang besser bewältigen zu können, ritten sie im Zickzack über die Lichtung, lösten damit jedoch eine Lawine aus, die immer größer und schneller werdend den Berg hinunterrutschte und nach und nach alle erfaßte und mitriß: zuerst Vatrenus und Batiatus, die weiter oben kämpften, dann den Rest einschließlich Romulus.
Demetrios und Orosius hatten bis zu diesem Augenblick versucht, ihn mit ihren Schilden vor den feindlichen Pfeilen und Speeren zu schützen, die zu Hunderten auf ihn niederregneten, aber die Lawine erfaßte auch sie und begrub sie unter sich. Selbst die Pferde, die mit ihrer Körpermasse einiges mehr an Widerstand boten, wurden überrollt und mitgerissen.
Wulfila rutschte unterdessen weiter den Hang hinunter. Lange Zeit versuchte er völlig vergeblich, sich dagegen zu wehren, sich mit den Fingern im Schnee festzukrallen, bis ihm die Haut in Fetzen von den Knochen hing, doch im allerletzten Moment - seine Beine baumelten bereits über dem Abgrund - bekam er doch noch eine Felszacke zu greifen. Der endgültige Absturz war freilich nur eine Frage der Zeit, seine Hände wurden in der Kälte immer steifer, bald würden sie seinem Willen, dem Tode zu entkommen und sich über den Rand des Abgrunds emporzuhieven, nicht mehr gehorchen. Er spürte den fatalen Augenblick, in dem er loslassen und ins Nichts fallen würde, bereits ganz nahe, als er, nur wenige Schritte entfernt, auch das sagenhafte Schwert auf den Abgrund zurutschen sah - viel langsamer als zu Beginn, aber doch unaufhörlich. Schon ragte es zu mehr als der Hälfte über die Felsklippe hinaus, drohte jeden Augenblick vornüber zu kippen und ... blieb dann, wie von einer unsichtbaren Hand gebremst, im Schnee liegen. Das Gegengewicht des massiv goldenen Griffs bewahrte es im letzten Moment vor dem Absturz.
Wulfila, der die Szene mit ungeheurer Spannung verfolgt hatte, fühlte schlagartig seine Lebensgeister wiederkehren. Er nahm seine ganze Kraft zusammen, bäumte sich mit einem tierischen Schrei auf und schaffte es tatsächlich, beide Ellbogen auf die vereiste Felsklippe zu ziehen, danach zuerst das rechte, dann das linke Knie. Jetzt stand er gar auf und ... war gerettet!
Schritt um Schritt näherte er sich behutsam dem Schwert, wohl wissend, daß die geringste Erschütterung, ja schon ein leichter Windstoß, es zum Kippen bringen konnte. Als er es fast erreicht hatte, legte er sich platt auf den Boden, spreizte die Beine, bohrte für einen besseren Halt die Stiefelspitzen in den Schnee und streckte die Hand aus, bis er den Griff der Waffe berühren und schließlich fest umklammern konnte. Dann richtete er sich auf und reckte das herrliche Schwert triumphierend in den grauen Himmel. Sein Siegesschrei durchdrang die Wolken, prallte gegen die eisverkrusteten Berggipfel und hallte noch lange in den waldigen Tälern nach. Wenig später war er den Hang bereits wieder hochgestapft und zu dem Soldatentrupp gestoßen, der die Lawine ausgelöst hatte; einer der Männer trat ihm sofort sein Pferd ab. Das Wetter verschlechterte sich zusehends, und das Tageslicht wurde immer schwächer.
»Es ist fast dunkel«, sagte Wulfila zu seinen Männern. »Wir kehren morgen zurück. Die Pferde haben sie auf alle Fälle verloren, und selbst wenn einer von ihnen überlebt haben sollte, kommt er nicht weit. Sicherheitshalber riegeln wir morgen früh trotzdem sämtliche talwärts führenden Wege nördlich und südlich der Paßstraße ab - es darf uns keiner entwischen. Bei Tageslicht suchen wir dann die Leichen. Ich will den Kopf des Jungen - wer ihn mir als erster bringt, soll reich belohnt werden. So, und jetzt mir nach«, sagte er, worauf der Trupp geschlossen zur Poststation an der Paßstraße abstieg.
Es begann zu schneien, zunächst nur schwach - kleine, eisige Flocken, die den Soldaten in Gesicht und Hände stachen - , später immer stärker. Bald waren die Krieger im dichten Schneegestöber nur noch schemenhaft zu erkennen, nahmen Sich aus wie Gespenster, die über die blutbefleckte und mit Leichen übersäte Schneedecke des Berghangs ritten. Wulfila erkannte unter den Toten Stephanus; offensichtlich hatte er noch versucht, den Pfeil, der ihm in den Rücken gedrungen war, wieder herauszuziehen - ohne Erfolg. Du hast dein verdientes Ende gefunden, dachte Wulfila und ritt mit gesenktem Kopf, fest in seinen Umhang gehüllt, weiter.
Wenig später betraten sie die mansio, in deren Kamm ein großes Feuer aus Tannenholz prasselte. Die Männer ließen sich auf Bänken nieder, während der Wirt einen Hammel am Spieß briet und Bierkrüge und Brotkörbe auf die Tische stellte. Wulfila war trotz seiner schmerzenden Wunden euphorisch. An seiner Seite baumelte die herrlichste Waffe, die man sich vorstellen konnte, und sein Opfer lag steif wie ein Stockfisch unter einer dicken Schicht Schnee. Morgen würde er ihm den Kopf wie einen Eiszapfen abbrechen.
»Ihr da«, sagte er zu den Soldaten, die ihm gegenübersaßen. »Ich will, daß ihr mit dem ersten Tageslicht ins Flußtal runterklettert und die Brücke absperrt - sie ist der einzige Weg nach Raetien. Und ihr«, er wandte sich an die Männer zu seiner Rechten, »ihr geht die Paßstraße zurück, bis ihr auf einen Weg stoßt, der ebenfalls zu der Brücke führt, aber von Westen kommend - ich gebe euch einen Führer mit, ihr könnt ihn nicht verfehlen. Jetzt zu euch«, sagte er schließlich zu den Männern links von ihm. »Ihr kommt mit mir wieder auf den Berg rauf, die Leichen suchen. Und denkt dran: Hier liegt ein Beutel Silber bereit für den ersten, der den Kadaver des Jungen findet und ihm den Kopf abhaut. So, und jetzt laßt uns fressen und saufen und lustig sein, Männer, denn das Schicksal war uns wohl gesonnen!« Mit diesen Worten hob er den randvollen Becher und genoß den dröhnenden Beifall seiner Soldaten, die im Siegesrausch wahre Unmengen von Bier hinunterstürzten und bald jeden Schluck mit einem lauten Rülpser begleiteten.
Unter großer Anstrengung gelang es Juba, wieder auf die Beine zu kommen; er schüttelte sich den Schnee ab, stieß eine Dampfwolke aus den mit Reif belegten Nüstern, schnaubte und wieherte dann laut nach seinem Herrn, aber der Ort war völlig verlassen, Dunkelheit und Abendstille senkten sich über das weite, von der Lawine überrollte Feld. Juba machte sich daran, es langsam abzusuchen, wobei er immer wieder schnaubte und wieherte, bis er plötzlich stehenblieb und sacht mit den Hufen im Schnee zu scharren begann. Irgendwann kam tatsächlich Aurelius Rücken zum Vorschein, dann auch sein Hals; Juba schlug aufgeregt mit dem Schweif und blies aus den Nüstern behutsam warme Luft auf den Nacken seines halb ohnmächtigen Herrn. Die angenehme Wärme flößte dem völlig unterkühlten Aurelius neue Lebenskraft ein. Irgendwie schaffte er es, Hände und Ellbogen aufzustützen, dann die Knie ranzuziehen und sich schließlich mühsam vor Juba aufzurichten, der seine Anstrengungen mit leisem, beifälligem Wiehern begleitete. Als er stand, schlang er die Arme um den Hals des Pferdes und sagte: »Brav, Juba, brav, du bist ein braver Kerl, ich weiß. Und jetzt müssen wir noch die anderen aus dem Schnee ziehen, los, hilf mir.« In diesem Moment tauchte, wenige Meter entfernt, Ambrosinus Maulesel wie aus dem Nichts vor ihnen auf; er hatte sogar noch die Schilde an seinem Sattel befestigt. Aurelius band einen von ihnen los und begann damit im Schnee zu graben. Wenig später stieß er auf Vatrenus Brust, wie ein schmerzlicher Aufschrei verriet.
»Bist du noch ganz?« fragte Aurelius.
»Ich glaube ja«, brummte Vatrenus, »aber hör' auf, mir mit diesem Ding auf dem Leib herumzuhacken.«
Auf der anderen, zur Straße hin gelegenen Hangseite ertönte plötzlich ein Winseln; kurz darauf kam Ursinus mit seinem Hund herangeschnauft. Er stellte sich den beiden Soldaten vor und sagte: »Livia hat mir von euch erzählt - ich bin der, der sie beherbergt hat. Wenn ihr wollt, kann ich euch helfen. Mein Hund ist darauf abgerichtet, Leute unter Lawinen aufzuspüren. Wir haben nicht viel Zeit, wenn die Nacht hereinbricht, ist es aus.«
»Ja, wir wären dir für deine Hilfe sehr dankbar«, erwiderte Aurelius.
Der Mann nickte und schickte seinen Hund los. »Auf, Argos, such«, sagte er, »such unsere Freunde, komm schon ... Er heißt Argos«, fügte er an Aurelius gewandt hinzu, der mit seinem Schild bereits weitergrub. »Argos - wie der Hund des Odysseus - , schöner Name, nicht?«
»Und ob«, erwiderte Vatrenus, »ein sehr schöner Name. Hoffen wir, daß er auch eine gute Nase hat.«
Aber der Hund hatte bereits etwas gewittert und scharrte mit den Pfoten aufgeregt im Schnee.
»Grabt dort, schnell!« befahl Ursinus. Aurelius und Vatrenus gehorchten und zogen wenig später Ambrosinus aus dem Schnee; er war ganz blau angelaufen und halb erfroren.
»Hilfe! Helft uns, schnell!« schrie es da plötzlich von rechts. Aurelius tastete sich vorsichtig, aber so schnell es ging, quer über den Hang. Beim Anblick der Felsklippe wenige Schritte entfernt, bot sich ihm ein Bild, bei dem sein Herz stockte: Orosius baumelte, verzweifelt an einen über die Klippe hinausragenden Fichtenstamm geklammert, über dem Abgrund; Demetrios umklammerte sein Messer, das im Eis steckte, und Livia rutschte auf seinem Rücken langsam nach unten, bis Orosius statt des Baumstamms ihre Beine packen und sich daran festhalten konnte. Nun begann Livia, sich wieder hochzuziehen, indem sie eine Art Klimmzug an Demetrios Gürtel vollführte. Demetrios Finger spannten sich unterdessen krampfhaft um den Griff des Messers, doch Aurelius begriff, daß die Klinge jeden Augenblick brechen konnte. Ohne lange zu zögern, stieß er auch sein Messer so tief es ging ins Eis, hielt sich mit einer Hand daran fest und streckte die andere nach Demetrios aus, der sein eigenes Messer auf diese Weise etwas entlasten, sich ein weiteres Stück hochziehen und das Messer dann neu verankern konnte, indem er es an einer anderen Stelle ins Eis bohrte. Mit vereinten Kräften schafften sie es schließlich, Livia und Orosius immer weiter von der Klippe wegzuziehen und sich in Sicherheit zu bringen.
»Was ist mit Batiatus?« fragte Aurelius, der noch immer vor Anstrengung keuchte.
»Als ich ihn das letzte Mal sah, rollte er mit zwei von Wulfilas Männern den Abhang runter, vielleicht waren es auch drei, so genau konnte ich das nicht unterscheiden«, erwiderte Demetrios. »Er kommt schon zurück, du wirst sehen.«
»Wenn sie ihn nicht umgebracht haben«, meinte Aurelius.
»Wenn sie ihn nicht umgebracht haben«, wiederholte Demetrios. »Aber ich bezweifle, daß sie das geschafft haben.«
In diesem Moment ertönte ganz in der Nähe eine Art Grunzen, und vor Livia baute sich plötzlich einer der feindlichen Barbaren auf, doch es kostete sie nicht viel, mit ihm fertigzuwerden: ein Tritt ins Gesicht, und schon rollte er den Abhang hinunter auf die Felsklippe zu.
»Wo ist Romulus?« fragte sie gleich darauf, da sie den Jungen nirgends sah, doch im selben Moment meldete Ambrosinus sich mit erschrockener Stimme. »Schnell, hierher!« schrie er. »Um Gottes willen, kommt, kommt schnell!« Er hatte noch nicht ausgesprochen, als auf dem Osthang plötzlich Batiatus erschien und herbeirannte, so schnell er konnte. »Was ist los?« fragte er noch völlig außer Atem.
»Ich glaube, sie haben den Jungen gefunden«, sagte Aurelius, doch seine Stimme klang alles andere als froh.
Sie rannten zu der Stelle, wo sie Ursinus Hund winseln hörten, und sahen Vatrenus, der den leblosen Körper des Jungen vom Boden aufhob. Das vom eisigen Wind gepeitschte Gesicht des Veteranen war eine steinerne Maske. Livia berührte die blauen, eiskalten Arme des Jungen und brach in Tränen aus. »Oh, mein Gott, nein! Nein!«
Aurelius trat hinzu und sah Vatrenus mit fragenden Augen an.
»Er ist tot«, antwortete der Gefährte. »Seine Herzschläge sind nicht mehr zu fühlen, weder am Handgelenk, noch am Hals.« Alle sahen sich zutiefst betroffen an. Batiatus weinte und wischte sich die Tränen mit der Hand ab, die noch das Schwert hielt. Nur Ambrosinus schien inmitten der allgemeinen Verzweiflung die Fassung zu bewahren. »Wir müssen einen Unterstand finden, schnell«, sagte er, das Kommando des elenden, kleinen Häufchens übernehmend, und er mußte schreien, um das Pfeifen des Sturmes zu übertönen. »Wir dürfen keinen Augenblick länger auf diesem Hang bleiben. Wenn die Nacht uns hier überrascht, sind wir verloren.«
»Dann folgt mir«, sagte Ursinus. »Ich weiß einen Ort, nicht weit von hier. Aber ihr müßt dicht zusammenbleiben, im Schneesturm verliert man sich leicht.« Mit diesen Worten begann er den Berg auf halber Höhe zu umrunden, bis sie auf der Nordseite zu einer Felsplatte kamen, die aus der Bergwand herausragte und von einer Palisade aus Tannenstämmen gestützt wurde, so daß ein nach drei Seiten geschützter Unterschlupf entstand. Ursinus betrat ihn als erster, die anderen folgten ihm. Auf der Erde lag eine dicke Schicht trockener Blätter und Fichtenzweige, die Palisade war von innen mit gegerbten Ziegenfellen verkleidet. »Hier bringe ich meine Ziegen zum Gebären her«, erklärte Ursinus. »Mehr kann ich euch leider nicht bieten.«
Vatrenus legte den Körper des Jungen auf den Boden, und Livia kamen neuerlich die Tränen. Den Kopf an die Wand gelehnt, weinte sie still vor sich hin. Ambrosinus schien nichts um sich herum wahrzunehmen; unvergessene Bilder zogen an seinem inneren Auge vorüber: ein Wald im Apennin, ein Zelt, ein sterbendes Kind in seinem Bettchen, eine weinende Frau, vom Schmerz gebrochen und doch voll königlicher Würde ... Nein, er würde nicht aufgeben, niemals. Er streichelte den Jungen lange, dann begann er, ihn behutsam zu entkleiden.
»Was tust du da?« fragte Aurelius.
Ambrosinus legte eine Hand auf die nackte Brust des Jungen und schloß die Augen. »Ein schwacher Lebensfunke ist noch in ihm«, sagte er. »Wir müssen ihn nähren.«
Aurelius schüttelte ungläubig den Kopf. »Er ist tot, siehst du das nicht? Er ist tot.«
»Er kann nicht tot sein«, erwiderte Ambrosinus ruhig-»Prophezeiungen lügen nicht.«
Es war inzwischen völlig dunkel geworden, und die einzige Antwort auf seine Worte war das scharfe Pfeifen des Windes, der gegen den Berg anbrauste. Als der Junge bis zur Gürtellinie entkleidet war, bettete Ambrosinus ihn wieder auf die Blätter am Boden, von denen sein weißer Körper in der Finsternis abstach, als strahle ein geheimnisvolles Licht von ihm aus. Ambrosinus hob den Kopf und sah Batiatus an: »Du gibst am meisten Wärme ab«, sagte er, »in dir steckt die Glut Afrikas. Entblöße deinen Oberkörper und umarme den Jungen, drück ihn fest an dich und sorge dafür, daß dein Herz gegen seines schlägt. Ich versuche unterdessen, ein Feuer zu entfachen.«
Batiatus tat, wie ihm geheißen, legte sich neben den leblosen Jungen und preßte sich an ihn. Livia warf zusätzlich eine Decke über sie. Aurelius und Vatrenus standen dabei und schüttelten nur traurig die Köpfe.
Ambrosinus kratzte im Dunkeln trockene Flechten von den Wänden, bis er so viel beisammen hatte, daß er ein kleines Häufchen damit bilden konnte. Darüber streute er etwas trockenes Laub, dann kramte er die Feuersteine aus seinem Quersack und begann sie aneinanderzureihen. Jede einzelne seiner Bewegungen verriet langjährige Erfahrung. Große Funken sprühten auf den kleinen Scheiterhaufen, bis endlich ein winziger roter Punkt mehr zu erahnen als zu erkennen war. Ambrosinus kniete sich augenblicklich nieder und begann, sachte zu blasen. Die Umstehenden beobachteten ihn verblüfft, sie konnten sich sein seltsames Tun nicht erklären. Aber der winzige rote Punkt begann sich allmählich auszubreiten, und der Alte blies unentwegt weiter, als gelte es, das fast erloschene Leben des Jungen durch seinen Atem wieder anzufachen.
Und dann flackerte in der Finsternis plötzlich ein Flämmchen auf, es war zunächst kaum wahrzunehmen, wurde aber sehr rasch größer, genährt von den Flechten, die nach und nach Feuer fingen. Ambrosinus hörte auch jetzt nicht auf zu blasen, legte das ein oder andere Stück trockene Moos dazu, einzelne Blätter, ein dürres Ästchen, bis aus dem Flämmchen schließlich Feuer wurde und Licht, das Zoll um Zoll die Finsternis der elenden Unterkunft besiegte, Licht, das die dichtgedrängten Körper der Umstehenden beleuchtete, die ekstatisch geweitete Pupillen Ambrosinus und das breite Gesicht des äthiopischen Riesen, dem dicke Tränen über die Wangen kullerten - es waren Freudentränen.
»Er atmet«, sagte er.
Ambrosinus sah sich mit den verstörten Augen eines Menschen um, der mitten in der Nacht aus einem entsetzlichen Alptraum erwacht ist.
Alle umringten Romulus, jeder wollte ihn zuerst umarmen, an sich drücken, aber Ambrosinus mahnte sie zur Vorsicht: »Gemach, gemach, ihr müßt behutsam mit dem Jungen umgehen, er ist noch sehr schwach und muß erst wieder zu Atmen kommen und Kräfte sammeln.« Ursinus ging hinaus, um noch mehr dürre Äste von den Bäumen abzureißen und auf das Feuer zu legen, dann verhängte er zum Schutz vor Wind und Kälte auch den Eingang mit Fellen. Tatsächlich begann sich in dem engen Unterstand nach und nach etwas Wärme auszubreiten; Romulus setzte sich auf und streckte die steifen Hände nach dem Feuer aus.
Ambrosinus deutete auf Batiatus und sagte: »Er hat dich ins Leben zurückgeholt.« Romulus erhob sich und umarmte den Äthiopier, und auch Batiatus umarmte ihn, wenngleich sehr behutsam, um ihn nicht zu erdrücken. »Ich gehe raus und lege Juba eine Decke auf«, sagte Aurelius. »Er ist das einzige Pferd, das uns geblieben ist - der Maulesel dürfte uns nicht viel nützen. Heute nacht wird es sehr kalt werden.«
Ambrosinus, der sehr wohl die Traurigkeit wahrnahm, die inmitten all der Freude aus Aurelius Augen sprach, wartete eine Weile und warf sich dann ebenfalls den Mantel über die Schulter. »Ich gehe auch nach meinem Tier sehen«, sagte er und trat hinaus.
Aurelius stand neben seinem Pferd und schien ins Tal, zum Fluß hinunterzublicken. Ambrosinus Stimme riß ihn aus den Gedanken. »Zwei Wahrheiten, zwei unterschiedliche, komplett widersprüchliche Aussagen zu deiner Vergangenheit - die Livias und die Wulfilas ... welcher soll man glauben?«
Aurelius drehte sich nicht um, wickelte sich nur noch fester in seinen Mantel, als wäre die Kälte ihm bis tief in die Seele gedrungen. »Warum sagst du es mir nicht, wo du doch beide kennst?«
»Du verlangst zuviel von einem armen, alten Lehrer. Ich weiß, Aurelius, es ist nicht leicht, sich plötzlich mit Dingen auseinandersetzen zu müssen, die überraschend ans Licht gekommen sind, zumal wenn sie, wie in diesem Fall, das Gewissen schwer belasten ...«
Aurelius schwieg.
»Es ist nicht leicht«, fuhr Ambrosinus fort, »aber immer noch besser, als wenn sie ewig im verborgenen bleiben und uns langsam von innen auffressen, ohne daß wir das geringste dagegen tun können. Abgesehen davon besteht jederzeit die Gefahr, daß sie uns unerwartet überfallen. Du weißt jetzt wenigstens, woran du bist.«
»Ich weiß überhaupt nichts.«
»Das ist unmöglich. Du mußt dich an etwas erinnern.«
Aurelius seufzte. Er hatte ein großes Bedürfnis zu sprechen, sich jemandem anzuvertrauen, in der Hoffnung, endlich die schwere Last loszuwerden, die sein Herz bedrückte. »Nur einzelne Erinnerungsfetzen«, sagte er, »ein ständig wiederkehrender Alptraum ...«
»Was ist das für ein Alptraum?« hakte Ambrosinus nach.
Aurelius Stimme begann zu zittern. »Es ist Nacht. Zwei alte Leute hängen mit gefesselten Händen an einem Balken. Ihre Körper sind mit schrecklichen Folterspuren übersät, dann ...«
»Sprich weiter. Bitte.«
»Dann kommt ein riesiger Barbar mit gezücktem Schwert und durchbohrt sie einen nach dem anderen.« Aurelius stieß einen langen Seufzer aus, als hätten diese Worte ihn unsägliche Mühe gekostet.
»Wer sind diese alten Leute?« fragte Ambrosinus. »Vielleicht liegt hier die Lösung zum Rätsel deiner Identität.«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Aurelius und vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich weiß es nicht.«
Ambrosinus fühlte, wie elend ihm zumute war. »Hör auf, dich zu quälen«, sagte er und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wer auch immer du früher warst - das hat heute keine Bedeutung. Das einzige, was jetzt zählt, ist die Gegenwart, und die ehrt dich. Und Romulus kann dir vielleicht eine Zukunft geben. Du hast selbst gesehen, daß es nahezu unmöglich ist, seine Lebenskraft zum Erlöschen zu bringen.«
»Aber ich habe sein Schwert verloren«, sagte Aurelius.
»Mach dir nichts draus; wir werden es wiederfinden, da bin ich mir sicher. Und du wirst auch deine Vergangenheit wiederfinden, aber vorher mußt du die Hölle durchqueren, wie es selbst dieser unschuldige Junge tun mußte.«
XXVII
Eine Stunde vor Sonnenaufgang, noch in der Dunkelheit, beendete Demetrios die letzte Runde seiner Wache und weckte seine Kameraden. Sie waren steif vor Kälte, da nur ein kleines Feuer in ihrem Unterschlupf brannte. Auch die beiden Tiere, die die Nacht im Freien verbracht hatten, kamen herbeigelaufen, um der beißenden Kälte zu entkommen. Noch froh darüber, daß sie der Gefahr entronnen waren und auch Romulus gerettet war, standen die Gefährten einer Wirklichkeit gegenüber, die als hart, ja als verzweifelt bezeichnet werden mußte. Außer einem Pferd und einem Maulesel war ihnen nichts geblieben. Aurelius' Schwert befand sich in Wulfilas Händen, der gewiß darauf brannte, dessen verheerende Kraft auszuprobieren. Wie sollten sie nur ihre Flucht fortsetzen, wie vor allem Wulfila und seinen Männern entkommen? Es war klar, daß die Feinde über den Paß auf den Hügel zurückkehrten, um nach Leichen oder möglichen Fluchtspuren zu suchen, die der Schneefall dieser Nacht nicht vollständig ausgelöscht hatte.
Nach kurzer Unterredung waren sich alle darüber einig, daß sie den Ort so schnell wie möglich verlassen mußten, um das untere Tal zu erreichen und die Grenze zu passieren. Ursinus riet ihnen, schleunigst den Fluß zu überqueren, bevor der Feind ihre Anwesenheit bemerkte. Zutiefst ergriffen verabschiedete er sich von jedem von ihnen. »Der Fluß liegt genau vor euch, ebenso die Bootsbrücke. Ihr könnt sie nicht verfehlen. Wäre ich nicht so alt, würde ich mit euch kommen, denn für meinen Kaiser zu kämpfen, wäre die größte Ehre für mich. Aber wie die Dinge nun einmal liegen, bin ich für euch nur eine Last; außerdem muß ich zurück, um nach meinem Weib zu sehen, das gewiß vor Angst halb tot ist.« Er trat zu Romulus und küßte ihm ehrerbietig die Hand. »Möge Gott dich beschützen, Cäsar, wohin du auch gehst, und möge er durch dich den Namen Roms auch für die künftigen Jahrhunderte bewahren.« Dann machte er sich mit seinem Hund zurück auf den Weg, um sein Haus noch vor Tagesanbruch zu erreichen. Bewegt und voller Sorge schauten sie ihm nach, denn sie wußten, daß seine Frau und er wegen der ihnen geleisteten Hilfe hart bestraft werden konnten.
»Nun aber los«, sagte Ambrosinus. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Langsam stiegen sie ins Tal hinab. Aurelius, der als letzter ging, führte Juba am Zügel, während Vatrenus die Kolonne anführte und darauf achtete, allzu steile und unwegsame Pfade zu umgehen. Plötzlich hob er den Arm. »Haltet ein!«
Aurelius eilte an seine Seite. »Was gibt es?«
»Sieh selbst«, antwortete Vatrenus.
Weiter unten am Hang erstreckte sich eine etwa zwei- bis dreihundert Fuß breite Ebene, die im nördlichen Teil ein Wildbach durchquerte, der die Dunkelheit des Tales mit seinem Glanz erfüllte. Seine Ufer wurden verbunden durch eine Bootsbrücke aus Kähnen, die von ein paar an den Ufern festgemachten Tauen zusammengehalten wurden. Jenseits des Flusses, in einer Entfernung von einigen Hundert Fuß, zeichnete sich im Kontrast zu der schneebedeckten weißen Fläche die dunkle Masse eines dichten Tannenwaldes ab.
»Ja, das ist die Brücke. Wenn es uns gelingt, sie zu überqueren, sind wir in Sicherheit. Dann suchen wir Zuflucht im Wald, dort lassen sich unsere Spuren am einfachsten verwischen. So hoffe ich zumindest.«
»Davon rede ich nicht«, erwiderte Vatrenus. »Schau, dort weiter hinten, zu deiner Linken. Siehst du?«
Aurelius fluchte: »Verdammte Hundesöhne! Was sollen wir bloß tun?« Im flirrenden Widerschein des Schnees bewegte sich an der Stelle, auf die Vatrenus hinwies, eine Kolonne bewaffneter Soldaten auf die Brücke zu.
»Von dort drüben kommen noch mehr«, sagte Demetrios und deutete auf eine andere Gruppe, die von rechts herannahte. »Wir sitzen in der Falle.«
»Nein, eine Hoffnung gibt es noch«, meldete sich Livia zu Wort. »Du, Aurelius, hast noch dein Pferd. Nimm Romulus mit dir, dann reite, sobald der Abhang nicht mehr so steil ist, so schnell wie du kannst, auf die Brücke zu. In dem hohen Schnee kommen die Barbaren nur langsam voran. Wir werden uns ein Versteck suchen und dann heute nacht zu Fuß zu euch stoßen.«
»Ich glaube nicht, daß das geht«, gab Ambrosinus zu bedenken. »Die haben bestimmt den Befehl, die Brücke zu bewachen, so daß wir nicht mehr zusammenkommen.« Doch dann warf er einen Blick auf seinen Maulesel und die am Packsattel festgebundenen Schilde, und sein Gesicht leuchtete auf. »Hört mich an, ich habe eine Idee. Vor sechs Jahrhunderten entkam eine Gruppe zimbrischer Krieger den sie einkreisenden Soldaten des Konsuls Lutatius Catull, indem sie auf ihren Schilden den Berg hinabrutschten.«
»Auf ihren Schilden?« fragte Vatrenus ungläubig.
»Ja, sie hielten sich an dem Haltegriff im Inneren des Schildes fest. So ist es auch in der Biographie des Plutarch nachzulesen. Doch müssen wir uns sofort auf den Weg machen.«
Dieser Vorschlag wirkte dermaßen absurd, daß sie sich einen Augenblick lang höchst unsicher fühlten. Dann aber band einer nach dem anderen seinen Schild los und ließ ihn zu Boden gleiten.
»Jetzt«, fuhr Ambrosinus fort, »müßt ihr euch nur noch hineinsetzen und euch am Haltegriff festhalten - so. Wenn ihr euer Körpergewicht nach rechts oder links verschiebt und mit den Haltegriffen entsprechend manövriert, könnt ihr euer Gefährt in jede gewünschte Richtung lenken. Verstanden?«
Alle nickten, auch der verblüffte Batiatus, der zu Tode erschrocken auf den steilen Abhang zwischen ihnen und der Brücke hinabblickte. Inzwischen hatte Aurelius Romulus vor sich auf dem Pferd aufsitzen lassen und lenkte das Tier behutsam im Zickzack den Abhang hinunter. An einer weniger steilen Stelle trieb er es mit dem Druck seiner Fersen an und ritt zunächst im schnellen Schritt, dann im Galopp über die schneebedeckte Ebene. Schon bald bemerkten die auf beiden Seiten versammelten Barbaren, was da vor sich ging. Sie gaben ihren Reittieren die Sporen, aber da der tiefe Schnee, der sich an beiden Seiten des Hügels auftürmte, ihr Tempo beeinträchtigte, konnte Aurelius seinen Vorsprung halten.
»Weiter, Juba!« rief er und trieb sein Roß an. Inzwischen hielt Romulus nach beiden Seiten Ausschau, um das Vorrücken der Feinde zu beobachten und gleichzeitig abzuschätzen, ob sich Ambrosinus wahnwitziger Plan auch tatsächlich durchführen ließ. Was er zu sehen bekam, verblüffte ihn. »Sieh nur, Aurelius!« rief er aufgeregt. »Sie kommen!« Und unmittelbar darauf schossen rechts und links blitzartig die Schilde an ihnen vorbei, gesteuert von Demetrios und Vatrenus, Orosius, Livia und Ambrosinus, dessen lange weiße Haare im Wind flatterten. Als letzter sauste Batiatus herab, der kaum imstande war, das Gleichgewicht auf dem schwankenden Gefährt zu halten.
Aurelius setzte seinen Ritt fort. Er galoppierte über die Brücke, bevor er sich kurz vor dem Waldrand nach seinen Gefährten umdrehte, die gerade die ersten Unebenheiten in der Ebene erreichten und, ähnlich einer menschlichen Lawine, mit einem heftigen Sturz ihre Fahrt beendeten. Was danach geschah, war eine Frage rascher, gut aufeinander abgestimmter Aktionen. Als erster erhob sich Vatrenus.
Als er die Barbaren erkannte, die sich ihnen von beiden Seiten her näherten, begriff er mit einem raschen Blick auf die Brücke, daß ihnen nur noch eine einzige Möglichkeit blieb, und so rief er aus Leibeskräften: »Alle auf die Brücke! Wir nehmen den Weg über den Fluß!« So schnell wie sie konnten, standen die Freunde auf und rannten hinter ihm her auf die Brücke. »Batiatus«, befahl Vatrenus, »du und Demetrios kappt die Seile auf der gegenüberliegenden Seite, Orosius und ich nehmen uns diese hier vor! Auf mein Signal, jetzt!«
Gerade näherte sich Aurelius der Brücke, als ihre Streitäxte und Schwerter die Taue durchtrennten. In Windeseile stob die aus Kähnen zusammengefügte Brücke auseinander und trieb mit der Strömung fort, während die Barbaren, vor Wut schnaubend und mit Spott überschüttet, zurückblieben. Da erschien Wulfila, der wütend hinter Aurelius herschrie: »Ich werde dich finden, du Feigling. Ich werde dich finden, ganz gleichgültig, wo du dich versteckst. Und selbst, wenn ich dich bis ans Ende der Welt verfolgen müßte.«
Aurelius erbebte. Zum ersten Mal in seinem Leben mußte er eine derart arrogante Herausforderung unerwidert lassen. Er blieb die Antwort schuldig und gab seinem Pferd die Sporen, um so bald wie möglich außer Sichtweite zu gelangen.
Nach etwa einer Meile, in der er den Fluß nicht einen Augenblick lang aus den Augen verlor, entdeckte Romulus den Zug aus Kähnen, der rasch in der Strömung vorbeiglitt. Es schien ihm, daß niemand fehlte. Die Gefährten hielten sich an den Seilen fest, die einen Teil der Reling bildeten, und klammerten sich eng aneinander, um nicht in den Strudeln der reißenden Strömung zu versinken. Dann verschwand das sonderbare Gefährt hinter einigen Büschen, die ihm die Sicht versperrten. Gerade konnte er noch rufen: »Da sind sie ja!«, als sie auch schon wieder verschwunden waren. Aurelius ließ sein Pferd in Trab fallen.
»So werden wir sie nie und nimmer einholen!« klagte der Junge.
»Kein Pferd kann es mit der Geschwindigkeit eines Gebirgsflusses aufnehmen. Das Gefälle ist stark, so daß das Wasser unglaublich schnell zu Tal fließt. Außerdem muß Juba uns beide tragen, das ermüdet ihn. Wir dürfen nicht mehr von ihm verlangen, als er geben kann. Aber mach dir keine Sorge. Wir werden weiterhin der Strömung folgen, denn sicher stranden unsere Freunde entweder auf einer Sandbank, oder sie landen in einem Hafen, sobald der Fluß seinen Weg in die Ebene gefunden hat und langsamer wird. Dort werden sie auf uns warten, bis wir sie wieder eingeholt haben.«
»Warum haben sie das getan?« fragte Romulus. »Wäre es nicht besser gewesen, sie hätten erst die Brücke überquert und dann die Seile auf unserer Seite durchgeschnitten?«
»Das wäre sicher besser gewesen. Doch hat Vatrenus eine sehr weise Entscheidung getroffen und wie ein echter Stratege gehandelt. Ganz der große Soldat, der er nun einmal ist. Einfach fabelhaft. Denk doch nur einmal, wenn er es so gemacht hätte, wie du vorschlugst, wären wir zwar alle zusammengeblieben, hätten aber zu Fuß weiter gemußt und wären nur sehr langsam vorangekommen. Die Barbaren hätten in aller Eile einen provisorischen Steg zusammengezimmert oder wären vielleicht weiter oben am Berg durch den Fluß gewatet. Auf jeden Fall hätten sie uns leicht innerhalb eines Tagesmarsches eingeholt. So dagegen ist es unseren Kameraden gelungen - vorausgesetzt, daß sie sich retten können - , einen sicheren Abstand zwischen sich und ihre Verfolger zu legen, während wir nur zu zweit sind und daher viel schneller und wendiger sind. Wir können uns verstecken oder einen anderen Weg einschlagen, vielleicht sogar ein zweites Pferd finden und damit unsere Geschwindigkeit erheblich steigern.«
Romulus dachte ein paar Augenblicke nach, bevor er erwiderte: »Ich glaube tatsächlich, du hast recht, dennoch frage ich mich, was Ambrosinus gerade denkt und wie er sich fühlt - jetzt, da wir getrennt sind.«
»Ambrosinus kommt bestens allein zurecht, und seine Ratschläge werden für unsere Kameraden von allergrößtem Wert sein.«
»Das ist wahr. Aber kannst du dir vorstellen, daß wir beide, er und ich, das erste Mal voneinander getrennt sind, seitdem ich ihm damals im Alter von fünf Jahren begegnet bin?«
»Willst du damit sagen, daß du seitdem immer mit ihm zusammen warst?«
»So ist es. Länger als mit meinem Vater, selbst länger als mit meiner Mutter. Länger überhaupt als mit irgendeinem anderen Menschen. Er ist die weiseste und gescheiteste Person, die ich kenne. Und er schafft es immer wieder, mich zu überraschen. Als uns Odoaker gefangennahm, habe ich ihn Dinge tun sehen, die ich mir vorher noch nicht einmal vorstellen konnte. Ich würde mich nicht wundern, wenn er noch mehr Geheimnisse und Fähigkeiten auf Lager hätte.« »Du mußt ihn sehr gerne haben«, sagte Aurelius. Der Junge lächelte, denn er erinnerte sich an einige Geschehnisse, die er zusammen mit seinem Erzieher erlebt hatte. »Manchmal ist er ziemlich launisch«, sagte er, »aber trotzdem ist er mir von allen Menschen auf der Welt der liebste.«
Aurelius fügte dem nichts weiter hinzu. Wieder gab er seinem Pferd die Sporen, um es noch weiter anzutreiben. Einerseits durften sie sich nicht allzuweit von den flachen Booten ihrer Gefährten entfernen, die rasch auf den Fluten dahintrieben, andererseits mußte er alles tun, um seinen Verfolgern zu entkommen. Doch ihre Reise verlief ohne Hindernisse und führte sie durch eine bezaubernd schöne Landschaft: Felsgipfel, die im Licht der untergehenden Sonne purpurn erglühten, und unglaublich klare Seen, die gleich leuchtenden Spiegeln das dunkle Grün der Wälder, das gleißende Weiß der schneebedeckten Flächen und das intensive Blau des Himmels widerspiegelten. Romulus war von soviel Schönheit tief beeindruckt und fühlte sich durch den ständigen Wechsel der Schauplätze und des Lichts wie geblendet. Aurelius gewährte Juba noch ein wenig Ruhe, indem er ihn wieder im Schritt gehen ließ.
»So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen«, sagte Romulus. »In welchem Land befinden wir uns?«
»In alter Zeit war dies das Land der Helvetier, ein Volk, das der Nation der Kelten angehörte und es wagte, den große Cäsar herauszufordern.«
»Diese Episode kenne ich«, antwortete Romulus. »Ich habe De Bel-lo Gallico mehrmals gelesen. Aber warum haben sie dieses bezaubernd schöne Land je verlassen?«
»Die Menschen sind nie mit dem zufrieden, was sie haben«, antwortete Aurelius. »Immer dazu verdammt, auf der Suche zu sein -nach neuen Ländern, neuen Horizonten und neuen Reichtümern. Wie jeder einzelne Mensch aus der Menge der anderen herausragen möchte und sich durch Reichtum, Tüchtigkeit oder Schlauheit auszeichnen will, so verhält es sich auch mit den Völkern und Nationen. Einerseits führt das zum ständigen Fortschritt in Wissenschaft und Forschung, da die menschlichen Talente und Aktivitäten in ihrer Entwicklung andauernd weitergetrieben werden, andererseits aber auch zu Konflikten und Zusammenstößen, die oft blutig enden. Ein Kraftakt, der ungeheuer ist und nicht selten auch ziemlich unsinnig. Für alles, was wir unter unglaublichen Mühen erreichen, müssen wir einen sehr hohen Preis bezahlen. Und oft liegen am Ende die Verluste höher als die errungenen Vorteile. Die Helvetier hatten die Berge, aber vielleicht sehnten sie sich nach der Ebene und den weiten fruchtbaren Feldern. Vielleicht aber war die Bevölkerung auch zu stark angewachsen, so daß ihnen die Täler zu eng wurden. Oder sie hofften, ihre Nation würde stärker, größer und mächtiger werden, wenn sie sich im Flachland ausdehnte. Statt dessen wurden sie vernichtet.«
»Und du, Aurelius«, fragte Romulus, »was wünschst du dir? Wonach steht dir das Herz?«
»Ich wünsche mir ... Frieden.«
»Frieden? Das nehme ich dir niemals ab, denn du bist ein Krieger. Der stärkste und mutigste, den ich je sah.«
»Ich bin kein Krieger, ich bin ein Soldat. Das ist etwas völlig anderes. Ich kämpfe nur aus Notwendigkeit, um das zu verteidigen, woran ich glaube. Aber keiner weiß besser als ein Kämpfer und mi-les, wie schrecklich der Krieg ist. Ich wünsche mir nichts mehr, als eines Tages an einem ruhigen verborgenen Ort zu leben, dort meine Felder zu bestellen und Vieh zu züchten. Dann könnte ich nachts endlich schlafen, ohne beim kleinsten Geräusch mit gezücktem Schwert in der Faust gleich aufspringen zu müssen. Und des Morgens weckte mich Hahnengeschrei und keine Trompetenstöße, die mich in die Schlacht rufen. Vor allem aber wünsche ich mir den Frieden der Seele, den ich noch niemals verspürt habe. Das mögen im Grunde bescheidene Wünsche sein, doch die zu verwirklichen war mir niemals vergönnt. Wir leben in einer verrückten Welt, in der nichts mehr sicher scheint. Für niemanden.«
Die Sonne versank hinter dem Horizont und warf noch einen letzten rosigen Schein auf die majestätischen Zinnen, die die riesige Gebirgskette krönten. Aurelius tat alles, um so nah wie möglich am Ufer des Flusses zu bleiben, der die einzige Möglichkeit bot, sie wieder mit den Gefährten zusammenzuführen. Doch war er sich gleichzeitig der Gefahr bewußt, von Wulfilas Männern entdeckt zu werden, die gewiß niemals aufhörten, ihn zu verfolgen.
»Wir werden uns nur so viel Zeit der Ruhe nehmen, wie wir unbedingt brauchen«, sagte er, »dann machen wir uns wieder auf den Weg.«
»Ich möchte wissen, wo sie in diesem Augenblick sind«, meinte Romulus.
»Sicherlich vor uns, mindestens eine ganze Tagesreise. Der Fluß ruht niemals, er fließt den ganzen Tag und die ganze Nacht. Sie fahren auf den Fluten dahin, während wir uns über schmale, unwegsame und steile Pfade quälen und Wälder und Wildbäche durchqueren müssen.«
Romulus nahm die Decken vom Sattel und richtete in einer Felsnische an einem hochgelegenen Platz das Nachtlager her, während Aurelius dem Pferd die Kandare abnahm und ihm das Halfter anlegte.
»Aurelius ...«
»Ja, Cäsar?«
Romulus schwieg einen Augenblick lang, da ihn der wiederholte Gebrauch dieses Titels durch Aurelius unangenehm berührte. Dann fragte er: »Könnte es sein, daß wir sie überhaupt nicht mehr wiederfinden?«
»Das ist eine Frage, auf die du die Antwort bereits weißt. Natürlich. Vielleicht gibt es in diesem Fluß einige Stromschnellen, Wasserfälle oder verborgene Felsen, an denen ihre Kähne zerschellen. Und wenn sie dann in das eiskalte Flußwasser fallen, können sie nur eine sehr kurze Weile durchhalten. Rings um sie gibt es nichts als Schnee und Eis. Im Winter sind die Berge das feindseligste Gebiet, das man sich vorstellen kann. Es mag hier auch Räuberbanden und versprengte Soldaten auf der Suche nach Beute geben. Tatsächlich gibt es in dieser Welt unzählige Gefahren.«
Still legte sich Romulus nieder und zog sich die Decke über die Schultern.
»Schlaf«, sagte Aurelius zu ihm. »Juba wird über uns wachen. Sollte sich uns jemand nähern, wird er uns rechtzeitig warnen, so daß wir uns davonstehlen können. Und ich schlafe sowieso immer nur mit einem geschlossenen Auge.«
»Und sie? Wie weit sind wohl sie von uns entfernt?«
»Unsere Verfolger? Das weiß ich nicht. Vielleicht ein paar Stunden, vielleicht aber auch einen halben Tag oder mehr. Doch glaube ich nicht, daß sie sich allzuweit von uns entfernt aufhalten. Außerdem haben wir so deutliche Spuren im Schnee hinterlassen, daß uns jedes Kind folgen könnte.«
Romulus schwieg eine Weile, dann fragte er noch einmal: »Was würde passieren, wenn sie uns einholten?«
Aurelius zögerte ein paar Augenblicke, bevor er antwortete. »Den Gefahren sieht man erst dann ins Auge, wenn sie da sind. Sie vorwegzunehmen, macht die Situation nur noch schlimmer, da die Angst steigt und die Bedrohung in unserer Vorstellungskraft ins Riesenhafte aufbläht. Stehen wir dagegen einer tatsächlichen Gefahr gegenüber, tut unser Verstand alles, um innerhalb kürzester Zeit seine sämtlichen Fähigkeiten zu mobilisieren. Dann wird unser Körper von einem mächtigen Energiestrom erfaßt, der den Herzschlag beschleunigt und die Muskeln sich ausdehnen und erhärten läßt - alles mit dem Ziel, den Feind niederzukämpfen, zu vernichten und zu töten ...«
Romulus sah ihn bewundernd an. »Du bist nicht nur ein Soldat, Aurelius. Du bist auch ein Krieger ...«
»Das kommt nur davon, daß ich jahrelang in ständiger Angst vor allen nur denkbaren Schrecken und Verheerungen lebte, vor Metzeleien und Unheil, Mißhandlungen und sonstigen Quälereien. In jedem von uns schlummert ein Tier, und der Krieg weckt es auf.«
»Darf ich dich noch ein letztes fragen?«
»Gewiß.«
»Woran denkst du, wenn du stundenlang schweigst und noch nicht einmal die Worte hörst, die ich zu dir sage?«
»Tue ich das wirklich?«
»Ja. Vielleicht langweile ich dich ja mit meinem Gerede oder störe dich gar.«
»Nein, Cäsar, durchaus nicht ... Ich versuche nur ... ich versuche ...«
»Was denn?«
»Mich zu erinnern.«
Nachdem die Bootsbrücke aus ihrer Verankerung gerissen worden war, trug sie die Strömung in rasender Geschwindigkeit davon. Zunächst behielt sie noch ihre Querausrichtung bei, so daß eine Katastrophe vorauszusehen war. In der Entfernung von ungefähr einer halben Meile tauchte mitten im Fluß ein Felsen auf, der die zerbrechliche Kette der flachen Boote mit Sicherheit auseinanderreißen würde. Als Ambrosinus die Gefahr erkannte, rief er mit lauter Stimme: »Los, alle auf den äußeren Kahn, und zwar sofort!« Und schon kroch er auf allen vieren auf das Boot und klammerte sich, um nicht ins Wasser zu fallen, so gut an ihm fest, wie er nur konnte. Seine Kameraden folgten ihm rasch. Doch je mehr sie das Gewicht auf den äußeren Kahn verlagerten, desto schneller wurde er, dabei schob er sich ständig weiter nach vorn und zog die übrigen Boote nach sich. Auf diese Weise stabilisiert, schoß der Konvoi an dem Felsen vorbei, ohne ihn zu berühren, und alle atmeten erleichtert auf.
»Wir brauchen Latten, damit wir rudern können«, sagte Ambrosinus. »Versucht ein paar Zweige aus der Strömung zu fischen.«
»Vielleicht sollten wir einen Teil der Kähne abkoppeln!« schlug Vatrenus vor.
»Nein, das würde die Geschwindigkeit nur noch weiter erhöhen und die Stabilität stark erschüttern. Der lange Schwanz der Boote hilft uns, den Kurs zu halten. Alles, was wir benötigen, sind ein paar Latten oder Stecken, die wir als Ruder benützen können.«
Aber es schwammen keine Latten oder Stecken in der Strömung umher, sondern nur ein paar Zweige, die nicht stabil genug waren, um sie als Ruder nutzen zu können. Da beugte sich Batiatus über die Reling. »Könnte das vielleicht helfen?« brüllte er gegen den lärmenden Strom. Ambrosinus nickte. Mühelos riß der Äthiopier die linke Seite der Reling ab, die aus einem langen, grobbehauenen Brett bestand, und setzte sich damit neben Ambrosinus, der als Steuermann dieses seltsamen Gefährts fungierte. Noch immer war die Geschwindigkeit sehr hoch, während nicht allzuweit entfernt bereits einige Stromschnellen sichtbar wurden. Das Wasser spritzte und schäumte nach rechts fast bis ans Ufer, und Ambrosinus schrie Batiatus zu, das Brett mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, auf der gegenüberliegenden linken Seite anzusetzen. Unerwartet geschickt befolgte Batiatus diese Anweisung, der Kahn drehte nach links ab und glitt haarscharf an den Stromschnellen vorbei. Das Heck dieser Richtungsänderung anzupassen schaffte er allerdings nicht mehr, so daß das letzte Boot heftig gegen die Steine stieß, die aus dem Wasser auftauchten, und zerschellte.
Die Männer drehten sich um und schauten zu, wie die einzelnen Teile, in die es zersprungen war, in der Gischt zwischen den Strudeln und Stromschnellen verschwanden, konzentrierten sich aber sogleich wieder darauf, das Gleichgewicht zu halten. Ständig drohten die Kähne unter den starken Stößen und heftigen Schwankungen zu kentern, so daß sie das Gefühl hatten, auf dem Rücken eines Wildpferdes zu sitzen und gegen die heftig rollenden Wellenbewegungen ankämpfen zu müssen, die der rauhe Untergrund und die unebenen Ufer des Flusses verursachten. Felsspitzen, die sich aus der Mitte des Stroms emporreckten, ließen plötzliche Strudel und Wirbel entstehen, während breitere Stellen im Flußbett die Strömung ebenso plötzlich verlangsamten, um sie aber bei dem nächsten Gefälle schon wieder zu beschleunigen. Kurz, den Insassen dieses sonderbaren Gefährts wurde permanent eine enorme Kraftanstrengung abverlangt, um wenigstens einigermaßen das Gleichgewicht zu halten. Auf einmal wurde die Strömung des reißenden Flusses zusehends langsamer, und auch die Unebenheiten im Boden erschienen weniger gefährlich. Dafür tauchten nun aus dem Wasser immer größere Kiesbänke auf, in denen man sich ebenso leicht und mit denselben verheerenden Auswirkungen hätte verfangen können. Da verlor plötzlich Orosius bei einer der vielen abrupten Kursänderungen das Gleichgewicht, rollte über die Bohlen und versank in den Fluten.
»Orosius ist ins Wasser gefallen!« schrie Demetrios voller Angst. »Schnell, wir müssen ihm helfen, sonst zieht ihn die Strömung in die Tiefe!« Mit einem Schwerthieb durchtrennte Vatrenus eines der Taue, das als Zugseil gedient hatte, und warf es dem Schiffbrüchigen zu. Immer wieder versuchte er es, aber Orosius schaffte es nicht, es zu ergreifen.
»Wenn wir ihn nicht bald erwischen, wird ihn die Kälte umbringen«, rief Ambrosinus. Da band sich Livia wortlos das Tau um die Taille und gab Vatrenus das andere Ende in die Hand. »Halt es gut fest«, sagte sie, dann sprang sie ins Wasser und schwamm kraftvoll auf den mit der Strömung kämpfenden Orosius zu, der bereits zu schwach war, um auf ihren Rettungsversuch zu reagieren. Rasch holte sie ihn ein und packte ihn an seinem Gürtel. Dann rief sie: »Ich habe ihn! Zieht schon! Schnell!« Gemeinsam zogen Vatrenus und seine Kameraden an dem Tau, während Batiatus versuchte, den Bug so gerade auszurichten, daß zuerst Livia und dann auch der halb ohnmächtige Orosius an Bord gehievt werden konnten. Völlig durchnäßt von dem eiskalten Wasser, wickelten sie die Gefährten in ihre Umhänge, so daß sie die nassen Kleider ausziehen und sich, so gut es ging, abtrocknen konnten. Beide klapperten mit den Zähnen und waren vor Kälte und übergroßer Anstrengung leichenblaß. O-rosius konnte kaum noch ein »Danke« murmeln, dann verlor er das Bewußtsein. Vatrenus trat auf Livia zu und legte ihr seine Hand auf die Schulter. »Und dich wollte ich nicht bei uns haben. Dabei bist du stark und großmütig, Mädchen. Glücklich der Mann, mit dem du eines Tages dein Leben vereinigen wirst.« Livia antwortete mit einem erschöpften Lächeln und kauerte sich dann neben Ambrosinus auf den Boden nieder.
Gegen Abend wurde die Strömung langsamer, da der Fluß immer breiter wurde, je weiter er durch die hügelige Landschaft der Hochebene floß. Doch fanden sie keinen passenden Platz, um ihren Anker auswerfen zu können und auf Aurelius zu warten, der ihnen, wie sie vermuteten, in aller Eile folgte. Am nächsten Morgen fanden sie sich am Zusammenfluß mit einem anderen Wasserlauf wieder, der von der linken Seite her nahte, und tags darauf, gegen Abend, strömte der Fluß über mittlerweile ebenes Gebiet, so daß sie ihr Gefährt zum Ufer lenken und es dort mit Seilen an einem Pflock festbinden konnten. Das große Flußabenteuer hatte für einen Moment seinen Abschluß gefunden. Nun mußten sie nur noch geduldig warten, bis die Gruppe wieder vereint werden konnte und die kleine Armee ihren Heerführer und Kaiser wiederfand. Obwohl Ambrosinus in Sorge war, tat er doch alles, um seinen Gefährten ein Gefühl von Ruhe und Sicherheit zu vermitteln. Auch der Frieden, der an ihrem Zufluchtsort herrschte, ließ den Gedanken an zunehmend mehr Sicherheit aufkommen - so der Anblick der Hirten, die am Abend mit ihren Herden in die Ställe zurückkehrten, oder des Purpurstreifens, den die Sonne auf den Wolken hinterließ, wenn sie fern am Horizont in der Ebene verschwand, ebenso der in harmonischen Biegungen verlaufende Fluß oder die langsam heimrudernden Schiffer und Fährleute, die in der Abendsonne an Land gingen, um sich einen Schlafplatz für die Nacht zu suchen.
»Gott kam uns zu Hilfe«, sagte Ambrosinus. »Und er wird es immer wieder tun, da wir zu Unrecht verfolgt werden. Ich bin fest davon überzeugt, daß wir schon bald wieder mit unseren Kameraden vereint sein werden.«
»Das verdanken wir vor allem dir«, erwiderte Vatrenus. »Ich weiß nicht, wie du es fertiggebracht hast, dieses Wrack durch die Stromschnellen, Sandbänke und Strudel zu manövrieren. Ich glaube, du bist ein wirklicher Magier, Meister.«
»Wir haben es hier nur mit dem Archimedischen Prinzip zu tun, mein guter Freund«, antwortete Ambrosinus. »Je tiefer ein Boot ins Wasser eintaucht, desto schneller wird es, so daß es bei starker Strömung die leichteren Boote mit sich zieht. Bei langsamerer Strömung setzt dasselbe Fahrzeug dem Wasser mehr Widerstand entgegen und wird dadurch immer langsamer. Deshalb habe ich, kaum daß wir ruhigeres Wasser erreichten, die Gewichte in eine neue Balance gebracht, wofür es genügte, Batiatus auf den hintersten Kahn zu setzen. Jetzt aber möchte ich mit Livia, die, wenn ich nicht irre, noch etwas Geld hat, an Land gehen, um dort ein paar Lebensmittel zu kaufen. In dieser Gegend gibt es sicher reichlich Milch und Käse, vielleicht sogar Brot.«
Bald fand er heraus, daß es unweit vom Fluß ein Dorf namens Magia gab, in dem die Leute noch einen keltischen Dialekt sprachen, der sich nicht allzusehr von seiner Muttersprache unterschied. Doch sprachen die Ältesten der Stadt ebenso wie der Priester, der in der kleinen Kirche des Ortes die christlichen Riten zelebrierte, überraschend gut Latein. Von innen erfuhr er, daß der Fluß, auf dem sie sich befanden, der Rhein war. Schon bald aber träfen sie auf einen großen See und später hätten sie es mit Stromschnellen zu tun, die unüberwindbar seien. Lediglich auf dem Landweg erreichten sie wieder den Fluß, der als der größte Strom Europas und einer der größten der Welt bekannt war und sogar Euphrat und Tigris in nichts nachstand, die doch das irdische Paradies durchflössen. Ambrosinus pflichtete ihnen bei. »Damit ist uns der Weg vorgegeben. Wir werden also weiter flußabwärts fahren und einer Vielzahl von Gefahren aus dem Weg gehen. Vielleicht erreichen wir sogar das Meer. Doch zuerst müssen wir ein Schiff finden, das diesen Namen auch verdient. Es ist ein Wunder, daß wir überhaupt wohlbehalten bis hierher gekommen sind, auf dieser ehemaligen Bootsbrücke den Gewalten der Strömung ausgeliefert.«
Er machte sich auch Gedanken über die Situation weiter oben im Norden, in jenen Gebieten des einstigen Gallien, die einst die reichste und treueste Provinz des Kaiserreichs ausmachten und nun von den Franken besetzt waren. Ihr Zentrum bildete allerdings noch immer eine Art Insel der römischen Welt und wurde von einem General namens Syagrius regiert, der sich zum König der Römer ausgerufen hatte.
»Ich denke, wir sollten an einer Stelle am Westufer an Land gehen, die recht günstig gelegen ist«, bemerkte er. »Dann auf dem Landweg weiter bis ans Ufer des britannischen Kanals. Dort sind wir mit dem Schiff nur noch eine Tagesreise von meinem Land entfernt. Grundgütiger Gott! Wieviel Zeit ist inzwischen vergangen, was wird sich wohl alles verändert haben! Wie viele Menschen sind gestorben, die ich einst kannte, und wie viele Freunde haben mich wohl in der Zwischenzeit vergessen!«
»Du redest, als wären wir schon in Sichtweite der Küste«, erwiderte Livia. »Dabei liegt noch ein weiter Weg vor uns, und der ist mit nicht weniger Schwierigkeiten gespickt als der, der gerade hinter uns hegt.«
»Du hast recht«, antwortete Ambrosinus, »doch das Herz ist um so vieles schneller als unsere Füße, ]a selbst als das schnellste Schlachtroß. Und es fürchtet sich vor rein gar nichts. Ist es nicht so?«
»Doch, so ist es«, gab Livia zu.
»Und du, denkst du vielleicht nicht an deine Stadt am Meer? Fehlt sie dir etwa nicht?«
»Sehr. Und dennoch hätte ich mich niemals von Romulus getrennt ...«
»Und von Aurelius ... wenn ich recht verstanden habe.«
»Ja, auch nicht von Aurelius. Aber in der ganzen Zeit, die wir miteinander verbracht haben, ließ er mich nur ein einziges Mal erkennen, daß er auch für mich mehr empfindet. Das war in der Nacht in Fano. Vielleicht weil er als sicher annehmen mußte, daß sich unsere Wege am nächsten Tag trennten und wir uns niemals mehr wiedersähen. Doch ich hatte nicht den Mut, ihm in dieser Nacht die Worte zu sagen, die er von mir erwartet hat.«
Ambrosinus betrachtete sie mit ernstem Gesicht. »Aurelius wird von beklemmenden Zweifeln gequält, die ihn fast zerreißen. Solange er das Rätsel, das ihn peinigt, nicht gelöst hat, werden andere Empfindungen kaum einen Platz in seinem Herzen finden. Dessen kannst du dir gewiß sein.«
Inzwischen kamen sie in Sichtweite des Flusses, und Ambrosinus wechselte plötzlich das Thema. »Wir müssen ein Schiff finden«, sagte er. »Das ist unvermeidlich. Wenn Aurelius es schafft, Wulfila zu entkommen, wird er in ein paar Tagen hier eintreffen, und wir sollten dann fertig zum Auslaufen sein. Bereite du nun das Abendessen zu. Ich hoffe, bald mit guten Nachrichten zurück zu sein.«
Er wandte sich ab und ging auf den Ankerplatz zu, an dem inzwischen eine Anzahl von Kähnen für die Nacht vertäut worden waren. Einige Fischer hatten auf hölzernen Tischen ihre gefangenen Fische ausgelegt, während die Kunden mit ihnen über den Kauf verhandelten. Auf den Booten wurden die Öllampen entzündet, und ihr zitterndes Licht spiegelte sich auf der Oberfläche des großen Flusses wider.
XXVIII
Nach Einbruch der Dunkelheit kehrte Ambrosinus mit einigen Trägern zurück, die mit Schaffellen, Decken und Umhängen für die Nacht bepackt waren. Er berichtete, daß er sich mit einem Schiffer abgesprochen habe, der auf dem Rhein eine Ladung Steinsalz nach Norden transportierte. Für einen geringen Aufpreis sei dieser Mann bereit, sie an ihr Ziel in der Nähe von Argentoratum zu bringen, was sie, falls alles gut ginge, in etwa einer einwöchigen Schiffsreise erreichen könnten. Darüber hinaus hatte er ihm zu einem ebenfalls sehr günstigen Preis all diese großartigen Dinge verkauft, mit denen sie unter dem kalten Himmel und in der feuchten Umgebung die Nacht auf passable Weise verbringen könnten. Sein Optimismus stand jedoch im krassen Gegensatz zu der Unruhe, von der alle wegen des unsicheren Schicksals von Aurelius und Romulus ergriffen waren. Natürlich waren sie sich darüber bewußt, daß sämtliche Mühen und Gefahren, denen sie bis zu diesem Moment die Stirn geboten hatten, ohne den Knaben von keinerlei Wert waren. Sie hatten ihr Schicksal voll und ganz mit seinem Geschick verbunden, und sein Schicksal war wiederum ganz und gar von ihrer Unterstützung und Hilfe abhängig. Und nun, da ihnen ihr Bezugspunkt fehlte, schien auch ihre eigene Existenz jede Bedeutung verloren zu haben.
Ambrosinus ließ sich mit überkreuzten Beinen auf dem Kahn nieder, bevor er sich ein wenig Brot und Käse von dem Tisch nahm, zu dem einer der Schilde umgestaltet worden war. Er begann mit nur wenig Appetit zu essen.
»Ich habe wieder und wieder alles durchkalkuliert«, meinte Vatrenus. »Unter Berücksichtigung, wie das Gelände beschaffen ist, durch das der Rhein fließt, komme ich zu dem Schluß, daß wir ihnen gegenüber etwa einen Vorsprung von zwei Tagesmärschen haben.«
»Bedeutet das, daß wir die ganze Nacht, den morgigen Tag und vielleicht auch noch übermorgen auf sie warten müssen?« fragte Orosius.
»Kann sein, auch wenn das nicht so leicht zu sagen ist. Nach meiner Überzeugung wird Aurelius alles versuchen, um eine möglichst große Distanz zwischen sich und seine Verfolger zu legen. Und Juba ist ein sehr schnelles, ausdauerndes Pferd. Außerdem werden sie sicher die Ruhezeit auf ein Minimum reduzieren und alles daran setzen, so schnell wie möglich voranzukommen«, bemerkte Demetrios.
»Ja«, wandte Batiatus ein, »doch sind die Tage bereits sehr kurz, und es ist mehr als gefährlich, bei Dunkelheit durch das Gebirge zu wandern. Ich bezweifle, daß Aurelius das Risiko eingehen wird, in den Abgrund zu stürzen oder sein Pferd lahm zu reiten. Ich schätze vielmehr, er wird nur begrenzte Wegstrecken zurücklegen.«
Jeder gab seine Meinung zum besten, und bald war es offenkundig, daß niemand in seinen Überlegungen mit denen der übrigen Gefährten übereinstimmte.
»Sie könnten doch auch dort auf den Anhöhen sein«, sagte Livia und warf einen Blick in Richtung der Berge. »Sicher frieren sie, sind hungrig und vor lauter Anstrengung völlig erschöpft. Im Grunde war uns das Glück mehr als gewogen, auch wenn wir auf unserer Reise so viel Aufregendes erlebten.«
Vatrenus versuchte, dem Ganzen eine optimistische Note zu geben. »Vielleicht machen wir uns ganz unnötig Sorgen. Möglicherweise hat es Wulfila nicht geschafft, den Gebirgsfluß zu durchqueren, vielleicht hat er auch bei der Suche nach einer Furt flußauf und flußab zuviel Zeit verloren. Aurelius soll sich ruhig gedulden und kommen, wann es ihm möglich ist. Er weiß, daß wir an einem Ort auf ihn warten, der leicht zu finden ist, und uns von diesem schwimmenden Konvoi nicht fortbewegen, bevor er zu uns gestoßen ist.«
»Können wir nicht ein Leuchtsignal setzen?« schlug Demetrios vor. »Dann sähen sie uns von dort oben und schöpften neuen Mut. Sie wüßten dann auch, daß wir auf sie warten. Mein Schild ist aus Metall, wir könnten ihn polieren und dann ...«
»Besser nicht«, antwortete Ambrosinus. »Sie wissen ohnehin Bescheid und werden uns finden, da sie doch immer in der Nähe des Flusses bleiben. Ein Leuchtsignal würde nur Wulfila anlocken, der die Jagd nach ihnen niemals aufgeben wird. Er wird nicht ruhen, bis er uns alle vernichtet hat, das könnt ihr mir glauben. Versucht jetzt zu schlafen. Wir haben einen anstrengenden Tag hinter uns, und was uns morgen erwartet, wissen wir nicht.«
»Ich übernehme die erste Wache«, sagte Livia. »Ich bin nicht müde.« Und sie ging vor zum Bug, ließ sich am Rand des Kahns nieder und baumelte mit den Beinen im Wasser. Die anderen breiteten auf der Brücke die Schaffelle aus, die Ambrosinus besorgt hatte, rückten eng aneinander, um sich gegenseitig zu wärmen, und deckten sich mit ihren Umhängen zu. Ambrosinus setzte sich ein Stück weiter weg und schaute lange und forschend in die Dunkelheit hinaus. Dann erhob er sich und ging zu Livia.
»Du solltest auch schlafen gehen. Alles ist ziemlich ruhig. Vielleicht genügt es ja, wenn ein alter Gelehrter die Wache hält.«
»Ich habe schon gesagt, ich bin nicht müde.«
»Ich auch nicht. Dann könnte ich dir ein wenig Gesellschaft leisten ... wenn es dir recht ist.«
»Gern. Auch weil wir unser Gespräch noch nicht beendet haben.
Weißt du noch?«
»Ja, sicher.«
»Du sprachst von einem Rätsel, das es in Aurelius Leben gibt.«
»Ja, so ist es. Worte, die ich, ohne es zu wollen, mit angehört habe. Einmal in jener Nacht in Fano und zum anderen in der Nacht auf der Paßhöhe, als ich den Abgrund hinabglitt.«
»Und worum ging es da?« fragte Livia beunruhigt.
»Vielleicht solltest du mir zuerst sagen, was du über ihn weißt.«
»Recht wenig.«
»Oder was du zu wissen glaubst.«
»Ich ... ich glaube, daß er der junge Held ist, der damals neun Monate lang Aquileia gegen Attila und seine Hunnen verteidigte und sich in der Nacht, als die Stadt durch das Werk eines Verräters fiel, aufopferte - für mich und meine Mutter. Uns zuliebe ließ er die letzte Möglichkeit zu seiner Flucht verstreichen.«
»Wie kannst du dir dessen so sicher sein?«
»Das spüre ich. Und ich weiß, daß ich mich nicht irre.«
Ambrosinus suchte in der Dunkelheit Livias Augen. »Tatsächlich war es doch so, daß du ihn belogen hast... Nicht wahr? Du brauchtest einen Mann, der bereit war, etwas Unmögliches zu wagen, damit du auf ihn das Andenken an einen Helden übertragen konntest, der bereits seit vielen Jahren tot ist.«
»Nein ...«, antwortete Livia. »Vielleicht am Anfang. Aber dann, als ich sah, wie er kämpfte, sich voll und ganz einsetzte und ständig sein Leben riskierte, um das der anderen zu retten, da hatte ich keine Zweifel mehr: Er ist der Held von Aquileia. Und selbst wenn dem nicht so wäre, ist es die Wahrheit für mich.«
»Eine Wahrheit, die er ableugnet. Das ist auch der Grund eures Zwistes, das Gespenst, das sich ständig zwischen euch stellt und euch einander entfremdet. Hör mir zu, kein Andenken und keine Erinnerung vermag es, in einem leeren Gedächtnis Wurzeln zu schlagen. Auch auf Wasser kann man nicht bauen.«
»Meinst du? Ich habe so etwas schon gesehen.«
»Richtig, deine Stadt in der Lagune. Aber das hier ist etwas anderes. Hier haben wir es mit der Seele eines Mannes zu tun, seinem verwundeten Geist und seinen Gefühlen. Und als ob das noch nicht reicht, ist noch eine andere Wahrheit aus seiner Vergangenheit aufgetaucht, die ihn zu zermalmen droht.«
»Von welcher Wahrheit sprichst du? Sag es, ich bitte dich.«
»Ich kann nicht. Ich habe kein Recht dazu.«
»Ich verstehe«, antwortete Livia resigniert. »Gibt es denn nichts, was wir für ihn tun könnten?«
Ambrosinus seufzte. »Es sollte möglich sein, die Wahrheit, die einzige Wahrheit, endlich aus den Tiefen seines Geistes emporsteigen zu lassen, in denen sie schon so viele Jahre begraben liegt. Vielleicht ist mir sogar bekannt, worum es dabei geht, aber es ist furchtbar, ganz furchtbar ... Und es ist durchaus möglich, daß er es nicht überlebt.«
»Und wo wird er jetzt sein, Ambrosinus?«
Sie sah, wie er bei dieser Frage erstarrte und sein Blick sich in Abwesenheit verlor; die ganze Person schien sich in einer ungeheuren Anstrengung zu konzentrieren.
»Vielleicht ... in Gefahr«, sagte er mit einer seltsam metallischen Stimme.
Livia trat mit einem verwunderten Blick näher an ihn heran. Ihr wurde plötzlich bewußt, daß er gar nicht mehr bei ihr war, sondern seine Gedanken und vielleicht auch seine Seele an einem ihr unbekannten Ort umherstreiften. Dort wanderte er auf geheimnisvollen Pfaden dahin und erforschte ferne Gegenden und eisige Schneeflächen. Getragen vom Wind, schweifte er über die Berge, durch Tannenwälder und zwischen schroffen Bergspitzen umher und flog, leise und unsichtbar wie ein nächtlicher Greifvogel, über die Oberflächen zu Eis erstarrter Seen hinweg.
Livia sagte nichts, sondern blieb lange in ihren Gedanken versunken, wobei sie auf das schwache Geräusch der Wellen lauschte, die gegen die Außenseite des Lastkahns klatschten. Ein kalter Nordwind zerriß die Wolken und enthüllte für wenige Augenblicke die Scheibe des Mondes. Beleuchtet von diesem durchscheinenden Licht, wirkte Ambrosinus' Gesicht wie eine wächserne Maske - mit reglosen Wimpern, die Augen so weiß und leer wie bei einer Statue. Nur sein Mund stand offen, als ob er schrie, doch drang weder der geringste Laut daraus hervor noch der zu weißem Dampf kondensierte Atem. Er schien überhaupt nicht zu atmen.
Der durchdringende Schrei eines Raubvogels hallte durch die tiefe Stille des Waldes, so daß Aurelius wie aus einem Dämmerschlaf hochschreckte. Aufmerksam blickte er um sich und spitzte die Ohren, um noch kleinste Erschütterungen in der Luft wahrzunehmen. Dann stieß er Romulus an, der zusammengekauert neben ihm schlief. »Schnell«, sagte er zu ihm, »wir müssen fort. Wulfila ist da.«
Zu Tode erschrocken schaute Romulus sich um, doch alles schien ganz still und ruhig, zwischen den Wolken und Tannenwipfeln blitzte an einigen Stellen der Mond hindurch.
»Rasch!« drängte Aurelius. »Wir haben keinen Augenblick zu verlieren.« Er legte dem Pferd die Kandare an und nahm es bei den Zügeln. Dann machte er sich, so schnell wie nur möglich, zu Fuß an den Abstieg, wobei er den Pfad nutzte, der durch den Wald führte. Romulus lief neben ihm her. »Was hast du denn gesehen?« fragte der Knabe atemlos. »Nichts. Doch hat mich ein Ruf geweckt, ein Alarmruf. Und mein Instinkt, der es gewohnt ist, nach so vielen Jahren Krieg jede Bedrohung zu spüren. Lauf, wir müssen schneller gehen. Schneller.«
Sie ließen den Wald hinter sich und befanden sich nun auf einer weiten Schneefläche im offenen Gelände. Der Mond verströmte sein diffuses Licht, das von dem Schnee strahlend reflektiert wurde, so daß Aurelius mühelos in geringer Entfernung die Spuren zweier Räder entdeckte, die aus dem Wald kamen und hinab ins Tal führten.
»Dort hinüber«, sagte er. »Wo ein Wagen fahren kann, ist das Gelände in Ordnung. Jetzt können wir endlich wieder auf dem Pferd reiten. Los, steig auf, beeil dich.«
»Aber ich verstehe nicht ... da ist niemand, der ...« Ohne ihm Antwort zu geben, packte Aurelius den Knaben am Arm und zog ihn zu sich auf den Rücken des Pferdes. Dann stieß er seine Sporen in Jubas Flanken, der im Galopp den Abhang hinabstürmte, immer den Wagenspuren über das weite, schneebedeckte Grasland folgend. In der Ferne war die dunkle Silhouette eines Dorfes zu erkennen, und Aurelius trieb das Pferd zu noch größerer Eile an. Kurz vor den ersten Häusern wurden sie von einem mehrstimmigen Gekläffe empfangen, was ihn dazu veranlaßte, in Richtung Talsohle abzubiegen, bis er ein leicht erhöhtes Plateau erreichte, von dem aus er weit über das Flußbett blicken konnte. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ er Juba eine kurze Strecke in Schrittempo gehen, damit dieser wieder zu Atem kam. Das prächtige Tier, das vor Schweiß dampfte, stieß riesige Dampfwolken aus seinen Nüstern, schnaubte und biß auf die Kandare, als wartete es ungeduldig darauf, erneut wieder loszustürmen. Vielleicht spürte auch das Pferd die drohende Gefahr.
Wulfila und seine Männer traten am Rande des Tannenwaldes ins freie Gelände und bemerkten sofort die Spuren, die sich auf der Schneedecke abzeichneten - zunächst die eines Pferdes, die sich wenig später mit den Abdrücken eines Wagens vermischten, der den Abhang hinab gefahren war.
Einer seiner Männer ließ sich auf den Boden fallen und untersuchte die Spuren mit seinen Fingerspitzen. »Das linke hintere Eisen hat nur drei Nägel, außerdem sind die vorderen Spuren tiefer als die hinteren, was auf ein Gewicht zwischen dem Sattel und dem Hals des Pferdes schließen läßt. Sie sind es.«
»Endlich!« rief Wulfila aus. »Jetzt werden wir sie uns holen, sie entkommen uns nicht mehr.« Mit der Hand gab er seinen Männern das Zeichen, ihm im Galopp den Berg hinunterzufolgen. Sie waren ungefähr siebzig und wirbelten mit ihren Pferden weiße Wolken auf, einen Hauch silbrigen Pulverschnees, der im Mond wie ein zauberischer nächtlicher Regenbogen glitzerte. Vom immer lauteren Bellen der Hunde geweckt, erhoben sich einige Männer aus dem Dorf von ihrem Lager und beobachteten, wie der bizarre Reiterzug die große Lichtung oberhalb ihrer Häuser überquerte. Sie bekreuzigten sich und dachten dabei an die verfluchten Seelen, von denen man sagt, sie verließen des Nachts die Hölle, um nach Opfern zu suchen, die sie in die Qualen des Jenseits mitnähmen. Dann schlossen die Männer wieder die Fenster und horchten, zitternd vor Angst, mit dem Ohr an den Läden, bis der Lärm des Galopps sich in der Ferne verlor und das letzte Gekläffe der Wachhunde in einem gedämpften Winseln verklang.
Das kalte Morgenlicht drang langsam durch die dünne Wolkenschicht, die den Himmel bedeckte. Nach und nach erwachten die Männer, die unter ihren Umhängen eingeschlummert waren. Auch Livia stand auf und strich sich mit der Hand über Stirn und Wangen. Es kam ihr so vor, als hätte Ambrosinus niemals mit ihr gesprochen und alles sei nur ein Traum gewesen. Und richtig, auch er hatte sich, zusammen mit den anderen, auf den Schaffellen ausgestreckt. Demetrios hielt Wache und musterte prüfend die schneebedeckten Hügel. Nun machte Ambrosinus den Vorschlag, daß sie sich bereits auf das Schiff begeben sollten, das sie nach Norden brächte, um möglichst bald abreisen zu können. Er hatte dem Bootsführer die Kähne zum Tausch überlassen, der sie für seine Transporte auf dem Fluß als Frachtkähne nutzen wollte.
Er war ein Mann um die Fünfzig, von untersetzter, kräftiger Statur und schroffer, entschiedener Art. Er hatte einen dichten grauen Haarschopf und war mit einer Jacke aus Filz und einem Lederschurz bekleidet.
»Ich kann nicht mehr lange warten«, sagte er, kaum daß er sie sah. »Die Leute fangen mit dem Schweineschlachten an und brauchen das Salz, um ihre Würste zu konservieren. Aber es gibt noch einen anderen, viel wichtigeren Grund. Der Winter kommt ins Land, und je weiter wir in den Norden vordringen, desto mehr laufen wir Gefahr steckenzubleiben. Ich meine, der Fluß wird sicher zufrieren, und dann wird mein Schiff vom Eis umschlossen und zermalmt.«
»Aber wir haben doch abgemacht, bis heute abend zu warten. Diese paar Stunden werden die Lage kaum groß verändern«, wand Ambrosinus ein, dessen Stimme, wie Livia bemerkte, sehr schwach war und von Heiserkeit verschleiert klang. Seine Hautfarbe wirkte erdig, und sein Gesicht war von tiefen Falten gezeichnet, als hätte er in die ganze Nacht kein Auge zugetan.
»Es tut mir leid«, erwiderte der Bootsführer, »aber wie ihr seht, wird das Wetter umschlagen. Schon steigt Nebel auf, und damit wird das Navigieren sehr riskant. Ich kann nichts dafür, wenn das Wetter umschlägt.«
Ambrosinus ließ nicht locker. »Wir haben dir die Kähne überlassen, die unser Eigentum waren. Damit hast du bereits deinen Gewinn gemacht und wirst auch noch mehr Geld für die Überfahrt erhalten. Bitte, geh auf unser Anliegen ein. Wir warten noch auf ein paar Freunde, die bald eintreffen werden. Das versichere ich dir.«
Aber der Bootsführer ließ sich nicht überzeugen. »Ich muß ablegen«, antwortete er. »Anders geht es nicht.«
Vatrenus trat hinzu. »Ich weiß, wie es anders ginge. Höre gut zu: Entweder du tust im guten, was wir dir sagen, oder im bösen. Wir sind alle bewaffnet, deshalb wirst du erst auslaufen, wenn wir es dir sagen.«
Wütend zog sich der Bootsführer ins Hinterschiff zurück und begann mit seiner Mannschaft zu tuscheln.
»Das hättest du nicht tun sollen«, sagte Ambrosinus. »Es ist immer besser zu verhandeln und zu überzeugen, als Druck auszuüben.«
»Da magst du recht haben«, antwortete Vatrenus, »aber fürs erste liegen wir ja deshalb noch vor Anker, weil meine Argumente überzeugender waren als deine.«
Er hatte den Satz noch nicht beendet, da rief Livia: »Da sind sie!«
Und tatsächlich: In vollem Tempo stoben Aurelius und Romulus den Abhang herab, dicht gefolgt von Wulfilas Schwadron, die sie unter gellendem Geschrei mit gezückten Schwertern angriff. Entsetzt verfolgte der Bootsführer die Szene, da er sein kostbares Gefährt bereits in ein Schlachtfeld verwandelt oder, noch schlimmer, von diesen brüllenden Dämonen in Brand gesteckt sah, aus Rache, weil er diesen Verfolgten Unterschlupf gewährt hatte, die vielleicht wegen irgendwelcher Verbrechen gesucht wurden. Und so schrie er aus vollem Halse: »Legt ab, sofort!« Blitzartig lösten zwei Männer seiner Besatzung die Haltetaue, während ein anderer mit dem Ruder gegen die Kaimauer stieß, um den Bug auf die Strömung auszurichten.
Vatrenus schrie: »Nein! Ihr verdammten Hurensöhne!«
Doch es war zu spät. Das Boot hatte sich bereits gelöst und entfernte sich langsam von dem hölzernen Landungssteg, an dem es vertäut gewesen war. Livia sah, wie Aurelius einen Augenblick unsicher wurde, dann lenkte er seinen Blick auf die Kähne, mußte jedoch erkennen, daß sie leer waren. So laut sie konnte rief sie: »Hier sind wir! Hier! Lauf, Aurelius, lauf schnell!« Dabei schwenkte sie ihren Umhang. Und auch die anderen begannen auf jede erdenkliche Art zu gestikulieren und dabei zu rufen: »Hierher! Wir sind hier! Lauft schnell!«
Nun endlich hatte Aurelius sie entdeckt. Mit seinen Knien preßte er Jubas Flanken zusammen und riß dabei heftig an der Kandare, um das Pferd in eine andere Richtung zu lenken. Er gab ihm die Sporen, so daß es wieder nach vorne schnellte. Während er die Zügel auf die Kandare niederschlug, rief er laut: »Los, Juba, los, spring!« Das Schiff, das sich in Parallellinie zum Ufer befand, fuhr gerade an der äußersten Spitze des Landungsstegs vorbei. In vollem Tempo bog Aurelius auf den Steg ein und raste bis ganz nach vorne. Dann setzte er zu einem halsbrecherischen Sprung an, der das Pferd auf dem Haufen Steinsalz landen ließ, in dem es fast bis zu den Knien versank und dadurch gestoppt wurde. Rasch ließen sich Aurelius und Romulus zur Seite fallen, so daß sie ebenfalls auf der weißen Salzschicht landeten, die ihren Fall abfederte. Angesichts dieser völlig veränderten Situation löste Batiatus die beiden Steuerruder am Heck und befestigte sie an den Auslegern, so konnte er sie als Ruder verwenden, was dem Schiff noch mehr Schnelligkeit verlieh. Nun preschte auch Wulfila in vollem Galopp und von der heißen Verfolgungsjagd mitgerissen, über den Landungssteg. Doch im letzten Moment mußte er seinen Hengst abbremsen, um nicht kopfüber ins Wasser zu stürzen. Als ihn seine Männer einholten, blieb ihm wieder einmal nichts anderes übrig, als wutschäumend und ohnmächtig mit anzusehen, wie ihm seine Beute entkam.
Vatrenus machte eine unflätige Geste und rief ihm dabei ein Wort aus der Soldatensprache zu, das Romulus nicht kannte. Er trat auf ihn zu, während er sich das Salz abschüttelte, mit dem er über und über bedeckt war. »Was bedeutet das Wort temetfutue?« fragte er naiv.
»Cäsar!« wies ihn Ambrosinus zurecht. »Solche Dinge wiederholt man nicht.«
»Das bedeutet >Leck mich!<« antwortete Vatrenus ruhig. Und dann hob er den Knaben in seinen Armen hoch über die Köpfe aller und rief: »Willkommen, Cäsar!« Sie brachen in ein unbändiges Freudengeschrei aus, das noch wenige Augenblicke zuvor von der Anspannung unterdrückt worden war. Alle umarmten sich, und auch Juba wurde die herzlichste Zuwendung zuteil, wie es für ein so heldenhaftes Roß nur recht und billig war, dessen unerschütterliche Tapferkeit Romulus und Aurelius gerettet hatte. Batiatus gab das Ruder wieder an die Besatzung zurück und stimmte in den Jubel seiner Gefährten mit ein.
Unterdessen dachte Wulfila gar nicht daran, die Verfolgung aufzugeben. Wie besessen ritt er am Ufer entlang und schwang wie eine ewige, rachsüchtige Bedrohung Cäsars Schwert in seiner Faust. Aurelius stand auf der Steuerbordseite an die Reling gepreßt, Aug in Aug mit seinem Widersacher, dessen Haß ihm wie ein eiskalter Wind auf der Haut brannte. Und dennoch konnte er nicht aufhören, auf das glänzende Schwert in der Hand des Barbaren zu starren. Derweil schossen die Reiter Schwärme von Pfeilen zu ihnen herüber, die mit leisen, dumpfen Schlägen ins Wasser fielen. Einer der Pfeile, der in einem weiten Bogen abgeschossen worden war, fiel auf das Deck, aber Demetrios riß seinen Schild noch rechtzeitig in die Höhe, so daß er ihn sicher abfangen konnte, ehe er Livia getroffen hätte. Unterdessen vergrößerte sich die Entfernung zum Festland immer mehr, bis sie bald darauf unüberwindlich wurde.
Da trat Romulus zu Aurelius und berührte seinen Arm. »Denk nicht mehr an dieses Schwert«, sagte er. »Es macht nichts, daß du es verloren hast. Es gibt Wichtigeres.« »Was denn?« fragte Aurelius in bitterem Ton. »Daß wir wieder alle vereint und beisammen sind. Und mir kommt es nur darauf an, daß mich alle gern haben. Ich hoffe, auch du.«
»Ich habe dich sehr gern, Cäsar«, antwortete Aurelius, ohne sich umzudrehen.
»Nenn mich nicht Cäsar.«
»Ich habe dich sehr gern, mein Junge«, antwortete Aurelius. Dann endlich drehte er sich zu ihm um und umarmte ihn, während sich seine Augen mit heißen Tränen füllten.
In diesem Moment öffneten sich die Wolken, und der Nebel, der über dem Wasser lag, lichtete sich. Die Sonne entflammte die Oberfläche des großen Flusses und ließ die Schneeflächen an beiden Ufern im Licht erstrahlen, die nun wie ein silberner Umhang glänzten. Alle waren von diesem Anblick bezaubert, den sie wie eine Vision der Hoffnung empfanden. Aus der kleinen Gruppe der Veteranen vorne am Bug ertönte die heisere Stimme von Elius Vatrenus, der langsam und feierlich die Hymne an die Sonne rezitierte, das alte Carmen saecularc des Horaz:
Alme Sol curru nitido diem qui Promis et celas...
Bald gesellte sich seiner Stimme eine zweite zu, dann eine dritte und vierte, bis schließlich auch die von Livia und Aurelius einfielen:
Aliusque et idem Nascens, possis nihil Roma Visere maius...
Romulus zögerte und sah Ambrosinus an. »Das ist doch ein heidnisches Lied ...«, sagte er.
»Das ist der Gesang von der Größe Roms, mein Sohn, das niemals soviel Glanz erlangt hätte, wäre es nicht nach Gottes Willen erfolgt. Und jetzt, da Rom seinem Untergang zugeht, ist es nur richtig, noch einmal seinen Lobgesang ertönen zu lassen.« Und dann fiel er selbst in den Chor ein.
Nun sang auch Romulus. Seine klare Knabenstimme erhob sich wie noch nie zuvor, übertönte die kraftvollen, tiefen Stimmen seiner Gefährten und vereinte sie mit Livias aufgewühltem, bebendem Timbre. Selbst der Bootsführer, den die anfeuernde Stimmung stark berührte, sang nun mit ihnen und folgte der Melodie, obwohl er die Worte nicht kannte.
Schließlich verklang der Gesang, während die Sonne, die nun die Wolken besiegt und den Nebel endgültig aufgelöst hatte, strahlend am Winterhimmel triumphierte.
Romulus trat zum Bootsführer, der jetzt still war und ein seltsames Licht der Rührung in seinen Augen hatte. »Bist du auch ein Römer?« fragte er ihn.
»Nein«, antwortete dieser. »Aber ich wäre es gern.«
XXIX
Der See von Brigantium tat sich wie ein glänzender riesiger Spiegel vor ihren Augen auf, dessen Ufer Wälder und Weiden säumten, in denen Dörfer und hie und da ein verstreutes Bauernhaus angesiedelt waren. Eine ganze Tagesreise per Schiff war nötig, um von einem Ende des Sees bis zum anderen zu gelangen, dann erreichte man das Kap, das zwei lange schmale Buchten gabelförmig voneinander trennte. Das Schiff steuerte die linke an, und sie gingen für die Nacht nahe einer kleinen Stadt namens Tasgaetium vor Anker. Tags darauf setzten sie ihre Reise von der Stelle aus fort, an welcher der Fluß seinen Lauf nach Norden weiterführte.
»Nun befinden wir uns wieder auf dem Rhein«, verkündete der Bootsführer, als das Schiff in den Nebenarm einbog. »Wir werden ihn ungefähr eine Woche lang flußabwärts befahren, bis wir Argentoratum erreichen. Doch zunächst erwartet uns ein Schauspiel, wie ihr es vorher noch niemals saht und auch für den Rest eures Lebens nie wiedersehen werdet: die großen Stromschnellen.«
»Stromschnellen?« fragte Orosius, von seinem letzten Abenteuer auf dem Fluß noch immer zu Tode erschrocken. »Dann besteht ja allergrößte Gefahr.«
»Und ob«, antwortete der Bootsführer, »die Stromschnellen sind auf einer Breite von fünfhundert Fuß mehr als fünfzig Fuß hoch, bevor sie sich unter Donnergrollen wild schäumend in die Tiefe stürzen. Wenn ihr ganz still seid und die Ohren spitzt, könnt ihr sie, da wir günstigen Wind haben, schon von hier aus hören.«
Alle schwiegen und blickten einander voll Sorge an, da sie nicht begriffen, wohin diese Vorankündigung führte. Tatsächlich war in der Ferne, so schien es ihnen zumindest, ein gedämpftes Grollen zu vernehmen, das sich mit anderen Geräuschen mischte, die vielleicht ebenfalls von den Stromschnellen herrührten.
Ambrosinus trat zum Bootsführer: »Ich nehme an, du kennst noch einen anderen Reiseweg. Ein Fall über fünfzig Fuß erscheint mir doch selbst bei einem soliden Schiff wie dem deinen ziemlich gewagt.«
»Deine Annahme ist richtig«, antwortete der Bootsführer, während er das Steuer herumriß. »Wir legen an und führen das Schiff auf dem Landweg weiter. Dafür gibt es einen besonderen Dienst auf Schlitten, die von Ochsen gezogen werden. Sie bringen uns auf dem Landweg bis hinunter ins Tal, in dem die Wasserfälle auftreffen.«
»Bei allen Göttern!« rief Ambrosinus aus. »Ein diolkos! Wer hätte geglaubt, daß sogar diese Barbarenländer über so etwas verfügen?«
»Was hast du gesagt?« fragte Vatrenus.
»Ein diolkos oder eine Schiffspassage über Land, mit der ein natürliches Hindernis überwunden werden kann. So etwas gab es in der Antike am Isthmus von Korinth. Das war nun wirklich sehr spektakulär.«
Unterdessen hatte das Schiff festgemacht. Einige Männer zogen es heran und vertäuten es auf einem Schlitten mit Rollen, während der Bootsführer den Preis für die Überfahrt absprach. Dann riefen die Treiber den Ochsen einen Befehl zu, und der stattliche Zug setzte sich in Bewegung. Juba hieb man, vom Schiff herunterzusteigen, so daß er sich auf einem langen, ruhigen Spaziergang die Beine vertreten konnte. Es dauerte fast zwei Tagesmärsche, wobei die Zugtiere häufiger ausgewechselt wurden, dann hatte das Boot wieder flaches Gelände erreicht. Als es unter den Stromschnellen vorbeigezogen wurde, blieben alle stehen und betrachteten staunend die riesige Mauer aus schäumendem Wasser und den Regenbogen, der sich gleich einer Brücke von einem Ufer zum anderen spannte, die Strudel, die Wirbel und die aufwallende Gischt, die das Wasser an der Stelle bildete, an welcher der Fluß wieder nach Westen strömte.
»Wie herrlich!« rief Romulus aus. »Das erinnert mich an den Wasserfall der Nera in Umbrien, nur ist der hier tausendmal größer!«
»Bedank dich bei Wulfila!« lachte Demetrios. »Wäre er nicht gewesen, hättest du diese Pracht niemals zu Gesicht bekommen.«
Auch die anderen fingen an zu lachen, während das Boot wieder ins Flußwasser gelassen wurde. Ihr Gelächter ließ sie gleichsam als Teilnehmer in einem Spiel erscheinen, in dem alle mitspielten, mit Ausnahme von Ambrosinus.
»Was ist denn, Ambrosinus?« fragte Livia.
Der alte Mann runzelte die Stirn: »Wulfila. Diese Reise über Land kostete uns fast den gesamten Vorsprung. Er könnte sich jetzt dort überall auf den Hügeln verbergen.« Da verklang das Gelächter und verwandelte sich in ein gedämpftes Stimmengewirr. Die einen ließen ihren Blick über die Anhöhen schweifen, während die anderen an der Reling lehnten und das friedliche Strömen des Wassers betrachteten.
»Der Fluß ist langsamer geworden«, fuhr Ambrosinus fort, »und sobald wir nach Norden abbiegen, haben wir es mit Gegenwind zu tun. Außerdem ist dieses Schiff mit all dem Salz und dem Pferd an Bord sehr leicht wiederzuerkennen.« Nun verging auch dem letzten die Lust zu lachen, selbst plaudern wollte keiner mehr.
»Was werden wir tun, wenn wir in Argentoratum sind?« fragte Livia, um das Gespräch von Wulfila abzulenken.
»Ich denke, wir sollten auf jeden Fall sofort weiter nach Gallien reisen, dort fallen wir weniger auf«, antwortete Ambrosinus. Er nahm die Karte zur Hand, die er in der mansio von Fano gezeichnet hatte und die ihm Livia nach ihrem Treffen auf dem Paß wiedergegeben hatte. Er breitete sie auf einer Bank aus und bat seine Gefährten mit einem Zeichen, zu ihm herüberzukommen. »Schaut«, sagte er. »Das ist in etwa die Lage. Hier, im mittleren Süden des Landes, sind die Westgoten ansässig, die seit vielen Jahren Freunde und Verbündete des römischen Volkes sind. Sie kämpften auf den Kata-launischen Feldern unter Aetius, mit dem der westgotische König befreundet war, gegen den Hunnenkönig Attila. Für diese treue Freundschaft bezahlte Aetius sogar mit seinem Leben. Er fiel auf dem Schlachtfeld, während er tapfer versuchte, den rechten Flügel, in dem die Verbündeten Aufstellung genommen hatten, zu halten.«
»Also sind nicht alle Barbaren grausam und wild«, kommentierte Romulus.
»Das habe ich niemals behauptet«, antwortete Ambrosinus. »Ganz im Gegenteil. Viele von ihnen verfügen über so außerordentliche Gaben wie Tapferkeit, Loyalität und Aufrichtigkeit - Gaben, die wir für unsere Sitten und Gebräuche, die wir stets als zivilisiert betrachteten, leider nicht mehr in Anspruch nehmen können.«
»Nichtsdestotrotz haben sie unser Reich und unsere Welt zerstört.«
»Was wirklich nicht wir verschuldet haben«, meinte Batiatus. »Ich habe so viele von ihnen umgebracht, daß ich sie kaum mehr zählen kann.«
Ambrosinus kehrte zum Kern des Problems zurück. »Mein Sohn, hier geht es nicht um die Unterscheidung, wer gut ist oder schlecht. Die Völker, die wir >Barbaren< nennen, lebten seit undenklichen Zeiten als Nomaden in den Weiten der sarmatischen Steppen. Sie lebten ihr Leben nach ihren überlieferten Sitten und Gebräuchen auf eine ihnen genehme Weise. Dann, eines Tages, fingen sie an, gegen unsere Grenzen anzurennen, vielleicht weil ihre Gebiete von Hungersnöten oder Epidemien heimgesucht wurden, die ihr Vieh dezimierten. Oder andere Völker, die ihre Herkunftsländer verlassen mußten, haben sie zu diesem Schritt veranlaßt. Schwer zu sagen.
Vielleicht wurde ihnen auch plötzlich bewußt, wie erbärmlich sie im Gegensatz zu unserem Reichtum lebten, wie armselig ihre Zelte aus Leder im Vergleich zu unseren Villen und Palästen aus Ziegel und Marmor waren. Den Leuten, die in den Grenzgebieten lebten und mit uns Handel trieben, stach der enorme Unterschied zwischen ihrem Leben in kärglicher Armut und unserer Verschwendung sicher ins Auge. Dieser unglaubliche Reichtum an Silber, Gold und Bronze und die Pracht unserer Denkmäler, der Überfluß und die Erlesenheit unserer Speisen und Weine, der Prunk unserer Kleider und unseres Schmuckes, vor allem die unglaubliche Fruchtbarkeit unserer Felder. Natürlich waren sie davon geblendet und fasziniert. Sie wollten ebenso leben wie wir. Also begannen sie, uns anzugreifen, und versuchten, unsere Verteidigungslinien zu durchbrechen. Oder sie übten in anderen Fällen ständigen Druck auf uns aus und unterwanderten uns damit immer mehr. Diese Auseinandersetzungen dauern nunmehr seit dreihundert Jahren an und nehmen noch immer kein Ende.«
»Was redest du da? Es ist alles aus. Unsere Welt gibt es nicht mehr.«
»Du irrst. Rom ist nicht gleichzusetzen mit einer Rasse, einem Volk oder einer ethnischen Gruppe. Rom ist ein Ideal, und Ideale lassen sich nicht zerstören ...« Ungläubig schüttelte Romulus den Kopf. Wie brachte es dieser Mann nur fertig, in dieser desolaten Lage und dem Zerfall noch soviel Zuversicht aufzubringen? Doch da deutete Ambrosinus bereits wieder mit dem Finger auf die Karte. »Hier, zwischen Rhein und Belgica, sind die Franken angesiedelt, von denen ich dir einiges erzählt habe. Einst lebten sie in den germanischen Wäldern, nun bewohnen sie westlich des Rheins die besten Landstriche Galliens. Und weißt du, wie es ihnen gelang, ans andere Flußufer zu kommen? Durch die Kälte. Eines Nachts sanken die Temperaturen so stark ab, daß der Rhein zufror, und als die Morgendämmerung anbrach, bot sich unseren Soldaten ein gespenstischer Anblick. Plötzlich tauchte aus dem Nebel eine riesige Armee zu Pferde auf und rückte über den Fluß vor, der sich in eine Eisplatte verwandelt hatte. Und obwohl die Unsrigen sehr wacker kämpften, wurden sie doch überrannt.«
»Das stimmt«, bestätigte Orosius. »Ich hörte einmal im Donaugebiet, wie ein Veteran diese Geschichte erzählte. Er hatte fast keine Zähne mehr und überall am Körper Narben, aber ein gutes Gedächtnis. Der Anblick der Krieger, die den Fluß zu Pferd überquerten, war ein wiederkehrender Alptraum, der ihn ständig aus dem Schlaf aufschrecken und schreien ließ: >Alarm, Alarm! Sie kommen!« Manche meinten, er wäre verrückt. Ich aber versichere euch, niemand wagte es, deshalb über ihn zu lachen.«
»Im Nordosten«, fuhr Ambrosinus fort, »liegt das, was von der römischen Provinz Gallien nach seiner Unabhängigkeit noch übrig ist. Syagrius, der römische General, herrscht über dieses Gebiet, und ihm ist der Titel Rex Romanorum - König der Römer - zuerkannt worden. Nur ein ungehobelter Soldat kann einen so alten und gleichzeitig so hochtrabenden Titel annehmen ...«
»He, Meister«, scherzte Batiatus, »auch wir sind ungehobelte Soldaten, aber wir haben unsere Qualitäten. Ich finde diesen Syagrius gar nicht so übel.«
»Ja, vielleicht hast du nicht unrecht. Wir sollten sein Reich durchqueren, das wohlorganisiert ist und das Gebiet ziemlich weitreichend kontrolliert. Wir könnten auf der Seine flußabwärts bis Parisii und dann in Richtung britannischen Kanal fahren. Es ist eine lange, schwierige Reise, aber wir könnten es schaffen. Wenn wir einmal den Kanal erreicht haben, besteht sicher die Hoffnung, daß sich unsere Spuren verlieren, und mit größter Wahrscheinlichkeit werden wir auch ein Schiff für die Überfahrt finden. Es gibt viele Kaufleute, die unsere Schafwolle nach Gallien verkaufen, wo sie gesponnen wird, und im Gegenzug kaufen sie dort handgefertigte Artikel ein, an denen es uns mangelt.«
»Und dann? Was geschieht, wenn wir endlich dein Britannien erreicht haben? Wird dann alles besser, so daß wir endlich ein leichteres Leben führen können?« fragte Vatrenus, fest davon überzeugt, das Interesse aller damit zur Sprache zu bringen.
»Ich fürchte nein«, antwortete Ambrosinus. »Zwar war ich seit vielen Jahren nicht mehr in meinem Land und weiß nichts Genaues, doch mache ich mir keine Illusionen. Wie ihr wißt, wurde die Insel seit einem halben Jahrhundert sich selbst überlassen, so daß sich die dort ansässigen Stammesführer untereinander bekriegen. Doch hoffe ich darauf, daß die bürgerlichen Institutionen in den wichtigsten Städten des Landes überlebt haben, ganz besonders der Stadt, die an der Spitze des Widerstands gegen die Invasoren aus dem Norden stand: Carvetia. Dorthin werden wir uns aufmachen. Dafür müssen wir fast die gesamte Insel von Süden nach Norden durchqueren.«
Niemand fragte weiter. Die Männer, die aus dem Mittelmeerraum stammten, warfen einen Blick um sich und sahen einen Kontinent, in dem alles der eisigen Kälte ausgeliefert war. Die Landschaft war unter einem gleichförmigen Mantel aus Schnee versunken, der alle Trennlinien und Abgrenzungen verwischt hatte. Es war die Natur, die den Flüssen, den Bergen und endlosen Wäldern ihre Regeln und ihre Beschränkungen aufzwang.
So reisten sie tagsüber, aber auch des Nachts, sofern es der Mond mit seinem Schein erlaubte. Sie folgten der Strömung des großen Flusses, und je weiter sie nach Norden vorstießen, desto klarer und frischer wurde der Himmel und desto schneidender der Wind. Aurelius und seine Kameraden hatten sich grobe Jacken aus Schaffellen angefertigt, trugen lange und ungepflegte Haare und Bärte, so daß sie jeden Tag ein wenig mehr den Barbaren ähnelten, die diese Gebiete bewohnten. Romulus betrachtete die Landschaft mit einer Mischung aus Verwunderung und Furcht, ihre öde Weite erfüllte sein Herz mit Schrecken. Manches Mal trauerte er Capris Farben und Meer nach, dem Duft seiner Pinien und des Ginsters, seinem Herbst, der so mild war, daß er an einen Frühling erinnerte. Doch hörte er nicht auf, sich selbst zu ermutigen und niemals niedergeschlagen zu sein, denn er wußte, daß auch seine Freunde viele Opfer brachten und große Gefahren auf sich nahmen. Aber diese Opfer belasteten ihn immer mehr. Jeden Tag, der verging, empfand er, daß der Tribut, der zu entrichten war, in keinem Verhältnis zu seinem Ziel stand. Dieses Ziel war in seinen Augen nicht mehr als ein Plan, der für alle außer Ambrosinus ein Rätsel war. Doch hörten gerade die Weisheit des Druiden und sein ungeheures Wissen über Welt und Natur nicht auf, ihn ständig neu zu erstaunen, auch wenn der geheimnisvolle Aspekt seiner Persönlichkeit ihn andererseits sehr beunruhigte. Nachdem die Begeisterung über seine Befreiung und die Wiedervereinigung mit seinen Kameraden abgeklungen waren, wuchs in ihm die Sorge um die Männer, ja, er empfand ihnen gegenüber beinahe ein Gefühl der Schuld. Sie hatten ihr Geschick voll und ganz an das eines Herrschers ohne Land und Volk gebunden, an ihn, einen armen Jungen, der ihnen diese Dankesschuld niemals vergelten könnte.
Doch fühlten sich Vatrenus, Batiatus und die anderen in Wirklichkeit immer stärker miteinander verbunden, nicht so sehr eines bestimmten Ziels oder eines Vorhabens wegen, das es zu realisieren galt, sondern allein aus dem Grund, daß sie zusammen unter Waffen standen und sich auf einem Marsch befanden. Sie beunruhigte lediglich die nervöse Spannung und der oft abwesende, nachdenkliche Gesichtsausdruck ihres Anführers Aurelius, den sie nicht verstanden und dessen Ursprung sie sich nicht erklären konnten. Auch Livia war sich dessen bewußt, wobei ihr Gefühl der Beunruhigung sehr viel tieferen, persönlichen Gründen entsprang.
Eines Abends ging sie zu Aurelius, während er auf Wache an der Bootsreling stand und dabei zusah, wie das Schiff das graue Wasser des Rheins durchpflügte.
»Machst du dir Sorgen?« fragte sie.
»Ständig. Wir befinden uns auf dem Weg in ein völlig unbekanntes Land.«
»Laß doch diese Gedanken. Wir sind alle beisammen und stellen uns gemeinsam dem, was uns erwartet. Ist das etwa kein Trost für dich? Als du damals mit Romulus in den Bergen warst, da war ich beunruhigt und versuchte im Geist, jeden eurer Schritte nachzuvollziehen. Ich stellte mir vor, wie ihr in den Wäldern unterwegs wart, von euren Feinden gehetzt und den Unbilden des Wetters ausgesetzt.«
»Auch ich dachte viel an euch ... vor allem an dich.«
»An mich?« fragte Livia und suchte seinen Blick.
»Wie ich immer an dich gedacht habe und wie ich dich immer begehrte, seit damals, als ich dich zum ersten Mal sah. Wie eine Waldgöttin hast du in dieser Quelle auf dem Apennin gebadet, und jeden Augenblick litt ich, den ich von dir getrennt war.«
Livia spürte, wie ihr ein Schauer über die Haut lief, der nicht vom Nordwind hervorgerufen wurde. Plötzlich und unerwartet hatte Aurelius sein Herz einen Spaltbreit aufgetan und offenbarte ihr seine Gefühle.
»Warum hast du dich nie vorher geöffnet?« fragte sie ihn. »Warum mir nicht erlaubt, deine Empfindungen zu erkennen? Immer, wenn ich es versuchte, hast du mich abgewiesen und mir damit jeden Zugang zu deinem Herzen verwehrt. Mein Leben hat keinen Sinn, wenn ich fern von dir bin. Ich weiß, auch ich habe einen Fehler begangen, als ich mir nicht eingestand, wie sehr ich dich schon vom ersten Augenblick an geliebt habe. Ich habe mich auch gegen dieses Gefühl gewehrt, es sogar vor mir selbst geheimgehalten. Ich befürchtete, es könnte mich schwach und verletzlich machen, während ich doch in meinem Leben lernen mußte, niemals irgendwelche Schwächen zu zeigen.«
»Ich wollte dich nicht zurückweisen«, antwortete Aurelius. »Ich hatte auch keine Angst, dir mein Herz zu öffnen. Ich fürchtete lediglich das, was du darin siehst. Du weißt nicht, was sich alles in meinem Inneren abspielt, wieviel Leid ich empfinde und wie sehr ich gegen meine eigenen Gespenster ankämpfen muß. Wie kann ich mich an einen anderen Menschen binden, da doch mein Inneres so gespalten ist? Ich lebe ständig in der Furcht, daß mich die Erinnerungen überfallen und mein Wesen verändern, mich zu einem Fremden werden lassen, vielleicht einem verabscheuenswerten, nichtswürdigen Subjekt. Verstehst du, was ich sage?«
Livia lehnte den Kopf an seine Schulter, während sie nach seiner Hand suchte. »Ganz so ist es nicht. Du wirst für mich immer so sein, wie ich dich sehe und kenne. Wenn ich in deine Augen sehe, so sehe ich einen guten, großmütigen Menschen. Dann brauche ich keinen Beweis mehr dafür, daß du tatsächlich der bist, für den ich dich halte. Oder ob es dein Antlitz war, das sich in mein Gedächtnis eingeprägt hat, als ich ein kleines Mädchen war. Was deine Vergangenheit auch immer verbirgt, es interessiert mich nicht, gleichgültig, was immer es auch sei.«
Aurelius erhob sich und schaute ihr in die Augen, sein Blick war gramerfüllt. »Was immer es auch sei? Weißt du überhaupt, was du da redest?«
»Es bedeutet, daß ich dich liebe, Soldat, und dich immer lieben werde, ganz gleich, welches Los uns das Schicksal auferlegt. Liebe ist furchtlos und gibt uns die Kraft, den Widrigkeiten des Lebens die Stirn zu bieten, jeden Schmerz und jede Enttäuschung zu überwinden. Hör auf, dich zu quälen! Alles, was ich von dir wissen will, ist, ob du für mich auch so empfindest wie ich für dich.«
Aurelius schloß sie in seine Arme und küßte sie. Mit verdurstenden Lippen suchte sein Mund den ihren, und er preßte sie an sich, als wollte er mit seinem Körper zum Ausdruck bringen, was er mit Worten nicht zu sagen vermochte. »Ich liebe dich, Livia«, sagte er, »mehr als du dir vorstellen kannst. Und die Leidenschaft, die ich in diesem Moment in meinem Herzen verspüre, ist so groß, daß sie allen Schnee und alles Eis, das uns umgibt, zum Schmelzen bringt. Selbst wenn sich alles gegen uns richten sollte, selbst wenn die Zukunft ein ebenso beängstigendes Geheimnis birgt wie meine Vergangenheit, so liebe ich dich. Ich liebe dich mehr, als je einer dich auf Erden oder im Reich der Unterwelt lieben wird.«
»Warum jetzt?« fragte ihn Livia. »Warum hast du diesen Moment gewählt?«
»Weil du bei mir bist und weil meine Einsamkeit auf diesem eiskalten Wasser und in diesem gestaltlosen Nebel unerträglich ist. Halt mich fest, Livia, gib mir die Kraft zu glauben, daß uns nie mehr etwas trennen kann.« Livia fiel ihm um den Hals, und lange hielten sie sich in dem schwachen, winterlichen Licht eng umschlungen, während ihnen der Wind die Haare verwehte und zu einer einzigen braunen Wolke verschmolz.
Nun war der vorletzte Tag ihrer Schiffsreise angebrochen, und besorgt blickte der Bootsführer auf die im Fluß schwimmenden Eisklumpen.
»Deine Bedenken waren nicht unbegründet«, sagte Ambrosinus, als er zu ihm trat. »Der Fluß friert tatsächlich zu.«
»Leider«, antwortete der Bootsführer. »Aber zum Glück haben wir unser Ziel fast erreicht. Morgen werden wir gegen Abend vor Anker gehen. Ich kenne einen Bootsverleiher in dem germanischen Hafen, der am Ostufer gelegen ist, der kann euch bis zur Mündung mitnehmen. Doch wenn die Dinge so liegen, wie es scheint, wird die Schiffahrt bestimmt zum Erliegen kommen, bis das Eis wieder geschmolzen ist.«
»Wann wird das sein? Im Frühling?«
»Nicht unbedingt. Auch im Winter schwanken gelegentlich die Temperaturen. Am besten, ihr sucht euch eine Bleibe und wartet ab. Die Kälte könnte vorübergehend sein, dann habt ihr die Möglichkeit, die Fahrt bis zum Ozean auf einem anderen Schiff fortzusetzen. Von dem Hafen dort jedenfalls könnt ihr leicht und ohne Schwierigkeiten an einem Tag, an dem die See ruhig ist, nach Britannien übersetzen.«
Am Abend gingen sie am rechten Ufer gegenüber der Stadt Argentoratum vor Anker. Gerade noch rechtzeitig, da der Wind aus Nordwesten wieder aufzufrischen begann und stetig stärker und kälter blies. Es bildeten sich immer mehr und kompaktere Eisklumpen, die mit dumpfem Geräusch gegen die Seitenwände des Bootes stießen. Mitleidig blickte der Bootsführer auf die versprengte Schar der Flüchtlinge. Welche Möglichkeiten blieben ihnen in einem Land, dessen Straßen und sichere Wege sie nicht kannten, mitten im Winter, der immer weiter voranschritt und Schnee und Eis, Stürme und Hunger mit sich brachte? Er trat zu Ambrosinus, der zu seiner Geldbörse griff, um ihn zu bezahlen, und sagte: »Laß nur. Ich hatte das Glück, meinen Transport gut zu Ende zu bringen. Der Nordwind brachte mich schneller wieder nach Hause, als ich mir erhofft habe. Behalte dein Geld, das euch nützlich sein kann. Diese Nacht könnt ihr noch auf meinem Boot verbringen, das wahrscheinlich sicherer und bequemer ist als jede Taverne in der Stadt. Außerdem fallt ihr so nicht weiter auf. Eure Feinde könnten bereits hier in der Gegend sein.«
»Ich danke dir«, antwortete Ambrosinus, »auch im Namen meiner Kameraden. In unserer Lage ist ein Freund das Kostbarste, was man sich wünschen kann.«
»Aber was werdet ihr morgen tun?«
»Meine Absicht war es, zum anderen Ufer überzusetzen, wo unsere Feinde keine Unterstützung erwarten können. Dort finden wir sicher die eine oder andere hilfreiche Hand. Wir machen uns also auf den Weg zur Seine, um dann auf ihr flußabwärts mit einem Schiff bis zum britannischen Kanal zu fahren.«
»Das scheint mir eine gute Lösung zu sein.«
»Könntest du uns vielleicht noch nach Argentoratum auf der anderen Flußseite übersetzen?«
»Das kann ich nicht, aus mehreren guten Gründen. Einerseits erwarte ich eine Fuhre Tierhäute aus dem Landesinneren, zum anderen haben wir Gegenwind. Und das Eis, das auf dem Strom schwimmt, bringt uns in Gefahr zu kentern. Besser ist, ihr geht am Ufer entlang und überquert den Fluß weiter vorn, sofern ihr eine Furt findet. Oder wenn morgen die Temperaturen steigen, gibt es sicher ein Fährboot, das euch auf die andere Seite bringt.«
Ambrosinus nickte, dann scharte er seine Gefährten um sich und erklärte ihnen die Vorhaben für den nächsten Tag. Sie beschlossen, daß auf jeden Fall einer von ihnen Wache halten sollte. Vatrenus stellte sich für die erste Runde zur Verfügung und Demetrios für die zweite. »Ich habe so oft bei Schnee und Eis auf der Donau Wache geschoben«, sagte Demetrios. »Daran bin ich gewöhnt.«
Als sich die Dunkelheit herabsenkte, ging der Bootsführer von Bord, kehrte erst spät in der Nacht wieder zurück und meldete sich mit einem Rufzeichen bei Vatrenus, der sehr auf der Hut war. Juba, der auf dem Vorschiff an die Reling gebunden war und zudem Fußfesseln trug, schnaubte leise. In diesem Augenblick erschien Livia mit einer Schüssel dampfender Suppe für Vatrenus und fütterte auch das Pferd mit ein paar Handvoll Gerste aus einem Sack.
»Wo sind die anderen?« fragte der Bootsführer.
»Unter Deck. Gibt es etwas Neues?«
»Leider ja«, sagte er. »Komm rasch nach.« Dann stieg er mit der Laterne in der Hand in das Schiffsinnere.
Livia folgt ihm kurz darauf, und der Bootsführer begann: »Ich bringe keine erfreulichen Nachrichten. Es sind Fremde im Ort eingetroffen, die nach der Beschreibung und ihrem Verhalten eure Verfolger sein könnten. Sie fragen nach einer Gruppe von Fremdlingen, die sich angeblich heute abend ausgeschifft haben. Es besteht also kein Zweifel, daß nach euch gesucht wird. Wenn ihr an Land geht, wird man euch sicher bald ausmachen. Sie versprechen jedem Geld, der ihnen Informationen liefert, und an diesem Ort gibt es eine Menge Leute, die für eine Handvoll Münzen ihre eigene Mutter verkaufen würden, das könnt ihr mir glauben. Außerdem hörte ich, daß zwanzig Meilen weiter nach Norden der Fluß zugefroren ist. Selbst wenn ich wollte, könnte ich euch nicht dorthin bringen.«
»Ist das alles?« fragte Ambrosinus.
»Mir scheint, das reicht«, bemerkte Batiatus.
»Ja, das ist alles«, bestätigte der Bootsführer. »Dabei muß auch berücksichtigt werden, daß dieses Schiff leicht wiederzuerkennen ist, da sie es direkt aus der Nähe gesehen haben. Mit dieser Salzladung mitten auf Deck ist es unverwechselbar. Jetzt herrscht dunkle Nacht und keiner sieht etwas, aber morgen, wenn es hell ist, werden sie nicht lange brauchen, um uns zu finden. Deshalb werde ich noch vor Sonnenaufgang die Fracht löschen und neue aufnehmen. Gleich anschließend lege ich wieder ab, da ich nicht möchte, daß sie mein Schiff anzünden. Nie hätte ich gedacht, daß sie zur gleichen Zeit einträfen wie wir. Sie müssen fast ständig im Sattel gesessen haben, ganz ohne Schlaf. Vielleicht aber haben sie auch ein schnelleres Schiff als diesen Lastkahn hier, zu Hilfe genommen. Falls wir uns eines Tages in irgendeinem Teil der Welt wiedersehen sollten, würde ich mir gern von euch erklären lassen, wozu eure zähe Hartnäckigkeit diente, doch jetzt gibt es Wichtigeres zu entscheiden. Und zwar, wie ihr eure Haut retten könnt.«
»Kannst du uns ein paar Ratschläge geben?« fragte Aurelius. »Du kennst die Orte und Leute hier besser als wir.«
Der Bootsführer breitete die Arme aus.
»Vielleicht habe ich eine Idee«, sagte Ambrosinus. »Aber wir brauchen einen Karren. Sofort.«
»Einen Karren? Zu dieser nächtlichen Stunde ist das gar nicht so einfach, aber ich weiß, wo sie welche vermieten. Eigentlich müßtet ihr ihn zwanzig Meilen von hier wieder abgeben, aber das sind Verluste, die sie mit einbeziehen. Ihr Verdienst reicht hin, daß sie nach zwei oder drei Fahrten wieder auf ihre Kosten kommen, also macht euch darum keine allzu großen Sorgen. Ich werde nachsehen, und ihr haltet euch bereit ... Darf ich fragen, was ihr mit dem Karren vorhabt?«
Verlegen senkte Ambrosinus den Kopf. »Es ist besser, wenn du es nicht weißt. Du verstehst doch hoffentlich, wie ich das meine, nicht wahr?« Der Bootsführer nickte, dann ging er wieder hinauf auf das Deck. Kurz darauf war er schon im Labyrinth der Gassen verschwunden, die um den Hafen verliefen.
»Was hast du vor?« fragte Aurelius.
»Wir machen das, was die Franken vor dreißig Jahren taten. Wir fahren über das Eis auf die andere Seite.«
»In der Nacht und ohne zu wissen, ob uns das Eis auch trägt?« fragte Batiatus mit weit aufgerissenen Augen.
»Wenn einer eine bessere Idee hat, so gebe er sie kund«, antwortete Ambrosinus.
Alle schwiegen still.
»Dann ist es also abgemacht«, schloß Ambrosinus. »Bereitet eure Sachen vor, und dann muß einer nach oben gehen und Vatrenus benachrichtigen.« Demetrios meldete sich, um die Botschaft zu überbringen, doch plötzlich sprang Romulus auf und kam ihm zuvor. »Laßt mich gehen. Ich werde ihm noch etwas Suppe bringen.«
Romulus war erst kurze Zeit oben auf Deck verschwunden, als plötzlich wilder Tumult zu hören war und Vatrenus mit lauter Stimme rief: »Bleib stehen, bleib doch stehen! Wo willst du denn hin!«
Als Ambrosinus klar war, was da oben vor sich ging, rief er so laut er nur konnte: »Lauft, um Gottes willen, lauft alle!« Mit riesigen Schritten hastete Aurelius nach oben auf Deck, gefolgt von Livia und Demetrios. Inzwischen war Vatrenus bereits auf die Mole gesprungen und rief, während er eilends weiterrannte: »Bleib stehen! Bleib stehen, habe ich gesagt!«
Die anderen liefen hinter ihm her, bis sie schließlich an drei Straßen gelangten, die in drei verschiedene Richtungen führten.
»Vatrenus folgte der mittleren Straße«, sagte Demetrios. »Derweil gehe ich nach rechts, während du und Livia die linke Straße einschlagt. Und dann werden wir uns, so bald wie möglich, hier wieder treffen«. In einiger Entfernung war das Geräusch aufgeregter Schritte zu hören, dazu Vatrenus Stimme, der immer wieder nach Romulus rief. Alle nahmen an der Verfolgung teil. Schon bald fand sich Aurelius an einer Weggabelung wieder. »Dorthin«, sagte er zu Livia. »Ich gehe in diese Richtung.« Demetrios lief indessen eine leicht ansteigende Straße entlang, von der er annahm, daß sie parallel zu der Straße verlief, die Vatrenus entlang gerannt war. Er suchte überall, blickte in jeden Winkel, doch in den nachtdunklen Gefilden kam es ihm vor, als suche er nach einer Nadel im Heuhaufen. Livia und Aurelius hatten auch nicht mehr Glück. Keuchend blieben sie schließlich an einer Kreuzung stehen.
»Warum hat er das bloß getan?« fragte Livia.
»Verstehst du denn nicht? Er will nicht, daß wir für ihn noch weitere Mühen und Gefahren auf uns nehmen. Er glaubt, er sei für uns eine gefährliche Last, und will sich deswegen selbst aus dem Weg räumen.«
»Mein Gott, nein!« rief Livia, während sie nur mit Mühe die Tränen zurückhalten konnte.
»Wir suchen weiter«, sagte Aurelius. »Weit kann er nicht gekommen sein.«
Romulus hatte unterdessen einen kleinen Platz erreicht, an dem sich eine Taverne befand, und blieb stehen. Für einen Augenblick überlegte er, ob er dort eintreten und sich gegen Kost und Logis als Bursche zum Saubermachen und als Tellerwäscher verdingen sollte. Er fühlte sich sehr allein, und die Entscheidung, die er über seine Zukunft getroffen hatte, machte ihn verzweifelt und ängstlich. Dennoch war er sicher, das Beste getan zu haben. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und schickte sich an, durch die Tür zur Taverne zu treten, als diese sich weit öffnete und im Licht der Laterne den Blick auf einen von Wulfilas Barbaren freigab. Ihm folgten noch drei weitere, und es sah ganz so aus, als wollten sie auf seine Seite herüberkommen. Zu Tode erschrocken, machte Romulus kehrt, um davonzulaufen, stieß aber gegen jemanden, der ihm in den Weg getreten war. Er fühlte nur noch, wie ihn eine Hand an der Schulter packte und eine andere ihm den Mund verschloß. Noch verängstigter tat er alles, um sich diesem Griff zu entwinden, als eine vertraute Stimme zu ihm sagte: »Pscht! Ich bin's, Demetrios. Halt doch still. Wenn die uns sehen, ist alles aus.«
Und so wichen sie, ohne das kleinste Geräusch zu machen, langsam zurück, dann zog ihn Demetrios im Laufschritt hinter sich her in Richtung Hafen. Ambrosinus wartete bereits dort auf sie und hielt sich, das Gesicht vor Angst ganz verzerrt, an der Reling fest, während die Gefährten hilflos um ihn herumstanden.
»Was hast du nur angestellt!« rief er aus, sobald er ihn sah, und hob die Hand, um ihm eine Ohrfeige zu geben. Doch Romulus blickt ihm fest und ohne mit der Wimper zu zucken in die Augen. Als Ambrosinus den würdevollen Blick und die Erhabenheit seines Herrschers wahrnahm, hielt er sogleich inne und beugte sein Haupt. »Du hast unser aller Leben in Gefahr gebracht. Livia, Vatrenus und Aurelius suchen noch immer nach dir, und jeder Augenblick erhöht die Gefahr, in der sie sich befinden.«
»Das ist wahr«, bestätigte Demetrios. »Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre mit Wulfilas Männern zusammengestoßen. Sie sind in der Stadt unterwegs, offensichtlich suchen sie uns.«
Romulus brach in Tränen aus und rannte unter Deck, um sich irgendwo zu verstecken.
»Sei nicht zu streng mit ihm«, sagte Demetrios. »Er ist doch noch ein Junge und fühlt sich sicher ganz schrecklich. Dabei muß er sich mit Entscheidungen herumschlagen, die weit größer sind als er.«
Ambrosinus seufzte und ging wieder zur Reling, um nach den anderen zu schauen, als die Stimme des Bootsführers an sein Ohr drang. »Ich habe einen Wagen gefunden«, sagte er, während er über den Steg auf das Schiff stieg. »Ihr habt Glück. Aber ihr solltet euch beeilen, der Verleiher will seinen Laden schließen und zu Bett gehen.«
»Es gab leider einige Schwierigkeiten«, antwortete Demetrios. »Ein paar von uns sind unterwegs in der Stadt.«
»Schwierigkeiten? Was denn für Schwierigkeiten?«
»Ich werde mit dir gehen«, sagte Ambrosinus. »Ihr anderen wartet hier, aber daß sich um Himmels willen niemand wegrührt, bis ich wieder da bin.«
Demetrios nickte und blieb als Wachtposten zurück, um zusammen mit Orosius und Batiatus auf die Freunde zu warten. Als erster traf Vatrenus ein und dann, einige Zeit später, Livia, gefolgt von Aurelius. Sie fühlten sich erschöpft und niedergeschlagen.
»Beruhigt euch«, sagte Demetrios. »Ich habe ihn wie durch ein Wunder gefunden. Er wollte in eine Taverne hineingehen, glaube ich. Es hätte nicht viel gefehlt, und wir wären Wulfilas Halsabschneidern in die Hände gefallen.«
»In eine Taverne?« fragte Aurelius. »Und wo ist er jetzt?«
»Unter Deck. Ambrosinus hat ihn gescholten.«
»Ich gehe zu ihm«, meinte Livia und verschwand unter Deck.
Romulus saß zusammengekauert in einer Ecke und hatte den Kopf auf die Knie gestützt; er weinte leise vor sich hin. Livia trat zu ihm und berührte ihn leicht. »Vor lauter Angst um dich sind wir fast gestorben«, sagte sie. »Tu das nie wieder, ich bitte dich. Nicht du brauchst uns. Wir brauchen dich, verstehst du denn nicht?«
Romulus hob das Gesicht und trocknete sich mit dem Saum seiner Tunika die Tränen ab. Dann stand er auf, und ohne ein Wort zu sagen umarmte er sie, während von draußen der Klang von Wagenrädern hereindrang, die über das Kopfsteinpflaster ratterten.
»Komm jetzt«, sagte Livia, »und nimm deine Sachen. Es ist Zeit, das Weite zu suchen.«
XXX
Der Karren stand bereits auf der Hafenmole, als Ambrosinus dem Fuhrmann den Mietpreis abzüglich der Kosten für das Zugtier bezahlte. »Wie du siehst«, sagte er, »besitzen wir selber ein Pferd.« Und tatsächlich führte in diesem Augenblick Aurelius Juba am Halfter vorsichtig den Steg herab, um ihn gegen den mageren Klepper zwischen der Deichsel auszutauschen.
»Bei allen Heiligen«, sagte der Fuhrmann, »dieses Tier ist als Zugpferd die reinste Verschwendung. Wenn du es mir überläßt, gebe ich dir zwei meiner eigenen Gäule dafür. Was hältst du davon?«
Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, begann Aurelius, das Zaumzeug am Hals seines Pferdes zu befestigen.
»Das Tier ist wie ein Bruder für ihn«, sagte Demetrios zum Fuhrmann. »Würdest du etwa deinen Bruder gegen zwei Klepper tauschen ?«
Der Fuhrmann kratzte sich am Kopf. »Da müßtest du einmal meinen Bruder sehen, den könntest du höchstens gegen einen Esel eintauschen.«
»Beeilen wir uns«, mahnte Ambrosinus. »Je früher wir losfahren, desto besser.« Nachdem sich die anderen vom Bootsführer verabschiedet und bei ihm bedankt hatten, bestiegen sie den Karren, ließen sich auf den Bodenbrettern nieder und lehnten sich gegen die Seitenwände. Ein Wachstuch, das über das Gestänge aus Weidenholz gespannt war, verbarg nicht nur die Insassen, sondern bot ihnen auch ein wenig Schutz. Livia kauerte sich neben Romulus unter der Decke zusammen. Aurelius schaute von hinten herein. »Ich gehe zu Fuß«, sagte er. »Da Juba es nicht gewohnt ist, einen Wagen zu ziehen, fürchte ich, er könnte scheuen. Versucht ihr inzwischen, euch ein wenig auszuruhen.«
Ambrosinus gab dem Bootsführer die Hand. »Wir sind dir sehr dankbar«, sagte er zu ihm. »Wir verdanken dir unser Leben und das, obwohl wir nicht einmal deinen Namen kennen.«
»Um so besser, dann braucht ihr euch eine Sache weniger zu merken. Es war eine schöne Überfahrt, und es gefiel mir, Gesellschaft zu haben. Normalerweise mache ich diese Reise immer mutterseelenallein. Wenn ich recht hörte, willst du über das Eis gehen.«
»Ich glaube, wir haben keine andere Wahl«, gab Ambrosinus zu.
»Das meine ich auch. Aber seid vorsichtig. Am dicksten ist das Eis immer an der Stelle, wo der Fluß am langsamsten fließt. Also liegt auf den geraden Abschnitten die größte Gefahr in der Mitte, in den Biegungen dagegen an den Außenseiten. Geht einer nach dem anderen hinüber und laßt als letztes das Pferd mit dem leeren Karren gehen. Wenn ihr erst auf der anderen Seite seid, schlagt den Weg nach Nordwesten ein. Innerhalb einer Woche könnt ihr die Seine erreichen, wenn das Wetter nicht gar zu schlecht ist. Danach wird alles leichter werden, so hoffe ich zumindest. Gott stehe euch bei.«
»Dir auch, mein Freund. Eines Tages wirst du vielleicht von diesem Knaben hören, den du erlebtest, als er umherirrte und verfolgt wurde, und dann wirst du stolz sein, ihn kennengelernt und ihm geholfen zu haben. Gute Reise.«
Sie verabschiedeten sich mit einem letzten Händedruck, dann bestieg Ambrosinus mit Hilfe von Orosius den Wagen, der dessen hintere Wand hochklappte und an beiden Seiten befestigte. Dann sagte Demetrios zu Aurelius: »Nun sind wir alle bereit.« Quietschend und ratternd setzte sich das Gefährt auf dem Kopfsteinpflaster der Mole in Bewegung und verschwand in der Dunkelheit.
Sie fuhren die ganze Nacht hindurch und legten etwa fünfzehn Meilen zurück, während sie sich dabei abwechselten, Juba am Zügel zu führen. Doch später, als sich das Pferd an den Wagen gewöhnt hatte, setzte sich Aurelius auf den Kutschbock, von wo aus er es nur noch mit seiner Stimme und dem Zaumzeug lenkte. Zu ihrer Linken formte sich der Fluß immer mehr zu einer weißen Kruste, die schließlich zu einer gleichmäßig dicken Eisplatte wurde und von einem Ufer zum anderen reichte. Die Kälte war schneidend. Während der Nacht hatte sich der Nebel in Rauhreif verwandelt, der über Sträucher und Schilf, Ufergras und Büsche ein Netz aus bizarrer Spitze warf. Der Himmel hatte einen Schleier aus hohen, spärlichen Wolken um sich gelegt, durch die von Zeit zu Zeit die ersten Strahlen der Sonne blitzten und nicht weit über dem Horizont eine verschwommene, weißliche Aureole bildeten.
Alle fühlten sich unbehaglich. Das Fahrzeug, das ihnen zur Verfügung stand, verbarg sie zwar vor den Blicken der Menschen, war aber sehr langsam und nicht besonders stabil. Außerdem wartete noch immer das größte Risiko auf sie: die Überquerung des Flusses. Der vermeintliche Vorteil, daß ihnen das Morgenlicht eine bessere Sicht gewährte, erwies sich in Wirklichkeit als hinfällig, denn das vom Himmel ausgesandte Licht wurde von dem Schnee und dem Eis so diffus widergespiegelt, daß die Umrisse aller Gegenstände ineinander verschwammen und die gesamte Landschaft in milchig helles Weiß getaucht war. Nur Menschen und Tiere traten deutlich erkennbar daraus hervor. Doch nur selten begegneten sie einigen Bauern und ihren Lasttieren, die mit Reisig und Brennholz beladen waren, oder ein paar einsamen Wanderern, die sich zumeist als zerlumpte Bettler herausstellten. Das Krähen der Hähne aus den in der Landschaft verstreuten Bauernhöfen kündigte den neuen Tag an, und ab und zu hörte man Hundegebell, das in dem unendlich leeren, kalten Raum wie ein unheimliches Klagelied widerhallte.
Ein paar Meilen fuhren sie noch weiter, dann hielten sie an einer Stelle an, an der sich der Fluß stark verengte und der Damm nicht allzu hoch über das Flußbett emporragte. Hier bot sich ihnen ein leichterer Zugang. Also faßten sie den Entschluß, daß zwei Männer, geschützt durch ein Sicherungsseil, zu Fuß die Festigkeit des Eises prüfen sollten, damit der eine der beiden, falls er im Wasser versank, von dem anderen wieder herausgezogen werden konnte. Aurelius und Batiatus, die mit ihrer kräftigen, hochgewachsenen Statur einander sicheren Halt bieten konnten, erklärten sich zu dem Unterfangen bereit. Unter dem besorgten Blick ihrer Kameraden wagten sich beide auf die Eisfläche vor und klopften mit ihren Speerstangen die Oberfläche ab, um vorn Klang her die Dicke des Eises festzustellen. Innerhalb kurzer Zeit waren sie fast bis zur Mitte des Flusses vorgedrungen und schienen aus dem Blickwinkel ihrer Kameraden immer kleiner zu werden. Dort war der kritische Punkt, der Teil, an dem sich das Eis zuletzt verfestigt hatte, und so beschloß Aurelius, zur besseren Prüfung sein Schwert dort hineinzustoßen. Fest hielt er es mit beiden Händen umfaßt, bevor er es mit aller Gewalt ins Eis hineinbohrte, so daß die wie Kristall glitzernden Stücke nach allen Seiten davonstoben.
Er kam etwa bis auf einen Fuß hinab in die Tiefe, und mit einem letzten Stoß versenkte er die Klinge im Wasser.
»Einen Fuß tief!« rief er zu dem hinter ihm stehenden Batiatus.
»Wird das reichen?« erwiderte der Äthiopier.
»Es muß reichen, da wir hier nicht allzu lange ohne Deckung verweilen sollten. Dort drüben hat man uns schon bemerkt, sieh nur!« Und er deutete auf ein paar Menschen, die am Ufer stehengeblieben waren, um sich das seltsame Gebaren der Fremdlinge anzusehen. Rasch kehrte er zurück, um sich mit seinen Kameraden zu beratschlagen, dann machten sich alle im Abstand von wenigen Schritten auf den Weg.
»Beeilen wir uns«, sagte Ambrosinus. »Wir stehen hier allzusehr in der Schußlinie, und ein jeder, der über uns Bescheid weiß, kann uns hier sehen.«
Der Bootsführer, der gehofft hatte, zu diesem Zeitpunkt bereits in Richtung Süden unterwegs zu sein, befand sich in einer völlig anderen Lage. Das Salz zu löschen, hatte sehr viel mehr Zeit in Anspruch genommen als vorgesehen, da die Kristalle lange der Feuchtigkeit ausgesetzt und nun zusammengeklumpt waren. So hatte er seine Arbeit noch nicht beendet, als Wulfilas Männer auf die Mole stürmten und die vor Anker liegenden Schiffe zu kontrollieren begannen. Sie brauchten nicht lange, um das mit der Salzladung auszumachen, obwohl nur noch wenig davon auf der Brücke lag. Mit gezogenen Schwertern stürzten sie an Bord.
»Halt, stehenbleiben! Wer seid ihr?« rief der Bootsführer. »Ihr habt nicht das Recht, auf mein Schiff einzufallen.«
In diesem Augenblick trat Wulfila auf den Plan und befahl seinen Männern, ihm das Maul zu stopfen und ihn unter Deck zu bringen.
»Tu nicht so, als ob du uns nicht wiedererkennst!« fing er an. »Wir haben uns vor etwa zehn Tagen das letzte Mal gesehen, und ich bin sicher, du hast mein Gesicht nicht vergessen, oder doch?« Er näherte sich ihm und verzog dabei sein maskenhaftes Narbengesicht zu einem Grinsen. »Wir haben damals einen Abtrünnigen und Mörder verfolgt, der mit seinem Pferd auf dein Schiff gesprungen ist. Er hatte einen Jungen dabei, nicht wahr?«
Der Bootsführer sah sich bereits verloren, da er keine dieser Behauptungen abstreiten konnte. »Seine Freunde hatten ihn hier erwartet«, antwortete er. »Sie haben mich für die Fahrt bezahlt und sich immer gut benommen. Ich konnte nicht ...«
»Schweig! Diese Männer werden wegen übelster Delikte gesucht, die sie im Staatsgebiet des Imperiums begangen haben. Sie haben den Jungen geraubt, den wir jetzt zu befreien suchen, um ihn seinen Eltern zurückzubringen. Hast du verstanden?«
Einen Augenblick lang war sich der Bootsführer im Zweifel, ob dieser Narbengesichtige die Wahrheit sagte, vor allem, wenn er an Romulus plötzliche Flucht und die hektische Suche nach ihm in der vorangegangenen Nacht dachte. Doch dann erinnerte er sich, wie freundlich und liebevoll sich seine Reisegefährten ihm gegenüber verhalten hatten und der Knabe diese Zuneigung auch erwiderte. Also quetschte er nur zwischen den Zähnen hervor: »Warum sollte ich mich um den Lebenslauf all der Leute kümmern, die mein Schiff betreten? Mir reicht es, wenn sie mich bezahlen und mir keinen Ärger machen. Und genau das haben die getan. Alles andere geht mich nichts an, und ich will es auch nicht wissen. Ich muß jetzt heimfahren, und darum ...«
»Du gehst erst, wenn ich es dir erlaube!« schrie Wulfila und versetzte ihm mit dem Handrücken einen Schlag. »Erst wirst du mir sagen, wohin sie gegangen sind, oder du wirst es bereuen, daß du je geboren wurdest!«
Zu Tode erschrocken und mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte der Mann, seine Schinder davon zu überzeugen, nichts zu wissen, aber er war auch nicht bereit, sich ihrer Folter auszusetzen. Zunächst tat er alles, um den Faustschlägen und Fußtritten zu widerstehen, und er biß, als sie ihm die Arme auf den Rücken drehten, bis sie beinahe brachen, fest die Zähne aufeinander, um jeden Schmerzensschrei zu ersticken. Das tat er auch noch, als ihm das Blut aus seinen geplatzten Lippen strömte und von der gequetschten Nase herunterrann, doch als er erkannte, daß Wulfila nach seinem Dolch griff, gab er in panischer Angst schlagartig jeden Widerstand auf. Er sagte: »Heute nacht sind sie mit einem Karren nach Norden gefahren ...«
Mit einem Fußtritt streckte ihn Wulfila zu Boden, dann steckte er seinen Dolch wieder weg. »Bitte deinen Gott, daß wir sie finden, andernfalls werde ich wiederkommen und dich bei lebendigem Leib mitsamt deinem Kahn verbrennen.«
Er beauftragte zwei Männer, ihn zu bewachen, dann sprang er auf die Mole hinab, bestieg sein Pferd und galoppierte nach Norden. Seine Männer folgten ihm.
»Da sind Spuren von Wagen und Pferd zu erkennen«, rief einer der Krieger, nachdem sie die Stadt verlassen hatten. »Gleich wird sich herausstellen, ob es ihre sind.« Er ließ sich zu Boden gleiten und untersuchte, wie tief sich die Spuren von Jubas Hufen im Schnee abgedrückt hatten. Sofort erkannte er sie wieder. Mit einem zufriedenen Grinsen drehte er sich zu seinem Anführer um. »Sie sind es, das Schwein hat die Wahrheit gesagt.«
»Endlich!« rief Wulfila aus. Er zog sein Schwert aus der Scheide und ließ es, die Faust hoch emporgereckt, unter den Jubelrufen seiner Männer in der Luft erglänzen. Dann gab er seinem Pferd die Sporen und sprengte im Galopp auf der verschneiten Straße davon.
Unterdessen war es Aurelius gelungen, seine Kameraden sicher ans andere Ufer zu bringen, nur er blieb zurück, um Juba mitsamt dem Wagen hinüberzugeleiten. Zu Fuß ging er vor Juba her, wobei er ihn am Zügel hielt und ständig beruhigend auf ihn einredete, um ihm bei dem sonderbaren Marsch über diesen gläsernen Boden, der seinen Hufen keinen Halt bot, Mut zuzusprechen. »Langsam, Juba, langsam, siehst du? Alles in Ordnung, jetzt gehen wir zu Romulus, der wartet da drüben schon auf uns, da, siehst du ihn? Siehst du, wie er uns Zeichen gibt?«
Sie befanden sich in der Mitte des Flusses. Aurelius war wegen Jubas kräftiger Statur und dem Gewicht des Wagens, das hauptsächlich auf den schmalen Eisenbändern um die Räder lastete, stark beunruhigt. Mit gespitzten Ohren versuchte er noch das leiseste Knirschen im Eis wahrzunehmen, das ihm ankündigte, wann sich ein Spalt auftat, der ihn und sein Pferd verschlingen und sie dem eiskalten Wasser überantworten würde. Ein Tod, der ihm panischen Schrecken einjagte. Ab und zu warf er einen Blick auf seine Kameraden auf der anderen Flußseite. Er konnte die Anspannung spüren, die sie peinigte, während sie auf ihn warteten.
»Jetzt, komm!« rief plötzlich Batiatus. »Du bist über den schwächsten Punkt hinweg. Nun mach schon, beeil dich!«
Aurelius beschleunigte seinen Schritt, doch wunderte es ihn, daß seine Kameraden nicht aufhörten, ihm mit immer schrillerer Stimme aufgeregt zuzurufen. Da erfaßte ihn ein furchtbarer Gedanke, also drehte er sich um und entdeckte in einer Entfernung von kaum einer Meile eine geschlossene Gruppe von Reitern, die den Flußdamm entlang galoppierten. Wulfila! Schon wieder er! Wie konnte das sein? Wie nur gelang es diesen Bestien, wie die Gespenster der Hölle ständig aus dem Nichts wieder aufzutauchen? Im Laufschritt zerrte er sein Pferd dem gegenüberliegenden Ufer entgegen, das bereits ganz nahe vor ihnen lag, dann zog er das Schwert und bereitete sich auf den tödlichen Zusammenstoß vor.
Auch die Gefährten stellten sich mit ihren Waffen in der Faust darauf ein, Romulus Flucht zu beschützen.
»Aurelius«, schrie Vatrenus, »mach das Pferd los und flieh mit dem Jungen. Wir werden versuchen, so lange wie möglich Widerstand zu leisten. Geh, geh, bei allen Teufeln!«
Doch Romulus hielt sich an den Speichen der Wagenräder fest und rief: »Nein, ich gehe nicht. Ich will nicht ohne euch gehen! Ich will nicht mehr fliehen!«
»Nimm ihn und geh! Weg! Weg!« rief Vatrenus unaufhörlich und fluchte auf alle Dämonen und Götter, die er nur kannte. Mittlerweile hatten die feindlichen Reiter das gegenüberliegende Ufer erreicht und machten sich bereit, den vereisten Fluß zu überqueren. Wulfila versuchte, sie zurückzuhalten, da er die drohende Gefahr vorhersah, doch drängte der brennende Wunsch, der aufreibenden Verfolgungsjagd ein für allemal ein Ende zu setzen, die Männer dazu, sich wie besessen auf die Eisfläche des Flusses zu stürzen. In diesem Augenblick wandte sich Demetrios an seine Gefährten: »Seht nur, wie sie in geschlossener Gruppe vorrücken. Das Eis wird niemals halten. Wenn wir sofort losmarschieren, sind wir gerettet. Also, hinauf auf den Karren!« Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als sich auch schon unter dem Gewicht der Reiter ein Spalt auftat, der sich durch die hämmernden Hufe der heranpreschenden zweiten Welle von Angreifern in schlängelnden Linien verbreiterte, bis das Eis brach und das Wasser daraus hervorquoll. Immer mehr Reiter rutschten auf dem brüchigen Eis aus und stürzten schwer hernieder, wodurch eine große Platte abplatzte. Wulfila schrie: »Halt! Zurück! Das Eis trägt nicht, zurück!«
»Gehen wir!« rief Aurelius bei diesem Anblick. »Weg! Vielleicht schaffen wir es noch!« In höchster Eile sprangen alle auf den Wagen, während Ambrosinus mit den Zügeln auf Jubas Rücken eindrosch. Wie von Furien gehetzt, fuhren sie davon, doch war ihnen nur ein sehr kurzes Aufatmen vergönnt. Nachdem er seine Männer wieder zurückgetrommelt hatte, ließ Wulfila sie ein Stück weit entfernt nacheinander das Eis überqueren, so daß er die Verfolgung erneut aufnehmen konnte. Gegenüber dem vollbeladenen Karren gewann er schnell an Boden. Rasch verteilte Aurelius beim Erscheinen der Männer die Waffen an seine Kameraden, während Livia sofort einen Pfeil an ihrem Bogen ansetzte und zielte. Gerade, als die Barbaren in Schußweite waren, bemerkte sie, wie diese zusehends langsamer wurden und schließlich ganz stehenblieben. »Was ist denn da los?« sagte Vatrenus.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Aurelius, der erkannte, daß auch der Wagen an Geschwindigkeit verlor, »aber bleibt nicht stehen. Bleibt bloß nicht stehen!« »Ganz einfach ausgedrückt, wir sind gerettet!« rief Ambrosinus. »Seht nur!«
Vor ihnen erhob sich eine Gruppe von Bewaffneten zu Pferde und eine Vielzahl von Infanteristen, die urplötzlich aus dem Nebel aufgetaucht waren. Sie rückten, auf breiter Front verteilt, im Schrittem-po vor und hielten die Waffen in der Faust. Wie vom Donner gerührt, befahl Wulfila seinen Männern anzuhalten und blieb dann in respektvoller Entfernung stehen.
Auch die Truppen, die aus dem Nebel erschienen waren, blieben nun stehen. Ihre Ausrüstung und Feldzeichen ließen keine Zweifel -es waren römische Truppen!
Ein Offizier trat vor. »Wer seid ihr?« fragte er. »Und wer sind die, die euch verfolgt haben?«
»Gott segne euch!« rief Ambrosinus aus. »Wir verdanken euch unser Leben.«
Aurelius salutierte mit militärischem Gruß. »Aurelianus Ambrosius Ventidius«, stellte er sich vor. »Erste Kohorte, Legio Nova Invic-ta.«
»Rufius Elius Vatrenus«, vermeldete wie ein Echo der nächste. »Legio Nova Invicta.«
»Cornelius Batiatus ...«, setzte der äthiopische Riese an.
»Legion?« fragte der Offizier entgeistert. »Legionen gibt es seit einem halben Jahrhundert nicht mehr. Woher kommst du, Soldat?«
»Du kannst ihm glauben, Kommandant«, sagte Demetrios. »Und wenn du uns etwas warme Suppe und einen Becher Wein anbietest, werden wir dir ein paar Geschichten erzählen.«
»In Ordnung«, antwortete der Offizier. »Kommt mit uns.«
Nach ungefähr einer Meile rund um den Hügel standen sie vor einem Lager, das etwa tausend Männer beherbergte. Der Kommandant hieß sie vom Wagen absteigen und brachte sie in sein Zelt. Rasch eilten seine Diener herbei, um ihm das Koppel mit dem Schwert zu öffnen, seinen Helm abzunehmen und einen Feldstuhl hinzustellen. Ein weiterer Untergebener brachte ihnen die gleiche Ration, die auch an die Truppe verteilt wurde, und alle begannen zu essen. Romulus, der sich langsam von der Angst und der Kälte erholte, die seine Glieder hatten erstarren lassen, wollte sich zunächst voller Freude auf das Essen stürzen, paßte sich dann aber dem Verhalten seines Lehrers an und löffelte gleich ihm mit durchgedrücktem Rücken würdevoll seine Suppe.
»Eine buntgemischte Gesellschaft seid ihr da«, hub der Offizier an. »Drei Legionäre, wenn ich euren Worten Glauben schenken darf und, nach dem Barte zu schließen, ein Philosoph. Dazu ein paar Deserteure, so mich meine Ohren nicht trügen, und eine junge Frau mit allzu hochmütigem Benehmen und zu dünnen Beinen, als daß sie zur Bettgefährtin taugte. Zu guter Letzt noch ein Jüngelchen, das kaum einen Hauch von Haarwuchs unter der Nase hat, sich aber so dünkelhaft aufführt wie ein Staatsmann der alten Republik. Ganz zu schweigen von der Schar Halsabschneider, die sich euch an die Fersen hefteten. Was soll ich nur von euch halten?«
Ambrosinus, der diese Fragen bereits vorausgesehen hatte, hatte sofort eine Antwort parat. »Du hast eine scharfe Beobachtungsgabe, Kommandant. Es ist mir klar, daß unser Äußeres Argwohn in dir erweckt, doch wir haben nichts zu verbergen und können alles erklären. Dieser Junge ist das Opfer einer schrecklichen Verfolgung. Als letzter Erbe einer hohen Adelsfamilie wurde er durch die Unverschämtheit eines Barbaren in Diensten der kaiserlichen Armee der Güter seiner Ahnen beraubt. Nicht genug damit, daß dieser Unmensch ihm alles genommen hat - er hat auch auf jede erdenkliche Weise versucht, den Knaben zu töten, damit dieser auch in Zukunft niemals sein Recht auf das väterliche Erbe geltend machen kann. Und so schickte er uns eine Schar gedungener Mörder auf den Hals, die uns seit Wochen nicht in Ruhe lassen und heute sicher ihr Ziel erreicht hätten, wenn du nicht aufgetaucht wärest. Die junge Frau ist die ältere Schwester des Knaben, sie wuchs auf wie eine Amazone, die Camilla und Penthesilea nacheifert. Sie hat es im Umgang mit Bogen und Speer zu unvergleichlicher Meisterschaft gebracht und sich als wackere Verteidigerin ihres jüngeren Bruders erwiesen. Was mich betrifft, so bin ich sein Erzieher. Mit dem Geld, das ich versteckt hatte, habe ich diese tapferen Kämpfer rekrutiert, die ein Gemetzel der Barbaren überlebten, und unser aller Geschick miteinander vereint. Euch im Glanz eurer Waffen, dazu die römischen Feldzeichen im Wind flattern zu sehen und eure Lippen die lateinische Sprache sprechen zu hören, ist ein unsagbarer Trost für uns alle. Wir danken dir aus tiefstem Herzen für unsere Errettung.«
Unter dem Eindruck dieser hervorragend vorgetragenen Rede verstummten sie alle, doch erschien der Kommandant, ein Veteran so zäh wie Leder, dadurch nicht sonderlich berührt zu sein.
So antwortete er bloß: »Mein Name ist Sergius Volusianus, comes regis et magister militum. Wir kommen von einer Mission, die der Unterstützung unserer Verbündeten in Zentralgallien diente, und sind auf dem Rückweg nach Parisii, wo ich unserem Herrn, Syagri-us, dem König der Römer, Bericht erstatten werde. Und im Zuge dessen werde ich auch von der Begegnung mit euch berichten. Von jetzt an steht ihr unter meinem Kommando, und schon zu eurer eigenen Sicherheit erlaube ich euch unter keinen Umständen, diese Abteilung zu verlassen. Das Gebiet, das wir als nächstes durchqueren, ist äußerst gefährlich und häufig plötzlichen Überfällen durch die Franken ausgesetzt. Ich werde euch alle wie Römer behandeln. Und jetzt erlaubt mir, daß ich mich empfehle, unser Abmarsch steht unmittelbar bevor.« Rasch schüttete er noch einen Becher Wein hinunter, dann griff er nach Schwert und Helm und eilte hinaus. Sein Adjutant und seine Diener folgten ihm.
»Was haltet ihr davon?« fragte Ambrosinus.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Aurelius. »Mir scheint, er glaubt die Geschichte, die du ihm erzählt hast, nicht ganz.«
»Die allerdings beinahe der Wahrheit entspricht.«
»Dieses >beinahe< ist auch ein Problem. Hoffen wir das Beste. Doch wie immer dem auch sei, wir sind jetzt in einer weit besseren Lage und können uns, zumindest vorläufig, in Sicherheit wiegen. Dieser Kommandant ist bestimmt ein hervorragender Soldat und wahrscheinlich auch ein Ehrenmann.«
»Und Wulfila?« fragte Orosius. »Glaubt ihr, daß er jemals aufgeben wird? Zwar stehen seine Aussichten zum jetzigen Zeitpunkt recht schlecht, da uns eine kampferprobte und zahlenmäßig überlegene Truppe schützt. Und auf dieser Seite des Rheins ist er es, der sich in Gefahr befindet.«
»Ich würde mir darüber keine allzu großen Illusionen machen«, antwortete Aurelius. »Vielleicht bekommt er die Franken dazu, ihm zu helfen. Seine Entschlossenheit kennt keine Grenzen, das haben wir ja schon gesehen, als er uns zwang, bis an die äußersten Grenzen des Reiches zu fliehen. Jeder andere an seiner Stelle hätte längst aufgegeben, aber nicht er. Und jedesmal, wenn wir ihm wieder be-gegneten, gebärdete er sich noch wilder und aggressiver als zuvor -ganz so, als sei er direkt der Unterwelt entstiegen. Außerdem hat er Cäsars Schwert in seiner Gewalt.«
»Manchmal denke ich wirklich, daß er ein Dämon ist«, sagte Orosius, wobei der Ausdruck seiner Augen mehr als seine Worte sagte.
»Es war Aurelius, der ihm das Gesicht zerfetzte, du kannst also sicher sein, daß er, wie wir alle, aus Fleisch und Blut besteht«, erwiderte Demetrios. »Doch wie dem auch sei, ich kann es mir einfach nicht erklären, warum er sich gar so unversöhnlich zeigt und uns mit dieser besessenen Unerbittlichkeit verfolgt.«
»Ich schon«, wand Ambrosinus ein. »Aurelius hat ihn mit dieser Wunde verunstaltet, kaum einer hat ihn anschließend mehr wiedererkannt. Mit dieser Entstellung bleibt ihm für immer die Hoffnung auf das Paradies eines Kriegers versagt, was eine unerträgliche Strafe für einen Mann seines Geschlechts bedeutet. Wulfila entstammt einem ostgotischen Volk, das fanatisch an militärische Tapferkeit und das Schicksal eines Kämpfers im Jenseits glaubt. Um sich zu rehabilitieren, Aurelius, muß Wulfila dir genau das antun, was du ihm angetan hast. Er muß auch dir das Gesicht bis auf die Knochen zerschneiden und dann seinem Kriegsgott in deinem zum Becher umgewandelten Schädel ein Trankopfer darbieten. Wir müssen damit rechnen, daß wir ihn erst nach dem Tag seines Todes nicht mehr wiedersehen werden.«
»Eine Aussicht, um die ich dich nicht beneide«, kommentierte Vatrenus. Doch Aurelius schien diese Worte nicht sonderlich ernst zu nehmen. »Dann ist er also hinter mir her. Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?«
»Weil du wahrscheinlich irgendeine Dummheit begangen hättest, wie etwa, ihn zum Zweikampf herauszufordern.«
»Ja, das wäre eine Möglichkeit«, entgegnete Aurelius.
»Keineswegs. Mit Cäsars Schwert in seinen Händen besteht nicht die geringste Hoffnung für dich. Im übrigen will er ohne Zweifel auch Romulus haben, sonst hätten wir ihn nicht in der mansio in Fano am Hals gehabt. Wir müssen auf jeden Fall zusammenbleiben, das ist unsere einzige Möglichkeit zu überleben. Vor allem dürfen wir eines nicht aus den Augen verlieren: Romulus muß unbedingt Britannien erreichen. Um jeden Preis. Dort wird sich alles erfüllen, wofür wir gekämpft haben, dann brauchen wir nichts mehr zu befürchten. Gar nichts mehr, versteht ihr das?«
Alle blickten einander an, denn eigentlich verstanden sie gar nichts. Noch nicht. Doch spürten sie auf irgendeine Weise, daß dieser Mann recht hatte und der beseelte Ausdruck in seinen Augen nicht trog. Jedesmal, wenn er ihr zukünftiges Schicksal andeutete, das ihm so klar schien, während es für sie nur schemenhaft blieb, sprach er wie ein Mann, der bei Tagesanbruch auf einem Turm Wache hält und als erster die Sonne aufgehen sieht.
XXXI
Später am Tag setzte sich die Kolonne von Sergius Volusianus in Richtung Nordwesten in Bewegung und marschierte sechs volle Tage, bis sie im Reich des Syagrius eintraf, wobei sie pro Tag fast zwanzig Meilen zurücklegte. Markiert wurde das Staatsgebiet des rex Romanorum von einer Verteidigungslinie, die aus einem Wall mit Gräben und Palisaden bestand, aus dem sich im Abstand von etwa einer Meile Wachtürme erhoben. Die Garnisonssoldaten trugen schwere Kettenhemden und konisch zulaufende Helme aus Eisen mit Schutzvorrichtungen an Wangen und Nasen wie sie auch die Franken verwendeten, und an ihrer Seite hingen lange Schwerter mit doppelter Klinge.
Sie betraten die Garnison durch ein befestigtes Tor, begrüßt von den langgezogenen Tönen einiger Trompeten, und zogen von dort aus weiter bis zum nächsten Flußhafen an der Seine. Dort schifften sie sich ein und fuhren den Fluß hinab bis zur Hauptstadt, der alten Kolonie Lutetia Parisiorum, die inzwischen fast alle nach ihren Einwohnern nur noch »Parisii« nannten. Sie legten die weite Strecke völlig unbehelligt zurück, wodurch sich allen der Eindruck vermittelte, die sie so lange Zeit belastende Bedrohung sei nun vorbei oder hege zumindest so weit hinter ihnen, daß sie sich darüber keine Sorgen mehr zu machen brauchten. Jede Tagesreise brachte sie näher an ihr Ziel heran, und mehr und mehr wurde Aurelius von einer sonderbaren Aufregung erfaßt, deren tatsächliche Ursache er sich nicht erklären konnte. Das einzige, was ihn beunruhigte, war die höchst mangelhafte Beziehung zu Kommandant Volusianus, mit dem sie nur selten und kurz in Berührung kamen. Er hielt sich gewöhnlich in seiner Unterkunft am Heck auf. Wenn er einmal heraustrat, war er immer von seinem Stab umringt, so daß sich niemand an ihn wenden konnte. Nur Aurelius hatte eines Abends die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Als er ihn aufrecht am Bug stehen und in die über der Flußebene untergehende Sonne blicken sah, trat er auf ihn zu.
»Salve, Kommandant«, sagte er zu ihm.
»Salve, Soldat«, antwortete Volusianus.
»Unsere Reise verläuft ruhig.«
»Scheint so.«
»Darf ich dir eine Frage stellen?«
»Das kannst du sicher, aber du wirst nicht zwangsläufig eine Antwort erhalten.«
»Jahrelang habe ich unter dem Befehl von Manilius Claudianus gekämpft und seine persönliche Garde befehligt. Vielleicht sagt dir sein Name etwas und bewirkt, daß ich deiner Achtung würdig bin?«
»Claudianus war ein großer Soldat und ein sehr integrer Mann. Ein Römer, wie es sie heute nicht mehr gibt. Wenn er dir sein Vertrauen schenkte, bedeutet das, daß du seine Achtung verdient hast.«
»Du hast ihn also gekannt.«
»Persönlich, was mir zur Ehre gereicht. Die Mauerkrone, die du auf meiner Standarte siehst, verdiente ich mir unter seinem Befehl. Er selbst hat sie mir vor den Mauern von Augusta Raurica verliehen.«
»Der dortige Kommandant Claudianus ist gefallen, hinterrücks angegriffen von Odoakers Truppen. Meine Kameraden und ich sind einige wenige, die das Massaker überlebt haben. Doch nicht aus Feigheit oder weil wir desertiert sind.«
»Wir wollen keinerlei Einmischung, aber auch kein Chaos herbeiführen«, fügte Aurelius in gramerfülltem Ton hinzu. »Wir suchen nur einen ruhigen, entlegenen Ort, um diesen unglücklichen jungen Menschen in Zukunft vor der grausamen Verfolgung zu bewahren, deren Opfer er bis zum jetzigen Augenblick war. Er strebt weder nach Macht noch nach Auftrag und hat auch kein Interesse an einem öffentlichen Amt. Er sucht lediglich Ruhe und Vergessen, um endlich das Leben eines gewöhnlichen Menschen zu führen. Und wir mit ihm. Wir haben alles gegeben, was wir konnten. Wir haben für Rom unseren Schweiß und unser Blut vergossen. Und jedesmal, wenn es nötig war, unser Leben riskiert und uns niemals geschont. Wir haben Rom verlassen, weil wir uns weigern, den Barbaren Gehorsam zu leisten. Das hat nichts mit Desertion, sondern mit Würde zu tun. Außerdem sind wir erschöpft, ermattet und entmutigt. Laß uns gehen, General.«
Volusianus wandte sich wieder dem Horizont zu und betrachtete den langen, blutroten Streifen, der im Westen die Schneewüste einsäumte. Nur mühsam kamen die Worte aus ihm heraus, als sei ihm die Kälte, die ihm die Glieder gefror, bis ins Herz gedrungen: »Ich kann nicht«, antwortete er. »Syagrius hat mir Offiziere zur Seite gestellt, die nur danach streben, meine Nachfolge anzutreten und mich zu ersetzen. Sie meinen, mein Einfluß auf die Truppen sollte gemindert werden. Durch sie wird er ohnehin über eure Anwesenheit unterrichtet sein. Falls ich diesen Punkt also nicht selbst zur Sprache bringe, mache ich mich in seinen Augen so verdächtig, daß ich in Zukunft von ihm kein Verständnis mehr erwarten kann. Daher ist es besser, wenn ich ihn persönlich in Kenntnis setze.«
»Was geschieht dann mit uns?«
Ambrosi Volusianus bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick. Er hatte die grauen Augen eines Raubvogels, und seine Gesichtshaut war von tiefen Falten durchfurcht und wirkte sehr trocken. Sein Haar war kurz geschnitten, und er trug einen mehrere Tage alten Bart. Die Mühen und Anstrengungen seines Lebens waren in jedem Zug seiner Persönlichkeit abzulesen, ebenso seine Fähigkeit, Menschen zu beurteilen.
»Ich glaube dir«, sagte er nach ein paar Augenblicken des Schweigens. »Was möchtest du wissen?«
»Ob wir unter deinem Schutz stehen oder in deinem Gewahrsam sind.« »Sowohl als auch.« »Warum?«
»Nachrichten über große Veränderungen im Bereich der Macht verbreiten sich schneller, als du denkst.«
»Das ist mir klar. Es wundert mich nicht, daß dein König über Odoaker und die Ermordung des Flavius Orestes informiert ist und auch du auf dem laufenden bist. Was weißt du noch, wenn ich fragen darf?«
»Daß Odoaker zu Wasser und zu Lande nach einem Jungen von dreizehn Jahren sucht, der unter dem Schutz einer Handvoll Deserteure steht und sich in Begleitung von sehr ... pittoresken Gestalten befindet.« Aurelius blickte zu Boden.
»Und jeder, der mit der Regierungsverantwortung betraut ist«, fuhr Volusianus fort, »ist sich darüber im klaren, daß dies genau das Alter des letzten Kaisers im Westreich ist, Romulus Augustus, von vielen auch Augustulus genannt. Du wirst zugeben, daß die Übereinstimmung dieser Fakten allzu eindeutig ist, als daß man sie unberücksichtigt lassen könnte.« »Das muß ich zugeben«, antwortete Aurelius. »Ist er es?«
Aurelius zögerte, dann nickte er. Und während er seinem Gesprächspartner direkt in die Augen blickte, fügte er noch hinzu: »Von einem römischen Soldaten zum anderen gesagt.«
Volusianus nickte mit ernster Miene.
Volusianus sah ihm in die Augen. »Ich verspreche, die Identität dieses Jungen nicht preiszugeben, denn es ist nicht gesagt, daß die anderen sie auch nur erahnen. Im besten Falle könnte er sie selbst vergessen und nicht mehr beachten, so daß er die volle Verantwortung mir überließe. Ich kann dann die Maßnahmen treffen, die mir als die angenehmsten erscheinen. In diesem Falle ...«
»Und falls er die Wahrheit ahnt?«
»Nun, dann wäre es besser, euch keine Illusionen darüber zu machen. Der Junge ist sehr viel wert, allzu viel, wenn man es in Geld oder politischen Beziehungen ausdrücken will. Syagrius kann nicht unbeachtet lassen, daß Odoaker jetzt in Italien das Sagen hat. Er ist der wahre rex Romanorum. Was euch betrifft, ist die Sache einfach. Ich könnte für euch einen Anwerbungsvertrag für mein Heer erwirken, da wir immer gute Soldaten brauchen. Und da nimmt man es nicht so genau.«
»Ich verstehe«, antwortete Aurelius, der fühlte, wie ihm die Eiseskälte in sein Herz kroch. Dann machte er Anstalten, sich zu entfernen.
»Soldat!«
Aurelius blieb stehen.
»Warum liegt dir so viel an diesem Jungen?«
»Weil ich ihn gern habe«, antwortete er, »und weil er der Kaiser ist.«
Aurelius hatte nicht den Mut, Ambrosinus, aber noch weniger Livia den Ausgang dieses Gesprächs zu offenbaren, und hoffte im Vertrauen auf Volusianus Wort, daß Romulus Identität geheim bleiben könnte. Durch und durch ein Ehrenmann, behielt er die Sorgen, die an ihm nagten, für sich und strengte sich an, möglichst ruhig zu wirken und sogar mit Romulus und den anderen Gefährten zu scherzen.
Am fünften Tag ihrer Schiffsreise erreichten sie kurz vor Sonnenuntergang die Stadt. Alle drängten sich an der Reling auf dem Vorschiff zusammen, um den sich ihnen bietenden Anblick zu bewundern. Auf einer Insel mitten in der Seine, umgeben von einer Festungsanlage, die aus Mauerwerk in opus cementicium und einer Holzpalisade bestand, erhob sich Parisii. In ihrem Inneren ragten die Dächer der höchsten Gebäude empor, die teils nach römischer Art mit gebrannten Dachziegeln, teils nach alter keltischer Art mit Holzschindeln und Stroh gedeckt waren.
Ambrosinus trat zu Romulus. »Auf der anderen Seite des Flusses, gegenüber dem Westufer dieser Insel, liegt der heilige Germanus begraben. Unter dem Namen Germain ist er noch heute all denen bekannt, die sein Andenken ehren.«
»Ist das der Held, der die Römer von Britannien im Kampf gegen die Barbaren im Norden anführte? Der, von dem du in deinem Tagebuch erzählst?«
»Ganz genau. Doch verfügte er über kein eigenes Heer, sondern bildete unsere Leute aus und teilte sie nach dem Vorbild alter römischer Legionen in militärische Strukturen ein, bis er an den Wunden verstarb, die er in der Schlacht davongetragen hatte.
Ich allein kenne noch seine letzten Worte und seine Prophezeiung. Also werde ich, sobald wir an Land sind, versuchen, die Stelle herauszufinden, an der er begraben liegt, um von ihm Schutz und Segen für deine Zukunft zu erbitten, Cäsar.«
Unterdessen waren die Rufe der Matrosen zu hören, die sich zum Anlegemanöver bereitmachten. Der Hafen von Parisii war bereits in der Zeit der ersten römischen Ansiedlung nach Cäsars Besetzung ausgebaut worden, und seither hatte sich kaum etwas verändert. Das Schiff mit Volusianus und den Gefährten legte am ersten der drei Anlegepiers an. Von dort wurden zwei Taue herübergeworfen, das eine am Bug und das andere am Heck, die die Ruderer nach den Befehlen des Bootsmanns ins Schiffsinnere zogen. Volusianus ging mit seinen Dienern von Bord und befahl den Fremden, ihm nachzufolgen. Daraufhin wurden die Pferde entladen, darunter auch Juba, der wild um sich schlug und sich auf jede erdenkliche Art dagegen wehrte, den Stallknechten zu folgen. Verwirrt näherte sich Ambrosinus dem Kommandanten. »General«, sagte er, »bevor wir uns verabschieden, möchten wir uns noch einmal bei dir bedanken mit der Bitte, unser Pferd wiederhaben zu dürfen. Schon morgen müssen wir Weiterreisen und ...«
Volusianus drehte sich um. »Ihr könnt nicht Weiterreisen. Ihr werdet so lange hierbleiben, wie es nötig ist.«
»General ...«, versuchte es Ambrosinus noch einmal, doch Volusianus hatte ihm bereits den Rücken zugewandt und eilte auf das Forum zu. Plötzlich wurden Ambrosinus und seine Gefährten von einer großen Zahl Wachsoldaten umringt, und ein Offizier befahl ihnen: »Folgt uns.« Aurelius bedeutete ihnen, keinen Widerstand zu leisten, während Ambrosinus verzweifelt rief: »Was bedeutet das alles? Wieso haltet ihr uns fest? Wir haben nichts getan und sind nur Wanderer, die ...« Doch als er erkannte, daß ihm niemand zuhörte, ging er bedrückt hinter den Soldaten her.
Romulus trat zu Aurelius. »Warum tun sie das?« fragte er. »Sind sie denn nicht ebenso Römer wie wir?«
»Vielleicht verwechseln sie uns mit jemandem«, versuchte Aurelius ihn zu beruhigen. »Das kommt manchmal vor. Du wirst sehen, es wird sich alles aufklären. Mach dir also keine Sorgen.«
Vor einem Gebäude aus behauenem Stein, das sehr karg wirkte, blieben die Soldaten stehen. Der Offizier befahl, die Tür zu öffnen, und ließ sie in einen großen, kahlen Raum eintreten. Zu beiden Seiten befanden sich schmale eisenbeschlagene Türen. Ein Gefängnis.
»Eure Waffen«, ordnete der Offizier an. Es folgte ein Moment höchster Anspannung, in dem Aurelius die Anzahl der sie umringenden Soldaten kurz abschätzte und die möglichen Folgen sämtlicher Handlungen erwog, die er in dieser Situation unternehmen könnte. Dann zog er das Schwert aus der Scheide und überreichte es einem der Kerkermeister. Resigniert und verwundert über den unerwarteten Ausgang ihrer Reise, taten es seine Gefährten ihm nach. Die Waffen wurden in einem eisenbeschlagenen Schrank an der hinteren Wand verstaut. Der Offizier wechselte einige leise Worte mit dem Kerkermeister, dann ließ er seine Soldaten mit gezogenen Waffen Aufstellung nehmen, bis jeder Gefangene eingesperrt war. Romulus warf Aurelius einen Blick stummer Verzweiflung zu, dann folgte er Ambrosinus in die für sie beide vorgesehene Zelle.
Der dumpfe Hall, mit dem die schwere Außentür geschlossen wurde, dröhnte donnernd in dem weitläufigen leeren Innenraum wider, während sich das Geräusch der im Gleichschritt marschierenden Soldaten kurz darauf draußen auf der Straße verlor. Übrig blieb allein die Stille.
Livia saß auf der dreckigen Pritsche. Da sie nicht schlafen konnte, ging sie in Gedanken noch einmal die letzten Ereignisse durch. Trotz der beklemmenden Situation der Gefangenschaft konnte sie nicht umhin, Aurelius Entscheidung gutzuheißen, der sämtliche verzweifelte Befreiungsversuche ohne Aussicht auf Erfolg vermieden hatte. Es hofft der Mensch, solang er lebt ..., dachte sie. Doch sie war in Sorge um Romulus, vor allem, wenn sie sich an seinen Gesichtsausdruck im Augenblick des neuerlichen Eingesperrt werdens erinnerte, der sie äußerst betroffen gemacht hatte. Ihr war klargeworden, daß der Junge die Grenze seiner Leidensfähigkeit erreicht hatte. Dieser ständige Wechsel zwischen Hoffnung und Schrecken, Illusion und Verzweiflung drohte ihn zu zerstören. Schon die unüberlegte, gefährliche Flucht aus Argentoratum hatte ihr damals offenbart, in welchem Gemütszustand er sich befand. In der gegenwärtigen Lage aber schienen die Dinge weit schlimmer. Ihr einziger Trost war, daß Ambrosinus mit Romulus zusammen war. Die Anwesenheit seines Erziehers trug sicher zu seiner Beruhigung bei und gab ihm ein Minimum an Vertrauen zurück.
Tief in diese Gedanken versunken, hörte sie plötzlich seltsame Geräusche an ihrer Zellentür, und mit gespitzten Ohren und angehaltenem Atem preßte sie sich an die Mauer. Ihr Kampfinstinkt, der in jahrelangen Angriffen, Fluchten und Hinterhalten geschult worden war, erwachte sofort und rief sämtliche Reserven in ihrem Körper und ihrem Geist hervor. In aller Eile bereitete sie sich darauf vor, im nächsten Augenblick loszuschlagen.
Dann vernahm sie das Schnappen des Türriegels, dem ein leises Getuschel und ein gedämpftes Kichern folgten. Nun begriff sie. Obwohl ihr Volusianus versprochen hatte, man werde sie gut behandeln, kam es doch sicher nicht allzuoft vor, daß sich eine junge, attraktive Frau in diesem stinkenden Gefängnis aufhielt. Und so hatte eine Zecherei ausgereicht, um die Wärter so weit in Versuchung zu bringen, daß sie sämtliche Risiken einer Bestrafung vergaßen.
Und tatsächlich öffnete sich nun die Tür. Zwei Gefangenenwärter betraten den Raum und beleuchteten ihn mit einer Öllampe. »Wo bist du, mein Täubchen?« fragte der eine. »Komm doch heraus und hab keine Angst. Wir wollen dir nur ein wenig Gesellschaft leisten.«
Livia gebärdete sich, als sei sie zu Tode erschrocken, dann ließ sie die linke Hand eilig an ihrem Bein hinabgleiten, bis sie die Schnür-bänder ihres Stiefels erreichte, unter denen sie ein scharfes Stilett herauszog. Es hatte die Form eines Stachels und steckte in einem kugelförmigen Griff, so daß sie es leicht in der Faust verstecken konnte und nur noch die Spitze zwischen Zeige- und Mittelfinger herausragte. »Ich bitte euch, tut mir nichts!« flehte sie, doch diese Bitte erregte die beiden Wärter nur noch mehr.
»Sei ganz ruhig, wir werden dir nichts tun. Höchstens etwas Gutes. Danach wirst du dem guten alten Priapos ein Trankopfer bringen, denn er hat uns mit einem so schönen, großen Ding ausgestattet, genau dazu gemacht, so einen Bettschatz wie dich glücklich zu machen.« Er machte sich daran, seine Hose zu öffnen, während sein Kamerad Livia mit einem großen Messer bedrohte. Livia zeigte sich noch verängstigter, legte sich auf das Feldbett und rutschte mit den Schultern soweit wie nur möglich an die hintere Wand.
»Also«, sagte der erste der beiden, »jeder kommt zum Schuß. Erst ich und dann auch mein Freund. Und anschließend erzählst du uns, wer besser war und den Größeren hatte. Ist das nicht lustig?«
Er hatte inzwischen seinen Unterkörper entblößt und stützte sich mit den Knien am Rand des Feldbettes ab. Derweil machte sich Livia mit ihrem speziellen Stachel bereit, den sie fest in der Faust hielt. Und während der eine Wächter sich vornüberbeugte, um sie zu packen, schoß sie mit einer raschen Beckenbewegung von der Seite zu dem anderen vor und bohrte ihm das Stilett in die Brust. Genau in diesem Augenblick verlor der andere Wärter die Balance und fiel flach auf die Pritsche. Mit einer blitzartigen Bewegung ließ Livia ihr Instrument von der linken in die rechte Hand gleiten und stieß es ihm mit einem so harten Ruck in den Nacken, daß ihm die Wirbelsäule durchtrennt wurde. Und während er schlaff auf dem Bett zusammenbrach, sank der andere zu Boden, beinahe gleichzeitig und ohne den geringsten Laut.
Nun blieb ihr keine Wahl mehr, also nahm Livia die Schlüssel an sich und eilte zu den Zellen ihrer Gefährten, die sie plötzlich ruhig lächelnd vor sich stehen sahen. »Aufstehen, Leute, es wird Zeit, setzt euch in Bewegung!«
»Aber, wie ...«, begann Aurelius verwundert, als sie die Tür aufsperrte und ihn umarmte.
Sie zeigte ihm das Stilett. »In calceo venenum oder Die Tücke liegt im Schuh!« lachte sie in Abwandlung des alten Sprichworts. »Sie haben vergessen, in meinen Schuhen nachzusehen.« Und dann lief ihr Romulus entgegen, fiel ihr um den Hals und drückte sie so fest an sich, daß er sie beinahe erstickte. Livia öffnete den Schrank, der ihre Waffen enthielt, und sie schlichen eiligst zum Ausgang. Doch plötzlich war draußen ein Geräusch von Schritten zu hören und dann ein Riegel, der zurückgeschoben wurde. Volusianus stand in der Türöffnung, umringt von seiner Leibgarde in Kampfausrüstung.
Rasch wechselte Livia einen Blick mit Aurelius. »Ich laß mich nicht noch einmal gefangennehmen«, sagte er schlicht, und die Art, wie sie alle nach ihren Waffen griffen, ließ sofort erkennen, daß die anderen der gleichen Meinung waren. Da hob Volusianus seine Hand. »Halt«, rief er. »Hört mich an, es bleibt nicht viel Zeit. Odoakers Barbaren sind bei Syagrius vorstellig geworden und wollen sicher über eure Auslieferung verhandeln. Ich habe keine Zeit, um lange Erklärungen abzugeben, kommt einfach mit mir. Draußen steht euer Pferd und noch ein paar weitere, die ich habe bereitstellen lassen. Flieht zum westlichen Stadttor, wo eine Bootsbrücke über den Fluß führt, welche die Insel mit dem Festland verbindet. Die Wachen sind mir treu ergeben und werden euch durchlassen. Folgt dem Fluß bis zur Küste, dort gibt es ein Fischerdorf namens Brixate. Fragt nach einem gewissen Teutasius und sagt ihm, daß ich euch geschickt habe. Er kann euch nach Frisia oder Armorica übersetzen, wo euch niemand mehr belästigen dürfte. Meidet Britannien. Die Insel ist von den inneren Kämpfen der Stammesführer zerrissen, und überall treiben Räuber und marodierendes Volk ihr Unwesen. Doch nun rasch, ich muß jetzt Alarm schlagen. Um keinen Verdacht auf mich zu lenken, muß ich meine eigenen Truppen zu eurer Verfolgung ausschicken, falls es mir befohlen wird. Sollten sie euch gefangennehmen, kann ich nichts mehr für euch tun. Also geht jetzt, lauft!«
Aurelius trat zu ihm. »Ich wußte, daß du uns niemals den Barbaren ausliefern würdest. Danke, General, mögen die Götter dich beschützen.«
»Möge Gott dich beschützen, Soldat, und diesen Jungen hier.«
Nun trat auch Romulus auf ihn zu, der in würdevollem Ton sagte: »Danke für alles, was du für uns tust. Nie werde ich dir das vergessen.«
»Ich habe nur meine Pflicht getan ... Cäsar«, antwortete Volusianus und grüßte ihn mit militärischem Gruß. Dann senkte er respektvoll das Haupt und sprach: »Geh nun, bring dich in Sicherheit.«
Sie stiegen auf die Pferde und machten sich auf den Weg, der ihnen gewiesen worden war und der sie durch die dunklen, menschenleeren Gassen der Stadt führte, bis sie die dort einmündende Brücke erreicht hatten. Die Wachen gaben ihnen Zeichen, rasch weiterzureiten, und Aurelius führte sie sicher zum anderen Ufer. Dort wandten sie sich nach Norden und folgten dem Weg am Fluß entlang. Sie gaben ihren Reittieren die Sporen, und bald waren sie in der Dunkelheit verschwunden.
Volusianus bestieg sein Pferd und kehrte in sein Winterquartier nicht weit vom Hafen zurück, gefolgt von seinem Adjutanten und einem halben Dutzend Männer seiner Garde. Einer der Diener lief herbei, um ihm die Zügel seines Pferdes abzunehmen, ein anderer eilte mit einer Laterne herbei, um ihm den Weg zu leuchten. Volusianus wandte sich an seinen Adjutanten. »Laß noch etwas Zeit vergehen«, befahl er ihm, »dann lauf zum Palast und schlage Alarm. Sag, daß sie die Wachen ermordet haben und dann geflohen sind, was die reine Wahrheit ist. Und natürlich gibst du zu verstehen, daß du keine Ahnung hast, welche Richtung sie eingeschlagen haben.«
»Natürlich, General«, antwortete der Adjutant.
»Wenn deine Generäle sie nicht beschützt hätten«, schrie Wulfila außer sich vor Wut, »hätten wir sie schon längst wieder gefangen und zurückgebracht!«
Syagrius saß auf seinem Thron, einem Sessel, der entfernt an die sella curulis, den Amtsstuhl eines Statthalters aus alter Zeit, erinnerte. Eingehüllt in einen Umhang aus Fuchspelz, der ihn vor der beißenden Kälte schützen sollte, war er sichtlich gereizt - einerseits, weil sich die Unterredung bis mitten in die Nacht hinzog, zum anderen wegen der schlechten Manieren, die dieser Wilde mit dem entstellten Gesicht zur Schau trug.
»Mein magister militum hat getan, was seine Pflicht war«, entgeg-nete er verstimmt. »Dies hier ist Staatsgebiet der Römer, und die Gerichtsbarkeit gebührt mir, meinen Offizieren und Richtern. Niemand anderem! Doch jetzt, da sich diese Verbrecher mit Mord befleckt haben und aus meinem Gefängnis ausgebrochen sind, haben sie sich als Gesetzesbrecher entlarvt, die einzufangen nicht schwer sein dürfte. Auch ihnen ist bekannt, daß sie sich, so lange sie sich in meinem Gebiet befinden, der Verfolgung nicht entziehen können. Also werden sie alles versuchen, um von dem nächstgelegenen Hafen übers Meer zu fliehen. Dort werden wir sie fassen.«
»Aber wenn es ihnen gelingt, sich noch rechtzeitig einzuschiffen?« schrie der Barbar.
Der rex Romanorum zuckte die Achseln. »Sie kämen nicht weit«, sagte er. »Kein Schiff kann es mit meinen Galeeren aufnehmen, und wir wissen, daß sie den Weg nach Frisia oder Armorica einschlagen werden. Niemand wäre so verrückt, sich in diesen Zeiten für Britannien zu entscheiden. Doch sind es meine Männer, die sie abfangen werden, nicht du.«
»Hör mich an«, sagte Wulfila und trat dabei auf den Stuhl des Syagrius zu, »du kennst diese Leute nicht. Das sind außergewöhnlich gute Kämpfer. Beweis dafür ist die Art, wie sie aus deinem Gefängnis entflohen sind, und das nur wenige Stunden, nachdem sie dort eingesperrt worden sind. Ich jage sie seit Monaten und kenne die Art ihres Vorgehens und all ihre Finten. Laß mich dich mit meinen Männern begleiten. Ich schwöre dir, daß es nicht zu deinem Nachteil sein wird, denn ich habe den Befehl, dir eine satte Belohnung im Austausch für das Ergreifen des Jungen anzubieten Vor allem aber ist Odoaker bereit, dir seine ganze Dankbarkeit auch durch ein Bündnis zu beweisen. Er ist jetzt der Wächter und Beschützer Italiens und der natürliche Mittelsmann in der Beziehung zum Ostreich.«
»Also, so geht ebenfalls mit«, antwortete Syagrius, »aber ergreift keinerlei Initiative ohne die Billigung meines Statthalters.« Darauf gab er dem, der ein romanisierter Westgote namens Gennadius war, ein Zeichen. »Mache dich auf den Weg«, befahl er ihm. »Und nimm so viele Männer mit, wie du brauchst. Ihr reitet bei Tagesanbruch.«
»Nein!« wand Wulfila ein. »Wenn wir erst bei Tagesanbruch losreiten, werden sie uns entkommen. Sie haben schon jetzt einen riesigen Vorsprung. Wir müssen sofort los.«
Syagrius dachte ein paar Augenblicke nach, dann nickte er. »Einverstanden«, sagte er. »Aber wenn ihr sie gefangengenommen habt, bringt ihr sie zu mir. Mir obliegt die Gerichtsbarkeit; wer auch immer sie bricht, ist mein Feind. Nun geh!«
Gennadius grüßte und ging davon, Wulfila und seine Männer folgten ihm. Kurze Zeit später war das Schiff zum Ablegen bereit, eine große Galeere, nach keltischer Tradition aus Eichenholz gebaut, auf der Männer und Pferde selbst übers offene Meer transportiert werden konnten.
»Welches ist der nächstgelegene Hafen?« fragte Wulfila, kaum daß er an Bord war.
»Brixate«, antwortete Gennadius, »direkt an der Seinemündung. Er wird sich leicht herausfinden lassen, ob ein Schiff in See gestochen ist. Zu dieser Jahreszeit fährt fast niemand hinaus.«
Sie kamen rasch voran, da sie von der Strömung des Flusses getragen wurden, und als der Wind von Nordost nach Ost drehte, hißten sie das Segel, so daß sie das Tempo noch steigerten. Wenige Stunden vor dem Morgengrauen klarte der Himmel auf, und die Temperatur sank noch weiter ab, doch da lag ihr Ziel bereits so nah, daß sie die Hafenlichter erkannten.
Plötzlich richtete der Steuermann einen besorgten Blick nach vorn. »Seht nur«, sagte er, »dort kommt Nebel auf.«
Wulfila hörte ihm nicht einmal zu. Er suchte die große Trichtermündung der Seine ab und darüber hinaus das offene Meer, um seine Beute nicht noch einmal zu verlieren, die er schon in greifbarer Nähe wähnte.
»Schiff von Bugseite!« ertönte in diesem Augenblick die Stimme des Matrosen aus dem Mastkorb.
»Das sind sie!« rief Wulfila aus. »Da bin ich mir sicher. Es gibt keine weiteren Fahrzeuge auf dem Meer.«
Auch der Steuermann hatte das Schiff gesehen. »Seltsam«, sagte er. »Sie fahren auf den Nebel zu, als wollten sie den Kanal überqueren und in Britannien landen.«
»Erhöht die Geschwindigkeit, macht schon!« befahl der Barbar. »Noch können wir sie einholen.«
»Der Nebel wird immer dichter«, antwortete der Steuermann. »Es ist besser, wir warten, bis die Sonne höher steht und er sich lichtet.«
»Nein!« brüllte Wulfila, außer sich vor Zorn. »Jetzt. Wir müssen sie jetzt fassen!«
»Die Befehle erteile ich«, antwortete Gennadius. »Ich will mein Schiff nicht verlieren. Wenn sie die Absicht haben, sich umzubringen, ist das ihre Sache, aber ich werde nicht in diese Nebelbank hineinfahren. Ich denke noch nicht einmal daran. Und ich glaube auch nicht, daß sie das tun.«
Da zog Wulfila mit einer blitzartigen Bewegung sein Schwert aus der Scheide und setzte es an die Kehle des Kommandanten. »Befiehl deinen Männern, daß sie ihre Waffen niederlegen«, sagte er, »oder ich schneide dir den Hals durch. Jetzt übernehme ich das Kommando über das Schiff.«
Gennadius blieb keine Wahl, und schweren Herzens gehorchten seine Soldaten, die vom Anblick der phantastischen Waffe in der Faust des Barbaren wie geblendet waren.
»Werft alle ins Meer!« befahl Wulfila seinen Männern. »Ihr könnt dem Schicksal danken, daß ich euch nicht töte!« Dann, zu Gennadius gewandt, sagte er: »Dieser Befehl gilt auch für dich.« Er schob ihn bis an die Reling und zwang ihn, ins Wasser des Nordmeers zu springen, in dem bereits seine Männer mit den gewaltigen Wogen kämpften. Fast alle wurden von dem Gewicht ihrer Rüstungen in die Tiefe gezogen, wohl auch, weil das eiskalte Wasser ihnen die Glieder lähmte. Nun hatte Wulfila das Kommando über das Schiff übernommen. Er gebot dem zu Tode erschrockenen Steuermann, den Bug in Richtung Norden auszurichten, genau auf das Schiff zu, das jetzt in der Entfernung von einer Meile zu erkennen war und sich deutlich gegen die Nebelbank abhob, die, kompakt wie eine Mauer, immer näher kam.
An Bord des Fluchtschiffs herrschte angesichts des Nebels, der sich wie dichter Rauch spiralförmig auf dem Meer ausbreitete, höchste Bestürzung. Kein Wind wehte mehr, und Teutasius, der Steuermann, holte das Segel ein. Das Boot stand fast still.
»Unter diesen Bedingungen weiterzufahren ist Wahnsinn«, sagte er, »um so mehr, als keiner es wagen wird, eure Verfolgung aufzunehmen.«
»Das sagst du«, erwiderte Vatrenus. »Doch sieh dir einmal dieses Schiff dort hinten an. Die Ruderer treiben es direkt hinter uns her, ich fürchte wirklich, sie haben es auf uns abgesehen.«
»Um sicher zu sein, daß sie es sind, müßten wir ihnen entgegentreten«, bemerkte Orosius.
»Mir wäre lieber«, sagte Batiatus, »wir würden uns diesen sommersprossigen Bastarden stellen, als in diesem ... diesem schrecklichen Ding zu versinken. Es kommt mir vor, als stiegen wir direkt in die Unterwelt hinab.«
»Im Grunde haben wir das in Miseno schon einmal getan«, gab Vatrenus zu bedenken.
»Ja, aber damals wußten wir, daß es nur eine sehr kurze Zeit andauerte«, entgegnete Aurelius. »Hier dagegen haben wir es mit einer Fahrt von etlichen Stunden zu tun.«
»Sie sind es!« schrie Demetrios, der den Mast bis zur Spitze emporgeklettert war.
»Bist du dir sicher?« fragte Aurelius.
»Natürlich! Und in etwa einer halben Stunde werden sie uns eingeholt haben.«
Ambrosinus, der in seine Gedanken versunken schien, raffte sich plötzlich auf. »Haben wir Öl an Bord?«
»Öl?« fragte der Steuermann verblüfft. »Ich glaube ... ich glaube, ja, aber nur wenig. Die Männer nehmen es für ihre Laternen her.«
»Bring sofort die größte Schale, die du hast, und dann mach dich zur Weiterfahrt bereit. Wir werden jetzt rudern.«
»Gib ihm, was er von dir verlangt«, sagte Aurelius. »Er weiß, was er tut.«
Der Mann ging unter Deck und kam wenig später mit einer irdenen Schüssel zurück, die halb mit Öl gefüllt war. »Das ist alles, was ich gefunden habe«, sagte er.
»Sie kommen näher!« rief Demetrios erneut vom Mast herunter.
»Ist gut«, sagte Ambrosinus zustimmend, »das reicht. Stell die Schale aufs Deck, und dann geh ans Steuer zurück. Auf mein Zeichen setzen sich alle kräftigen Männer an die Riemen.« Nach diesen Worten entnahm er seinem Quersack ein Wachstäfelchen, das er sonst für seine Notizen benutzte, riß die äußere Pergamenthülle ab und zog unter den erstaunten Augen der Umstehenden ein pfeilförmiges Plättchen aus Metall hervor, so leicht, daß der Wind es hätte davontragen können. Dieses Plättchen legte er auf die Oberfläche des Öls.
»Schon einmal von Aristeas von Prokonnesos gehört?« fragte er. »Nein, natürlich nicht. Nun gut, die Alten sagten, er habe einen Pfeil gehabt, der ihn über viele Jahre ins Land der Hyperboreer dort im fernen Norden brachte. Das hier ist dieser Pfeil. Er wird uns den Weg nach Britannien zeigen. Wir brauchen ihm nur zu folgen.«
Unter den immer erstaunteren Augen seiner Gefährten begann sich der Pfeil zu bewegen und drehte sich so lange auf der Öloberfläche, bis er stehenblieb und beständig in eine Richtung zeigte.
»Da ist Norden«, erklärte Ambrosinus feierlich. »Männer, an die Riemen!«
Alle gehorchten, das Schiff setzte sich in Bewegung und tauchte langsam in die milchige Wolke ein.
Romulus kauerte derweil neben seinem Meister, der inzwischen am Schalenrand eine Kerbe einschnitt, genau an der Stelle, die mit der vom Pfeil bezeigten Richtung übereinstimmte.
»Wie ist das möglich?« fragte Romulus. »Besitzt dieser Pfeil vielleicht Zauberkräfte?.«
»Das glaube ich sicher«, antwortete Ambrosinus. »Eine andere Erklärung wüßte ich jedenfalls nicht.«
»Und wo hast du ihn her?«
»Ich habe ihn vor ein paar Jahren in den unterirdischen Gewölben des Portunustempels in Rom gefunden. In einer Tuffsteinurne. Eine griechische Inschrift besagte, daß dies der Pfeil des Aristeas von Prokonnesos sei, den auch Pytheas von Massilia benutzt habe, um Thule zu finden. Ist das nicht unglaublich?
»Das ist es«, antwortete Romulus. Und dann fügte er noch hinzu: »Meinst du, daß sie uns verfolgen?«
»Das glaube ich nicht, da sie keine Möglichkeit haben, den Kurs zu halten. Und außerdem ...«
»Außerdem?« unterbrach ihn Romulus.
»Die Mannschaft besteht aus Leuten dieser Gegend. Und hier macht eine Geschichte die Runde, die ihnen große Angst einjagt.«
»Welche Geschichte?«
»Daß hier der Nebel nur deshalb so dicht ist, damit er das Schiff verbirgt, das von der Toteninsel zurückkehrt, wo es die Seelen der Verstorbenen hingebracht hat.«
Während Romulus sich umsah und dabei versuchte, die dicke Nebelwand zu durchdringen, lief ihm ein Schauer über den Rücken.
XXXII
Romulus zog den Umhang noch fester um die Schultern, während er seine Augen wie gebannt auf die winzigen Bewegungen des hin-und herschwingenden Pfeils richtete, der auf dem Öl schwamm und auf geheimnisvolle Weise den Pol des Großen Bären anzeigte.
»Hast du gesagt, die Insel der Toten?« fragte er unvermittelt.
Ambrosinus lächelte. »Das habe ich gesagt. Die Leute hier haben große Angst davor.«
»Ich verstehe das nicht, ich dachte, die Toten gingen ins Jenseits.«
»Das ist es, was wir alle glauben. Aber weißt du, da nie jemand aus dem Totenreich zurückkehrte und erzählte, was er dort beobachtet hat, macht sich jedes Volk seine eigenen Vorstellungen von dieser geheimnisvollen Welt. Und in dieser Gegend hier heißt es, daß es an der Küste von Armorica ein Fischerdorf gäbe, dessen Einwohner weder Steuern zahlen noch Tribut leisten müssen, da sie eine sehr wichtige Aufgabe zu erfüllen haben. Sie setzen die Seelen der Verstorbenen auf eine geheimnisvolle Insel über, die von ewigen Nebeln bedeckt ist. Der Name dieser Insel ist angeblich Avalon. Jede Nacht hört man, wie an die Tür eines der Häuser in diesem Ort geklopft wird und eine leise Stimme sagt: >Wir sind bereit.< Dann steht der Fischer auf und geht zum Strand, wo er sein scheinbar leeres Boot so tief im Wasser liegen sieht, als werde es von einer schweren Last niedergedrückt. Und dieselbe Stimme, die er zuvor hörte, ruft nun jeden einzelnen Verstorbenen bei seinem Namen. Bei den Frauen wird übrigens auch der Name des Vaters oder Ehemanns genannt. Dann setzt sich der Fischer ans Steuer und setzt das Segel. In der nebeligen Dunkelheit legt er im Lauf einer Nacht eine Strecke zurück, für die jeder andere allem für den Hinweg eine volle Woche benötigte. In der folgenden Nacht klopft es dann an eine andere Tür, und dieselbe Stimme sagt: >Wir sind bereit. <«
»Mein Gott«, seufzte Romulus. »Diese Geschichte macht einem wirklich angst. Aber ist sie auch wahr?«
»Wer weiß das schon? In gewissem Sinne ist alles wahr, woran wir glauben. Etwas Wahres ist sicher daran. Vielleicht ist die Bevölkerung dieses Dorfes den alten Praktiken der Totenbeschwörung verfallen, wodurch ihnen Erfahrungen von so großer Intensität zuteil werden, daß sie ihnen völlig echt erscheinen ...« Er brach ab, um dem Steuermann einige Anweisungen zu erteilen: »Mehr nach Steuerbord, langsam, ja, so ist es gut.«
»Wo liegt diese Insel Avalon?«
»Das weiß niemand. Irgendwo an der Westküste Britanniens vielleicht. So jedenfalls hörte ich einen alten Druiden sagen, der von der Insel Mona stammte. Andere sagen, sie läge weiter im Norden und sei der Ort, an dem sich die Helden nach ihrem Tod versammeln. Wie die Insel der Seligen, von der Hesiod spricht, weißt du noch? Vielleicht sollten wir in diesem Dorf in Armorica an Bord des Totenschiffs gehen, um ihr Geheimnis zu lüften ... Doch sind das alles nur Vermutungen und Spekulationen. Tatsache ist, mein Sohn, wir sind von vielen Geheimnissen umgeben.«
Romulus nickte langsam, als wolle er einer schwerwiegenden Behauptung zustimmen, dann zog er sich den Umhang über den Kopf und suchte Schutz unter Deck. Ambrosinus blieb allein zurück mit seinem Pfeil, um damit das Schiff durch das verschwommene Dunkel zu lenken, während seine Gefährten unaufhörlich weiterruderten, stumm vor Verwunderung in dieser schwebenden Atmosphäre ohne Zeit oder Raum, in der das Klatschen der Wellen gegen den Kiel die einzige Wirklichkeit darzustellen schien. Irgendwann fragte Aurelius: »Meinst du, daß wir ihn noch einmal sehen werden?«
Ambrosinus setzte sich neben ihn auf die Ruderbank: »Wulfila?« antwortete er. »Ja, natürlich. Bis ihn endlich einer zur Strecke bringt.«
»Volusianus hat uns geraten, überall sonsthin zu fahren, nur nicht nach Britannien. Es scheint ganz, als sei dieses Land ein wirkliches Schlangennest.«
»Ich glaube nicht, daß es in unserer Welt irgendwelche Orte gibt, die besser sind als andere. Wir gehen nach Britannien, weil dort etwas auf uns wartet.«
»Deine Prophezeiung. Oder etwa nicht?«
»Überrascht dich das?«
»Ich weiß es nicht. Du kennst sowohl Plinius als auch Varro, Ar-chimedes und Eratosthenes. Selbst Strabo und Tacitus hast du gelesen ...«
»Du auch, soweit ich sehe«, bemerkte Ambrosinus nicht ohne Überraschung.
»Du bist also ein Mann der Wissenschaft«, schloß Aurelius, als habe er ihm gar nicht zugehört.
»Ein Mann der Wissenschaft sollte aber nicht an Prophezeiungen glauben, die derart irrational sind. Richtig?«
»Nein, das ist es nicht.«
»War es vielleicht rational, was du getan hast? Und was ist an den vielen Dingen noch logisch, die du in den letzten Monaten erlebt hast?«
»In der Tat recht wenig.«
»Und weißt du, warum? Weil es noch eine andere Welt gibt, die über die, die wir kennen, weit hinausgeht. Die Welt der Träume, der Ungeheuer und der Chimären, die Welt der Phantasie und der Leidenschaften mit all ihren Geheimnissen. Das ist die Welt, von der wir in einigen Augenblicken unseres Lebens berührt werden, die uns zu sinnlosen Handlungen verleitet oder uns unter einem eiskalten Hauch erschauern läßt, der uns in der Nacht wie der Gesang einer im Schatten verborgenen Nachtigall erfaßt. Wir wissen auch nicht, wie weit diese Welt sich erstreckt, ob sie Grenzen hat oder unendlich ist. Befindet sie sich in oder außerhalb von uns, nimmt sie, um sich zu offenbaren, den Anschein des Realen an, oder verbirgt sie sich gänzlich dahinter. Prophezeiungen ähneln den Worten, die ein schlafender Mann im Traum spricht. Scheinbar haben sie keinen Sinn, doch kommen sie tatsächlich aus den verborgensten Abgründen der universellen Seele.«
»Ich dachte, du seiest ein Christ.«
»Macht das einen Unterschied? Auch du könntest das sein, was dein Herz manifestiert. Statt dessen bist du ein Heide.«
»Wenn das bedeutet, in Treue zu den Traditionen der Ahnen und dem Glauben der Väter zu stehen oder Gott in allen Dingen und alle Dinge in Gott zu sehen, wenn es bedeutet, bitter die einstige Größe zu beweinen, die nie mehr zurückkehren wird, nun gut, dann bin ich ein Heide.«
»Und gleiches gilt auch für mich. Siehst du diesen Mistelzweig hier um meinen Hals? Er kennzeichnet die Verbindung zu jener Welt, in die ich hineingeboren wurde - mit all ihrer uralten Weisheit. Ziehen wir vielleicht nicht andere Gewänder an, wenn wir von einem warmen in ein kaltes Land kommen? So steht es auch mit unserer Sicht der Welt. Religion ist die Farbe, die unsere Seele entsprechend dem Licht annimmt, dem sie ausgesetzt ist. Du hast mich im Licht der mediterranen Welt erlebt, aber vergiß nicht, im Dunkel der Wälder Britanniens werde ich ein anderer sein und dennoch derselbe. Es ist unvermeidlich, und so muß es sein. Weißt du noch, als wir über den Rhein fuhren und die Hymne an die Sonne angestimmt haben? Alle haben wir gesungen, sowohl Christen als auch Heiden, denn der Glanz der Sonne, die nach jeder Nacht wieder neu aufgeht, steht auch für das Antlitz Gottes und die Glorie Jesu Christi, der das Licht immer wieder in diese Welt trägt.«
Und so verbrachten sie die Nacht, indem sie von Zeit zu Zeit redeten und sich gegenseitig Mut zusprachen, dann wieder schweigend ruderten, bis plötzlich der Nebel sich lichtete und Wind aufkam. Demetrios setzte das Segel, während seine Gefährten, die von der nächtlichen Anstrengung völlig erschöpft waren, sich endlich ein wenig Ruhe gönnten. Kaum jedoch, daß die Morgenröte ihren Glanz ausbreitete, ertönte die Stimme von Ambrosinus: »Seht nur! Seht alle hin!«
Aurelius hob sein Haupt. Romulus und Livia eilten auf das Vorschiff, während Batiatus, Orosius und Demetrios die Taue losließen, mit denen das Segel gehalten wurde. Sie alle bewunderten den Anblick, der sich langsam vor ihren Augen enthüllte. In den ersten Strahlen der Morgensonne stieg aus dem Nebel ein Land der grünen Wiesen und weißen Klippen empor, umsäumt von dem blauem Himmel, dem Meer und der gurgelnden Gischt. Der Wind liebkoste das Land, und Millionen von Vögeln begrüßten es mit ihrem Ruf.
»Britannien!« rief Ambrosinus. »Mein Vaterland!« Er öffnete weit die Arme, als wolle er einen lieben Menschen an sich ziehen, nach dem er sich lange gesehnt hatte. Er weinte. Über sein Asketengesicht rannen ihm die Tränen, die seine Augen mit neuem Licht und Glanz erfüllten. Dann fiel er nieder auf die Knie. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und versenkte sich in ein Gebet, das ihn mit dem Geist seiner Heimat verschmolz, den ihm der Wind mit seinen verlorenen und nie vergessenen Gerüchen zutrug.
Schweigend, doch voller Anteilnahme, betrachteten ihn die anderen. Sie schreckten erst wieder auf, als der Bootskiel über den sauberen Kies des Strandes knirschte.
Nur Juba war über den britannischen Kanal transportiert worden, die anderen Pferde hatten sie Teutasius als Entgelt für die Überfahrt in Zahlung gegeben. Nun führte Aurelius ihn die schmale Planke hinab und streichelte ihn dabei beruhigend. Er betrachtete ihn, wie er an diesem herrlichen Tag, der wie ein vorgezogener Frühlingstag wirkte, wie die Flügel eines Raben im Licht der Sonne strahlend erglänzte. Dann stiegen auch die anderen aus dem Boot, als letzter Batiatus, der Romulus im Triumph auf seinen Schultern trug.
Sie schlugen den Weg nach Norden ein und stapften durch grüne Felder, die immer wieder von flächigen Schneeverwehungen unterbrochen waren, aus denen hier und da purpurfarbene Krokusse hervorlugten. Auf den Hecken, die rot von Beeren waren, hüpften die Rotkehlchen umher, schienen aber einzuhalten, um einen neugierigen Blick auf die kleine Schar zu werfen, die an ihnen vorüberging. Gelegentlich standen riesige Eichen inmitten großer Weideflächen, in deren kahlen Ästen goldfarbige Mistelbeeren leuchteten.
»Siehst du?« sagte Ambrosinus zu seinem Schüler. »Das ist die Mistel, die heilige Pflanze unserer uralten Religion, von der angenommen wurde, daß sie vom Himmel herabgeregnet ist. Ebenso heilig ist uns die Eiche, von welcher der Name für die weisen Männer der keltischen Religion herrührt: die Druiden.«
»Ich weiß«, antwortete Romulus. »Der Name kommt von dem griechischen Wort drys, das >Eiche< bedeutet.«
Aurelius rief sie in die Wirklichkeit zurück. »Wir sollten uns rasch einige Pferde besorgen, zu Fuß sind wir viel zu leicht anzugreifen.«
»Sobald es möglich ist«, antwortete Ambrosinus. »Sobald es möglich ist.« Und wieder gingen sie weiter. Sie marschierten den ganzen Tag und kamen über Felder, an denen einige verstreute Bauernhöfe und mit riesigen Heustapeln bedeckte Holzhütten lagen. Die Dörfer bestanden aus kleinen Ansammlungen winziger Häuser, die sich alle dicht aneinander drängten. Je näher der Abend des kurzen Wintertages rückte, desto mehr Rauchwolken stiegen von den Dächern auf, und Romulus stellte sich vor, wie die Familien sich rings um die kärglich gedeckten Tische versammelten und im schwachen Licht einer Öllampe das Brot verzehrten, das sie sich gemeinsam erarbeitet hatten. Er beneidete sie um ihr einfaches und bescheidenes Leben, das vor der Gier machtausübender Männer geschützt war. Ja, er träumte sogar, dereinst selbst ein solches Leben zu führen.
Bevor die Nacht hereinbrach, nahm Ambrosinus Romulus an die Hand und ging nur mit ihm zu der Tür eines abgelegenen Hauses, das etwas größer und reicher schien als die anderen, die sie gesehen hatten. Neben dem Gebäude lag ein weitläufiges Gehege mit einer Herde Schafe darin, die gut in der Wolle standen, daneben ein weiteres Gatter, das ein paar Pferde umschloß. Ein kräftiger Mann, eingehüllt in einen Umhang aus grober Wolle, das Gesicht eingerahmt von einem schwarzen, mit silbergrauen Fäden durchzogenen Bart, kam an die Tür.
»Wir sind Wanderer«, sagte Ambrosinus. »Die übrigen warten hinter der Hecke dort. Wir kommen aus einem Land jenseits des Meeres und sind auf dem Weg in die Länder des Nordens, die ich vor vielen Jahren verlassen habe. Ich heiße Myrdin Emreis.«
»Wie viele seid ihr?« fragte der Mann.
»Insgesamt acht. Wir brauchen Pferde, wenn du uns welche verkaufen kannst.«
»Ich heiße Wilneyr«, sagte der Mann, »ich habe fünf Söhne, die alle sehr stark sind und mit Waffen gut umgehen können. Wenn ihr in Frieden kommt, werde ich euch wie Gäste aufnehmen, kommt ihr aber als Räuber, dann wisset, daß wir uns nicht wie die Fische ausnehmen lassen.«
»Wir kommen in Frieden, mein Freund, und im Namen Gottes, vor dessen Richterstuhl wir dereinst alle stehen werden. Der Not halber sind wir bewaffnet, aber wir stellen die Waffen vor der Tür ab, bevor wir uns unter dein Dach begeben.«
»Dann kommt herein. Wenn ihr über Nacht bleiben wollt, könnt ihr im Stall schlafen.«
»Ich danke dir«, antwortete Ambrosinus. »Du wirst es nicht bereuen.« Und er schickte Romulus los, ihre Gefährten zu holen.
Als Batiatus erschien, riß der Mann vor lauter Verwunderung die Augen auf und wich, von plötzlichem Schrecken ergriffen, einige Schritte zurück. Seine Söhne drängten sich dicht an seine Seite.
»Habt keine Angst«, sagte Ambrosinus. »Er ist nur ein schwarzer Mann. In seinem Land sind alle so schwarz wie er. Wenn dort ein Weißer hinkommt, ruft er das gleiche verblüffte Erstaunen hervor, wie ihr es jetzt verspürt. Doch ist er gutmütig und friedfertig, auch wenn er über unglaubliche Kräfte verfügt. Für sein Abendessen müssen wir das Doppelte zahlen, da er den Appetit von zwei Männern besitzt.«
Wilneyr bot ihnen einen Platz am Feuer an und gab ihnen Brot, Käse und Bier zum Mahl, was allen das Herz erwärmte.
»Für wen züchtest du deine Pferde?« fragte Ambrosinus. »Soweit ich gesehen habe, sind es Tiere, die kriegstauglich sind.«
»Das stimmt. Und es kommen auch immer mehr Nachfragen nach ihnen. In diesem Land gibt es keinen Frieden, nirgendwo, wohin ich auch gekommen bin. Deshalb fehlt niemals Brot auf meinem Tisch, ebensowenig wie Schaffleisch und Bier. Aber erzähl mir lieber von dir, du hast mir gesagt, du kämest in Frieden. Warum willst du dann aber Pferde kaufen und bist mit bewaffneten Männern unterwegs?«
»Das ist eine lange, vor allem sehr traurige Geschichte«, antwortete der Alte. »Eine ganze Nacht würde nicht ausreichen, um sie zu erzählen. Wenn du sie jedoch hören willst, werde ich dir soviel sagen, wie ich kann. Ich habe vor niemandem etwas zu verbergen: außer vor meinen Feinden, die uns verfolgen. Wie ich schon sagte, bin ich kein Fremdling. Ich stamme aus diesem Land, und zwar aus der Stadt Carvetia, und wurde von den Weisen des heiligen Hains von Gleva erzogen.«
»Das sah ich an deinem Schmuck um den Hals«, sagte Wilneyr, »und das war auch der Grund, warum ich dich eingelassen habe.«
»Ich könnte ihn gestohlen haben«, erwiderte Ambrosinus mit einem ironischen Lächeln.
»Das glaube ich nicht. Deine Person ebenso wie deine Worte und dein Blick geben mir klar zu verstehen, daß du dieses Symbol dir nicht widerrechtlich angeeignet hast. Erzähle also, wenn du nicht zu müde bist. Die Nacht ist lang, und wir haben nicht oft Gäste, die von so weit herkommen.« Während er sprach, blickte er noch einmal auf Batiatus, dessen viel zu dunkle Augen und zu dicken Lippen, die eingedrückte Nase, der Stiernacken und die zwischen den mächtigen Oberschenkeln verschränkten riesigen Hände ihn in höchstes Erstaunen versetzten.
Dann begann Ambrosinus zu erzählen: wie er vor vielen Jahren aus seiner Stadt und dem Hain aufgebrochen war, um den römischen Kaiser um Hilfe zu bitten, der ihm den Helden Germanus und General Paullinus zur Seite gestellt hatte, den letzten Verteidiger des Großen Walls. Er erzählte von den Irrfahrten und Beschwernissen, von glücklichen Tagen, aber auch endlosem Leid. Wilneyr und seine Söhne hörten ihm wie gebannt zu, es war spannender als jede Geschichte, die sie je von einem der Barden gehört hatten, die von Stadt zu Stadt und von Gehöft zu Gehöft zogen, um von den Abenteuern der britannischen Helden zu erzählen.
Doch schwieg Ambrosinus über Romulus' Identität und sein Schicksal, da die Zeit dafür noch nicht gekommen war. Als er geendet hatte, war es spät in der Nacht, und die Flammen des Herdfeuers verloschen langsam.
»Nun sag mir«, fragte nun Ambrosinus seinerseits, »wer teilt sich die Macht auf der Insel? Und wer von den Kriegsherren ist der stärkste und wird am meisten gefürchtet? Was gibt es Neues über die Städte, die einst so blühend und lebenskräftig waren, als ich dieses Land verließ?«
»Wir leben in einer Zeit wüster Tyrannei«, antwortete Wilneyr ernst. »Niemandem liegt das Wohl des Volkes am Herzen. Es herrscht das Gesetz des Stärkeren, und für den, der dabei unterliegt, gibt es kein Mitleid. Der berühmteste, aber auch schrecklichste der Tyrannen ist gewiß Wortigern. Einst hatten ihn die Städte darum gebeten, sie vor den Angriffen der nordischen Krieger zu beschützen. Er dagegen unterwarf sie sich und belegte sie mit schweren Tributzahlungen, die sie kaum aufbringen konnten. Und obwohl es in manchen dieser Städte noch den einstigen Ältestenrat gibt, hat ihnen Wortigern doch jede Macht aus den Händen genommen. De facto haben die Städte also ihre Freiheit gegen die Sicherheit eingetauscht, da sie heute hauptsächlich von Kaufleuten bewohnt werden, die den Frieden wollen: um Gewinne zu machen und sich am Warenaustausch und Handel zu bereichern. Doch je mehr Wortigern die Kraft seiner Jugend verlor, desto weniger konnte er noch die Aufgaben erfüllen, auf die seine Macht einst gegründet war. Deshalb hat er die Sachsenstämme um Hilfe gebeten, die auf dem Kontinent die Halbinsel Kymre bewohnen. Doch wie so oft war das Heilmittel schlimmer als die Krankheit, und die Unterdrückung verdoppelte sich, anstatt weniger zu werden. Nun haben die Sachsen nur noch eins im Sinn: so viele Reichtümer wie möglich anzuhäufen, die sie den heimischen Bürgern stehlen. Die Überfälle der Skoten und Pikten aus dem Norden haben damit aber längst nicht aufgehört. Und so kämpfen die Barbaren wie Hunde, die sich um einen Knochen streiten, um die spärlichen Reste all dessen, was einst ein wohlhabendes, lebenskräftiges Land war und jetzt nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Nur draußen auf dem Land kann man noch überleben, wie du siehst, aber vielleicht nicht mehr lange.«
Niedergeschlagen suchte Aurelius die Augen von Ambrosinus. War dies das so lang ersehnte Land? Worin war es besser als das blutige Chaos, dem sie eben erst entflohen waren ? Doch weilte der Blick des Weisen anderswo, als sei er auf der Suche nach Bildern einer Zeit, die weit hinter ihm lag und in der er sein Land einst verlassen hatte. Es schien, als bereite er sich darauf vor, den Riß in der Zeit wieder zu flicken, der eine offene Wunde in seiner persönlichen Geschichte und der seines Volkes darstellte.
Einer von Wilncyrs Söhnen zeigte ihnen den Weg in den Stall, wo sie sich erschöpft neben den ruhig wiederkäuenden Ochsen auf ein Bett aus Heu niederlegten und sich dem Schlaf überließen. Die Hunde, die der Hausherr aus ihrem Zwinger gelassen hatte, bewachten sie: riesige Mastiffs, die mit eisernen Spitzen besetzte Halsbänder trugen und es gewohnt waren, sich mit Wölfen und vielleicht noch schlimmeren Raubtieren herumzuschlagen.
Sie erwachten im Morgengrauen. Nachdem sie die warme Milch, welche die Frau von Wilneyr gemolken hatte, getrunken hatten, machten sie sich zur Weiterreise bereit. Sie kauften einen Maulesel für Ambrosinus und sieben Pferde. Eines davon war etwas kleiner als die anderen, das andere ein riesiger Hengst, der aus Armorica stammte und die britannischen Stuten decken sollte. Als ihn Batiatus bestieg, wirkte er wie eines dieser kolossalen Reiterstandbilder aus Bronze, die einst die Foren und Triumphbögen der Hauptstadt der Welt zierten.
Wilneyr zählte das Geld: Es war alles, was Livia noch hatte. Das gute Geschäft, mit dem er den Tag begonnen hatte, ließ ihn äußerst zufrieden auf der Türschwelle seines Hauses zurück, von wo aus er ihrer Weiterreise zusah. Sie wirkten im ersten Licht dieses Morgens wie die Krieger aus alten Legenden, wobei der blasse Knabe, der ihnen auf seinem Fohlen vorausritt, wie ein junger Feldherr aussah und das Mädchen wie eine Nymphe des Waldes. Welchen Abenteuern ging diese kleine Schar wohl entgegen? Er kannte nicht einmal ihre Namen, und dennoch schien es ihm, als seien sie ihm schon lang vertraut. Er hob einen Arm zum Gruß, wofür sie sich vom Gipfel des Hügels aus bedankten, über den sie jetzt in langsamem Schritt wie dunkle Umrisse im perlfarbenen Licht des Morgens zogen.
Dieses an Gefahren so reiche Land barg für Ambrosinus keine Geheimnisse, als hätte er sich erst vor wenigen Tagen und nicht vor vielen langen Jahren daraus entfernt. Er war mit der Sprache, der Landschaft und dem Charakter seiner Bewohner vertraut, er wußte, wie man die Wälder durchstreifte, ohne sich in ihnen zu verlaufen oder gar in Bedrängnisse wie einen Hinterhalt zu geraten. Er kannte die Tiefe der Flüsse und die Länge von Tagen, Nächten und sogar Stunden. Aus den Farben des Himmels entnahm er, wann sich ein Sturm zusammenbraute oder das schöne Wetter wiederkam, aus den Stimmen der Vögel präzise Botschaften von Alarm oder Frieden, und auch die knotigen Stämme der Bäume sprachen zu ihm. Sie erzählten von schneereichen Wintern und fruchtbaren Frühlingszeiten, von ausgiebigen Regengüssen und Blitzen, die vom Himmel herabschössen. Nur ein einziges Mal mußten sie sich einer Bedrohung stellen und den Kampf mit einer Räuberbande auf sich nehmen, die einen Überfall plante. Doch die überwältigende Wirkung von Batiatus auf dem riesigen Hengst aus Armorica sowie die tödliche Kraft von Aurelius und Vatrenus ließ sie bald mit den Angreifern fertig werden. Livias Pfeile, Demetrios blitzartige Schnelligkeit und Orosius ruhige Kraft taten das übrige, um die Räuber in die Flucht zu schlagen, die sich seit langem nur aufs Plündern verstanden und nicht mehr wie Soldaten zu kämpfen vermochten.
So durchritt die kleine Karawane fast ein Drittel des Landes in wenig mehr als zwei Wochen, bis sie ihr Lager unweit einer Stadt namens Caerleon aufschlug.
»Ein seltsamer Name«, sagte Romulus, der sie aus der Ferne betrachtete und über die merkwürdige Mischung aus beeindruckenden antiken Bauten und ärmlichen Hütten verblüfft war.
»Das ist nur die örtliche Verballhornung von Castra Legionum«, erklärte Ambrosinus. »Hier hatten einst die Legionen des Südens ihr Lager aufgeschlagen. Das Gebäude, das du dort unten siehst, ist der Rest, der vom Amphitheater noch übrig ist.«
Auch Aurelius und die anderen betrachteten die Stadt. Es berührte sie seltsam, daß die Spuren Roms trotz ihres Verfalls und der beginnenden Auflösung noch so beeindruckend waren.
Ihr Ritt dauerte noch weitere zwei Wochen an, bis sie die ersten Anhöhen am Rande weitläufiger Wälder erreichten. Eines Abends, als sie im Lager am Feuer saßen, befand Aurelius, es sei nun die Zeit gekommen, um das Ziel ihres langen Marsches zu erfahren, die Zukunft, die sie in diesem von aller Welt so weit entfernten Gebiet erwartete.
»Wohin gehen wir, Meister?« fragte er unvermittelt. »Meinst du nicht, daß du es uns endlich sagen solltest?«
»Ja, Aurelius, du hast recht. Wir gehen nach Carvetia, von wo ich vor vielen Jahren mit dem Versprechen aufbrach, mit einem kaiserlichen Heer wieder zurückzukehren, um dieses Land von den nordischen Barbaren und von Wortigern zu befreien, dem Tyrannen, der es damals unterdrückte und es noch heute tut, wie wir erfahren haben. Auch wenn er jetzt alt und schwach ist. Machtgier ist eine sehr kraftvolle Medizin: Sie hält auch einen Sterbenden weiter am Leben.«
Sie sahen einander in größter Verwunderung an.
»Mit einer Armee wiederzukommen, hast du versprochen. Und wir sind alles, was du zurückbringst?« meinte Vatrenus und deutete dabei auf sich und seine Gefährten. »Fürchtest du nicht, daß sie uns mit einem unbändigen Lachen empfangen werden? Ich dachte, du führtest uns an einen ruhigen Ort, an dem wir in Frieden leben könnten. Das haben wir uns doch verdient, oder etwa nicht?«
»Wenn ich ehrlich bin«, fügte Demetrios hinzu, »habe auch ich etwas ähnliches erwartet, einen Ort außerhalb der geschäftigen Welt, vielleicht auf dem Lande, an dem man eine Familie gründen kann und das Schwert nur noch dazu benutzt, um Brot oder Käse zu schneiden.«
»Ja, solch ein Ort würde auch mir gefallen«, sagte Orosius. »Wir könnten ein kleines Dorf bauen und uns gelegentlich treffen, um bei einem gemeinsamen Mahl über die Mühen und Gefahren zu sprechen, die wir durchgestanden haben. Wäre das nicht schön?«
Auch Batiatus schien mit dieser Vorstellung einverstanden. »Mir ist aufgefallen, daß sie in dieser Gegend noch nie einen Schwarzen gesehen haben. Dennoch glaube ich, sie könnten sich an mich gewöhnen. Und vielleicht finde ich ein Mädchen, das mit mir leben möchte, was meint ihr?«
Ambrosinus hob die Hand, um die Gespräche abzuschneiden. »Im Norden steht noch eine Legion unter Waffen, die den Kaiser erwartet. Man nennt sie die Legion des Drachen. Ihr Banner zeigt einen silbernen Drachen mit purpurnem Schweif, der, wenn er vom Wind bewegt wird und sich aufbläht, ganz so wirkt, als sei er lebendig.«
»Du phantasierst«, antwortete Aurelius. »Die letzte Legion war die unsrige, und wir sind, wie du genau weißt, ihre einzigen Überlebenden.«
»Das stimmt nicht«, entgegnete Ambrosinus, »es gibt sie tatsächlich, und gegründet wurde sie von Germanus. Als er starb, nahm er meinem Volk das Versprechen ab, diese Legion stets unter Waffen zu halten, um die Freiheit des Landes bis zu meiner Rückkehr zu schützen. Ich bin sicher, daß sie dieses Versprechen, das sie einem Helden und Heiligen gaben, niemals gebrochen haben. Vielleicht mögen euch meine Worte unsinnig erscheinen, doch habe ich euch je hintergangen oder getäuscht, seitdem ihr mich kennt?«
Vatrenus schüttelte noch verwirrter den Kopf. »Bist du dir klar darüber, was du da sagst? Selbst wenn das wahr wäre, sind die Soldaten mittlerweile doch uralt, haben weiße Barte und längst keine Zähne mehr.«
»Meinst du?« antwortete Ambrosinus ironisch. »Sie sind ebenso alt wie du, Vatrenus, und du, Aurelius. Sie haben das Alter abgehärteter, ungebeugter Veteranen. Ich weiß, daß euch das alles absurd vorkommen mag, doch hört auf mich, um Gottes willen! Ihr werdet erhalten, was ihr begehrt. Sicher könnt ihr euer Leben an einem friedlichen Ort verbringen, ich werde euch selbst dorthin führen. Ein fruchtbares, verstecktes Tal, ein richtiges kleines Paradies, durch das ein kristallklarer Bach fließt. Kurz, ein Ort, an dem ihr von der Jagd und vom Fischfang leben könnt und auch die Frauen bekommt, die ihr begehrt. Ihr müßt nur mit den Nomaden verhandeln, die jedes Jahr dort mit ihren Herden vorüberziehen. Doch müßt ihr erst euer Werk zu Ende bringen, wie ihr es mir und dem Knaben versprochen habt. Weiter verlange ich nichts von euch. Begleitet uns bis zu dem befestigten Lager, das unser endgültiges Ziel sein wird, anschließend könnt ihr ganz nach Belieben eure eigenen Entscheidungen treffen. Und ich verspreche euch, alles zu tun, was in meiner Macht steht, um euch dabei zu unterstützen.«
Aurelius wandte sich an seine Kameraden: »Ihr habt es vernommen. Unsere Aufgabe ist es, den Kaiser zu seiner Legion zu führen, sofern es diese noch gibt. Danach sind wir von unserer Verpflichtung entbunden. Vielleicht können wir unter seinem Befehl weiterdienen, oder wir nehmen unseren verdienten Abschied.«
»Und wenn es sie nicht mehr gibt?« fragte Livia, die bis zu diesem Moment geschwiegen hatte. »Was tun wir dann? Sollen wir ihn seinem Schicksal überlassen? Vielleicht auseinanderlaufen, der eine hierhin, der andere dorthin, oder bleiben wir alle gemeinsam an diesem herrlichen Ort, den uns Ambrosinus beschrieben hat?«
»Wenn es diese Legion nicht mehr gibt, steht es euch frei zu tun und zu lassen, was ihr wollt. Auch du, mein Sohn«, sagte Ambrosinus zu Romulus gewandt. »Du kannst mit ihnen zusammen leben, falls sie sich zum Verweilen entscheiden, was ich mir sehnlichst erhoffe. Dann kannst du in Frieden zu einem Mann heranwachsen, vielleicht ein Hirte, ein Jäger oder Bauer werden, das eben, was dir am meisten zusagt. Doch bin ich sicher, daß Gott dir ein anderes Schicksal zuerkannt hat, der diese Männer und auch diese Frau zum Instrument deines Schicksals erwählte, ganz so, wie auch mir es vergönnt ist. Was wir erlebten, entsprang nicht dem Zufall. Daß es uns gelang, so viele Herausforderungen zu bestehen, auch wenn es kaum möglich schien, geht weit über das menschliche Maß hinaus. Hier offenbart sich die Hand Gottes, gleich an welchen Gott ihr auch immer glauben mögt. Sie hat uns gelenkt und wird uns auch weiterhin lenken, bis sich seine Pläne erfüllt haben.«
Aurelius betrachtete seine Gefährten einen nach dem anderen, dann richtete er voll tiefen Gefühls seinen Blick auf Livia, damit sie die Leidenschaft in seinem Inneren erkannte, die so oft von der Angst und Zerrissenheit seines Herzens erstickt worden war. Und alle gaben ihm eine unmißverständliche Antwort, auch wenn sie nicht laut ausgesprochen wurde.
»Wir werden euch nicht allein lassen«, sagte er. »Weder vor noch nach diesem wahnsinnigen Unternehmen. Auch finden wir sicher eine Möglichkeit, um unser Leben gemeinsam zu verbringen. Der Tod hat uns so viele Male verschont, also ist es nur recht und billig, eines Tages das zu genießen, was uns vom Leben noch übrigbleibt, sei es nun kurz oder lang.«
Er erhob sich und ging davon, da er, wie er deutlich fühlte, dem leidenschaftlichen Aufruhr in seinem Inneren nicht mehr Herr wurde. Dazu waren seit einiger Zeit die Alpträume und Bilder zurückgekehrt, die ihn seit Jahren quälten, auch die schmerzhaften Stiche in seinem Kopf traten wieder häufiger auf und verdunkelten manches Mal seine Fähigkeit, sich und seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Vor allem gegenüber Livia. Ihm war, als sei der Kreis seines Lebens dabei, sich zu schließen, als müßte er hier, an den äußersten Grenzen der Welt, Rechenschaft ablegen gegenüber dem Schicksal und auch sich selbst.
Ambrosinus wartete, bis das Feuer verlöschte und alle sich niedergelegt hatten, dann ging er zu ihm. »Laß den Mut nicht sinken, ich bitte dich«, sagte er zu ihm. »Hab Vertrauen. Und vergiß nicht, die größten Unternehmungen wurden immer nur von einer Handvoll von Helden vollbracht.«
»Ich bin kein Held«, antwortete er, ohne sich auch nur umzudrehen. »Und das weißt du.«
In dieser Nacht schneite es, und das war der letzte Schnee in diesem Winter. Von da an marschierten sie im Schein der Sonne, unter einem Himmel, dessen Wolken so rein und weiß waren wie das Fell der Lämmer, die zum erstenmal mit den Herden auf die Weide gingen. Und mit jedem Tag, der verstrich, erblühten an den Südhängen noch mehr Veilchen und Margeriten als zuvor. Dann endlich hielt Ambrosinus eines Tages am Fuß eines Hügels an und stieg von seinem Maulesel. Er ergriff seinen Wanderstab, der aussah wie der eines Pilgers, und stieg unter aller Augen hinauf bis zur Spitze. Oben wandte er sich um und rief: »Kommt! Worauf wartet ihr? Los, nun macht schon!«
Verschwitzt und keuchend erreichte Romulus ihn als erster, ihm folgten Livia, Aurelius und Vatrenus und all die anderen. Vor ihnen, in ein paar Meilen Entfernung, erstreckte sich der Große Wall wie ein mächtiger steinerner Gürtel von einer Seite des Horizonts bis zur anderen, lediglich von wenigen Türmen und Kastellen unterbrochen. Unten, zu ihrer Rechten, glänzte nicht weit von ihnen das Wasser eines kleinen Sees klar und durchsichtig wie die Luft, in dessen Mitte man einen mit Moos begrünten Felsen erkennen konnte. Weiter hinten im Osten leuchtete der Gipfel eines Berges, der noch eine Schneehaube trug, und dahinter war auf einem Felsen ein verschanztes Lager zu sehen. Hingerissen betrachtete Ambrosinus diesen großartigen Anblick. Sein Blick schweifte über die riesige, in gewundenen Linien verlaufende Befestigungsanlage, die ein Meer mit dem anderen verband, schweifte dann von dem See zu dem Gipfel des Berges, bis er zuletzt auf das Lager fiel, das ebenso grau wie der Felsen war. Er sagte: »Wir sind angekommen, mein Sohn und meine Freunde, unsere Reise ist zu Ende. Das hier ist der Große Wall, der sich über das ganze Land erstreckt. Dort seht ihr den Mons Badonicus und hier, zu unseren Füßen, den Lacus Virginis, den Jungfrauensee, von dem es heißt, daß ihn eine Wassernymphe bewohnt. Und dort oben, fast völlig in den Felskörper eingegraben, verbirgt sich das Feldlager der letzten Legion Britanniens. Die Drachenfestung!«
XXXIII
Sie ritten hinab in das menschenleere Tal und dann den Weg auf die Festung zu, die jetzt weiter entfernt zu sein schien, als es vom Gipfel des Hügels ausgesehen hatte. Dabei kamen sie an dem kleinen See von bezaubernder Schönheit vorbei, dessen felsiges Becken von schwarzen, weißen und braunen Kieselsteinen umsäumt war, die im Schleier des transparenten Wassers funkelten und in Richtung des Hügels, auf dem sich die Festung erhob, zunehmend mehr wurden. Es war kein besonders hoher Hügel, der in einer Felsplattform endete.
»Der innere Bereich des Lagers«, erklärte Ambrosinus, »wurde aus dem Felsen herausgegraben, so daß eine ebene Fläche entstand, auf der die Unterkünfte für Truppen, Pferde und Ausrüstungen errichtet werden konnten. Und rings um den Felsen wurde eine Trockenmauer erbaut und darauf die Palisade mit den Wachtürmen.«
»Du scheinst dies alles sehr gut zu kennen«, sagte Aurelius.
»Gewiß«, antwortete Ambrosinus. »Ich habe hier lange Zeit als Arzt und Berater des Kommandanten Paullinus gelebt.«
»Und das, was ist das?« fragte Romulus. Er deutete mit seinem Finger auf eine Art Monument, das aus Megalithen bestand und jetzt hinter dem Hügel auf einer anderen Erhebung, die sich vorher den Blicken entzogen hatte, zu sehen war. Es wirkte wie eine riesige runde Steinplatte, die von vier gigantischen Felspfeilern, die sich nach den vier Himmelsrichtungen ausrichteten, umgeben war.
Ambrosinus blieb stehen. »Hier«, sagte er, »liegt einer der großen Krieger unseres Landes begraben, ein keltischer Fürst namens KaL-gak, den die lateinischen Autoren Calgaeus nannten. Er war der letzte Held des hiesigen Widerstands, als die Römer vor dreihundert Jahren Britannien überfielen.«
»Ich kenne die Geschichte«, sagte Romulus, »und habe sie bei Ta-citus nachgelesen, der Kalgaks Ansprache vor der letzten Schlacht niedergeschrieben hat. Ebenso die schrecklichen Worte, mit denen er die pax romana beschreibt.«
»>In hinterhältiger Falschheit bezeichnen sie die Unterjochung der Welt mit dem Wort Imperium und nennen es Frieden, wenn sie eine Wüste geschaffen haben<«, zitierte Aurelius. »Aber denke daran«, fuhr er stolz fort, »in Wirklichkeit sind das nicht Calgaeus Worte, sondern Tacitus hat sie geschrieben, ein Römer, der den römischen Imperialismus kritisierte. Das beweist auch die Größe unserer Kultur.«
»Es heißt, daß Kalgak einst an diesem Stein seine Ratsversammlungen abgehalten hat«, sagte Ambrosinus. »Seither wird er von allen Bewohnern des Landes, gleichgültig welchen Geschlechts, als ein Symbol der Freiheit betrachtet.«
Er stieg weiter hinauf zu dem äußeren Befestigungsgürtel des Lagers, doch war schon aus dieser Entfernung zu erkennen, daß der Ort menschenleer war. Verfallen lag die Palisade, die Türen waren aus den Angeln gehoben und die kleinen Türme längst baufällig geworden. Aurelius betrat als erster das Gelände, doch wo immer er auch seine Blicke hinschweifen ließ, stellte er nichts als die Zeichen von Vernachlässigung und Verwahrlosung fest.
»Eine Legion von Gespenstern ...«, murmelte er.
»Dieser Ort liegt seit Jahren verlassen, alles fällt hier in Stücke«, fügte Vatrenus hinzu, während Batiatus prüfte, wie stabil die Treppe war, die zum Wehrgang führte, als plötzlich die gesamte Konstruktion krachend zu Boden stürzte.
Verloren blickte Ambrosinus auf dieses trostlose Bild, das ihn beinahe überwältigte.
»Hast du denn wirklich erwartet, hier noch jemanden anzutreffen?« bedrängte ihn Aurelius. »Ich kann das nicht glauben. Schau doch hinab auf den Großen Wall: Seit mehr als siebzig Jahren gibt es kein römisches Banner mehr auf diesen Mauern. Wie konntest du hoffen, daß ausgerechnet dieses winzige Bollwerk überlebt? Sieh doch selbst: Es gibt keine Zeichen der Zerstörung oder des bewaffneten Widerstands. Sie haben sich einfach davongemacht, und das vor wer weiß wie langer Zeit.«
Ambrosinus ging auf die Mitte des Lagers zu. »Ich weiß, daß das alles so aussieht, als hätte es jede Bedeutung verloren, aber glaubt mir: Das Feuer ist nicht erloschen. Wir müssen es bloß anfachen, und die Flamme der Freiheit wird wieder auflodern.« Doch niemand hörte ihm zu. Alle schüttelten nur erschüttert ihr Haupt in dieser unwirklichen Stille, die nur von dem leisen Pfeifen des Windes und den quietschenden Fensterläden in den von der Zeit und den Unbilden des Wetters verwitterten Baracken unterbrochen wurde. Ohne die trübsinnige Atmosphäre weiter zu beachten, schritt Ambrosinus auf das Prätorium zu, die frühere Behausung des Kommandanten, und verschwand in ihrem Inneren.
»Wo geht er hin?« fragte Livia.
Aurelius zuckte mit den Schultern.
»Und was sollen wir jetzt tun?« fragte Batiatus. »Wenn ich das richtig verstehe, haben wir zweitausend Meilen völlig umsonst zurückgelegt.«
Romulus, der abseits in einer Ecke stand, schien in Gedanken versunken, selbst Livia wagte es nicht, zu ihm zu gehen. Sie verstand seine Gemütsverfassung und litt mit ihm.
»Wie die Dinge nun einmal liegen, sollten wir die Situation ganz realistisch betrachten«, begann Vatrenus.
»Realistisch? Das hier ist alles andere als realistisch. Sieh dich doch um, bei allen Göttern!« platzte Demetrios heraus. Doch kaum hatte er diese Worte gesprochen, als sich die Tür des Prätoriums öffnete und Ambrosinus wieder erschien. Das Stimmengewirr erstarb, und alle starrten verblüfft auf ihn, als er feierlich aus der Dunkelheit trat und einen wunderlichen Gegenstand in seinen Händen hielt - einen silberköpfigen Drachen mit weit aufgerissenem Maul und purpurnem Schweif, der an einer Stange befestigt war, von der ein Stoffstreifen mit einer Inschrift herabhing:
LEGIO XII DRACO.
»Mein Gott«, murmelte Livia. Romulus blickte starr auf das Banner und den mit goldfarbenen Schuppen bestickten Drachenschweif, der sich plötzlich in einem Windhauch so lebhaft bewegte, als sei er lebendig. Ambrosinus trat auf Aurelius zu und betrachtete ihn mit feurigen Augen. Sein Antlitz wirkte wie verklärt, auch wenn die Linien darin so angespannt waren, als hätte sie jemand in Stein gemeißelt. Er hielt Aurelius das Drachenbanner hin und sagte: »Es gehört nun dir, Kommandant. Hiermit ist die Legion neu gegründet worden.«
Aurelius zögerte. Reglos stand er der schmächtigen, fast ausgezehrten Gestalt gegenüber und nahm den gebieterischen Blick in sich auf, in dem ein geheimnisvolles, ungezähmtes Feuer loderte. Während der Wind auffrischte und eine Staubwolke emporwirbelte, die alles verhüllte, streckte er seine Hand aus und ergriff die Standarte.
»Jetzt geh«, befahl Ambrosinus. »Und pflanze sie auf dem höchsten Turm auf.«
Aurelius sah seine in Schweigen erstarrten Gefährten an, dann setzte er sich langsam in Bewegung, kletterte die Galerie empor und befestigte das Banner auf dem Westturm, dem höchsten des gesamten Lagers. Unter dem Peitschen des Windes rollte sich der Schweif des Drachen auf, und seinem metallenen Maul entrang sich ein schriller Ton, jenes Pfeifen, das so oft in der Schlacht die Feinde in Schrecken versetzt hatte. Er blickte nach unten. Die Gefährten standen nebeneinander aufgereiht und entboten in strammer Haltung den militärischen Gruß. Da füllten sich seine Augen mit Tränen.
Erneut begann Ambrosinus zu sprechen: »Wir werden uns hier niederlassen und den Ort wieder bewohnbar machen, der für die nächste Zeit unser Zuhause sein wird. Inzwischen werde ich versuchen, den Kontakt zu den mir bekannten Menschen, die vielleicht noch hier in der Gegend leben, wiederherzustellen. Und wenn der richtige Augenblick gekommen ist, werde ich bei dem Senat von Carvetia vorstellig werden, sofern er noch existiert. Sobald die Zeit reif ist, werde ich die Leute im Forum zusammenrufen und dann mit Romulus vor sie treten, um ihn dem Volk und dem Senat vorzustellen ...«
»Du hattest eine Armee versprochen, als du dieses Land vor vielen Jahren verließest«, sagte Vatrenus, »und kehrst mit einem Kind zurück. Was versprichst du dir davon?«
»Hört mich an. Da wir die Legion neu gegründet haben, werden versprengte Soldaten aus allen Richtungen herbeieilen und sich um ihren Kaiser und das Drachenbanner scharen. Vielleicht muß ich ihnen die Prophezeiung ins Gedächtnis zurückrufen: >Ein junger Mann wird vom südlichen Meer kommen und das Schwert tragen. Und wieder werden über dem weiten Land Britannien Adler und Drache ihre Flügel ausbreiten!<«
»Das Schwert ...«, murmelte Aurelius und neigte den Kopf. »Ich habe es verloren.«
»Nicht für immer«, antwortete Ambrosinus. »Du wirst es wiedergewinnen, das schwöre ich dir.«
Am folgenden Tag verließ Ambrosinus das Lager, um mit dem Land wieder in Verbindung zu treten, das er vor so langer Zeit verlassen hatte. Mit seinem Pilgerstab marschierte er allein los und durchquerte das Tal in Richtung Carvetia. Bei jedem Schritt spürte er, wie sein Innerstes von tiefen Gefühlen erschüttert wurde. Der Duft des Grases, den der Wind herantrug, der Gesang der Vögel, mit dem sie die aufgehende Sonne begrüßten, und die liebliche Landschaft der Wiesen, die immer mehr gelbe und weiße Blumen bedeckten: All das brachte ihm die fernen Tage seiner Jugend zurück und erschien ihm wieder so nah und vertraut, als hätte er diese Gefilde niemals verlassen. Je weiter er vorankam, desto höher stieg die Sonne strahlend am Himmel empor, erwärmte die Luft und ließ das Wasser der Bäche funkeln, die gleich silbernen Bändern die Felder durchzogen. Er beobachtete, wie die Hirten ihre Herden zur Weide führten und die Bauern auf den Feldern die Apfelbäume beschnitten. Es hatte den Anschein, als siege tatsächlich die Schönheit der Natur über das Unheil, das über den menschlichen Schicksalen lag. Welch ein glückbringendes Vorzeichen für sein Unterfangen.
Am späten Nachmittag gelangte er in Sichtweite der Stadt und erkannte auf einem Hügel den vertrauten Umriß eines großen alten Landhauses wieder. In Aufbau und stattlichem Ausmaß glich die Außenmauer einer Festungsanlage, auch wenn sich ringsum die Weiden und Felder erstreckten, auf denen die Bauern und Arbeiter betriebsam ihren Verrichtungen nachgingen. Die einen bereiteten den Boden für die Saat vor, während andere die trockenen Äste aus den Bäumen schnitten und wieder andere am Waldrand große Stämme auf die von Ochsen gezogenen Wagen hoben. In einer Koppel lief eine Herde von Pferden umher, angeführt von einem weißen Hengst mit langer Mähne, der in wildem Galopp dahinflog und mit seinem Schweif die Luft peitschte.
Ambrosinus schritt durch das Haupttor in den weiten Innenhof, in dem sich die Werkstätten der Schlosser, Hufschmiede und Tischler befanden. Als er das Haus betrat, wurde er von dem Freudengebell der Hunde und dem herrlichen Duft ofenfrischen Brotes empfangen. Niemand fragte ihn, wer er sei oder was er wolle. Doch bot ihm eine Frau als Gastgeschenk ein Stück duftendes, knuspriges Brot an, und deutlich erkannte er, daß sich in dem noblen Hause nichts verändert hatte, seit er dort damals zum erstenmal Aufnahme gefunden hatte. Er fragte: »Ist Herr Kustennin noch immer der Herr dieses Besitzes?«
»Das ist er, Gott sei Dank«, antwortete die Frau.
»Dann melde ihm bitte, daß ein alter Freund aus langem Exil endlich nach Hause zurückgekehrt ist und es kaum erwarten kann, ihn wieder in die Arme zu schließen.«
»Folge mir«, sagte die Frau zu ihm. »Ich werde dich zu ihm führen.«
»Nein, mir ist lieber, ich bleibe hier und warte auf ihn, wie es sich für einen Wanderer gebührt, der an die Tür klopft und um Zuflucht und Aufnahme bittet.«
Die Frau verschwand in einem Torbogen und stieg rasch die Treppe empor, die ins Obergeschoß der Villa führte. Wenig später hob sich im roten Licht des Sonnenuntergangs eine mächtige Gestalt ab. Ein Mann um die Fünfzig mit blauen Augen und graumelierten Schläfen, die breiten Schultern von einem schwarzen Umhang bedeckt, betrachtete ihn mit einem etwas unsicheren Gesichtsausdruck, als versuche er, den Pilger vor sich wiederzuerkennen. Ambrosinus ging ihm entgegen. »Kustennin, ich bin's, Myrdin Emreis, dein alter Freund. Ich bin zurückgekehrt.«
Die Augen des Mannes füllten sich mit Tränen der Freude. Er lief ihm entgegen und rief: »Myrdin!«, dann umfaßte er ihn mit den Armen und hielt ihn lange an sich gepreßt. »Wie lange ist das her«, sagte er mit zitternder Stimme. »Mein alter Freund, wieviel Zeit ist vergangen. Oh, guter Gott, wie konnte ich dich bloß nicht auf den ersten Blick erkennen!«
Ambrosinus löste sich aus der Umarmung, um ihm ins Antlitz zu blicken, fast ungläubig, ihn nach so vielen Jahren wiedergefunden zu haben. »Ich habe viele Arten von Widrigkeiten erlebt, mußte Hunger und Kälte erleiden und schreckliche Prüfungen bestehen, mein Freund. Das hat mein Äußeres völlig verändert, meine Haare wurden weiß, und sogar meine Stimme hat ihre Kraft verloren. Doch bin ich glücklich, dich wiederzusehen, so glücklich ... Du dagegen hast dich überhaupt nicht verändert, bis auf ein klein wenig Rauhreif an deinen Schläfen. Und deine Familie?«
»Komm«, sagte Kustennin, »und sich sie dir an. Egena und ich haben eine Tochter, Ygraine, die unser Augenstern ist.«
Und er schritt ihm voran die Treppe empor, bis sie durch einen Korridor in der Wohnung der Frauen ankamen.
»Egena«, sagte Ambrosinus, »ich bin Myrdin, erinnerst du dich noch an mich?«
Egeria saß neben einem Fenster und war mit einer Stickarbeit beschäftigt; sie legte sie nieder und kam ihm entgegen. »Myrdin? Ich kann es nicht fassen. Wir dachten, du seiest schon lange tot. Doch die Gnade des Herrn hat dich uns zurückgebracht, das müssen wir feiern. Du wirst nun für immer bei uns bleiben und nie mehr fortgehen!« Sie wendete sich ihrem Gatten zu: »Hab ich recht, Kustennin? Nicht wahr, ich hab doch recht?«
»So ist es«, antwortete ihr Mann. »Das würde uns sehr glücklich machen.«
Als Ambrosinus zu einer Antwort ansetzen wollte, wurde er von einem hübschen Mädchen unterbrochen, das ins Zimmer eintrat. Sie hatte die blauen Augen vom Vater und die flammend roten Haare ihrer Mutter und sah zauberhaft aus in ihrem Kleid aus hellblauer Wolle, das ihr bis zu den Füßen reichte. Es war Ygraine, die ihn anmutig begrüßte.
Egena gab ihren Dienern den Befehl, das Abendessen und auch ein Zimmer für den Gast zu richten. »Nur vorläufig«, sagte sie. »Morgen werden wir dich in einem besseren Teil des Hauses unterbringen, in dem du mehr Sonne hast ...«
Ambrosinus unterbrach sie: »Wie gern würde ich eure Gastfreundschaft annehmen, doch ich kann nicht bei euch verweilen, selbst wenn ich es mir von ganzem Herzen wünsche. Ich bin nicht allein, eine Gruppe von Freunden aus Italien ist mit mir unterwegs. Wir haben es gerade noch geschafft, einer erbarmungslosen, unablässigen Jagd zu entkommen.«
»Wer auch immer dich verfolgt«, antwortete Kustennin, »hier bist du in Sicherheit. Niemand wird es wagen, die Hand gegen dich oder deine Freunde zu erheben. Meine Diener sind alle bewaffnet und verwandeln sich, falls es nötig ist, innerhalb kürzester Zeit in eine disziplinierte und kampfbereite Truppe.«
»Ich danke dir«, antwortete Ambrosinus. »Ich habe eine lange Geschichte zu erzählen, und falls du die Geduld aufbringst, mir zuzuhören, werde ich sie noch heute abend zum besten geben. Doch warum tragen deine Diener Waffen, und was ist aus der Drachenlegion geworden? Meine Gefährten und ich haben in der alten Festung unser Lager aufgeschlagen und natürlich sofort erkannt, daß sie schon vor langem aufgegeben wurde. Wurden die Quartiere vielleicht woandershin verlegt?«
»Mein Gott, Myrdin«, antwortete Kustennin. »Die Legion gibt es seit vielen Jahren nicht mehr, sie hat sich aufgelöst ...«
Ambrosinus Gesicht lief rot an. »Aufgelöst? Ich kann das nicht glauben. Sie hatten beim verblutenden Körper des heiligen Germanus geschworen, bis zum letzten Atemzug die Freiheit unseres Vaterlandes zu verteidigen. Diesen Schwur habe ich nie vergessen, Kustennin, und jetzt bin ich zurückgekehrt, um mein Versprechen einzulösen. Soll das denn heißen, daß nicht einmal du mehr die Macht hast, dieses Land vor seinen Unterdrückern zu beschützen?«
Kustennin seufzte. »Ich habe jahrelang versucht, die Konsulatswürde aufrechtzuerhalten. Solange die Legion existierte, war das auch irgendwie möglich, selbst wenn es schon damals genügend Leute gab, die mich mit dem ehrenrührigen Titel eines Usurpators brandmarkten und mit jenen Verbrechern in einen Topf warfen, die dieses unglückliche Land tyrannisierten. Doch dann löste sich die Legion auf, und Wortigern gelang es, einen Gutteil des Senats durch Korruption an sich zu binden. Und heute beherrscht er mit seinen grausamen Söldnern das ganze Land. Carvetia ist als Stadt noch vom Glück begünstigt, da Wortigern unsere Pferdezuchten und den Hafen braucht. Allein aus dem Grunde schnürt er uns nicht völlig die Luft ab. Auch tritt noch immer der Senat zusammen, und die Richter üben, zumindest zum Teil, noch ihre Autorität aus. Doch ist das alles, was von der Freiheit übrigblieb, die Germanus uns einst mit dem Stolz und der Würde, Herr über das eigene Schicksal zu sein, zurückgegeben hatte.«
»Ich verstehe«, murmelte Ambrosinus und senkte dabei den Blick, um nicht zu zeigen, wie niedergeschlagen und verzagt ihn diese Worte machten.
»Aber erzähl mir von dir«, drängte ihn Kustennin. »Was hast du in all den Jahren erlebt, die du weg warst, und wer sind diese Freunde, von denen du gerade eben sprachst? Und warum hast du sie in das alte befestigte Lager geführt?«
Da unterbrach Egeria ihr Gespräch mit der Mitteilung, daß das Abendessen angerichtet sei, und die Männer setzten sich zu Tisch. Ein prachtvolles Feuer aus Eichenscheiten brannte im großen Kamin, die Diener schenkten schäumendes Bier in die Becher und legten Scheiben gebratenen Fleisches auf die Teller. Sie aßen mit großem Appetit und sprachen über die alten Zeiten. Als dann die Tafel aufgehoben wurde, legte Kustennin noch ein paar Holzscheite nach, bevor er süßen gallischen Wein in die Becher goß und den Freund dazu aufforderte, sich mit ihm ans Feuer zu setzen.
Die Woge der Erinnerungen ebenso wie der freundliche Empfang und der köstliche Wein brachten Ambrosinus dazu, sein Herz zu öffnen und seine Geschichte zu erzählen. Er begann an dem Punkt, als er Britannien verlassen hatte, um den Kaiser um Hilfe zu ersuchen. Es war spät in der Nacht, als er seine Erzählung beendete. In höchster Verwunderung blickte Kustennin ihn an und murmelte: »Allmächtiger Gott ... Du hast den Kaiser hierhergebracht, in eigener Person ...«
»So ist es«, antwortete Ambrosinus. »Und in diesem Augenblick schläft er an diesem einsamen Ort, in seine Felddecke gehüllt, die das einzige ist, was er besitzt, und er wird von den edelsten und mutigsten Männern bewacht, die je auf dieser Erde wandelten.«
XXXIV
Wulfila und seine Männer landeten am Tag nach der Ankunft Aurelius' und seiner Gefährten in Britannien, als gerade der Abend hereinbrach. In ihrem Gefolge befanden sich ihre Pferde und Waffen, und sie verloren keinerlei Zeit bei der Ausschiffung. Der Steuermann war zwar ein Untertan des Syagrius, hatte sich aber davon überzeugen lassen, ihnen zu folgen, da er in Britannien geboren war und ihnen dabei helfen konnte, sich in diesem unbekannten Land zu bewegen. Wulfila hatte ihm Geld gegeben, um ihn zur Desertion zu verleiten, und noch weiteres versprochen, falls er sich als nützlich erwiese.
»Was willst du wissen?« fragte ihn der Steuermann.
»Wie ich diese Männer einholen kann.«
»Das ist nicht leicht. Ich habe gesehen, daß sie von einem Druiden geführt wurden, oder zumindest von einem Mann, der von Druiden erzogen wurde. Das bedeutet, daß ihm dieses Land so vertraut ist wie einem Fisch das Wasser. Er kennt alle Geheimnisse und jedes Versteck. Wenn du noch dazurechnest, daß sie mehr als einen Tagesmarsch Vorsprung haben, wird es doppelt schwierig, ihre Spur zu verfolgen. Wenn wir wenigstens wüßten, was ihr Ziel ist. Das wäre etwas anderes, aber so ... Britannien ist groß, die größte Insel der Welt.«
»Aber es kann doch nicht so viele Straßen geben. Die Hauptrouten sind doch sicher bekannt.«
»Gewiß, aber wer sagt uns, daß sie sich an diese halten? Sie können auch durch die Wälder streifen, den Pfaden der Hirten oder denen der Wildtiere folgen.«
»Aber sie können sich nicht ewig vor mir verstecken. Bisher sind sie mir noch niemals entkommen, und das wird ihnen auch auf dieser Insel nicht gelingen.«
Er marschierte über den Strand, um die Bewegung der Brandung zu beobachten und sich seinem Zorn hinzugeben. Mit einem Wink bedeutete er plötzlich dem Steuermann, zu ihm zukommen: »Wer hat in Britannien das Kommando?«
»Wie meinst du das?«
»Gibt es einen König? Jemanden, der die höchste Macht innehat?«
»Nein, es streiten sich viele lokale Anführer, die grausam und rauflustig sind, um dieses Land. Einen Mann allerdings gibt es, den alle fürchten und der, unterstützt von brutalen Söldnern, einen großen Teil des Gebiets vom Großen Wall bis nach Caerleon beherrscht. Er heißt Wortigern.«
»Und wo befindet sich seine Residenz?«
»Im Norden. Er lebt auf einer unzugänglichen Festung, die auf dem ehemaligen römischen Feldlager Castra Vetera errichtet wurde. Einst war er ein mutiger Krieger, der bei dem Ansturm auf den Großen Wall gegen die Eindringlinge aus dem Hochland gekämpft hatte. Er beschützte die Städte und ihre Institutionen, doch dann ließ er sich von der Macht korrumpieren und wurde zu einem blutigen Tyrannen. Seine Herrschaft rechtfertigt er damit, daß er die Nordgrenzen verteidigen muß, aber das ist nur ein Vorwand. Tatsächlich bezahlt er Tribute an deren Anführer, die er sich dadurch erwirbt, daß er das Land wie ein Gauner und Dieb in ständigen Überfällen ausnimmt oder den sächsischen Söldnern, die er vom Kontinent herkommen ließ, einen Freibrief zum Plündern gibt.«
»Du weißt viel.«
»Weil ich lange Zeit in diesem Land gelebt habe. Dann habe ich mich vor lauter Verzweiflung nach Gallien abgesetzt und mich dort von Syagrius' Armee anwerben lassen.«
»Wenn du mich zu Wortigern führst, wirst du es nicht bereuen. Ich werde dir Vieh, Ländereien und Knechte geben, von allem soviel, wie du es dir nur wünschst.«
»Ich werde dich nach Castra Vetera bringen. Dort allerdings mußt du dann selbst eine Möglichkeit finden, von Wortigern empfangen zu werden. Es heißt, seine hervorstechendsten Eigenschaften seien Mißtrauen und Argwohn: zum einen, weil er viel Haß gesät hat und daher weiß, daß ihm viele aus Rache für erlittenes Unrecht den Tod wünschen. Zum anderen ist er mittlerweile alt und schwach und fühlt sich daher nur allzuleicht angreifbar.«
»Dann laß uns gehen, verlieren wir keine Zeit.«
Sie überließen das Schiff den rollenden Wogen der Brandung und marschierten den Weg an der Küste entlang, bis sie auf die alte römische Reichsstraße trafen, die sie am schnellsten an ihr Ziel brächte.
»Wie sieht er denn aus?« fragte Wulfila seinen Führer.
»Das weiß man nicht. Seit Jahren hat ihn niemand mehr zu Gesicht bekommen. Die einen sagen, er sei von einer abstoßenden Krankheit entstellt und sähe aus wie eine einzige eitrige Wunde. Andere meinen, daß er seinen Untertanen die Zeichen des Verfalls verheimliche, so seine glasigen, fast blinden Augen, den zahnlosen, sabbernden Mund und die Hängebacken. Sie sollen ihn weiterhin fürchten, also versteckt er sein Gesicht hinter einer goldenen Maske, die ihn für immer im Glanz seiner Jugend zeigt. Sie ist das Werk eines großen Künstlers, der dafür das Gold eines Meßkelchs einschmolz. Durch diese Gotteslästerung, so heißt es, bleibt Wortigern auf immer an seinen Pakt mit dem Satan gebunden, der ihm dafür bis zum Ende aller Jahrhunderte seine teuflischen Kräfte garantiert.« Verstohlen warf er einen Blick auf seinen Gesprächspartner, da er befürchtete, ihn an seine eigene Mißbildung erinnert zu haben. Doch seltsamerweise zeigte Wulfila keinerlei Groll.
»Du drückst dich zu gut aus, um ein Seemann zu sein«, sagte er. »Wer bist du wirklich?«
»Du wirst es nicht glauben, aber ich war selbst ein Künstler und kannte den Mann, der die Maske gefertigt hat. Man sagt, daß ihn Wortigern nach ihrer Vollendung töten ließ, da er der einzige war, der sein verunstaltetes Gesicht aus der Nähe gesehen hatte. Die Zeiten sind vorbei, in denen man einem Künstler Respekt entgegenbrachte, als sei er ein von Gott besonders bevorzugtes Geschöpf. Ist denn in dieser Welt überhaupt noch Platz für die Kunst? Als ich selbst in Not geriet, forderte ich das Schicksal heraus. Ich begab mich an Bord eines Fischerbootes und lernte dort, wie man Steuerruder und Segel bedient. Ich weiß nicht, ob ich je wieder in meinem Leben die Gelegenheit habe, Gold und Silber zu schmieden, wie ich es einst tat, vielleicht auch ein Heiligenbild für eine Kirche zu malen oder Mosaiksteine nach einem bestimmten Muster zu legen. Dennoch werde ich trotz meiner äußeren Erscheinung und meiner derzeitigen Lage für immer ein Künstler bleiben.«
»Ein Künstler?« fragte Wulfila und blickte ihm dabei mit einem sonderbaren Ausdruck in die Augen, als sei ihm plötzlich eine Idee in den Sinn gekommen. »Kannst du vielleicht auch Inschriften lesen?«
»Ich kenne die alten keltischen Inschriften, die Runen der Schonen, ja selbst die lateinischen Epigraphe«, antwortete der Mann stolz.
Wulfila zog das Schwert aus der Scheide und legte es vor ihn hin. »Dann erkläre mir, was die Buchstaben bedeuten, die in die Schwertklinge eingraviert sind. Und wenn wir am Ende unserer Reise angekommen sind, werde ich dich für deine Dienste bezahlen und deiner Wege ziehen lassen.«
Verblüfft betrachtete der Mann zuerst die Klinge und dann den Barbaren.
»Was ist denn?« fragte Wulfila unruhig. »Ist es vielleicht ein Zauber? Sprich!«
»Sehr viel mehr«, antwortete der Mann, »sehr viel mehr. Die Inschrift sagt, daß dieses Schwert Julius Cäsar gehörte, dem ersten Eroberer Britanniens. Es wurde von den Chalybern geschmiedet, einem Volk an der Südostküste des Schwarzen Meeres, das sein Geheimnis, den unüberwindbaren Stahl herzustellen, niemals gelüftet hat.«
Wulfila nickte mit einem Grinsen. »In meinem Volk sagt man, wer die Waffe eines Eroberers ergreift, wird selbst zum Eroberer, darum ist das, was du mir eben gesagt hast, das beste Vorzeichen für mich. Führe mich nun nach Castra Vetera. Wenn wir erst angekommen sind, werde ich dir weiteres Geld geben, und dann bist du frei, überall hinzugehen, wohin du nur willst.«
Fast zwei Wochen lang waren sie unterwegs. Sie marschierten durch die Gebiete vieler kleiner Despoten, doch hielt die beträchtliche Anzahl der Krieger zu Pferde in Wulfilas Gefolge und der erschreckende Anblick ihres Heerführers selbst jeden davon ab, sich in übermäßige Schwierigkeiten zu stürzen. Nur einmal wagte es ein mächtiger Potentat namens Gwynwird, der mit einer ansehnlichen Schar Bewaffneter unterwegs war, sie in der Nähe von Eburacum aufzuhalten und sie daran zu hindern, die Brücke zu überqueren, die in seinem Gebiet lag. Verärgert über das geringschätzige Benehmen des Fremden mit dem Narbengesicht, forderte er von Wulfila Wegegeld und die Abgabe seiner Waffen, die er erst zurückbekäme, wenn er sein Gebiet wieder verließe. Wulfila brach in Gelächter aus und gab ihm zur Antwort, daß er seine Waffen nur bekomme, wenn er sie sich im Kampf erobere. Dann forderte er Gwynwird zum Duell. Eifrig auf seinen Ruf und sein Ansehen bedacht, nahm dieser die Herausforderung an, doch als er Wulfila das Schwert ziehen sah, dieses Schwert von so exquisiter Machart und todbringender Schönheit, wußte er sich bereits verloren. Beim ersten Hieb wurde sein Schild zerschlagen, beim zweiten zersprang ihm das Schwert, und kurz darauf rollte sein Kopf, die Augen noch immer weit aufgerissen von dem Ausdruck entsetzter Ungläubigkeit, zwischen die Beine seines Pferdes.
Nach altem keltischem Brauch ergaben sich die Krieger des besiegten Anführers von nun an dem Befehl des Siegers, so daß Wulfilas Schar zu einer kleinen Armee anschwoll. Und während sie weiterzogen, eilten ihnen die schauerlichsten Gerüchte über die Grausamkeit ihres Anführers und sein unbesiegbares Schwert voraus, bis sie eines Tages in der Mitte des Winters vor Castra Vetera standen.
Der bedrohlich düstere Festungsbau erhob sich auf einem Hügel, der von einem dichten Tannenwald bestanden war, und wurde von einem Doppelgraben und einer Mauer geschützt, die Hunderte von Bewaffneten bewachten. Aus seinem Inneren war das ständige Gekläff der Wachhunde zu hören, und als sich Wulfila mit seiner Schar näherte, flog ein Schwärm Krähen zum Himmel empor und erfüllte die Luft mit ihrem durchdringenden Krächzen. Tiefe Wolken bedeckten den Himmel, der die Festung in ein bleiernes Licht tauchte und sie dadurch, wenn überhaupt möglich, noch düsterer wirken ließ. Wulfila schickte seinen Dolmetscher voraus, der zu Fuß ging und unbewaffnet war.
»Mein Herr«, verkündete dieser, »wurde vom kaiserlichen Hof im italienischen Ravenna ausgesandt, um Wortigern seinen Respekt zu erweisen und ihm ein Bündnis anzutragen. Er führt Geschenke und das kaiserliche Siegel mit sich, das seine Person und Mission bestätigt.«
»Warte hier und rühr dich nicht von der Stelle«, antwortete die Wache. Gleich darauf tuschelte er mit einem seiner Vorgesetzten, der im Inneren der Festung verschwand. Lange Zeit verging, in der Wulfila ungeduldig im Sattel saß und nicht wußte, was er von alldem halten sollte. Endlich kehrte der Mann zurück und überbrachte die Antwort seines Herrn. Der Gesandte sollte zunächst die Geschenke und das Beglaubigungsschreiben vorlegen, erst dann werde man ihn empfangen. Unbewaffnet und ohne Gefolgschaft.
Schon war Wulfila drauf und dran, sein Pferd zu wenden und wieder davon zureiten, als ihm ein Gefühl sagte, daß er, falls er diese Festung beträte, seinem Ziel einen entscheidenden Schritt näher gekommen sei. Und die Vorstellung, es mit einem kranken, schwachen Herrscher zu tun zu haben, tat das übrige, sich im Vertrauen auf seine eigenen ungebrochenen Energien auf ein so riskantes Unternehmen einzulassen. Durch lange Erfahrung geprägt und vor dem Hintergrund einer von ständigen Unruhen beherrschten Welt, die sich nur der Kühnheit des Stärkeren unterwarf, wußte er, daß es nur wenigen Männern gelang, sich aus dem Nichts zu den höchsten Gipfeln der Macht zu erheben, wenn sie es verstanden, günstige Gelegenheiten beim Schöpfe zu packen. Und so war er einverstanden.
Unter den strengen Augen bewaffneter Wachtposten überquerte er den Innenhof, dem noch die ursprüngliche Anlage des römischen Feldlagers anzusehen war, das ringsum von Pferdeställen und Kasernen gesäumt war. Dann gelangte er zum Hauptgebäude: einem Wachturm aus quadratisch behauenen Felsblöcken mit Fenstern so klein wie Schießscharten; darüber lag ein Wehrgang, den ein hölzernes Dach bedeckte. Er stieg zwei Treppen empor und stand vor einer schmalen, eisenbeschlagenen Tür, die sich wenig später öffnete, ohne daß einer der Männer aus seiner Eskorte angeklopft hätte. Mit einem Zeichen forderten sie ihn auf einzutreten, dann schloß sich die Tür hinter ihm wieder.
Wortigern stand allein vor ihm. Wulfila war sehr verwundert, daß sich niemand sonst in dem großen kahlen Raum befand. Der Tyrann saß auf einem Thron und sah sehr erschöpft und mitgenommen aus. Seine langen weißen Haare reichten ihm an beiden Seiten des Halses bis zur Brust hinab, während sein Gesicht von der Maske bedeckt war. Wenn die goldenen Züge der Wahrheit entsprachen, mußte er früher ein ungewöhnlich ansehnlicher Mann gewesen sein.
Bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, hallte seine Stimme aus dem Innern ihres metallischen Gehäuses hervor. »Wer bist du? Warum hast du verlangt, mich zu sprechen?«
Er sprach das allgemein verständliche Latein, das auch für seinen Gesprächspartner leicht zu verstehen war.
»Mein Name ist Wulfila«, antwortete er, »gesandt vom kaiserlichen Hof zu Ravenna, den nun ein neuer Herrscher befehligt. Er ist ein tapferer Krieger namens Odoaker, der dir die Ehre erweist und mit dir einen Freundschaftsbund schließen möchte. Der eigentliche Kaiser ist ein unerfahrenes Kind, das nichts von der Kriegskunst versteht, ein Spielball in den Händen intriganter Höflinge. Er ist abgesetzt worden.«
»Und warum will dieser Odoaker mein Freund werden?«
»Weil er um deine Macht als Beherrscher Britanniens und deine Tapferkeit im Kampf weiß. Dazu gibt es noch einen anderen, sehr wichtigen Grund, der mit dem abgesetzten Kaiser zu tun hat.«
»Sprich«, sagte Wortigern, den jedes Wort anscheinend unsägliche Mühe kostete.
»Einige Deserteure haben sich mit seinem Erzieher, einem irrsinnigen alten Kelten, zusammengetan und den Knaben entführt. Da sie sich nun hierher auf deine Insel geflüchtet haben, wollte ich dich darüber in Kenntnis setzen, wie ungemein gefährlich sie sind.«
»Ich soll also einen alten Mann und einen Knaben fürchten, die von einer Handvoll Räuber begleitet werden?«
»Vielleicht jetzt noch nicht, aber bald könnten sie eine Bedrohung darstellen. Erinnere dich, Herr, an den alten Spruch: >Wehret den Anfängen.<«
»Principiis obsta...«, wiederholte die Metallmaske mechanisch. Dieser Mann mußte in seiner Jugend die Erziehung eines Römers genossen haben.
»In jedem Fall wird es dir nützen, einen mächtigen Verbündeten wie Odoaker zu haben, der über Tausende von Kriegern und ungeheure Reichtümer verfügt. Wenn du ihm hilfst, die Verbrecher einzufangen, kannst du für immer auf seine Unterstützung zählen. Ich weiß, daß die nordischen Stämme noch immer dein Reich angreifen und du damit zu einem schwierigen, kostspieligen Krieg gezwungen bist.«
»Du bist gut informiert«, antwortete Wortigern.
»Um dir zu dienen und auch meinem Herrn Odoaker.«
Wortigern stützte sich auf die Armlehnen seines Throns, um Kopf und Rücken gerade aufzurichten, und durch die Löcher dieser gleichmütigen Maske spürte Wulfila die Kraft seines Blicks. Er fühlte, daß er seine Verunstaltung betrachtete, und erglühte vor blindem Haß.
»Du hast von Gastgeschenken gesprochen ...«, hub Wortigern von neuem an.
»So ist es«, antwortete Wulfila.
»Ich will sie sehen.«
»Das erste siehst du, wenn du zum Fenster hinausschaust. Es sind die zweihundert Krieger, die ich mit mir führe und die ich bereit bin, in deine Dienste zu stellen. Sie sind hervorragende Kämpfer und durchaus imstande, für ihren Unterhalt zu sorgen. Das heißt, sie werden dich überhaupt nichts kosten. Ich selbst biete mich an, sie bei allen Unternehmungen zu führen, die du uns anvertraust. Doch das ist nur der Anfang. Wenn du später weitere Truppen brauchst, wird sie dir mein Herr Odoaker jederzeit schicken.«
»Er muß große Angst vor diesem Kind haben«, meinte Wortigern. Wulfila sagte nichts darauf, sondern blieb gegenüber dem Thron stehen, da er annahm, der alte Tyrann ginge zum Fenster, um einen Blick auf die Männer zu werfen. Doch Wortigern machte keinerlei Anstalten dazu.
»Und die anderen Geschenke?«
»Die anderen?« Einen Augenblick lang wußte Wulfila nicht, was er darauf antworten sollte, dann erhellte sich sein Blick: »Ich habe nur noch eines«, fuhr er fort, »doch handelt es sich dabei um ein so ungewöhnliches Objekt, das du es dir kaum vorstellen kannst, ein Objekt, für das die mächtigsten Männer der Erde all ihre Reichtü-mer hergäben, um es zu besitzen. Es ist ein überaus kostbarer Talisman, der einst Julius Cäsar gehörte, dem ersten Eroberer Britanniens. Wer ihn sein eigen nennt, ist dazu bestimmt, für immer über dieses Land zu herrschen, und sein Stern wird niemals sinken.«
Mit gespannter Aufmerksamkeit saß Wortigern so kerzengerade auf seinem Thron, daß man ihn für eine Statue hätte halten können, wäre da nicht dieses kaum wahrnehmbare Zucken in seinen verkrümmten Händen gewesen. Wulfila fühlte förmlich die grenzenlose Gier, die er mit seinen Worten entfacht hatte.
»Laß es mich sehen«, sagte der Alte, und seine Stimme klang zugleich ungeduldig und gebieterisch.
»Das Geschenk wird dir gehören, wenn du mir hilfst, unsere Feinde zu fangen. Gib mir die Erlaubnis, sie so zu bestrafen, wie sie es verdienen, und überlaß mir den Kopf des Jungen. Das ist der Preis für das Schwert.«
Es folgte ein langes Schweigen, dann nickte Wortigern langsam mit dem Kopf. »Ich bin einverstanden«, sagte er. »Und für dich hoffe ich, daß mich dein Geschenk nicht enttäuschen wird. Der Mann, der dich vor meinen Thron geführt hat, ist der Kommandant meiner sächsischen Truppen. Du wirst ihm das Aussehen der Gesuchten genau beschreiben, so daß er unsere Informanten, die ihre Augen und Ohren überall haben, benachrichtigen kann.«
Nach diesen Worten erschlaffte sein Körper, als sei alles Leben aus ihm gewichen, und der Kopf sank ihm auf die Schulter. Durch die goldenen Lippen der Maske war nur noch ein schwaches Röcheln zu hören. Wulfila nahm an, daß damit die Unterredung beendet sei. Er verabschiedete sich mit einer angedeuteten Verbeugung und ging zur Tür.
»Warte!« rief ihn die Stimme plötzlich zurück.
Er drehte sich zum Thron um.
»Rom ... hast du es jemals gesehen?«
»Ja«, antwortete Wulfila. »Und seine Schönheit ist unbeschreiblich. Dennoch werde ich dir sagen, was ich gesehen habe - Triumphbögen aus Marmor, so hoch wie Paläste, darauf bronzene Wagen, die von Rössern, gegossen aus dem gleichen Metall, gezogen werden. Und gelenkt werden sie von geflügelten Göttergestalten, die wie Wagen und Pferde mit Gold überzogen sind. Riesige Plätze mit Arkaden umstellt, die von Hunderten von Säulen getragen werden und aus einem einzigen Steinblock gehauen sind, eine jede so hoch wie dein Turm hier. Und alle leuchten in den herrlichsten Farben. Die zahllosen Tempel und Basiliken sind über und über mit Malereien und Mosaiken verziert. In den Brunnen gießen Fabelwesen aus Marmor oder Bronze endlos Wasser in so riesige Steinbecken, daß mühelos hundert Männer darin Platz finden könnten. Und außerdem steht dort ein Bauwerk aus Hunderten von aufeinandergestellten Bögen, in dem früher die Römer die Christen den Raubtieren zum Fraß vorwarfen. Sie bezeichnen es als Kolosseum, und es ist so groß, daß deine ganze Festung darin Platz findet.«
Er hielt inne, da aus der Maske ein klagendes Pfeifen und leidendes Röcheln klang, das er nicht einzuordnen vermochte: vielleicht der nie verwirklichte Traum ferner Jugendtage oder die unbändige Gier, die von der Vorstellung solch immenser Reichtümer angeregt wurde, vielleicht aber auch die quälende Gewißheit, daß jede Vision wahrer Größe in diesem grauenhaft verunstalteten Körper, zerfressen von Alter und Krankheit, auf immer gefangen war.
Wulfila eilte hinaus, schloß die Tür hinter sich und kehrte zu seinen Männern zurück. Er warf dem Dolmetscher eine Börse mit Geld zu und sagte: »Hier dein Lohn, wie ich es dir versprochen habe. Jetzt bist du frei zu gehen, wohin du willst, denn ich weiß alles, was ich wissen mußte.« Der Mann nahm das Geld, beugte hastig den Kopf, um seinen Dank zu bezeigen, dann spornte er sein Pferd und galoppierte davon, um so weit wie möglich von dieser trübsinnigen Stätte fortzukommen.
Von diesem Tag an wandelte sich Wulfila in den treuesten und grausamsten Schergen Wortigerns. Wo immer ein Aufruhr vermeldet wurde, erschien er an der Spitze seiner Krieger und säte blitzschnell und mit verheerender Macht Tod, Schrecken und Zerstörung. Niemand wagte überhaupt noch von Freiheit zu sprechen oder sich seinen Freunden anzuvertrauen, er schwieg selbst innerhalb der vier Wände seines Hauses bei seinen Familienangehörigen. Die Gunst, die der Barbar bei dem Tyrannen genoß, stieg ins Unermeßliche, je mehr Früchte aus seinen Beutezügen und Plünderungen er ihm zu Füßen legte.
Wulfila verkörperte alles, was Wortigern längst verloren hatte: unerschöpfliche Energie, kraftvolle Arme und ein blitzschneller Geist. Er schien die direkte Verlängerung seines Herrscherwillens zu sein, so daß er ihm nicht einmal mehr einen Befehl zu erteilen brauchte. Der Barbar sah die Wünsche des Tyrannen bereits voraus und führte sie aus, noch bevor ihr Echo in dem großen kahlen Saal wiederhallte. Und dennoch fürchtete Wortigern ihn - gerade wegen all dieser Fähigkeiten und der bösartigen Intelligenz, die aus Wulfilas eiskalten Augen funkelte. Er mißtraute der scheinbaren Unterwerfung dieses geheimnisvollen Kriegers, der übers Meer gekommen war, auch wenn er vorgab, sein hauptsächliches Bestreben hege allein darin, das Kind zu finden und dessen Kopf nach Ravenna zu bringen.
Um zu veranschaulichen, wie er Verrat oder auch nur den Gedanken an Verrat zu ahnden in der Lage war, ließ ihn Wortigern eines Tages bei der Hinrichtung eines Vasallen zusehen, der nichts weiter verbrochen hatte, als einen Teil der auf einem Raubzug zusammengerafften Beute für sich zu behalten. Es gab einen Hof, der an den Turm angrenzte und von einer hohen Steinmauer umgeben war. Hier waren die Mastiffs eingesperrt, jene furchteinflößenden Tiere, die häufig in der Schlacht gegen die Feinde eingesetzt wurden. Wortigerns liebster und einziger Zeitvertreib war es, sie zweimal täglich zu füttern, indem er ihnen Fleischstücke aus dem Fenster zuwarf, das sich hinter seinem Thron befand. Die Hinrichtung begann, als man dem Verurteilten die Kleider vorn Leibe riß. Dann wurde er an ein Seil gehängt und langsam in den Zwinger hinuntergelassen. Die Hunde, die zwei Tage gehungert hatten, stürzten sich auf ihn und fraßen ihn von den Füßen her bei lebendigem Leib auf, wobei er von den Folterknechten immer tiefer herabgelassen wurde. Die Schmerzensschreie dieses Unglücklichen sowie das ohrenbetäubende Gekläffe der Mastiffs, die vom Blutgeruch und von dem erbitterten Streit um ihr Mahl außer Rand und Band gerieten, hallten im Inneren des Turmes so markerschütternd und durchdringend wider, daß keiner, der auch nur ein wenig Menschlichkeit besaß, es aushalten konnte. Doch Wulfila zuckte nicht einmal mit der Wimper, vielmehr kostete er dieses brutale Schauspiel bis zum letzten aus, und hatte, als er seinen Blick auf Wortigern richtete, nur den Ausdruck beunruhigender Grausamkeit und höchster Erregung in seinen Augen.
XXXV
Inzwischen hatte der Frühling begonnen, so daß nur noch der höchste Gipfel des Mons Badonicus, im örtlichen Dialekt Badon genannt, von Schnee bedeckt war. Während die Bauern wieder ihrer Feldarbeit nachgingen und die Hirten die Herden auf die Weide führten, sahen sie in der Ferne den im Wind flatternden purpurnen Drachen, dessen silbernes Haupt inzwischen gereinigt war und der auf dem höchsten Turm der Festung erglänzte: wie ein Signal, das ferne Erinnerungen an Tapferkeit und Ruhm in ihnen wachrief.
Während sich Ambrosinus auf den Dorfmärkten unter die Leute mischte und die Bauern auf dem Land in ihren Höfen aufsuchte, erkannte er die Erregung, die der Anblick des Drachen auslöste. Viele Männer erbebten bei diesen Erinnerungen an eine vergessene, unterdrückte Vergangenheit, auch wenn sie es kaum wagten, ihre Gedanken offen zum Ausdruck zu bringen. Einmal, als ein Hirte stehenblieb und das Banner der Legion betrachtete, gab Ambrosinus sich für einen Fremden aus und fragte: »Was ist das für ein Banner? Warum weht es denn dort auf der verlassenen Festungsanlage?«
Der Mann sah ihn mit einem sonderbaren Ausdruck an. »Du mußt von sehr weit her kommen«, sagte er, »wenn du dieses Banner nicht kennst. Jahrelang stand es als Zeichen für die Ehre und Freiheit dieses Landes und führte eine legendäre Armee in die Schlacht: die zwölfte Legion, die Legion des Drachen.«
»Ich habe davon gehört«, antwortete Ambrosinus. »Aber ich glaubte immer, daß es sich dabei nur um törichtes Gerede handelte, das man absichtlich ausstreute, um die Barbaren des Nordens von ihren Raubzügen abzuhalten.«
»Da irrst du«, antwortete der Flirte. »Diese Abteilung hat es wirklich gegeben, und auch dein Gegenüber gehörte ihr in seinen jungen Jahren an.«
»Was ist aus der Legion geworden? Wurde sie vernichtet oder zur Aufgabe gezwungen?«
»Nichts von beidem«, entgegnete der Hirte. »Sie wurde verraten, gerade als wir über den Wall hinaus einer Bande Skoten nachjagten, die Frauen aus einem unserer Dörfer geraubt hatten. Wir ließen einen mit uns verbündeten Stammesführer zurück, damit er den Durchgang am Großen Wall bewachte, durch den wir bei unserer Rückkehr wieder hereinkommen wollten. Doch als wir ihn erreicht hatten, von einer Horde wütender Feinde verfolgt, war der Durchgang versperrt, und unsere Verbündeten richteten ihre Waffen gegen uns. Wir waren eingekesselt! Viele von uns fielen im Kampf, doch manch einer konnte sich retten, weil plötzlich dichter Nebel aufstieg, der uns verbarg und uns half, durch ein verborgenes Tal in Sicherheit zu gelangen, das zwischen hohen Felswänden eingebettet lag. Wir beschlossen, uns einzeln durchzuschlagen und getrennt in unsere Häuser zurückzukehren. Der Verräter hieß übrigens Wortigern, der uns noch heute unterdrückt, uns mit Steuern und Raubzügen ausblutet und uns mit seiner Schreckensherrschaft knechtet. Seit damals leben wir in Schande und Dunkelheit. Wir gehen unserer Arbeit nach und versuchen zu vergessen, was wir einst waren. Doch jetzt tauchte wie durch ein Wunder dieses Banner aus dem Nichts wieder auf und erinnert uns daran, daß niemand, der je für die Freiheit kämpfte, als Sklave sterben darf.«
»Sag mir doch noch«, fuhr Ambrosinus fort, »wer es war, der die Legion aufgelöst hat? Wer hat euch geraten, zu euren Familien heimzukehren?«
»Nachdem unser Kommandant im Kampf gefallen war, schlug uns sein Stellvertreter Kustennin diese Möglichkeit vor, ein weiser, tapferer Mann, der für uns das Beste wollte. Seine Frau hatte ihm kurz zuvor ein Kind geboren, ein Mädchen so schön wie eine Rosenknospe, vielleicht erkannte er deshalb in diesem Augenblick, daß das Leben das kostbarste Gut auf Erden ist. Auch wir dachten an unsere Frauen, unsere Häuser und unsere Kinder. Doch war uns nicht klar, daß wir sie nur dann verteidigen konnten, wenn wir unter dem Banner vereint blieben ...«
Ambrosinus wollte die Unterredung gern noch weiterführen, doch der Mann, dem die Kehle wie zugeschnürt war, verstummte. Er warf einen langen Blick auf das Banner, das im Wind flatterte, dann entfernte er sich still.
Betroffen von diesen Enthüllungen, sprach Ambrosinus noch mehrere Male bei Kustennin vor und versuchte, ihn für seine Sache zu gewinnen. Doch vergebens. Unter diesen Voraussetzungen Wortigerns Macht herauszufordern, kam nach Kustennins Ansicht einem Selbstmord gleich. Der Anschein von Freiheit, über die sein Volk jetzt noch verfügte, schien im Vergleich zu den Risiken eines Aufstands sehr viel mehr Vorteile zu bieten. In diesen Zeiten mußte ein solcher Schritt unweigerlich ins Verhängnis führen, also weigerte sich Kustennin, die Neuankömmlinge seinerseits zu besuchen.
Carvetia war mittlerweile die einzige Stadt in Wortigerns Herrschaftsgebiet, in der noch ein Trugbild der Freiheit herrschte, und das nur, weil dem Tyrannen ihre Märkte am Herzen lagen, vor allem aber der Hafen, in dem seltene Güter umgeschlagen wurden. Besonders schätzte er diesen Ort wegen des Austauschs von Nachrichten, die er für den Erhalt und die Ausdehnung seiner Macht ebenso benötigte wie die Schwerter seiner Söldner.
Die Männer waren inzwischen dabei, die Verteidigungsanlagen im Inneren der Festung wieder instand zu setzen. Sie bauten die Galerien und Türme auf und errichteten zur Abwehr auf Wällen und Gräben spitze Pfähle, die im Feuer gehärtet worden waren. Batiatus nahm die Schmiede in Betrieb, und sein Hammer dröhnte unaufhörlich auf dem Amboß. Vatrenus, Demetrios und Orosius brachten die Soldatenunterkünfte und Ställe in Schuß und reparierten den Ofen und die Mühle, so daß Livia sie mit dem Duft und Geschmack von ofenfrischem Brot und frisch gemolkener Milch überraschen konnte. Nur Aurelius' Stimmung schien sich nach der ersten Begeisterung jeden Tag mehr zu verdüstern. Bis an die Zähne bewaffnet, verbrachte er lange Stunden der Nacht auf dem Wall und spähte in Erwartung eines Feindes in die Dunkelheit hinaus. Eines Feindes, der nie kam, vor dem er sich allerdings schon jetzt verloren und ohnmächtig fühlte, wie ein Gespenst, das oftmals sogar seine eigenen Gesichtszüge annahm, die Züge eines Feiglings, oder, noch schlimmer, die eines Verräters. Wieder befand er sich auf den Bollwerken einer kleinen Zitadelle, deren Verteidigung er aufbaute. Wann würde sich dieser Belagerungsring zuziehen und wann die Horden zu Pferde am Horizont erscheinen? Wann würde am blauen Himmel die Stunde der Wahrheit ertönen und wer dieses Mal dem Feind die Tore öffnen? Wer war es, der dieses Mal den Wolf in den Schafstall führte?
Ambrosinus, der diese Gedanken erahnte, spürte Aurelius' Schmerz, der so mächtig war, daß nicht einmal Livias Liebe ihn lindern konnte. Doch war er nicht länger gewillt, dabei zuzusehen, sondern machte sich bereit einzuschreiten, um dem Schicksal, das sich bisher als so höhnisch und flüchtig erwiesen hatte, eine neue Richtung aufzuzwingen. Während er überlegte, wie er das am besten anstellen sollte, erschien Kustennin auf dem Rücken seines Schimmels. Er brachte schlechte Neuigkeiten. Wortigern hatte befohlen, daß der Senat bis zum Ende des Monats aufgelöst werden und der Magistrat zurücktreten müsse, da eine Garnison Söldner vom Kontinent, die als sehr grausam bezeichnet wurden, sich innerhalb der Stadtmauern aufhielte.
»Vielleicht hast du recht, Myrdin«, sagte Kustennin. »Die wahre Freiheit muß mit Schweiß und Blut erobert werden, doch leider ist es dafür zu spät.«
»Das stimmt nicht«, erwiderte Ambrosinus. »Morgen, falls du der Sitzung des Senats beiwohnst, wirst du mehr darüber erfahren.«
Kustennin schüttelte nur das Haupt, als ergäben diese Worte für ihn keinen Sinn, dann bestieg er sein Pferd und galoppierte durch das verlassene Tal davon.
Tags darauf, als es noch dunkel war, bat Ambrosinus Romulus, ihn zu begleiten und machte sich auf den Weg zur Stadt.
»Wohin gehst du?« fragte Aurelius.
»Nach Carvetia«, bekam er zur Antwort, »in den Senat, vielleicht aber auch auf den Marktplatz. Ich will das Volk zur Versammlung aufrufen, wenn es notwendig sein sollte.«
»Ich komme mit dir.«
»Nein, dein Platz ist hier, an der Spitze deiner Männer. Hab Vertrauen«, sagte er und machte sich mit seinem Pilgerstab auf den Weg, der ihn durch Wiesen führte und am Ufer des Lago della Virgo entlang in Richtung Stadt.
Carvetia wirkte mit seiner Sprache, seinen Sitten und Gebräuchen, aber auch seinen Straßen und Gebäuden noch immer wie eine römische Stadt. Auf den Stadtmauern, die aus behauenen Steinquadern gefertigt waren, patrouillierten die Posten und wachten über die Einwohner. Kurz darauf traf Ambrosinus vor dem Senatsgebäude ein und beobachtete, wie die Volksvertreter nahten, um an der Ratssitzung teilzunehmen. Andere Bürger folgten und drängten sich ins Atrium, bevor die Türen geschlossen wurden.
Einer der Redner erhob sich, um eine Ansprache zu halten, ein würdevoller Mann, der durch schlichte Kleidung und ehrliche Gesichtszüge auffiel. Er mußte Respekt und Anerkennung genießen, denn als er mit seiner Rede begann, herrschte sofort Stille.
»Senat und Volk von Carvetia!« begann er. »Unsere Lage ist unerträglich geworden. Der Tyrann hat ausländische Söldner angeheuert, die unerhört grausam sind. Und er tat dies zum Schutz der Bevölkerung in unserer Stadt, die sich doch immer selbständig verwalten konnte. Zur gleichen Zeit schickt er sich an, auch den letzten Anschein der Versammlungsfreiheit von uns Bürgern Britanniens zu vernichten: unseren Senat!« In den Sitzreihen und zwischen den Menschen, die sich im Atrium drängten, wurde bestürztes Stimmengewirr laut.
»Was bleibt uns zu tun übrig?« fuhr der Redner fort. »Unser Haupt beugen, wie wir es bisher getan haben? Noch mehr Mißbrauch und Schmach erdulden und zulassen, daß unsere Würde und Rechte noch weiter mit Füßen getreten werden? Unsere Häuser entehrt und unsere Frauen und Töchter unseren Armen entrissen werden?«
»Leider haben wir keine andere Wahl«, sagte ein anderer. »Sich Wortigern zu widersetzen, käme einem Selbstmord gleich.«
»Das stimmt«, sagte ein dritter. »Wir müssen alles tun, um seinen Zorn nicht heraufzubeschwören. Fr würde uns einfach hinwegfegen. Wenn wir uns ihm weiterhin unterwerfen, können wir zumindest darauf hoffen, einige unserer Vergünstigungen zu behalten.«
Da trat Ambrosinus vor, der Romulus an der Hand hielt, und rief: »Ich bitte ums Wort, edle Senatoren!«
»Wer bist du?« fragte der Präsident der Versammlung. »Warum störst du diese Ratssitzung?«
Ambrosinus enthüllte sein Haupt und schritt in die Mitte der Aula vor. Noch immer hielt er Romulus an der Hand, obwohl er die Scheu des Jungen bei dieser Zurschaustellung durchaus bemerkte.
»Mein Name ist Myrdin Emreis«, begann er, »Druide des heiligen Hains von Gleva und römischer Bürger" mit dem Namen Mendius Ambrosinus, solange in diesem Lande römisches Gesetz herrschte. Vor vielen Jahren habt ihr mich nach Rom mit einem Auftrag entsandt. Ich sollte den Kaiser um Hilfe anflehen und mit einem Heer zurückkehren, um Ordnung und Wohlstand in diesem gepeinigten Land wiederherzustellen, wie sie einst herrschten in den ruhmreichen Zeiten des Helden und heiligen Germanus, der von Aetius, dem letzten und tapfersten Soldaten Roms, hierher entsandt worden war.«
Dieser unerwartete Auftritt löste großes Erstaunen aus und hüllte den Saal in Schweigen, doch sogleich fuhr Ambrosinus fort: »Diese Aufgabe zu erfüllen, war unmöglich. Auf der Reise verlor ich meine Gefährten, die ein Opfer von Kälte und Hunger, von Krankheiten und Übergriffen wurden. Wie durch ein Wunder konnte ich mich retten. Ich erreichte den Hof des kaiserlichen Palastes von Ravenna und verbrachte dort endlose Tage als Bittsteller: vergebens. Ich wurde nicht einmal zum Kaiser vorgelassen, der, unfähig und schwach, vollständig unter dem Joch seiner barbarischen Milizen stand. Jetzt bin ich zurückgekehrt. Spät, das ist wahr, aber nicht allein, vor allem nicht mit leeren Händen! Ihr alle kennt, wie ich glaube, das Orakel, das die Ankunft eines jungen Mannes von reinem Herzen verkündet. Er wird das Schwert der Gerechtigkeit mit sich führen und diesem Land die verlorene Freiheit zurückbringen. Nun gut«, rief er, »edle Senatoren, diesen jungen Mann habe ich euch gebracht!« Und er ließ den Knaben vortreten und bot ihn - allein -ihren Blicken dar.
»Dies ist Romulus Augustus Cäsar, der letzte Kaiser der Römer!«
Seine Worte lösten ein tiefes, verwundertes Schweigen aus, doch nur kurz, dann folgte aufgeregtes Stimmengewirr, das laut und lauter anschwoll, bis es zu einem diffusen Grollen wurde. Manche schienen betroffen von diesen Behauptungen, andere dagegen lachten oder machten sich über den unerwarteten Redner lustig.
»Wo ist dieses Wunderschwert?« fragte ein Senator, der mit seiner Stimme den Lärm übertönte.
»Und wo sind die Legionen des neuen Cäsaren?« fragte ein anderer. »Weißt du, wie viele Krieger Wortigern hat? Hast du überhaupt eine Ahnung?«
Betroffen von diesen Worten zögerte Ambrosinus einen Moment, dann antwortete er: »Wir sind dabei, die zwölfte Legion, die Legion des Drachen, wieder neu zu bilden. Und wenn sich der Kaiser seinen Soldaten präsentiert, werden sie, dessen bin ich sicher, die Kraft und den Willen zum Kampf wiedergewinnen und sich der Tyrannei widersetzen.«
Ein tosendes Lachen hallte durch die Aula, dann erhob sich ein weiterer Senator. »Du bist wirklich eine ganze Weile weggewesen, Myrdin«, herrschte er ihn an, wobei er ihn bei seinem keltischen Namen nannte. »Diese Legion hat sich vor vielen Jahren aufgelöst, und niemand käme auch nur im Traum auf die Idee, je wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen.«
Die anderen Senatoren fielen gleichfalls in das Gelächter ein. Romulus fühlte, wie ihn diese Woge aus Spott und Hohn überschwemmte, ein weiteres Mal, doch er bewegte sich nicht. Er schlug seine Hände vors Gesicht und stand reglos und still in der Mitte der Aula. Bei diesem Anblick wurde der Lärm langsam schwächer und verwandelte sich in ein Stimmengewirr aus Verlegenheit und plötzlicher Scham. Ambrosinus trat vor zu Romulus, legte ihm die Hand auf die Schulter und begann, flammend vor Empörung, erneut zu sprechen: »Lacht nur, edle Senatoren, nun macht schon, macht euch lustig über dieses Kind. Ihm fehlt jede Möglichkeit, sich zu verteidigen, und er kann eure törichten Beleidigungen auch nicht erwidern.
Mit eigenen Augen mußte er mit ansehen, wie seine Eltern niedergemetzelt wurden. Wie ein Tier ist er von allen Herrschern dieser Erde ohne Unterlaß und ohne Erbarmen gehetzt worden. Seit Kindesbeinen an den kaiserlichen Prunk gewohnt, mußte er wie ein echter, kleiner Held die härtesten Entbehrungen auf sich nehmen. Und immer verschloß er den Schmerz und die angstvolle Verzweiflung, die bei einem Jungen seines Alters durchaus verständlich sind, mit der Kraft und dem Mut eines republikanischen Helden aus alter Zeit in seinem Herzen.
Wo bleibt eure Ehre, ihr Senatoren von Carvetia? Und wo eure Würde? Ihr verdient Wortigerns Tyrannei, es geschieht euch recht, diese Schmach zu erleiden, da in eurer Brust das Herz eines Sklaven schlägt! Dieser Junge hat alles verloren, außer seiner Ehre und seinem Leben. Doch besitzt er die fühlbare Majestät eines wahren Herrschers. Ich habe ihn zu euch gebracht als den letzten Samen eines sterbenden Baumes, damit aus ihm eine neue Welt entstehe, doch finde ich nichts vor als fauligen, unfruchtbaren Boden. Ihr tut gut daran, ihn zurückzuweisen, denn ihr verdient ihn nicht. Nein! Ihr verdient nur Verachtung von jedermann, der Ehre und Glauben in sich trägt!«
Ambrosinus beendete sein von Gram erfülltes Plädoyer unter entgeistertem Schweigen. Auf der bestürzten und verwirrten Versammlung schien das Gewicht von Blei zu lasten. Und dann spuckte Ambrosinus zum Zeichen seiner höchsten Verachtung auf den Boden, faßte Romulus am Arm und verließ empört die Aula, während sich ein paar schwache Stimmen erhoben, um ihn zurückzurufen. Kaum hatten sich die beiden einen Weg durch die Menge gebahnt und waren hinausgegangen, flammte die Diskussion erneut auf und wurde zusehends hitziger. Einer der Anwesenden jedoch eilte durch eine Nebentür, sprang auf einen Wagen und befahl dem Fahrer, sofort loszufahren. »Nach Castra Vetera«, sagte er. »Zu Worti-gerns Burg, rasch!«
Aufgebracht über die erlittene Schmach, trat Ambrosinus auf den Platz hinaus und sprach Romulus Mut zu, sich den Beleidigungen des Schicksals ein weiteres Mal zu stellen, als ihn plötzlich jemand am Arm packte. »Myrdin!«
»Kustennin!« rief seinerseits Ambrosinus aus. »Mein Gott, hast du das gesehen? Was für eine Schande? Warst du auch im Senat?«
Der Mann beugte das Haupt. »Ja, ich sah es. Verstehst du jetzt, warum ich dir sagte, es sei zu spät? Wortigern ist es gelungen, die meisten Senatoren zu korrumpieren. Und heute kann er sich sogar erlauben, den ganzen Senat aufzulösen, ohne auf Widerstand zu treffen.«
Ambrosinus nickte ernst mit dem Kopf. »Ich muß unbedingt mit dir sprechen«, sagte er, »länger, wenn es möglich ist.
Aber jetzt muß ich gehen. Ich kann hier nicht bleiben, sondern muß den mir anvertrauten Jungen wegbringen ... Romulus, komm, gehen wir.« Er suchte ihn mit seinen Blicken, doch Romulus war nicht mehr da.
»O Gott, wo bist du? Wo ist der Junge hin?« rief er angstvoll.
Da trat Egeria zu ihm. »Mach dir keine Sorgen«, sagte die Frau mit einem Lächeln. »Schau, dort unten ist er, auf dem Weg zum Strand. Meine Tochter Ygrainc ist ihm nachgegangen.«
Ambrosinus atmete erleichtert auf.
»Laß sie miteinander reden. Kinder müssen manchmal unter sich sein«, sagte Egeria wieder. »Aber sag mir, ist es wahr, was ich gerade von diesen Leuten aus dem Senat gehört habe? Ich konnte meinen Ohren nicht trauen. Es gibt nicht mehr genügend Anstand und Würde, um die eigene Niedertracht zu verbergen.«
Zustimmend nickte Ambrosinus mit dem Kopf, ohne auch nur für einen Augenblick den Jungen aus den Augen zu lassen, der dort unten an der Küste des Meeres saß.
Schweigend beobachtete Romulus, wie sich die Wellen zwischen den Steinen am Strand brachen, ohne das leidvolle Schluchzen, das ihm aus der Brust drang, unterdrücken zu können.
»Wie heißt du? Und warum weinst du?« fragte eine Mädchenstimme hinter ihm. Eine unbeschwerte, wohlklingende Stimme, doch sie störte ihn in diesem Augenblick. Gleich darauf verspürte er die Berührung einer Hand, die, zart wie ein Schmetterlingsflügel, auf seiner Wange eine angenehme Wärme hinterließ.
Ohne sich umzudrehen, antwortete er, denn für einen Augenblick befürchtete er, die Stimme und die Liebkosung stünden vielleicht im Widerspruch zu dem Gesicht, das er sieh erträumt hatte. »Ich weine, weil ich alles verloren habe: meine Eltern, mein Haus und mein Land. Vielleicht werde ich bald auch noch die letzten Freunde verlieren, die mir geblieben sind, und auch meinen Namen und meine Freiheit. Und ich weine, weil es auf dieser Erde keinen Platz für mich gibt, an dem ich Frieden finde.«
Weise beantwortete das Mädchen diese gewichtigen Worte mit Schweigen, doch sie hörte nicht auf, ihm weiter mit der Hand über Haare und Wangen zu streichen, bis sie bemerkte, daß er sich beruhigt hatte. Da sagte sie: »Ich heiße Ygraine und bin zwölf Jahre alt. Kann ich ein wenig bei dir bleiben?«
Romulus deutete mit einem Nicken seine Zustimmung an, dann trocknete er seine Tränen mit dem Saum seines Ärmels, während sie sich ihm gegenüber auf ihren Fersen im Sand niederließ. Langsam hob er seinen Blick, um zu prüfen, ob ihr Gesicht ebenso sanft war wie ihre Stimme und ihre Liebkosung. Er sah zwei blaue, glänzende Augen und ein Gesicht von anmutiger Schönheit vor sich, das von einem Wasserfall roter Haare eingerahmt wurde, die der Meereswind zerzauste und dadurch von Zeit zu Zeit ihre Stirn und Augen verbarg. Er spürte, wie sein Herz vor Freude erbebte und seine Brust eine Woge des Glücks durchflutete, wie er es noch nie erlebt hatte. Innerhalb eines einzigen Augenblicks wurde er gewahr, wieviel Schönheit, Wärme und Annehmlichkeit ihm das Leben zu bieten vermochte. Gern hätte er ihr all das gesagt, was ihm sein Herz flüsterte, doch vernahm er genau in diesem Moment, wie Ambrosinus und seine Begleiter sich näherten.
»Wo werdet ihr diese Nacht schlafen?« fragte Kustennin.
»In der Festung«, antwortete Ambrosinus.
Besorgt erwiderte Kusteninn: »Paß auf! Deine Rede ist nicht unbemerkt geblieben.«
»Genau das wollte ich erreichen«, entgegnete Ambrosinus trocken. Doch begriff er in seinem Herzen die Bedeutung dieser Worte und fürchtete sich.
»Komm, Ygraine«, sagte Egena. »Es gibt vor dem Abend noch viel zu erledigen.« Schweren Herzens erhob sich das Mädchen und folgte ihrer Mutter, drehte sich aber immer wieder um und warf ihren Blick auf den jungen Fremden, der so anders war als alle Jungen, die sie kannte: Nie zuvor war ihr jemand begegnet, der ein so erschöpftes, blasses Gesicht, solche Vornehmheit in Aussehen und Stimme, soviel Intensität in seinen Worten und schmelzende Melancholie in den Augen besaß. Kustennin verabschiedete sich ebenfalls und brach zusammen mit seiner Familie auf.
Egeria ließ Ygraine vorausgehen und wartete auf ihren Mann, um mit ihm zu sprechen. »Sie sind es, die das Emblem des Drachen auf der alten Festung gehißt haben, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Kustennin. »Wirklich ein Wahnsinn. Und heute hat Myrdin im Senat verkündet, daß die Legion neu gebildet wird, obwohl sie in Wirklichkeit nur aus sechs oder sieben Personen besteht. Und schließlich offenbarte er den Senatoren die Identität dieses Jungen. Ist dir klar, was das heißt?«
»Ich kann mir die Reaktionen auf diese Enthüllung nicht vorstellen«, erwiderte Egeria, »doch weiß ich, daß dieses Banner große Aufregung und Erwartung schürt. Es heißt, einige seien schon dabei, ihre Waffen wieder auszugraben, die sie vor Jahren versteckten, und nicht wenige junge Männer wollen sich diesen Fremden anschließen. Auch geht das Gerücht von seltsamen Lichtern, die nachts über den Wällen aufblitzen, und von Donnergrollen, das an dem Berg widerhallt. Ich mache mir wirklich Sorgen, da ich befürchte, dieses Trugbild des Friedens und unser beschwerliches Überleben wird erneut von Zusammenstößen, Turbulenzen und Blutvergießen erschüttert werden.«
»Es sind nur ein paar Flüchtlinge, Egeria, ein alter Träumer und Visionär und ein Junge«, antwortete Kustennin. Und er warf noch einen letzten Blick auf seinen Freund, der nach so vielen Jahren wie durch ein Wunder wiederaufgetaucht war.
Der alte Mann und der Junge standen nebeneinander und betrachteten schweigend die Wellen, die sich unter einer Krone weißen Schaums an der Klippe brachen.
Tags darauf hielt gegen Abend der Wagen des Senators vor den Toren von Castra Vetera. Er wurde in Wortigerns Residenz geführt, zunächst aber Wulfila vorgestellt, der mittlerweile das vollständige Vertrauen seines Herrn genoß. Die beiden tuschelten eine Weile miteinander, und ein befriedigtes Grinsen verzog die Gesichtszüge des Barbaren.
»Folge mir«, sagte er. »Du mußt unserem Herrscher persönlich Bericht erstatten, er wird dir dafür mehr als dankbar sein.« Dann führte er ihn in die weiter innen gelegenen Bereiche der Burg. Der alte Mann empfing sie, auf seinem Thron mehr liegend als sitzend; die goldene Maske war das einzige, das in dieser düsteren Atmosphäre ein wenig leuchtete.
»Sprich«, befahl Wulfila, und der Senator hob an:
»Edler Wortigern«, sagte er, »gestern hat sich im Senat von Carvetia ein Mann erdreistet, öffentlich seine Stimme gegen dich zu erheben. Er nannte dich einen Tyrannen und rief zum Aufstand auf. Dann sagte er, daß die alte aufgelöste Legion dabei sei, sich wieder neu zu formieren, und stellte schließlich ein Kind vor, von dem er behauptete, es sei der Kaiser ...«
»Das sind sie«, unterbrach ihn Wulfila. »Es besteht kein Zweifel. Immer wieder faselt der Alte von dieser Prophezeiung, nach der ein junger Regent übers Meer kommen soll. Aber glaube mir, das bedeutet Gefahr. Er ist bei weitem nicht so verrückt wie er aussieht, sondern ein Schlaukopf, der seine Hebel sehr genau anzusetzen weiß - bei ihrem Aberglauben und den uralten Sehnsüchten nach der keltisch-römischen Aristokratie. Auch ist sein Ziel sonnenklar: Er will diesen kleinen Schwindler zum Symbol erheben, um es gegen dich zu verwenden.«
Wortigern hob seine hagere Hand zum Zeichen des Abschieds, der Senator zog sich zurück und krümmte dabei seinen Rücken in einer nicht enden wollenden Verbeugung, bis er die Tür erreichte und hastig verschwand.
»Was schlägst du vor?« fragte der Tyrann an Wulfila gewandt.
»Laß mir freie Hand! Gewähre mir, daß ich mich mit meinen Männern, den einzigen, denen ich traue, auf die Suche mache. Ich kenne diese Leute und werde sie aufstöbern, wo auch immer sie sich versteckt halten. Und dann bringe ich dir die Haut des Alten, die du ausstopfen kannst, den Kopf des Jungen aber behalte ich.«
Wortigern schüttelte langsam den Kopf. »Die Haut des Alten interessiert mich nicht, unsere Abmachung war eine andere.«
Wulfila zuckte zusammen. Das genau war der Augenblick, in dem ihm das Schicksal eine unbezahlbare Gelegenheit bot und sich alles erfüllte in einem seit langem erdachten Plan. Er mußte ihm nur den letzten Schliff geben, dann würde sich vor seinen Augen eine Zukunft der grenzenlosen Macht eröffnen. Nur mit Mühe gelang es ihm, seiner Erregung Herr zu werden, als er antwortete: »Du hast recht, Wortigern. Vor lauter Begeisterung, daß die lange Jagd endlich ein Ende nimmt, vergaß ich einen Augenblick lang mein Versprechen. Es stimmt, du gewährtest mir den Kopf des Jungen und die Möglichkeit, endlich die Deserteure und Mörder, die ihn beschützen, zu vernichten. Genauso, wie sie es verdienen. Und dafür wirst du das versprochene Geschenk erhalten.«
»Ich sehe, daß du noch immer meine Gedanken zu deuten verstehst, Wulfila. Also laß dieses Geschenk kommen, auf das du mich so lange hast warten lassen. Doch zuerst sag mir eins.«
»Sprich.«
»Unter den Männern, die du zu vernichten beabsichtigst, ist da auch derjenige, der dir das Gesicht zerschnitten hat?«
Wulfila senkte die Augen, um den Blitz zu verbergen, der ihn in diesem Augenblick durchzuckte, und antwortete äußerst widerwillig: »So ist es, es ist wie du sagst.«
Ein weiteres Mal hatte der Tyrann seine Genugtuung gehabt und die Überlegenheit der vollkommenen goldenen Maske gegenüber dem mißgestalteten Fleisch seines Untertanen und möglichen Widersachers demonstriert. Diese häßliche Narbe war das Werk eines Menschen, während der Brand, der sein Gesicht entstellte, nichts anderes sein konnte als das Werk des einzigen Gottes.
»Ich warte«, sagte Wortigern, und seine Wort klangen dumpf wie ein Urteilsspruch aus der Maske.
Wulfila eilte hinaus, ließ einen seiner Krieger rufen und befahl ihm, ihm sofort das zu bringen, was er verlangte. Kurz darauf tauchte der Mann wieder auf und trug eine lange schmale Kiste aus Eichenholz, die mit Nieten aus gebräuntem Eisen verziert war. Er legte sie Wortigern zu Füßen.
Wulfila gab ihm Zeichen, sich wieder zu entfernen, dann trat er zum Thron und kniete sich nieder, um das kostbare Behältnis des versprochenen Geschenks zu öffnen. Er hob seinen Blick auf zu der undurchdringlichen Maske, die drohend über ihm verharrte. In diesem Augenblick hätte er alles dafür gegeben, den Ausdruck zügelloser Gier in Wortigerns darunter verborgenem Gesicht zu sehen.
»Hier ist mein Geschenk, Herr«, sagte er und öffnete mit einer raschen Handbewegung den Deckel. »Hier ist das von den Chalybern geschmiedete Schwert Julius Cäsars, des ersten Herrn der Welt und des Eroberers von Britannien. Es ist dein!«
Wortigern konnte der Faszination dieser herrlichen Waffe nicht widerstehen und streckte stöhnend die Hand danach aus. »Gib es mir, gib es mir!«
»Sofort, mein Herr«, antwortete Wulfila, und in seinem Blick erkannte der Tyrann - zu spät! - das tödliche Schicksal, das darin eingeprägt war. Er versuchte zu schreien, doch schon stieß das Schwert in seine Brust, durchbohrte sein Herz und preßte sich in die Rückenlehne des Throns. Ohne einen Laut sank Wortigern in sich zusammen, und aus der Maske troff ein Rinnsal aus Blut, das einzige Zeichen des Lebens, das auf diesem unwandelbaren Antlitz durch die letzte Ironie des Schicksals im Augenblick des Todes in Erscheinung trat.
Wulfila zog das Schwert aus dem leblosen Körper, packte Wortigerns goldene Maske, und ein kaum noch erkennbares Gesicht kam zum Vorschein. Er kerbte die Haut des Schädels rings um das Haupt ein und riß mit einem einzigen Ruck die weiße Mähne herab. Den leblosen Körper, der nur noch ein Schatten seiner selbst war, schleifte er bis zum Fenster, das sich hinter dem Thron in der Turmmauer befand, und warf ihn hinab in den Hof. Das Gekläffe der in ihrem Zwinger eingesperrten, hungrigen Mastiffs erfüllte den Saal wie Höllengetöse, doch dann hallte plötzlich ihr dumpfes Knurren wider, während sie sich um die klägliche Fleischration ihres ehemaligen Herrn stritten.
Nun legte Wulfila die goldene Maske an. Er preßte Wortigerns weiße Mähne auf sein Haupt, griff nach dem leuchtenden Schwert und erschien, einem Dämon gleich, mit blutüberströmten Schläfen vor seinen Kriegern, die im großen Hof bereits auf ihren Pferden saßen. Verblüfft sahen sie ihn mit großen Augen an, als er auf seinen Hengst sprang, ihm die Sporen gab und schrie: »Auf nach Car-vetia!«
XXXVI
Zwei Tage später erschien mit schleifenden Zügeln ein Mann zu Pferde auf Kustennins Hof und brachte eine schier unglaubliche Nachricht. Er war einer der Informanten, die Kustennin sich innerhalb Wortigerns Festung Castra Vetera hielt, die einzige Möglichkeit, die ihm blieb, um den verhängnisvollen Übergriffen der Söldner des Tyrannen zuvorzukommen.
»Es hat immer geheißen, daß Wortigern einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat«, keuchte der Mann mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen, »und das ist wahr! Satan persönlich gab ihm die Kraft und die Stärke von einst zurück, und nun hat er seine Grausamkeit ins Unermeßliche gesteigert!«
»Was redest du da! Bist du verrückt geworden?« rief Kustennin, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn, als wolle er ihn wieder zur Vernunft bringen.
»Nein, Herr, leider ist das die Wahrheit. Wenn du die Hoffnung hegtest, er sei schon am Ende, begrabe sie. Er ist wie ... wie ... wiederauferstanden. Und vom Satan besessen, das sage ich dir! Ich habe mit diesen Augen gesehen, wie er gleich einer Vision einem Alptraum entstieg, die goldene Maske auf dem Gesicht, doch tropfte ihm statt Schweiß das Blut von den Schläfen. Seine Stimme dröhnte wie Donner, noch nie zuvor habe ich sie so gehört. Vor allem aber hielt er ein so glänzendes Schwert in der Hand, wie ich mein Lebtag noch keines sah. In seiner Klinge, scharf wie ein Rasiermesser, spiegelte sich das Licht der Fackeln wider, als sei sie aus durchsichtigem Glas, während sein Griff einen Adlerkopf aus massivem Gold darstellt. Nur der Erzengel Michael könnte ein solches Wunderwerk geschmiedet haben. Oder der Teufel persönlich.«
»Versuche doch, dich zu beruhigen«, sagte Kustennin zu ihm. »Du phantasierst.«
»Nein, glaube mir, es ist genau so, wie ich es dir sage. Nun reitet er an der Spitze von zweihundert Panzerreitern, die ständig weiter vorrücken und auf ihrem Weg Tod und Verderben säen, da sie mit einer nie dagewesenen Raserei plündern, brennen und zerstören. Ich habe nirgendwo angehalten, sondern nahm die Abkürzung durch den Gowanforst und ritt Tag und Nacht durch. Erst auf unseren Besitztümern ließ ich die Pferde wechseln. Auch habe ich ihn deutlich brüllen hören: >Auf nach Carvetia!< In höchstens zwei Tagen werden sie hiersein.«
»Carvetia ... ist das denn die Möglichkeit! Warum nach Carvetia? Er hat diese Stadt niemals angetastet, da sie ihm von Nutzen ist, außerdem haben sich ihm fast alle einflußreicheren Männer unterworfen. Das ergibt keinen Sinn, überhaupt keinen Sinn ...« Schweigend überlegte er ein paar Augenblicke, dann redete er weiter: »Hör zu, natürlich weiß ich, daß du sehr müde bist, aber ich bitte dich noch um einen letzten Gefallen. Geh hinunter zur alten römischen Mole und sprich mit Oribasius, dem Fischer. Er ist einer meiner Männer. Sag ihm, er soll sich bereithalten, morgen bei Sonnenaufgang auszulaufen, mit Vorräten an Bord und Wasser in Hülle und Fülle. Soviel er nur laden kann. Und nun geh!«
Wieder stieg der Mann in den Sattel und ritt im Galopp davon, während Kustennin nach oben ging, um seine Frau zu benachrichtigen: »Leider gibt es schlechte Nachrichten. Wortigerns Männer sind hierher unterwegs, und ich fürchte, daß Ambrosinus in großer Gefahr ist. Vielleicht war es seine Ansprache, die dieses aberwitzige Unternehmen herbeigeführt hat. Ich muß gehen und ihn warnen, denn ich werde nicht zulassen, daß dieser alte Verrückte sich selbst und den armen Jungen ins Verderben stürzt, ganz zu schweigen von seinen übrigen Gefährten. Die müssen ebenfalls alle verrückt sein, wenn sie ihm von Italien bis hierher Gefolgschaft leisteten.«
»Es wird doch schon bald dunkel«, klagte Egeria. »Ist das nicht gefährlich?«
»Ich muß zu ihnen, sonst könnte ich diese Nacht nicht ruhig schlafen.«
»Vater, kann ich auch mitkommen? Ich bitte dich«, flehte ihn Ygraine an.
»Das kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte Egeria. »Du wirst noch andere Gelegenheiten haben, deinen jungen römischen Freund zu sehen.« Ygraine errötete und verließ verärgert den Raum.
Seufzend begleitete Egeria ihren Mann zur Tür, dann blieb sie gedankenverloren stehen und lauschte dem Geräusch seiner Schritte die Treppe hinunter und durch den Innenhof.
Kustennin suchte sich aus seinen Stallungen den schnellsten Schimmel aus. Er sprang in den Sattel, während die Knechte das Tor öffneten, und gab ihm die Sporen, so daß er hinaus in die Landschaft schoß, die von den letzten feurigen Strahlen des Sonnenuntergangs rot erglänzte.
Vor ihm tauchte die Festung auf der Spitze des Hügels auf, der hoch über das Tal und den See ragte. Blitzschnell wanderte sein Blick zu der Standarte, die auf dem höchsten Turm flatterte. Sie zeigte den Drachen der alten sarmatischen Hilfskohorte, die einst über den Großen Wall wachte und dann die Standarte seiner Legion geworden war. Von innen drang eine dünne Rauchsäule empor, die von Leben in diesen alten Mauern zeugte. Plötzlich öffnete sich das Tor. Im Schritt ritt er in den Hof, wo ihn Ambrosinus gerührt umarmte und seinen Gefährten vorstellte: »Schon einmal habt ihr meinen alten Freund Kustennin gesehen, einst der dux bellorum et magister militum Konstantinus, wie ihn die Römer bezeichneten, der liebste und tapferste meiner britannischen Freunde, der jetzt, wie ich hoffe, gekommen ist, um ein wenig bei uns zu verweilen.«
Über einem großen Holzfeuer röstete ein Reh, von dem sich die Männer mit der Spitze ihrer Schwerter die schon durchgebratenen äußeren Stücke abschnitten. Livia hatte noch Bogen und Köcher neben sich liegen, mit denen sie das Wild erlegt hatte. Alle waren sie fröhlich, und Kustennin krampfte es das Herz zusammen bei dem Gedanken, was er ihnen in Kürze mitzuteilen hätte.
»Nimm Platz«, sagte Ambrosinus zu ihm. »Iß, es ist genug da.«
»Es bleibt keine Zeit«, antwortete Kustennin, »ihr müßt hier weg. Ich habe sichere Informationen, daß Wortigern an der Spitze von zweihundert Panzerreitern nach Carvetia unterwegs ist. Schon morgen abend könnte er hiersein.«
»Wortigern?« fragte Ambrosinus erstaunt. »Der ist doch viel zu alt. Der kann sich ja nicht einmal mehr im Sattel halten, selbst wenn man ihn festbände.«
»Du hast recht. Auch ich kann die Geschichte kaum glauben, die mir einer meiner Informanten erzählt hat. Er phantasierte, der Tyrann habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Er sei vom Satan besessen, der ihm seine Jugend und auch seine jugendliche Kraft wiedergegeben habe. Darüber hinaus hätte er für ihn ein so phantastisches Schwert geschmiedet, wie man noch keines sah.«
Aurelius trat zu ihm. »Woher weiß der Mann so genau, daß es sich um Wortigern handelt?«
»Wegen der goldenen Maske, die seit mehr als zehn Jahren sein Gesicht bedeckt, wegen seiner langen schlohweißen Haare und der kraftvollen, jugendlichen Stimme.«
»Du hast von einem Schwert gesprochen ...«, hakte Aurelius nach.
»Ja. Er hat es genau gesehen, aus der Nähe. Eine Klinge so blank wie Kristall und der Griff in der Form eines Adlerkopfes aus purem Gold ...«
Aurelius erbleichte. »Bei den mächtigen Göttern!« rief er aus. »Das ist nicht Wortigern, das ist Wulfila! Und er will uns.«
Sie sahen ihn völlig entgeistert an.
»Um wen auch immer es sich handelt«, erwiderte Kustennin, »ihr müßt gehen. Selbst im besten Falle werden sie in den nächsten beiden Tagen hiersein. Hört mich an, morgen bei Sonnenaufgang bringe ich meine Familie auf einem Schiff, das nach Irland fährt, in Sicherheit. Es ist noch Platz für zwei oder vielleicht drei Personen vorhanden. Myrdin, der Junge und das Mädchen. Ich weiß nicht ... aber das ist alles, was ich für euch tun kann.«
Aurelius seufzte tief auf und richtete seine glänzenden Augen auf Ambrosinus. »Vielleicht hat dein Freund recht«, sagte er. »Das ist das einzig Richtige, was uns zu tun bleibt. Wir können nicht bis in alle Ewigkeit davonlaufen, da wir bereits an die äußersten Grenzen der Welt gekommen sind. Schluß damit, wir müssen uns trennen. Alle zusammen ziehen wir nur unsere Feinde und Gegner an. Wir können nirgendwo mehr hingehen. Fahrt ihr, du, der Junge und Livia, ich beschwöre dich. Bringt euch in Sicherheit. Kein Schwert ist jetzt noch imstande, den Cäsar zu schützen.«
Mit tränenerfüllten Augen blickte ihn Romulus an, als könne er nicht glauben, was er da gehört hatte. Doch Ambrosinus protestierte: »Nein!« rief er aus. »So darf das nicht enden. Die Prophezeiung lügt nicht, dessen bin ich mir sicher. Also müssen wir bleiben, um jeden Preis!«
Livia wechselte einen langen Blick mit Aurelius, dann wandte sie sich an Ambrosinus. »Du mußt dich den Tatsachen fügen«, sagte sie zu ihm, »und der traurigen Realität. Wenn wir hierbleiben, werden wir alle sterben. Auch er wird sterben.«
Dann sprach sie zu den anderen: »Du, Vatrenus, was meinst du dazu?«
»Ich finde, es stimmt, was ihr gesagt habt. Sich zu verbeißen, ist nicht sinnvoll. Bringen wir den Jungen mit seinem Meister in Sicherheit. Wir anderen werden irgendwie einen Weg finden ...«
»Orosius? Demetrios?«
Die beiden nickten.
»Batiatus?«
Verstört blickte der Riese um sich, als könne er einfach nicht glauben, daß dieses schreckliche, aber so wunderbare Abenteuer nun beendet sein sollte und seine große Familie - die einzige, die er je kennengelernt hatte - dabei war, sich aufzulösen. Er senkte den Kopf, um seine Tränen zu verbergen, und die anderen hielten diese Geste für ein zustimmendes Nicken.
»Nun ... ich glaube, dann ist es beschlossene Sache«, schloß Livia. »Jetzt müssen wir versuchen, noch ein wenig Ruhe zu finden. Morgen steht uns allen ein mühevoller Weg bevor, ganz gleich, welche Richtung ein jeder von uns auch einschlagen mag.«
Auch Kustennin erhob sich. »Denkt daran«, sagte er. »An der alten römischen Mole, bei Sonnenaufgang. Schlagt meinen Rat nicht aus.« Und er ergriff sein Pferd bei den Zügeln.
»Warte«, sagte Aurelius. Eilig stieg er auf den Turm hinauf, um die Standarte einzuholen, faltete sie sorgfältig zusammen und überreichte sie Kustennin. »Behalte sie, so wird sie nicht zerstört werden.«
Kustennin ergriff sie, sprang in den Sattel und galoppierte davon. Wie versteinert von diesem traurigen Zeremoniell, legte Ambrosinus seine Hand auf Romulus' Schulter und drückte ihn fest an sich, als wolle er ihn vor der inneren Kälte beschützen, die an seinem Herzen nagte.
Überwältigt von seinen Gefühlen, entfernte sich Aurelius von den anderen; Livia folgte ihm. Sie fand ihn im Dunkeln unter der Treppe zum Wehrgang und legte ihre Lippen auf seinen Mund. »Es ist sinnlos, gegen das Unmögliche anzukämpfen. Das Schicksal hat eine Entscheidung für uns getroffen, es erlaubt nicht, daß wir seine Grenzen überschreiten. Laß uns daher nach Italien zurückgehen. Laß uns ein Schiff suchen, das ins Mittelmeer segelt. Fahren wir heim nach Venetia ...« Doch Aurelius blickte auf Romulus und biß sich auf die Lippen. Er saß neben Ambrosinus, der ihn fest an sich drückte und mit seinem Umhang bedeckte.
»Vielleicht werden wir sie später wiedersehen ... Wer weiß?« sagte Livia und gab damit auch seinen Überlegungen Ausdruck. »Sed primum vivere - das Wichtigste ist, am Leben zu bleiben. Oder meinst du nicht?« Und sie schloß ihn in die Arme. Doch Aurelius löste sich von ihr. »Du hast deinen Plan niemals aufgegeben, nicht wahr? Ist dir denn nicht klar, daß ich diesen Jungen so liebe wie meinen eigenen Sohn, den ich nie hatte? Verstehst du nicht, daß in dem Augenblick, da ich in deine Lagune zurückkehrte, ich mich gleichsam in ein flammendes Meer stürzte? Laß mich allein, ich bitte dich ... laß mich bitte allein.« Weinend verließ ihn Livia und suchte in einem der Gebäude Zuflucht.
Aurelius stieg wieder zum Wehrgang hinauf und postierte sich auf einem der Wachtürme. Die Nacht war ruhig und klar, eine laue Frühlingsnacht, doch tobten in seinem Herzen Verzweiflung und eisige Kälte. Er hegte nur einen Wunsch: daß er aufhörte zu existieren und nie geboren worden wäre. Lange Zeit verharrte er, wie abwesend, in diesen Gedanken, während der Mond über dem Mons Badonicus emporstieg und mit seinem silbernen Schein das Tal erleuchtete. Plötzlich rüttelte ihn eine Hand an der Schulter, Ambrosinus stand vor ihm. Die quietschende Holztreppe hatte keinen Laut von sich gegeben, ebensowenig wie der Wehrgang aus locker gefügten Brettern. Mit einem Ruck drehte sich Aurelius um, als sei ihm ein Gespenst erschienen. »Ambrosinus ... was willst du?«
»Komm, wir gehen.« »Wohin?«
»Die Wahrheit suchen.«
Aurelius schüttelte den Kopf. »Nein, laß mich in Ruhe. Morgen haben wir eine lange Reise vor uns.«
Ambrosinus packte ihn an seinem Umhang. »Du wirst jetzt mit mir kommen, sofort!«
Resigniert erhob sich Aurelius. »Wie du willst, vielleicht läßt du mich dann in Ruhe.«
Langsam stieg Ambrosinus die Treppe hinab, ging hinaus ins Freie und steuerte eiligen Schrittes auf den großen, kreisförmigen Stein zu, den die vier Monolithen umstanden, die im Licht des Mondes wie schweigende Riesen aussahen. Als sie den Stein erreicht hatten, bedeutete er Aurelius, sich zu setzen, und dieser gehorchte, als fühle er sich einem unerschütterlichen Willen unterworfen. Ambrosinus goß eine Flüssigkeit in eine Schale und hielt sie ihm hin. »Trink.«
»Was ist das?« fragte Aurelius verblüfft.
»Eine Fahrt in die Hölle ... wenn du dich traust.«
Aurelius blickte ihm in die Augen, deren Pupillen geweitet waren, und fühlte, wie ihn der Strudel der Finsternis einsog. Mechanisch streckte er seine Hand nach der Schale aus und leerte sie in einem einzigen Zug.
Dann legte Ambrosinus ihm die Hände auf das Haupt, die Aurelius wie scharfe Krallen empfand. Sie drangen ihm tief erst in die Haut und dann in den Schädel ein, bis er vor Schmerz zu schreien begann, einem unerträglichen, stechenden Schmerz. Doch war es genauso, als schreie er im Traum - obwohl er weit seinen Mund öffnete, entlockte er ihm keinen Klang, der Schmerz steckte in ihm wie ein Löwe im Käfig, der sich blindwütig und qualvoll gegen das Gestänge wirft. Dann bohrten sich die Finger in sein Gehirn, während die Stimme des Druiden durchdringend und schneidend in seinen Ohren widerhallte. »Laß mich ein«, schrie er donnernd und zischend. »Laß mich ein!«
Und der Schrei fand seinen Weg, wie ein Todesschrei explodierte er urplötzlich in Aurelius' Innerem, dann sank der Legionär stöhnend auf den Stein nieder und blieb reglos darauf liegen.
Er erwachte an einem ihm unbekannten Ort, von dichtester Finsternis umhüllt. Erstaunt blickte er um sich, als suche er etwas, das ihn in die Wirklichkeit zurückriefe. Vor sich erkannte er die dunklen Umrisse einer belagerten Stadt ... rings um die Stadtmauer brannten die Feuer in den Soldatenlagern. Über ihm durchpflügten flammende Meteore mit einem grellen Zischen den Himmel. Doch klangen alle Töne wie auch die fernen, gedämpften Stimmen so schwankend und verzerrt wie in einem Alptraum.
»Wo bin ich?« sagte er.
Die Stimme des Druiden ertönte hinter ihm: »In deiner Vergangenheit ... in Aquileia!«
»Das ist unmöglich ...«, antwortete er. »Ganz und gar unmöglich.«
Vor ihm in der Ferne taten sich die dunklen Umrisse eines baufälligen Aquädukts auf, zwischen dessen Pfeilern und Bögen zuweilen ein Licht auftauchte und wieder verschwand. Wieder erklang hinter ihm die Stimme von Myrdin Emreis: »Sieh, dort droben ist jemand.« Bei diesen Worten veränderte sich seine Sicht und wurde so scharf wie die eines Nachtvogels. Tatsächlich, dort oben stand eine Gestalt, die sich über das Aquädukt bewegte. Ein Mann stapfte mit einer Laterne auf der zweiten Bogenreihe entlang. Plötzlich drehte er sich um, so daß die Laterne sein Gesicht beleuchtete.
»Das bist du!« sagte die Stimme hinter ihm.
Und plötzlich erschien es Aurelius, als packe ihn ein mächtiger Windstoß und wirbele ihn wie ein Blatt umher. Jetzt war er es, der auf diesem baufälligen Aquädukt stand, und er hielt die Laterne in seiner Hand, während eine Stimme aus der Finsternis sprach, die ihm mehr als vertraut war und ihn zusammenzucken ließ. »Hast du das Gold mitgebracht?« Gleich darauf tauchte ein Gesicht aus dem Dunklen auf: Wulfila!
»Alles, was ich besitze«, antwortete er und übergab ihm die Börse.
Wulfila wog sie in der Hand. »Das ist nicht das, was wir ausgemacht hatten, aber ... ich werde es trotzdem nehmen.«
»Meine Eltern! Wo sind sie? Die Abmachung war, daß ...«
Unverwandt starrte ihn Wulfila an, sein versteinertes Gesicht verriet keinerlei Gemütsregung. »Du findest sie am Eingang der westlichen Nekropole. Sie sind sehr schwach und nicht imstande, hier heraufzusteigen.« Dann drehte er ihm den Rücken zu und verschwand in der Dunkelheit.
»Warte!« schrie er. Doch erhielt er keine Antwort. Er war allein und von Zweifeln gequält. Das Licht der Laterne erzitterte. Und wieder erklang die Stimme seines Führers in der Dunkelheit. »Du hattest keine andere Wahl ...«
Jetzt fand er sich unvermittelt am Fuß der Stadtmauer wieder, direkt vor einem Durchlaß, der hinaus auf die Felder führte. Das Tor zu öffnen, bereitete ihm große Mühe, doch schließlich trug er den Sieg über den Rost und das Gewirr aus Pflanzen und Rankengewächsen davon, die es seit endlos langer Zeit versteckt und geheimhielten. Endlich stand er draußen, die Laterne in der Hand. Vor ihm lagen die uralten Grabstätten der Totenstadt, die von der Zeit verwittert und mit Brombeerranken und Unkraut überwuchert waren. Vorsichtig blickte er sich um. Das Gelände lag kahl und offen vor ihm, es schien völlig menschenleer. Mit leiser Stimme rief er: »Vater ... Mutter!«
Gleich einem Echo drang aus der Dunkelheit schmerzvolles Stöhnen zu ihm zurück, die Stimmen seiner Eltern! Er rannte vorwärts, während ihm das Herz bis zum Hals schlug. Im Licht der Laterne, die er in der Hand hielt, bot sich ihm mit einemmal ein grauenhafter Anblick. Seine Eltern hingen sterbend an einem Pfahl, ihre Körper waren übersät von den Spuren brutalster Folterung. Mit letzter Kraft hob sein Vater den Kopf und offenbarte ihm sein von Blut triefendes Antlitz. »Kehre um, mein Sohn!« rief er mit verlöschender Stimme. Doch konnte er seinen Satz nicht mehr beenden, da Wulfila hinter einem Grabmal hervortrat und ihn durchbohrte. Wie aus dem Nichts stürzten auch die anderen Barbaren hervor und bauten sich um Aurelius auf. Ein Messer zerfetzte ihm das Fleisch an seinem Halsansatz, und ein Schlag in den Nacken ließ ihn in sich zusammensinken. Das letzte, was er noch sah, war Wulfilas Schwert, das sich in den Leib seiner Mutter senkte. Wie von weither vernahm er die Stimme des Barbaren, der seine Männer anfeuerte: »Das Tor ist offen, lauft, die Stadt gehört uns!« Dann trampelten seine Krieger los und quetschten sich durch die schmale Öffnung, bis nur noch durchdringende Schreie aus der Stadt heraufgellten. Und in all den Klagen des Todes, dem Waffengeklirr und den heulenden Flammen versank Aquileia!
Er brüllte mit aller Kraft, die noch in ihm war, er schrie vor Entsetzen und haßerfüllter Verzweiflung. Dann vernahm er wieder die Stimme, die ihn durch diese Hölle geleitet hatte, und fand sich mit dröhnendem Kopf und schweißnaß wieder, wie er auf dem großen Rundstein lag. Vor ihm stand Ambrosinus, der auf ihn einredete: »Mach weiter ... du mußt weitermachen, bevor sich die Schneise deiner Vergangenheit wieder schließt. Erinnere dich, Aurelianus Ambrosius Ventidius, erinnere dich!«
Aurelius tat einen tiefen Atemzug und setzte sich auf, während er die Hände an seine hämmernden Schläfen hielt. Jedes einzelne Wort kostete ihn schreckliche Anstrengung. »Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen war, als ich wieder zu mir kam. Sie müssen mich für tot gehalten haben ...«
Sein Atem wurde ruhiger. Mit der Linken berührte er die Narbe zwischen Brust und Hals. »Die Klinge, die mir die Halsschlagader durchtrennen sollte, hatte mir nur die Haut unterhalb des Schlüsselbeins zerschnitten ... doch ich bekam unerträglichen Kopfschmerz davon. Durchdringende, stechende Schmerzen, so daß ich mich an nichts mehr erinnern konnte ... Ziellos irrte ich umher, bis ich auf eine Kolonne Flüchtlinge stieß. Sie versuchten, einige Boote aufzutreiben, um in die Lagune zu entkommen. Mein Instinkt befahl mir, ihnen bei ihrem Unternehmen zu helfen. Doch dann strömten auch andere von überall her, die ebenfalls einsteigen wollten, so daß sie die Boote beinahe zum Kentern brachten. So gut es ging, eilte ich ihnen zu Hilfe. Alte, Frauen und Kinder, alle versanken im Schlamm, in einem wüsten Durcheinander aus Weinen und Hilfegeschrei. Und dazwischen die Klagen all derer, die ihre Kinder, Geschwister oder Eltern verloren hatten ...
Noch nicht gesättigt von dem Blutbad in Aquileia, ritten die Barbaren in gestrecktem Galopp aus den Stadttoren hinaus, direkt zum Strand, wo sie mit brennenden Fackeln nach den Überlebenden ihres Massakers suchten, um sie ebenfalls niederzumetzeln. Auf dem letzten Schiff, das völlig überladen war, hatte mir der Bootsführer noch den letzten Platz aufgehoben. Es hatte bereits vom Ufer abgelegt, so daß er mir seine Hand hinstreckte und rief: >Los, beeil dich, steig ein!< Ich wollte schon springen, als ich den Hilferuf einer Frau vernahm. >Wartet!< rief sie. >Wartet, um Gottes willen!< Sie lief auf uns zu, wobei sie fast bis zum Gürtel im Wasser versank, und zog ein kleines Mädchen hinter sich her, das bitterlich weinte. Um ihr beim Einsteigen zu helfen, nahm ich das Kind auf den Arm, damit die Mutter die Hand des Bootsführers ergreifen konnte. Kaum hatte sie Platz genommen, reichte ich ihr die Kleine hinein. Vom Anblick des dunklen Wassers zu Tode erschrocken, wollte sie mich nicht loslassen, obwohl sie die andere Hand nach ihrer Mutter ausstreckte. Und so ... so riß sie mir die Medaille ab, die ich trug ... die Medaille mit dem Adler ... das Ehrenzeichen meiner Abteilung und meiner zerstörten Stadt. Dieses Kind war Livia!«
Ambrosinus half ihm, sich wieder aufzurichten und stützte ihn wie einen Kranken bei den ersten Schritten nach der Genesung. Langsam gingen die beiden Männer wieder zum Lager zurück.
»Ich wurde gefangen«, fuhr Aurelius fort, »und mußte als Sklave dienen, bis mich eines Tages der Angriff der Legio Nova Invicta befreite. Von da an war die Legion mein Zuhause, meine Familie und mein Leben.«
Ambrosinus faßte ihn fest um die Schulter, als versuche er, ihm ein wenig Wärme zu geben. »Du hast das Tor nur aus dem Grund geöffnet, um deine Eltern vor einem entsetzlichen Tod zu bewahren«, sagte er. »Du warst der Held von Aquileia, der die Stadt viele Monate lang verteidigt hat, niemand sonst. Und Wulfila war es, der deine Stadt und deine Eltern getötet hat.«
»Dafür wird er bezahlen«, sagte Aurelius, »bis zum letzten Blutstropfen.« Und während er diese Worte sprach, erstarrten seine Augen zu blankem Eis.
Als sie vor dem Tor des Lagers angekommen waren, klopfte Ambrosinus mit seinem Stab dagegen. Ihnen gegenüber standen Livia und Romulus, der mit ihr zusammen Wache gehalten hatte.
»Hast du gefunden, was du suchtest?« fragte die junge Frau Aurelius.
»Ja«, antwortete er ihr. »Du hast mir die Wahrheit gesagt.«
»Die Liebe lügt niemals. Wußtest du das denn nicht?« Sie schloß ihn in die Arme und küßte ihn auf seinen Mund, die Stirn und auch die Augen, in denen noch immer das blanke Entsetzen stand.
Ambrosinus wandte sich an Romulus. »Komm, mein Junge«, sagte er zu ihm. »Komm mit mir. Du mußt dich noch ein wenig ausruhen.«
Stille senkte sich über das Lager. Jeder blieb für sich allein in dieser ruhigen Frühlingsnacht und wartete darauf, daß die Sonne ihnen ein neues Schicksal enthüllte. Oder vielleicht auch zum letzten Mal auf sie herabschien.
»Laß mich diese Nacht nicht allein«, sagte Livia. »Bitte.«
Aurelius drückte sie an sich und führte sie zu seinem Zufluchtsort in der Kaserne.
Sie standen einander gegenüber, und das Mondlicht, das durch das baufällige Dach drang, beleuchtete Livias ebenmäßiges Gesicht, sein blasser Schein liebkoste ihr Haupt und tauchte es in eine magische Aura aus flüssigem Silber. Vorsichtig löste Aurelius die Bänder an ihrem Gewand und ließ seine Augen über ihre Nacktheit gleiten. Bezaubert von der Schönheit ihres Körpers, betrachtete er sie lange Zeit, bevor er es wagte, sie mit den Händen zu berühren. Langsam und hingebungsvoll begann nun auch sie, ihn in der bebenden Erwartung einer Braut zu entkleiden. Mit leichten Fingern streichelte sie seinen Körper, der im Mondlicht wie Bronze wirkte, glitt über die vielfach Versehrte Landschaft seines Fleisches, auf dem so viele Narben zu sehen waren, und seiner Muskeln, die sich von den vielen blutigen Kämpfen in ständiger Anspannung befanden. Dann ließ sie sich auf sein armseliges Strohlager nieder, auf dem seine raue Soldatendecke lag, und nahm ihn in sich auf. Wie ein wildes Füllen wölbte sie ihm ihre Lenden entgegen, vergrub ihre Nägel in seinen Schultern und suchte immer wieder nach seinem Mund. Bebend vor unerschöpflichem Verlangen, liebten sie sich und versenkten den brennenden Fluß ihres Atems und die heiße Verzückung ihres Fleisches ständig neu ineinander. Schließlich ließen sie erschöpft voneinander ab, und Aurelius legte sich neben sie. Der Duft ihres Haares umhüllte ihn.
»Ich verliebte mich in jener Nacht in dich«, murmelte Livia, »als ich dich zum erstenmal sah. Allein und wehrlos standest du am Ufer der Lagune, wie reglos hast du dein Schicksal erwartet. Damals war ich erst neun Jahre alt ...«
XXXVII
Als sich Aurelius von seinem Lager erhob, war es noch dunkel. Er legte seine Kleider an und ging in den weiten, leeren Hof hinaus. Wie durch ein Wunder tauchten bei seinem Erscheinen auch seine Gefährten aus dem Dunkel auf und gingen auf ihn zu, als hofften sie auf eine Entscheidung von ihm. Auch Ambrosinus trat zu ihnen. Keiner hatte ein Auge zugetan.
Aurelius sprach als erster. »Ich habe lange nachgedacht«, sagte er. »Ich bleibe.«
»Was?« erwiderte Vatrenus. »Bist du verrückt geworden?«
»Wenn er bleibt, bleibe ich auch«, antwortete Batiatus und befestigte Schwert und Doppelaxt an seinem Gürtel.
»Verstehe«, stimmte Demetrios zu. »Wir bleiben also und decken die Flucht von Romulus und Ambrosinus. Das ist gut so.«
»Das ist gut so«, wiederholte Orosius. »Wenigstens kann sich Livia retten.«
In diesem Augenblick erschien die junge Frau, angetan mit ihrer engen Amazonenkleidung; sie hatte den Bogen umgehängt und hielt Pfeile und Köcher in der Hand: »Aurelius ist der Mann, den ich liebe. So Gott will, werde ich mit ihm leben. Doch habe ich nicht die Absicht, ihn zu überleben. Das ist mein letztes Wort.«
Nun trat auch Romulus in den Kreis der Gefährten. »Ihr glaubt doch nicht, daß ich mich rette, wenn ihr alle bleibt«, sagte er mit einer Stimme, die fest und entschlossen klang wie die eines Mannes. Sie war sogar ebenso tief geworden. »Bis jetzt haben wir alle Gefahren gemeinsam durchgestanden, ohne euch hat mein Leben keinen Sinn. Ihr seid die einzigen Menschen, die mir geblieben sind, und meine liebsten Freunde. Um nichts auf der Welt würde ich mich von euch trennen. Selbst wenn ihr mich mit Gewalt verjagen würdet, käme ich doch immer wieder zu euch zurück. Ihr müßt mich schon anbinden, sonst stürze ich mich von dem Schiff ins Meer und schwimme hierher zurück, ich ...«
Nun hob Ambrosinus die Hand, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Ich liebe diesen Jungen wie meinen eigenen Sohn und gäbe jederzeit mein Blut für ihn hin. Doch ist er nun zum Mann geworden. Schmerz und Angst ließen ihn wie Leid und Entbehrungen erwachsen werden. Damit gebührt ihm das Privileg, auch seine eigenen Entscheidungen zu treffen, die wir respektieren müssen. Ich zuallererst. Unser Schicksal wird sich auf die eine oder andere Weise erfüllen, und zwar schon sehr bald. Und ich habe mir vorgenommen, es mit euch zu teilen. Uns hält etwas so außerordentlich Starkes zusammen, das uns nie mehr abhanden kommen kann, nicht einmal in Zeiten der höchsten Gefahr. Selbst die Todesangst kann es nicht besiegen. Es wird uns immer vereint halten, bis zum letzten Augenblick, und ich kann noch nicht einmal meine Empfindungen zum Ausdruck bringen, die mich bei euren Worten überkommen haben. Ich vermag euch nichts anderes zu geben als meine tiefste Zuneigung und die Ratschläge, die mir der allmächtige Gott von Zeit zu Zeit eingibt. Es tut mir leid für unseren Freund Kustennin, der an der alten Mole vergeblich auf uns warten wird, doch gibt es Verabredungen, die man nicht verpassen darf - eben die, der wir nun entgegengehen.«
Alle schwiegen tief betroffen, doch fühlten sie in ihrem Inneren zugleich eine große Gelassenheit, die bereit war, das äußerste Opfer zu bringen - ein Opfer der Liebe und Freundschaft, entstanden aus Hingabe und Überzeugung.
Als erster antwortete Vatrenus in seiner üblichen schroffen Art: »Also, dann los«, sagte er. »Wie ein Schaf abschlachten lasse ich mich noch lange nicht. Ich habe die Absicht, eine ganze Menge von diesen Hundesöhnen mit in die Unterwelt zu nehmen.«
»Genau!« rief Batiatus aus. »Ich habe diese sommersprossigen Bastarde immer gehaßt.«
Ambrosinus konnte ein Lächeln nicht verbergen. »Das ist allgemein bekannt, Batiatus«, sagte er. »Vielleicht habe ich da etwas für euch, etwas, das ich heute nacht zufällig entdeckt habe, als ich nicht einschlafen konnte. Kommt mit.« Und er ging eilig auf das Prätori-um zu. Seine Gefährten folgten ihm und betraten mit ihm den alten Standort des Kommandanten. Noch immer standen dort sein Tisch und sein zusammenklappbarer Feldsessel, auch waren noch einige Pergamentrollen mit Dokumenten aus der Schreibstube vorhanden, und an der Wand hing, auf eine Holztafel gemalt, das verblichene Porträt einer schönen Frau. An einer bestimmten Stelle auf dem Fußboden hielt Ambrosinus inne und hob die geflochtene Strohmatte auf. Darunter kam eine Falltür zum Vorschein, die er öffnete, bevor er seinen Gefährten bedeutete, dort hinunterzusteigen.
Als erster stieg Aurelius hinab und konnte kaum fassen, welcher Anblick sich seinen Augen bot: Vor ihm lag das gesamte Waffenarsenal der Legion! Ordentlich aufgereiht und noch immer glänzend von Fett, standen da etwa zwanzig komplette Rüstungen, die nach alter Manier angefertigt waren - mit Brustpanzern, aus Metallbändern zusammengefügt, Helmen, Schilden und ganzen Bündeln von wuchtigen Speeren mit dreieckiger Spitze, genau in der Art, wie sie einst Trajans und Hadrians Heere verwendeten. Außerdem zerlegte, aber noch voll einsatzfähige Wurfmaschinen und Katapulte mit Wurfspießen aus massivem Eisen, ebenso eine große Anzahl von lilia, jene tödlichen eisernen Apparaturen mit drei Spitzen, die, im Erdreich versteckt, als Absperrung gegen die feindliche Kavallerie und Infanterie dienten.
»Mir scheint, das ist der beste Beitrag, den du bisher für unsere Sache geleistet hast«, rief Vatrenus aus und schlug dabei Ambrosinus kräftig auf die Schulter. »Bei allem Respekt gegenüber deinen philosophischen Ausführungen. Nur Mut, Leute, machen wir uns an die Arbeit. Demetrios, du hilfst mir, die Katapulte und Wurfmaschinen zusammenzubauen.«
»Die bringt ihr hauptsächlich auf der Ostseite in Stellung«, befahl Aurelius, »von dort könnten wir leicht angegriffen werden, dort sind wir am verwundbarsten.«
»Orosius und Batiatus«, fuhr Vatrenus fort, »holt euch Spitzhacken und Schaufeln und grabt die lilia an den Stellen ein, die Aurelius euch zeigt. Er ist der leitende Stratege. Livia, du bringst die Geschützpfeile auf die Galerie, außerdem die Pfeile für die Handbogen, dazu die Wurfspieße ... und Steine, so viele Steine, wie du nur finden kannst. Und jeder versorgt sich mit einer kompletten Rüstung, das heißt Helm, Brustpanzer und so weiter. Eben alles. Sie sind in allen Größen vorhanden. Außer natürlich für Batiatus.«
Batiatus sah sich verblüfft um. »He, schaut mal, da ist ein Brustpanzer, wie man ihn für die Pferde benützt. Mit ein paar Hammerschlägen kann ich ihn für mich zurechtklopfen. Der paßt mir sicher prima.«
Alle lachten, als sie mit ansahen, wie dieser Riese den schweren Harnisch eines Schlachtrosses mit einer einzigen Hand aufhob und die Treppe im Laufschritt nach oben stürmte.
»Und ich?« fragte Romulus. »Was soll ich machen?«
»Nichts«, antwortete Vatrenus. »Du bist der Kaiser.«
»Dann helfe ich Livia«, sagte er und ging ihr dabei zur Hand, die Speere zu bündeln, wobei er sehr genau beobachtete, was sie tat.
Aurelius stieg als letzter die Treppen hinauf. Vor dem Tisch blieb er stehen und begann, in den Schriftstücken herumzustöbern, die dort lagen und von einer dicken Staubschicht bedeckt waren. Eines dieser Dokumente, in schönster Schrift aufgesetzt, zog seine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Da standen die Verse: Exaudi nie regina mundi, inter sidereos Roma recepta polos ... - Hör mich an, herrlichste Königin der Welt, die dein eigen ist, in den gestirnten Himmel aufgenommene Roma. Das war der Anfang des De reditu suo von Rutilius Namatianus, die letzte wehmütige Hymne auf die einstige Größe Roms, die siebzig Jahre zuvor am Vorabend der Eroberung durch Alarich, den König der Westgoten, geschrieben worden war. Seufzend steckte er die kleine Pergamentrolle als Glücksbringer unter das Unterkleid, direkt über seinem Herzen. Währenddessen erschien auch Ambrosinus wieder aus dem Untergeschoß, und Aurelius sagte zu ihm: »Sobald du siehst, daß alles verloren ist, versteck dich mit dem Jungen in dem unterirdischen Raum. Dort wartest du, bis alles vorbei ist. Dann begib dich nach Einbruch der Dunkelheit zu Kustennin und bitte ihn, dir weiterzuhelfen. Du schaffst es sicher, auch Romulus von diesem Schritt zu überzeugen. Vielleicht findet ihr einen versteckten Ort in Irland und könnt dort ein neues Leben beginnen.«
»Das wird nicht nötig sein«, antwortete Ambrosinus ruhig. Aurelius schüttelte den Kopf und ging hinaus in den Hof, um seinen Kameraden zu helfen.
Unermüdlich und mit kaum faßbarer Begeisterung arbeiteten sie den ganzen Tag, als sei ihnen endlich eine unerträgliche Last vom Herzen genommen. Bei Sonnenuntergang betrachteten Aurelius und die Seinen ihr Werk, von der Anstrengung völlig erschöpft, schweißgebadet und mit Erde und Staub bedeckt: In ordentlichen Reihen waren Katapulte und Wurfmaschinen auf den Wällen aufgebaut, und neben jeder Maschine stand ein Bündel von Wurfspießen und Speeren bereit. Außerdem hatten sie die Brustwehr verstärkt und vor jeder Schießscharte Bögen in großer Anzahl mit einer Fülle gebrauchsfertiger Pfeile aufgeschichtet. Und schließlich befanden sich vor der Palisade die im neuen Glanz erstrahlenden Rüstungen, die nur darauf warteten, von ihnen angelegt zu werden. Darunter auch die von Batiatus, die er mit einem Hammer auf dem Amboß zuerst abgeändert, dann brüniert und glänzend poliert hatte. Ursprünglich gefertigt, um die Brust eines Pferdes zu bedecken, schützte sie nun den Oberkörper dieses schwarzen Herkules in der Schlacht.
Sie setzten sich rings um das Feuer zu einem gemeinsamen Mahl, dann bereiteten sie sich für die Nacht vor.
»Schlaft diesmal alle, um morgen zum Kampf bereit zu sein«, sagte Ambrosinus. »Ich werde wachen. Ich sehe sehr gut und höre noch besser.«
Alle schliefen. Batiatus hatte neben der noch warmen Schmiede den Kopf auf seine Rüstung gebettet, während Livia in Aurelius' Armen in der ehemaligen Kaserne lag. Demetrios und Orosius lagen bei den Pferden im Stall, Romulus schlief, eingewickelt in seine Reisedecke, unter dem Vordach und Vatrenus im Wachturm auf den Wällen.
Ambrosinus hielt Wache neben dem Tor und war tief in Gedanken versunken. Als all seine Gefährten fest schliefen, erhob er sich plötzlich, öffnete leise das Tor und ging auf den Kreis der Megalithen zu. Dort angekommen, häufte er eine große Menge an Holz, Zweigen und Resten von trockenen Baumstümpfen auf, die er zu Füßen der jahrhundertealten Eichen fand. Dann eilte er auf die mächtigste Eiche zu, schlüpfte in einen Spalt in dem Stamm und holte einen großen, runden Gegenstand und einen Holzknüppel hervor. Eine Trommel. Rasch hängte er sie an einen Ast der Eiche und schlug kräftig mit dem Knüppel darauf. Ein tiefes Dröhnen ertönte, das wie der Klang eines Sturms von den Bergen zurückgeworfen wurde. Dann schlug er die Trommel ein zweites, ein drittes und noch ein viertes Mal.
Aurelius erhob sich in der Kaserne von seinem Lager. »Was war das?« fragte er. Livia ergriff seine Hand und zog ihn an sich. »Das ist nur der Donner, schlaf weiter.«
Doch wurde der Ton zunehmend lauter, bis er, dunkel metallisch und durch das Echo vervielfacht, von den Talhängen und Weiden und sogar von den Gipfeln der Berge widerhallte. Nun hörte Aurelius genauer hin. »Nein«, sagte er. »Das ist nicht der Donner, das klingt eher wie ein Warnsignal ... doch für wen?«
Vom Turm erklang die Stimme von Vatrenus. »Kommt und seht, aber schnell!« Sie ergriffen ihre Waffen und stiegen zu den Wällen empor. In der Ferne stand der Steinkreis in Flammen. Ein riesiges Feuer war zwischen den großen Steinsäulen im Inneren entfacht und schoß seine wirbelnden Funken in den schwarzen Nachthimmel empor. Und wie ein Gespenst bewegte sich im Schein der Flammen ein Schatten, der deutlich zu erkennen war.
»Das ist Ambrosinus, der seinen Zaubereien nachgeht«, sagte Aurelius. »Und wir dachten, er hielte Wache. Ich geh wieder schlafen. Bleib du hier, Vatrenus, bis er zurückkommt.«
Doch die Hirten und Bauern in ihren Gehöften, die über die Landschaft verstreut lagen, die Schmiede und Handwerker erblickten das Feuer. Ja, sie zündeten sogar noch weitere an, verwundert beäugt von ihren Frauen und Kindern, bis die Flammen überall hell aufloderten: auf den Hügeln und Bergen von der Ozeanküste bis zu dem Großen Wall.
Schließlich erreichte das Dröhnen der Trommel auch Kustennins Ohr, der aus dem Bett sprang und lauschte. Als er ans Fenster trat und die Feuer erblickte, verstand er, warum an diesem Morgen niemand zum Hafen gekommen war. Zufrieden schaute er auf die leeren Betten von Egeria und Ygraine und dachte an das Schiff, das zu dieser Stunde über das ruhige Wasser fuhr und sie an einen sicheren Ort brachte. Dann öffnete er eine Truhe und holte daraus den Drachen aus Silber und Purpur hervor, weckte seinen Diener und befahl ihm, seine Rüstung und das Pferd vorzubereiten.
»Wohin reitest du, mein Herr, zu dieser frühen Stunde?« fragte dieser ihn verwundert.
»Freunde treffen.«
»Und warum nimmst du dein Schwert mit?«
In diesem Moment trug der Wind wieder das ferne Dröhnen herbei, das laut durch die Nacht drang.
Kustennin seufzte. »Es gibt Augenblicke«, sagte er, »da muß man sich zwischen dem Schwert und der Pflugschar entscheiden.« Dann hängte er das Schwert an seinen Gürtel und ging die Treppe zum Pferdestall hinab.
Bei Tagesanbruch standen Aurelius, Vatrenus und ihre Gefährten bis an die Zähne bewaffnet auf den Wällen und starrten schweigend auf den Horizont. Mit einem Topf dampfender Suppe eilte Romulus von einem zum anderen, bis er zuletzt Aurelius einen Napf voll gab.
»Wie schmeckt sie?« fragte er.
Aurelius nahm einen Löffel. »Gut. Die beste, die mir je in einem Heerlager serviert wurde.«
Romulus lächelte. »Vielleicht haben wir uns die ganze Mühe umsonst gemacht. Vielleicht kommen sie nicht.«
»Vielleicht ...«
»Weißt du, was ich denke? Daß es schön wäre, hier unsere kleine Gemeinschaft zu gründen. Vielleicht entsteht ja aus diesem Lager einmal ein Dorf, und ich könnte mir ein Mädchen suchen. Eins habe ich schon unten in der Stadt getroffen. Sie hat rote Haare, weißt du?«
Aurelius lächelte. »Das ist schön. Ich meine, daß du anfängst, an Mädchen zu denken. Das bedeutet, daß du erwachsen wirst. Es bedeutet aber auch, daß deine Verletzungen langsam heilen und die Erinnerung an deine Eltern nicht mehr ausschließlich vom Schmerz geprägt wird, sondern daß das Angenehme überwiegt. Der Gedanke an ihre Liebe wird dich dein ganzes Leben begleiten.«
Romulus seufzte. »Ja, vielleicht hast du recht, doch bin ich noch nicht einmal vierzehn Jahre alt. Und ein Junge in meinem Alter braucht einen Vater.« Er schöpfte ein wenig Suppe in seinen Napf und begann zu essen, als gelänge es ihm damit leichter, die Haltung wiederzugewinnen. Von Zeit zu Zeit sah er verstohlen zu Aurelius herüber, um festzustellen, ob auch er zu ihm herüberschaute. »Du hast recht«, sagte er. »Die Suppe ist nicht schlecht. Livia hat sie gekocht.«
»Das dachte ich mir schon«, antwortete Aurelius. »Aber sag, wenn dein Vater da wäre, was würdest du gern von ihm wissen?«
»Nichts Besonderes. Ich möchte nur mit ihm zusammen sein und etwas mit ihm zusammen machen. Ebenso wie wir beide jetzt miteinander essen. Ganz einfache, unbedeutende Dinge, einfach beisammen sein und wissen, daß man nicht allein ist. Verstehst du?«
»Gewiß«, antwortete Aurelius. »Auch mir fehlen meine Eltern sehr, obwohl ich viel älter bin als du.«
Eine Weile blickten sie nur auf den Horizont, ohne ein Wort zu sagen. Dann brach Aurelius das Schweigen. »Weißt du was? Ich habe noch keine Kinder und weiß auch nicht, ob ich je welche haben werde. Ich meine ... ich weiß nicht, was uns erwartet, und ...«
»Ich verstehe«, antwortete Romulus.
»Ich habe mich gefragt, ob ...«
»Was?«
Aurelius zog seinen bronzenen Ring mit der kleinen Kamee vom Finger, in die ein Monogramm eingraviert war. »Jetzt weiß ich, daß dieser Ring mir wirklich gehört. Er ist mein Familienring, und ich frage mich ... ich frage mich, ob du ihn wohl annehmen würdest.«
Romulus sah ihn mit leuchtenden Augen an. »Willst du damit sagen, daß ...«
»Ja. Wenn du einverstanden bist, wäre ich glücklich, dich als meinen Sohn anzunehmen.«
»Hier? Jetzt?«
»Hie et nunc«, antwortete Aurelius. »Wenn es dir recht ist.«
Romulus warf ihm die Arme um den Hals. »Von ganzem Herzen«, sagte er. »Auch wenn ... ich kaum glaube, daß es mir jemals gelingt, dich Vater zu nennen. Ich habe immer Aurelius zu dir gesagt.«
»Das geht in Ordnung, wie du willst.«
Nun streckte Romulus die rechte Hand aus, und Aurelius steckte ihm den Ring auf den Daumen, nachdem er alle anderen Finger ausprobiert hatte und sie alle zu dünn waren. »Also nehme ich dich, Romulus Augustus Cäsar Aurelianus Arabrosius Ventidius ... Bri-tannicus, als meinen Sohn an! Und so sei es, solange du lebst.«
Und wieder umarmte ihn Romulus. »Danke«, sagte er. »Ich werde dich immer ehren, so wie du es verdienst.«
»Aber ich warne dich«, erwiderte Aurelius. »Ab jetzt mußt du meine Ratschläge befolgen, auch wenn das noch nicht bedeutet, daß du meinen Befehlen gehorchen mußt.«
Romulus wollte gerade antworten, als Demetrios' Stimme vom höchsten Turm erklang. »Sie kommen!«
Aurelius rief: »Alle auf ihre Posten! Romulus, du gehst mit Ambrosinus. Er weiß, was zu tun ist. Nun mach schon, schnell!«
Da erklangen die langgezogenen Töne der Hörner, die gleichen, die er in Dertona am Tag von Mledos Angriff gehört hatte, und auf der Hügellinie im Osten erschien eine lange Reihe gepanzerter Reiter, die im Schrittempo vorrückten. An einem bestimmten Punkt teilten sie sich, um einen hünenhaften Krieger vorreiten zu lassen, dessen Gesicht von einer goldenen Maske bedeckt war. In seinen Händen hielt er ein glänzendes Schwert.
Aurelius gab ein Zeichen. Vatrenus und Demetrios luden die Katapulte und Wurfmaschinen.
»Seht!« schrie Demetrios. »Da kommt jemand.«
»Vielleicht wollen sie verhandeln!« sagte Vatrenus und ging zum Geländer.
Ein Mann zu Pferde, flankiert von zwei bewaffneten Kriegern, ritt näher und hielt als Zeichen des Waffenstillstands ein weißes Tuch in die Höhe, das an einer Querstange befestigt war. Sie verharrten direkt unter der Palisade.
»Was willst du?« fragte Vatrenus.
»Mein Herr Wortigern macht euch folgendes Angebot. Ihr kommt mit dem Leben davon, wenn ihr ihm den jungen Usurpator ausliefert, der von sich behauptet, Romulus Augustus zu sein. Außerdem will er den Deserteur, der ihn beschützt und unter dem Namen Aurelius bekannt ist.«
»Warte einen Moment«, antwortete Vatrenus, »wir müssen uns beraten.« Dann trat er zu Batiatus und flüsterte ihm leise etwas zu.
»Also?« fragte der Bote. »Was soll ich ausrichten?«
»Daß wir einverstanden sind!« antwortete Vatrenus.
»Da habt ihr erst einmal den Jungen!« rief Batiatus. Mit einem großen Bündel im Arm, trat er an die Brustwehr heran, und noch bevor der Barbar die Gelegenheit hatte, etwas zu bemerken, ließ er es auf ihn herabfallen. Es war ein in eine Decke gewickelter Felsbrocken, der ihn genau erwischte und zu Boden schmetterte. Während die beiden anderen flugs ihre Pferde herumrissen und die Flucht ergriffen, brüllte ihnen Batiatus hinterher: »Wartet, der andere kommt auch noch!«
»Das wird sie ganz schön wütend machen«, sagte Aurelius.
»Und macht das etwas aus?« erwiderte Vatrenus.
»Nein, natürlich nicht. Haltet euch bereit, da kommen sie.«
Und wieder erklangen die Hörner, die breite Front der Reiter rückte stetig vor. Als sie etwa eine Viertelmeile vor dem Lager waren, öffnete sich die Front, und acht Männer zu Pferde stürmten den Abhang hinunter und zogen auf Rollen einen Stoßbalken mit eiserner Spitze hinter sich her.
»Er will den Handstreich von Dertona wiederholen!« rief Aurelius. »Macht die Katapulte bereit!«
In rasendem Tempo galoppierten die feindlichen Reiter voran, bis sie das Gelände erreichten, in dem die lilia vergraben lagen. Schon stürzten die beiden vorderen Pferde zu Boden und warfen ihre Reiter ab, die von den im Gras versteckten Eisenspitzen aufgespießt wurden. Der Stoßbalken geriet aus dem Gleichgewicht und drehte nach links ab, doch nahm er dabei immer mehr an Geschwindigkeit zu. Die Räder, die der Last nicht länger standhielten, zersprangen in Stücke, der Balken überschlug sich und rollte den Abhang hinunter, wo er von den Felsen abprallte und schließlich in den See stürzte.
Nun schossen die Katapulte los, und als die Reiter versuchten umzudrehen, wurden vier weitere von ihnen durchbohrt. Auf den Wällen der Festung schrien alle vor Begeisterung, doch erschallten schon wieder die Hörner. Die Reiter waren stehengeblieben, und jetzt rückte eine Welle leichter Infanterie vor.
»Achtung!« schrie Demetrios. »Sie haben Brandpfeile.«
»Bögen!« befahl Aurelius. »Haltet so viele auf, wie ihr könnt!«
Die Infanterie rückte im Laufschritt auf das Lager vor. Bald war jedoch klar, daß es sich dabei um behelfsmäßig bewaffnete Knechte handelte, deren einzige Bestimmung es war, sich niedermetzeln zu lassen, um der schweren Kavallerie den Weg freizumachen. Hinter ihnen hielten die anderen Krieger die Bögen bereit, um jeden zu durchbohren, der zu fliehen versuchte. Als die ersten Soldaten in die lilia hineintraten und schreiend vor Schmerz mit durchbohrten Füßen hinschlugen, teilte sich die Infanterie in zwei Gruppen. Von rechts und von links marschierten sie um das nicht begehbare Gelände herum und schossen dabei in hohem Bogen ihre Brandpfeile ab. Viele von ihnen wurden von den Wurfspießen Livias und ihrer Gefährten durchbohrt, doch konnten sich die anderen hinter die Bäume und Felsen flüchten, von wo aus sie weitere Brandpfeile abschossen, die ihr Ziel auch an verschiedenen Stellen trafen. Das Holz der Palisade, das bereits sehr alt und vollständig ausgetrocknet war, fing sofort Feuer. Nun lief ein neuer Trupp Infanteristen mit Leitern nach vorn, wurde aber von den Bewachern des Wehrgangs mit Pfeilen der Wurfmaschinen und wahren Salven von Wurfspießen zu Boden gezwungen.
Jetzt rückten die Reiter auf ihren Rössern im Schritt vor.
Offenbar warteten sie darauf, daß der brennende Abschnitt der Palisade zusammenbräche, so daß sie in das Innere der Festung einfallen konnten.
Aurelius versammelte seine Soldaten. »Wir haben kein Wasser und auch keine Männer, die den Brand löschen könnten, und in Kürze wird Wulfila seine Männer in die Bresche da vorn hineinjagen. Vatrenus, du und Demetrios, ihr bringt alle zur Strecke, die ihr mit den Wurfmaschinen nur erreichen könnt. Anschließend bleibt uns nichts anderes übrig, als nach draußen durchzubrechen; dort, wo die kleine Esche steht, ist der einzige Durchgang, der frei von den lilia ist. Batiatus, du bist unser Sturmbock. Du brichst in der Mitte durch, und wir anderen folgen dir. Wir werden sie auf das unebene Gelände locken, wo ihnen nichts anderes übrigbleibt, als sich zu zerstreuen und zu Fuß weiterzugehen. Also besteht noch Hoffnung.«
In diesem Augenblick stürzte der brennende Abschnitt der Palisade in einem Wirbel aus Feuer und Rauch zusammen, und die feindliche Kavallerie sprengte im Galopp auf die Bresche zu. Vatrenus und Demetrios rissen die Katapulte und Wurfmaschinen auf ihren Plattformen herum und schossen eine Salve Wurfspieße ab, die ein halbes Dutzend Reiter niedermähten, wodurch wieder andere zu Fall gebracht wurden. Noch eine zweite Salve traf in die Menge und richtete ein Blutbad an, ihnen folgten die Bogenpfeile und schließlich die Speere: zuerst die leichten mit der längeren Reichweite, dann die schweren für kurze Entfernungen. Das gesamte Gelände war mit toten Soldaten übersät, doch rückten die Feinde immer weiter vor, davon überzeugt, bald den entscheidenden Schlag ausführen zu können.
»Alle hinaus«, rief da Aurelius, »durch das Südtor hinaus. Wir gehen seitlich an ihnen vorbei! Ambrosinus, bring den Jungen in Sicherheit.«
Kopf und Gesicht von einem Helm mit Visier geschützt, saß unten Batiatus bereits in seiner Rüstung im Sattel des riesigen Armorica-Hengstes, den ebenfalls Metallplatten schützten, und schwang seine Streitaxt; er war nicht bloß ein Mann auf seinem Pferd, er war eine Kriegsmaschine. Wenig später hatten sich hinter ihm auch die übrigen Gefährten auf ihren Reittieren pfeilförmig gruppiert. »Jetzt!« schrie Aurelius. »Alle hinaus!« Und das Tor öffnete sich weit, während die ersten feindlichen Reiter bereits fast die Bresche erreicht hatten. Batiatus gab seinem Pferd die Sporen, stürzte im Galopp auf das offene Gelände hinaus und steuerte auf den freien Durchgang zu. Seine Freunde ritten hinter ihm her.
Romulus, der seinem Erzieher entkommen war, sprang in den Sattel des Fohlens und gab ihm die Sporen. Er konnte nicht anders, als hinter seinen Kameraden herzureiten und an ihrer Seite zu kämpfen, selbst wenn er nur ein Messer anstelle eines Schwertes schwang.
Laut rufend lief Ambrosinus hinter ihm her: »Bleib stehen! Komm zurück!«, doch stand er schon bald allein auf ungeschütztem Gelände. Unterdessen attackierte Batiatus die Linien der feindlichen Reiter und focht heftig mit jedem, der es wagte, sich ihm entgegenzuwerfen, um ihn aufzuhalten. Die Kameraden stürzten sich gleichfalls hinter ihm in die wilde Rauferei und schlugen mit ihren Schwertern und Schilden auf alles ein, was ihnen in die Quere kam. Als Wulfila, der sich noch weit oben am Abhang befand, Aurelius ausfindig machte, stürzte er mit gezogenem Schwert auf ihn zu. Da entdeckte Vatrenus aus dem Augenwinkel heraus Romulus, der rechts von ihm auf seinem Fohlen ritt, und rief ihm zu: »Reite zum Hügel, Romulus, schnell, schnell, weg von hier!«
Zu Tode erschrocken und von feindlichen Reitern umringt, die aus allen Richtungen auf ihn zugaloppierten, schleppte sich Ambrosinus auf einen Felsvorsprung, der rechts von ihm aus dem Boden ragte. Von da hoffte er herauszufinden, wo der Junge war. Und er sah ihn, wie er, von seinem bockenden Fohlen mitgezerrt, auf den Megalithenkreis zusteuerte.
Mittlerweile hatte Wulfila Aurelius fast erreicht und schrie außer sich vor Wut: »Kämpfe, du Feigling! Du kannst mir nicht mehr entkommen!« Und dann holte er zum ersten tödlichen Schlag aus. Batiatus hob seinen Schild, eine Platte aus massivem Metall, um Aurelius vor dem Hieb zu bewahren. Das Schwert traf den Schild mit lautem Getöse, so daß sich eine funkelnde Fontäne ergoß. Unterdessen donnerten die ersten Reiter durch die Bresche, flogen über die Flammen des Scheiterhaufens hinweg und drangen ins Lager ein. In ihrem Zorn machten sie alles nieder, was sich ihnen darbot, setzten die Gebäude und Wachtürme in Brand, die sogleich wie riesige Fackeln in den Flammen aufgingen.
»Es ist niemand mehr da!« rief plötzlich einer. »Sie sind alle abgehauen. Schnell, hinter ihnen her!«
Von der Felsspitze aus, die er endlich erklommen hatte, beobachtete Ambrosinus, wie Aurelius sich verzweifelt gegen Wulfila wehrte, als plötzlich sein Schild in tausend Teile zerbrach und sein Schwert sich unter den Hieben der unbesiegbaren gegnerischen Klinge verbog. Und plötzlich wurde das Chaos aus wildem Geschrei und das Getöse der heftig aufeinanderprallenden Waffen von dem schrillen, durchdringenden Ton einer Bucina übertönt, jenem Signalhorn, das zum Angriff blies. Im selben Augenblick erschienen am östlichen Saum des Hügels das funkelnde Haupt und der purpurne Schweif des Drachen, hinter dem eine massive Linie von Kriegern einhermarschierte. Mit tiefgezogenen Lanzen rückten sie hinter einer Mauer aus Schilden vor und stießen bei jedem Schritt den alten Schlachtruf der römischen Infanterie aus. Wie aus dem Nichts war die Legion des Drachen aufgetaucht und stürmte im Laufschritt den Hügel hinab, gefolgt von zwei Reihen Berittener, die Kustennin anführte.
Wulfila zögert für einen Augenblick, derweil ihn Batiatus mit seinem ganzen Gewicht attackierte und ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Bevor Wulfila zum tödlichen Schlag gegen Aurelius ausholen konnte, der jetzt keine Waffe mehr hatte, schubste der Riese ihn rasch zur Seite, so daß der Barbar zu Boden fiel. Doch als Wulfila wieder aufstand, sah er Romulus vom Pferd fallen und zu Fuß auf den Steinkreis zulaufen, in der Hoffnung, dort Zuflucht zu finden. Sofort sprang er auf die Füße und stürmte los, doch Vatrenus, der seine Absicht erahnt hatte, schnitt ihm den Weg ab. Mit erschreckender Gewalt hieb Wulfilas Schwert auf ihn ein, zerteilte ihm Schild und Rüstung und riß ihm die Brust auf, aus der ein dicker Strahl Blut hervorspritzte. Und wieder rannte Wulfila los und schrie seinen Männern zu: »Gebt mir Deckung!« Vier seiner Krieger warfen sich auf Vatrenus, der sich, am ganzen Körper blutüberströmt, weiter wie ein Löwe schlug, bis er zurückwich, um sich an einen Baum zu lehnen. Da durchbohrten sie ihn, einmal, zweimal, dreimal, viermal, so daß die Spitzen ihrer Lanzen im Baumstamm steckenblieben. Mit letzter Kraft fauchte Vatrenus: »Zur Hölle mit euch, ihr Bastarde!« Dann ließ er leblos den Kopf sinken.
Die anderen formten eine Mauer um die kleine Schar der Kämpfenden, die noch immer mit wilder Energie zuschlugen. Auch Aurelius, der das Schwert eines Gefallenen aufgenommen hatte, focht weiter und tat alles, um sich den Weg zu Wulfila freizukämpfen, der hinter Romulus auf den Steinkreis zulief, in dem der Knabe Schutz suchen wollte. Demetrios und Orosius versuchten, an seine Seite zu eilen, um ihm Deckung zu geben, doch sie wurden überwältigt und fielen. Batiatus allein gelang es nicht, sie zu retten, aber er konnte die Mauer der Feinde durchbrechen, so daß Aurelius das offene Gelände erreichte und auf den Steinkreis zulief. Nun von allen Seiten umringt, ließ Batiatus, der Riese, seine Streitaxt kreisen, trennte Köpfe und Arme ab, zerschlug Schilde und Harnische und tränkte den Boden mit Blut. Da bohrte sich eine Lanze in seine Schulter, und er wich an einen Felsen zurück. Wie ein Bär, der von einer Meute Hunde belagert wird, schlug Batiatus mit furchterregender Gewalt um sich, obwohl das Blut ihm in Strömen von seiner linken Seite rann. Als Livia das sah, warf sie sich blitzschnell aufs Pferd und beschoß die Angreifer, die sich um den verwundeten Riesen scharten, mit ihren Pfeilen, wobei sie nicht wenige in den Rücken traf.
Das Kampfgeschehen tobte inzwischen überall. Doch mit dem hocherhobenen Banner des Drachen rückten die frisch eingetroffenen Krieger unablässig weiter vor und drängten die Feinde, die durch ihr unerwartetes Erscheinen völlig verwirrt waren, ins Tal zurück.
Inzwischen hatte auch Ambrosinus erkannt, welchen Schachzug Wulfila vorhatte, und lief mit keuchendem Atem so schnell er konnte am Rand des Schlachtfelds entlang auf den Megalithenkreis zu und rief mit aller Kraft: »Flieh, Romulus, flieh! Lauf, was du kannst!«
Als Romulus oben auf dem Hügel angekommen war, drehte er sich um, um seine Freunde in dem tobenden Gewühl zu erspähen.
Plötzlich stand er einem hünenhaften Krieger mit langen schneeweißen Haaren und einer goldenen Maske auf dem Gesicht gegenüber. Furchterregend anzuschauen, war er von Kopf bis Fuß mit Blut und Schweiß bedeckt. Er kam auf ihn zu und schwang sein Schwert, das rot von Blut war. Dann riß er sich plötzlich die Maske vom Gesicht und zeigte ihm grinsend seine zerschnittene Fratze: Wulfila! Entsetzt wich Romulus an einen der großen Pfeiler zurück und streckte in einem schwachen Verteidigungsversuch sein Messer aus. Aus der Ferne drangen die angstvollen Rufe seines Meisters und das wirre Getöse der Schlacht an sein Ohr, doch folgte sein Blick, wie von einem Magneten angezogen, unablässig der Spitze des Schwertes, die sich nun zu dem todbringenden Hieb nach oben richtete. Ein Stoß dieses Schwertes genügte, und sein Messer würde dem Feind zu Füßen fallen. Romulus wich noch ein wenig weiter zurück, bis er mit dem Rücken an den Pfeiler stieß. Die lange Flucht war zu Ende und mit ihr alle Sorgen und angstvollen Hoffnungen. In einem kurzen Moment würde diese Klinge ihn ausgelöscht haben. Plötzlich wichen die Hektik und der panische Schrecken, die ihn beim Anblick seines Widersachers ergriffen hatten, und ihn überkam das Gefühl einer rätselhaften Gelassenheit, während er sich darauf vorbereitete, wie ein echter Soldat zu sterben. Dann schoß das Schwert vor, um ihm das Herz zu durchbohren. In diesem Moment hörte er hinter sich ganz deutlich Ambrosinus' Stimme, die sagte: »Verteidige dich!« Und wie durch ein Wunder wich er mit einer blitzartigen Bewegung dem Stoß aus. Das Schwert bohrte sich statt dessen in einen Riß im Stein und blieb darin stecken, während Romulus, ohne sich auch nur umzudrehen, nach der brennenden Glut auf dem großen Stein griff und sie Wulfila in die Augen schleuderte. Der schrie auf vor Schmerz und wich zurück. Dann gab ihm Ambrosinus mit klarer, fester Stimme einen neuen Befehl: »Nimm das Schwert.«
Romulus gehorchte. Er packte den herrlichen goldenen Griff und zog ruhig und kraftvoll daran. Fügsam folgte die Klinge der Bewegung des Knaben, und als Wulfila die Augen wieder öffnete, sah er, wie Romulus ihm das Schwert mit beiden Händen gegen den Leib drückte, den Mund weit aufgerissen in einem Schrei, der schrecklicher war als der Schlachtenlärm. Verblüfft und ungläubig sah der Barbar mit an, wie sich das Schwert Julius Cäsars langsam in sein Fleisch bohrte und unter dem Gurgeln der durchtrennten Eingeweide in seinem Körper versank. Dann spürte er, wie die Klinge, so schneidend wie der wilde Schrei dieses Knaben, aus seinem Rücken wieder heraustrat.
Er sackte in die Knie, und keuchend beobachtete Romulus, wie das Ende nahte. Aber noch immer brannte der Haß in Wulfila, nährte seine schwindende Lebenskraft und entzündete die wildesten Energien in ihm, doch noch den Sieg zu erlangen. Er packte das Schwert am Griff, zog es langsam aus der schrecklichen Wunde und schwang es in seiner rechten Faust, während die linke seinen Bauch zusammenpreßte. So wankte er auf sein Opfer zu und fixierte es mit solch starrem Blick, als wolle er es mit der furchterregenden Kraft seiner Augen bewegungslos machen. Doch als er gerade dabei war, den Stoß anzusetzen, bohrte sich ihm eine andere Klinge in den Rücken, die auf der Vorderseite wieder zum Vorschein kam. Dicht hinter ihm stand Aurelius, der die Klinge führte, und seine harte, kalte Stimme klang wie ein Todesurteil an Wulfilas Ohr.
»Das ist für meinen Vater, Cornelius Aurelianus Ventidius, den du in Aquileia grausam ermordet hast.«
Das Blut rann ihm aus dem Mund, doch noch immer stand Wulfila fest auf den Beinen, noch immer versuchte er, das Schwert zu heben, obwohl es so schwer wie Blei geworden war. Da stieß Aurelius noch einmal zu und zog die Klinge von einer Seite zur anderen, und wieder trat sie am Brustbein aus.
»Und das ist für meine Mutter, Cecilia Aurelia Silvia.«
Röchelnd brach Wulfila auf dem Boden zusammen. Unter dem verwunderten Blick von Aurelius beugte sich Romulus zu ihm hinab, tauchte die Finger in das Blut seines Feindes und zog sich über der Stirn einen hochroten Strich. Dann reckte er das Schwert zum Himmel empor und stieß einen Triumphschrei aus, der kraftvoll und durchdringend wie ein Signalhorn auf dem Blutfeld widerhallte, das sich unter ihm erstreckte.
Inzwischen hatte die Legion auf der ganzen Linie gesiegt und rückte, nach den einzelnen militärischen Rängen unterschieden, auf den Kreis der Megalithen vor - allen voran das glorreiche Banner, das sie aus dem Dunkel zurückgerufen und zum Sieg geführt hatte. Kustennin hielt es in der Faust, und die Sonne, die inzwischen hoch am Himmel stand, umgab es mit ihren Strahlen. Oben auf dem Hügel angekommen, stieg Kustennin vom Pferd und pflanzte das siegreiche Banner neben Romulus in die Erde. Und er rief: »»Ave, Cäsar! Ave, Sohn des Drachen! Ave, Pendragon!«
Auf einen Wink von ihm eilten vier Krieger herbei, die auf dem Boden vier Stangen zu einem Kreuz zusammenfügten und darauf einen großen runden Schild legten. Sie baten Romulus, seine Füße darauf zu setzen, und hoben ihn dann nach keltischer Art auf die Schultern, damit ihn alle sehen konnten. Nun begann Kustennin, sein Schwert gegen den Schild zu schlagen, und die gesamte Legion tat es ihm gleich, so daß tausend Schwerter machtvoll und laut auf die Schilde krachten und tausend Stimmen dröhnender als das ohrenbetäubende Waffengeklirr unablässig den Ruf skandierten: »»Ave, Cäsar! Ave, Pendragon!«
Mit Wulfilas Blut auf der Stirn und dem funkelnden Schwert in der Hand erschien Romulus den siegreichen Soldaten wie ein überirdisches Wesen: der junge Krieger aus der Prophezeiung. Und während sich der nicht endende Ruf auf den Bergen in unzähligen Echos brach, wurden seine Augen von einer brennenden Leidenschaft entzündet. Doch als er von dort oben seine Gefährten erblickte, verflüchtigte sich der Triumph, und das ekstatische Glücksgefühl wich einer tiefen Ergriffenheit. Rasch sprang er zu Boden und ging durch die Reihen der Krieger hindurch, die sich respektvoll vor ihm öffneten. Schweigen fiel über das Tal, während er fassungslos und stumm über das Schlachtfeld schritt, das von zahllosen Toten bedeckt war. Seine Augen glitten über das schreckliche Bild, er sah die in letzter Todesqual einander noch umschlingenden Leiber, sah die Verwundeten und Sterbenden. Da lehnte an einem Felsen der Riese Batiatus, die Schulter von einer Lanze durchbohrt, blutüberströmt und inmitten einer großen Menge getöteter Feinde. Ein wenig von ihm entfernt lagen die Leichname seiner Kameraden, die im ungleichen Kampf gefallen waren. Als erster Vatrenus, den vier feindliche Lanzen an einen Baumstamm genagelt hatten; seine Augen standen noch offen, als verfolgten sie einen unmöglichen Traum. Dann Demetrios und Orosius, die beiden Unzertrennlichen, Seite an Seite, noch im Tod vereint. Auch sie waren von zahlreichen Feinden umgeben, die das Ende der beiden mit dem Tod bezahlt hatten.
Livia lehnte an einem Felsen, sie lebte, auch wenn ein Pfeil in ihrer Seite steckte und ihre Gesichtszüge vor Schmerz verzerrt waren.
Romulus brach in Tränen aus. Beim Anblick seiner verwundeten oder gefallenen Gefährten, den Freunden, die er nie mehr wiedersehen würde, weinte er herzzerreißend. Mechanisch wie eine Maschine, doch mit verwundetem Blick, marschierte er immer weiter, bis er am Ufer des Sees stand. Kleine, vom Wind kaum gekräuselte Wellen benetzten seine von Wunden bedeckten Füße und leckten an der Spitze seines Schwerts, von dem noch immer das Blut tropfte.
Und plötzlich legte sich wie ein lauer Frühlingswind das unendliche Verlangen nach Frieden über ihn und er rief: »Nie wieder Krieg! Kein Blutvergießen mehr!« Dann wusch er das Schwert im Wasser, bis es wie ein Kristall erstrahlte. Er erhob sich und ließ es um sich rotieren, in Kreisen, die immer weiter wurden, bis er es schließlich mit all seiner Kraft in den See schleuderte. Die Klinge flog hoch in die Luft und glänzte hell im Licht der Sonne, um dann wie ein Meteorit herabzustürzen und sich in den Felsen zu bohren, der, von Moos grün überwachsen, in der Mitte des Sees aus dem Wasser tauchte.
In diesem Augenblick versiegte der letzte Windhauch, und auf der glatten Oberfläche des Wassers spiegelte sich wie eine magische Vision die würdevolle Gestalt seines Meisters Ambrosinus, der zurückgekommen war und auf dessen Brust ein kleiner silberner Mistelzweig glänzte. Romulus erkannte kaum seine Stimme, als er sagte: »Es ist zu Ende, mein Sohn, mein Herr, mein König. Niemand wird je mehr wagen, dich anzutasten, denn du wandertest durch Eis und Feuer und Blut, genau wie dieses Schwert, das den Felsen durchdrungen hat, du Sohn des Drachen, Pendragon.«