ZWEITER TEIL

XIII

Sie machten sich wieder auf den Weg und ritten im Galopp in Richtung Cumae, der alten, ruhmreichen griechischen Kolonie, die mittlerweile zu einem bescheidenen Fischerdorf herabgesunken war. Livia schien sich in dieser Gegend ziemlich gut auszukennen und bewegte sich im Halbdunkel der Nacht mit großer Geschwindigkeit und Sicherheit. Die Flucht von vier Sklaven, die Ermordung von einem halben Dutzend Wachen und der gewaltige Tumult in der Piscina Mirabilis hatten wohl einen unglaublichen Aufruhr zur Folge gehabt, so daß es ratsam war, so schnell wie möglich an einen sicheren Ort zu gelangen, auf den die Verfolger keinen Zugriff hatten. Zudem war Batiatus so hünenhaft, daß er überall aufgefallen wäre, und so waren sie gezwungen, eine Möglichkeit zu finden, die es ihm erlaubte, unbemerkt zu bleiben. Unterwegs war es am klügsten, um Herbergen, Wirtshäuser und öffentliche Plätze einen großen Bogen zu machen. Ihr Ziel war die Totenstadt, wo Livia sie zu einer ihr bekannten Stelle brachte, nämlich zur alten Höhle der Sibylle von Cumae - ein finsterer Ort, von dem es hieß, er werde von Dämonen heimgesucht. Ein zusätzlicher schwarzer Dämon würde also das Gerede unter dem Volk nur bestätigen.

Sie machten im Inneren des baufälligen Maucrgürtcls halt, und Livia führte ihre Begleiter in die Höhle. Der Raum war eine Art künstlicher Tunnel, in den Felsen gehauen und am oberen Ende wie ein Trapez geformt. Nachdem es Livia gelungen war, ein mickeriges Feuerchen zu entfachen, machte sie sich daran, Batiatus' Wunde zu nähen und so gut es ging zu verbinden. Dann gab sie ihm ein Tuch, das er sich umlegen konnte. Unterdessen versuchten die anderen, es sich in diesem ungemütlichen Unterschlupf so bequem wie möglich zu machen: Aurelius sammelte eine Menge trockener Blätter, von denen er einige auf das Feuer warf, das daraufhin nur noch mehr qualmte als brannte, andere streute er auf den Boden, um für sie alle so etwas wie ein Nachtlager zu bereiten. Livia dagegen zog aus ihrem Quersack alles hervor, was sie an Eßbarem bei sich trug, und das war in der Tat herzlich wenig - ein Laib Käse, eine Handvoll Oliven und ein Brot - , um es den erschöpften Männern zum Abendessen anzubieten.

»Es ist nichts Besonderes, gerade genug, um den Magen in Illusionen zu wiegen. Morgen werden wir sehen, wie wir Abhilfe schaffen können, jetzt legt ihr euch am besten hin und ruht euch aus. Bald bricht schon der neue Tag an.«

»Wir? Uns ausruhen?« rief Batiatus. »Du machst wohl Scherze, Mädchen. Wir haben uns viel zuviel zu erzählen. Ja, hast du überhaupt eine Vorstellung, wer wir sind? Was wir nicht alles miteinander erlebt haben? Ihr Götter des Himmels, ich kann es nicht fassen! Da kommt doch der daher und sagt zu mir: >He, du Kohlensack, ich habe einen ganz schönen Batzen auf dich gesetzt. Schau zu, daß du mich nicht enttäuschst Ich dreh mich schon um und wall diesem Hurensohn ins Gesicht spucken, und wen sehe ich da? Den leibhaftigen Aurelianus Ambrosius Ventidius, direkt vor mir. Beim Herkules, ich schwöre euch, ich habe gedacht: Gleich trifft mich der Schlag. Ich sage mir: Was macht denn der hier, dieser Halunke, dieses Schlitzohr? Was hat er vor? Wetten, daß er gekommen ist, um seinen guten, alten Freund zu befreien?« Seine Stimme zitterte, während er sprach, und seine Augen blitzten wie die eines Kindes. »Wetten, habe ich mir gesagt, daß er sich an mich erinnert und mich in diesem ekelhaften Loch aufgestöbert hat, und dann frage ich mich, wie hat er es bloß geschafft, mich da unten in dieser Kloake aufzuspüren? Wer hat ihm gesagt, daß ich dort bin? ... Ihr Götter des Himmels, ich kann es immer noch nicht fassen! Versetzt mir mal einen Fausthieb! Ich möchte aufwachen, für den Fall, daß ich träume!«

Vatrenus verabreichte ihm tatsächlich eine gehörige Kopfnuß. »Hast du jetzt gemerkt, daß du wach bist? Alles in Ordnung, schwarzer Mann! Wir haben es geschafft, wir haben es geschafft! Wir haben ihnen allesamt ein Schnippchen geschlagen. Stellt euch bloß mal vor, wie viele achtbare Persönlichkeiten er wohl angetroffen hat, der Herr Richter, wie viele fromme Matronen, die da alle im Wasser zappelten, in flagranti ertappt bei einem verbotenen Gladiatorenspiel? Ich wäre gern ein Frosch gewesen, um diese Szene auszukosten! Und stellt euch mal vor, wie viele Leute in der Stadt und in der Umgebung morgen einen Schnupfen haben?«

Aurelius prustete los, und die anderen Männer fielen in ein lautes, glucksendes Gelächter ein, in das sich mitunter ein Schluchzen mischte: ein befreiendes Lachen wie das Weinen eines Kindes, das lange unter großer Angst gelitten hatte.

Livia betrachtete sie schweigend. Die Kameradschaftlichkeit unter Männern war etwas, das sie faszinierte. Sie sah darin all die besten Eigenschaften des Mannes vereint: Freundschaft, Solidarität, Opferbereitschaft und Begeisterungsfähigkeit. In dieser Situation ging ihr nicht einmal das unflätige Gerede kasernierter Männer, an das sie nicht gewöhnt war, gegen den Strich.

Dann verfielen sie plötzlich in Schweigen, in das Schweigen der schönen und der schlimmen Erinnerungen, das Schweigen von Männern, die Jahre lang gemeinsam denselben Gefahren getrotzt, dieselben Qualen ausgestanden und unter denselben Entbehrungen gelitten hatten mit dem einzigen Trost der Freundschaft, der Wertschätzung und jetzt der unglaublichen Freude darüber, sich wider jede vernünftige Erwartung und trotz der schlimmsten Schicksalsschläge wiedergefunden zu haben. Man konnte ihre Gedanken förmlich sehen, in ihren Blicken, in ihren feuchten Augen, in den eingefallenen Gesichtern; man konnte ihre Geschichte ablesen an den schwieligen Händen, an den Armen voller Narben, auf den Schultern, die gezeichnet waren von der Last der Waffen. Sie dachten an ihre Kameraden, die nicht mehr am Leben waren, die sie für immer verloren hatten, und an ihren Kommandanten Claudianus, der zunächst verwundet und dann inmitten feindlicher Raserei niedergemetzelt worden war - für immer der Ehre des Patriziers beraubt, im Mausoleum seiner Ahnen zu ruhen.

Aurelius war es, der dieses emotionsbefrachtete Schweigen brach, als ihm bewußt wurde, daß seine Gefährten sich angezogen fühlten vom Aussehen und Verhalten Livias, die sie noch nie zuvor gesehen hatten. Gewiß fragten sie sich, wer diese Frau sein könnte und warum sie sich mit ihnen an diesem Ort befand.

»Dieses Mädchen hier heißt Livia Prisca«, sagte Aurelius, »und kommt aus einem Dorf mit nur wenigen Hütten an der Lagune zwischen Ravenna und Altino. Sie ist unser Oberhaupt, auch wenn mir klar ist, daß euch diese Tatsache wahrscheinlich überhaupt nicht gefällt.«

»Du beliebst wohl zu scherzen«, erwiderte Vatrenus und tat, als würde er sich schütteln. »Der Anführer bist du, auch wenn ich, zumindest theoretisch, einen höheren Dienstrang habe als du.«

»Nein. Sie hat mir das Leben gerettet und eine Aufgabe verschafft, etwas, wofür ich kämpfen kann. Sie ist eine Frau, aber sie ist wie ein Mann ... in mancher Hinsicht sogar noch besser. Sie ist ... sie ist ... Jedenfalls bezahlt sie uns dafür, daß wir eine Mission erfüllen. Aber damit das gleich klar ist: Bei dieser Mission habe ich das Sagen!«

Batiatus schüttelte verblüfft seinen großen Kopf. Nun meldete sich Livia zu Wort und deutete auf die beiden Männer, die sich ihnen auf der Flucht angeschlossen hatten. »Und diese beiden da, wer sind sie? Können wir ihnen vertrauen?«

»Wir sind euch dankbar dafür, daß ihr uns erlaubt habt, mit euch zu kommen«, sagte einer der beiden. »Ihr habt uns das Leben gerettet. Mein Name ist Demetrios, ich bin ein Grieche aus Herakleia, ein Kriegsgefangener. Ich wurde von den Goten bei Sirmium gefangengenommen, als ich mit meinem Boot auf der Donau patrouillierte, und bin dann an Odoakers Heruler verkauft worden, die mich hierherschickten, um in der Flotte zu dienen, weil ich ja Seemann bin. Ich bin ein sehr guter Fechter, das versichere ich euch, und auch sehr geschickt im Messerwerfen. Das hier ist mein Freund und Waffenbruder Orosius. Er hat in der halben Welt an Feldzügen teilgenommen und hat ein so dickes Fell wie ein Elefant.«

»Es sind tapfere Leute«, bestätigte Vatrenus, »und in der ganzen Zeit, in der wir zusammengewesen sind, haben sie sich stets loyal verhalten. Sie verabscheuen die Barbaren wie wir und haben immer nur davon geträumt, ihre Freiheit wiederzuerlangen.«

»Habt ihr eine Familie?« fragte Aurelius.

»Ich hatte eine«, antwortete Demetrios, »eine Frau und zwei Töchter von vierzehn beziehungsweise sechzehn Jahren, aber ich weiß seit über fünf Jahren nichts mehr von ihnen. Sie haben in einem Dorf in der Nähe unseres Winterlagers gelebt. Während ich mit einer Erkundung auf dem Fluß beschäftigt war, errichteten die Alanen in der Nacht eine Bootsbrücke, überrumpelten unsere Angehörigen und metzelten sie nieder. Als ich zurückkehrte, fand ich im strömenden Regen nur Asche und Kohlereste vor, versunken in einem schwarzen Matsch. Und Leichen, Leichen, wohin man auch sah. Niemals werde ich diesen Anblick vergessen, und sollte ich hundert Jahre alt werden! Ich habe jede einzelne umgedreht, mit beklommenem Herzen, und erwartet, jeden Augenblick ein geliebtes Gesicht wiederzuerkennen ...« Er konnte nicht weitersprechen.

»Ich hatte eine Frau und eine Tochter«, begann Orosius. »Meine Gemahlin hieß Astcria und war ein Bild von einer - Frau. Eines Tages, als ich nach einem langen Feldzug in Moesia auf Urlaub nach Hause kam, fand ich meine Stadt von den Rugiern geplündert vor. Sie hatten sie verschleppt, alle beide. Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, diesen Stamm ausfindig zu machen, mein Kommandant entsandte einheimische Führer zu ihnen mit dem Angebot, sie freizukaufen, aber diese Unmenschen haben einen exorbitanten Preis verlangt, den ich niemals hätte bezahlen können. Sie sind genauso in der Weite ihrer Steppen verschwunden, wie sie gekommen waren ... Seither träume ich von nichts anderem, als mich wieder auf ihre Fährte zu setzen. Nachts, vor dem Einschlafen, überlege ich, wo sie sein könnten, unter welchem Himmel ... Ich frage mich, wie meine Schöne jetzt wohl aussieht ...« Er ließ den Kopf sinken und verstummte.

Es waren Geschichten, wie es sie in diesen Zeiten viele gab, aber Aurelius war trotzdem erschüttert. Er hatte niemals resigniert und niemals den Traum des Augustinus von Hippo von der Civitas Dei, der Stadt Gottes, geteilt, noch hatte er je zwischen den Wolken Himmelsstädte gesehen: Für ihn war die einzige Stadt Rom, die Stadt auf den sieben Hügeln, umgeben von der Aurelianischen Mauer, am göttlichen Tiber gelegen, die geschändete, aber trotzdem unsterbliche Urbs, die Mutter aller Länder und aller Länder Tochter, der Schrein heiligster Erinnerungen. Er fragte sie: »Und wo wollt ihr jetzt hin?«

»Wir können nirgends mehr hin«, antwortete Orosius.

»Wir haben nichts mehr. Und niemanden«, pflichtete ihm Demetrios bei. »Wenn ihr eine Aufgabe oder ein Ziel habt, dann nehmt uns bitte mit!«

Aurelius blickte Livia fragend an, und sie nickte. »Sie scheinen mir gute Soldaten zu sein«, sagte sie. »Und wir brauchen Männer.«

»Aber es ist nicht gesagt, daß sie bleiben wollen, wenn wir ihnen erst erzählen, was wir vorhaben.«

Bei diesen Worten sahen die Männer einander an. »Wenn ihr uns das nicht verratet, werdet ihr es auch nie erfahren«, sagte schließlich Batiatus.

»Was soll diese ganze Geheimnistuerei? Los, raus mit der Sprache!« drängte Vatrenus.

»Auf uns könnt ihr euch verlassen. Unsere Freunde wissen das. Im Kampf haben wir immer versucht, uns gegenseitig zu schützen«, beharrten Demetrios und Orosius.

Aurelius wechselte einen raschen Blick mit Livia, und sie nickte erneut. Dann sagte er: »Wir wollen den Kaiser Romulus Augustus auf Capri befreien, wo er gefangengehalten wird.«

»Was hast du da gesagt?« fragte Vatrenus ungläubig.

»Das, was du gehört hast.«

»Beim Herkules!« fluchte Batiatus. »Das ist ja ein starkes Stück!«

»Ein starkes Stück? Ein Wahnsinn ist das! Er wird doch bestimmt von unzähligen Männern bewacht, die ihn keine Sekunde aus den Augen lassen«, rief Vatrenus aus.

»Diese verdammten Kerle mit ihren Sommersprossen«, knurrte Batiatus. »Wie ich die hasse!«

»Siebzig sind es insgesamt. Wir haben sie gezählt«, präzisierte Livia.

»Und wir sind fünf«, sagte Vatrenus und blickte seinen Kameraden der Reihe nach in die Augen.

»Sechs«, korrigierte Livia trotzig.

Vatrenus zuckte die Achseln.

»Unterschätze sie bloß nicht!« warnte ihn Aurelius. »Sie hat einem Kerl unten im Hafen fast die Hoden abgerissen, und der war stärker als du, und wenn ich nicht eingegriffen hätte, hätte sie ihm das Fell abgezogen wie einem Ziegenbock.«

»Na, na!« sagte Orosius und musterte das Mädchen.

»Und jetzt?« fragte Aurelius. »Ihr seid freie Leute. Ihr könnt gehen, und wir bleiben trotzdem Freunde. Und wenn wir uns eines Tages in irgendeiner Lasterhöhle wiedertreffen, dann ladet ihr mich auf einen Becher ein.«

»Und wie willst du das allein bewerkstelligen?« fragte Batiatus.

Vatrenus seufzte. »Ich habe verstanden. Wir sind vom Regen in die Traufe geraten, aber immerhin scheint man sich hier wenigstens amüsieren zu können. Kann man dabei auch zufällig ein bißchen was verdienen? Ich habe nämlich keinen roten Heller mehr, und ...«

»Tausend Goldsolidi pro Kopf«, antwortete Livia, »nach Beendigung des Unternehmens.«

»Bei allen Göttern!« rief Vatrenus. »Für tausend Solidi hole ich euch Zerberus höchstpersönlich aus der Unterwelt herauf!«

»Also, worauf warten wir noch?« fragte Batiatus. »Ich habe den Eindruck, daß alle einverstanden sind, oder täusche ich mich?«

Aurelius hob gebieterisch die Hand, und wieder trat Schweigen ein. »Es ist ein schwieriges Unterfangen«, sagte er, »bestimmt das schwierigste, das jeder einzelne von uns jemals durchgeführt hat. Es geht darum, auf die Insel zu gelangen, den Kaiser zu befreien und ihn dann quer durch Italien bis zu jenem Ort an der Adriaküste zu eskortieren, wo ein Schiff wartet, das ihn in Sicherheit bringen wird. Dort werden wir dann alle von Livia und den Leuten ausbezahlt, die sie mit diesem Auftrag betraut haben.«

»Und dann?« wollte Vatrenus wissen.

»Du fragst zuviel«, antwortete Aurelius. »Mir kommt es so vor, als sei es nicht gerade wenig gewesen, euch allein aus dieser Hölle herauszuholen! Vielleicht wird jeder seiner eigenen Wege gehen, oder vielleicht nimmt der Kaiser uns mit, oder vielleicht ... Ach, hören wir auf damit! Ich bin todmüde und möchte schlafen. Mit dem Licht des neuen Tages kommt uns allen sicher eine Erleuchtung. Jedenfalls müssen wir uns als erstes ein Boot besorgen, um näher an die Insel heranzukommen und die Lage zu erkunden. Dann sehen wir weiter. Wer übernimmt die erste Schicht der Nachtwache?«

»Die erste und die einzige, angesichts der vorgerückten Stunde. Ich mache das«, erbot sich Batiatus. »Ich bin nicht schläfrig, und außerdem bin ich in der Dunkelheit ja so gut wie unsichtbar.«

Völlig ausgepumpt und erschöpft, wie sie waren, wurden sie überall verfolgt, und ihnen drohten, sollte man sie tatsächlich schnappen, grauenhafte Strafen. Aber sie hatten die Herrschaft über ihr eigenes Schicksal zurückgewonnen und würden unter gar keinen Umständen zulassen, daß es ihnen noch einmal aus den Händen glitt. Lieber würden sie den Tod auf sich nehmen.

Die ersten Tage in seiner neuen Residenz auf Capri hatte Romulus als beinahe angenehm empfunden: Die Farben der Insel unter dem türkisblauen Himmel - das satte Grün der Pinienwälder und der Myrten- und Pistaziendickichte, das leuchtende Gelb der Ginsterbüsche und das Silbergrau der Oleandersträuche - vermittelten ihm in diesem magischen, blendenden Licht das Gefühl, sich in einem verzauberten Elysium zu befinden. Nachts glitzerte zitternd der Widerschein des Mondes auf den Meereswellen und ließ die Schaumkronen zwischen den Kieselsteinen am Ufer weiß aufblitzen, dort, wo sich die Brandung brach, oder rund um die großen Felsenspitzen, die wie zyklopische Türme aus dem Meer ragten. Der Wind trug den Salzgeruch herauf zu den Stufen der großen Villa, zusammen mit den tausend Düften dieses zauberhaften Eilandes: So hatte sich Romulus in seinen Kindheitsphantasien die Insel der Kalypso vorgestellt, auf der Odysseus sieben lange Jahre sein rauhes, steiniges Ithaka vergessen hatte.

Die Abendbrise wehte das Aroma der Feigen heran, den Duft nach Rosmarin und Minze, zusammen mit den durch die Entfernung gedämpften Lauten: Geblöke und die Rufe von Hirten und die Schreie der Vögel, die bei Sonnenuntergang in weiten Kreisen am karmesinroten Himmel schwebten. Die Segelschiffe kehrten in den Hafen zurück wie Schafe in ihren Stall, und in gemächlichen Kringeln stieg der Rauch aus den Häusern auf, die sich unten um die kleine stille Bucht drängten.

Ambrosinus hatte sofort begonnen, Kräuter und Mineralien zu sammeln, immer auf Sicht bewacht von den Posten; manchmal wurde er dabei von Romulus begleitet, dem er die Eigenschaften von Beeren, Wurzeln und Kräutern zu erklären versuchte. Nachts dagegen verbrachte er lange Stunden mit der Beobachtung des Himmels und der Bewegungen der Sternbilder, und er zeigte seinem Schüler den Großen und den Kleinen Bären mit dem Polarstern. »Das ist der Stern meiner Heimat«, sagte er, »Britannien, eine Insel, so groß wie ganz Italien, überzogen von grünen Wäldern und Wiesen, auf denen riesige Herden weiden, auch ganze Herden roter Ochsen mit großen schwarzen Hörnern. In den entlegensten Zipfeln des Landes geht im Sommer die Sonne niemals unter, ihr Licht leuchtet bis Mitternacht vom Himmel, und im Winter dauert die Nacht sechs Monate.«

»Eine Insel, so groß wie Italien«, wiederholte Romulus. »Ist denn so etwas überhaupt möglich?«

»Und ob«, erwiderte Ambrosinus und erinnerte ihn an die Um-schiffung durch den Admiral Agricola, der zu Zeiten Kaiser Traja-nus die ganze Insel umsegelt hatte.

»Und außer ... außer diesen unendlichen Nächten, was gibt es dort sonst noch, Ambrosinus?«

»Außerdem gibt es das letzte der aufgetauchten Länder, das Thule genannt wird. Es ist von einer zweihundert Ellen hohen Eismauer umgeben, wird Tag und Nacht gepeitscht von eisigen Winden und bewacht von Meeresschlangen und Ungeheuern mit Zähnen, die spitz sind wie Dolche. Niemand, der sich einmal dorthin gewagt hat, ist je wieder zurückgekehrt, mit Ausnahme eines griechischen Seefahrers aus Marseille namens Pytheas. Er hat einen ungeheuer großen Strudel beschrieben, der viele Stunden lang das Wasser des Ozeans schluckt und es dann mit einem entsetzlichen Tosen wieder ausspeit, zusammen mit den Gerippen von Schiffen und Seeleuten; er stößt das Wasser so weit, daß die Küsten und Strände meilenweit überflutet werden.« Romulus blickte Ambrosinus voller Verwunderung an und vergaß darüber sogar seinen Kummer.

Tagsüber gingen sie durch die großen Höfe oder auf den Terrassen spazieren, deren Stützmauern senkrecht über dem Meer errichtet waren. Wenn Ambrosinus im Schatten eines Baumes einen Stuhl fand, setzte er sich nieder, um seinem aufmerksam lauschenden Schüler Unterricht zu erteilen. Aber während die Tage vergingen, kam ihnen der Raum, den man ihnen zugewiesen hatte, immer enger vor, und selbst der Himmel rückte in immer weitere Entfernung und wurde immer gleichgültiger. Alles wirkte so beängstigend gleichförmig und unabänderlich: die Möwen und ihre Flugbahnen, die bewaffneten Wachen, die, gepanzerten Automaten gleich, auf den Stufen ihre Runden drehten; die Eidechsen, die sich an der letzten Herbstsonne wärmten und beim Geräusch nahender Schritte davonhuschten, um sich in den Ritzen der Mauern zu verstecken.

Bisweilen wurde der Junge von einer plötzlichen Angst befallen, von einer quälenden Melancholie, und dann starrte er stundenlang auf das Meer hinaus; manchmal wurde er von Zorn und Verzweiflung gepackt, und er warf unter den spöttischen Blicken der barbarischen Soldaten Dutzende, ja Hunderte von Steinen gegen die Mauer, bis er ermattet, keuchend und schweißgebadet zu Boden fiel. Sein Lehrer sah ihm erschüttert zu, gab aber seiner Rührung nicht nach, sondern ging zu ihm, um ihn wieder aufzurichten und ihn auszuschelten. Er ermahnte ihn, die Würde seiner Vorväter zu wahren, und erinnerte ihn an die Strenge eines Cato, die Weisheit eines Seneca, den Heroismus eines Marius und an die unvergleichliche Größe Cäsars.

Eines Tages, als er wieder einmal feststellte, daß Romulus durch dieses irre und sinnlose Spiel völlig atemlos und erschöpft und obendrein noch gedemütigt war vom Gelächter und den Possen seiner Gefängniswärter, trat er an ihn heran, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: »Nein, Cäsar, so geht es nicht weiter! Schone deine Kräfte für die Zeit, wenn du das Schwert der Gerechtigkeit ergreifen wirst.«

Romulus schüttelte den Kopf. »Wozu sollte ich mir Illusionen machen? Dieser Tag wird niemals kommen. Siehst du diese Männer da unten, im Laufgraben? Auch sie sind Gefangene dieses Ortes, sie werden in Langeweile und Überdruß alt werden, bis man andere Männer schickt, die sie ablösen, und dann wieder andere, aber ich werde immer noch dasein. Sie werden ausgewechselt, aber ich werde immer derselbe bleiben, wie die Bäume und die Mauern. Ich werde alt, ohne jemals jung gewesen zu sein.«

Langsam taumelte die Feder eines Vogels herab. Romulus griff nach ihr, drückte sie in der Hand; dann öffnete er die Faust wieder und blickte dabei seinem Erzieher fest in die Augen. »Oder glaubst du vielleicht, du könntest mir zwei Flügel aus Vogelfedern und Wachs bauen, wie es Dädalus für Ikarus gemacht hat, damit ich mich von hier oben in die Lüfte schwingen kann?«

Ambrosinus ließ den Kopf sinken. »Wenn ich nur könnte, mein Kind, wenn ich nur könnte ...! Aber vielleicht kann ich doch etwas für dich tun. Ich kann dich etwas lehren, nämlich nicht zuzulassen, daß sie außer deinem Körper auch noch deine Seele einsperren.« Er hob den Blick zum Himmel. »Schau dir diese Möwe an! Siehst du sie? Also, dann laß deine Seele mit ihr fliegen, da hinauf, atme tief ein ... so, noch einmal ... noch einmal.« Er legte ihm die Hände auf die Schläfen und schloß die Augen. »Und jetzt flieg, mein Kind, schließ die Augen und flieg ... hinweg über dieses Elend, hinaus über die Mauern dieses verfallenden Gebäudes, über die Klippen und die Wälder, flieg zur Scheibe der Sonne und bade dich in ihrem unendlichen Licht!« Er senkte die Stimme, während ihm langsam die Tränen unter den geschlossenen Lidern hervorquollen. »Flieg«, wiederholte er mit leiser Stimme. »Niemand kann die Seele eines Menschen einsperren ...« Romulus' Atem ging zuerst schneller, wie der eines kleinen verängstigten Tieres, dann beruhigte er sich und fiel allmählich in einen gleichmäßigen Rhythmus wie jemand, der ruhig schläft.

Andere Male, wenn alles vergebens war, wenn es keine Worte gab, die den Knaben beschwichtigen konnten, setzte sich Ambrosinus in eine Ecke des Hofes und widmete sich der Abfassung seiner Erinnerungen. Romulus blieb abseits sitzen und zeichnete mit einem Stock in den Sand, aber dann kam er ganz langsam näher, betrachtete Ambrosinus verstohlen und versuchte sich vorzustellen, was er wohl mit dieser dichten, regelmäßigen Schrift in dieses Buch eintrug.

Eines Tages baute er sich plötzlich vor ihm auf und fragte: »Was schreibst du da?«

»Meine Erinnerungen. Und auch du solltest etwas schreiben oder wenigstens etwas lesen. Es hilft dir, den Kummer zu vergessen, es befreit deine Seele von der Angst und vom Überdruß des Alltags und schlägt eine Brücke zu einer anderen Welt. Ich habe um Bücher für deine Bibliothek gebeten und sie erhalten. Das heißt, sie werden heute aus Neapel kommen - nicht nur Werke über Philosophie und Geometrie und Handbücher zu Themen wie Ackerbau und Viehzucht, sondern auch wunderschöne Geschichten: die Aithiopika von Heliodor, Longos' Hirtengeschichten von Daphms und Chloe, die Abenteuer von Herkules und Theseus, die Reisen des Odysseus. Du wirst sehen. Aber jetzt kümmere ich mich erst einmal darum, daß alles richtig geordnet wird. Dann bereite ich dir dein Abendessen zu. Entferne dich nicht zu weit von hier, denn ich möchte mich nicht heiser schreien, wenn es Zeit ist, dich zu holen.«

Ambrosinus legte sein Buch auf die Bank, auf der er gesessen hatte, verschloß sorgfältig das Tintenfaß und legte den Stylos hin, dann wandte er sich dem Bereich der alten kaiserlichen Bibliothek zu, die einst gefüllt war mit Tausenden und Abertausenden von Büchern aus allen Teilen des Reiches, in lateinischer und griechischer, in hebräischer und syrischer, in ägyptischer und phönizischer Sprache. Jetzt waren die großen Nischen, in denen die Regale gestanden hatten, wie leere, blinde Augenhöhlen, die ins Nichts starrten. Geblieben war nur eine Büste von Homer, auch dieser blind, weiß wie ein Gespenst in diesem großen düsteren Saal.

Romulus spazierte eine Zeitlang am äußeren Rand des großen Hofes entlang, und jedesmal, wenn er sich Ambrosinus' Buch näherte, warf er einen zerstreuten Blick darauf. Irgendwann einmal blieb er stehen und fixierte es. Vielleicht war es nicht angebracht, das zu lesen, was dann geschrieben stand, aber wenn sein Erzieher es dort liegengelassen hatte, unbewacht und ohne irgendeine Ermahnung, dann würde er doch wohl einen Blick hineinwerfen dürfen. Er setzte sich hin und schlug es auf: Auf der Vorderseite war ein Kreuz gezeichnet, an den Enden der Balken die Buchstaben Alpha und Omega und, darunter, ein kleiner Mistelzweig wie derjenige aus Silber, den Ambrosinus um den Hals trug.

Der Abend war lau, und die letzten Schwalben versammelten sich mitten am Himmel und riefen einander etwas zu, was so klang, als würden sie nur widerwillig die bereits leeren Nester verlassen, um in wärmere Gefilde zu ziehen. Romulus lächelte und sagte leise: »Fliegt davon, fliegt nur, ihr Schwalben, ihr könnt es ja, fliegt nur fort! Mich werdet ihr im nächsten Jahr am selben Ort wieder antreffen. Ich bleibe hier und bewache eure Nester.«

Dann blätterte er um und begann zu lesen.

XIV

Ich war noch nicht geboren, als die letzten Adler der römischen Legionen Britannien verließen, um niemals wiederzukehren. Da der Kaiser alle seine Soldaten brauchte, wurde meine Heimat ihrem Schicksal überlassen. Eine ''Zeitlang passierte gar nichts. Die Honoratioren regierten die Städte nach Art der Väter, auf der Grundlage der Gesetze und der Gerichtsbarkeit des Reiches, weiter und unterhielten nach wie vor Kontakte zum fernen Hof von Ravenna in der Hoffnung, daß die Adler Roms früher oder später wieder zurückkehren würden. Doch eines Tages fielen die Barbaren des Nordens, die jenseits des großen, nach Kaiser Hadrian benannten Walls lebten, in unsere Gegenden ein und brachten ihnen mit ihren ständigen Überfällen und Plünderungen nichts als Tod, Zerstörung und Hungersnöte. Noch einmal baten wir den Kaiser um Hilfe und hofften, daß er uns nicht vergessen hätte, aber es war klar, daß er uns nicht erhören konnte: Eine ganze Flut von Barbaren bedrohte die östlichen Grenzen des Reiches; wilde und unermüdliche Reiter mit dunkler Haut und schrägstehenden Augen waren aus den unermeßlich weiten sarmatischen Steppen aufgetaucht wie Gespenster aus der Tiefe der Nacht, und während sie weiter vorrückten, hinterließen sie überall, wo sie durchzogen, eine einzige Spur der Verwüstung. Sie ruhten sich niemals aus und schliefen auch nicht richtig: Ihnen genügte es, den Kopf kurz gegen den Hals ihrer struppigen Pferde zu lehnen. Ihre Nahrung bestand aus Fleisch, das sie zwischen dem Sattel und dem Schweiß auf dem Rücken ihrer Pferde mürbe werden ließen.

Der Oberbefehlshaber der kaiserlichen Armee, ein Held namens Aetius, drängte diese Barbaren mit den schrägstehenden Augen mit Hilfe anderer Barbaren in einer entsetzlichen Schlacht zurück, die vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang dauerte. Unsere Gesandten flehten und erinnerten ihn an die Bande des Blutes, der Gesetze und der Religion, die uns über Jahrhunderte miteinander verbunden hatten, und schließlich entschied er, tief berührt, etwas für uns zu tun. Er schickte uns einen Mann namens Germanus, von dem es hieß, er sei mit Wunderkräften ausgestattet, und übergab ihm das Feldzeichen der Legionen Britanniens: Es war ein silberner Drache mit einem purpurfarbenen Schwanz, der sich mit dem Hauch des Windes zu beleben schien. Mehr konnte Aetius nicht tun, doch allein der Anblick dieses Zeichens genügte, um die niedergeschlagenen Gemüter aufzurichten und den alten, eingeschlummerten Stolz wiederzuerwecken. Germanus war ein tapferer und charismatischer Feldherr, und sein glühender, eindringlicher Blick, seine Rufe, spitz wie die eines Falken, seine Hände, die den Griff des Feldzeichens umklammerten, und sein unerschütterlicher Glaube an das Recht und die Zivilisation vollbrachten, nachdem er seine Männer mit dem Ruf »Halleluja« in die Schlacht geführt hatte, das Wunder. Die Barbaren wurden zurückgeschlagen, und viele waffentragende Bürger wurden eingesetzt, damit sie den Großen Wall bewachten, die in Ruinen liegenden Abschnitte wiederaufbauten und die verlassenen Kastelle schützten. Der Sieg des siegreichen Kampfes ging als der Sieg der Halleluja-Schlacht in die Geschichte ein.

Doch im Laufe der Jahre nahmen die Menschen wieder ihre alten Beschäftigungen auf, und zurückgelassen wurden nur spärliche Truppen schlechttrainierter Bürger, die von den Türmen des Walls aus die Nordregionen überwachen sollten. Und wieder kamen die Barbaren und metzelten nach einem Überraschungsangriff die Verteidiger nieder. Sie rissen sie mit ihren hakenbewehrten Piken von den Wachtürmen herunter und spießten sie auf wie die Fische. Dann strömten sie nach Süden, nahmen die wehrlosen Städte im Sturm und zogen plündernd, brandschatzend und alles verwüstend weiter. Mit ihren schwarz und blau bemalten Gesichtern waren sie gräßlich anzusehen, und sie verschonten weder Frauen noch Greise, noch kleine Kinder.

Nun schickte man eine zweite Gesandtschaft zu Aetius, den Oberbefehlshaber der kaiserlichen Armee, mit der Bitte um Hilfe, aber auch dieses Mal konnte er nichts anderes tun, als Germanus zu entsenden, der es bereits einmal verstanden hatte, den Herzen der Bewohner Britanniens Kraft, Mut und Entschlossenheit einzuflößen. Germanus hatte vor geraumer Zeit das Kriegshandwerk aufgegeben, war Bischof einer Stadt in Gallien geworden und stand bereits im Geruch der Heiligkeit. Dennoch wollte er sich, als er wieder gebeten wurde, dieser Aufgabe nicht entziehen, und schiffte sich ein zweites Mal ein, um auf unsere Insel zu gelangen. Er stellte weitere Truppen auf, überzeugte die Bewohner der Städte, Schwerter und Lanzen zu schmieden, die militärische Ausbildung wiederaufzunehmen und schließlich gegen den Feind zu marschieren. Dieses Mal war der Ausgang des Zusammenstoßes ungewiß, denn Germanus wurde in der Schlacht selbst schwer verwundet.

Er wurde in den Wald von Gleva gebracht und unter einer uralten Eiche ins Gras gelegt, aber bevor er starb, Ließ er die Führer des Heeres schwören, sich niemals zu ergeben, sondern sich weiter zu wehren und zum Schutz des Großen Walls eine dauerhaft stationierte Truppe aufzustellen, die so diszipliniert sein würde wie einst die Legionen Roms. Ihr Feldzeichen sollte der Drache sein, der sie schon einmal zum Sieg geführt hatte.

Ich war selbst Augenzeuge dieser Ereignisse: Obwohl ich noch jung war, hatte man mich bereits in den druidischen Künsten - von der Medizin über die Zeichendeutung bis hin zum Studium der Sterne - unterwiesen. Ich hatte verschiedene Länder bereist und viele wichtige Kenntnisse erworben. Deshalb hatte man mich gerufen, um dem sterbenden Helden beizustehen. Ich konnte nicht mehr für ihn tun, als den Schmerz seiner Wunde ein wenig zu lindern, doch ich erinnere mich noch an seine edlen Worte und den Glanz seiner Augen, den zu löschen nicht einmal der nahe Tod imstande zu sein schien. Nach Germanus' Tod wurden seine sterblichen Überreste nach Gallien überführt und in Lutetia Pansiorum beigesetzt, wo sie noch immer ruhen. Sein Grab wird wie das eines Heiligen verehrt und ist Ziel von Pilgern sowohl aus Gallien als auch aus Britannien.

Die Truppe ausgewählter Soldaten, die er sich gewünscht hatte, wurde tatsächlich unter dem Kommando der besten Männer aufgestellt, Nachfahren des ältesten römischen und keltischen Adels der Städte Britanniens, und in einer Festung des Großen Walles, in der Nähe des Mons Badonicus, stationiert.

Es vergingen noch ein paar Jahre, und es hatte tatsächlich den Anschein, als hätte das Opfer des Germanus unseren Gegenden den Frieden gebracht. Aber das war die reinste Illusion: Eine Abfolge sehr strenger Winter und recht trockener Sommer dezimierte die Herden der Barbaren des Nordens und stürzte diese in Hunger und Verzweiflung. Angelockt vom Blendwerk der reichen Städte in der Ebene unternahmen sie an mehreren Stellen des Großen Walls eine Reihe von Angriffen, mit denen sie die Widerstandskraft der Verteidiger auf eine äußerst harte Probe stellten. Ich befand mich damals in meiner Eigenschaft als Arzt und Veterinär in der Festung des Mons Badonicus und wurde vom Kommandanten gerufen, einem Mann von großer Würde und Tapferkeit namens Cornelius Paullinus. Neben ihm stand sein Stellvertreter Konstantinus, in der Sprache Carvetias Kusten-nin genannt, ein Mann, der einmal die Konsularwürde bekleidet hatte. Paullinus teilte mir mit dem Ausdruck höchster Besorgnis und Traurigkeit folgendes mit: »Wenn uns niemand zu Hilfe kommt, werden unsere Kräfte nicht mehr lange ausreichen, um die Überfälle des Feindes abzuwehren. Mach dich deshalb sofort mit den Würdenträgern, die ich zu diesem Zweck ausgewählt habe, auf die Reise und begib dich zum Kaiser nach Ravenna. Flehe ihn an, uns Verstärkungstruppen zu schicken, und erinnere ihn an die Treue unserer Städte und unserer Leute zum alten römischen Namen. Sag ihm, daß unsere Häuser verbrannt, unsere Frauen geschändet, unsere Kinder in die Sklaverei verschleppt werden, wenn er uns kein Heer schickt. Setzt euch notfalls vor die Tore des Kaiserpalastes, Tag und Nacht, und verweigert so lange Speise und Trank, bis er euch empfängt. Du bist der erfahrenste von allen, die ich kenne, der einzige, der über das Meer gereist ist, nach Gallien und Ibenen. Du sprichst außer Latein noch mehrere Sprachen und kennst die Geheimnisse der Medizin und Alchimie, mit denen du dir Wertschätzung und Ansehen erwerben könntest.«

Ich hörte ihn an, ohne ihn auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen, weil ich mir des ernstes der Lage bewußt war und des großen Vertrauens, das er in mich setzte. Aber im Grunde meines Herzens hielt ich eine solche Expedition für außerordentlich riskant und wenig aussichtsreich. Die Unsicherheit der Straßen, die Tatsache, daß die Provinzen des Reiches zum größten Teil in den Händen unruhiger Völkerschaften lagen, und die Schwierigkeiten, für mich und meine Begleiter unterwegs Nahrung zu beschaffen, schienen mir fast unüberwindliche Hindernisse zu sein. Ganz zu schweigen von dem letzten Problem, nämlich vom Kaiser empfangen zu werden und die erbetene Hilfe zu erhalten.

Ich antwortete: »Edler Paullinus, ich bin bereit, das zu tun, worum du mich bittest, und für die Rettung des Vaterlandes notfalls mein Leben aufs Spiel zu setzen. Aber bist du sicher, daß dies die beste Lösung ist? Wäre es nicht besser, sich mit dem edlen Wortigern zu einigen? Er ist ein mutiger Kämpfer 'von großer Stärke und Tapferkeit und verfügt über zahlreiche gutausgebildete Soldaten, die, wenn ich mich recht erinnere, schon so manches Mal an unserer Seite gegen die Barbaren des Nordens gekämpft haben. Außerdem hat er einen keltischen Vater und eine römische Mutter und ist mit vielen Bewohnern dieses Landes verwandt. Hinzu kommt, daß dein Stellvertreter, Konstantinus, ihn sehr gut kennt.«

Paullinus seufzte, als hätte er diesen Einwand erwartet. »Das haben wir bereits versucht, aber Wortigern hat einen allzu hohen Preis verlangt, nämlich die Macht über ganz Britannien, die Auflösung der städtischen Versammlungen, die Abschaffung der alten Gerichtsbarkeit, die Schließung der Aulen des Senats, wo immer sie noch bestehen. Hier wäre, so fürchte ich, das Heilmittel schlimmer als die Krankheit, zumal die Städte, die sich bereits seiner Gewalt unterwerfen mußten, unter schrecklicher Tyrannei und schwerer Unterdrückung zu leiden haben. Wenn ich gezwungen bin, werde ich einen entsprechenden Beschluß fassen, aber erst, wenn ich wirklich keine andere Wahl mehr habe, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Außerdem...«

Er ließ den Satz unvollendet, als wage er nicht, noch mehr zu sagen, oder als wolle er es nicht. Doch ich glaubte, seinen unausgesprochenen Gedanken erraten zu können. »Außerdem«, fuhr ich an seiner Stelle fort, »bist du ein Römer vom Scheitel bis zur Sohle, der Sohn und Enkel von Römern, vielleicht der letzte deines Geschlechts, und ich kann dich verstehen, obwohl ich glaube, daß es unmöglich ist, die Zeit anzuhalten und das Rad der Geschichte zurückzudrehen.«

»Du irrst dich«, erwiderte Paullinus. »Daran habe ich nicht gedacht, obschon ich im Grunde meines Herzens immer noch davon träume, daß die römischen Adler eines Tages zurückkehren. Ich habe vielmehr an den Augenblick gedacht, als wir den tödlich verwundeten Germanus vom Schlachtfeld in den Wald von Gleva trugen, damit du seine Wunde behandeln konntest...«

»Ich erinnere mich gut an diesen Tag«, antwortete ich. »Aber ich konnte nicht viel tun.«

»Du hast genug getan«, sagte Paullinus. »Du hast ihm so viel Zeit gegeben, daß er von einem Priester die Letzte Ölung und die christliche Absolution empfangen und seine letzten Worte sprechen konnte.«

»Die nur du gehört hast. Er hat sie dir ins Ohr geflüstert, ehe er seinen letzten Atemzug tat.«

»Und die ich dir jetzt verraten möchte«, fuhr Paullinus fort. Er griff sich mit einer Hand an die Stirn, als wolle er die Stärke seines Erinnerungsvermögens und die Kräfte seines Geistes dort konzentrieren. Dann sagte er:

Veniet adulescens a man infero cum spatha Pax et prosperitas cum illo, Aquila et draco iterum volabunt Britanniae in terra lata.

»Das scheint mir der Text eines alten Volkslieds zu sein«, sagte ich nach einiger Überlegung. »Ein junger Krieger, der vom Meer her kommt und Frieden und Wohlstand bringt: Das ist ein sehr abgedroschenes Thema. In Zeiten des Hungers, des Krieges und der Entbehrung werden Lieder dieser Art oft populär.«

Aber es war offenkundig, daß sie für Cornelius Paullinus eine andere Bedeutung hatten. Er sagte: »Dies ist nur die scheinbare Bedeutung: Diese Worte, die als letzte aus dem Mund eines sterbenden Helden kamen, müssen einen anderen Sinn haben, einen tieferen und schwerwiegenderen, der für die Rettung dieses Landes und unser aller Heil von großer Bedeutung ist. Der Adler steht für Rom, und der Drache ist unser Symbol, das Feldzeichen der Legion Britanniens. Ich habe das Gefühl, daß sich alles klären wird, wenn du erst einmal in Italien und beim Kaiser angekommen bist. Geh, ich bitte dich, und führe deine Mission zu Ende.«

So eindringlich und beseelt waren seine Worte, daß ich akzeptierte, was er von mir verlangte, auch wenn dieser merkwürdige Vers in mir keine besondere Vision hervorgerufen hatte. Vor dem Senat von Carvetia, der unter der Leitung von Kustennin zu einer Vollversammlung zusammengetreten war, schwor ich, daß ich mit einem Heer zurückkehren würde, um unser Land ein für allemal von der barbarischen Gefahr zu befreien. Am nächsten Morgen brach ich auf, und bevor ich mit meinen Reisegefährten zum Hafen hinunterging, warf ich einen letzten Blick auf die Festung des Großen Walles, auf den roten Drachen, der vom höchsten Turm flatterte, auf die aufrechte Gestalt auf der Estrade, die in einen Umhang derselben Farbe gehüllt war. Dann verschwanden Cornelius Paullinus und seine Hoffnungen langsam hinter mir im Dunstschleier des Herbstmorgens.

Wir stachen bei günstigem Wind in See und gingen schon Ende Oktober in Gallien an Fand, aber von da an gestaltete sich unsere Reise so lang und mühselig, wie ich es vorhergesehen hatte. Einer meiner Reisegefährten erkrankte, nachdem er in das eiskalte Wasser eines Flusses gefallen war, und starb; ein zweiter verirrte sich, als wir während der Überquerung der Alpen in einen Schneesturm gerieten. Die beiden letzten fielen einem Hinterhalt zum Opfer, den uns eine Räuberbande in einem Wald gestellt hatte. Ich kam als einziger mit dem Leben davon, doch als ich in Ravenna eintraf, bemühte ich mich vergebens, vom Kaiser empfangen zu werden: Er war ein verweichlichter Einfaltspinsel in der Hand anderer Barbaren. Weder die Bitten noch das Fasten, zu denen mich Paullinus aufgefordert hatte, fruchteten. Am Ende jagten mich die Diener, meiner Anwesenheit überdrüssig, mit Stockhieben aus dem Atrium des Palastes.

Zermürbt vom langen Warten und Hungern ließ ich, von Verzweiflung gepackt, diese Stadt und ihre anmaßenden Menschen weit hinter mir. Ich zog von Dorf zu Dorf, bat die Bauern um Gastfreundschaft und bezahlte ein Stück trockenes Brot oder einen Becher Milch abwechselnd mit meiner Arbeit als Arzt oder Tierarzt, je nachdem, welcher meiner Berufe gerade gefragt war. Aber ohne Zweifel war ich in manchen Fällen eher motiviert, unschuldigen Fasttieren zum Überleben zu verhelfen, als stumpfsinnigen, brutalen Menschen.

Was war doch bloß aus dem edlen römischen Volk geworden! Das Land war von Straßenräuberbanden verseucht, und die Gehöfte bewohnt von armseligen Bauern, die durch unerträgliche Abgaben niedergedrückt wurden. Die Städte an den alten, ruhmreichen Konsularstraßen, die einstmals mächtige, turmbewehrte Festungsgürtel besessen hatten, waren jetzt nur noch Phantome mit verfallenden und halbzerstörten Mauern, aus deren Trümmern die dunklen Ranken des Efeus sprossen. Ausgemergelte Bettler auf den Schwellen der Häuser der Reichen rauften mit den Hunden um die Abfälle und übelriechenden Innereien geschlachteter Tiere. Auf den Hügeln wuchsen weder Wein noch die silberblättrigen Olivenbäume, von denen ich geträumt hatte, seit ich in meiner Kindheit in den Schulen Carve-tias die Gedichte von Horaz und Vergil gelesen hatte, und es gab auch keine weißen Rinder mit halbmondförmigen Hörnern, die die Pflüge zogen, um die Schollen umzudrehen; ebensowenig vervollständigte die feierliche, ausladende Geste des Sämanns dieses Bild. Nur struppige, verwilderte Hirten trieben Schaf- und Ziegenherden auf verdorrte Weiden oder Herden von Schweinen unter die Eichen und balgten sich oft mit den Tieren um die Eicheln, weil sie selbst so hungrig waren.

Worauf hatten wir bloß unsere Hoffnungen gestützt? Die Ordnung wurde - wenn dieser Ausdruck überhaupt angemessen ist - von Barbarentrupps aufrechterhalten, die bereits den größten Teil des kaiserlichen Heeres ausmachten und ihren eigenen Führern ergebener waren als den wenigen römischen Offizieren. Sie schikanierten das Volk viel mehr, als daß sie es beschützten. Das Reich war inzwischen nicht mehr als eine Larve, eine leere Hülle wie sein Kaiser, und diejenigen, die einst die Herren der Welt gewesen waren, ächzten nun unter der Knute ungehobelter und anmaßender Unterdrücker. Wie oft musterte ich diese verrohten Gesichter, diese schmutzigen Stirnen, triefend vom Schweiß der Unterwürfigkeit, während ich in ihnen die edlen Züge eines Cäsars und eines Manus oder den erhabenen Ausdruck von Cato oder Seneca zu entdecken suchte! Dennoch blitzte so plötzlich, wie mitten im Sturm ein Sonnenstrahl durch dichtes Gewölk dringt, und ohne irgendeinen ersichtlichen Grund, aus diesen Blicken gelegentlich die stolze Kühnheit der Vorfahren auf, und dies veranlaß-te mich zu glauben, daß vielleicht doch nicht alles verloren war.

In sämtlichen Städten und Dörfern hatte die Religion Christi triumphiert, und der gekreuzigte Gott blickte von Altären, aus Stein und Marmor gehauen, auf seine Gläubigen herab. Doch auf dem weiten Lande, verborgen und vom dichten Gehölz geradezu geschützt, erhoben sich noch immer die Tempel der alten Gottheiten der Vorväter. Unbekannte Hände legten vor den zerbrochenen und verstümmelten Bildnissen Opfergaben nieder, und manchmal erklangen im Dickicht der Wälder und von den Gipfeln der Berge Flötentöne und Trommelwirbel, um unbekannte Gläubige herbeizurufen, damit sie die Dryaden aus den Wäldern und die Nymphen aus den Bächen und Seen beschworen. In den abgelegensten Gegenden, in der Tiefe von Höhlen konnte mitten im duftenden Moos unerwartet das raubtierähnliche Bild eines Pan mit dem gespaltenen Huf und dem riesigen erigierten Phallus auftauchen - ein Zeugnis von Orgien, die weder vergessen noch abgeschafft waren.

Die Priester Christi predigten von seiner bevorstehenden Wiederkehr und seinem Jüngsten Gericht und ermahnten die Leute, vom Gedanken an die weltliche Stadt abzulassen, um den Blick und die Hoffnung einzig auf die Stadt Gottes zu richten. So starb Tag für Tag in den Herzen der römischen Menschen die Liebe zum Vaterland, verschwand der Kult der Ahnen und der heiligsten Erinnerungen, die nur noch den theoretischen Studien der Redner dienten.

Jahrelang war ich einzig und allein damit beschäftigt, von einem Tag zum anderen zu überleben, und vergaß den Grund, der mich ursprünglich so weit aus meinem eigenen Land getrieben hatte. Ich war mir vielmehr sicher, daß inzwischen auch dort oben, am Fuße des Großen Walls, alles in Ruinen lag, alles verloren war, die Freunde und Gefährten tot, erloschen die Hoffnung auf Freiheit und Würde und ein normales Leben. Mit welchem Geld und mit welchen Vorräten hätte ich tatsächlich eine Rückkehr versuchen können, wenn alles, was ich verdiente, kaum ausreichte, um meinen nagenden Hunger zu stillen? Ich hatte nur noch einen Wunsch -oder vielleicht war es bloß ein Traum -, nämlich Rom zu sehen! Trotz der grausamen Plünderung, die die Stadt mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor durch die Barbaren Alarichs erlitten hatte, war sie noch immer eine der schönsten Städte der Erde. Sie wurde jetzt zwar eher durch die Ägide des Pontifex geschützt als durch die halbzerstörte Aurelianische Mauer, aber immerhin trat dort noch in der alten Kurie der Senat zusammen, wenn es auch mehr darum ging, eine altehrwürdige Tradition aufrechtzuerhalten, als um wirkliche Entscheidungen, die ohnehin kaum noch in seinen Zuständigkeitsbereich fielen. So brach ich eines Tages in der Aufmachung eines christlichen Priesters auf, der einzigen vielleicht, die den Banditen und Dieben einen gewissen ehrfürchtigen Schrecken einjagte. Und auf dieser Reise über den Apennin geschah es, daß sich mein Los plötzlich so änderte, als habe sich das Schicksal unversehens an mich erinnert, als habe es bemerkt, daß ich noch am Leben war und in diesem trostlosen Landstrich, in diesem Land ohne Hoffnung, noch zu etwas von Nutzen sein könnte.

Es war an einem Abend im Oktober, die Dunkelheit brach gerade an, und ich bereitete einen Unterschlupf für die Nacht vor, indem ich unter einem Felsvorsprung trockene Blätter zu einem Nachtlager aufhäufte. Da kam es mir auf einmal so vor, als hätte ich aus der Tiefe des Waldes einen Klagelaut gehört. Ich dachte an den Schrei eines Nachttieres oder den Ruf der Eule, der so sehr an das Stöhnen eines Menschen erinnert, doch dann wurde mir schnell klar, daß es sich um das Wehklagen einer Frau handelte. Ich stand auf und folgte diesem Laut, indem ich so leicht und unsichtbar zwischen den Schatten des Waldes hindurchschlich, wie ich in meiner Jugend gelernt hatte, mich im heiligen Wald von Gleva zu bewegen. Plötzlich tauchte vor mir, inmitten einer Lichtung, ein Lager auf, das teils von römischen Soldaten, teils von Barbaren bewacht wurde, die aber alle auf römische Art und Weise ausgerüstet und postiert waren. In der Mitte des Lagers brannte ein Feuer, und eines der Zelte war von innen erhellt. Das Jammern kam von dort. Ich trat näher, und niemand hielt mich zurück, weil es mir in diesem Augenblick dank meiner alten Druidenkunst gelang, meinen Körper ganz dünn zu machen, ihn fast in einen der vielen Schatten der Nacht zu verwandeln, und als ich den Mund öffnete, stand ich bereits im Zelt, wo sich alle so verblüfft zu mir wandten, als wäre ich aus dem Nichts aufgetaucht. Mir gegenüber sah ich einen Mann von imposanter Erscheinung, dessen Gesicht von einem dunklen Bart eingerahmt war, welcher ihm das Aussehen eines alten Patriziers verlieh. Seine zusammengepreßten Kiefer und der Ausdruck seiner dunklen und tiefen Augen verrieten, welch große Angst sein Herz bedrückte. Neben ihm saß eine wunderschöne Frau heftig weinend an einem Bett, in dem ein anscheinend lebloses Kind von vielleicht vier oder fünf Jahren lag.

»Wer hat den Befehl gegeben, einen Priester zu rufen?« fragte der Mann und sah mich unverwandt an. An meinem schlichten Erscheinungsbild, an meinen schmutzigen und zerknitterten Kleidern war offensichtlich etwas Armseliges, vielleicht sogar etwas Verachtenswertes, das eher an einen Bettler als an einen Diener Gottes erinnerte.

»Ich bin kein Priester ... noch nicht«, antwortete ich. »Aber ich bin trotzdem ein Heilkundiger und kann vielleicht etwas für dieses Kind tun.«

Der Mann starrte mich mit einem Blick aus Feuer und Tränen an, und erwiderte: »Dieses Kind ist tot. Es war unser einziger Sohn.«

»Das glaube ich nicht«, antwortete ich. »Ich spüre noch einen Hauch Leben in diesem Zelt. Erlaubt, daß ich ihn untersuche.« Der Mann stimmte mit der Schicksalsergebenheit des Verzweifelten zu, während die Frau einen Blick voller Staunen und Hoffnung auf mich richtete.

»Laßt mich mit ihm allein, und ich werde ihn euch, wenn auch nur die geringste Chance besteht, vor dem Morgengrauen zurückgeben«, sagte ich und wunderte mich selbst über meine Worte. Ich begriff tatsächlich selbst nicht, warum ich ausgerechnet an diesem einsamen Ort im Grunde meiner Seele spürte, wie sich die alte Wissenschaft und die römische Gelehrsamkeit mit dem Erbe der druidischen Kräfte zu einem einzigen Bündel wunderbarer Energie und ruhigen Bewußtseins vereinigten und sich neu belebten. Es war, als hätte ich über all diese Jahre gelebt und dabei mich selbst und meine Würde vergessen, und als wäre mir nun plötzlich bewußt geworden, daß ich den blutleeren Wangen dieses Geschöpfes wieder Farbe verleihen und in die Augen, die unter den geschlossenen Lidern schon erloschen schienen, wieder Licht bringen konnte. Ich erkannte die eindeutigen Anzeichen einer Vergiftung, konnte aber nicht feststellen, wie weit der Prozeß bereits fortgeschritten war. Der Mann zögerte, aber die Frau überzeugte ihn. Sie zog ihn am Arm hinaus und flüsterte ihm dabei etwas ins Ohr. Sie meinte wohl, daß ich dem Kind nichts Schlimmeres zufügen könnte als das, was die Krankheit, von der sie es befallen wähnte, ohnehin schon angerichtet hatte.

Ich öffnete meinen Quersack und überprüfte den Inhalt. In all diesen Jahren hatte ich meine Medikamentenvorräte niemals ausgehen lassen und während der entsprechenden Jahreszeiten immer Kräuter und Wurzeln gesammelt und sie nach den Vorschriften behandelt, so daß ich sie jetzt in einer Pfanne mit Wasser aufwärmen und einen wirksamen Aufguß zubereiten konnte, der imstande war, den bereits fast völlig erschlafften Organismus des Kindes reagieren zu lassen. Ich erwärmte ein paar Steine, wickelte sie in saubere Tücher und legte sie um seinen kalten Körper. Dann füllte ich heißes, fast kochendes Wasser in einen Schlauch, den ich dem Knaben auf die Brust legte; denn bevor ich das Brechmittel verabreichte, mußte ich in diesem Körper ein Minimum an Leben wecken. Als ich auf seiner bläulichen Haut kleine Schweißperlchen austreten sah, flößte ich ihm langsam den Aufguß in Mund und Nase und bemerkte sofort eine Reaktion, ein fast unmerkliches Zusammenziehen der kleinen Nasenlöcher.

Draußen war die Welt in tiefem Schweigen versunken, nicht einmal das Weinen der Mutter war zu hören: Hatte sich diese stolze, schöne Frau vielleicht mit diesem so herben Verlust abgefunden? Ich träufelte dem Kind noch ein paar weitere Tropfen ein, sah, daß es immer stärker reagierte, und stellte sogleich eine sichtbare Kontraktion seines Bauches fest. Dann preßte ich die Hände kräftig auf seinen Magen, und der Kleine erbrach sich - eine grünliche, übelriechende Flüssigkeit, die keinen Zweifel mehr zuließ. Ich flößte ihm noch etwas von dem Brechmittel ein, und es folgten weitere Kontraktionen und dann eine größere Anstrengung, und er erbrach sich noch einmal; darauf folgten weitere Konvulsionen. Schließlich streckte sich der Kleine erschöpft aus, und ich entkleidete ihn, wusch ihn und bedeckte ihn mit einem frischen, sauberen Tuch. Er war schweißgebadet, aber jetzt atmete er, und sein Puls wurde mit jedem mühsamen Schlag, der in meinen Ohren lauter und triumphaler klang als ein Trommelwirbel, gleichmäßiger. Ich untersuchte den Inhalt seines Magens und sah mich in meinen Vermutungen voll bestätigt. Dann trat ich aus dem Zelt und fand mich den Eltern gegenüber. Sie saßen auf zwei Schemeln am Lagerfeuer, und von ihren Augen war eine große Erregung abzulesen. Sie hatten die Würgegeräusche gehört und wußten, daß es untrügliche Lebenszeichen waren, hatten aber ihr Wort gehalten und mich weiterhin mit ihrem Kind allein gelassen.

»Er wird überleben«, sagte ich mit absichtlich sanftem Nachdruck. Und fügte sofort hinzu: »Er ist vergiftet worden.«

Die beiden stürzten in das Zelt, und man hörte das glückliche Schluchzen der Mutter, die ihr Kind in die Arme schloß. Ich machte mich auf den Weg zum Ende des Lagers, zum Biwak der Wachen, um in einem Augenblick so starker und intimer Gefühle nicht zu stören, doch eine energische Stimme hielt mich zurück. Es war er, der Vater.

»Wer bist du?« fragte er. Ich drehte mich um und sah, wie er mich anstarrte. »Wie bist du in mein Zelt gelangt, das von bewaffneten Männern bewacht wird? Und wie hast du meinen Sohn ins Leben zurückgeholt? Bist du etwa ... ein Heiliger oder ein Engel des Himmels? Oder bist du vielleicht ein Geist des Waldes? Sag es mir, ich bitte dich!«

»Ich bin nur ein Mensch, der über einige Kenntnisse in der Heilkunde und in den Naturwissenschaften verfügt.«

»Wir verdanken dir das Leben unseres einzigen Sohnes, und dafür gibt es auf dieser Erde keinen angemessenen Lohn. Aber äußere eine Bitte, und du wirst, sofern es in meiner Macht steht, eine Belohnung erhalten.«

»Eine warme Mahlzeit und ein Brot für meine Reise morgen sind genug«, antwortete ich. »Der größte Lohn für mich ist ohnehin zu erleben, daß dieses Kind wieder atmet.«

» Wohin gehst du ?« fragte er mich.

»Nach Rom. Die Urbs und ihre Wunderwerke zu sehen, ist immer schon der Traum meines Lebens gewesen.«

»Auch wir sind auf dem Weg nach Rom. Also bitte ich dich, bleibe bei uns! So wird deine Reise gefahrlos verlaufen, und sowohl ich als auch meine Frau hoffen innig, daß du für immer bei uns bleiben und dich unseres Sohnes annehmen wirst. Er wird einen Lehrer brauchen, und wer könnte ihm besser helfen als du, ein Mann von so großer Gelehrsamkeit und mit einer solchen Wunderkraft?«

Das war es, was ich zu hören gehofft hatte, aber ich erwiderte, daß ich erst darüber nachdenken und ihnen nach unserer Ankunft in Rom eine Antwort geben würde. In der Zwischenzeit würde ich mich bemühen, dem Kind zu vollständiger Genesung zu verhelfen, aber er, der Vater, müsse den Mörder ausfindig machen, jenen Mann, der ihn so sehr haßte, daß er bereit war, ein unschuldiges Kind zu vergiften.

Ihm schien eine plötzliche Erkenntnis gekommen zu sein, und er erwiderte: »Das ist meine Angelegenheit. Der Verantwortliche wird nicht ungestraft davonkommen. Doch was dich anbelangt, so nimm unterdessen meine Gastfreundschaft und meine Speisen an und ruhe dich für den Rest der Nacht aus. Das hast du dir verdient.«

Er sagte, er heiße Orestes und sei Offizier der kaiserlichen Armee, und während wir noch sprachen, trat seine Gemahlin hinzu, Flavia Serena, die, von Gefühlen überwältigt, sogar nach meiner Hand griff, um sie zu küssen. Eilends zog ich sie zurück und beugte mich meinerseits zu ihr, um ihr meine Ehrerbietung zu bezeigen. Sie war die schönste und vornehmste Dame, die ich in meinem ganzen Leben gesehen hatte. Nicht einmal die Angst vor dem Verlust ihres Kindes hatte die Harmonie ihrer aristokratischen Gesichtszüge beeinträchtigt, noch den Glanz ihrer bernsteinfarbenen Augen getrübt, sondern ihm nur die Tiefe des Schmerzes und der Sorge hinzugefügt. Ihre Haltung war stolz, aber ihr Blick sanft wie ein Sonnenuntergang im Frühling; ihre reine Stirn war mit einem Zopf dunkler, violett schimmernder Haare bekränzt, ihre Finger lang und schmal, die Haut alabasterweiß. Unter ihrem Gewand aus leichter Wolle betonte ein samtener Gürtel ihre Figur, und ihren Hals schmückte eine silberne Kette, an der nur eine einzige schwarze Perle hing. In meinem ganzen Leben hatte ich noch kein Geschöpf von so betörender Schönheit gesehen, und von dem Augenblick an, da ich sie zum ersten Mal erblickt hatte, wußte ich, daß ich ihr für den Rest meiner Tage treu ergeben sein würde, was für ein Schicksal auch immer die Zukunft für uns bereithalten würde.

Ich verabschiedete mich mit einer tiefen Verneigung von ihr und bat um die Erlaubnis, mich zurückziehen zu dürfen: Ich war müde und fühlte mich mitgenommen und hatte bei dem siegreichen Zweikampf mit dem Tod meine ganzen Energien verbraucht. Ich wurde zu einem Zelt geleitet und machte es mir dort auf einem Feldbett bequem, aber die Stunden, die uns noch vom Morgengrauen trennten, verbrachte ich in einem Zustand dumpfer Lethargie, die nur von den herzzerreißenden Schreien eines gefolterten Mannes unterbrochen wurde. Es mußte der Mann gewesen sein, den Orestes als Giftmörder verdächtigte. Am nächsten Morgen fragte ich nicht nach und wollte auch nichts weiter wissen, weil ich schon genug wußte: Der Vater dieses Kindes war gewiß ein sehr mächtiger Mann, wenn er sich so erbitterte Feinde geschaffen hatte, daß sie sogar seinem kleinen Sohn nach dem Leben trachteten.

Als wir aufbrachen, ließen wir den zerfleischten Leichnam eines an einen Baumstamm gebundenen Mannes zurück. Noch vor dem Abend würden die Tiere des Waldes von ihm nur das Skelett übriglassen.

So wurde ich der Erzieher dieses Kindes und ein Mitglied der Familie und verbrachte mehrere Jahre in beneidenswerten Verhältnissen: Ich wohnte in prachtvollen Palästen, begegnete wichtigen Persönlichkeiten, widmete mich meinen bevorzugten Studien und meinen Experimenten auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und vergaß darüber fast vollständig die Mission, deretwegen ich vor so langer Zeit nach Italien gekommen war. Orestes war oft abwesend und mit risikoreichen Feldzügen befaßt, und wenn er zurückkam, dann in Begleitung der Barbarenführer, die die Einheiten des Heeres befehligten. Die Zahl der römischen Offiziere nahm von Jahr zu Jahr ab. Die besten Vertreter der Aristokratie zogen es mittlerweile vor, Mitglieder des christlichen Klerus zu werden, und betätigten sich lieber als Seelenhirten denn als Heerführer. Das hatte für Ambrosius gegolten, der zu Kaiser Theodosius' Zeiten eine glänzende Laufbahn beim Militär aufgegeben hatte, um Bischof von Mailand zu werden, und so war es im Fall von Germanus gewesen, unserem Feldherrn in Britannien, der am Ende das Schwert gegen den Bischofsstab getauscht hatte.

Orestes aber war aus anderem Holz geschnitzt: Im Laufe der Zeit erfuhr ich, daß er in seinen jungen Jahren im Dienste von Attila, dem Hunnen, gestanden und sich durch seine Klugheit und seine Intelligenz ausgezeichnet hatte. Es gab keinen Zweifel, daß er die höchste Macht anstrebte.

Er schätzte mich sehr und bat mich nicht selten auch um meinen Rat, aber meine Hauptaufgabe blieb die Erziehung seines Sohnes Romulus. Er übertrug mir fast die väterlichen Vollmachten, da er so sehr mit dem Aufstieg zu den obersten Sprossen der militärischen Karriereleiter beschäftigt war. Bis er eines Tages den Titel eines Patriziers des römischen Volkes und das Oberkommando über die kaiserliche Armee erhielt.

Da traf er eine Entscheidung, die sich tiefgreifend auf unser aller Leben auswirken und in gewisser Weise eine neue Ära einleiten sollte.

In jenem Jahr regierte Kaiser Julius Nepos, ein schwacher und unfähiger Mann, der aber gute Beziehungen zum Kaiser des Ostreiches, Zenon, unterhielt. Orestes beschloß, Julius Nepos abzusetzen und sich selbst des kaiserlichen Purpurs zu bemächtigen. Er unterrichtete mich von seinem Entschluß und fragte mich, was ich davon hielte. Ich antwortete, daß es ein Wahnsinn sei, und inwiefern sich, seiner Meinung nach, sein Schicksal von dem der letzten Kaiser unterscheiden werde, die sich einer nach dem anderen auf dem Cäsarenthron abgelöst hatten? Und welch entsetzlichen Gefahren er seine Familie aussetzen werde?

»Dieses Mal wird es anders sein«, erwiderte er, und mehr wollte er mir nicht sagen.

»Und wie kannst du dir der Treue dieser Barbaren sicher sein? Alles, was die wollen, sind doch nur Geld und Ländereien: Solange du imstande sein wirst, sie ihnen zu geben, werden sie dir folgen. Wenn du sie aber nicht länger bereichern kannst, werden sie einen anderen wählen, der mehr Geld hat und ihre Forderungen und ihre unstillbare Gier besser befriedigen kann.«

»Hast du je über die Legio Nova Invicta reden hören?« fragte er mich.

»Nein. Die Legionen sind vor geraumer Zeit abgeschafft worden. Du weißt sehr wohl, mein Herr, daß sich die Militärtechnik in den letzten hundert Jahren in bedeutendem Maße fortentwickelt hat.« Aber ich dachte an die Aufstellung der Legion, die Germanus vor seinem Tod am Hadrianswall geplant hatte, um die Festung des Mons Badonicus zu verteidigen und die inzwischen vielleicht überhaupt nicht mehr existierte.

»Du irrst dich«, entgegnete mir Orestes. »Die Nova Invicta ist eine Elitetruppe, die nur aus Italern und Leuten aus den Provinzen des Römischen Reiches besteht. Ich habe sie in aller Heimlichkeit neu formiert und halte sie seit Jahren bereit, und zwar unter dem Kommando eines untadeligen Mannes mit großen bürgerlichen und militärischen Tugenden. In diesem Augenblick rückt sie in Gewaltmärschen heran, und schon bald werden die Soldaten unweit von unserer Residenz in der Emilia ihr Lager aufschlagen. Doch das ist nicht die einzige Neuigkeit, denn nicht ich werde der neue Kaiser sein.«

Ich sah ihn verblüfft an, während mir etwas Furchtbares dämmerte. »Nein?« fragte ich. »Wer dann?«

»Mein Sohn«, erwiderte er, »mein Sohn Romulus, der auch den Titel Augustus annehmen wird. Er wird die Namen des ersten Königs und des ersten Kaisers von Rom tragen. Und ich werde ihm den Rücken freihalten, indem ich Oberkommandant der kaiserlichen Armee bleibe. Nichts und niemand wird ihm Schaden zufügen können.«

Ich sagte nichts, weil alles sinnlos gewesen wäre, was ich auch eingewandt hätte. Er hatte sich bereits entschieden, und durch nichts hätte er sich von seinem Vorhaben abbringen lassen. Er schien sich nicht einmal klarzumachen, daß er seinen Sohn, meinen Schützling, meinen Jungen, einer tödlichen Gefahr aussetzte.

In jener Nacht ging ich spät zu Bett und lag lange mit offenen Augen da, ohne Schlaf zu finden. Zu viele Gedanken stürmten auf mich ein, und ich sah auch diese Männer, die in Gewaltmärschen anrückten, um einen kindlichen Kaiser zu beschützen. Legionäre der letzten Legion, die aufgerufen waren, für das Schicksal des letzten Kaisers ein letztes Opfer zu bringen ...

Die Geschichte endete hier, und Romulus hob den Kopf und klappte das Buch wieder zu. Vor ihm stand Ambrosinus. »Eine interessante Lektüre, nehme ich an. Ich rufe dich schon seit einer ganzen Weile, und du geruhst nicht einmal, mir zu antworten. Das Abendessen ist fertig.«

»Verzeih mir, Ambrosinus, ich habe dich nicht gehört. Ich habe gesehen, daß du dein Buch hier liegengelassen hast, und gedacht ...«

»Darin steht nichts, was du nicht lesen dürftest. Komm, wir gehen.«

Romulus klemmte sich das Buch unter den Arm und folgte seinem Lehrer in den Speisesaal. »Ambrosinus ...«, sagte er plötzlich.

»Ja?«

»Was bedeutet diese Prophezeiung?«

»Na, dieser Text ist bestimmt nicht schwer zu verstehen.«

»Nein, wirklich nicht, aber ...«

»Sie bedeutet:

>Ein junger Mann wird über das südliche Meer kommen, mit einem Schwert und Frieden und Wohlstand bringen. Dann werden der Adler und der Drache wieder Über dem großen Land Britannien wehen.<

Das ist eine Weissagung, Cäsar, und wie alle Weissagungen schwer zu interpretieren, aber sie kann die Herzen jener Menschen anrühren, die Gott auserwählt hat, damit sie seine unergründlichen Ratschlüsse in die Tat umsetzen.«

»Ambrosinus ...«, setzte Romulus noch einmal an.

»Ja?«

»Du ... hast du meine Mutter geliebt?«

Der betagte Lehrer senkte den kahlen Kopf und nickte ernst. »Ja, ich habe sie geliebt. Mit einer demütigen und ergebenen Liebe, die ich nicht einmal mir selbst eingestanden hätte, aber für die ich in jedem Augenblick bereit gewesen wäre, mein Leben hinzugeben.«

Er sah den Jungen wieder an, und seine Augen glühten wie Kohlen, als er sagte: »Wer sie umgebracht hat, wird dafür mit einem grauenhaften Tod bezahlen. Das schwöre ich.«

XV

Ambrosinus war verschwunden. Vor einiger Zeit hatte er damit begonnen, die weniger bekannten Teile der Villa zu erkunden, insbesondere alte, nicht mehr bewohnte Räume, in denen seine schier unersättliche Neugier mit einer Unmenge verschiedenster Objekte befriedigt wurde, die für ihn alle von außergewöhnlichem Interesse waren: Wandmalereien, Statuen, Archivalien, Labormaterial, Werkzeuge von Schreinern und Zimmerleuten. Außerdem verbrachte er seine Zeit damit, alte, seit undenklichen Zeiten nicht mehr benutzte Gebrauchsgegenstände zu reparieren, wie etwa die Mühle oder die Esse, den Backofen und die Latrine mit der Wasserspülung.

Die Barbaren betrachteten ihn inzwischen als eine Art exzentrischen Spinner, und wenn er vorbeikam, lachten oder spotteten sie über ihn. Alle, bis auf einen: Wulfila. Er war sich der Intelligenz des Alten zu sehr bewußt, um ihn zu unterschätzen. Er ließ ihn zwar im Inneren der Villa frei herumlaufen, aber er gestattete ihm nicht, den äußeren Mauergürtel zu verlassen, es sei denn, unter strengster Bewachung.

Romulus glaubte, Ambrosinus habe an jenem Tag vergessen, ihm seinen Griechischunterricht zu erteilen, weil er mit irgendeiner besonders anspruchsvollen Tätigkeit beschäftigt war; deshalb ging er zum unteren, in den Abhang gebauten Teil der Villa hinunter. Dort gab es nur sehr wenige Wachen, weil die Mauer hoch und von unten her ohne Zugang war und außen direkt auf einen steilen Absturz blickte. Es war ein Tag Ende November, frisch, aber so klar, daß man in der Ferne die Ruinen des Athenaions von Surrentum und am Ende des Golfs den Vesuv sah, der sich rostrot vorn tiefen Blau des Himmels abhob. Das einzige Geräusch war das seiner Schritte auf den Fliesen des Fußbodens und das Rauschen des Windes in den Pinien und den uralten Steineichen. Ein Rotkehlchen ließ auf seinem Flug ganz leicht die Flügel schwirren, und eine leuchtend grüne Smaragdeidechse flitzte davon, um sich in einer Mauerritze zu verkriechen: Diese kleine Welt begrüßte ihn, wenn er vorbeikam, mit einem kaum wahrnehmbaren Raunen.

Seit dem Morgen hallten die Unterkünfte der Soldaten vom Lärm wider, den die Ankunft einer Ladung Prostituierten ausgelöst und ihn am Schlafen gehindert hatte, doch trotz der Schlaflosigkeit fühlte sich der Junge nicht müde: Es konnte keine Müdigkeit geben, wenn es keine Aktivität, keine Pläne, keine Perspektiven und keine Zukunft gab. Im Augenblick litt er nicht besonders, aber er freute sich auch über nichts, da es weder für das eine noch für das andere Anlaß gab. Doch bei der Begegnung mit der Welt um ihn herum bebte sein Herz unsinniger- und überflüssigerweise wie ein Spinnennetz im Wind. Diese reine Luft, dieser ruhige Atem der Natur waren so angenehm, daß Romulus leise ein Kinderliedchen vor sich hin trällerte, an das er sich, wer weiß warum, just in diesem Augenblick erinnerte.

Er glaubte, sich am Ende an seinen Käfig zu gewöhnen, so, wie man sich an alles gewöhnt, und daß sein Schicksal im Grunde nicht schlimmer war als das so vieler anderer Menschen. Gab es da unten, auf dem Festland, etwa keine Metzeleien, keine Kriege, keine Not, keine Invasionen und keinen Hunger? Er versuchte, es sich zur Gewohnheit zu machen, Wulfilas Anwesenheit zu ignorieren, sein Bild auszulöschen, das einzige Element, das imstande war, die Trägheit und Lethargie seines Herzens zu erschüttern und in seinem Geist schmerzliche Verwirrungen auszulösen, einen Zorn, den er nicht am Leben erhalten durfte, eine ungerechtfertigte Angst, ein beklemmendes Gefühl der Schmach, ebenso lästig wie unausweichlich.

Plötzlich verspürte er auf seinem Gesicht etwas Merkwürdiges: einen starken, konzentrierten Luftstrahl, der nach Moos und im Verborgenen tröpfelndem Wasser roch. Romulus blickte sich um, sah aber nichts. Er war schon im Begriff weiterzugehen, als er erneut dieses klare, tiefdringende Gefühl verspürte, begleitet von einem kaum merklichen Säuseln. Und plötzlich wurde ihm bewußt, daß es von unten, aus den Öffnungen eines tönernen Gitters über dem Regenwasserabfluß kam. Vorsichtig blickte er sich um: Niemand war zu sehen. Dann nahm er aus seiner Schultasche, die er über der Schulter trug, einen Griffel, kniete sich nieder und begann, damit rund um das Gitter, aus dem nach wie vor dieser langgezogene Seufzlaut aufstieg, zu schaben. Als er mit dem Säubern fertig war, nahm er ein Stöckchen als Hebel, hob das Gitter hoch und stellte es auf den Fliesenboden. Er schaute sich noch einmal um, steckte dann den Kopf in die Öffnung und sah sich mit einem frappierenden Anblick konfrontiert, der noch schwindelerregender war, weil er sich ihm kopfüber darbot: Unter ihm öffnete sich ein großer Geheimgang, ausgeschmückt mit Fresken und Grotesken, der in das Innere des Berges führte.

Eine der Seitenwände war eingestürzt, so daß eine Art Rutsche entstanden war, die es gestattete, leicht auf den Grund des Ganges zu gelangen. Romulus stieg hinein, schob das Gitter über seinem Kopf wieder an Ort und Stelle, und kletterte ohne allzu große Schwierigkeiten bis zum Boden hinunter, wo sich seinen Augen ein neues, traumhaftes Spektakel darbot: Von oben fiel ein ganzes Bündel leuchtender Strahlen durch das Abflußgitter herein und beleuchtete einen langen gepflasterten Wandelgang, der beiderseits mit einer langen Reihe von Statuen gesäumt war. Verblüfft und verwundert bewegte sich der Junge zwischen jenen Männern mit den bebilderten Brustpanzern, deren Gesichter vom veränderlichen Licht, das von oben einfiel, betont wurden, und auf jedem Marmorsockel fand er die dazugehörigen Unternehmungen, die Ehrentitel und die Siege über die Feinde eingemeißelt: Es waren die Statuen der römischen Kaiser!

Bei jedem Schritt fühlte sich Romulus von diesem enormen Gewicht der Geschichte überwältigt, von dem grandiosen Erbe, das er auf seinen zarten Schultern lasten fühlte. Langsam ging er weiter und las die Inschriften und wiederholte dabei die folgenden Titel und Namen: »Flavius Claudius Julianus, Wiederhersteller der Welt, Verteidiger des Reiches ...; Lucius Septimius Severus, Particus Maximus, Germanicus, Particus Adiabenicus, Pontifex Maximus ...; Marcus Aurelius Antoninus, Pius Felix, semper Augustus, Pontifex Maximus, sechsmal Tribun des Volkes ...; Titus Flavius Vespasia-nus, Augustus; Claudius Tiberius Drusus Cäsar, Britannicus; Tibe-rius Nero Cäsar, Germanicus, Vater des Vaterlandes, Pontifex Maximus; Augustus Cäsar, Sohn des göttlichen Julius, Pontifex Maximus, siebenmaliger Konsul ...«

Eine dünne Staubschicht hatte sich auf diese imponierenden Bildnisse gelegt, auf die Augenbrauen, auf die tiefen Falten, die ihre Stirnen durchfurchten, auf die Waffen und Verzierungen, doch keine dieser Statuen wies irgendwelche Schrammen oder Verstümmelungen auf. Dieser Ort mußte eine Art Gedenkstätte sein, heimlich geschaffen, wer weiß von wem, vielleicht von Julianus, dem die Christen den Schmähnamen Apostata, der Abtrünnige, angehängt hatten und der mit seinem eigenen verdrießlich und melancholisch dreinblickenden Bildnis diese lange Reihe der Beherrscher der Welt eröffnete.

Jetzt befand sich Romulus, vor Aufregung und Staunen bebend, vor der Nordwand des Geheimgangs und hatte eine Platte aus grünem Marmor vor sich, die in der Mitte mit einem Lorbeerkranz in Goldbronzerelief verziert war. In dessen Inneren prangte in Großbuchstaben folgende Inschrift:

CAIVS IVLIVS CAESAR

Und darunter, in Kursivschrift, eine sibyllinische Wendung: quin-decim caesus, die Romulus leise wiederholte: »Fünfzehn mal getroffen.« Was sollte das bedeuten? Cäsar war, wie er oft genug in den Geschichtsbüchern gelesen hatte, von dreiundzwanzig Dolchstichen getroffen worden, nicht von fünfzehn Und warum sollte ausgerechnet in einer verherrlichenden Inschrift, in einem eindrucksvollen Epigraph aus kostbarem Marmor, aus Gold und Bronze, die traurige Erinnerung an die Iden des März und an die Ermordung des größten aller Römer heraufbeschworen werden?

Doch was konnte die Zahl sonst noch bedeuten? In diesem Augenblick entsann er sich plötzlich der vielen Gedankenspiele mit Akrostichen und Rätseln, die ihm sein Lehrer tausendmal zur Schärfung seines Verstandes sowie zum Zeitvertreib empfohlen hatte. Romulus' Blick nahm die Buchstaben der Reihe nach ins Visier, las sie von vorne nach hinten und umgekehrt; es mußte einen Schlüssel geben, sonst hätte die Zahl keinen Sinn.

Von außen drang kein Geräusch herein außer dem Gezwitscher der Sperlinge, und in dieser leeren und schwebenden Atmosphäre ging der Junge im Geiste fieberhaft sämtliche möglichen Kombinationen durch, um eine Lösung zu finden. Doch ihm wurde recht bald klar, daß jemand seine Abwesenheit bemerken und Ambrosinus in Gefahr geraten könnte, wenn in der Villa ein Tumult ausbräche. Die aufsteigende Angst stachelte seinen Verstand zu Höchstleistungen an, aber plötzlich hielt sein Denken inne, setzte sich wie ein Schmetterling auf diese Inschrift und zerlegte sie in eine Abfolge von Zahlen, die die Summe fünfzehn ergaben. Das heißt die Summe aus V, V, V: die drei V aus Goldbronze, die in den Worten CAIVS IVLIVS vorkamen, während der folgende Ausdruck nicht zufällig kursiv geschrieben war, wo das u nicht wie in der Großbuchstabenschrift mit einem V gleichgesetzt werden konnte. Ja, das mußte die Lösung sein! Er drückte mit zitternder Hand und in ständiger Folge die drei V, die leicht nachgaben, aber es passierte nichts. Er seufzte resigniert und wandte sich um, um dorthin zurückzukehren, von wo er gekommen war, als ihm eine neue Idee durch den Kopf schoß: Die drei geschriebenen V ergaben, miteinander addiert - und nicht hintereinander gelesen - , die Summe fünfzehn, quinde-cim. Er kehrte um und drückte gleichzeitig auf die drei V in den Worten CAIVS IVLIVS. Die Buchstaben gaben nach, und sofort hörte man ein metallisch klingendes Schnappen, das Geräusch eines Gegengewichts, das Knirschen einer Winde, und unmittelbar darauf entwich an den Rändern der Platte ein Lufthauch: Der große Stein drehte sich, und eine Öffnung tat sich auf!

Romulus hielt den Rand fest, schob die Platte mit Mühe noch ein wenig weiter auf und legte in die Mitte des Spaltes einen Stein, damit die Platte nicht hinter ihm zufallen konnte. Dann stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus und trat ein.

Sobald seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, bot sich ihm ein noch atemberaubenderer Anblick dar: Vor ihm stand eine herrliche Statue, gemeißelt aus verschiedenen mehrfarbigen Marmorarten, die die Farben der Natur nachahmten, ausgestattet mit echten, feingetriebenen Waffen.

Romulus hob langsam den Blick, um jede Einzelheit zu erforschen, von dem über den muskulösen Waden gebundenen Schuhwerk über den Brustpanzer, der mit Bildern von Medusen und Seeungeheuern mit schuppigen Schwänzen verziert war, bis hinauf zu dem strengen Gesicht mit der Adlernase und dem grimmigen Blick des dietator perpetuus: Es war Julius Cäsar! Über die Oberfläche des Bildnisses flirrte ein seltsames Leuchten, ähnlich dem Reflex einer unsichtbaren Wellenbewegung, und Romulus bemerkte, daß ihn ein magisches blaßblaues Licht von unten, von einer marmornen Brunnenumrandung aus beleuchtete, die er auf den ersten Blick mit einem Weihaltar verwechselt hatte. Romulus beugte sich über den Rand und sah unten auf dem Grund ein bläuliches Schimmern, ein sich ständig änderndes Licht. Er ließ einen Stein hineinfallen und spitzte die Ohren, um lange ein Abprallen und Rollen zu vernehmen, ehe er hörte, wie der Stein auf das Wasser aufschlug und von ihm verschluckt wurde. Der Weg mußte lang, die Fallhöhe gewaltig sein.

Er wich zurück, ging um die Statue herum und betrachtete sie mit noch größerer Aufmerksamkeit. Er sah einen breiten Gürtel, an dem die Schwertscheide hing, und sie schien ihm von einer Wirklichkeitstreue, wie sie sonst an keiner Statue, ob aus Marmor oder Bronze, anzutreffen war. Er stieg auf ein Kapitell und streckte die zitternde Hand aus, um den Griff des Schwertes zu berühren und dann zu drücken, und dabei versuchte er gleichzeitig, dem grimmigen Blick des Diktators auszuweichen, der wirkte, als wolle er ihn wie ein Blitz treffen. Er zog ein wenig an dem Schwert. Es folgte gehorsam seiner Hand und glitt aus der Scheide, in der es steckte: Eine Klinge, wie er sie nie zuvor gesehen hatte, scharf wie ein Rasiermesser, glänzend wie Glas, dunkel wie die Nacht. Darauf eingeritzt waren Buchstaben, die er im Augenblick nicht entziffern konnte. Jetzt hielt er es mit beiden Händen fest, eine Handbreit vom Gesicht entfernt, und zitterte bei diesem Anblick wie Espenlaub: Vor sich hatte er das Schwert, das die Gallier und die Germanen, die Ägypter und die Syrer, die Numider und die Iberer bezwungen hatte. Das Schwert Julius Cäsars!

Das Herz schlug ihm zum Zerspringen, und wieder fiel ihm ein, daß Ambrosinus sich ängstigen mußte, weil er ihn nirgendwo sah, und er dachte an Wulfilas Wut. Er überlegte, ob er das Schwert an seinen Platz zurückstecken sollte, aber eine Macht, die stärker war als sein Wille, hinderte ihn daran. Er wollte und er konnte sich nicht davon trennen.

Er nahm den Umhang ab, wickelte es darin ein und kehrte auf dem gleichen Weg, den er gekommen war, zurück und schob die Platte wieder vor. Dann warf er noch einen letzten Blick auf den säuerlich dreinblickenden Diktator, ehe er aus seinem Gesichtskreis verschwand, und murmelte: »Ich behalte es nur eine Zeitlang ... nur ein bißchen, und dann bringe ich es dir zurück ...«

Mühsam tauchte er wieder aus dem unterirdischen Raum auf und spähte, unter der Traufe angelangt, in alle Richtungen, wartete auf den Moment, da ihn keiner sehen konnte, und kroch hinter eine Reihe von Büschen. Dann erreichte er, verborgen hinter einer Leine, auf der Wäschestücke trockneten, keuchend sein Zimmer und versteckte das Bündel unter dem Bett. Draußen hallte die ganze Villa von Rufen und Schreien und von einem diffusen Getrampel wider, das ein fieberhaftes Kommen und Gehen der Wachen verriet, die ihn nicht ausfindig machen konnten. Er stieg ins Erdgeschoß hinunter, ging durch die Ställe, wo er sich mit Spreu beschmutzte, und trat endlich ins Freie. Einer der Barbaren erblickte ihn sofort und brüllte: »Das ist er! Ich habe ihn gefunden!« Und er hielt ihn brutal an einem Arm fest und zerrte ihn zur Wachstube. Aus dem Inneren drangen Klagelaute, die Romulus einen Stich ins Herz gaben: Ambrosinus mußte für die zeitweilige Abwesenheit seines Schülers bitter bezahlen.

»Laßt ihn los!« rief er, entwand sich seinem Wächter und stürzte hinein. »Laßt ihn sofort los, ihr Schurken!« Ambrosinus, der regungslos auf einem Schemel saß, hatte die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Er blutete stark aus Nase und Mund, und seine linke Wange war geschwollen. Romulus lief zu ihm und umarmte ihn fest. »Verzeih mir, verzeih mir, Ambrosinus«, sagte er. »Das habe ich nicht gewollt, wirklich nicht gewollt ...«

»Es ist schon gut, mein Junge, ist schon gut«, erwiderte der Alte. »Das Wichtigste ist, daß du wieder da bist. Ich hatte mir deinetwegen schon Gedanken gemacht.«

Wulfila packte Romulus an den Schultern und zog ihn so nach hinten, daß er auf den Boden fiel. »Wo hast du gesteckt?« brüllte er.

»Ich bin im Stall gewesen und auf dem Stroh eingeschlafen«, antwortete Romulus, während er mit einem Ruck wieder aufstand und ihm mutig entgegentrat.

»Du lügst!« schrie der andere und traf ihn mit einem Hieb, der ihn mit aller Macht gegen die Wand schleuderte. »Wir haben alles abgesucht!«

Romulus wischte sich das Blut ab, das ihm aus der Nase rann, und trat noch einmal auf ihn zu, mit einem Mut, der Ambrosinus verblüffte. »Dann habt ihr nicht richtig gesucht«, erwiderte er. »Siehst du nicht, daß ich noch Spreu auf den Kleidern habe?«

Wulfila holte erneut aus, um ihn zu schlagen, aber Romulus blickte ihn unerschrocken an und sagte: »Wenn du noch einmal wagst, meinen Lehrer anzurühren, ziehe ich dir die Haut ab wie einem Schwein. Das schwöre ich dir.«

Der Barbar brach in dröhnendes Gelächter aus. »Womit denn? Jetzt verschwinde und danke deinem Gott, daß ich heute gut aufgelegt bin. Weg mit euch, habe ich gesagt, weg mit dir und deiner alten Küchenschabe!«

Romulus band Ambrosinus die Fesseln los und half ihm aufzustehen. Der Lehrer sah in den Augen seines Schülers einen mutigen und stolzen Glanz, den er zuvor noch nie gesehen hatte, und war davon so beeindruckt wie von einem Wunder, einer unerwarteten Erscheinung. Romulus stützte ihn liebevoll und führte ihn, unter dem Gelächter und Gespött der Barbaren, in seine Kammer. Doch diese euphorische, fast schon frenetische Freude zeigte, daß die Leute bis vor kurzem noch von Angst gepackt waren. Ein Junge von dreizehn Jahren war der Kontrolle und Aufsicht von siebzig der besten Soldaten der kaiserlichen Armee entwischt, für länger als eine Stunde, und hatte alle in Angst und Schrecken versetzt.

»Wo hast du gesteckt?« fragte Ambrosinus, sobald sie allein in ihrem Zimmer waren.

Romulus nahm ein feuchtes Tuch und begann, ihm das Gesicht zu säubern. »An einem geheimen Ort«, erwiderte er. »Wie bitte? In dieser Villa gibt es keine geheimen Orte.« »Es gibt unter dem Boden des Innenhofs einen Geheimgang, und ich ... und ich bin hineingefallen«, log er. »Im Lügen bist du schlecht. Sag mir die Wahrheit.« »Ich bin hineingegangen, von einem Abflußgitter aus. Ich habe gespürt, daß dort Luft entweicht, habe es geöffnet und bin hinuntergestiegen.«

»Und was hast du da unten gefunden? Ich hoffe, etwas, wofür sich all diese Prügel, die ich deinetwegen einstecken mußte, gelohnt haben.«

»Bevor ich dir antworte, muß ich dir eine Frage stellen.«

»Und die wäre?«

»Was ist über das Schwert Julius Cäsars bekannt?«

»Wirklich eine komische Frage. Laß mich nachdenken ... Also, nach Cäsars Tod gab es eine lange Zeit der Bürgerkriege: auf der einen Seite Octavianus und Marcus Antonius, auf der anderen Brutus und Cassius, die beiden, die die Verschwörung an den Iden des März angezettelt hatten, bei der Cäsar ermordet wurde. Wie du sehr wohl wissen solltest, gab es eine entscheidende Schlacht bei Philip-pi, in Griechenland, in der Brutus und Cassius besiegt und getötet wurden. So blieben Octavianus und Marcus Antonius übrig, die sich einige Jahre lang die Macht über das Römische Reich teilten:

Octavianus über den Westen, Marcus Antonius über den Osten. Doch schon bald verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den beiden, weil Marcus Antonius sich geweigert hatte, Octavianus' Schwester zu heiraten, und Cleopatra, der faszinierenden Königin von Ägypten, den Vorzug gegeben hatte. Antonius und Cleopatra wurden in einer großen Seeschlacht bei Actium besiegt und flüchteten nach Ägypten, wo sie sich das Leben nahmen, zuerst er, dann sie. Octavianus war nun der alleinige Beherrscher der Welt und bekam vom Senat den Titel Augustus verliehen. Zu dieser Zeit ließ er auf dem Forum Romanum den Tempel des Mars Ultor, des Rächers, errichten und legte dort das Schwert Julius Cäsars nieder. Im Laufe der Jahrhunderte, als die Barbaren kamen und Rom aus nächster Nähe bedrohten, wurde das Schwert aus dem Tempel entfernt und versteckt. Ich glaube, es war Valenanus oder Galhenus oder vielleicht irgendein anderer Kaiser. Ich habe auch gehört, Konstantinus habe es genommen, um es nach Konstantinopel, in seine neue Hauptstadt, zu bringen. Es heißt auch, daß das Schwert zu irgendeinem Zeitpunkt durch eine Kopie ersetzt worden sei, aber wo das Original geblieben ist, weiß niemand.«

Romulus sah ihn mit einem rätselhaften, zugleich aber auch triumphierenden Blick an. »Jetzt zeige ich dir etwas«, sagte er. Er ging zum Fenster und zur Tür, um sich zu versichern, daß niemand in der Nähe war, dann beugte er sich unter das Bett und zog das Bündel hervor, das er dort versteckt hatte, während sein Lehrer ihm, neugierig geworden, zusah.

»Schau!« rief er. Und er wickelte das wunderbare Schwert aus. Ambrosinus betrachtete es verwundert, ohne ein Wort sagen zu können. Romulus hielt es auf seinen beiden ausgestreckten Händen, und man konnte den großartig gestalteten goldenen Griff in Form eines Adlerkopfes mit zwei Augen aus Topasen sehen. Der polierte Stahl der Klinge glänzte im Halbschatten.

»Das ist das Schwert von Julius Cäsar«, sagte Romulus. »Schau dir diese Inschrift an: Cai Iulii Caesaris ensis ca ...«, begann er zu buchstabieren.

»Du großer Gott!« unterbrach ihn Ambrosinus und streckte seine zitternden Finger in Richtung Klinge aus. »Du großer Gott! Das cha-lybische Schwert Julius Cäsars! Ich habe immer geglaubt, es sei seit Jahrhunderten verschollen. Aber wie hast es bloß gefunden?«

»Es war an seiner Statue, in der Schwertscheide, an einem geheimen Ort. Eines Tages, wenn sie wieder etwas nachlässiger sind mit unserer Bewachung, führe ich dich dorthin und zeige dir alles. Du wirst deinen Augen nicht trauen! Aber was hast du da vorhin für ein Wort gebraucht? Was ist ein chalybisches Schwert?«

»Es bedeutet einfach, geschmiedet von den Chalybern, einem Volk südöstlich des Schwarzen Meeres, das berühmt ist für seine Fähigkeit, einen einzigartigen Stahl zu produzieren. Es heißt, daß Cäsar, als er den Krieg gegen Pharnakes, den König von Pontus, gewann ...«

»... als er sagte: >Veni, vidi, vici

»Genau. Jedenfalls wird behauptet, daß ein Meisterschmied, dessen Leben er geschont hatte, es für ihn angefertigt habe aus einem Block Siderit, aus vom Himmel gefallenem Eisen. Der Meteor, den man auf einem Gletscher des Berges Ararat gefunden hatte, soll durch das Feuer gezogen, drei Tage und drei Nächte lang unablässig gehämmert und dann im Blut eines Löwen gehärtet worden sein.«

»Ist das möglich?«

»Durchaus«, antwortete Ambrosinus. »Ja, sogar sicher. Wir werden gleich wissen, ob das, was du gefunden hast, das stärkste Schwert der Welt ist. Los, nimm es in die Hand!«

Romulus gehorchte.

»Und jetzt schlag mit voller Kraft auf diesen Kandelaber.«

Romulus hieb zu, und die Klinge zischte durch die Luft, verfehlte aber um ein Haar das Ziel. Der Junge richtete sich auf und bereitete sich auf einen zweiten Versuch vor, doch Ambrosinus hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.

»Diesmal mache ich es besser«, sagte Romulus, »paß auf ...«, doch er hielt, verblüfft über den verzückten und gerührten Blick seines Lehrers, inne.

»Was ist los, Ambrosinus? Warum siehst du mich so an?«

Der Hieb, der an dem Kandelaber vorbeigesaust war, hatte ein Spinnennetz, das in einer Ecke des Zimmers gespannt war, entzweigeschnitten, und der Spinne, die es gewoben hatte, nur die obere Hälfte gelassen, mit einem Schnitt von bestürzender Sauberkeit und Perfektion.

Ambrosinus trat näher, ungläubig angesichts dieses Wunders, und murmelte: »Schau, mein Kind, schau ... kein Schwert auf der Welt hätte so etwas je vollbringen können.«

Er blieb wie verzaubert stehen, um die Spinne zu beobachten, die ihre halbierte Wohnstätte verließ, einen Moment lang im goldenen Staub eines Sonnenstrahls schwebte, der durch eine Ritze im Fensterladen drang, und schließlich in der Dunkelheit verschwand. Dann wandte er sich um und suchte Romulus' Blick: In den Augen des Knaben glänzte jetzt dasselbe Licht stolzer Kühnheit wie in dem Augenblick, als er sich dem wilden Wulfila, ohne mit der Wimper zu zucken, zu seiner Verteidigung entgegengestellt hatte. Ein Licht, das er bei ihm niemals zuvor gesehen hatte ... derselbe metallische und schneidende Reflex, der auf der Schärfe dieser Klinge, in den herrlichen Augen des Adlers glitzerte. Und wie ein Gebet kamen ihm die alten Verse über die Lippen:

Vemet adulescens a man infero cum spatha..

»Was hast du gesagt, Ambrosinus?« fragte Romulus, während er das Schwert wieder in den Umhang wickelte.

»Nichts ... nichts ...«, erwiderte sein Erzieher. »Ich bin nur glücklich ... glücklich, mein Junge.«

»Warum? Weil ich dieses Schwert gefunden habe?«

»Weil der Augenblick gekommen ist, diesen Ort zu verlassen. Und niemand wird uns daran hindern können.«

Romulus sagte nichts: Er legte das Schwert zurück, ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Ambrosinus kniete sich auf den Boden, drückte zwischen beiden Händen den Mistelzweig, den er am Hals hängen hatte, und betete, aus der Tiefe seines Herzens, daß sich die Worte, die er soeben ausgesprochen hatte, bewahrheiten mochten.

XVI

Romulus saß auf einer Holzbank und stocherte mit einem Stock in einem Ameisenhaufen herum. Das kleine Volk, das sich bereits auf den Winter eingerichtet hatte, war in Panik geraten, und die Ameisen flitzten in alle Richtungen und versuchten, die Eier ihrer Königin in Sicherheit zu bringen. Ambrosinus, der gerade vorbeikam, trat an Romulus heran und fragte: »Wie geht es heute meinem kleinen Cäsar?«

»Schlecht. Und nenne mich nicht so. Ich bin nichts.«

»Aber du läßt deine Frustration an diesen armen unschuldigen Tierchen aus! Vergleichsweise hast du unter ihnen keine geringere Tragödie ausgelöst als es der Fall von Troja oder zu Neros Zeiten der Brand von Rom gewesen waren. Ist dir das klar?«

Verärgert warf Romulus das Stöckchen weg. »Ich will meinen Vater wiederhaben und auch meine Mutter. Ich will nicht allein sein, und ich will kein Gefangener sein. Warum ist mein Schicksal nur so grausam?«

»Glaubst du an Gott?«

»Ich weiß es nicht.«

»Das solltest du aber tun. Niemand ist Gott näher als der Kaiser. Er ist sein Stellvertreter auf Erden.«

»Ich erinnere mich an niemanden, der nach der Besteigung des Thrones länger als ein Jahr Kaiser gewesen wäre. Vielleicht sollte Gott sich weniger kurzlebige Stellvertreter auf Erden aussuchen. Meinst du nicht auch?«

»Er wird es tun, und seine Macht wird dem Auserwählten ein unmißverständliches Zeichen geben. Aber jetzt hör auf, deine Zeit mit den Ameisen zu verschwenden! Geh lieber zurück in die Bibliothek und lerne etwas! Heute wirst du die ersten beiden Bücher der Aeneis kommentieren.«

Romulus zuckte die Achseln. »Alte, nutzlose Geschichten.«

»Keineswegs! Vergil berichtet von den Geschicken des Helden Aeneas und seines Sohnes Iulus, der ein Junge war wie du und zum Stammvater der größten Nation aller Zeiten wurde. Sie waren Flüchtlinge, Verzweifelte, und dennoch gelang es ihnen, sich wieder aufzurichten und den Mut und die Willenskraft aufzubringen, für sich und ihre Leute eine neue Existenz aufzubauen.«

»In den Mythen ist alles möglich. Aber die Vergangenheit ist vergangen und kommt nicht wieder.«

»Wirklich? Warum bewahrst du dann eigentlich dieses Schwert unter deinem Bett auf? Ist es etwa kein Relikt einer alten, nutzlosen Geschichte?« Ambrosinus warf einen Blick auf die Sonnenuhr in der Mitte des Hofes und schien sich plötzlich an irgend etwas zu erinnern. Abrupt drehte er sich um, überquerte, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, den Hof und verschwand im Schatten des Portikus. Wenige Augenblicke später sah Romulus, wie er eine Treppe hinaufstieg, die zur Brüstung der zum Meer hinunterblickenden Terrasse führte, und dort aufrecht und reglos stehenblieb, während der Wind ihm die grauen Haare unterhalb der Glatze zerzauste.

Der Junge stand auf und ging in Richtung Bibliothek, doch ehe er eintrat, warf er noch einen letzten Blick auf Ambrosinus, der sich jetzt ganz auf eine seiner üblichen Beobachtungen zu konzentrieren schien. Er schaute nach vorn und schrieb gleichzeitig mit dem Griffel etwas in sein obligates Notizbuch. Vielleicht studierte er die Bewegung der Wellen oder den Wanderzug der Vögel oder den Rauch, der seit einigen Tagen, immer dichter werdend und von bedrohlichem Raunen begleitet, aus dem Krater des Vesuvs aufstieg.

Romulus schüttelte den Kopf und trat zur Tür der Bibliothek, um hineinzugehen, doch just in diesem Augenblick winkte ihn Ambrosinus zu sich. Er gehorchte und lief zu seinem Lehrer, der ihn wortlos empfing und ihm einfach nur einen Punkt mitten im Meer zeigte. Vor ihnen wiegte sich, durch die Entfernung verkleinert, ein Fischerboot, eine Nußschale auf der blauen Fläche.

»Jetzt erkläre ich dir ein interessantes Spiel«, sagte Ambrosinus. Aus den Falten seines Gewandes zog er einen stark glänzenden Bronzespiegel hervor, drehte ihn zur Sonne und warf einen kleinen leuchtenden Flatterpunkt auf die Wellen in der Nähe des Bootes und dann mit beeindruckender Präzision auf den Bug und auf das Segel. Gleich darauf begann er, mit dem Handgelenk schnelle und geübte Bewegungen auszuführen und ließ den kleinen Leuchtpunkt auf dem Deck des Bootes bald auftauchen, bald wieder verschwinden.

»Was machst du denn da?« fragte Romulus verdutzt. »Darf ich das auch einmal probieren?«

»Lieber nicht! Ich unterhalte mich mit den Leuten auf diesem Schiff mit Hilfe von Lichtsignalen - ein System, das notae tironianae genannt wird. Einer von Ciceros Sklaven hat es vor fünfhundert Jahren erfunden. Anfangs diente es nur dazu, schnell Diktate aufzunehmen; später wurde es dann in einen Kommunikationskode für das Militär umfunktioniert.«

Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als vom Boot her mit einem entsprechend blinkenden Signal geantwortet wurde.

»Was sagen sie?«

»Sie sagen: >Wir kommen euch holen. An den Nonen des Dezembers^ Das heißt ... in genau drei Tagen. Ich habe dir doch gleich gesagt, daß sie uns nicht im Stich lassen werden und daß man die Hoffnung nie aufgeben darf.«

»Du machst dich doch nicht etwa über mich lustig ...?« fragte Ro-mulus verunsichert. Ambrosinus nahm ihn in die Arme. »Es ist wahr«, antwortete er mit zitternder Stimme. »Es ist wahr, endlich!«

Romulus gelang es nur mühsam, seine Gefühle zu beherrschen. Er wollte sich nicht auf diese neue Hoffnung einlassen aus Angst, noch einmal enttäuscht zu werden. So fragte er lediglich: »Wie lange geht das schon so?«

»Ein paar Wochen. Wir hatten einiges zu besprechen.«

»Und wer hat damit angefangen?«

»Sie. Sie haben mir über einen der Diener, die zum Hafen hinuntergehen, um dort einzukaufen, eine Botschaft zukommen lassen, und so habe ich mich mit meinem sorgfältig polierten Spiegel zu einem Rendezvous eingefunden. Es war schön, endlich wieder einmal mit jemandem von außerhalb zu plaudern.«

»Und du hast mir nichts davon gesagt ...«

Romulus blickte seinen Erzieher bestürzt an. Dieser lächelte und blinzelte zuerst ihn an und dann das kleine Schiff in der Ferne. Vor Romulus' Augen wurde der Dialog mittels der Leuchtsignale wieder aufgenommen und nur unterbrochen, wenn das Geräusch von Schritten die Ankunft der Wachen ankündigte, die ihre Runde drehten. Ambrosinus nahm ihn bei der Hand, und sie stiegen zusammen die Treppe hinunter und gingen in die Bibliothek.

»Ich wollte dich nicht noch einmal ohne Grund enttäuschen. Aber jetzt bin ich davon überzeugt, daß dieses Unternehmen gelingen könnte. Sie sind nur eine Handvoll Verzweifelter, aber sie verfügen über eine mächtige Waffe ...«

»Und die wäre?«

»Der Glaube, mein Junge. Der Glaube, der Berge versetzt. Nicht der Glaube an einen Gott, denn sie sind nicht gewöhnt, sich auf ihn zu verlassen. Sie glauben vielmehr an den Menschen, selbst in dieser finsteren Zeit, selbst jetzt, da alle Ideale und sämtliche Gewißheiten erschüttert worden sind. Doch jetzt gehen wir etwas lernen!

Ich könnte dir vielleicht die notae tironianae beibringen. Was hältst du davon?«

Romulus sah ihn voller Bewunderung an. »Gibt es etwas, was dir nicht bekannt ist, Ambrosinus?«

Die Miene des Lehrers wurde plötzlich nachdenklich. »Viele Dinge«, sagte er, »und zwar ganz wichtige: ein Sohn, zum Beispiel; ein Haus, eine Familie ... die Liebe einer Frau ...« Er tätschelte Romulus, und über seine blauen Augen legte sich ein wehmütiger Schleier.

Das Boot fuhr weiter und umrundete die Nordspitze der Insel.

»Bist du sicher, daß wir das richtig verstanden haben?« fragte Batiatus.

»Und ob ich mir sicher bin! Es ist nicht das erste Mal, daß wir Botschaften austauschen«, erwiderte Aurelius.

»Das hier also ist das östliche Vorgebirge, und dies ist die Nordwand«, sagte Vatrenus. »Beim Herkules, sie ist senkrecht wie eine Mauer! Und dir zufolge sollten wir also bis dort oben hinaufklettern, den Jungen gegen die erklärten Absichten von etwa siebzig fuchsteufelswilden Wachen entführen, uns dann zum Meer herunterlassen, wieder ins Boot steigen und insalutato hospite das Weite suchen?«

»Ja, so ungefähr«, antwortete Aurelius.

Livia hantierte mit der Leine und stellte das Boot in den Wind, so daß es, sanft auf den Wellen schaukelnd, zum Stehen kam. Die Felswand ragte jetzt fast senkrecht über ihnen empor, nackt und kahl, und über ihr dann noch die Mauer der Villa.

»Dies ist für uns die einzige zugängliche Stelle«, fuhr Aurelius fort, »eben weil man es für unmöglich hält, daß irgend jemand hier hochklettern könnte. Wir haben gesehen, daß die Wachen hier nur zweimal vorbeikommen - einmal während der ersten Schicht und dann noch einmal, im Zuge der dritten, vor dem Morgengrauen.

Wir haben fast drei Stunden Zeit, um unseren Auftrag auszuführen.« Er stellte das mit Wasser gefüllte Stundenglas auf den Kopf und deutete mit dem Finger auf die verschiedenen Markierungen. »Eine Stunde, um da hinaufzuklettern, eine halbe Stunde, um den Jungen zu holen, eine halbe Stunde, um wieder herunterzukommen und zu verschwinden, und eine halbe Stunde, um zur Küste zu gelangen, wo die Pferde auf uns warten. Batiatus bleibt derweil unten, um das Schiff zu bewachen und die Seile zu handhaben, die anderen klettern hinauf. Livia wird sich zu diesem Zeitpunkt schon an Ort und Stelle befinden, im oberen Laufgraben der Nordmauer der Villa.«

»Und wie das?« fragte Vatrenus.

Aurelius wechselte einen Blick mit Livia, um sich ihrer Zustimmung zu versichern. »Mit einem Trick, der so alt ist wie die Welt - dem des Trojanischen Pferdes.«

Mit einem langen Blick suchte Batiatus die Wand bis zur oberen Mauer der Villa Elle für Elle ab und seufzte: »Zum Glück bleibe ich unten. Ich möchte nicht in eurer Haut stecken.«

»Nichts ist daran so schrecklich«, sagte Livia. »Es hat schon einmal einen einzelnen Mann gegeben, der mit bloßen Händen dort hinaufgekraxelt ist.«

»Das kann ich nicht glauben«, erwiderte Batiatus.

»Und doch ist es so. Zu Tiberius' Zeiten wollte ein Fischer dem Kaiser eine riesengroße Languste schenken, die er soeben gefangen hatte, und da man ihn nicht zum Hauptportal hereinließ, kletterte er vom Meer aus die Felswand hoch.«

»Beim Herkules!« rief Vatrenus aus. »Und wie ist die Sache ausgegangen?«

Livia verzog ein wenig den Mund. »Das verrate ich euch erst, wenn die Mission beendet ist. Und jetzt würde ich sagen, daß wir umkehren sollten, bevor der Wind sich dreht.« Sie holte die Leine ein, während Demetrios mit dem Ruder so manövrierte, daß er das Segel an den Wind stellte, und das Boot wendete in einem weiten Bogen, so daß der Bug landeinwärts schaute. Aurelius warf einen letzten Blick auf die Stufen der Villa und sah dort deutlich eine gespenstische Gestalt auftauchen: einen hünenhaften Krieger, der in einen von der Brise geblähten Umhang gehüllt war.

Wulfila.

Drei Tage später fuhr gegen Abend ein Lastschiff in den kleinen Hafen ein. Der Kapitän rief den Ladearbeitern etwas zu und warf ihnen das Ankertau entgegen. Vom Heck schleuderte der Steuermann ein zweites Tau herab, und das Schiff legte an. Die Auslader gingen zum Landesteg, und die Träger begannen, die kleineren Frachtstücke zu entladen: Säcke mit Getreidekörnern und Mehl, Bohnen und Kichererbsen sowie Amphoren, gefüllt mit Wein, Essig und eingekochtem Most. Dann rollten sie ein Hebegerät für die schwereren Lasten heran: sechs große Tonkrüge mit einem Fassungsvermögen von je fünfhundert Litern, drei davon gefüllt mit Olivenöl und drei voller Trinkwasser für die Bewohner der Villa.

Livia, die im Heck zwischen den Säcken kauerte, vergewisserte sich, daß niemand zu ihr herübersah, und kroch dann auf einen der Krüge zu. Sie hob den Deckel des ersten hoch und fand ihn mit Wasser gefüllt. Sie warf eine Rolle Seil hinein, dann stieg sie selbst in den Krug und schloß den Deckel über ihrem Kopf. Etwas Wasser schwappte über den Rand, aber alle waren so sehr mit dem Entladen beschäftigt, daß es niemandem auffiel. Nun wurden die riesigen Gefäße nacheinander mit dem Kran hochgehoben und auf ein Fuhrwerk gehievt, das von zwei Paar Ochsen gezogen wurde. Als sie mit dem Beladen fertig waren, ließ der Fuhrmann die Peitsche knallen und rief: »Hü! Hü!«, und der Wagen zockelte auf der steilen, schmalen Straße los, die zur Villa hinaufführte. Als er dort eintraf, lag der untere Teil der Insel bereits im Schatten, während der letzte Widerschein der untergegangenen Sonne noch die Federwolken am Himmel und die Dächer der höchstgelegenen Teile der weitläufigen Residenz rot färbte. Das große Portal wurde geöffnet, und der Karren, dessen Räder auf dem Steinpflaster schrecklich laut rasselten, fuhr in den unteren Hof ein. Gänse und Hühner stoben, wie wild mit den Flügeln schlagend, in alle Richtungen davon; die Hunde bellten, und sofort begannen Diener und Träger geschäftig mit dem Entladen der Waren.

Der Aufseher des Gesindes, ein alter Neapolitaner mit runzeliger Haut, rief seinen Leuten, die auf der oberen Terrasse schon den Lastenaufzug bereitgestellt hatten, etwas zu, und sie ließen die Hebebühne mit Hilfe einer Winde so weit herunter, daß sie bis zur Ladepritsche des Fuhrwerks reichte. Der erste der Krüge wurde gekippt, bis zu der Plattform gerollt, und dort dann mit Seilen und Keilen gesichert. Der Aufseher legte die Hände wie einen Trichter um den Mund und brüllte: »Hau ruck!« Die Diener drehten die Griffe der Winde, und die Plattform schwebte, stöhnend und knirschend und zuerst hin und her schwankend, in der Luft, bis sie ganz langsam anfing, sich auf die obere Terrasse zuzubewegen.

Auf der anderen Seite der Villa, am Fuße der Steilwand, sprang Batiatus an Land und zog das Boot achtern bis dicht an die kleine Bucht heran, die von großen Kieselsteinen und spitzen Felsen umrahmt war. Gerade war ein Wetterumschwung im Gange: Kalte Windböen kräuselten die Wellen des Meeres und wühlten ganze Stöße von Schaum auf, während vom Westen eine Front schwarzer Wolken heranzog, durch die immer wieder grelle Blitze zuckten. Das Grummeln des Donners vermischte sich mit dem dumpfen Grollen des fernen Vesuvs.

»Ein Sturm hat uns gerade noch gefehlt!« knurrte Vatrenus, während er zwei Seilrollen aus dem Boot holte.

»Besser so!« sagte Aurehus. »Die Wachen werden sich ins Trockene verkriechen, und wir haben mehr Handlungsfreiheit. Los, vorwärts, die Zeit fliegt uns davon!«

Batiatus sicherte das Achtertau, indem er es um einen Felsblock wickelte, und machte Demetrios ein Zeichen, damit er den Buganker abließ. Dann sprangen alle an Land. Jeder trug über seiner Tunika ein mit Leder oder Kettenpanzerung verstärktes Korsett, eine enganliegende Hose, einen breiten Gürtel mit Schwert und Dolch sowie einen Helm aus Eisen. Aurelius begab sich an den Fuß des Felsens und atmete tief durch, wie er es immer tat, wenn er im Begriff war, sich einem Feind entgegenzustellen. Von unten gesehen, hatte der erste feil der Wand eine leichte Neigung, die einen nicht allzu beschwerlichen Aufstieg ermöglichte.

»Wir müssen zu zweit bis zu dem Grat aufsteigen, dorthin, wo man diese hellere Gesteinsader sieht«, sagte Aurelius. »Ich bringe das Seil mit den dazwischengeknüpften Stäben mit, das uns als Sprossenleiter dienen wird. Du, Vatrenus, nimmst den Sack mit den Haken und dem Hammer. Livia sollte uns dann von oben das andere Seil herunterwerfen, damit wir den zweiten Abschnitt, den steileren, überwinden können. Notfalls werden wir im freien Anstieg hinaufgehen: Wenn das dieser Fischer geschafft hat, können wir es auch.« Dann wandte er sich an Batiatus: »Bei unserer Rückkehr mußt du das untere Ende des Seils ganz strammziehen, damit es nicht im Wind schwankt: Der Junge könnte sonst Angst bekommen oder das Gleichgewicht verlieren und abstürzen, vor allem, wenn es zu regnen anfängt und alles viel rutschiger wird. Los, gehen wir, solange es noch etwas hell ist.«

Vatrenus hielt ihn am Arm fest: »Bist du sicher, daß deine Schulter das aushält? Vielleicht wäre es besser, wenn Demetrios hinaufgeht. Der ist ja auch leichter.«

»Nein, ich gehe. Meine Schulter ist schon in Ordnung. Mach dir keine Sorgen.«

»Du bist ein Dickschädel, und wenn wir im Feldlager wären, würde ich dir schon zeigen, wer das Kommando hat, aber hier entscheidest du, und das ist auch gut so. Los, gehen wir!«

Aurelius hängte sich die Seilrolle über die Schulter und fing an hinaufzuklettern. Unweit von ihm begann Vatrenus den Aufstieg mit einer schweren Ledertasche: Sie enthielt den Hammer und die Zeltpflöcke, die er benutzen würde, um Aurelius' Seil am Fels zu befestigen, sobald er einen Punkt erreichte, an dem er Halt finden würde.

Im unteren Hof der Villa hievte man gerade den fünften der großen Krüge in die Höhe, als eine plötzliche Sturmbö die Hebebühne ins Wanken brachte. Eine zweite Bö verursachte eine noch größere Schwankung, so daß das Gewicht des riesigen Gefäßes, das bereits auf halber Höhe zwischen dem Pflaster des Hofes und der oberen Terrasse schwebte, das schwache Hebeseil, das sie trug, zerriß. Der Krug fiel hinunter und zerbarst beim Aufschlag auf den Boden mit donnerndem Getöse; die Tonscherben flogen nur so durch die Gegend, während sich am Boden ein gewaltiger Ölfleck ausbreitete. Einige der Männer trugen Verletzungen davon, andere wurden von Kopf bis Fuß mit Öl bespritzt und in groteske Gestalten verwandelt, die triefend und auf wackeligen Füßen dastanden. Der Aufseher fluchte, trat nach ihnen und schrie, außer sich vor Wut: »Ausgerechnet das Öl müßt ihr verschütten, ihr verdammten Blödiane! Aber dafür müßt ihr mir büßen, und wie ihr mir dafür büßen müßt!«

Livia spähte unter dem Rand des Deckels hervor und zog sich sofort wieder zurück. Nach einem kurzen Moment der Verwirrung wurde die Plattform erneut heruntergelassen, und sie begriff, daß die Leute nun den Deckel mit einem Seil befestigen und das Gefäß kippen würden. Sie hielt den Atem an, bis das Wasser im Inneren nicht mehr hin und her schwappte, dann steckte sie sich ein Röhrchen in den Mund und atmete weiter. Während die Hebebühne langsam nach oben stieg, knirschte und schwankte der ganze Apparat mehr und mehr, und das zunehmende Sausen des Windes klang im Inneren des Kruges wie ein dumpfes Muhen. Livia hörte, wie ihr Herz immer schneller pochte, je ungemütlicher es in diesem engen, flüssigen Gefängnis wurde, in dieser Art von Uterus aus Stein, in dem sie bei jeder Schwankung durchgerüttelt wurde und schon jegliche Orientierung und Balance verloren hatte.

Am Ende ihrer Kräfte angelangt, war sie kurz davor, die Wand des Gefäßes mit ihrem Schwert zu zertrümmern - egal, was dann geschehen würde. Plötzlich spürte sie, daß die Lastenbühne endlich auf einer festen Unterlage aufgesetzt hatte. Sie faßte neuen Mut und hielt den Atem an, während der Krug auf dem Pflaster von den Dienern angeschoben und gerollt wurde und die Luft innen vollends ausging. Bald merkte sie, daß die Arbeiter den Krug wieder in eine aufrechte Position brachten und ihn vermutlich neben den anderen Gefäßen aufstellten. Sie hob den Kopf über die Wasseroberfläche, atmete tief ein und blies dann die Flüssigkeit durch die Nase aus. Als die Schritte der Arbeiter, die sich nun entfernten, vollkommen verklungen waren, zog sie ihren Dolch heraus, steckte ihn in die Ritze zwischen dem Hals des Gefäßes und dem Deckel, bis sie das Seil fand, das ihn dort festhielt, und begann es durchzuschneiden. Sie war erschöpft, und ihre Glieder waren ganz starr, vor Kälte wie gelähmt.

Nicht weit von ihr entfernt, in einem Zimmer der kaiserlichen Gemächer, bereiteten sich Ambrosinus und Romulus unterdessen auf die Flucht vor: Sie zogen bequeme Gewänder an und Beinkleider aus Filz, die rasche und absolut geräuschlose Bewegungen gestatteten. Der Alte steckte alles, was er von seinen Habseligkeiten zusammenraffen konnte, in seinen Reisesack: etwas zu essen und außerdem seine Pülverchen, seine Kräuter und seine Amulette. Und dazu noch die Aeneis.

»Aber das ist doch ein überflüssiges Gewicht«, sagte Romulus.

»Glaubst du? Und dabei ist es die kostbarste Last, mein Kind!« antwortete Ambrosinus. »Wenn man flieht und alles zurückläßt, ist der einzige Schatz, den wir mitnehmen können, die Erinnerung. Die Erinnerung an unsere Ursprünge, an unsere Wurzeln, an die Geschichte unserer Vorväter. Nur die Erinnerung kann uns eine Wiedergeburt aus dem Nichts ermöglichen. Gleichgültig, wo, gleichgültig, wann - wenn wir die Erinnerung an unsere vergangene Größe und an die Gründe bewahren, weshalb wir sie verloren haben, werden wir uns wieder aufraffen.«

»Aber du kommst aus Britannien, Ambrosinus, du bist ein Kelte.«

»Das stimmt, doch in diesem so schrecklichen Augenblick, in dem alles zusammenbricht und alles in Auflösung begriffen ist, in dem die einzige Zivilisation dieser Welt mitten ins Herz getroffen ist, müssen wir uns einfach als Römer bezeichnen.

Auch wir, die wir vom äußersten Rand des Reiches stammen, auch wir, die wir vor so vielen Jahren unserem Schicksal überlassen wurden ... Und du, Cäsar? Du nimmst gar nichts mit?«

Romulus zog das Schwert unter seinem Bett hervor. Er hatte es schon sorgfältig eingewickelt, verschnürt und einen Gurt daran befestigt, damit er es sich auf den Rücken binden konnte.

»Ich, ich nehme dieses hier mit«, sagte er.

Aurelius war noch etwa dreißig Fuß von der Querrille entfernt, die die Wand über die ganze Breite durchschnitt, als plötzlich ein Blitz den Felsen taghell erleuchtete, darauf folgte das Dröhnen eines Donners, und augenblicklich begann es, wie aus Eimern zu schütten. Jetzt gestaltete sich alles schwieriger: Die Haken wurden glitschiger und die Sicht verschwommener, weil das Wasser die Haare anklatschte und in die Augen drang, und mit jeder Sekunde wurde das aufgerollte Seil, das Aurelius über der Schulter trug, schwerer, da es sich immer mehr mit Wasser vollsog. Vatrenus ahnte die Probleme seines Freundes und versuchte, möglichst nah an ihn heranzukommen. Er fand Halt und schlug einen Haken in den Felsen, so hoch er gerade noch reichen konnte. Aurelius sah ihn, bewegte sich auf ihn zu, stellte den Fuß auf den Haken und zog sich nach oben, bis er eine Felsnase zu fassen bekam, die rechts von ihm aus der Wand ragte. Von dieser Stelle an hatte der Felsen eine flachere Neigung, was es ihm erlaubte, mit größerer Trittsicherheit bis zu dem Absatz zu gelangen, der unterhalb der Mauer lag. Es handelte sich um einen Grabenrand aus Kalkgestein, der bedeckt war mit Geröll, welches im Laufe der Jahrtausende von dem darüber gelegenen Felsen heruntergefallen war. Aurelius warf das Seil auf den Boden und beugte sich nach hinten, um nun seinerseits seinem Kameraden beim Heraufklettern zu helfen.

Sobald Vatrenus den Rand erreicht hatte, zog er den schweren Hammer aus der Tasche, schlug zwei Haken in den Felsen, sicherte daran das Seil, wickelte es ab und ließ es bis zum Anlegeplatz hinabfallen. Unten packte Batiatus das Ende und zog mit aller Kraft daran, um es zu testen.

»Es hält«, bemerkte Vatrenus voller Genugtuung.

Auf diese Weise, strammgezogen und mit den ungefähr dreißig im Abstand von je drei Fuß daran befestigten Stäben, sah das Seil fast wie eine Leiter aus.

»Der Junge schafft das bestimmt«, sagte Aurelius.

»Und der Alte?« fragte Vatrenus.

»Der auch. Der ist flinker, als du glaubst.« Er blickte hinauf und versuchte dabei, seine Augen gegen den herabströmenden Regen abzuschirmen. »Livia ist noch nicht zu sehen, verdammt noch mal.

Was machen wir jetzt? Ich warte noch ein bißchen, und dann gehe ich allein da hinauf.«

»Das ist doch Wahnsinn! Das schaffst du nie. Nicht unter diesen Umständen.«

»Du irrst dich. Ich steige mit den Haken hinauf. Gib mir die Tasche.«

Vatrenus sah ihn bestürzt an, doch just in diesem Augenblick wurden sie beide von einer Handvoll Steinchen getroffen. Aurelius blickte nach oben und erkannte die Umrisse einer Gestalt, die ausholende Gesten machte.

»Livia!« rief er aus. »Endlich!«

Das Mädchen warf ihr Seil herunter, das etwas oberhalb von Aurelius Kopf endete, der nun weiter hinaufkletterte, wobei er sich Hände, Arme und Knie aufschürfte und an den scharfen Kanten ganze Hautfetzen zurückließ, bis er schließlich das untere Ende des Seils zu fassen bekam. Dann setzte er unter gewaltigen Anstrengungen den Aufstieg fort. Der Wind, der immer heftiger wehte, ließ das Seil nach rechts und nach links schwingen und schleuderte ihn hin und wieder gegen die schroffen Felsen, was ihm Schmerzensschreie entlockte, die sich mit dem Tosen des Sturms vermischten. In der Ferne konnte er sehen, daß aus dem Schlund des Vesuvs gelegentlich ein dunkler, blutroter Feuerschein aufleuchtete. Das mit Wasser vollgesogene Seil wurde immer rutschiger, und das Gewicht seines Körpers zog ihn manchmal nach unten, so daß er in einem einzigen Augenblick das an Höhe verlor, was er gerade so mühsam erobert hatte, und dadurch verlängerten sich seine Torturen. Doch jedesmal kletterte er beharrlich wieder hinauf, biß die Zähne zusammen, überwand die Müdigkeit und die Pein, die er in jedem Muskel, in jedem Gelenk spürte, und auch die Schmerzen in seiner alten Wunde, die ihm wie Dolchstiche in den Schädel drangen.

Mit qualvoller Spannung verfolgte Livia jede seiner Bewegungen, und als Aurelius endlich nahe genug war, beugte sie sich mit dem ganzen Oberkörper weit über die Brüstung, packte ihn am Arm und zog, so gut sie konnte. Mit einer letzten Anstrengung kletterte Aurelius über die Brüstung und drückte seine Kameradin in einer befreienden Umarmung inmitten des prasselnden Regens an sich. Sie war es, die sich als erste aus ihr löste. »Schnell, helfen wir Vatrenus und den anderen.«

Unten waren Demetrios und Orosius an dem Seil mit den Stäben bis zu der Felsrille aufgestiegen und hatten dort das untere Ende des von Livia heruntergeworfenen Seils gegriffen. Sie sicherten sich gegenseitig und kletterten rasch hinauf, unterstützt von ihren Gefährten, die sie von oben hochzogen. Als letzter traf Vatrenus ein.

»Ich hatte euch doch gesagt, daß wir das schaffen«, jubelte Livia. »Und jetzt suchen wir den Jungen, bevor die Wachen kommen.«

XVII

Die obere Terrasse lag verlassen da, und das Pflaster mit den großen Schieferplatten glänzte im zuckenden Licht der Blitze wie ein Spiegel. In einer Gruppe standen an der Mauer noch die Krüge, die am Nachmittag entladen worden waren, und Livia schaute sie in Erinnerung an ihr jüngstes Abenteuer im Bauch eines dieser Gefäße eindringlich an.

»Hinter diesen Krügen gibt es eine Plattform, über die man mit einem Lastenaufzug hineinkommt«, sagte sie. »Wir könnten uns von Orosius und Demetrios mit Hilfe der Winde bis zum Hof herunterlassen und so zur Bibliothek gelangen. Dort erwarten sie uns doch, oder?«

»Ja«, erwiderte Aurelius, »aber wenn man uns sieht, während wir so in der Luft baumeln, werden wir eine leichte Zielscheibe sein. Besser wäre ein Weg im Inneren. Es dürfte nicht allzu schwer sein, den Hof zu erreichen, und in der Bibliothek brennt bestimmt ein Licht, das uns den Weg weist.« Er wandte sich an Orosius. »Du bleibst hier, stehst Wache und hältst uns den Fluchtweg frei. Von dem Augenblick an, da du uns verschwinden siehst, zähle bis tausend: Wenn wir bis dahin noch nicht wieder aufgetaucht sind, laß dich zu Batiatus hinunter, und sucht beide das Weite. Wir schließen uns euch dann spätestens in zwei Tagen irgendwie an Land an. Wenn nicht, bedeutet das, daß unsere Mission gescheitert ist und daß es euch frei steht hinzugehen, wo ihr wollt.«

»Ich bin mir sicher, daß ihr wohlbehalten zurückkehren werdet«, antwortete Orosius. »Viel Glück!«

Aurelius erwiderte seinen Wunsch mit einem unsicheren Lächeln, dann gab er seinen Kameraden ein Zeichen und wandte sich zu der Steintreppe, die zu den unteren Stockwerken führte. Er ging als erster mit dem Schwert in der Hand, dann folgten Livia, Vatrenus und zuletzt Demetrios.

Der Treppenschacht war stockdunkel, und nur die Blitze erhellten ihn hin und wieder, wenn ihr Licht durch die schmalen Öffnungen drang, die auf den Innenhof schauten. Irgendwann sah man einen schwach leuchtenden Lichtschein, der sich auf den Wänden und den Stufen aus Tuffstein ausbreitete.

Aurelius bedeutete seinen Gefährten näher zu kommen und wisperte: »Vor uns liegt ein Korridor, und diese Türen hier müssen zu Schlafräumen führen. Auf mein Zeichen hin überquert ihr ihn, so schnell ihr könnt, und wir erreichen dann die zweite Stiegenrampe, die uns nach unten führen sollte, ins Erdgeschoß. Nur Mut! Im Augenblick scheint alles ruhig zu sein.«

»Geh nur los«, sagte Vatrenus. »Wir kommen hinter dir her.« Doch sobald sich Aurelius in Bewegung gesetzt hatte, öffnete sich links von ihm eine Tür, und heraus trat ein Barbarenkrieger mit einem halbnackten Mädchen. Aurelius fiel, das Schwert in der Faust, über ihn her, und bevor dieser die Zeit hatte, irgend etwas zu begreifen, hatte er ihn bereits durchbohrt. Das Mädchen kreischte los, aber Livia warf sich sofort auf sie und hielt ihr mit beiden Händen den Mund zu. »Ruhe! Wir wollen dir nichts Böses antun, aber wenn du noch einmal schreist, schneide ich dir die Kehle durch. Verstanden?« Das Mädchen nickte krampfhaft mit dem Kopf. In wenigen Augenblicken fesselten Demetrios und Vatrenus sie an Handgelenken und Knöcheln, knebelten sie und zerrten sie in eine dunkle Nische.

Unten, im alten Speisesaal, fuhr Wulfila, der gerade sein Abendessen beendet hatte, hoch und spitzte die Ohren.

»Hast du das auch gehört?« fragte er seinen Stellvertreter, einen jener Skiren, die unter Mledos Kommando gekämpft hatten.

»Was denn?«

»Einen Schrei.«

»Die Männer vergnügen sich dort oben mit den neuen Huren, die gestern aus Neapel angeliefert worden sind. Da kannst du ganz ruhig sein.«

»Das war kein Lustschrei. Das war ein Angstschrei«, beharrte Wulfila, stand auf und griff zu seinem Schwert.

»Na und? Du weißt doch, daß manche härtere Spielchen bevorzugen. Das sind sie gewöhnt; das ist Teil ihres Gewerbes. Das einzige, was mich beunruhigt, ist, daß diese Nutten nicht aufhören, unsere Kämpfer zu demoralisieren. Ich habe schon seit längerem den Eindruck, daß sie an nichts anderes mehr denken als ans Picken ...«

Er hatte seinen Satz noch nicht beendet, als ein weiterer Schrei zu hören war, der dieses Mal nach Wut und Schmerz klang und auf den sofort ein Todesröcheln folgte.

»Verdammt noch mal!« fluchte Wulfila und stürzte zu dem Fenster, das auf den Hof blickte. Dort war nur eine Laterne zu sehen, die in der Bibliothek brannte, aber er konnte ein Getümmel von Umrissen erkennen und das Aufblitzen von Klingen, die durch das Dunkel sausten, und daraufhin waren erneut Geschrei und Todesröcheln zu vernehmen.

»Sie greifen uns an! Laß Alarm schlagen, aber schnell! Los!«

Der Mann gehorchte: Er rief eine Wache, die mehrmals in das Signalhorn stieß, bis ein anderes Horn antwortete und noch eines, bis schließlich die ganze Villa von diesem grauenhaften Lärm widerhallte. Ein Blitz tauchte den großen Hof in taghelles Licht, und Wulfila erkannte von oben Aurelius just in dem Augenblick, als dieser einen seiner Männer niederstreckte, der herbeigelaufen war, um ihm den Weg zu versperren. Ihm zur Seite waren andere Gestalten, zwei oder drei, und hinter ihnen der Alte mit dem Knaben.

»Verdammt!« rief er, »schon wieder der!«

Er stürzte auf den Korridor hinaus, das Schwert in der Hand, und brüllte wie ein Besessener: »Den will ich lebend, bringt ihn mir lebend!«

Aurelius war klar, daß ihm dort unten nur wenige Sekunden blieben, und er führte seine Leute zur Stiegenrampe, während schon aus allen Richtungen weitere Soldaten, brennende Fackeln schwingend, herbeiströmten. Die Gruppe erreichte den oberen Korridor, fand ihn aber bereits von einem größeren Haufen Bewaffneter versperrt. Da griff Livia von links an, während Vatrenus und Demetrios versuchten, die Männer mit tödlichen Hieben von der Treppe wegzulocken, damit sich Aurelius den Weg zur oberen Terrasse bahnen konnte. Ambrosinus hatte sich gegen die Wand gepreßt und hielt Romulus fest an sich gedrückt. Der Erzieher war düsterster Stimmung, denn das Unternehmen war bereits zu Beginn in Gefahr. Aurelius führte einen weiteren Hieb aus, aber sein Gegner wich diesem aus, und das Schwert des Römers zerbrach am Stützpfeiler der Treppe. Als Aurelius begann, sich, so gut er konnte, mit dem Dolch zu verteidigen, zögerte Romulus keinen Moment, sondern warf ihm, nachdem er sich aus Ambrosinus Umklammerung gerissen hatte, sein Schwert zu und rief: »Versuch es mit diesem hier!«

Die sagenhafte Waffe flog, leuchtend wie ein Blitz in der Nacht, auf Aurelius Hand zu, die sich streckte, um sie aufzufangen. Jetzt lag sie fest in seiner Faust und begann sofort, alles um ihn herum unerbittlich niederzumähen.

Nichts konnte ihr Widerstand entgegensetzen: Ganze Kaskaden von Funken sprühten beim Zusammenstoß mit Schilden und Streitäxten. Das Schwert schnitt Helme entzwei und drang in Schädel ein, als handele es sich um dieselbe Materie, und als es auf den Pfeiler niedersauste, regnete mit scharfem, ohrenbetäubendem Lärm eine Ladung glühender Splitter herab. Der erstaunte und entsetzte Rest der Barbaren wurde überwältigt, und sofort zog Livia Romulus und Ambrosinus die Treppe hinauf, die nun durch kein Hindernis mehr verstellt war. Aurelius blieb bis zuletzt, um seinen Kameraden Deckung zu geben, und in dieser Position, inmitten eines Haufens lebloser Leiber, mit der glänzenden und bluttriefenden Waffe in der Hand, sah ihn Wulfila. Zwischen den beiden Kriegern kam es zu nicht mehr als einem blitzartigen Austausch von Blicken, und schon war Aurelius verschwunden und schloß sich seinen Gefährten auf der oberen Terrasse an. Ehe die Verfolger sie einholen konnten, versperrten und verrammelten sie die massive, mit Eisen verstärkte Tür hinter sich. Wulfila, der eine Sekunde zu spät kam, warf sich dagegen und trommelte, ohnmächtig und vor Wut schäumend, mit den Fäusten auf sie ein. Er rief: »Schnell! Zur östlichen Rampe! Sie kommen nicht davon!« Die Flüchtenden stürzten die Treppe hinunter und stießen dabei auf eine weitere Gruppe von Soldaten, die in diesem Augenblick herbeieilte und die von Wulfilas Stellvertreter angeführt wurde.

»He, ihr da, zur Außentreppe der Lagerräume! Los, wir fangen sie ab!« befahl er. Die Männer gehorchten, rannten in die entgegengesetzte Richtung und verschwanden am Ende des Korridors.

Auf der oberen Terrasse liefen Aurelius und seine Kameraden zur Brüstung, wo Orosius sie schon sehnsüchtig erwartete und ihnen den einzigen Fluchtweg sicherte.

»Zuerst der Junge!« befahl Aurelius. Orosius beugte sich über die Brüstung und schrie aus voller Kehle, um das Getöse des Sturms und der Flutwellen zu übertönen. Batiatus hörte ihn unten und machte sich bereit, die Flüchtenden in Empfang zu nehmen. Unterdessen bildeten Demetrios, Vatrenus und die anderen einen Halbkreis um Romulus, der sich auf den Abstieg vorbereitete. Der Junge blickte in die Tiefe und spürte, wie sich ihm das Herz zusammen-krampfte: Aus dieser Entfernung glänzte die Felswand wie Stahl, und unten, zwischen den scharfkantigen Klippen, wirbelte und schäumte es wild, und das von den Wogen geschüttelte Boot sah aus wie eine zerbrechliche Nußschale. Romulus atmete tief ein, während Orosius versuchte, ihn mit einem behelfsmäßigen Halteseil am Abstiegsseil festzubinden, doch in diesem Augenblick sah Livia, die auf eine Auskragung der Brüstung geklettert war, in der Ferne von rechts und von links Wulfilas Männer näher kommen, und schlug Alarm.

»Die Krüge!« rief sie, sobald sie wieder auf den Boden gesprungen war. »Werfen wir uns gegen die Krüge! Der erste und der dritte sind voller Öl!« Die Kameraden eilten herbei, und auch Orosius ließ das Seil fallen, um mitzuhelfen. Sie kippten die beiden großen Gefäße nacheinander um und ließen sie in entgegengesetzte Richtungen rollen. Auf diese Weise sich selbst überlassen, kullerten die beiden Behälter nach rechts und nach links, prallten zuerst gegen die Brüstung und dann gegen die Innenmauer, bis sie nach einem heftigeren Stoß zerbrachen, und sofort ergoß sich ein Schwall glänzenden Öls, der sich in Richtung der beiden in vollem Lauf begriffenen Gruppen ausbreitete. Die ersten rutschten aus und fielen zu Boden, dabei setzten die Fackeln, die sie in der Hand hielten, die Flüssigkeit in Brand und ließen an beiden Enden der Terrasse ganze Flammenwirbel auflodern. Einige der in menschliche Fackeln verwandelten Soldaten sprangen ins Meer und versanken in den Fluten, andere stürzten sich auf die Klippen, und ihre Körper hüpften von einem Felszacken zum anderen und zerschellten schließlich zwischen den Felsen wie aus dem Leim gegangene Marionetten. Doch schon liefen andere zur Verstärkung herbei, und Aurelius begriff, daß nichts anderes übrigblieb, als bis zuletzt zu kämpfen. Er biß die Zähne zusammen und umklammerte das Schwert, das ihm sein Kaiser anvertraut hatte. Er würde es, bevor er starb, mit dem letzten Funken Kraft ins Meer schleudern, damit es nicht in die Hand der Feinde fallen konnte. Doch während sich die fünf in einer Reihe aufstellten, rüttelte sich Romulus, einer plötzlichen Eingebung folgend, auf. »Kommt mir nach!« rief er. »Ich kenne einen Fluchtweg!« Und er lief zu der kleinen eisenbeschlagenen Tür und schob den Riegel auf.

Aurelius war klar, was er vorhatte, beugte sich über die Brüstung, schrie Batiatus etwas zu und erklärte ihm mit weit ausholenden Gesten, daß er die Leinen losmachen und das Weite suchen sollte, dann warf er das Seil hinunter, weil er keinen Zweifel hatte, daß sie von hier aus nicht mehr nach unten klettern würden. Anschließend rannte er zur Tür und stürzte seinen Gefährten hinterher, dieselbe Treppe hinunter, über die sie kurz zuvor hinaufgegangen waren. Der Sturm ließ unterdessen nach, aber in der Ferne hörte man immer stärker das Grollen des Vulkans, der seinen Zorn noch in seinem Inneren verbarg.

Sie gelangten in den Hof und hielten sich dabei stets dicht an der nördlichen Mauer, die im Dunkeln lag, und dann fand Romulus die Allee, die den Flüchtenden Schutz bot bis zu der Stelle, an der das Abflußgitter den Zugang zu dem unterirdischen Geheimgang ermöglichte. Romulus öffnete es und winkte den anderen, ihm zu folgen, während er sich schon nach unten ließ.

»Wie gut, daß Batiatus nicht dabei ist«, sagte Vatrenus. »Hier wäre er niemals durchgekommen.«

Sie begannen, der Reihe nach hinabzusteigen, doch einer der Diener, den dieses ganze Tohuwabohu aufgeweckt hatte, fing zu brüllen an. Ihm antwortete das wütende Gebell der Hunde, und schon lief eine Gruppe Wachen mit Fackeln und Laternen herbei, um die ganze Umgebung abzusuchen.

»Wo sind diese Eindringlinge?« fragte der Mann, der sie anführte.

Der Diener wußte nicht, was er sagen sollte. »Aber ich schwöre euch, daß sie gerade erst hier waren! Ich habe sie gesehen, ganz bestimmt!«

Unter dem Abflußgitter verharrten alle regungslos, weil die Verfolger genau über ihnen standen und man deutlich ihre von den Laternen erleuchteten Gesichter erkennen konnte.

»Und jetzt?« beharrte der Anführer der Wachen. Der Mann zuckte die Achseln, während die Hunde immer noch jaulend hin und her liefen. Da versetzte ihm der Barbar laut fluchend einen so heftigen Stoß, daß er nach hinten fiel, und führte seine Männer anderswohin, wo weitere Gruppen die Suche fortsetzten. Romulus hob das Gitter ein wenig an und lugte nach draußen, um sich zu vergewissern, daß sie wirklich abgezogen waren, und begann dann, sich auf den Boden des Geheimgangs herunterzulassen, alle anderen folgten ihm. Der unterirdische Gang war in vollkommenes Dunkel getaucht, doch Ambrosinus zog seinen Zündstein hervor, und nach einigen Versuchen gelang es ihm, einen Docht anzuzünden, den er aufgerollt in einem Gefäß hielt, das mit einer schwärzlichen, talgähnlichen Substanz gefüllt war. Das flackernde Flämmchen entwickelte sich schon bald zu einer kleinen grellweißen Lichtkugel, die sie durch die imposante Reihe kaiserlicher Standbilder bis zu der großen Platte aus grünem Marmor führte. Aurelius und die anderen waren überwältigt vor Staunen sowohl über Ambrosinus wundersame Flamme als auch über diesen unglaublichen Aufmarsch von Cäsaren, die im Prunk ihrer paludamenta, der prächtigen Überwurfmäntel, und ihrer Rüstungen dargestellt waren.

»Ihr Götter ...!« murmelte Vatrenus, »in meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nicht gesehen.«

»Herrgott ...«, pflichtete ihm Orosius bei, der diese Wunderwerke mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.

»Er ist es gewesen, der das entdeckt hat!« sagte Ambrosinus stolz und deutete auf seinen Schüler, der sich gerade der großen grünen Marmorplatte näherte. Romulus drehte sich zu Aurelius um und sagte: »Und dabei habt ihr noch gar nichts gesehen. Von hier nun kommt das Schwert, das du in Händen hältst. Schau her!«

Er legte die Finger auf die drei V und drückte mit ganzer Kraft dagegen. Man hörte das Geräusch der Gegengewichte und des Mechanismus, der sich in Bewegung setzte, und unter den immer ver-wunderteren Blicken seiner Begleiter begann sich die große Platte um sich selbst zu drehen, bis, aufrecht auf ihrem Sockel stehend, die Statue Julius Cäsars erschien, prachtvoll in der silbernen Rüstung und den verschiedenfarbigen Marmorarten, die den Purpur der Tunika und des Mantels nachahmten, und dem bleichen und griesgrämigen Gesicht, das ein großer Künstler aus dem kostbarsten Marmor der Apuanischen Alpen gemeißelt hatte. Doch das wortlose Staunen der kleinen Gruppe wurde von Demetrios unterbrochen, der plötzlich Alarm schlug. »Sie haben uns entdeckt!« schrie er. »Sie haben das Licht gesehen!«

Am Ende des langen Geheimgangs sah man tatsächlich den Schein von Fackeln, und sogleich hörte man Schreie und Rufen: Wulfila höchstpersönlich führte seine Wachen durch den Schutt nach unten und dann an der Reihe der kaiserlichen Statuen entlang.

»Schnell, schnell!« sagte Romulus. »Es gibt einen Fluchtweg in dieser Zelle!« Die Gruppe verschwand im Inneren, und die große Platte schob sich hinter ihnen wieder zu. Sofort hallte der Hohlraum des kleinen Hypogäums vom Geklirr der Waffen, die gegen den Marmor stießen, und dem Wutgeheul Wulfilas wider, und obwohl der große Monolith so stark war, daß er einen unüberwindlichen Schutz darstellte, erfüllte das Dröhnen der Hiebe dieser unbändigen Wut den engen Raum mit einem Gefühl der Bangigkeit, verdichtete sich in dieser unbewegten Luft eine ohnmächtige, aber dennoch schreckliche, unmittelbare Bedrohung. Einen Moment lang blickten sie einander bestürzt an, doch schon zeigte Romulus ihnen den Brunnenrand, von dem ein so geheimnisvolles bläuliches Leuchten ausging, als halte diese Öffnung Kontakt mit dem Jenseits.

»Dieser Brunnen ist mit dem Meer verbunden«, sagte Romulus dann, »und bietet den einzigen Ausweg. Gehen wir! Hier gibt es nichts, was wir noch tun könnten.« Und vor den Augen aller seiner Begleiter stieg er, bevor irgend jemand Zeit hatte, auch nur ein einziges Wort zu sagen, in den Brunnen. Aurelius zögerte keinen Augenblick und stürzte hinter ihm her. Gleich darauf warf sich Livia hinein, und nach ihr Demetrios, Orosius und Vatrenus. Ambrosinus war der letzte, und er hatte zunächst den Eindruck, daß das lange Rutschen auf einer Art schiefer Ebene und dann der senkrechte Fall durch eine enge Röhre niemals enden würden. Die Berührung mit dem Wasser löste in ihm Panik und Platzangst aus, aber dann, gleich danach, durchströmte ihn ein Gefühl des Friedens. Er spürte, daß er sanft in einer blubbernden Flüssigkeit, umgeben von einem himmlischen und pulsierenden Licht, dahintrieb. Die Lampe, die er fest in der Hand hielt, entglitt ihm und ging langsam unter, bis sie auf dem Grund liegenblieb, und dann ließ diese leuchtende Kugel das ganze Wasser in einem intensiven und strahlenden Saphirblau erscheinen. Ambrosinus tauchte zwischen seinen Gefährten auf, die gerade versuchten, zum Ufer zu gelangen. Sie befanden sich inmitten einer Grotte, die über eine kleine Öffnung, die so knapp über der Wasseroberfläche lag, daß man sie kaum sah, mit dem Meer verbunden war. Aurelius und die anderen betrachteten verblüfft die unter Wasser brennende Flamme, während der alte Lehrer, nicht minder staunend, um sich blickte. Vatrenus wandte sich an ihn und deutete auf das Licht, das vom Meeresboden selbst auszustrahlen schien. »Aber ... was ist denn das für ein Wunderwerk? Bist du vielleicht ein Zauberer?« fragte er.

»Das ist griechisches Feuer, ein Rezept von Hermogenes aus Lampsakos«, erwiderte Ambrosinus mit betonter Gleichgültigkeit. »Es brennt auch unter Wasser.« Aber er ließ seinen Blick rundum schweifen, um die großartigen Skulpturen der olympischen Götter zu betrachten, die ganz oder teilweise aus dem Wasser der Meeresgrotte ragten: Neptun auf einem von Pferden mit Fischschwänzen gezogenen Wagen, seine Gemahlin Amphrotite mit einem Gefolge von Meeresnymphen und Tritonen, die in Muscheln bliesen und dabei ihre mit Schuppen bedeckte Brust aufblähten. Das unwirkliche Licht, das sich durch die Wellenbewegung auf den Figuren widerspiegelte, schien diesen Leben einzuhauchen, ihre Gesichter und starren Augen aus Marmor zu beleben. Ein altes Nymphäum, geheim und verlassen.

Auch Romulus betrachtete entzückt diese Bilder. »Wer sind sie?« fragte er.

»In Vergessenheit geratene Götter«, erwiderte Ambrosinus.

»Aber ... haben sie je existiert?«

»Natürlich nicht!« protestierte Orosius entrüstet. »Es gibt nur einen Gott!«

Ambrosinus warf ihm dagegen einen rätselhaften Blick zu. »Vielleicht«, antwortete er Romulus. »Solange jemand an sie geglaubt hat.«

Darauf folgte ein langes Schweigen: Alle schienen von der Magie des Ortes überwältigt zu sein. Dieses blaue Licht, das das hohe Felsengewölbe zurückwarf, diese Bilder, das ferne Rollen des Donners, der mächtige Atem des Meeres, das nach dem Sturm langsam wieder seine Wellen glattstrich - dies alles erfüllte sie mit einem Gefühl einer fast überirdischen Ruhe. Sie zitterten vor Kälte und waren erschöpft von den Strapazen, von den übermenschlichen Anstrengungen, die sie hatten auf sich nehmen müssen, und dennoch spürten sie in ihren Herzen ein unsägliches Glücksgefühl.

Romulus unterbrach als erster das Schweigen. »Sind wir jetzt frei?« fragte er.

»Im Augenblick, ja«, antwortete Ambrosinus. »Wir befinden uns noch auf der Insel. Aber ohne dich wären wir schon alle tot. Du hast dich wie ein wirklicher Führer verhalten.«

»Und was machen wir jetzt?« fragte Vatrenus. »Batiatus hat mitbekommen, daß wir nicht herunterklettern konnten, und wird losgesegelt sein. Wahrscheinlich kreuzt er hier irgendwo herum. Wir müssen versuchen, ihn zu erreichen, oder dafür sorgen, daß er uns erreicht.«

»Ich gehe und schau einmal nach«, sagte Livia. »Du bleibst hier mit dem Jungen.« Und ehe Aurehus antworten konnte, tauchte sie ins Wasser, durchquerte mit ein paar kräftigen Zügen die Grotte und schwamm ins offene Meer hinaus. Dort hielt sie sich eine Weile parallel zur Küste, bis sie eine Stelle fand, wo es möglich war, auf den Felsen zu klettern. Sie stieg so hoch hinauf wie möglich, so daß sie eine große Fläche überblicken konnte, und wartete dort, vor Kälte zitternd. Die Wolken begannen aufzureißen, und der Mond warf sein Licht auf die Wellen; auf dem Festland schleuderte der Vesuv rote Blitze gegen die Wolken, die, vom Westwind getrieben, über den Himmel jagten.

Plötzlich fuhr sie hoch: Hinter einem Vorgebirge tauchte ein Boot mit einer kleinen Laterne am Bug auf. Im Heck bediente eine unverwechselbare Silhouette das Steuer. Sie schrie: »Batiatus! Batiatus!«

Das Schiff wendete und fuhr dicht an der Küste entlang.

»Wo bist du?« rief der schwarze Riese.

»Hier, hier!«

»Endlich!« sagte Batiatus, sobald er näher gekommen war. »Ich hatte schon beinahe die Hoffnung aufgegeben. Seid ihr alle beisammen?«

»Ja, Gott sei Dank. Die anderen halten sich hier drinnen versteckt, in einer Grotte. Gleich hole ich sie heraus.«

Batiatus stellte das Segel in den Wind, während Livia wieder ins Wasser tauchte und zur Grotte hinüberschwamm, um ihren Gefährten Bescheid zu geben.

Die Flüchtlinge sprangen, einer nach dem anderen, ins Wasser und schwammen ins offene Meer hinaus und auf das Boot zu, während Batiatus sie anspornte: »Schnell, schnell! Ich habe vorhin schon ein Schiff aus dem Hafen ausfahren sehen. Schnell, bevor sie uns entdecken!«

Livia war als erste an Romulus Seite, und zusammen kletterten sie mit Batiatus Hilfe an Bord. Dann war Ambrosinus an der Reihe. Ihm folgten Vatrenus, Orosius und Demetrios. Aurelius hatte einen der Felsen erklommen, um sich einen besseren Überblick über die Lage zu verschaffen, als er sah, daß sich links von ihm ein rötlicher Schein auf den Wellen ausbreitete und dann ein mit Ruderkraft angetriebenes Kriegsschiff erschien. Wulfila stand im Bug und steuerte auf Batiatus Boot zu. Aurehus zögerte nicht und schrie aus voller Kehle: »Wulfila, ich erwarte dich! Komm her und hol mich, du Barbar, wenn du den Mut dazu hast! Du verdammter Kerl mit deiner Narbe, komm nur her und hol mich!«

Wulfila drehte sich zur Küste um und sah im Schein der - Buglaterne und der Fackeln seinen Feind aufrecht auf einem Felsen stehen, in der Hand das unbezwingbare Schwert. Wulfila brüllte: »Wenden! Wenden! Ich will diesen Mann, und ich will dieses Schwert, und zwar um jeden Preis!«

Batiatus begriff, segelte mit dem Wind und fuhr weiter in Richtung Festland, während Romulus ausrief: »Nein! Nein! Wir müssen ihm helfen! Wir dürfen ihn nicht im Stich lassen! Kehr um, kehr um, ich befehle es dir!«

Livia trat an ihn heran. »Willst du, daß er sich vergeblich opfert? Er hat es für dich getan. Er hat ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, damit wir uns entfernen können.« Sie drehte sich zur Insel um, und das Bild des aufrecht im Licht der Fackeln am Ufer stehenden Aurelius vermischte sich mit einem anderen aus weiter Vergangenheit, nämlich dem eines römischen Soldaten, der, von einem Barbarenhaufen bedroht, regungslos am Ufer steht, hinter sich eine brennende Stadt. Sie sah sich selbst wieder, als kleines Mädchen, auf einem Schiff, beladen mit Flüchtlingen, das auf den schwarzen Wellen der Lagune ebenso davonglitt wie jetzt dieses Boot.

Sie weinte.

XVIII

Wulfila befahl, die Buglaterne höher zu heben, und die Mannschaft gehorchte und leuchtete das vor dem Schiff liegende felsige Ufer ab, wo Aurelius regungslos und mit dem Schwert in der Hand wartete.

Einige von Wulfilas Männern machten ihre Bogen schußbereit und nahmen Aurelius aufs Korn, weil sie glaubten, ihr Kommandant hätte diese bereits leichte Zielscheibe nur noch etwas besser beleuchten wollen, aber Wulfila gebot ihnen Einhalt. »Runter mit den Bogen! Ich habe euch doch gesagt, daß ich dieses Schwert haben will! Wenn das ins Meer fällt, finden wir es niemals wieder. Anlegen!« schrie er dann dem Steuermann zu. »Anlegen, hab ich gesagt! Wir müssen ihn lebend kriegen!«

Aus der Ferne beobachtete Vatrenus die Szene, aber er ahnte eher, was gerade vor sich ging, als daß er es tatsächlich sah.

»In den Wind!« befahl er Batiatus. Livia zuckte bei seinen Worten zusammen und trocknete sich die Augen, weil sie aus diesem unerwarteten Befehl eine Hoffnung heraushörte.

Batiatus gehorchte, ohne zu begreifen, und das Boot verlangsamte seine Fahrt, bis es zum Stehen kam.

»Warum machen wir halt?« fragte sie.

»Weil Aurelius sie auf die Klippen lockt«, erwiderte Vatrenus. »Hast du das denn nicht verstanden?«

»Steuerbord!« erscholl Demetrios' Stimme vom Bug.

Da sahen sie, daß sich ihnen ein zweites, kleineres, mit Soldaten beladenes Schiff näherte, an dessen Bordwänden und Rudern Fackeln und Laternen brannten. Es war zwar nur ein paar Meilen entfernt, kam aber ziemlich langsam voran.

»Was machen wir jetzt?« fragte Demetrios. »Gleich werden sie uns entdecken und auf uns zusteuern.«

»Warten wir!« rief Romulus aus. »Warten wir, so lange wir können, ich bitte euch!«

In diesem Augenblick dröhnte das Krachen von splitterndem Holz, das gegen die Felsen geprallt war, über die Meeresfläche, wurde aber sofort übertönt von dem viel lauteren Getöse des Vulkans, der soeben anfing, eine Wolke aus Feuer und Funken zum Himmel zu schleudern. In seiner Ungeduld, zu seinem Feind zu gelangen, hatte Wulfila nicht gezögert, den Bug seines Schiffes auf die Felsen zu setzen, und nun hoben die Wellen das Heck hoch und ließen alle Mann quer über das Schiffsdeck rollen. Während sie fluchend versuchten, sich an der Reling festzuhalten, war auch Wulfila bemüht, sein Gleichgewicht wiederzufinden, um sich dann erneut auf seinen Gegner zu werfen. Aber Aurelius sprang ins Wasser und verschwand.

Es wurde immer finsterer, und auf das Deck des Bootes, in dem sich Livia und ihre Leute befanden, regnete Asche herab, und schon bald prasselten glühende Lavabröckchen vom Himmel.

»Jetzt müssen wir aber fort von hier«, sagte Ambrosinus, »sonst ist es zu spät: Der Vulkan erreicht jetzt die explosivste Phase seiner Eruption. Wenn uns die Barbaren nicht einholen, werden diese glühenden Lapilli unser Schiff in Brand setzen, und das heißt, daß wir dann alle untergehen.«

»Nein!« rief Romulus. »Warten wir noch!« Und mit sehnsüchtigem Blick suchte er die dunkle Oberfläche des Meeres ab, während das feindliche Schiff sich immer mehr zwischen ihr Boot und Wulfilas Wrack schob, das bereits völlig den Sturzwellen ausgeliefert war. Der Lavaregen nahm noch an Starke zu, und einige kleine Feuerherde begannen, sich nahe von Livia und ihren Seilrollen auszubreiten. Das feindliche Schiff war noch nicht in einer Position, von der aus es Wulfilas von den Wogen zermalmtes Schiff sehen konnte, hätte aber in jedem Moment ihr Boot sichten können.

»Wie viele mögen das sein?« fragte Orosius und blickte besorgt hinüber, und just in diesem Augenblick drängte sich der feindliche Pöbel im Bug seines Schiffs zusammen und begann brüllend mit den Waffen herumzufuchteln.

»Ziemlich viele«, erwiderte Vatrenus düster. Er wandte sich an Livia: »Wenn du den Knaben retten willst, müssen wir jetzt verschwinden!« Livia nickte schweren Herzens.

»Hart am Wind!« befahl daraufhin Vatrenus. »Schnell, nichts wie weg von hier!«

Batiatus bediente die Leine mit Hilfe von Demetrios, der sich zum Ruder begeben hatte, und sie nahmen langsam Fahrt auf. Da tauchte plötzlich aus den Wellen, aus einem tosenden Schaumwirbel, ein Schwert auf, dann ein muskulöser Arm, der im Schein der Fackeln glänzte, daraufhin ein Kopf und schließlich eine starke Männerbrust - Aurelius!

»Aurelius!« rief Romulus, außer sich vor Aufregung.

»Er ist es!« schrien seine Kameraden und stürzten zur Reling. Vatrenus warf ihm ein Tau zu und zog ihn an Bord. Aurelius war so erschöpft, daß nur die Umarmung seiner Gefährten ihn daran hinderte, entkräftet an Deck zusammenzusinken. Livia lief ihm entgegen und drückte ihn, einer Ohnmacht nahe, an sich, und auch Romulus ging zu ihm und starrte ihn immer noch an, als könne er nicht glauben, daß er unversehrt war - so, als wäre diese unwirkliche Atmosphäre ein trügerischer Traum, der sich mit der Rückkehr des Tageslichts in nichts auflösen müßte.

Der dichte Nebel, den der Vulkan ausgespuckt hatte, verbreitete sich jetzt über das Meer und trieb über den Wellen dahin, bis er die Ufer der Insel streifte. Livias Boot tauchte in diesen Nebel ein und verschwand aus dem Blickfeld. Da hörten die Verfolger die Schreie ihrer Kameraden, die vor der Küste zwischen den Trümmern ihres Schiffes im Wasser zappelten. Wulfila war es inzwischen gelungen, auf die Klippen zu steigen, und er forderte sie brüllend auf, ihm zu Hilfe zu kommen. Das Schiff näherte sich, hielt aber vorsichtig einen gewissen Abstand, um nicht selbst zu havarieren. Dann sprangen die Schiffbrüchigen ins Wasser und kraxelten schließlich der Reihe nach an Bord. Nachdem auch Wulfila in das Schiff geklettert war, gab er sofort Befehl, den Flüchtigen nachzusetzen, aber der Steuermann, ein alter Seebär aus Capri, der sich in diesen Gewässern auskannte, redete ihm das aus: »Wenn wir den Bug in Richtung See stellen, wird keiner von uns hier lebend herauskommen. Man sieht die Hand vor Augen nicht, und außerdem regnet es Feuer. Schau doch nur!«

Wulfila blickte in Richtung Festland, auf den schwarzen Himmel, über den eine Unmenge rotglühender Geschosse flogen, und er spürte, daß seine Männer langsam Angst bekamen; es waren Leute aus dem Norden, die noch nie etwas Derartiges gesehen hatten. Er biß sich auf die Lippen bei dem Gedanken, daß er ein Kind von dreizehn Jahren und einen alten Mann aus einer Festung hatte entkommen lassen, die von siebzig vorzüglichen Soldaten bewacht wurde. Was ihn aber am meisten schmerzte, war der Verlust dieses phantastischen Schwertes, das er mit aller Macht begehrte, seit er es zum ersten Mal mit seinem unmerklichen Leuchten in der Hand seines Feindes hatte funkeln sehen.

»Zurück in den Hafen!« befahl er, und das Schiff wendete und änderte den Kurs. Die Seeleute, allesamt Einheimische, ruderten kräftig, weil sie die Gefahr, die ihnen drohte, gut kannten, doch sie folgten ruhig und diszipliniert den Anweisungen ihres Steuermanns. Die Barbaren dagegen waren bereits in Panik und betrachteten bleich und zitternd vor Angst den höllischen Regen, der vom Himmel fiel, und zuckten bei jedem Getöse zusammen. Wo immer sich der Nebel ausbreitete, erfüllte ein strenger Schwefelgeruch die Luft, und in Richtung Festland bebte der Horizont von blutroten Blitzen.

Unterdessen kam Livias Boot in der Dunkelheit allmählich voran. Demetrios war auf die Spitze des Vordermasts geklettert, an dem die Laterne hing, wo er forschend nach vorn blickte und versuchte, Gefahren oder plötzlich auftauchenden Hindernissen auszuweichen, doch unter diesen grauenhaften Umständen blieb ihr gemeinsames Schicksal in erster Linie dem Zufall überlassen. Die Spannung an Bord war mit Händen zu greifen. Niemand sagte ein Wort, um die Kameraden nicht abzulenken, die sich auf die Manöver dieser Fahrt konzentrierten, welche sie fast auf gut Glück durchführten. Demetrios, der auf dem Bugspriet saß und die Beine über Bord baumeln ließ, versuchte so gut wie möglich Kurs zu halten und verließ sich dabei mehr auf seinen Instinkt als auf irgendeinen seiner Sinne. Ambrosinus wandte sich an Vatrenus und fragte: »Wohin fahren wir eigentlich?«

»Wer soll das wissen? Nach Norden, nehme ich an. Das ist die einzige Möglichkeit, die uns bleibt.«

»Vielleicht könnte ich euch helfen ... Wenn bloß ...« Vatrenus schüttelte skeptisch den Kopf. »Laß es gut sein. Wir sind selber schon genug verwirrt. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Und dennoch ist es schon einmal passiert. Vor vierhundert Jahren. Der Vulkan verschüttete drei Städte samt ihren Bewohnern. Von ihnen ist keine Spur geblieben, aber Plinius hat die eruptiven Phasen des Vulkans ganz genau geschildert. Deswegen habe ich euch diese Nacht vorgeschlagen ... Ich hatte geglaubt, daß sich unsere Flucht in dem allgemeinen Durcheinander einfacher gestalten würde. Leider habe ich mich geirrt: Die explosive Phase hat einige Stunden später eingesetzt, als ich vorherberechnet hatte.« Vatrenus starrte ihn verdattert an.

Aurelius, der sich inzwischen wieder erholt hatte, gesellte sich zu ihnen. »Inwiefern wolltest du uns helfen?« fragte er Ambrosinus. Dieser holte gerade zu einer Antwort aus, da ertönte vom Bug her Demetrios' Stimme: »Schaut euch das einmal an!«

Die Wolke begann sich zu lichten, und vor ihnen kündigte ein fast unmerkliches Schimmern auf den Wellen das erste Licht des neuen Morgens an. Sie umrundeten das Kap von Miseno, das jetzt die Spitze über die Wolke aus Rauch und Asche reckte, die über dem Meer lag, und das Licht der aufgehenden Sonne fiel auf seinen Gipfel. Alle starrten wie gebannt auf diese plötzliche Erscheinung, während der Nebel immer weiter aufriß, bis das Boot und seine Besatzung schließlich voll von der Sonne bestrahlt wurden, die jetzt von den Gipfeln der Lattariberge herunter schien.

Die Nacht lag hinter ihnen mit all ihren Schrecken, der Beklemmung, den Mühen ihrer beschwerlichen Flucht, mit der ständigen und unerbittlichen Verfolgung und der Angst, daß sich die Hoffnung beim ersten Licht des Tages verflüchtigen würde wie ein trügerischer Traum. Die Sonne strahlte über ihnen wie eine wohlwollende Gottheit, das Rumoren des Vulkans verlor sich in der Ferne wie das letzte Grummeln eines Gewitters, und das Blau des Meeres und des Himmels vermischte sich zu einem einzigen Triumph des Lichts, der Luft und der intensiven Düfte, die der Wind vom Festland herüberwehte.

Romulus wandte sich an seinen Lehrer. »Sind wir jetzt frei?«

Ambrosinus hätte ihm gern erklärt, daß die Gefahren noch nicht ganz gebannt waren, daß ihnen noch eine Reise bevorstand, die wahrscheinlich voller Wechselfälle und Hindernisse sein würde, aber er brachte es nicht über das Herz, die Freude zu trüben, die er zum ersten Mal nach so langer Zeit in den Augen des Jungen glänzen sah. So antwortete er, nur mühsam die Erregung beherrschend, die in seiner Stimme zitterte: »Ja, mein Kind, wir sind frei.«

Romulus nickte mehrmals, als wolle er sich vergewissern, daß diese Worte der Wahrheit entsprachen, dann trat er zu Aurelius und Livia, die ihn aus einiger Entfernung betrachtet hatten, und sagte mit leiser Stimme: »Danke.«

Das Boot landete an einem verlassenen Abschnitt der Küste in der Nähe einer Meeresvilla, etwa dreißig Meilen nördlich von Cumae. Livia sprang ins Wasser und eilte allen voran auf das Festland, um zu zeigen, daß das Kommando des Unternehmens immer noch fest in ihren Händen lag.

»Versenkt das Boot!« rief sie Aurelius zu. »Und dann kommt mir nach! Dorthin, aber schnell!« Und sie zeigte auf ein verfallenes Haus, das hinter einem Baumdickicht kaum zu erkennen war, obwohl es nicht einmal eine Meile entfernt lag. Aurelius half Romulus, ins Wasser zu steigen, während Batiatus und Demetrios unter Ambrosinus besorgtem Blick zu den Äxten griffen.

»Aber warum denn?« fragte er. »Warum versenkt ihr das Schiff? Es ist in diesen Zeiten das sicherste Transportmittel. Laßt das sein, ich bitte euch! Hört auf mich!«

Livia bemerkte die Verzögerung und kehrte um. »Ich habe euch gesagt, daß ihr mir folgen sollt! Wir haben keine Minute zu verlieren! Sie können uns jeden Moment auf den Leib rücken. Dieser Junge hier ist die meistgesuchte Person im ganzen Reich. Ist dir das denn noch immer nicht klar?«

»Doch, natürlich«, erwiderte Ambrosinus. »Aber das Schiff ist das sicherste Transportmittel und ...«

»Keine Diskussionen! Ihr kommt mir nach und basta, und zwar schnell!« befahl Livia mit barscher und gebieterischer Stimme. Ambrosinus folgte ihr schweren Herzens, drehte sich aber mehrmals um und betrachtete das Boot, das zu sinken begann. Orosius war schon von Bord gegangen, Demetrios folgte ihm, und gleich danach sprangen auch Aurelius, Vatrenus und Batiatus an Land und rannten der Reihe nach hinter der kleinen Gruppe her, die Livia, im Dickicht des Küstenbuschwalds, von dem die ganze Gegend bedeckt war, in Sicherheit brachte.

»Ich kann es immer noch nicht glauben«, keuchte Vatrenus. »Zu sechst haben wir siebzig Wachen übertölpelt, die sich in einer solchen Festung verschanzt hatten!«

»Wie in den alten Zeiten!« jubelte Batiatus. »Aber mit einem angenehmen Unterschied«, fügte er hinzu und zwinkerte Livia zu, die ihm als Erwiderung zulächelte.

»Ich kann es kaum abwarten, alle diese schönen Goldmünzen zu zählen«, setzte Vatrenus noch hinzu. »Tausend Solidi, hast du gesagt. Das war doch richtig, oder?«

»Und ob!« bestätigte Aurelius. »Aber denk daran, daß wir sie uns noch nicht verdient haben. Zuvor müssen wir ganz Italien, von der einen zur anderen Seite, durchqueren, bis zu dem Ort, an dem dann vereinbarungsgemäß die Übergabe stattfinden wird.«

»Und wo ist dieser Ort?« fragte Vatrenus.

»Es ist ein Hafen an der adriatischen Küste, wo ein Schiff auf uns wartet. Dort wird der Junge in Sicherheit sein, und wir bekommen einen Haufen Geld.«

Livia blieb vor dem Haus stehen und kundschaftete dann die Ruine vorsichtig aus, wobei sie den Bogen mit dem abschußbereiten Pfeil vor der Brust hielt. Plötzlich hörte sie ein gedämpftes Schnauben und sah sechs Pferde und einen Maulesel, die über ihre Zügel an einem durch zwei Eisengitter geführten Seil aneinandergebunden waren. Unter ihnen erkannte sie sofort Juba, der zu stampfen begann, sobald er den Geruch seines Herrn witterte.

»Juba!« rief Aurelius und lief auf ihn zu, um ihn loszubinden. Er umarmte ihn wie einen alten Freund.

»Na, bist du zufrieden?« fragte Livia. »Eustasius hat gute Arbeit geleistet: Stephanus hat in dieser Gegend wirklich erstklassige Kontaktleute! Alles läuft wie geschmiert.«

»Ich bin sehr froh«, antwortete Aurelius. »Auf der ganzen Welt gibt es kein besseres Pferd als Juba.«

Da kam Ambrosinus nach vorn und trat neben Livia, die gerade ihr Pferd losband und sich in den Sattel schwingen wollte. »Ich bin für die Unversehrtheit des Kaisers verantwortlich«, sagte er und blickte sie fest an, »und glaube, erfahren zu dürfen, wohin ihr ihn bringt.«

»Ich bin es, die für die Unversehrtheit des Knaben verantwortlich ist - angesichts der Tatsache, daß ich euch beide aus der Gefangenschaft befreit habe. Aber ich verstehe deine Besorgnis. Daß ich nicht aus eigenem Antrieb gehandelt habe, das ist dir klar, nicht wahr? Ich führe nur die Anweisungen aus, die ich erhalten habe. Wir werden den Knaben an die Adria bringen, und von dort wird er Weiterreisen, und zwar an einen Ort, an dem die Barbaren niemals an ihn herankommen werden und wo er eine seiner kaiserlichen Würde entsprechende Heimstatt finden wird ...«

Ambrosinus' Miene verfinsterte sich. »Konstantinopel ... habe ich recht? Ihr wollt ihn nach Konstantinopel bringen ... Das ist eine Schlangengrube, wo beim Kampf um die Macht niemand verschont bleibt, weder Brüder noch Schwestern, noch Eltern, ja nicht einmal die eigenen Kinder ...« Er hatte nicht bemerkt, daß Romulus hinzugetreten und ihm wahrscheinlich kein einziges Wort seiner flammenden Rede entgangen war. Doch es war schon zu spät, und der Junge war sich ohnehin seiner Situation bewußt. Ambrosinus legte ihm eine Hand auf die Schulter und zog ihn an sich, als wolle er ihn vor einer neuen Gefahr beschützen, die nicht geringer war als die, der er bislang ausgesetzt gewesen war. »Dort unten hätte er niemanden, der ihn beschützen könnte«, fuhr er fort. »Er wäre jeder Laune, jeder Willkür ausgeliefert. Laß ihn bei mir, ich bitte dich.«

Livia gelang es nicht, seinem Blick standzuhalten. Sie erwiderte, nicht ohne Unbehagen: »Er ist nicht irgendein Knabe, und das weißt du sehr wohl. Du kannst nicht im Ernst glauben, daß du ihn führen kannst, wohin es dir gefällt, aber ohne uns würdet ihr sowieso nicht weit kommen. Jedenfalls darfst du, wenn du willst, mit ihm gehen. Aber jetzt steigt lieber auf. Reiten wir los! Es ist gefährlich, hierzubleiben, wir sind zu nahe an der Küste.« Sie gab ihrem Pferd die Sporen und ritt den Pfad hinauf, der tiefer ins Dickicht hineinführte.

»Es ist eine Frage des Geldes, nicht wahr? Es geht um die Solidi, oder?« rief Ambrosinus hinter ihr her.

Aurelius legte ihm die Zügel des Maulesels in die Hand. »Rede keine Dummheiten, Lehrer! Hast du eine Vorstellung, was sie ihr angetan hätten, wenn sie sie bei dem Versuch, euch zu befreien, erwischt hätten? Niemand riskiert sein Leben nur des Geldes wegen. Und wir alle haben es riskiert, und zwar gleich mehrmals. Und jetzt los! Hast du verstanden?«

»Kann ich zu dir aufs Pferd steigen?« fragte Romulus Aurelius, aber dieser lehnte ab. »Es ist besser, wenn du mit deinem Lehrer reitest«, sagte er. »Im Fall eines Angriffs müssen wir uns ungehindert bewegen können.« Und er gab seinem Pferd die Sporen. Enttäuscht setzte sich Romulus hinter Ambrosinus, der sein Reittier anspornte und schweigend den Pfad entlangritt; ihnen folgten Vatrenus, Orosius, Demetrios und Batiatus paarweise und in verhaltenem Schritt. Als sie den höchsten Punkt einer Anhöhe erreicht hatten, wandten sie sich zur Küste um: Unter den Strahlen der bereits ziemlich hoch über dem Bergkamm stehenden Sonne glitzerte das Meer, und man konnte deutlich die Umrisse des Bootes erkennen, das in einem leicht wirbelnden Schaum versank. Auf der anderen Seite erhoben die Berge des Apennin ihre schneebedeckten weißen Spitzen über den Wald, über das dunkle Grün der Tannen. Der Weg nach oben wurde steiler, und die Reiter verlangsamten ihr Tempo. Nur Vatrenus gab seinem Pferd die Sporen und schloß sich Livia und Aurelius an, um die Spitzengruppe zu verstärken, die am meisten gefährdet war.

»Eines möchte ich noch gern wissen«, sagte Vatrenus auf einmal, an Livia gewandt.

»Und das wäre?«

»Was ist mit dem Fischer passiert, der die Nordwand hochgeklettert ist, um Kaiser Tiberius eine Languste zu bringen?«

»Der Kaiser hat das nicht besonders gut aufgenommen. Er hat sich geärgert, weil es einem Eindringling gelungen war, seine Villa von einer Seite her zu betreten, die man für unzugänglich gehalten hatte, und er hat seinen Wachen befohlen, dem Fischer mit der Languste wiederholt über das Gesicht zu streichen, bevor sie ihn endgültig vor die Tür setzten.«

Vatrenus kratzte sich den Nacken. »Verflixt. Da ist es uns ja viel besser ergangen.«

»Bis jetzt«, sagte Aurelius.

»Richtig, bis jetzt«, räumte Vatrenus ein.

In einem Abstand von etwa hundert Fuß folgten ihnen Ambrosinus und der Knabe auf dem Rücken ihres Maulesels.

»Glaubst du wirklich, daß sie mich nach Konstantinopel bringen?« fragte Romulus.

»Ich fürchte ja«, antwortete Ambrosinus. »Oder besser: Ich bin mir sicher. Livia hat es nicht abgestritten, als ich das behauptet habe -vielmehr hat sie es in gewisser Hinsicht sogar bestätigt.«

»Und ist das wirklich so fürchterlich?«

Ambrosinus wußte nicht, was er erwidern sollte.

»Sag es mir«, beharrte Romulus. »Ich habe das Recht zu erfahren, was mich erwartet.«

»Tatsache ist, daß ich das auch nicht weiß. Ich kann nur Vermutungen anstellen. Eines aber ist klar: Livia hat von jemandem den Auftrag bekommen, dich aus Capri wegzubringen. Sie ist es, die alles organisiert hat. Die Anwesenheit von Aurelius hat mich anfangs auf die falsche Fährte gelockt, weil ich wußte, daß er schon einmal, in Ravenna, einen Versuch unternommen hatte, dich zu befreien. Es erschien mir deshalb plausibel, daß er es noch ein zweites Mal versuchen könnte. Die Tatsache, daß er das Mädchen bei sich hatte, hat mich nicht so sehr erstaunt. Sie hätte ja seine Braut sein können. Viele Soldaten haben so ein Mädchen, das sie nach Beendigung ihres Militärdienstes normalerweise auch heiraten. Aber ich habe meine Meinung revidieren müssen: Offensichtlich ist sie es, die das Heft in der Hand hat, und folglich ist sie es auch, die über das Geld verfügt, mit dem sie am Ende ausgezahlt werden.«

»Dann stimmt es also, was du gesagt hast ... Sie haben es wegen des Geldes getan.«

»Auch in diesem Fall müßten wir ihnen unbedingt dankbar sein. Aurelius hat recht: Niemand riskiert sein Leben nur um des Geldes willen, aber sicher hilft das Geld etwas nach. Es ist legitim, daß ein Mann versucht, seine eigenen Lebensverhältnisse zu verbessern, vor allem in diesen Zeiten, und sie sind ja Versprengte, Soldaten, die kein Heer und keine Heimat mehr haben.«

»Warum hast du vorhin diese Sachen gesagt? Was könnte mir passieren, wenn ich nach Konstantinopel gehe?«

»Wahrscheinlich nichts. Du würdest im Luxus leben, vielleicht sogar in allzu großem Luxus. Aber du bist immer noch der Kaiser des Westens, und dies birgt in diesen Gegenden auf jeden Fall Gefahren. Jemand könnte dich einfach gegen einen anderen ausspielen, wie man es mit einer Figur in einem Brettspiel tut, verstehst du? Derlei Figuren opfert man manchmal, ohne auch nur einen Augenblick daran zu denken, daß ein späterer Zug einen dem Sieg vielleicht näher gebracht hätte. In einem solchen Fall ginge das leider immer auf deine Kosten. Konstantinopel ist eine korrupte Hauptstadt.«

»Sie sind also auch nicht besser als die Barbaren.«

»Auf dieser Welt hat alles seinen Preis, mein Kind: Wenn ein Volk eine hohe Stufe der Zivilisation erreicht, entwickelt es zugleich auch einen gewissen Grad an Korruption. Die Barbaren sind eben deswegen nicht korrupt, weil sie Barbaren sind. Aber auch sie werden bald die prächtigen Kleider, das Geld, die raffinierten Speisen, die Parfüms, die schönen Frauen, die komfortablen Häuser schätzen lernen. Alle diese Dinge sind nicht gratis zu haben, ja, um sie zu bekommen, braucht man viel Geld, so viel, wie es einem nur die Korruption verschaffen kann. Auf jeden Fall gibt es keine Zivilisation ohne ein gewisses Maß an Barbarei und keine Barbarei, die nicht auch ein paar Keime der Zivilisation in sich trägt. Verstehst du, was ich meine?«

»Ja, ich glaube schon. Aber was für eine Welt ist dann die, in der wir leben, Ambrosinus?«

»Die bestmögliche oder die schlechtestmögliche - je nachdem, von welcher Seite man sie betrachtet. Meiner Meinung nach ist aber die Zivilisation in jedem Fall der Barbarei bei weitem vorzuziehen.«

»Und was ist, deiner Meinung nach, die Zivilisation?«

»Zivilisation bedeutet Gesetze, politische Einrichtungen, Rechtssicherheit. Sie bedeutet Berufe und Gewerbe, Straßen und Kommunikationsmöglichkeiten, Riten und Feste. Wissenschaft, aber auch Kunst, vor allem Kunst; Literatur, Poesie wie die von Vergil, die wir so oft zusammen gelesen haben - geistige Tätigkeiten, die uns Gott sehr ähnlich machen. Ein Barbar ähnelt dagegen viel eher einem Tier. Ich weiß nicht, ob ich mich klar genug ausgedrückt habe. Einer Zivilisation anzugehören verleiht einem einen besonderen Stolz, den Stolz, an einem großen gemeinsamen Unternehmen mitzuwirken, dem größten, das der Mensch überhaupt durchführen kann.«

»Aber die unsrige, also unsere Zivilisation, meine ich, die ist doch gerade im Begriff unterzugehen, oder?«

»Ja«, antwortete Ambrosinus. Und er schwieg lange.

XIX

»Schön, nicht wahr?«

Bei diesen Worten fuhr Aurelius zusammen. Als Romulus hinter seinem Rücken aus dem Dunkel herausgetreten war, hatte er ihn dabei überrascht, wie er das Schwert vor dem Feuer drehte und wendete, geradezu hypnotisiert von den bläulichen Reflexen der Klinge, die wie die Augen in den Schwanzfedern eines Pfaus schillerten.

»Verzeih mir«, antwortete er und reichte es ihm hinüber. »Ich habe vergessen, es dir zurückzugeben. Es gehört dir.«

»Es ist besser, wenn du es vorläufig behältst. Bestimmt machst du besseren Gebrauch davon als ich.«

Aurelius war noch immer in seine Betrachtung versunken. »Diese Waffe ist unglaublich: Bei den vielen Hieben, die dieses Schwert versetzt und empfangen hat, ist kein einziger Zacken herausgebrochen, und es hat weder einen Fleck noch einen Kratzer abbekommen. Es scheint die Waffe eines Gottes zu sein.«

»In einem gewissen Sinne ist sie das auch, denn sie hat Julius Cäsar gehört. Hast du die Inschrift gesehen?«

Aurelius nickte und fuhr mit dein Finger an der Reihe von Buchstaben entlang, die in der Mitte der Klinge, in einer kaum erkennbaren Rille, eingeritzt waren. »Ich habe sie gesehen und wollte meinen Augen nicht trauen. Von ihm geht eine geheimnisvolle Kraft aus, die einem unter die Haut, in die Finger, in den Arm, ja bis ins Herz hineindringt ...«

»Ambrosinus sagt, daß es von den Chalybern geschmiedet wurde, und zwar aus einem einzigen Meteorit aus reinem Eisen, und daß es dann im Blut eines Löwen gehärtet wurde.«

»Und der Griff ... Kein Kampfschwert hat einen so reichverzierten und kostbaren Griff. Höchstens Prunkschwerter. Und doch liegt mir der Hals des Adlers in der Hand wie kein zweiter Griff in meinem Leben. Er wirkt wie ein verlängerter Arm ...«

»Es ist bloß ein außergewöhnliches Werkzeug des Todes«, sagte Romulus, »angefertigt für einen großen Eroberer. Du bist ein Kämpfer: Es ist nur natürlich, daß es dich fasziniert.« Er warf einen Blick auf seinen Lehrer, der gerade damit beschäftigt war, seine Habseligkeiten in der Nähe des Feuers aufzureihen. »Siehst du Ambrosinus? Er ist ein Mann des Wissens, und er versucht seinerseits, seine Werkzeuge zu retten, die sich nach dem Eintauchen in die Grotte mit Wasser vollgesogen haben: Seine Pülverchen ... seine Kräuter ... Und mein Exemplar der Aeneis: eines seiner Geschenke zum Tag meiner Akklamation.«

»Und dieses Notizbuch da?«

»Das ist sein persönliches Tagebuch. Darin ist seine Geschichte aufgeschrieben ... und auch unsere.«

»Willst du damit sagen, daß er auch ... von mir berichtet hat?«

»Da kannst du dir sicher sein! Aber warum sagst du berichtet hat

»Es ist doch ins Wasser gefallen! Ich könnte mir vorstellen, daß recht wenig davon übriggeblieben ist.«

»Tatsächlich ist aber alles erhalten geblieben! Unlösliche Tinte. Wieder so eines seiner Rezepte. Und er kennt auch das der unsichtbaren Tinte.«

»Du willst mich wohl auf den Ann nehmen?«

»Nein, warum sollte ich? Während er schreibt, sieht man nichts. Es ist, als würde er die Feder in Brunnenwasser tauchen, und dann, plötzlich, wenn er ...«

Aurelius unterbrach ihn. »Du hast ihn sehr gern, stimmt's?«

»Ich habe niemanden sonst auf der Welt«, erwiderte Romulus. Und er sagte es mit einem besonderen Tonfall, als wolle er seinem Gesprächspartner einen Widerspruch entlocken. Doch Aurelius sagte nichts, und Romulus sah ihm zu, während er das Schwert mit einer gleichmäßigen und harmonischen Bewegung, die an die Geste eines Priesters erinnerte, wieder in die Scheide steckte. Eine Zeitlang blickten sie in die Flammen des Lagerfeuers, dann unterbrach Romulus erneut das Schweigen. »Warum hast du mich nicht bei dir, auf deinem Pferd, haben wollen?«

»Ich habe es dir doch gesagt: Wenn ich dich beschützen muß, brauche ich Bewegungsfreiheit.«

»Es ist nicht deswegen. Du mußt frei sein, einfach so, habe ich recht?« Und bevor Aurelius Zeit hatte, Romulus zu antworten, ging dieser weg, hinüber zu Ambrosinus, der gerade auf einer Schicht trockener Blätter die Decke für ihn ausbreitete. Demetrios bezog seinen Wachtposten am vorderen Ende des Lagers, und Orosius hatte sich in einiger Entfernung auf einem kleinen Hügel postiert, um rechtzeitig vor möglichen, von Westen her anrückenden Verfolgern warnen zu können. Die anderen - Batiatus, Livia, Aurelius und Vatrenus - bereiteten sich auf ihre Nachtruhe vor.

»Es ist schon merkwürdig«, sagte Vatrenus. »Ich müßte eigentlich todmüde sein, und dabei habe ich überhaupt keine Lust, schlafen zu gehen.«

»Wir haben uns im Laufe des letzten Tages einfach verausgabt«, bemerkte Aurelius, »und unserem Körper gelingt es noch immer nicht zu glauben, daß er sich jetzt ausruhen darf.«

»Das ist aber eine aparte Erklärung«, erwiderte Batiatus. »Ich, der ich fast gar nichts gemacht habe, falle nämlich vor Müdigkeit fast um!«

»Ich weiß nicht ... ich hätte Lust, etwas zu singen«, sagte Vatrenus, »wie wir es früher manchmal abends im Lager gemacht haben, rund um das Feuer. Erinnert ihr euch noch? Ach, ihr Götter! ... Erinnert ihr euch noch, was für eine Stimme Antoninus hatte?«

»Natürlich!« antwortete Aurelius. »Und wie! Und Canidius? Und Paulinus?«

»Und auch unser Kommandant Claudianus hatte keine üble Stimme«, sagte Batiatus. »Wißt ihr noch? Manchmal kam er einfach daher, auf seinem Inspektionsrundgang, und setzte sich zu uns ans Feuer. Und wenn wir gerade etwas sangen, fing auch er an, leise mitzuträllern. Und dann ließ er etwas Wein kommen und trank einen Becher mit uns. Er sagte: >Trinkt, Kinder, wärmt euch ein bißchen auf!< Unser armer Kommandant, ich erinnere mich noch an seinen letzten Blick, als er mitten in einem Haufen von Feinden tödlich getroffen zu Boden sank ...« Und während er diese grausame Szene heraufbeschwor, leuchteten die Augen des schwarzen Giganten in der Dunkelheit.

Bei seinen Worten hob Aurelius den Kopf, und die beiden sahen sich lange schweigend an; einen Moment lang lag ein fragender Ausdruck und beinahe ein Verdacht in Aurelius Blick, was Batiatus nicht entging. »Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte er. »Du fragst dich, wie wir in Dertona mit dem Leben davongekommen sind, ist es nicht so? Du möchtest wissen, warum wir noch leben ...«

»Du irrst dich, ich will nicht ...«

»Lüg nicht! Ich kenne dich zu gut. Aber haben wir dich vielleicht gefragt, warum du nicht zurückgekommen bist? Warum du nicht zurückgekehrt bist, um mit unseren anderen Kameraden zu sterben?«

»Ich bin zurückgekehrt, um euch zu retten. Genügt dir das nicht?«

»Hört auf damit!« befahl Vatrenus mit ruhiger und fester Stimme. »Ich erzähle dir, wie es damals gelaufen ist, Aurelius, und dann ziehen wir ein für allemal einen Schlußstrich und sprechen nie mehr darüber, einverstanden? Ich wollte das ja eigentlich nicht, aber ich sehe ein, daß es notwendig ist. Also, nachdem du losgeritten warst, haben wir uns, von allen Seiten angegriffen, in die Schlacht gestürzt und stundenlang gekämpft. Stunden über Stunden. Zuerst von den Palisaden aus, dann vom Schanzwerk, dann von draußen, im Karree, alle unberitten, wie zu Hannibals Zeiten. Und während wir immer weniger und immer müder wurden, schickten sie unablässig neue Soldaten in die Schlacht, in ganzen Wellen: eine und dann wieder eine und noch eine ... Sie haben uns mit Speeren überschüttet, die wie Wolkenbrüche auf uns herabprasselten. Dann, als sie sahen, daß wir erschöpft, blutverschmiert und am Ende waren -die Sonne ging schon unter - , da kamen sie mit ihren gepanzerten Pferden angeritten und warfen ihre Streitäxte, um uns endgültig zur Strecke zu bringen und uns zu erschlagen, einen nach dem anderen. Wir sahen unsere Kameraden zu Dutzenden, zu Hunderten fallen, denn sie waren schon nicht mehr imstande, das Gewicht ihrer Waffen zu tragen. Einige stürzten sich ins eigene Schwert und bereiteten so ihren Qualen ein Ende, andere wurden bei noch lebendigem Leib in Stücke gehauen ... Sie ließen sie auf dem Boden liegen, ohne Beine oder Arme, armselige Rümpfe, unfähig zu schreien, die dort, im Schlamm, verbluten mußten ...«

»Ich will das nicht hören!« rief Aurelius aus, aber Vatrenus ignorierte seinen Einwurf. »In diesem Moment trat ihr Anführer dazwischen, dieser Mledo, einer der Stellvertreter von Odoaker. Wir waren insgesamt vielleicht noch hundert Mann, glaube ich, zerschlagen vor Müdigkeit, besudelt mit Blut und Dreck und völlig entkräftet. Du hättest uns sehen sollen, Aurelius ... du hättest uns ... sehen sollen!« Jetzt zitterte seine Stimme: Rufius Elius Vatrenus, der alte Haudegen, der Veteran von hundert Schlachten, hatte das Gesicht in den Händen vergraben und weinte und schluchzte wie ein Kind, während Batiatus ihm die Hand auf die Schulter legte und sie tätschelte, als wolle er ihn so beruhigen. Dann ergriff Batiatus das Wort und fuhr fort: »Mledo brüllte etwas in seiner Sprache, und das Gemetzel wurde eingestellt. Ein Herold befahl uns, die Waffen fallen zu lassen, dann würde unser Leben geschont. Und wir haben sie fortgeworfen. Ja, was hätten wir denn sonst tun können? Sie haben uns in Ketten gelegt und uns mit Fußtritten traktiert und angespuckt und bis in ihr Lager geschleppt, wo viele von ihnen uns unter den gräßlichsten Foltern am liebsten den Garaus gemacht hätten, weil wir mindestens viertausend ihrer Kameraden umgebracht und viele weitere verwundet hatten. Aber Mledo hatte wohl den Befehl erhalten, eine bestimmte Anzahl von Männern, die noch als Sklaven zu verwenden waren, am Leben zu lassen. So wurden wir nach Classe gebracht und von dort in unterschiedliche Richtungen verfrachtet. Einige wurden, glaube ich, nach Istrien geschickt, in die Steinbrüche, andere nach Noricum zum Bäume fällen. Wir nach Miseno, wo du uns dann ja aufgestöbert hast. Das, Aurelius, das ist alles, mehr habe ich dir nicht zu berichten. Und jetzt gehe ich schlafen, falls ihr mich nicht mehr braucht.«

Aurelius nickte ernst. »Geh«, sagte er. »Geh nur schlafen, schwarzer Mann. Schlaft, wenn ihr könnt, und auch du, Vatrenus, alter Freund. Ich ... habe nie einen Zweifel gehabt. Ich ... das einzige, was ich gehofft habe, war, euch lebend wiederzufinden, nichts sonst, das schwöre ich euch ... Es gibt nichts, was ich nicht hergegeben hätte, um euch lebend aufzufinden. Das Leben ist das einzige, was uns geblieben ist.« Er ging davon, setzte sich neben Juba auf den Boden und lehnte den Rücken gegen den Stamm einer Eiche. Livia war nicht weit entfernt und hatte wohl alles mit angehört, aber sie sagte nichts, und auch er schwieg. Allerdings hätte Aurelius gern geweint, wenn er gekonnt hätte, aber er konnte nicht, denn sein Herz war aus Stein, bis in seinen innersten Kern hinein, und die Gedanken in seinem Kopf entwirrten sich nun wie Schlangen, die ineinander verwickelt in ihrem Nest gelegen hatten.

Etwas weiter entfernt hatte sich Romulus bereits auf seinem Nachtlager ausgestreckt, konnte aber nicht einschlafen. Er hatte mitbekommen, daß etwas Gravierendes eine ernsthafte Konfrontation zwischen seinen Reisegefährten ausgelöst hatte, aber nicht, worum es dabei gegangen war. Er befürchtete, auf irgendeine Weise Gegenstand dieser Diskussion gewesen zu sein. Deshalb wälzte er sich ständig von der einen zur anderen Seite, ohne Ruhe zu finden.

»Schläfst du nicht?« fragte ihn Ambrosinus.

»Ich kann nicht.«

»Das tut mir leid. Es ist meine Schuld. Ich hätte diese Sachen im Zusammenhang mit Konstantinopel und all das übrige nicht sagen dürfen. Das war leichtsinnig von mir. Verzeih mir.«

»Mach dir keine Sorgen! Das hätte man sich ja denken können. Warum hätten sie denn sonst eine derart schwierige und riskante Operation organisieren sollen, wenn nicht aus irgendwelchen politischen Gründen? Oder eben um des Geldes willen, wie du gesagt hast. Ich habe dir nämlich zugehört, als du Livia angeschrien hast.«

»Ich war außer mir. Diesen Worten darfst du nicht allzu großes Gewicht beimessen.«

»Und dennoch hast du recht. Sie sind Söldner, sowohl Livia als auch Aurelius und auch die anderen, die sich ihnen angeschlossen haben - was denn sonst?«

»Du bist ungerecht. Aurelius hat ohne Aussicht auf irgendeine Belohnung versucht, dich in Ravenna zu befreien, nur weil dein Vater ihn kurz vor seinem Tod darum gebeten hatte. Vergiß nicht: Aurelius ist der Mann, der die letzten Worte deines Vaters gehört hat. In ihm gibt es also etwas von deinem Vater, und zwar etwas sehr Wichtiges.«

»Das ist nicht wahr.«

»Glaube, was du willst, aber es ist so.«

Romulus versuchte, sich zu beruhigen und seine angespannten Glieder auszustrecken. Der Ruf einer Eule ertönte in der Ferne wie ein trauriges Lied und ließ ihn unter seiner Decke erschauern.

»Ambrosinus ...«

»Ja?«

»Du willst nicht, daß sie mich nach Konstantinopel bringen. Habe ich recht?«

»Ja.«

»Und was können wir tun, um dem zu entgehen?«

»Recht wenig. Eigentlich nichts.«

»Aber du kommst mit mir, wohin auch immer?«

»Kannst du daran zweifeln?«

»Nein. Ich habe keinen Zweifel. Aber wenn es von dir abhängen würde, was würdest du dann tun?«

»Ich würde dich mit mir nehmen.«

»Wohin?«

»Nach Britannien. In meine Heimat. Sie ist schön, weißt du. Eine Insel, ganz grün, mit schönen Städten und fruchtbaren Feldern, mit eindrucksvollen Wäldern aus riesigen Eichen, Buchen und Ahornbäumen, die in dieser Zeit des Jahres ihre kahlen Äste in den Himmel recken wie Riesen, die versuchen, nach den Sternen zu greifen. Und Wiesen, weit ausgedehnte Flächen, Weiden für die Schaf- und Rinderherden. Und da und dort erheben sich großartige Monumente, gewaltige kreisförmige Steinmonumente, deren Bedeutung nur den Priestern der alten Religion bekannt ist - den Druiden.«

»Ich weiß, wer sie sind. Das habe ich bei Julius Cäsar in De Bello Gallico gelesen ... Und aus diesem Grund trägst du dieses Mistelzweiglein um den Hals, Ambrosinus? Bist auch du ein Druide?«

»Ja, das stimmt. Ich bin in diese alte Wissenschaft eingeweiht worden.«

»Und du glaubst auch an unseren Gott?«

»Es gibt nur einen Gott, Cäsar. Es gibt allerdings verschiedene Wege, die die Menschen einschlagen, um nach ihm zu suchen.«

»Und trotzdem habe ich in deinen Erinnerungen die Beschreibung eines unruhigen Landes gelesen. Auch bei euch gibt es wilde Barbaren ...«

»Das ist richtig. Der Große Wall reicht seit längerem nicht mehr aus, um sie aufzuhalten.«

»Gibt es also auf dieser Welt keinen Frieden? Gibt es keinen Ort, wo man in Frieden leben kann?«

»Der Frieden muß erkämpft werden, mein Kind, denn er ist das kostbarste Gut. Aber jetzt schlaf ein. Gott wird uns, wenn der Augenblick gekommen ist, eine Erleuchtung gewähren. Da bin ich mir sicher.«

Romulus sagte nichts weiter, kuschelte sich in seine Decke und lauschte dem monotonen Geschluchze der Eule, das von den Bergen widerhallte, bis er von einem Gefühl großer Ermattung überwältigt wurde und die Augen schloß.

Langsam zogen die Sterne über den Himmel, und der kalte Nordwind machte die Luft durchsichtig wie Glas. Die Flammen des Lagerfeuers belebten sich wieder und verbreiteten ein hellglänzendes Licht; dann erloschen sie rasch, und auf dem großen dunklen Berg war nur noch der schwache Schein des glimmenden Holzes zu sehen.

Mitten in der Nacht löste Aurelius Demetrios und Vatrenus Orosius ab. Sie hatten sich im Laufe ihres in Feldlagern verbrachten Lebens an diese Rhythmen gewöhnt, und etwas in ihrem Inneren weckte sie im richtigen Augenblick. Es war fast so, als könnte ihr Geist, während sie sich ausruhten, den Bahnen der Gestirne folgen und sie messen. Im Morgengrauen wollten sie ihre Reise fortsetzen, und zwar nach einem üppigen Frühstück, denn Eustasius hatte dafür gesorgt, daß sie in den Futtersäcken der Pferde auch frischen Proviant vorfanden: Brot, Oliven, Käse und ein paar mit Wein gefüllte Schläuche. Ambrosinus nahm die Sachen, die er in der Nähe der Glut hatte trocknen lassen, und steckte sie wieder in seinen Sack. Mit den geübten Griffen eines Soldaten rollte Romulus seine Decke zusammen und verschnürte das Bündel.

In diesem Augenblick trat Livia an seine Seite, in der Hand das Geschirr ihres Pferdes. »Du bist sehr tüchtig«, sagte sie. »Wo hast du das denn gelernt?«

»In den beiden letzten Jahren hatte ich Unterricht bei einem Herrn vom Militär, einem Offizier aus der Leibwache meines Vaters. Auch er ist in der Nacht des Überfalls auf die Villa in Piacenza umgekommen. Sie haben ihm den Kopf abgeschlagen.«

»Wäre es dir recht, wenn du heute mit mir reiten würdest?« fragte Livia, während sie ihrem Pferd Trense und Zaumzeug anlegte.

»Das ist nicht so wichtig«, sagte Romulus. »Ich will niemandem zur Last fallen.«

»Mich würde es aber freuen«, beharrte Livia.

Romulus zögerte einen Augenblick, bevor er erwiderte: »In Ordnung, unter der Bedingung, daß wir nicht von Konstantinopel und all diesen anderen Sachen reden.«

»Einverstanden«, stimmte Livia zu. »Kein Wort von Konstantinopel.«

»Aber zuerst muß ich mit Ambrosinus reden. Ich will nicht, daß er sich gekränkt fühlt.«

»Ich warte auf dich.«

Romulus kehrte wenige Augenblicke später zurück. »Ambrosinus hat gesagt, daß das in Ordnung geht, aber daß du nicht zu schnell reiten darfst.«

Livia nickte und lächelte. »Steig auf, los.« Und sie ließ ihn vor sich sitzen.

Die Kolonne setzte sich in Bewegung und hielt auf den Paß zu, der zwischen zwei schneebedeckten Gipfeln aus der Ferne wie ein Sattel aussah.

»Da oben wird es kalt sein«, sagte Romulus. »Und ausgerechnet heute müssen wir dort übernachten.«

»Ja, aber dann beginnen wir mit dem Abstieg zur Adria hin, zu meinem Meer. Wir werden noch die letzten Herden der Hirten antreffen, die auf den tiefer gelegenen Weiden überwintern werden. Vielleicht wirst du dann auch ein paar neugeborene Lämmchen sehen. Würde dir das nicht gefallen?«

»Ich weiß auch über Ackerbau und Viehzucht Bescheid: Ich habe Columella, Varro, Cato und Plinius gelesen, mich bereits als Imker betätigt und kenne die Techniken des Baumschnitts und der Veredelung, die richtigen Zeiten für das Beschälen, für die Gärung des Mostes ...«

»Wie ein echter Römer in den alten Zeiten.«

»Und all das habe ich wohl umsonst gelernt. Ich glaube nicht, daß ich jemals Gelegenheit haben werde, diese Kenntnisse praktisch anzuwenden. Meine Zukunft liegt nicht in meiner Hand.«

Livia antwortete nicht auf diese Worte, die fast wie ein Vorwurf klangen. Romulus war es, der dann als erster wieder das Wort ergriff. »Bist du eigentlich die Braut von Aurelius?«

»Nein. Das bin ich nicht.«

»Aber wärest du das gern?«

»Ich glaube nicht, daß dich das etwas angeht. Trotzdem, wenn du es schon wissen willst: Ich war es, die ihn in jener Nacht rettete, in der er versuchte, dich aus Ravenna herauszuholen. Er hatte eine schlimme Wunde an der Schulter davongetragen.«

»Ich weiß. Ich war ja dabei, als er getroffen wurde. Trotzdem bist du deswegen noch lange nicht seine Braut.«

»Genau. Wir sind wegen dieser Mission zusammen.« »Und danach?«

»Danach wird jeder seiner Wege gehen, nehme ich an.«

»Ach so.«

»Enttäuscht?«

»Warum sollte ich? Es geht mich doch nichts an, oder?«

»Nein, wirklich nicht.«

Sie ritten wortlos ein paar Meilen weiter. Romulus schien seinen Blick schweifen zu lassen und die Landschaft zu betrachten, die fast öde, aber dennoch zauberhaft schön war. Bald kamen sie dicht an einem See vorbei, in dem sich ein Himmel spiegelte, der genauso klar und sauber war wie das Wasser. Ein Rudel Wildschweine, das am Waldrand in der Erde wühlte, rannte davon, um sich im Unterholz zu verkriechen. Ein großer Hirsch hob seinen herrlichen Kopf, der sich einen Moment lang unbeweglich und majestätisch vor der aufgehenden Sonne abzeichnete, und verschwand dann mit einem einzigen Satz.

»Stimmt es, daß ihr es des Geldes wegen gemacht habt?« fragte Romulus wieder.

»Wir werden eine Belohnung bekommen, wie sie jeder Soldat erhält, der seinem Vaterland dient. Aber das heißt nicht, daß wir es deswegen getan haben.«

»Warum denn sonst?«

»Weil wir Römer sind und du unser Kaiser bist.«

Darauf erwiderte Romulus nichts. Der Wind frischte auf, ein kalter Wind, der, aus Nordost kommend, über die schneebedeckten Gipfel des Apennin strich. Als Livia spürte, daß der Junge erschauerte, deckte sie ihn mit ihrem Umhang zu, legte die Arme um ihn und zog ihn sanft näher an sich heran. Romulus versuchte zunächst, sich dagegen zu wehren, doch dann gab er der Wärme ihres Körpers nach. Er schloß die Augen, und es schien ihm, als könne er doch noch glücklich sein.

XX

Die Reise zog sich noch drei Tage dahin; auf steilen, abgelegenen Wegen, die Schutz vor unliebsamen Begegnungen boten, ging es durch größtenteils verlassene Landstriche und Wälder. Wenn gerastet und das Lager aufgeschlagen wurde, machte Aurelius mit einem seiner Männer oder mit Livia einen ausführlichen Erkundungsritt, um sicherzugehen, daß keine Gefahr drohte. Aber sie fanden nie etwas, das sie irgendwie alarmiert hätte. Wahrscheinlich war den Feinden bis heute nicht klar, welchen Weg sie eingeschlagen hatten. Wie hätten sie ihnen auch auf die Spur kommen sollen? Schließlich hatten die nächtliche Finsternis und der Aschenregen nach dem Vulkanausbruch ihren Kurs unkenntlich gemacht. Später hatten sie ihr Boot versenkt und waren erst eine Weile zu Fuß gegangen, bevor sie ein gutes Stück landeinwärts auf ihre Pferde stiegen; auf diese Weise hatten sie an der Stelle, an der sie an Land gegangen waren, keinerlei Spuren hinterlassen.

Es lief alles wie geschmiert; wenn es so weiterging, würden sie pünktlich zu ihrer Verabredung mit dem byzantinischen Schiff zur Küste vorgestoßen sein. Die anfängliche Aufregung hatte sich gelegt, die Atmosphäre war entspannter. Es wurde wieder gescherzt, manchmal herrschte sogar eine richtig ausgelassene Stimmung. Romulus ritt nach wie vor auf Livias Pferd mit, und Aurelius trabte oft neben ihnen her und lächelte ihm zu. Während des Nachtlagers hielt er sich gern in der Nähe des Tungen auf, größere Vertrautheit schien er jedoch vermeiden zu wollen, was Romulus sich nur mit dem Umstand ihrer unmittelbar bevorstehenden Trennung erklären konnte.

»Du kannst ruhig mit mir sprechen«, sagte er eines Abends zu ihm, als Aurelius etwas abseits sitzend sein Abendbrot verzehrte. »Oder hat du Angst, daß ich beiße?«

Aurelius überhörte die Provokation.

»Nein, Cäsar«, erwiderte er lächelnd. »Es ist ein Vergnügen, sich mit dir zu unterhalten, und obendrein eine große Ehre. Wenn es nach mir ginge, würde ich es viel öfter tun, aber in Kürze trennen sich unsere Wege, und wenn wir jetzt noch Freundschaft schließen, fällt uns der Abschied um so schwerer ...«

»Wer hat von Freundschaft gesprochen?« fiel Romulus ihm gereizt ins Wort. »Ein wenig plaudern, das habe ich gemeint.«

»Wenn es so ist ...« erwiderte Aurelius. »Worüber wollen wir plaudern?«

»Über euch, zum Beispiel. Was stellt ihr an, nachdem ihr mich meinen neuen Bewachern ausgeliefert habt?«

»Ausgeliefert scheint mir nicht das richtige Wort.«

»Aber genau darum geht es.«

»Wärst du denn lieber auf Capri geblieben?«

»Jetzt gefragt - nein. Aber ich weiß ja gar nicht, was auf mich zukommt. Hätte ich die Wahl gehabt, so bestenfalls zwischen zwei Arten von Gefangenschaft. Da ich aber die, welche mich erwartet, noch gar nicht kenne, wie könnte ich da einer den Vorzug geben? Ein freier Mensch hat die Möglichkeit zu wählen, ich dagegen wechsle lediglich von einem Gefängnis ins andere, und keiner garantiert mir, daß mich das zweite nicht dem ersten nachtrauern läßt.«

Aurelius bewunderte Romulus rhetorisches Geschick, seine schlagenden Argumente, denen er nichts entgegenzuhalten hatte. »Ich hoffe nicht«, entgegnete er deshalb nur. »Und ich hoffe es von ganzem Herzen.«

»Das nehme ich dir sogar ab. Also, sag schon, was unternehmt ihr danach?«

»Keine Ahnung. Meine Gefährten und ich haben unterwegs ein paarmal darüber gesprochen - ein wenig, um die Zeit totzuschlagen, ein wenig auch aus Angst vor der Zukunft, aber keiner von uns hat genaue Vorstellungen. An dem Tag, an dem wir angegriffen wurden, sagte Vatrenus, er habe genug von diesem Leben, er wolle sich auf eine Insel zurückziehen, Schafe hüten und Ackerbau treiben ... Bei den Göttern, das ist gerade ein paar Wochen her, und mir scheint es, als seien Jahrzehnte vergangen! Damals kam es mir wie ein Witz vor, aber in der jetzigen Lage, so unsicher, so düster, denke ich mir: Warum eigentlich nicht?«

»Schafe hüten auf einer Insel? Das würde mir auch gefallen ... wenn ich über meine Zukunft entscheiden könnte. Aber das kann ich ja nicht.«

»Dafür trägt niemand die Schuld.«

»Und ob! Jeder, der ein Unrecht nicht verhindert, ist mit schuld.«

»Seneca.«

»Weich mir nicht aus, Soldat.«

»Wir können es zu sechst oder siebt nicht mit der ganzen Welt aufnehmen. Abgesehen davon, daß ich es nicht fertigbringen würde, meinen Gefährten noch mehr Opfer abzuverlangen. Sie haben getan, was sie konnten. Jetzt steht ihnen die versprochene Belohnung zu und die Freiheit zu entscheiden, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen. Vielleicht trennen wir uns und gehen jeder seinen eigenen Weg, vielleicht ziehen wir auch alle zusammen nach Sizilien, wo Vatrenus ein Landhaus besitzt. Und wer weiß, vielleicht verschlägt es uns eines Tages sogar in den Orient, dann kommen wir dich in deinem prächtigen Palast besuchen, was meinst du? Ich hoffe, du lädst uns wenigstens zum Essen ein.«

»Oh, natürlich, das wäre wundervoll! Darüber wäre ich sehr glücklich und stolz und ...« Romulus hielt inne, denn er begriff, daß für Gefühle kein Platz war. »Ich glaube, ich gehe besser schlafen«, sagte er und stand auf. »Danke für die Gesellschaft.«

»Ich danke dir, Cäsar«, erwiderte Aurehus mit einem Kopfnicken und blickte ihm nach.

Der ganze nächste Tag führte sie durch höchst unwegsames Gelände, weite Wegstrecken mußten sie sogar zu Fuß zurücklegen, um zu verhindern, daß die Pferde sich die Beine brachen. Sie folgten dem Lauf eines kleinen Baches in Richtung Meer, was denkbar unbequem, jedoch die einzige Möglichkeit war, Ortschaften zu umgehen, in denen sie zwangsläufig Aufsehen erregt hätten. Hier und da verbreiterte sich das schmale Tal zu einer Niederung, in der einzelne Hirten ihre Herden weideten. Auch Bauern, die im Wald dürre Äste als Brennholz für den Winter sammelten, waren bisweilen zu sehen. Sie alle machten einen ruppigen, halbverwilderten Eindruck, hatten lange Barte und ungepflegtes Haar und trugen Schuhwerk aus Ziegenleder sowie lumpige Kleider voller Flicken, die sie nur dürftig vor dem kalten Nordwind schützten. Beim Vorbeiziehen der kleinen Karawane hielten sie inne, egal, was sie gerade taten, und starrten Aurelius und seinen Trupp stumm an. Bewaffnete Männer zu Pferde waren für sie in jedem Fall bedeutende Leute, in der Lage, sich zu verteidigen oder anzugreifen, und schon allein deshalb furchtgebietend. Einmal sah Romulus eine Schar Jungen in seinem Alter und Mädchen, die noch etwas jünger waren; sie trugen große Körbe auf dem Rücken, deren Last sie fast zu Boden drückte; keuchend und tief gebeugt stolperten sie dahin, ihre halbnackten Beine waren blau vor Kälte, ihre Nasen trieften, und ihre Lippen waren rissig von den eisigen Temperaturen und der schlechten Ernährung. Einer von den Jungen faßte sich ein Herz, stellte seinen Korb, der im Vergleich zu seiner schmächtigen Gestalt riesig wirkte, auf die Erde und kam mit ausgestreckter Hand auf Romulus zu.

»Können wir ihm etwas geben?« fragte Romulus, der mit Livia ritt.

»Nein«, erwiderte Livia. »Wenn wir das täten, hätten wir es talabwärts bald mit einem ganzen Schwärm zu tun, den wir nicht wieder los würden. Auf die ein oder andere Weise würden wir Aufmerksamkeit erregen, und das dürfen wir auf keinen Fall.«

Romulus betrachtete den Jungen, seine bittend ausgestreckte Hand, den traurigen und enttäuschten Ausdruck, den seine Augen annahmen, je weiter er sich entfernte. Später blickte er zurück und sah ihn an, wie um ihm begreiflich zu machen, daß er ihm gerne geholfen hätte, aber nicht konnte, aus Gründen, die nicht von ihm abhingen. Als er merkte, daß sie wieder in den Wald kamen, hob er die Hand und winkte. Der abgezehrte Junge erwiderte seinen Gruß mit einem wehmütigen Lächeln und winkte ihm seinerseits zu, dann nahm er seinen schweren Korb wieder auf und verschwand wankend im Gestrüpp.

Livia schien in Romulus Gedanken zu lesen. »Im Leben muß man oft Entscheidungen treffen, die einem im Grunde zuwider sind - das ist traurig, aber unvermeidlich. Wir leben in einer erbarmungslosen Welt, in der Willkür und Zufall regieren.«

Romulus antwortete nicht, und doch brachte ihm der Anblick dieses Elends zu Bewußtsein, daß das Leben, das er bis vor wenigen Tagen auf Capri geführt hatte, für diese armen Kinder ein Segen des Himmels, der pure Luxus gewesen wäre. Es gab also keine Not, die nicht noch hätte übertroffen werden können.

Der kleine Bach, an dem sie entlang gezogen waren, hatte sich im Laufe der Tage in einen richtigen Fluß mit Wasserfällen und Stromschnellen verwandelt, der zwischen glattgeschliffenen Felsbrocken dahinsprudelte und am Ende in einen noch größeren Fluß mündete - den Metaurus, wie Ambrosinus ihnen erklärte. Die Temperaturen waren milder geworden, ein Zeichen dafür, daß das Meer immer näher rückte und damit auch das Ziel ihrer Reise. Wie ihr Abenteuer letztendlich ausgehen würde, konnte freilich auch jetzt noch niemand absehen. Der Wald lichtete sich immer mehr und wich zur Küste hin zusehends Acker- und Weideland. Hin und wieder kamen sie an Dörfern vorbei, die zu meiden immer schwieriger wurde, manchmal kreuzten sie auch die Via Flaminia, und am Ende des letzten Marschtages kamen sie zu einer alten, verlassenen mansio, vor der ein ziemlich verrostetes Wirtshausschild baumelte; auch ein militärischer Markstein und der Brunnen, der die Viehtränken speiste, waren noch da. Bei den Tränken selbst handelte es sich um schöne Tröge aus Apenninsandstein, die ursprünglich den Pferden der Poststation gedient hatten und heute von durchziehenden Schafherden benutzt wurden, wie die vielen Abdrücke kleiner Spalthufe und die ringsum zerstreuten Kotklümpchen verrieten.

Livia näherte sich der Herberge als erste und zu Fuß, die Zügel ihres Pferdes Romulus überlassend. Sie wollte sicherstellen, daß keine Gefahr lauerte; dazu ging sie an den Brunnen und tat, als schöpfe sie Wasser. Erst als daraufhin nichts geschah, pfiff sie und ließ die andern nachkommen. Romulus band sein Pferd fest, betrat als einer der ersten das alte Gemäuer und sah sich um: Auf den verputzten Wänden hatten sich Tausende von Gästen aus mehreren Jahrhunderten verewigt, viele mit obszönen Sprüchen. Eine der Seitenwände wurde von einem Fresko geschmückt - eine Landkarte, auf der Romulus Italien mit Sizilien, Sardinien, unten die afrikanische Küste und oben die Küste Illyriens erkannte; Meere, Flüsse, Gebirge und Seen waren in den entsprechenden Farben abgebildet. Eine dicke, rote Linie stellte den cursuspublicus dar, das Straßennetz, das dem Imperium als Kommunikations- und Transportsystem einst zu Ehre und Ruhm gereicht hatte; neben sämtlichen Raststationen waren auch die Entfernungen in Meilen eingezeichnet. Hoch oben prangte die verwitterte Überschrift TABVLA IMPERII ROMANI; Wasserinfiltrationen hatten die Karte fast unleserlich gemacht. Romulus Blick fiel auf den Schriftzug CIVITAS RAVENNA; in einer Miniatur war die Stadt mit ihrer Mauer und ihren Türmen dargestellt, und den Knaben wurde einen Moment lang ganz kalt ums Herz. Schnell wandte er den Blick wieder ab und begegnete dem Aurelius, worauf jeder in den Augen des anderen die schrecklichen Erinnerungen las, die das kleine Bild bei ihnen wachrief: die fehlgeschlagene Flucht aus der Stadt, die Gefangenschaft, der Tod Flavia Serenas. Ambrosinus begann nach irgendwelchen nützlichen Dingen herumzustöbern, und als er in einem wackeligen alten Schrank zwei halbbeschriebene Pergamentrollen fand, machte er sich daran, eine der auf der Wandkarte eingezeichneten Wegstrecken abzuzeichnen.

Nacheinander kamen auch die anderen herein und begannen, ihre Decken auf dem Fußboden auszubreiten. Demetrios, der etwas unterhalb des Hauses ein Stoppelfeld mit großen Strohhaufen gewahr wurde, ging etwas Stroh für die Nacht holen. An der Oberfläche der Haufen war es grau und faulig, darunter aber trotz der späten Jahreszeit noch trocken und von einem schönen Gelb, das einem beim bloßen Hinsehen schon ein Gefühl von Wärme vermittelte. Eine Hecke aus Ahorn und Brombeersträuchern begrenzte das Feld; durch einzelne Lücken konnte man die niedrige Gestrüppvegetation erkennen, die sich dahinter bis an die flache Sandküste erstreckte. Zu ihrer Linken war die Mündung des Metaurus zu sehen, dessen Lauf sie während der letzten Marschtage durchs Landesinnere gefolgt waren. Nach Westen und Norden hin war alles dicht bewaldet. Vatrenus erkundete den Wald zu Pferde, um sicherzugehen, daß er keine Gefahren barg, und entdeckte unweit der Stelle, wo der Wald im Norden an das Getreidefeld angrenzte, mehrere Stapel Eichen- und Fichtenstämme, die mit Seilen aus geflochtenem Flachs an Pfählen befestigt waren. Es mußte in dieser Gegend also Holzfäller geben, die vom Brennholzhandel mit den Küstenbewohnern lebten.

In der Ferne konnte man das Meer erkennen, es war leicht vom Nordwind gekräuselt, aber nicht bewegt, und die Wetterverhältnisse ließen hoffen, daß das Schiff ohne größere Probleme durchkommen würde. Ambrosinus wollte den Männern, die sie unter Einsatz ihres Lebens befreit und hierhergeführt hatten, unbedingt noch einmal seine Dankbarkeit beweisen, und so bereitete er zur gegebenen Zeit liebevoll ein Abendessen für alle zu. Wurzeln und Kräuter, die er in der Nähe gesammelt hatte, verfeinerten es, ja, es gelang ihm sogar, ein wenig Obst aufzutreiben - wilde Äpfel, die an einem fast schon kahlen Baum im ehemaligen Obstgarten der Poststation hingen. Er entfachte im alten Kamin ein Feuer, und obwohl die kaputte Decke an mehreren Stellen Ausblick auf die Sterne bot, schufen der Feuerschein und das Knistern der Flammen eine Atmosphäre der Heiterkeit und Vertrautheit, von der die Trauer über die bevorstehende Trennung wenigstens vorübergehend zurückgedrängt wurde.

Keiner erwähnte, daß Romulus am nächsten Morgen abreisen und sie möglicherweise für immer verlassen würde, daß der kleine Kaiser einem dunklen Schicksal auf der anderen Seite der Welt entgegenging, in einer riesigen, unbekannten Großstadt mit den Ränken und Gefahren eines korrupten, blutrünstigen Hofes. Aber es war klar, daß alle daran dachten; man merkte es an den flüchtigen Seitenblicken, die sie ab und zu auf den Jungen warfen, an den mehrdeutigen Worten und Sätzen, die ihnen immer wieder herausrutschten, an ihren rauhen, aber liebevollen Berührungen, wenn sie wie zufällig an ihm vorbeigingen.

Aurelius wählte für sich die erste Nachtwache, setzte sich neben den Tränken auf den Boden und spähte auf das mittlerweile bleifarbene Meer hinaus. Livia trat von hinten an ihn heran.

»Armer Junge«, sagte sie. »Er hat all diese Tage versucht, sich uns anzunähern, vor allem dir und mir, aber wir haben es nicht zugelassen.«

»Das hätte die Sache nur noch schlimmer gemacht«, erwiderte Aurelius, ohne sich umzudrehen.

Ein Schwärm Reiher flog in der Dunkelheit vorüber, und ihre Schreie regneten wie die Klagelieder Vertriebener aus dem nachtschwarzen Himmel.

»Sie werden noch vor ihm am Bosporus sein«, sagte Livia.

»Mit Sicherheit.«

»Das Schiff müßte kurz vor Sonnenaufgang eintreffen. Sie werden den Jungen an Bord nehmen und uns die vereinbarte Belohnung auszahlen. Viel Geld ... Damit könnt ihr ein neues Leben beginnen, euch Ländereien kaufen, Diener leisten. Ihr habt es auch verdient.«

Aurelius erwiderte nichts.

»Woran denkst du?« fragte Livia.

»Wer sagt, daß das Schiff pünktlich kommt? Es könnte Verspätung haben, sogar mehrere Tage.«

»Ist das eine Befürchtung oder ein Wunsch?«

Aurelius lauschte eine Weile stumm dem Gesang der Reiher, die in der Ferne entschwanden. Dann seufzte er. »Es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich so etwas wie eine Familie hatte. Und morgen ist alles wieder vorbei. Romulus zieht seiner Wege, und du ...«

»Und ich auch«, sagte Livia plötzlich mit resoluter Stimme. »Wir leben in harten Zeiten, wir müssen machtlos mit ansehen, wie unsere Welt in die Brüche geht. Jeder von uns muß nach einem Sinn für sein Leben suchen, nach irgend etwas, das ihm die Kraft gibt, all dies zu überstehen.«

»Willst du deshalb in deine Lagune zurück? Möchtest du nicht lieber ...«

»Was?«

»Mit uns kommen ... mit mir.«

»Wohin? Ich hab es dir bereits gesagt: In dieser Lagune blüht eine neue Hoffnung auf. Venetia ist meine Heimat, so seltsam es dir erscheinen mag - ein paar ärmliche Hütten, errichtet von einer Handvoll Verzweifelter, die aus ihren zerstörten Städten geflohen sind.« Aurelius zuckte bei diesen Worten kaum merklich zusammen. »Ich bin sicher, daß es sich bald zu einer richtigen Stadt entwickeln wird«, fuhr Livia fort. »Aber wir brauchen Verteidigungsanlagen, wir müssen erste Schiffe bewaffnen, weitere Häuser für Neuankömmlinge bauen. Dafür will ich meinen Teil des Geldes einsetzen, das wir morgen bekommen. Schließ dich uns mit deinen Gefährten doch an! Doch, warum nicht? Wir brauchen Männer wie euch. In Venetia wird die Seele unserer niedergebrannten und dem Erdboden gleichgemachten Städte wiederauferstehen: Altinum, Concor-dia ... Aquileia!«

»Warum fährst du fort, mich mit diesem Namen zu quälen?« erwiderte Aurelius. »Warum läßt du mich nicht in Frieden?«

Livia kniete sich vor ihn nieder und sah ihn mit fiebrigen Augen an. »Weil ich dir vielleicht die Vergangenheit zurückgeben kann, die aus deinem Gedächtnis gelöscht wurde oder die du selbst, willentlich, daraus gelöscht hast. Ja, das war mir klar, seit ich dich das erste Mal sah. Ich merkte es daran, wie du das hier angestarrt hast, auch wenn du es weiterhin ableugnest.« Sie griff nach dem Medaillon, das sie um den Hals trug, und hielt es ihm hin, als handle es sich um eine heilige Reliquie, die ihn von einer mysteriösen Krankheit heilen könne. Ihre Augen glänzten dabei vor Leidenschaft und Tränen. Aurelius spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß; ein übermächtiges Gefühl, ein brennender Wunsch, den er die ganze Zeit über vergeblich zu unterdrücken versucht hatte, ergriff Besitz von ihm. Er spürte, wie sich ihre Lippen auf die seinen legten und ihr Atem mit seinem verschmolz in einem heißen, unerwarteten Kuß, den er so lange ersehnt und kaum noch zu erhoffen gewagt hatte. Er umschlang und küßte sie, wie er noch keine Frau in seinem Leben geküßt hatte, inbrünstig und zärtlich zugleich, und auch Livia umfing seinen Hals mit den Armen und drückte sich, ohne die Lippen von seinen Lippen zu lösen, mit jeder Faser ihres Körpers an ihn, mit ihren festen Brüsten, dem straffen Bauch, den sehnigen Beinen. Er legte sie auf seinen am Boden ausgebreiteten Umhang und nahm sie, einfach so, auf dem trockenen Gras mit dem Geruch der Erde, der sich mit dem Duft ihrer Haare verwob. Danach blieb er lange in ihr, um die Intimität, die ihm das Herz erfüllte und von der er gewollt hätte, daß sie ewig dauerte, so lange wie möglich hinauszuziehen. Später hüllte er sie in seinen Mantel, legte sich neben sie, drückte sie an sich und genoß die Wärme ihres Körpers und den Geruch ihrer Haut.

Irgendwann verabschiedete Livia sich mit einem Kuß von ihm. »Es war schön«, sagte sie, »und es wäre noch schöner, wenn es eine Zukunft gäbe, aber bald trifft das Schiff ein. Mit dem neuen Tag wird alles wieder anders aussehen, noch schwieriger und noch anstrengender als bisher. Du wirst deinen Gefährten folgen, weiter vor deinem verlorenen Gedächtnis fliehen, und ich werde in meine Lagune zurückkehren. Was uns bleibt, ist das Andenken an diese Tage, an diesen Moment der Liebe, den wir der letzten Nacht abgerungen haben; die Erinnerung an dieses phantastische Abenteuer, an diesen lieben, unglücklichen Jungen, den wir ins Herz geschlossen haben, ohne den Mut zu besitzen, es ihm zu gestehen. Vielleicht ringst du dich eines Tages dazu durch, mir nachzukommen, und dann werde ich dich mit großer Freude empfangen, wenn es nicht zu spät ist; vielleicht sehen wir uns auch niemals wieder, weil die Wirren des Lebens dich irgendwohin, weit weg verschlagen. Leb wohl, Aurelius, mögen deine Götter dich beschützen.«

Mit diesen Worten stand sie auf und ging wieder in das alte, halbzerfallene Gebäude. Aurelius blieb allein in der dunklen Nacht zurück und lauschte der Stimme des Windes und dem Gesang der Reiher, der die Finsternis durchdrang.

XXI

Aus einem Weidengebüsch nahe dem Fluß hallte mehrmals der Ruf eines Käuzchens herauf, dann begann ein Stück weiter unten, bei der Brücke, ein kleines Licht hin und her zu tanzen. Livia, die sich jetzt wieder in der mansio befand, döste, neben einer breiten Mauerbresche an die Wand gelehnt, vor sich hin. Von den Käuzchenrufen geweckt, erhob sie sich lautlos und glitt durch die Wandöffnung nach draußen. Aurelius, der seinen Nachtwachenturnus inzwischen beendet hatte, schlief in seine Decke gewickelt auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Draußen wachte jetzt Demetrios. An seinen Schild gelehnt hockte er auf der Erde und suchte vermutlich die Küstenlinie mit den Augen ab, in der Hoffnung, das Schiff zu sichten, auf das alle warteten. Livia bog um die Südecke des Gebäudes, huschte zum rückwärtigen Gatter und band ihr Pferd los, wobei sie ihm eine Hand auf die Nüstern legte, damit es sie nicht verriet. Juba, der in der Nähe angebunden war, schien sie gar nicht zu bemerken, vielleicht ließ er sich auch durch ihren vertrauten Geruch nicht in seiner Nachtruhe stören.

Livia wandte sich nach Westen und durchquerte zu Fuß die Senkung hinter dem Haus, dann bog sie nach rechts zum Flußtal ab. Dort stieg sie auf. Im Schutz der dichten Uferbewachsung konnte sie ungesehen bis zur Brücke oder auch bis zum Meer reiten.

Unterdessen gab es jedoch jemanden im »Schlafsaal« der mansio, dem ihr Verschwinden nicht entgangen war: Ambrosinus hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan; sein Entschluß stand fest. Er beugte sich über Romulus und rüttelte ihn behutsam wach.

»Pscht!« zischte er ihm leise ins Ohr.

»Was gibt's?« fragte Romulus noch leiser.

»Wir verschwinden. Jetzt, sofort. Livia ist rausgegangen, vielleicht ist das Schiff angekommen.«

Romulus umarmte ihn fest, und der weise Lehrer spürte in seiner Umarmung die Dankbarkeit des Jungen für diese unverhoffte Fluchtmöglichkeit, spürte seinen ganzen Freiheitsdrang, den Wunsch, diese üble Welt hinter sich zu lassen, die ihm nur Trauer und Leid bereitet hatte. Flüsternd ermahnte er ihn: »Paß auf, daß das Stroh nicht raschelt, wenn du aufstehst; wir müssen uns wie Schatten bewegen.« Dann schlich er ihm voraus zu der kleinen Tür, die auf den Gemüsegarten hinter dem Haus hinausging. Romulus sah sich um, wartete, daß Batiatus lautes Schnarchen seinen Höhepunkt erreichte, dann machte auch er sich auf und folgte seinem Lehrer auf Zehenspitzen. Bald waren sie beide draußen. Zu ihrer Linken scharrten die Pferde nervös mit den Hufen. Juba schwenkte mehrmals den stolzen Kopf und blies Dampfwolken aus den Nüstern. Ambrosinus hielt erschrocken inne und bedeutete Romulus, sich flach an die Hauswand zu drücken.

»Geben wir ihm Zeit, sich zu beruhigen«, sagte er, »dann tauchen wir in den Wald ein, verstecken uns an einem sicheren Ort und warten, bis sich die erste Aufregung gelegt hat. Danach nehmen wir unsere Reise wieder auf, aber alleine, nur du und ich.«

»Aber wenn ich fliehe, bekommen Aurelius und seine Freunde ihre Belohnung nicht - dann haben sie sich umsonst abgemüht und ihr Leben riskiert.«

»Pscht!« flüsterte Ambrosinus. »Das ist wahrhaftig nicht der richtige Moment für Skrupel. Sie werden sich schon irgendwie zu helfen wissen.«

Aber die Pferde wurden, anstatt sich zu beruhigen, nur immer nervöser, bis Juba sich gar aufbäumte und unter lautem Wiehern mit den Vorderhufen gegen die Hauswand schlug.

»Nichts wie weg, los, komm! Dieses Vieh weckt noch alle auf«, zischte Ambrosinus und packte den Jungen am Arm. Aber in diesem Moment gruben sich ihm die Finger einer Hand in die Schulter und hielten ihn fest. »Stehenbleiben!«

»Aurelius«, sagte Ambrosinus, der die Stimme erkannt hatte. »Laß uns gehen, ich flehe dich an. Wenn du diesen Jungen nur ein bißchen gern hast, schenk ihm die Freiheit. Er hat schon genug gelitten ... Laß ihn frei.« Aber Aurelius starrte, ohne seinen eisernen Griff zu lockern, in eine andere Richtung.

»Du weißt nicht, was du sagst«, erwiderte er. »Schau mal dort rüber, zu den Bäumen.«

Ambrosinus blickte angestrengt in die Richtung, in die Aurelius mit dem Finger wies, und gewahrte ein konfuses Gewimmel bedrohlich wirkender Schatten. Sein Herz stockte.

»Oh, gütiger Gott ...«, murmelte er.

Livia war unterdessen fast bei der Brücke angelangt und konnte im schwachen Licht der Morgendämmerung eine Gestalt erkennen, die aufrecht hinter einem Tamanskenstrauch stand und eine Laterne in der Hand hielt. Wenige Schritte entfernt, hinter einem Weidenbusch, war ein Pferd angebunden. Livia trieb ihr Pferd an und näherte sich der Gestalt, bis sie sie erkannte. »Stephanus.«

»Livia«, erwiderte der Mann, als er ihre Stimme hörte.

»Wir haben den schwierigen Weg durch die Wälder genommen«, erklärte sie ihm, »aber wir waren pünktlich, wie du siehst. Auch sonst ist alles in Ordnung. Der Junge und sein Lehrer sind wohlauf, die Männer haben sich fabelhaft verhalten. Doch wo ist das Schiff? Es hätte doch schon gestern abend hiersein sollen, und jetzt ist es bald hell. Bei Tageslicht an Bord zu gehen, scheint mir ziemlich riskant, und auch dein Zeichen mit der Laterne - jeder hätte es sehen können ...«

Stephanus unterbrach sie mit einer Geste. »Das Schiff kommt nicht mehr.«

»Wie bitte?«

»Du hast leider richtig gehört: Das Schiff kommt nicht mehr.«

»Warum? Ist es angegriffen oder gar versenkt worden?«

»Nichts dergleichen. Es haben sich nur schlicht und einfach die Dinge geändert.«

»He, hör mal, was soll das? Meine Männer und ich haben unser Leben riskiert ...«

»Beruhige dich, Livia, bitte, es ist nicht meine Schuld: Zenon hat den von Basiliskos usurpierten Thron zurückerobert, doch er braucht Frieden, um seine Macht zu festigen. Er kann sich Odoaker nicht zum Feind machen, abgesehen davon, daß sein Anwärter für den Thron des Westreichs schon immer Julius Nepos war, das weißt du.«

Livia kam schlagartig die tödliche Gefahr zu Bewußtsein, die diese absurde Situation für sie alle darstellte. »Weiß Antemius von dieser Geschichte?« fragte sie immer betroffener.

»Gewiß, aber seine Hände sind gebunden.«

»Verflucht noch mal! Soll das heißen, er verurteilt den Jungen zum Tode?«

»Nein. Und das ist der Grund, weshalb ich hier bin. Ich habe ein kleines Stück nördlich von hier, an der Flußmündung, ein Schiff liegen. Damit können wir zu meiner Villa in Rimini gelangen, wo ihr alle sicher seid. Aber ihr müßt euch beeilen; hier ist es viel zu gefährlich.«

Livia stieg auf ihr Pferd. »Ich rufe die anderen«, erwiderte sie und wollte lospreschen.

»Nein, warte!« schrie Stephanus plötzlich. »Sieh nur, dort oben!«

Livia spähte zu dem Hügel hinauf und gewahrte eine Schar Barbarenkrieger, die von Süden kommend das kleine Gebäude umstellten, während hinter ihnen weitere Krieger aus dem Unterholz brachen. Stephanus versuchte noch einmal, sie zurückzuhalten. »Warte, sie bringen dich um!« Aber er stolperte, stürzte, und seine Laterne zerschellte am Boden. Livia betrachtete den brennenden Ölfleck, dann das Stoppelfeld mit den Strohhaufen und zögerte keinen Augenblick. Sie zog ihren Bogen aus dem Sattelhalfter, entzündete einen Pfeil und schoß ihn in hohem Bogen in einen der Strohhaufen, dann noch einen und noch einen, bis von allen Haufen dichte Rauchwolken aufstiegen.

»Du bist verrückt«, sagte Stephanus, der inzwischen wieder aufgestanden war. »Das schaffst du nie.«

»Wart's ab«, erwiderte Livia.

»Ich kann nicht länger bleiben, ich muß zurück«, sagte Stephanus, sichtlich beunruhigt. »Versuche deine Haut zu retten und komm zu mir nach Rimini. Ich warte auf dich!«

Livia nickte flüchtig mit dem Kopf und galoppierte auch schon durch das Flußtal zurück in Richtung Hügel.

Die Barbaren merkten zunächst nichts, da sie sich völlig auf die Umzingelung der alten mansio konzentrierten. Sie waren von ihren Pferden abgestiegen und schlichen mit gezogenen Schwertern durchs Gras, auf ein Zeichen ihres Anführers wartend: Wulfila.

Ringsum herrschte eine geradezu unwirkliche Stille, die Stille, die sich über die Natur senkt, wenn die Stimmen der Nachttiere verstummen und die Vögel es noch nicht wagen, mit ihrem Lied die Sonne zu begrüßen, die Stille an der Grenze zwischen der Finsternis der Nacht und dem ersten Morgenrot. Nur das verrostete Wirtshausschild quietschte kläglich in der frühen Meeresbrise. Wulfila gab das Zeichen, indem er die erhobene Linke nach unten riß. Mit gezückten Waffen drangen seine Krieger in das halbzerfallene Gebäude ein und stachen im Dämmerlicht auf die Schlafenden ein. Doch bald schon erhob sich ein Chor enttäuschter Flüche: Unter den Decken war nichts als Stroh - die Gäste waren fort.

»Sucht sie!« schrie Wulfila. »Sie müssen noch in der Nähe sein. Sucht ihre Spuren, sie haben Pferde!« Seine Männer stürzten lärmend nach draußen, doch beim Anblick des lichterloh brennenden Stoppelfelds verstummten sie jäh. Livia, die unten im Flußtal ritt, war nicht mehr zu sehen, und so kam es ihnen vor, als gehe es hier nicht mit rechten Dingen zu.

»Was zum Teufel ist hier los?« polterte Wulfila fassungslos. »Das müssen sie gewesen sein, verdammt noch mal! Sucht sie, sucht sie! Sie sind hier in der Nähe!«

Seine Krieger gehorchten und zerstreuten sich, um das umliegende Gelände nach Spuren abzusuchen, bis einer von ihnen das Gesuchte fand: Menschen- und Tierspuren, die zum Wald führten. »Hier entlang!« schrie er. »Sie sind hier in den Wald eingedrungen.«

Alle rannten zu ihren Pferden, um in den Wald zu preschen, aber Livia, die ahnte, was sie vorhatten, gab ihrem Pferd die Sporen, erklomm die Uferböschung und trat aus der Deckung, um die Aufmerksamkeit der Barbaren auf sich zu lenken. Ein weiterer ihrer Brandpfeile traf sein Ziel und entzündete es, ein anderer schwirrte pfeifend durch die Luft und tötete einen der Feinde. Im gleichen Moment schrie sie: »Hierher, Bastarde! Los, versucht mich zu kriegen!« Und mit diesen Worten begann sie auf halber Höhe inmitten der dichten Rauchschwaden hin und her zu reiten, um immer wieder unerwartet aufzutauchen und einen ihrer tödlichen Pfeile abzuschießen.

Auf ein Zeichen Wulfilas trennten sich drei Krieger von der Gruppe und jagten auf Livia zu, während sich das Feuer, vom Wind genährt, immer weiter ausbreitete und das Stoppelfeld in ein einziges Flammenmeer verwandelte. Livia schoß einen ihrer Verfolger mit dem Bogen ab, wich dem zweiten aus und stürzte sich mit dem Schwert auf den dritten, der unter mörderischem Gebrüll auf sie zustürmte. Es gelang ihr, ihn mit einer Finte aus dem Gleichgewicht zu bringen und dann mit der Flanke ihres Pferdes so heftig zu rammen, daß er abstürzte, direkt in die Flammen rollte und sich im Nu in eine menschliche Fackel verwandelte. Seine Schmerzens-schreie gingen bald im Brausen des alles verschlingenden Feuers unter. Livia durchquerte das Inferno in rasendem Galopp und ritt auf den Waldrand zu. Mit dem gezückten Schwert und den fliegenden Haaren erschien sie ihren Gefährten wie eine antike Kriegsgöttin.

»Weg von hier!« schrie sie. »Man hat uns verraten! Mir nach, schnell! Sie sind jeden Augenblick hier!«

»Vorher wollen wir ihnen aber noch einen Denkzettel verpassen«, entgegnete Aurelius und gab seinen Männern, die hinter den von Vatrenus am Vorabend entdeckten Baumstämmen standen, ein Zeichen, worauf diese mit Äxten und Schwertern die Seile aus Flachs durchtrennten, mit denen die Stapel befestigt waren. Dann schob Batiatus die Stämme an, bis sie den Hang hinunterzurollen begannen. Die dicken Hölzer gewannen rasch an Geschwindigkeit; mit fürchterlichem Getöse polterten sie über das unebene Gelände und säten Panik und Tod unter den Kriegern Wulfilas, die zum Wald emporzuklimmen versuchten; andere rollten mitten in die brennenden Strohhaufen, so daß diese wie riesige Feuerbälle explodierten und die Funken nur so stoben.

»Und jetzt los!« schrie Aurelius, saß auf und zog Romulus zu sich hoch. Dann sprengten sie Livia hinterher, die offenbar eine Idee hatte, wohin sie sie führen konnte. In gestrecktem Galopp schlugen sie einen völlig überwucherten Weg ein und gelangten wenig später erneut auf eine alte Abzweigung der Via Popilia, jetzt wenig mehr als ein Trampelpfad, der sich zwischen Brombeersträuchern und Eichenbüschen verlor. Livia schwang sich aus dem Sattel und deutete auf eine schmale Öffnung im Unterholz, die sich ein kleines Stück hangaufwärts befand. »Absteigen, die Pferde an den Zügeln führen und mir nach«, befahl sie. »Der letzte verwischt die Spuren.«

Orosius erbot sich, diese Aufgabe zu übernehmen; er schnitt ein paar Zweige ab, bündelte sie und verwischte damit, rückwärtsgehend, die Spuren von Mensch und Tier. Livia hatte unterdessen das Dickicht, das ihnen den Weg versperrte, umgangen und war vor einem kleinen Hügel stehengeblieben, der über und über mit Efeu und Schlingpflanzen bedeckt war.

Sie tastete die Hügelwand mit der Spitze ihres Bogens ab, bis dieser ganz in den grünen Vorhang eintauchte. »Hier entlang«, sagte sie, schob die Kletterpflanzen beiseite und legte den Zugang zu einer Art Stollen frei, der in den Sandstein des Hügels gehauen war. Die Gefährten folgten ihr einer nach dem andern, bis Orosius die Schlingpflanzen hinter ihnen wieder so anordnete, daß der Eingang vollkommen getarnt war. Als er sich nach den andern umdrehte, sah er, daß alle sich mit großen Augen umsahen. Das Sonnenlicht, das gedämpft durch das dichte Blattwerk drang, erhellte eine Art Höhle.

»Wir befinden uns hier in einem alten Mithräum, das seit Jahrhunderten nicht mehr benutzt wird. Früher diente es den orientalischen Seeleuten, die in Fano an Land gingen«, erklärte Livia ihnen. »Ich habe es nur ein einziges Mal als Unterschlupf benutzt - ein Wunder, daß ich es wiedergefunden habe. Gott muß wirklich mit uns sein, er weist uns den Weg der Rettung.«

»Wenn dein Gott mit uns ist, hat er eine seltsame Art es zu zeigen«, brummte Vatrenus. »Mir wäre es ehrlich gesagt lieber, er kümmerte sich in Zukunft um andere.«

Livia überhörte seine Bemerkung. »Führt alle Pferde nach hinten und versucht sie ruhig zu halten. Unsere Verfolger können jeden Augenblick hiersein, und diesmal ist es wirklich aus, wenn sie uns entdecken.«

Sie hatte kaum ausgesprochen, als von der Straße her Hufgetrappel zu vernehmen war. Livia ging zum Eingang und spähte nach draußen. Da erschein auch schon, an der Spitze seiner Männer, Wulfila - doch er jagte an der Höhle vorbei! Sie atmete erleichtert auf und wollte ihren Gefährten bereits ein Zeichen geben, daß die Gefahr vorüber sei, doch sie hatte sich zu früh gefreut. Der laute Galopp verstummte plötzlich, und statt dessen hörte man jetzt den Hufschlag langsam trottender Pferde, die zurückkamen. Livia gebot ihren Leuten absolute Stille und blickte weiter hinaus, während Aurelius Batiatus die Zügel seines Pferdes übergab und neben sie trat.

Wulfila befand sich jetzt höchstens zwanzig Schritte vom Höhleneingang entfernt, Kopf, Schultern und Rumpf überragten das dichte Gestrüpp, unter dem sich die alte Straße verbarg. Er war wahrhaft furchterregend anzusehen: die scheußliche Narbe im rußgeschwärzten Gesicht, die geröteten Augen, mit denen er umherspähte wie ein Beute witternder Wolf. Hinter ihm kamen seine Männer; in fächerförmiger Formation durchkämmten sie den Wald ringsum und suchten den Boden nach Spuren ab. Im Inneren der Höhle hielten alle den Atem an; jeder spürte die drohende Gefahr und umklammerte sein Schwert, wie immer bereit, sich in ein Gefecht auf Leben und Tod zu stürzen, ohne lange nach dem Grund zu fragen.

Der Barbarentrupp zerstreute sich in der Umgebung auf der Suche nach weiteren, möglichen Fluchtwegen, doch als Wulfila merkte, daß dies nichts brachte, scharte er seine Leute wieder um sich und zog ab.

Livia atmete hörbar auf und drehte sich nach den anderen um. »Ich habe vor Sonnenaufgang Stephanus getroffen«, berichtete sie. »Er sagte mir, daß Antemius uns verkauft hat. Ich werde deshalb das Geld, das ich euch versprochen hatte, nicht bekommen - wenigstens für den Moment.«

Ambrosinus machte einen Schritt auf sie zu. »Aber ... ich verstehe nicht.«

»Ganz einfach«, erwiderte Livia. »Kaiser Zenon hat Basiliskos entmachtet und das Zepter des Ostreichs wieder an sich gerissen; jetzt liegt ihm an guten Beziehungen zu Odoaker. Vielleicht hat er von unserem Abkommen mit Antemius erfahren, der - solchermaßen entlarvt - keine andere Wahl hatte, als Romulus den neuen Machtverhältnissen zu opfern.«

»Und was machen wir jetzt mit dem Jungen?« fragte Vatrenus.

»Wir könnten ihn mitnehmen«, erwiderte Aurelius. »Einen Moment ...«, hob Livia an, doch Demetrios unterbrach sie.

»Mitnehmen wohin? Odoaker wird uns gnadenlos jagen, und müßte er seinen letzten Mann dafür aufbieten. Machen wir uns nichts vor: Daß die Barbaren abgezogen sind, heißt gar nichts. Sie werden wiederkehren, wenn wir am wenigsten mit ihnen rechnen -und blutige Rache üben, das sollte jedem von uns klar sein.«

»So, und was schlägst du vor zu tun?« fragte Aurelius. »Mit den Barbaren einen Preis aushandeln und den Jungen selbst ausliefern?«

»He, Moment mal!« warf Batiatus dazwischen. »Könnte mir freundlicherweise jemand erklären ...«

»Wenn ihr mich endlich ausreden ließet ...«, versuchte Livia es noch einmal.

Romulus sah sich bekümmert um, wieder einmal stand er im Mittelpunkt von Diskussion und Streit, ohne daß man ihn als Menschen im geringsten berücksichtigte; wieder einmal lag sein Schicksal in den Händen anderer. Jetzt, wo es keine Belohnung mehr einzustreichen gab, war er für diese Leute nur noch eine unbequeme Last. Aurelius ahnte, wie ihm zumute war, er las die Betroffenheit und Demütigung in seinen Augen und versuchte einzulenken: »Hör zu, wir möchten nicht ...« Doch Ambrosinus unterbrach ihn mit einer

Stimme, die noch nie so zornig und entrüstet geklungen hatte wie jetzt: »Schluß!« rief er aus. »Jetzt hörst du mir mal zu, und ihr alle! Ich kam vor vielen Jahren aus Britannien in dieses Land, um mit einer Abordnung weiterer Gesandter beim Kaiser vorzusprechen. Wir wollten ihn um Hilfe für unserer Inselvolk bitten, das von einem grausamen Tyrannen unterdrückt und geschunden wurde; Plünderungen und Übergriffe von barbarischer Brutalität waren unser tägliches Brot. Unterwegs habe ich alle Gefährten verloren; wer nicht erfror, starb an einer Krankheit oder durch die Hand eines Briganten. Ich kam ganz alleine an und wurde noch nicht einmal empfangen, weil der Kaiser eine willenlose Marionette in den Händen anderer Barbaren war - er wollte mich nicht einmal anhören. Binnen Kürze war ich völlig mittellos. Daß ich überlebt habe, verdanke ich einzig meinen Kenntnissen der Medizin und Alchemie. Bis ich schließlich Erzieher dieses Jungen wurde. In guten und in schlechten Zeiten war ich an seiner Seite, in Momenten der Freude und in Momenten der Verzweiflung, der Erniedrigung, der Gefangenschaft. Und glaubt mir: Ich kenne keinen anderen Menschen, der so mutig, edel und mitfühlend ist wie er.« Alle lauschten beeindruckt dem leidenschaftlichen Vortrag des Ambrosinus, der Romulus an diesem Punkt eine Hand auf die Schulter legte und ihn in den Mittelpunkt des Kreises schob, bevor er die Stimme senkte und feierlich fortfuhr: »Romulus, der Augenblick ist gekommen. Ich bitte dich, das Flehen deiner Untertanen in Britannien, die seit Jahren wehrlos ihrem Schicksal ausgeliefert sind, zu erhören; ich bitte dich, weitere Gefahren und Entbehrungen auf dich zu nehmen und ihnen zu Hilfe zu eilen - mit oder ohne Unterstützung dieser Männer.«

Die Umstehenden starrten Ambrosinus mit offenem Mund an, dann blickten sie sich gegenseitig an, als trauten sie ihren Ohren nicht.

»Ich weiß, was ihr denkt, ich lese es in euren Gesichtern«, fuhr Ambrosinus an sie gewandt fort. »Ihr denkt, ich hätte den Verstand verloren, aber ihr irrt euch. Jetzt, wo ihr daran gehindert seid, eure Mission erfolgreich abzuschließen und das versprochene Lösegeld einzustreichen, habt ihr nur zwei Alternativen: Ihr könnt Romulus Augustus seinen Feinden ausliefern und möglicherweise ein noch höheres Lösegeld herausschlagen als das ursprünglich vereinbarte; ihr könnt euren Kaiser verraten und euch damit eines infamen Verbrechens schuldig machen, aber ich weiß, daß ihr das nicht tun werdet. In der kurzen Zeit unseres Zusammenseins hatte ich Gelegenheit, euch kennenzulernen, und dabei habe ich entdeckt, daß Mut, Tapferkeit und Treue, die totgeglaubten Werte eines echten römischen Soldaten, für euch nach wie vor Gültigkeit besitzen.« Ambrosinus räusperte sich kurz, bevor er fortfuhr. »Die andere Möglichkeit wäre, uns die Freiheit zu geben und gehen zu lassen.« Sein Blick richtete sich auf den Knauf des Schwerts, das Aurelius umgehängt hatte. »Dieses Schwert wird unser Talisman sein und unser Führer die alte Prophezeiung, die nur er und ich kennen.«

In der großen Höhle war Stille eingetreten. Alle waren zutiefst beeindruckt von den Worten des weisen Mannes, von der Würde und dem Mut des kleinen Herrschers ohne Reich und ohne Heer.

»Ich komme mit dir, Ambrosinus«, sagte Romulus, »wo immer du mich auch hinführen willst - mit diesem Schwert oder ohne es. Gott wird uns zur Seite stehen.« Mit diesen Worten nahm er seinen Lehrer bei der Hand und schickte sich an, die Höhle zu verlassen.

Aurelius versperrte ihnen den Weg. »Und wie wollt ihr so weit in den Norden hinaufkommen, wenn ich fragen darf?«

»Zu Fuß«, erwiderte Ambrosinus lakonisch.

»Zu Fuß«, wiederholte Aurelius, wie um sicherzugehen, daß er richtig gehört hatte.

»Jawohl.«

»Und wenn ihr mal da seid«, meinte Vatrenus sarkastisch, »vorausgesetzt, ihr kommt je an, wie wollt ihr dann bitte schön diesen grausamen Tyrannen bekämpfen, von dem du vorher gesprochen hast, ihr beide ganz allein, ein alter Mann und ein ...«

»Kind«, vervollständigte Romulus seinen Satz. »Das ist es doch, was du sagen wolltest, nicht? Nun, auch Iulus, der Sohn des Ae-neas, war noch ein Kind, als er das brennende Troja verließ und nach Italien kam. Und doch gründete er die größte Nation aller Zeiten. Ich besitze nichts, was ich euch geben könnte - weder Güter noch Geld, noch Land, das ich euch zur Belohnung schenken könnte. Ich kann euch nur danken für alles, was ihr für mich getan habt. Ich kann euch nur sagen, daß ich euch nie vergessen und immer im Herzen tragen werde, und sollte ich hundert Jahre alt werden ...« Seine Stimme zitterte vor Ergriffenheit. »Du, Aurelius, und du, Vatrenus, und Demetrios, Batiatus, Orosius, und auch du, Livia, ver-geßt auch ihr mich nicht ... Lebt wohl.« Er sah seinen Lehrer an: »Komm, Ambrosinus, wir wollen uns auf den Weg machen.«

Sie gingen zum Ausgang des Mithräums, schoben den Vorhang aus Schlingpflanzen auseinander und traten auf den schmalen Pfad hinaus. Aurelius griff nach dem Zügel seines Pferdes, sah seine Gefährten an und sagte: »Ich gehe mit ihnen«, als handle es sich um die natürlichste Sache der Welt.

Vatrenus schüttelte den Kopf, als erwache er aus einem Traum. »Ist das dein Ernst?« fragte er. »Warte, verflucht noch mal, warte, wo willst du hin?« rief er und ging ihm nach. Livia lächelte, als hätte sie es nicht anders erwartet, und verließ ihrerseits die Höhle, das Pferd am Zügel mit sich führend. Batiatus kratzte sich am Kopf. »Ist dieses Britannien sehr weit weg?« fragte er die beiden anderen.

»Ich glaube ja«, erwiderte Orosius. »Ich fürchte, es ist das Land, das am weitesten entfernt ist von allen - zumindest von denen, die ich vom Hörensagen kenne.«

»Dann sollten wir uns sputen«, sagte Batiatus, pfiff seinem Pferd und drang durch den grünen Vorhang hinaus ins Sonnenlicht.

Ambrosinus und Romulus, die sich bereits auf dem Pfad befanden, hörten hinter sich Blätterrascheln und Hufgetrappel, aber sie wandten sich nicht um. Erst als Romulus klar wurde, daß sie alle denselben Weg einschlugen, blieb er stehen und drückte Ambrosinus Arm. Langsam drehte er sich um und fand sich allen sechs gegenüber. »Wo wollt ihr hin?« fragte er.

Aurelius näherte sich ihm. »Glaubst du wirklich, wir könnten dich im Stich lassen?« sagte er. »Von jetzt an hast du ein kleines Heer, wenn du möchtest - klein, aber tapfer. Und treu. Ave, Cäsar!« Mit diesen Worten zog er das Schwert aus der Scheide und reichte es Romulus. Im selben Moment brach ein Sonnenstrahl aus den Wolken, durchdrang das dichte Laubwerk von Fichten und Steineichen und tauchte das Gesicht des Jungen und sein Schwert in ein magisches, unwirkliches Licht.

Romulus gab Aurelius die Waffe mit einem Lächeln zurück. »Hüte du es für mich«, sagte er.

Aurelius reichte ihm die Hand und zog ihn zu sich aufs Pferd, dann gab er den anderen ein Zeichen, auch Ambrosinus sein Tier zurückzugeben. »Wir haben eine lange und gefährliche Reise vor uns«, sagte er. »In zwei, drei Tagen erreichen wir die Poebene; sie ist ganz flach und bietet keinerlei Unterschlupfmöglichkeit; wir könnten leicht entdeckt werden.«

»Stimmt«, erwiderte Ambrosinus. »Aber wir werden einen mächtigen Verbündeten haben.«

»Nämlich?«

»Den Nebel«, erwiderte der Alte.

»Möglicherweise kann auch Stephanus noch etwas für uns tun«, sagte Livia. »Ich weiß, daß er mit einem Schiff gekommen ist, um uns zur Flucht zu verhelfen. Vielleicht kann er uns ja einen Teil des versprochenen Geldes auszahlen oder wenigstens mit Proviant versorgen. Die Poebene ist riesig, und die Tage sind kurz und nebelig -so leicht kommt man uns nicht auf die Spur.«

»Du hast recht«, nickte Aurelius. »Aber danach müssen wir die Alpen überqueren, und zwar mitten im Winter.«

XXII

Stephanus sah einen Teil von Wulfilas Schar aus dem Wald zurückkehren - knapp ein halbes Dutzend Männer. Während er ihnen entgegenging, bemüht er sich, so natürlich wie möglich zu wirken. »Wo sind die anderen?« fragte er ihren Anführer.

»Die habe ich in Gruppen aufgeteilt und weitersuchen lassen. Ich bin sicher, daß diese Leute noch irgendwo in der Nähe sind. Mit dem Alten und dem Jungen können sie noch nicht weit gekommen sein«, antwortete Wulfila.

»Ja, aber das Wetter verschlechtert sich zusehends und das macht die Sache nicht leichter«, entgegnete Stephanus. Tatsächlich zog vom Meer eine dicke Front aus schwarzen Wolken heran, und wenig später begann ein eisiger Schneeregen zu fallen.

Das Feuer, das inzwischen das ganze Stoppelfeld und sämtliche Strohhaufen verbrannt hatte, erlosch vollends und ließ nichts als eine rauchende, schwarze Fläche zurück.

Stephanus klapperte vor Kälte mit den Zähnen und zitterte am ganzen Leib. »Diese Geschichte wird Odoaker nicht gefallen«, stieß er hervor, »und den Gesandten Zenons schon gar nicht. Ich möchte nicht in deiner Haut stecken, wenn du sie ihnen erzählst. Und glaube nicht, ich riskiere meinen Kopf, um deinen zu retten. Sich mit einer siebzig Mann starken Truppe einen alten Tattergreis und einen Jungen durch die Lappen gehen zu lassen, ist schon ein starkes Stück. Das riecht fast nach Bestechung ...«

»Still!« zischte Wulfila ihn an. »Wenn du mich rechtzeitig unterrichtet hättest, wären sie uns alle ins Netz gegangen.«

»Das war nicht möglich. Antemius Mann in Neapel hatte ihre Flucht so gut vorbereitet, daß ich selbst ihre Spuren verloren habe -und sie haben sich ihrerseits nicht bei mir gemeldet. Was hätte ich dir also mitteilen können? Das einzig Sichere war unsere Verabredung hier, wo das Schiff anlegen sollte. Und davon wußtest du ja.«

Wulfila musterte ihn mißtrauisch. »Mir ist immer noch nicht ganz klar, auf wessen Seite du wirklich stehst«, knurrte er. »Aber sieh dich vor: Wenn ich rauskriege, daß du ein doppeltes Spiel treibst, wirst du den Tag deiner Geburt verfluchen.«

Stephanus fand nicht die Kraft, ihm eine entsprechende Antwort zu erteilen. »Gib mir was Warmes«, sagte er statt dessen. »Siehst du nicht, daß ich vor Kälte schlottere?«

Wulfila band eine Decke von seinem Sattel los und warf sie vor ihn auf den Boden. Stephanus hob sie auf, hängte sie sich um die Schultern und wickelte sich fest ein.

»Was hast du jetzt vor?« fragte er Wulfila, als ihm wieder etwas wärmer war.

»Was schon? Diese verdammten Römer aufstöbern. Um jeden Preis. Egal, wohin sie geflohen sind.«

»Das könnte aber lange dauern. Wenn du sie jetzt nicht erwischt hast, wo du sie vor der Nase hattest, kriegst du sie vielleicht nie. Die Zeit spielt zu ihren Gunsten, und von Capri aus könnten sich seltsame Gerüchte und Erwartungen verbreiten ...«

Wulfila ließ sich endlich dazu herab, vom Pferd zu steigen, so daß Stephanus nicht länger den Hals verrenken mußte. »Was meinst du damit?«

»Ganz einfach: Wenn sich das Gerücht von der Flucht des Kaisers verbreitet, könnte es sich irgendwer zunutze machen - mit unabsehbaren Folgen.« Wulfila zuckte mit der Schulter. »Außerdem war es Odoakers Wille, daß der Junge den Rest seiner Tage auf Capri verbringt«, fuhr Stephanus fort, »und so muß es sein. Keiner darf merken, daß er verschwunden ist.«

»Wie soll ich das anstellen?«

»Schick einen Vertrauensmann nach Capri und laß Romulus Au-gustus durch einen Doppelgänger ersetzen - irgendeinen Jungen seines Alters, der angezogen ist wie er und mindestens ein paar Monate lang von niemandem gesehen werden darf, bis du nach und nach das gesamte Personal, einschließlich der Wächter, ausgewechselt hast. Für die Inselbewohner - und nicht nur für sie - hat Romulus die Villa nie verlassen, geschweige denn die Insel, noch wird er sie je verlassen. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«

Wulfila nickte.

»Danach erstattest du Odoaker Bericht - und zwar höchstpersönlich.«

Wulfila nickte noch einmal mit kaum verhohlener Wut. Er haßte diesen intriganten Höfling, aber es war ihm klar, daß dieser im Moment zweifellos in der angenehmeren Lage war, wenn auch völlig durchnäßt und bis zum Hals in eine Pferdedecke gewickelt. Er bedeutete Stephanus, ihm in die alte mansio zu folgen, die aufgrund ihrer erhöhten Lage vom Feuer verschont geblieben war; dort warteten sie, bis die Suchtrupps zurückkehrten. In diesem Augenblick fiel Stephanus noch etwas ein, und er gab dem Barbarenanführer ein Zeichen näher zu kommen, um nicht allzu laut sprechen zu müssen. »Antemius hatte auch auf Capri seine Spitzel, ja sogar auf den Schiffen, mit denen du die Fliehenden verfolgt hast; einer von ihnen hat ihm eine seltsame Geschichte erzählt ...«, begann er. Wulfila schielte ihn mißtrauisch an. »Demnach soll einer von diesen Männern ein wundersames Schwert besitzen, wie es kein zweites auf der Welt gibt. Sagt dir das etwas?«

Wulfila wich seinem Blick aus, trotzdem sah man ihm deutsch an, daß er log: »Nein, keine Ahnung, wovon du redest«, antwortete er.

»Seltsam. Dabei hast du doch sicher mit diesem kläglichen Haufen gekämpft, um zu verhindern, daß sie den Kaiser entführen ...«

»Die Leute reden viel. Ich kenne dieses Schwert nicht, und wenn du kämpfst, schaust du deinen Gegner an, nicht seine Waffe. Abgesehen davon hatte auch ich dich um eine Information gebeten, die du mir bis heute nicht gegeben hast.«

»Hinsichtlich dieses Legionärs? Ich weiß nur, daß er zu der Truppe gehörte, die Mledo in Dertona ausgelöscht hat, und Aurelius heißt.«

»Aurelius? Hast du Aurelius gesagt?«

»Ja, warum?«

Wulfila dachte eine Weile schweigend nach, dann sagte er: »Ich bin sicher, daß ich ihn schon einmal gesehen habe - vor langer, langer Zeit. Ich vergesse Gesichter, die ich einmal gesehen habe, nie wieder. Aber, egal: Wer auch immer er war, der Mann ist in jener Nacht im Meer verschwunden und aller Wahrscheinlichkeit nach den Fischen zum Fraß geworden.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, erwiderte Stephanus. »Meines Wissens lebt er noch und ist nach wie vor im Besitz dieses Schwertes.«

Wenig später kamen die ersten seiner Krieger zurück, todmüde und mit schweißdampfenden Pferden. Ihren niedergeschlagenen Mienen war sofort abzulesen, daß die Suche erfolglos geblieben war. Wulfila hieb vor Wut mit der Peitsche auf sie ein. »Was, ihr habt sie nicht gefunden? Das könnt ihr mir nicht erzählen!« fauchte er. »Sieben Personen zu Pferde lösen sich nicht einfach in Luft auf, verflucht noch mal!«

»Wir haben überall gesucht«, lautete die Antwort. »Vielleicht kannten sie ein Versteck. Sie haben immer hier gelebt und kennen die Gegend besser als wir. Vielleicht hat ihnen auch jemand Unterschlupf gewährt.«

»Warum habt ihr nicht die Häuser durchsucht und die Bauern zum Sprechen gebracht? Ihr wißt doch, wie man das macht ...«

»Wir haben es ja versucht, aber viele von ihnen verstehen uns nicht.«

»Die tun bloß so!« brüllte Wulfila. Stephanus betrachtete ihn teilnahmslos, aber innerlich weidete er sich an der Panik des borstigen Ungetüms. Gegen Mittag trafen weitere Suchmannschaften ein.

»Vielleicht haben sie weiter nördlich Spuren gefunden«, sagte einer der Reiter. »Wir haben ausgemacht, daß wir uns in Pesaro treffen - wer zuerst da ist, wartet auf den Rest. Und was tun wir jetzt?«

»Weitersuchen«, schnaubte Wulfila. »Auf der Stelle!«

Stephanus für seinen Teil verabschiedete sich. »Wir sehen uns wahrscheinlich erst in Ravenna wieder. Ich bleibe hier und warte auf das Schiff, das mich abholen kommt«, sagte er und trat noch einmal ganz dicht an Wulfila heran. »Stimmt es, daß dieses Schwert einen goldenen Knauf in Form eines Adlerkopfs hat?« fragte er mit gesenkter Stimme.

»Keine Ahnung«, erwiderte Wulfila auch diesmal. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Egal. Aber wenn es trotzdem irgendwann in deine Hände fallen sollte, denk dran, daß es Leute gibt, die jeden Preis dafür bezahlen würden, Leute, die dich buchstäblich mit Gold überhäufen würden, klar? Also, mach keinen Unsinn. Wenn du an dieses Schwert kommst, sag es mir, und ich sorge dafür, daß du für den Rest deiner Tage im Luxus schwelgst.«

Wulfila gab keine Antwort, sondern sah ihn nur einen Moment lang mit rätselhaftem Blick an, dann trommelte er seine Männer zusammen, ordnete sie fächerförmig an und ließ sie in alle Richtungen ausschwärmen; er selbst führte die Gruppe an, die nach Norden ritt. Tagelang durchkämmten sie das Land, suchten alle Wege und Pfade nach Spuren ab, doch letzten Endes trafen sie in Pesaro ein, ohne irgendwelche Erfolge vermelden zu können. Das Wetter wurde immer schlechter, ein unaufhörlicher Nieselregen verwandelte die Straßen in Sümpfe und machte die Äcker fast unpassierbar, während sich die Berge bis weit herab mit Schnee bedeckten.

Die Vorhut, die Wulfila nach Pesaro vorausgeritten war, hatte die Suchmeldung nach einer Gruppe von fünf Männern und einer Frau mit einem Greis und einem Jungen bereits an sämtliche Garnisonen weitergegeben, auf die sie unterwegs gestoßen war. Im Grunde war alles nur noch eine Frage der Zeit.

Von Pesaro aus machte sich Wulfila in aller Eile nach Ravenna auf, wo ihn die schwierigste Prüfung erwartete, nämlich die, Odoaker gegenüberzutreten.

Der magister militum empfing ihn in einem der kaiserlichen Gemächer, in denen er sich breitgemacht hatte. Wulfila las an seinem Blick ab, daß er bereits unterrichtet war, und er ahnte, daß alles, was er vorbrächte, Odoakers Laune nur noch verschlechtern würde. Also sagte er erst einmal gar nichts. Das Gewitter ließ nicht lange auf sich warten.

»Meine besten Männer!« polterte Odoaker los. »Mein Statthalter höchstpersönlich, an der Nase herumgeführt von einer Handvoll elender römischer Schlappschwänze - wie ist das möglich?«

»Das waren keine Schlappschwänze!« erwiderte Wulfila gereizt.

»Offensichtlich! Dann seid ihr also die Schlappschwänze!«

»Hab acht, Odoaker, nicht einmal du kannst so mit mir reden.«

»Was, du wagst es, mir zu drohen? Nachdem du derart kläglich versagt hast?« Odoaker schnaubte wütend. »Jetzt erzählst du mir erst einmal den genauen Hergang der Dinge. Ich will wissen, mit was für Männern ich mich da umgeben habe - ob ihr inzwischen feiger und schwächlicher seid als die Römer, die wir bezwungen und unterjocht haben.«

Wulfila blickte grimmig drein. »Sie haben uns in einer Sturmnacht überrumpelt. Irgendwie haben sie es geschafft, die Steilwand im Norden der Insel zu bezwingen«, knurrte er. »Danach sind sie durch einen unterirdischen Geheimgang zum Meer geflohen und in ein wartendes Boot gestiegen. Ich hatte nur zwei Schiffe zur Verfügung, aber mit denen haben wir die umliegenden Gewässer durchkämmt, bis sich auch noch die Elemente gegen uns wandten: Der Sturm hat sich gelegt, dafür brach plötzlich der Vulkan aus! Es hat Glut und Asche geregnet, und in dem undurchdringlichen Dunst war ihr Boot binnen Kürze verschwunden. Ich konnte nur noch sehen, wie ihr Anführer ins Meer stürzte - übrigens derselbe, der schon in Ravenna versucht hat, den Jungen zu befreien. Trotzdem gab ich mich noch nicht geschlagen.«

»Bist du dir sicher?« fragte Odoaker. »Ich meine, daß das derselbe Mann war wie in Ravenna? Es war doch finster ...«

Wulfila nickte nachdrücklich mit dem Kopf. »Ich habe ihn gesehen, wie ich dich jetzt vor mir sehe. Im übrigen, wen wundert's? Wer einmal etwas versucht hat, versucht es auch ein zweites Mal -obwohl auch ich nicht damit gerechnet hatte, diesen Kerl noch einmal lebend wiederzusehen.«

»Sprich weiter«, sagte Odoaker, gespannt auf den Fortgang der seltsamen Geschichte.

»Jeder andere hätte an diesem Punkt aufgegeben. Auch ich war überzeugt, daß diese Leute Schiffbruch erlitten hatten, daß ihr Boot im Dunkeln an den Felsen zerschellt war«, sagte Wulfila. »Trotzdem habe ich die Suche nicht abgebrochen, sondern den Apennin überquert, und zwar in derselben Zeit wie sie, wie sich hinterher herausstellte, wobei sie dank ihrer Ortskenntnisse natürlich im Vorteil waren.« Wulfila seufzte. »Leider sind sie mir im letzten Moment doch noch durch die Lappen gegangen, und bei aller Suche sind wir ihnen bis heute nicht wieder auf die Spur gekommen.«

»Klar ist jedenfalls, daß sie wußten, wo sich die Gefangenen aufhalten und daß die Nordwand nicht bewacht war«, stellte Odoaker fest.

Wulfila nickte. »Ja, und außerdem kannten sie einen Geheimgang, von dessen Existenz nicht einmal wir etwas wußten. Irgendwer muß sie informiert haben ...«

»Wer?« schrie Odoaker.

»Da gibt es viele Möglichkeiten: ein Diener, ein Handwerker, ein Bäcker, ein Hufschmied, eine der Köchinnen oder Marktfrauen, vielleicht sogar ... eine Prostituierte, warum nicht? Dahinter muß allerdings noch ein Drahtzieher gestanden haben. Ich habe die Kontakte zwischen der Villa und dem Rest der Insel immer auf ein Minimum beschränkt, aber ganz konnte ich sie nicht unterbinden.«

»Ein Drahtzieher? Wenn du einen konkreten Verdacht hast, dann sprich!«

»Antemius vielleicht - gut möglich, daß er die Villa auf Capri kannte, er hatte scheinbar viele Bekannte in Neapel. Auch Stephanus scheint mir ...«

»Stephanus ist ein intelligenter und fähiger Mann, und zudem ausgesprochen praktisch veranlagt. Ich brauche ihn für die Beziehungen zu Zenon«, erwiderte Odoaker trocken, aber Wulfilas Schilderung der Ereignisse hatte ihn doch sehr beeindruckt; sie zeugte vom Mut und der Klugheit unglaublich tüchtiger Männer, die Gewaltiges zu leisten imstande waren. Mit einemmal wurde ihm klar, wie schwierig es sein würde, dieses Land mit der alleinigen Gewalt eines Heeres zu regieren, das von der einheimischen Bevölkerung als fremd, grausam und gewalttätig, mithin barbarisch, empfunden wurde. Er begriff, daß hier nicht Gewalt, sondern Intelligenz vonnöten war, keine Schwerter, sondern Wissen, und daß er inmitten Hunderter von Krieger, die seinen Palast bewachten, anfälliger und verletzlicher war als auf einem Schlachtfeld. Und einen Moment lang fühlte Odoaker sich von einem kleinen, dreizehnjährigen Jungen bedroht, der jetzt frei, beschützt und unauffindbar war. Wider willen mußte er an Romulus Racheschwur neben dem Leichnam seiner Mutter, unten, in der Krypta der Basilika, denken. »Und was sollen wir jetzt deiner Ansicht nach tun?« fragte er Wulfila ärgerlich.

»Ich habe bereits erste Maßnahmen ergriffen«, erwiderte Wulfila. »Unter anderem habe ich den Jungen auf Capri durch einen Doppelgänger ersetzen lassen - er ist genauso alt wie er, sieht ähnlich aus, trägt dieselben Kleider und wohnt am selben Ort, hat aber ausschließlich Umgang mit ein paar von meinen engsten Vertrauten. Alle anderen bekommen ihn nur aus der Ferne zu sehen. Innerhalb kurzer Zeit werde ich die ganze Dienerschaft und sämtliche Wächter ersetzen lassen so daß die Neuen keine Vergleichsmöglichkeit haben und glauben, sie hätten es mit dem richtigen Romulus Au-gustus zu tun.«

»Ein scharfsinniger Plan, den ich dir schwerlich zugetraut hätte. Besser so. Aber jetzt möchte ich wissen, wie du den Jungen und seine Begleiter aufzugreifen gedenkst.«

»Stell mir ein Dekret aus, das mir freie Verfügungsgewalt gibt und die Möglichkeit, ein Kopfgeld auf den Jungen auszusetzen«, erwiderte Wulfila. »Sie können uns nicht entkommen. Eine Karawane wie die ihre fällt früher oder später auf; sie können sich ja nicht ewig verstecken, irgendwann müssen sie sich neuen Proviant beschaffen, eine Unterkunft für die Nacht suchen - die Jahreszeit, in der man unter freiem Himmel schlafen kann, ist vorbei.«

»Aber du weißt ja nicht mal, in welche Richtung sie gezogen sind.«

»Ich vermute nach Norden - die Ostroute ist ihnen nun ja verwehrt, und wo könnten sie sonst hinwollen? Nein, sie werden mit allen Mitteln versuchen, Italien zu verlassen. Und Schiffe fahren jetzt, im Herbst, auch keine mehr.«

Odoaker dachte noch eine Weile schweigend nach, und Wulfila beobachtete ihn dabei, als sähe er ihn zum erstenmal: Was für eine Veränderung seit ihrer letzten Begegnung! Odoaker hatte jetzt kurzes, gepflegtes Haar, er war frisch rasiert und trug eine langärmeli-ge Leinendalmatika, die auf dem Rücken mit gold- und silber-durchwirkten Streifen verziert war; seine Füße steckten in feinen Kalbslederstiefeln, die Stickereien aus roter und gelber Wolle sowie Schnürsenkel aus rotem Leder schmückten. Vor seiner Brust baumelte ein Silbermedaillon mit einem goldenen Kreuz, und silbern war auch der Gürtel aus Tausenden von winzigen Kettengliedern. Am Ringfinger der linken Hand prangte ein Ring mit kostbarer Kamee, und wären nicht die rotblonde Körper- und Kopfbehaarung sowie die Sommersprossen auf Gesicht, Nase und Händen gewesen, so hätte er sich in nichts von einem großen römischen Würdenträger unterschieden.

Odoaker, der wohl merkte, wie Wulfila ihn anstarrte, beschloß, der peinlichen Musterung ein Ende zu setzen. »Kaiser Zenon hat mich zum römischen Patrizier ernannt«, stellte er fest, »und das gibt mir das Recht, den Namen Flavius vor meinen eigenen Namen zu setzen; außerdem hat er mich mit einer Generalvollmacht für die Verwaltung dieses Landes und der angrenzenden Regionen ausgestattet. Ich werde dir also die Dekrete geben, die du verlangst, und angesichts der Tatsache, daß dieser Junge nun keinerlei politische Bedeutung mehr für uns hat - zumindest was unsere Beziehungen zum Ostreich betrifft - ist es das Beste, du bringst ihn direkt um. Damit wäre auch die Gefahr von Unruhen im Volk ein für allemal gebannt. Ja, stöbere ihn auf, bring mir seinen Kopf, verbrenne den Rest und zerstreu seine Asche in alle vier Winde. Der einzige Romulus Augustus oder Augustulus, wie ihn seine falschen Höflinge spöttisch nennen, wird der auf Capri sein - immerdar und für alle. Was dich betrifft, so kehrst du erst nach Ausführung meines Befehls wieder zurück. Verfolge diesen Romulus, wenn nötig, bis ans Ende der Welt, und wage nicht, ohne seinen Kopf zurückzukommen, sonst nehme ich mir dafür deinen. Du weißt, daß ich dazu in der Lage bin.«

Wulfila ging mit keinem Wort auf seine Drohung ein. »Mach die Dekrete fertig, ich breche so bald wie möglich auf«, sagte er, wandte sich ab und ging zur Tür, aber auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um. »Was ist eigentlich aus Antemius geworden?« sagte er.

»Warum fragst du?«

»Weil ich gerne begreifen würde, woran ich mit diesem Stephanus bin, der hier in Ravenna auf einmal ein so wichtiger Mann zu sein scheint.«

»Stephanus hat die guten Beziehungen zwischen Ost und West wiederhergestellt«, erwiderte Odoaker. »Außerdem hat er zur Festigung meiner Position in Ravenna beigetragen - eine komplizierte und äußerst heikle Aufgabe, die du noch nicht einmal in Gedanken nachvollziehen könntest. Was Antemius betrifft, so hat er sein verdientes Ende gefunden: Er hat Basiliskos dafür, daß er Romulus beschützt, einen Stützpunkt in der Lagune versprochen, außerdem hat er mit ihm einen Mordplan gegen mich ausgeheckt. Ich habe ihn erdrosseln lassen.«

»Verstehe«, murmelte Wulfila und ging hinaus.

Stephanus traf erst am darauffolgenden Tag in Rimini ein; sein Schiff hatte bei widrigen und sehr gefährlichen Nordostwinden die Adria hinaufsegeln müssen. Ab diesem Augenblick ließ Wulfila ihn tagaus, tagein beschatten, denn er hatte inzwischen einiges erkannt: erstens, daß Stephanus mindestens so versessen auf dieses sagenhafte Schwert war wie er selbst - weshalb, wußte er nicht, es hatte aber sicher etwas mit Macht und Geld zu tun, sonst wäre er nicht bereit gewesen, so viel dafür zu bezahlen - zweitens war ihm klargeworden, daß Stephanus das Netz von Spitzeln geerbt haben mußte, das vorher Antemius unterstanden hatte; und drittens, daß er der fähigste und durchtriebenste Mann war, mit dem er es je zu tun gehabt hatte. Es hier, in Ravenna, mit ihm aufzunehmen, wäre zwecklos gewesen; dies hätte bedeutet, ihn auf eigenem Boden kämpfen zu lassen und aller Wahrscheinlichkeit nach zu verlieren. Da war es schon besser abzuwarten, ob er nicht irgendeinen gewagten Schritt unternahm, wie etwa den, Ravenna zu verlassen. Wenn Wulfila richtig lag, würde das schon sehr bald geschehen; dann aber wollte er sich ihm an die Fersen heften, sicher, irgendeine bedeutende Entdeckung zu machen. Unterdessen waren schon einmal Reiter in alle Richtungen ausgeschwärmt und fragten herum, ob irgendwer eine Karawane aus sechs, sieben Personen mit einem schwarzen Giganten, einem alten Mann und einem Jungen gesehen hätte.

Aurelius und seine kleine Karawane hatten, kaum daß Wulfilas Männer verschwunden waren, die eigenen Spuren verwischt und den Weg in eine verborgene, kleine Schlucht eingeschlagen. Seither hielten sie sich stets ziemlich hoch an den Berghängen, um die umliegende Gegend besser überblicken zu können. Außerdem hatten sie sich in drei Gruppen aufgeteilt, die stets mit zirka einer Meile Entfernung voneinander marschierten. Batiatus ging zu Fuß, zur Tarnung war er mit einem langen Kapuzenmantel angetan, der ihn fast vollständig bedeckte, außerdem war er allein unterwegs, denn inmitten der anderen Reisegefährten wäre er mit seiner imposante Statur noch mehr aufgefallen. Romulus wanderte zusammen mit Aurelius und Livia, so daß die drei wie eine kleine Familie wirkten, die mit ihrem bescheidenen Reisegepäck unterwegs war. Jeder von ihnen trug seine Waffe unter dem Mantel; nur die Schilde waren zu sperrig gewesen und deshalb auf Ambrosinus Maulesel gepackt und unter einer Decke versteckt worden. Er, Ambrosinus, war derjenige, der sich alles ausgedacht hatte, während Livia die Marschroute festgelegt und dabei wieder einmal die Erfahrung eines alten Veteranen bewiesen hatte. Fast überall lag Schnee, allerdings noch nicht so hoch, daß man nicht mehr durchgekommen wäre. Auch die Temperaturen waren noch auszuhalten, und der Himmel war fast immer wolkenbedeckt.

In der ersten Nacht schlugen sie ein notdürftiges Lager auf, indem sie mit ihren Äxten Tannenzweige abhackten und im Schütze eines Felsen eine Art Hütte damit bauten. Feuer entfachten sie erst wieder, als sie ganz sicher waren, den Feind nicht mehr im Rücken zu haben, und auch dann nur tief im Wald, wo die dichte Vegetation sie schützte. Am darauffolgenden Tag war der Himmel klar und die Temperaturen strenger; die vom Meer her kommende, feuchtwarme Luft kondensierte an den ersten Anhöhen des Apennin und bildete einen dichten Nebelvorhang, der sie vollends allen Blicken von unten entzog. Als sie am Abend des zweiten Marschtages den Rand der Poebene erreichten, galt es zu entscheiden, ob man abstieg und die Ebene durchquerte oder aber weiter dem Bergkamm der Apen-ninen folgte, was nach Westen geführt hätte. Letzteres wäre bei weitem der leichtere und möglicherweise auch der bequemere Weg gewesen, doch er beinhaltete den Küstenabschnitt zwischen Ligurien und Gallien, wo sie womöglich auf Garnisonen Odoakers stießen, die nur auf sie warteten. Andererseits konnte nicht ausgeschlossen werden, daß Wulfila sämtliche Gebirgspässe von einem Krieger bewachen ließ, einem der Dutzenden von Männern, die Romulus und seinen Erzieher bestens kannten, weil sie die beiden während einiger Wochen Gefangenschaft auf Capri erlebt hatten. Die Landkarte, die Ambrosinus in der mansio in Fano in kluger Voraussicht abgezeichnet hatte, erwies sich nun als äußerst wertvoll. Mit Einbruch der Nacht versammelte sich die kleine Reisegesellschaft ums Lagerfeuer, um die Marschroute und alles Weitere zu besprechen.

»Ich würde davon abraten, schon jetzt in die Ebene hinabzusteigen und die Emilia-Romagna zu durchqueren«, sagte Ambrosinus. »Wir wären zu nahe an Ravenna und könnten einem von Odoakers Spitzeln in die Arme laufen. Mein Vorschlag wäre, vorerst in den Bergen zu bleiben und auf halber Höhe weiter in Richtung Westen zu ziehen. Auf der Höhe von Piacenza angekommen, müßten wir dann entscheiden, ob wir bis Postumia weiterwandern und von dort nach Gallien absteigen oder aber in nördlicher Richtung auf den Lago Verbano zusteuern und dort dann den Paß nehmen, der die Poebe-ne mit dem westlichen, jetzt von Burgund kontrollierten Raetien verbindet.« Ambrosinus erinnerte sich auch, daß er seinerzeit, bei seiner Ankunft in Italien, nicht weit von dem Gebirgspaß entfernt auf einen einigermaßen gangbaren Weg gestoßen war, der in ein raetisches Dorf nahe der Wasserscheide führte.

»Wenn ihr mich fragt«, schloß er, »sollten wir die erste Möglichkeit ausschließen, denn auf dieser vielbenutzten Route wären wir ständig der Gefahr ausgesetzt, entdeckt zu werden. Der Nordweg ist zwar schwieriger und anstrengender, aber gerade deshalb auch sicherer für uns.«

Aurelius nickte eifrig und mit ihm Batiatus und Vatrenus, was dem alten Ambrosinus nicht entging: Die drei Gefährten wußten nur zu gut, daß der Westweg sie durch Dertona geführt hätte, wo die Felder noch heute mit den verblichenen Knochen ihrer gefallenen Kameraden übersät waren.

XXIII

»So eine lange Reise kostet viel Geld«, sagte Livia, das Schweigen unterbrechend, das sich plötzlich über die kleine Gesellschaft gesenkt hatte. »Und wir haben keines mehr.«

»Stimmt«, nickte Ambrosinus, »Geld für Proviant, für Brückenzölle und Fährleute; und wenn wir erst einmal im Hochgebirge sind, kommen noch andere Ausgaben dazu: Heu für die Pferde und die ein oder andere Unterkunft für uns, wenn es zu kalt ist, um draußen zu übernachten.«

»Es gibt nur eine Möglichkeit«, erwiderte Livia. »Stephanus müßte jetzt in Rimini, in seiner Villa am Meer sein. Er schuldet uns noch den Lohn, seinen Auftrag haben wir ja erfüllt, und selbst wenn er uns nicht die volle Summe bezahlt, eine kleine Unterstützung wird er uns wohl nicht verweigern. Ich kenne die Villa, ich habe dort einmal Antemius getroffen, es dürfte mir nicht schwerfallen, sie wiederzufinden.«

»Ja, aber dürfen wir Stephanus trauen?« fragte Aurelius.

»Ich denke schon«, erwiderte Livia. »Im Grunde ist er nach Fano gekommen, um uns zur Flucht zu verhelfen. Er kämpft ums Überleben wie wir alle und hängt sein Fähnchen nach dem winde. Aber wenn Antemius ihm vertraut hat, so sicher nicht grundlos.«

»Das ist es ja, was mir Sorgen bereitet: Antemius hat uns verraten.«

»Das dachte ich im ersten Moment auch, aber bei längerem Nachdenken bin ich darauf gekommen, daß ihn der Thronwechsel in Konstantinopel in eine katastrophale Lage versetzt haben muß. Vielleicht ist er entdeckt und gefoltert worden ... schwer zu sagen, was wirklich passiert ist. Aber wie auch immer: Ihr riskiert gar nichts. Ich gehe allein zu Stephanus.«

»Kommt nicht in Frage«, erwiderte Aurelius. »Ich begleite dich.«

»Besser nicht«, meinte Livia. »Du wirst hier, bei Romulus, gebraucht. Ich breche vor Sonnenaufgang auf und bin, wenn alles glattgeht, übermorgen abend zurück. Wenn nicht, zieht ihr ohne mich weiter. Irgendwie kommt ihr schon durch - ihr habt schon Schlimmeres überstanden.«

»Bist du sicher, es in so kurzer Zeit zu schaffen?« fragte Ambrosinus.

»Ja. Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, bin ich vor Einbruch der Dunkelheit bei Stephanus. Am nächsten Tag breche ich sehr früh auf und verbringe die Nacht schon wieder mit euch.«

Die Gefährten sahen sich ratlos an.

»Wovor habt ihr Angst?« meinte Livia leichthin. »Bevor ich euch kannte, habe ich mich auch alleine durchgeschlagen - außerdem habt ihr mich doch schließlich kämpfen gesehen, oder?«

Ambrosinus hob den Blick von seiner Karte. »Hör zu, Livia«, sagte er, »jede Trennung schafft eine schwierige Situation. Der Wartende, der länger als abgemacht warten muß, stellt die absurdesten Vermutungen an, malt sich mit jeder Stunde, die vergeht, noch schlimmere Szenarien aus, zählt die Schritte des abwesenden Gefährten und berechnet immer wieder aufs neue die Zeit, die er zur Rückkehr benötigt. In den seltensten Fällen liegt er mit seinen Erklärungsversuchen richtig - meistens hat die Verspätung in Wirklichkeit einen ganz anderen Grund als den, den er sich vorstellt. Auf der anderen Seite quält sich aber auch der Abwesende, der aus irgendeinem Grund aufgehalten wird; er denkt: Hätten wir uns bloß ein paar Stunden mehr Zeit gegeben, dann wäre uns viel Sorge erspart geblieben. Machen wir also einen zweiten Treffpunkt aus.

Wenn du übermorgen abend nicht zurück bist, bleiben wir trotzdem über Nacht hier und brechen erst im Morgengrauen auf. Wenn du auch bis dahin noch nicht erschienen bist, gehen wir davon aus, daß du auf irgendein unüberwindliches Hindernis gestoßen bist. Wisse aber, daß wir die Alpen beim Saltus Mesiatum überqueren; du siehst ihn hier eingezeichnet«, sagte er und deutete auf die Karte. »Das kannst du mitnehmen, ich habe den Weg bereits genau im Kopf. Mit Hilfe der Karte kannst du uns auf alle Fälle nachkommen, wenn es dir nicht gelingt, pünktlich zu sein.«

»Gute Idee«, erwiderte Livia. »Dann bereite ich jetzt alles für morgen vor.« Ihr Pferd graste ein paar Schritte entfernt. Livia griff nach seinem Zaumzeug und ging zu ihm.

Aurelius folgte ihr. »In Rimini bist du schon fast daheim«, sagte er. »Ein paar Stunden mit dem Schiff, und du wärst in deiner Lagunenstadt. Was wirst du tun?«

»Ich komme zurück«, erwiderte Livia. »Wie versprochen.«

»Unser Weg führt ins Ungewisse«, antwortete Aurelius. »Wir lassen uns von den Träumen eines greisen Erziehers leiten, folgen einem Kaiser, der fast noch ein Kind ist und zudem von schlimmen Feinden bedroht wird. Ich finde es nicht klug von dir, uns auf dieser Reise begleiten zu wollen. Deine Stadt am Wasser wartet bestimmt schon sehnsüchtig auf dich, und deine Mitbewohner werden sich Sorgen machen, weil du einfach untergetaucht bist. Du hast doch sicher Angehörige, oder?«

Livia starrte reglos auf das Tal hinunter, auf das weiße Nebelmeer, aus dem nur die höchsten Wipfel der Bäume herausragten und ein winziges Dorf, das sich an die Kuppe eines Hügels klammerte. Aus den Schornsteinen der Hütten stiegen, Abendgebeten gleich, dünne Rauchsäulen in den sternenklaren Nachthimmel hinauf; das Bellen der Hunde wurde von der dunstig kalten Luft über der Ebene gedämpft. Seit er Flucht aus der mansio in Fano waren sie und Aureli-us keinen Augenblick lang allein gewesen, was im Grunde beide bedauerten, aber jeder dem anderen in die Schuhe schob. Irgendwie schienen beide zu fürchten, intime Momente wie der beim Abschied in Fano seien unwiederholbar, kein Gefühl könne je wieder so stark sein, sie einander in die Arme zu treiben. Es war, wie wenn man die Sonne an einem nebligen Horizont versinken sieht und sich nicht vorstellen kann, daß sie am nächsten Tag wieder aufgeht.

»Hättest du je gedacht, daß unsere Mission eines Tages diesen Verlauf nimmt?« fragte Aurelius, um Livia zum Sprechen zu bringen.

»Nein«, sagte sie. »Aber was ich denke, ist nicht wichtig.«

»Was ist überhaupt wichtig?«

»Das, was wir hier drinnen spüren«, sagte sie und klopfte sich auf die Brust. »Warum gehst du denn mit dem Kaiser und seinem Lehrer? Warum habt ihr, du und deine Männer, beschlossen, ihnen zu folgen?«

»Weil ich diesen Jungen ins Herz geschlossen habe. Er ist so schutzlos ... die halbe Welt will ihn umbringen und die andere Hälfte wäre zumindest froh, wenn er stirbt. Auf seine jungen Schultern drückt eine immense Last, eine Last, die er unmöglich allein tragen kann ... Vielleicht folge ich ihm auch bloß, weil ich sonst nicht wüßte, was ich anstellen soll.«

»Ach? Und da willst du es Herkules gleichtun, der Atlas die Last des Himmelsgewölbes abgenommen hat?«

»Sarkasmus scheint mir hier fehl am Platze«, erwiderte Aurelius und wandte sich ab.

»Du hast recht«, erwiderte Livia, »verzeih mir. In Wahrheit hadere ich mit mir selbst, weil ich so dumm reingefallen bin, weil ich euch in dieses verrückte Abenteuer hineingezogen habe, ohne euch dafür belohnen oder entschädigen zu können, weil ich uns alle in tödliche Gefahr gebracht habe.« »Und weil du den Kommandostab aus der Hand geben mußtest. Jetzt stehst du nicht mehr über den anderen, sondern mußt ihnen folgen, ohne zu wissen, wohin sie gehen und was dich erwartet.«

»Vielleicht auch deswegen. Ich bin es gewohnt, nach Plan zu handeln; alles Unvorhergesehene ist mir zuwider.«

»Ist das auch der Grund, weshalb du mich meidest?«

»Du meidest mich!« entgegnete Livia.

»Vielleicht ... haben wir Angst vor unseren Gefühlen. Könnte das eine Erklärung sein?«

»Gefühle ... Du weißt nicht, wovon du redest, Soldat. Wie viele Kameraden hast du auf dem Schlachtfeld sterben sehen, wie viele Städte und Dörfer niedergebrannt und dem Erdboden gleichgemacht, wie viele Frauen vergewaltigt? Und du wagst immer noch zu glauben, in dieser Welt sei Platz für diese Art von Gefühlen?«

»Vor nicht allzu langer Zeit warst du da noch anderer Meinung. Wenn du von deiner Stadt erzählt hast, wenn du Romulus auf deinem Pferd an dich gedrückt und mit deinem Mantel gewärmt hast.«

»Das war eine völlig andere Situation - unsere Mission war so gut wie erfüllt; der Junge ging einem Ort entgegen, an dem er mit allem Respekt und Zuvorkommen behandelt worden wäre, ihr hättet euer Geld bekommen und ich auch. Einen Moment lang sah alles ganz rosig aus.«

»War das alles?«

»Nein, ich stand auch kurz davor, den Mann wiederzufinden, den ich seit Jahren suche.«

»Aber dieser Mann hat sich nicht finden lassen, stimmt's?«

»Stimmt - aus Angst, aus Feigheit ... keine Ahnung.«

»Denk, was du willst, Livia. Ich kann nicht in die Rolle eines anderen schlüpfen - ich bin nicht der Held, den du suchst, und auch nicht der Schauspieler, der in der Lage wäre, ihn zu mimen. Ich halte mich für einen einigermaßen tüchtigen Krieger, weiter nichts, und davon gibt es derzeit viele. Du suchst jemanden oder etwas, das du in der Nacht deiner Flucht aus Aquileia verloren hast. Der junge Soldat, der deiner Mutter auf dem Boot seinen Platz angeboten hat, stellt die Wurzel dar, die dir abgerissen wurde, als du noch ein Kind warst. In jener Nacht ist etwas in deinem Innern verwelkt, das bis heute nicht wieder aufblühen konnte. Als du mir begegnet bist, einem Unbekannten, einem verwundeten Legionär, der im Sumpf von Ravenna vor einer Horde Barbaren flüchtete, dachtest du plötzlich, ich sei dieser Soldat, ein Gespenst, aber dem ist nicht so. Es war lediglich die Wiederholung einer ähnlichen Situation, die eine Kette von Assoziationen bei dir ausgelöst hat: der Legionär, die Barbaren, das Boot, der Sumpf ... So etwas kommt vor, Livia, wie in unseren Träumen, verstehst du? Wie in unseren Träumen.«

Er sah ihr in die Augen, sie waren tränennaß, so sehr sie auch versuchte, sich zu beherrschen. »Was hast du erwartet?« fuhr Aurelius fort. »Daß ich dir in deine Lagunenstadt folgen würde? Daß ich dir helfen würde, das untergegangene Aquileia wiederauferstehen zu lassen? Ja, das wäre vielleicht eine Möglichkeit gewesen. Für einen Mann in meiner Lage, für einen, der alles verloren hat, selbst die Erinnerung, ist alles möglich und alles unmöglich. Mir ist nichts geblieben als mein Wort, mein römisches Ehrenwort - etwas total Veraltetes, ich weiß, etwas, das nur noch in den Geschichtsbüchern existiert, und doch ein Rettungsanker für jemanden wie mich, ein Bezugspunkt, wenn du so möchtest. Und dieses Ehrenwort habe ich einem Sterbenden gegeben. Ich habe ihm versprochen, seinen Sohn zu retten, mir eingeredet, daß ich dieses Versprechen bereits mit einem einzigen Versuch einlösen würde, auch wenn er fehlschlug -vergeblich. Meine Worte klingen mir heute noch im Ohr, ich kann mich nicht davon befreien. Deshalb bin ich dir nach Miseno gefolgt, deshalb werde ich nicht von Romulus' Seite weichen, bis er irgendwo in Sicherheit ist - in Britannien, am Ende der Welt, wo auch immer ...«

»Und ich?« fragte Livia. »Was stelle ich für dich dar? Gar nichts?«

»Oh, doch«, erwiderte Aurelius. »Du stellst all das dar, was ich nie werde erlangen können, das ewig Unerreichbare.«

Livia warf ihm einen zornigen Blick zu, aus dem enttäuschte und gekränkte Leidenschaft sprach, ohne jedoch etwas zu sagen. Dann ging sie, um ihren Aufbruch vorzubereiten.

Irgendwann kam Ambrosinus zu ihr, das kleine Pergament mit der Karte in Händen. »Hier«, sagte er und reichte es ihr. »Ich hoffe, du wirst keinen Gebrauch davon machen müssen, und wir sehen dich morgen abend wieder.«

»Das hoffe ich auch«, erwiderte Livia.

»Vielleicht wäre dieser Abstecher gar nicht nötig ...«

»Doch«, erwiderte die junge Frau, »er ist nötig. Stell dir bloß vor, ein Pferd würde lahmen oder einer von uns krank werden, oder wir müßten ein Schiff nehmen. Mit Geld kommen wir viel reibungsloser und schneller voran. Andere um Hilfe bitten zu müssen, würde bedeuten, öffentlich in Erscheinung zu treten und womöglich erkannt zu werden ... Nein, Ambrosinus, keine Angst, ich komme zurück.«

»Dessen bin ich mir sicher. Aber bis zu diesem Moment werden wir alle in Sorge sein. Besonders Aurelius ...«

Livia senkte den Kopf, ohne ihm eine Antwort zu geben.

»Versuch, ein wenig zu schlafen«, sagte Ambrosinus und ging.

Livia erwachte vor Sonnenaufgang, machte das Pferd fertig, nahm ihre Waffen und die Decke und schwang sich in den Sattel.

»Sei vorsichtig, bitte«, hörte sie Aurelius' Stimme hinter sich sagen.

»Ja, sicher, keine Sorge«, erwiderte sie.

Aurelius zog sie zu sich herunter und gab ihr einen Kuß. Livia umschlang ihn einen Moment lang innig, dann richtete sie sich wieder auf. »Paß du auch auf dich auf«, sagte sie, gab ihrem Pferd die Sporen und sprengte davon. Zunächst ritt sie quer durch den Wald, bis sie ins Flußtal des Ariminus kam, dort folgte sie mehrere Stunden dem Wasserlauf, gewiß, daß er sie früher oder später ans Ziel bringen würde. Am Himmel türmten sich neuerlich dicke, schwarze Wolken auf, die der Wind vom Meer herantrieb, und wenig später begann es zu regnen. Livia bedeckte sich, so gut es ging, und ritt einen einsamen Pfad entlang, auf dem ihr nur wenige, eilig vorüberhuschende Menschen begegneten, meist Bauern oder Knechte auf dem Weg zur Arbeit, die wie sie vom schlechten Wetter überrascht worden waren.

Als am späten Nachmittag in der Ferne Rimini vor ihr auftauchte, bog sie nach Süden ab und ließ die Stadt links von sich liegen. Sie konnte die Stadtmauer sehen und ganz weit hinten den oberen Teil des halbverfallenen Amphitheaters. Stephanus' Villa erblickte sie erst nach Überquerung der Via Flaminia, deren Basaltpflaster schwarz im Regen glänzte. Mit den beiden kleinen Türmen rechts und links vom Eingangstor und dem Wehrgang oben auf der Ringmauer, erinnerte sie an eine Festung. Bewaffnete Männer bewachten den Eingang und schritten die Mauer ab. Livia hatte Bedenken, sich am Haupttor zu präsentieren, sie wollte nicht auffallen. Also machte sie einen großen Bogen um das Gebäude und wartete, bis sie aus einem Dienstboteneingang bei den Stallungen einen Knecht heraustreten sah.

»Dein Herr, Stephanus, ist er zu Hause?« fragte sie den Mann, indem sie sich vor ihn stellte.

»Warum willst du das wissen?« fragte der Mann mürrisch. »Geh zum Eingangstor und laß dich anmelden.«

»Wenn er daheim ist, sag ihm, daß der Freund, den er vor zwei Tagen in Fano getroffen hat, hier draußen steht und ihn sprechen möchte.« Mit diesen Worten zog sie eine der letzten Münzen heraus, die ihr noch geblieben waren, und ließ sie dem Mann in die Hand gleiten.

Der Knecht betrachtete die Münze, dann Livia, die vor Regen troff. »Warte er«, meinte er und verschwand wieder im Inneren des Hauses. Wenig später erschien er in aller Eile und sagte nur: »Komm rein, schnell.« Darauf band er selbst ihr Pferd an einem Ring fest, der unter einem Vordach in die Wand eingelassen war, und ging ihr voraus. Ein langer Korridor führte sie tief in die Villa hinein, bis der Knecht sie irgendwann vor einer verschlossenen Tür stehen ließ. Livia klopfte behutsam an, und da wurde die Klinke auch schon heruntergedrückt, und vor ihr stand Stephanus. »Endlich!« rief er aus. »Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, dich noch einmal lebend wiederzusehen. Aber komm doch rein, trockne dich ab, du bist ja völlig durchnäßt.«

Livia betrat einen großen Raum, in dessen Mitte ein behagliches Feuer knisterte. Während sie sich davorstellte, um sich aufzuwärmen, rief Stephanus zwei Mägde herein. »Kümmert euch um meinen Gast«, befahl er ihnen. »Bereitet ihr ein Bad vor und gebt ihr frische Kleider, schnell.«

Livia versuchte, ihn zu bremsen. »Ich habe keine Zeit, ich dachte, es ist besser, wenn ich gleich wieder aufbreche, ich will nichts riskieren.«

»Kommt nicht in Frage. Du bist in einem erbärmlichen Zustand und brauchst dringend ein heißes Bad. Und danach strecken wir beide uns vor einer reich gedeckten Tafel aus. Es gibt viel zu bereden, aber erst mal erzählst du mir ausführlich, was in den letzten Tagen passiert ist und wie ich dir helfen kann.«

Livia fühlte die wohlige Wärme des Feuers im Gesicht und auf den Händen, und spürte auf einmal die ganze Anstrengung der vergangenen Tage auf sich lasten. Ein heißes Bad und ein warmes Plätzchen erschienen ihr in diesem Augenblick als das Paradies auf Erden, und so nickte sie und sagte: »Gut, ich nehme ein Bad und esse etwas, aber dann muß ich weiter.«

Stephanus lächelte. »So ist es recht. Folge den beiden Frauen, sie werden sich deiner annehmen.«

Livia wurde in einen offenen Saal geführt, der mit antiken Mosaiken geschmückt war und nach kostbaren Essenzen duftete. Aus einem großen Marmorbecken, das in den Fußboden eingelassen und randvoll mit heißem Wasser gefüllt war, stieg Dampf auf. Livia entkleidete sich und ließ sich ins Wasser gleiten, nachdem sie unter den erstaunten Blicken der beiden Mägde ihre Waffen - zwei messerscharfe Dolche - am Rand der Wanne abgelegt hatte. Sie reckte die vor Kälte und Müdigkeit steifen Glieder und sog begierig die duftgeschwängerte Luft ein. Diese Erfahrung war völlig neu für sie, noch nie im Leben hatte sie soviel Luxus genossen. Eine der Frauen massierte ihr mit einem Schwamm Schultern und Rücken, die andere wusch ihr sorgfältig das Haar mit parfümiertem Wasser. Irgendwann tauchte Livia ganz in die Wanne ein, schloß die Augen und hatte das Gefühl, sich in dem herrlich warmen Wasser förmlich aufzulösen. Nach dem Bad kleideten die beiden Mägde sie in eine elegante, kunstvoll bestickte phrygische Tunika und steckten ihr weiche Pantoffel an die Füße, während ihr Wams und die lehmverschmierte Lederhose an eine Waschfrau weitergereicht wurden.

Stephanus erwartete sie im Speisesaal und schritt ihr mit breitem Lächeln entgegen: »Unglaublich!« rief er aus. »Was für eine Verwandlung: Du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe! Wundervoll!«

Livia war diese ungewohnte Situation etwas peinlich. »Ich bin nicht gekommen, um Komplimente abzuholen«, erwiderte sie deshalb spröde, »sondern das, was wir abgemacht hatten. Es ist nicht meine Schuld, daß die Dinge anders gelaufen sind, als vorhergesehen - ich habe meinen Auftrag erfüllt und muß meine Männer bezahlen.« »Völlig richtig«, erwiderte Stephanus in etwas distanzierterem Ton. »Leider hätte das Geld, das ich dir versprochen hatte, aus Konstantinopel kommen sollen und bei der augenblicklichen Lage, du verstehst ... Aber bitte, setz dich doch erst mal und iß etwas.« Auf einen Wink reichte ihr der Truchseß gerösteten Fisch und Wein.

»Ich brauche Geld«, hakte Livia nach. »Auch wenn es nicht die abgemachte Summe ist, gib mir, soviel du kannst. Diese Männer hatten mein Ehrenwort und haben ihr Leben riskiert. Ich kann sie nicht mit einem Händedruck abspeisen.«

»Das brauchst du auch gar nicht. Du kannst hierbleiben, solange du willst - mir würdest du eine große Freude damit machen und in Sicherheit wärst du auch, denn deine Genossen werden es nicht wagen, dich hier zu suchen ...«

Livia steckte sich ein großes Stück Fisch in den Mund und leerte einen ganzen Becher Wein. »Glaubst du das wirklich?« fragte sie dann. »Du vergißt, daß diese Männer die Steilwand von Capri bezwungen, rund fünfzehn Wächter umgebracht, den Kaiser befreit und halb Italien durchquert haben, obwohl Wulfila Hunderte von Verfolgern auf sie angesetzt hatte. Wenn sie wollten, könnten sie jederzeit hier auftauchen, mitten in diesem Raum.«

»So habe ich es nicht gemeint, nur daß ... ich meine, niemand konnte doch den Lauf der Dinge vorhersehen«, erwiderte Stephanus kleinlaut. »Was habt ihr denn jetzt mit dem Jungen vor?« fragte er dann.

»Ihn in Sicherheit bringen.«

»Wo? In deiner Stadt?«

»Das kann ich dir nicht sagen, wer weiß, ob uns jemand zuhört.«

Stephanus überging ihren Mißtrauensbeweis und sagte: »Du hast recht, man kann nie vorsichtig genug sein. Die Wände haben Ohren hierzulande, besonders in diesen Zeiten.«

»Gut, dann gib mir jetzt eine Antwort. Ich muß spätestens morgen früh wieder aufbrechen.«

»Wieviel brauchst du?«

»Mit zweihundert Solidi wäre mir geholfen. Das ist ein Bruchteil dessen, was wir abgemacht hatten.«

»Und doch eine beträchtliche Summe. Soviel Geld habe ich im Moment nicht da. Aber ich kann es kommen lassen.« Er rief einen Diener zu sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf dieser eilig verschwand. »Wenn alles gutgeht, ist das Geld morgen hier. So habe ich wenigstens das Vergnügen, dich heute nacht beherbergen zu dürfen. Bist du sicher, nicht länger bleiben zu wollen?«

»Nein, wie ich dir bereits sagte: Ich muß so schnell wie möglich weiter.«

Stephanus schien es aufzugeben, jedenfalls fuhr er fort zu essen, ohne noch etwas zu erwidern. Irgendwann aber schenkte er sich einen Becher Wein ein und setzte sich vertraulich neben sie. »Es gäbe noch eine Möglichkeit, wie ihr an die ganze Summe kommen könntet ... ja an noch viel, viel mehr.«

»Wie?«

»Einer deiner Männer scheint ein Schwert zu besitzen ... etwas ganz Besonderes ... Der Griff soll die Form eines Adlerkopfs mit ausgebreiteten Schwingen haben. Du weißt, wovon ich spreche, nicht?«

Livia nickte - die Sache abzustreiten, hätte keinen Sinn gehabt, Stephanus schien bestens unterrichtet zu sein.

»Ich kenne jemanden, der eine Riesensumme dafür bezahlen würde. Das könntet ihr bestens gebrauchen, damit wäre alles viel leichter.«

»Ja, bloß ich fürchte, dieses Schwert ist während eines Kampfs verlorengegangen«, log Livia.

Stephanus senkte den Kopf, um seinen Ärger zu verbergen, und drang nicht weiter in sie.

»Was ist aus Antemius geworden?« fragte Livia, das Thema wechselnd.

»Er war es, der mich dringend zu sich rief, um mir zu sagen, daß ihr in Gefahr schwebt, weil sein Plan aufgedeckt worden ist. Er bat mich, euch zu retten; leider kam ich zu spät, aber wenigstens ist euch die Flucht gelungen ... Antemius habe ich seither nicht wiedergesehen, und ich fürchte, auch wenig für ihn tun zu können -vorausgesetzt, er ist überhaupt noch am Leben.«

»Verstehe«, erwiderte Livia.

Stephanus richtete sich auf und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Willst du wirklich wieder in die Berge, in die Wälder zurück und leben wie ein gehetztes Tier? Hör doch auf mich, Livia, du hast bereits getan, was in deiner Macht steht, niemand kann verlangen, daß du noch länger dein Leben für diesen Jungen aufs Spiel setzt. Bleib bei mir, bitte: Ich habe dich immer bewundert, ich ...«

Livia blickte ihn fest an. »Nein, Stephanus, das ist nicht möglich. Ich könnte niemals an einem Ort wie diesem leben, von soviel Luxus umgeben - dazu habe ich zuviel Leid und Elend gesehen.«

»Wo wollt ihr hin?« fragte er. »Vielleicht kann ich euch wenigstens helfen ...«

»Wir haben uns noch nicht entschieden. Und jetzt würde ich mich gerne hinlegen, wenn du nichts dagegen hast. Ich habe schon viele Nächte nicht mehr richtig geschlafen.«

»Wie du möchtest«, erwiderte Stephanus und rief die Mägde, damit sie Livia in ihr Gemach begleiteten.

Livia zog sich aus, während die Frauen die Tonamphore mit Glut und Asche entfernten, die bis zu diesem Augenblick das Bett gewärmt hatte, dann schlüpfte sie unter die Decke. Es war herrlich warm im Bett und roch wundervoll nach Lavendel, aber Livia fand trotzdem keinen Schlaf. Das Unwetter draußen wurde immer heftiger; der Regen trommelte geräuschvoll auf Dach und Außenterrassen; bisweilen drang das grelle Licht eines Blitzes durch die Ritzen der Fensterläden und ließ die Wände violett aufleuchten, und immer wieder schreckte jähes Donnerkrachen sie auf. Sie dachte an ihre Gefährten, die wahrscheinlich irgendwo mitten im finsteren Wald zähneklappernd an einem qualmenden Lagerfeuer kauerten, und konnte kaum die Tränen zurückhalten. Nein, sie würde so früh wie möglich wieder aufbrechen, so bald sie das Geld in Händen hatte.

In dem Saal im Erdgeschoß saß Stephanus gedankenversunken am Feuer und streichelte hin und wieder einen Mastiff, der neben ihm auf einer Strohmatte lag. Livias Schönheit hatte ihn aufgewühlt; die Bewunderung und das Verlangen, die er empfand, seit sie sich an der Lagune zum erstenmal begegnet waren, verwandelten sich in Besessenheit bei dem Gedanken, daß sie nun in seinem Haus war, nur wenige Schritte von seinem eigenen Schlafzimmer entfernt, daß sie vermutlich mit nichts als einem dünnen Nachthemd bekleidet im Bett lag. Doch wie konnte er ein so wildes Geschöpf je zähmen? Der Luxus und die Annehmlichkeiten, mit denen er sie verwöhnt hatte, schienen nicht den geringsten Eindruck auf sie zu machen, ebensowenig die Verheißung einer großen Summe Geldes. Und er war sich sicher, daß sie ihn angelogen hatte, als sie ihm sagte, das Schwert sei verlorengegangen. Ach, dieses Schwert ... er hätte alles darum gegeben, es sehen oder gar anfassen zu dürfen. Es war das Symbol der heißersehnten Macht und einer Art von Kraft, die er stets begehrt und nie besessen hatte.

Plötzlich kam eine der Mägde herein und reichte ihm etwas. »Hier, das habe ich in den Kleidern deines Gasts gefunden«, sagte sie. »Ich wollte nicht, daß es beim Waschen Schaden nimmt.«

Stephanus sah, daß es sich um einen kleinen, zusammengefalteten Zettel aus Pergament handelte. »Gut gemacht«, erwiderte er und faltete den Zettel im Schein der Öllampe, die neben ihm brannte, auseinander. Ein einziger Blick auf die Miniaturlandkarte, und ihm war klar, welchen Weg Livia und ihre Gefährten einschlagen würden. Dann konnte er also doch noch an das wundersame Schwert kommen, und wenn er das erst mal hatte, vielleicht sogar an Livia ... Er drehte sich nach der Magd um, die gerade hinausgehen wollte. »Warte«, sagte er und gab ihr das Pergament zurück. »Tu das wieder dorthin, wo du es gefunden hast.« Die Frau nickte und verschwand.

Stephanus lehnte sich in seinen Sessel zurück, um sich ein wenig Schlaf zu gönnen. In dem großen Saal war jetzt nur das Rauschen des Regens zu hören und das Pfeifen des Windes, der vom Meer kommend riesige Wellen auf den verlassenen Strand zutrieb, wo sie sich donnernd brachen.

XXIV

Livia erwachte im Morgengrauen und fand ihre Kleider, sauber und trocken, auf einem Teppich ausgebreitet vor. Sie mußten die ganze Nacht vor einem Feuer gehangen haben, denn sie fühlten sich beim Anziehen noch ganz warm an. Nachdem sie die beiden Dolche in den Gürtel unter ihrem Wams gesteckt hatte und in ihre Stiefel geschlüpft war, ging sie ins Erdgeschoß hinunter. Stephanus saß noch immer vor dem Feuer, oder besser: Er hing in seinem bequemen Armsessel, einem antiken Möbelstück aus der Antoninischen Kaiserzeit, das zur wertvollen Ausstattung der Villa gehörte. Livias leichter Schritt auf der Treppe weckte ihn, und er drehte sich um und blickte sie aus verquollenen Augen an.

»Du warst nicht im Bett, stimmt's?« sagte die junge Frau.

»Nein, ich habe nur ein bißchen vor dem Feuer gedöst. Bei dem Unwetter hätte ich sowieso nicht schlafen können. Hörst du? Es regnet noch immer in Strömen.«

»Leider«, erwiderte Livia besorgt. Eine Magd brachte ihr eine große Tasse heiße Milch mit Honig.

»Bei dem Regen kannst du unmöglich aufbrechen«, sagte Stephanus. »Sieh nur selbst. Es ist, als hätte der Himmel die Schleusen geöffnet. Wenn du meinen Rat befolgt und deine Gefährten mitgebracht hättest, wärt ihr jetzt alle im Trockenen - und in Sicherheit.«

»Du weißt, daß das nicht wahr ist«, entgegnete Livia. »In der Gruppe wären wir sofort aufgefallen. Außerdem ist dein Haus voller Spitzel, da bin ich mir sicher. In Kürze weiß Odoaker, daß ich hier war, und Wulfila wird es auch erfahren.« »Ich glaube nicht, daß deine Leute hier mehr in Gefahr gewesen wären als dort, wo sie sich jetzt befinden. Und nicht einmal der eifrigste Spitzel wird bei diesem Sauwetter Lust haben, das Haus zu verlassen, um irgend jemandem zu berichten, wen ich hier empfange. Überleg es dir gut, Livia: Wenn du hierbleibst, könnte ich viel für dich tun. Beispielsweise könnte ich bewirken, daß die Unabhängigkeit deiner kleinen Lagunenstadt anerkannt wird - in Ost wie in West. War das nicht immer dein Traum?«

»Ein Traum, den wir mit Waffen verteidigt und mit dem Glauben an die Zukunft aufrechterhalten haben«, erwiderte Livia.

»Ich sehe schon«, seufzte Stephanus, »du bist nicht von diesem absurden Abenteuer abzubringen, und dafür kann es eigentlich nur eine Erklärung geben, so weh sie mir tut: Du hast dich in diesen Soldaten verliebt.«

»Ich würde lieber über das Geld sprechen, das du mir versprochen hast, Stephanus. Wann trifft es ein?«

»Das kannst du dir selbst ausrechnen. Bei dem Regen ist bestimmt der Fluß über die Ufer getreten und hat zwischen hier und Ravenna alles überschwemmt. Mein Mann dürfte nicht vor morgen früh, bestenfalls heute nacht zurück sein.«

»So lange kann ich nicht warten«, erwiderte Livia trocken.

»Sei doch vernünftig: Es hat keinen Sinn, daß du unter diesen Umständen aufbrichst. Deine Leute warten doch sicher auf dich, oder?«

Livia schüttelte den Kopf. »Nein, nicht länger als abgemacht. Sie können es sich nicht erlauben; du kannst dir denken, warum.«

Stephanus nickte. »Dann bleib hier, ich bitte dich, sie werden das schon verstehen. Du hast schon soviel für sie getan, du hast dein Leben aufs Spiel gesetzt, und dieser Soldat ... er kann dir nichts bieten, Livia. Ich dagegen wäre bereit, alles mit dir zu teilen: Träume, Macht, Reichtum. Überleg es dir, solange du noch Zeit dazu hast.«

»Ich habe es mir bereits überlegt«, antwortete Livia. »Heute nacht, als ich in diesem warmen, duftenden Bett lag, mußte ich an sie denken, wie sie irgendwo im Freien übernachten, in der Eiseskälte, bestenfalls von ein paar Zweigen geschützt, und da habe ich mich ganz elend gefühlt. Nein, mein Platz ist bei ihnen, Stephanus. Wenn das Geld nicht heute morgen eintrifft, breche ich ohne es auf. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich muß mein Pferd fertigmachen.«

Sie verließ das Haus über den Korridor, durch den sie es am Vortag betreten hatte, und rannte im strömenden Regen zu den Stallungen hinüber. Ihr Pferd wartete ruhig und geduldig; es hatte reichlich Futter bekommen, war frisch gestriegelt und bestens auf einen anstrengenden Tag vorbereitet. Livia streifte ihm das Zaumzeug über, schob ihm die Kandare zwischen die Zähne und legte ihm den Sattel auf, an dem sie danach noch ihre Decke befestigte. Wenig später gesellte sich Stephanus in Begleitung zweier Diener zu ihr, die ein Wachstuch über ihn hielten, damit er nicht naß wurde.

»Was kann ich für dich tun, wenn ich dich schon nicht dazu bringe, hierzubleiben?« fragte er.

»Wenn du mir wenigstens etwas Geld geben könntest, soviel du eben entbehren kannst, wäre ich dir sehr dankbar«, erwiderte sie. »Du weißt, es ist nicht für mich ...«

Stephanus reichte ihr einen Beutel. »Das ist alles, was ich habe«, sagte er. »Zwanzig, dreißig Solidi, mehr nicht ...«

»Das muß genügen«, antwortete Livia. »Hab Dank. Aber gib es mir wenigstens in kleinen Silbermünzen - ich dürfte kaum Leute antreffen, die mir so große Münzen wechseln können.«

Stephanus ging kurz ins Haus zurück, wechselte das Geld und brachte es Livia wieder heraus, die sich nun zum Gehen anschickte.

»Willst du dich nicht wenigstens anständig von mir verabschieden?« fragte er und versuchte, sie zu küssen, aber Livia wich seinen Lippen aus und reichte ihm die Hand.

»Ein Handschlag scheint mir der passendere Gruß, wie zwischen zwei alten Waffenbrüdern.«

Stephanus versuchte noch, ihre Hand länger als nötig festzuhalten, aber Livia entzog sie ihm. »Ich muß gehen«, sagte sie. »Es ist spät.«

Da befahl Stephanus den beiden Dienern, ihr einen Wachs-tuchumhang und Quersäcke mit Proviant zu reichen. Livia dankte ihm noch einmal, dann kletterte sie auf ihr Pferd und verschwand hinter einer Wand aus Regen. Stephanus ging ins Haus zurück und ließ sich das Frühstück in die große Bibliothek seiner Villa bringen. Auf dem riesigen Eichentisch in der Saalmitte lag ausgebreitet eine Papyrusrolle - eine wertvolle, illustrierte Ausgabe von Strabons Ge-ografia; Stephanus trat näher und betrachtete fasziniert eine herrliche Darstellung des Forum Romanum. Auf einer der Bildtafeln war der Tempel des Mars Ultor mit dem davorstehenden Altar zu sehen, auf einer anderen das Tempelinnere mit einer wundervollen, vielfarbigen Marmorstatue von Cäsar, angetan mit seiner Rüstung; zu seinen Füßen war ein Schwert abgebildet - nicht sehr groß, aber doch groß genug, um die feine Machart zu erkennen, den Griff in Form eines Adlerkopfs mit ausgebreiteten Schwingen. Stephanus starrte lange wie gebannt auf das Blatt, dann rollte er es wieder zusammen und verstaute es in einem Regal.

Livia trottete unterdessen im Schrittempo auf die Stadt zu; sie nahm an, die Brücke an der Via Emilia sei die einzige Möglichkeit, über den Ariminus zu kommen, doch die Straße endete bald in einer Riesenüberschwemmung. In der Ferne konnte man gerade noch die Brüstung der Brücke aus den schäumenden Wassermassen ragen sehen. Verzweiflung überkam sie: Wie konnte sie unter diesen Bedingungen rechtzeitig zu ihren Freunden zurückkehren? Ja, wer sagte ihr, daß diese überhaupt noch am abgemachten Ort auf sie warteten und nicht längst vor dem Wasser hatten fliehen und sich anderswo einen sicheren Unterschlupf suchen müssen? Wenn die sintflutartigen Regenfälle hier unten den Fluß über die Ufer treten und riesige Gebiete hatten überschwemmen lassen, wie mußte es dann erst in den Bergen zugehen, wo zusätzlich die Gefahr von Erdrutschen und Schlammlawinen bestand?

Livia nahm ihren ganzen Mut zusammen und begann, den Fluß hinaufzureiten, in der Hoffnung, weiter oben einen Übergang zu finden, aber ihr Ritt wurde bald zu einem Alptraum. Die Blitze blendeten ihr Pferd, das sich panisch wiehernd aufbäumte, auf dem schlammigen Boden immer wieder zurückrutschte und sich nur mühsam wieder aufrappeln konnte. Livia, die längst abgestiegen war, zerrte es am Zügel hinter sich her. So kämpften sie sich unter unsäglichen Mühen Schritt um Schritt bergauf. Der Weg, den sie am Vortag hinuntergeritten waren, hatte sich in einen reißenden Strom voll spitzer Steine verwandelt, und der Fluß, weiter unten, war nichts als eine Masse schäumenden Schlamms, die donnernd zu Tal stürzte. Gegen Mittag hatten sie gerade mal drei Meilen zurückgelegt, und Livia wurde klar, daß die Nacht sie auf halber Höhe, in völlig ungeschütztem Gebiet überraschen würde, wo es keinerlei Unterschlupfmöglichkeit gab. Nicht genug: Oben, auf den Wipfeln der Bäume, lag bereits Schnee! Nein, diesmal konnte es sie wirklich Kopf und Kragen kosten. Zum erstenmal in ihrem Leben wurde sie von Panik gepackt, von der Angst, mutterseelenallein irgendwo zu sterben, elend im Schlamm zugrunde zu gehen; sie sah ihren leblosen Körper bereits von den Fluten ins Tal gerissen und dort, im Strudel trüber Wassermassen, gegen kantige Felsbrocken geschleudert. Nein, das durfte nicht geschehen, sie mußte sich zusammennehmen, ihre letzten Kraftreserven anzapfen, um wenigstens so nah wie möglich an das Dorf heranzukommen, das sie am Vortag aus dem Nebel hatte ragen sehen. Livia sichtete es bei Einbruch der Dämmerung, als sich der Regen endgültig in eisigen Schneeregen verwandelt hatte, der ihr messerscharf ins Gesicht schnitt. Sie ließ sich vom schwachen Lichtschimmer der Hütten leiten, die zwischen Waldrand und Viehweiden zerstreut lagen, und kam irgendwann an eine Hängebrücke aus Baumstämmen und Ästen, die über die brodelnden Wassermassen des gelblich schäumenden Sturzbachs führte. Ihr Pferd scheute, und Livia mußte ihm die Augen verbinden, bevor sie es Schritt um Schritt über die entsetzlich schwankende Brücke zerren konnte. Als sie das Dorf endlich erreichte, war es bereits dunkel; mit letzter Kraft schleppte sie sich die holprige Dorfstraße entlang, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrach und in den Schlamm sank. Sie hörte einen Hund bellen und irgendwelche Stimmen, spürte, wie sie aufgehoben und in einen Raum getragen wurde, fühlte die Wärme eines Kaminfeuers. Dann wurde es Nacht um sie.

Aurelius und die anderen Gefährten warteten lange, bevor sie sich entschlossen, das behelfsmäßige Wetterschutzdach, das sie errichtet hatten, zu verlassen. Sie warteten den ganzen Tag und die ganze darauffolgende Nacht, aber dann mußten sie eine Entscheidung treffen. Livia hatte auf ihrem Rückweg bestimmt Hindernisse aller Art angetroffen. »Wenn wir jetzt nicht aufbrechen, werden wir verhungern oder erfrieren«, sagte Ambrosinus mit einem Seitenblick auf Romulus, der in seine Decke gehüllt, blaß vor Müdigkeit und Hunger, auf der Erde hockte. »Wir haben keine andere Wahl.«

»Das denke ich auch«, erwiderte Vatrenus. »Wir müssen los, solange die Beine uns noch tragen. Wir können nicht warten, bis wir gezwungen sind, unsere Pferde zu schlachten, um etwas zu essen zu haben. Außerdem können wir nicht ausschließen, daß Livia in ihre Lagunenstadt zurückgekehrt ist, nachdem sie vergeblich versucht hat, zu uns zu gelangen.«

»Wer würde es ihr verübeln?«, meinte Ambrosinus nachdenklich. »Dies ist nicht mehr ihre Mission, ihre Reise. Sie hat eine Heimat, vielleicht sogar noch Angehörige.« Er sah Aurelius an, als lese er in seinen Gedanken. »Ich glaube, wir werden sie alle sehr vermissen. Sie ist eine großartige Frau, den berühmtesten Heldinnen der Vergangenheit ebenbürtig.«

»Kein Zweifel«, pflichtete Vatrenus ihm bei. »Und einer von uns wird sie noch mehr vermissen als die anderen. Warum gehst du nicht zu ihr, Aurelius? Warum suchst du sie nicht in ihrem Schlupfloch an der Lagune auf, solange noch Zeit dazu ist? Vielleicht wartet sie darauf, vielleicht möchte sie dich zu einer Entscheidung zwingen, die du andernfalls niemals fällen würdest. Den Jungen können wir auch ohne dich beschützen, und früher oder später treiben wir dich schon wieder auf - so viele Städte über dem Wasser wird es ja wohl nicht geben, mir scheint sogar, das ist die einzige. Wenn wir uns wiedertreffen, wird groß gefeiert, und sollten wir uns nicht wiedersehen, scheint mir dies der beste Abschied - ein Abschied unter echten Freunden, die nie vergessen, was sie gemeinsam erlebt haben.«

»Hör auf mit dem Unsinn«, erwiderte Aurelius schroff. »Ich habe euch in diese Sache hineingezogen und kenne meine Pflichten. Und jetzt los! Wir haben einen langen Marsch vor uns und müssen so schnell wie möglich vorwärtskommen - jeder verlorene Tag macht die Überquerung der Alpen nur noch schwerer und gefährlicher.« Mehr sagte er nicht, denn im Grunde war er todunglücklich und hätte alles darum gegeben, die Frau, die er liebte, auch nur einen Augenblick wiedersehen zu dürfen. Romulus wurde, in Decken gewickelt, auf eins der Pferde gesetzt, die anderen gingen zu Fuß. Auf holperigen Pfaden kämpften sie sich durch wilde, völlig einsame Gegenden, während vom Himmel dicke Flocken fielen.

Als Livia viele Stunden später die Augen aufschlug, fand sie sich in einer Hütte wieder, die nur schwach vom Schein einer Talgkerze und vom Feuer der Kochstelle erhellt wurde. Eine Frau und ein Mann undefinierbaren Alters beäugten sie neugierig; als sie sahen, daß sie erwacht war, schöpfte die Frau aus dem Kessel, der an einer Kette über dem Feuer hing, etwas Gemüsesuppe in eine Schale und reichte sie ihr zusammen mit einem Stück steinharten Brots. Es war nicht mehr als eine dünne Rübensuppe, aber Livia fühlte sich allein beim Anblick der dampfenden Schüssel gestärkt. Sie tauchte das Brot ein und begann gierig zu essen.

»Wer bist du?« fragte der Mann nach einer Weile. »Was treibt dich bei diesem Wetter hier herauf? In unser Dorf kommt sonst nie jemand.«

»Ich war mit meiner Familie unterwegs und habe im Unwetter den Anschluß verloren und mich verirrt. Sie warten auf der Lichtung vor dem Paß auf mich. Könnt ihr mich vielleicht dorthin begleiten, damit ich mich nicht noch einmal verlaufe?«

»Zum Paß?« sagte der Mann. »Den Weg gibt es nicht mehr - er ist verschüttet und vom Wasser mitgerissen worden. Außerdem schneit es jetzt, sich nur raus.«

»Gibt es denn keine andere Möglichkeit, dort hinaufzukommen? Ich muß unbedingt zu meinen Angehörigen stoßen - sie machen sich bestimmt große Sorgen und denken womöglich, ich sei tot. Helft mir doch, ich flehe euch an.«

»Das würden wir gerne tun«, sagte die Frau. »Wir sind gottesfürchtige Christenleute, aber es ist wirklich nicht möglich. Unsere beiden Söhne, die gestern versuchen wollten, das Vieh vom Berg zu holen, sind bis jetzt nicht zurück - wahrscheinlich sitzen sie irgendwo fest. Auch wir sind in Sorge, aber wir können nur warten.«

»Dann steige ich ins Tal ab«, sagte Livia. »Irgendwo werde ich sie in den nächsten Tagen schon wieder treffen.«

»Warum wartest du nicht, bis es aufgehört hat zu schneien?« meinte der Mann. »Du kannst noch einen Tag bei uns bleiben, wenn du möchtest. Wir sind arme Leute, aber wir beherbergen dich gerne.«

»Ich danke euch«, erwiderte Livia, »aber es drängt mich wirklich, meine Lieben wiederzufinden. Möge Gott euch vergelten, was ihr für mich getan habt. Lebt wohl und betet für mich.« Mit diesen Worten warf sie sich den Mantel über die Schulter und ging hinaus.

Unter großer Mühe kletterte sie die steilen Berghänge ins Tal hinunter. Stellen, die ihr besonders gefährlich vorkamen tastete sie zuerst selbst mit den Füßen ab, um Stürze und Ausrutscher ihres Pferdes zu vermeiden. Als sie endlich im Tal war, stieg sie auf und ritt einen Weg entlang, der parallel zur Via Emilia verlief, aber etwas höher lag und deshalb nicht überschwemmt war. Während das Pferd langsam vor sich hintrottete, malte sie sich aus, was ihre Gefährten gedacht haben mochten, als sie merkten, daß sie nicht zurückkam, was Aurelius wohl gedacht hatte. Ahnten sie, daß das Wetter sie an der Rückkehr gehindert hatte, oder fühlten sie sich von ihr im Stich gelassen? Und wie konnten sie ihren Weg fortsetzen, ganz ohne Geld und mit dem wenigen Proviant, der ihnen blieb?

Livia ritt drei Tage ohne Rast durch; nachts schlief sie in Heuschobern oder Hütten, die die Bauern in Sommernächten benützten, um ihre Ernte zu bewachen. Sie war zu der Einsicht gelangt, daß die einzige Möglichkeit, ihre Gefährten wiederzutreffen, darin bestand, daß sie ihnen zu irgendeinem Punkt vorauseilte, an dem sie ganz bestimmt vorüberkommen würden, und einen solchen Punkt glaubte sie, auf Ambrosinus Karte ausgemacht zu haben; er war mit einem kleinen Kreuz gekennzeichnet und konnte eine Brücke oder eine Fähre über den Fluß Trebia bedeuten, jedenfalls irgendeine Art von obligatorischem Übergang, wie ihr schien. Während sie die Marschroute der anderen immer und immer wieder im Kopf überschlagen hatte, war sie schließlich zu der festen Überzeugung gekommen, daß sie Aurelius und die Seinen an dieser Stelle wiedertreffen mußte. Sie selbst würde sie, wenn alles gutging, noch an diesem Abend nach Einbruch der Dämmerung erreichen. Die Sehnsucht nach den Gefährten war so groß, daß sie ihr Pferd ungewollt in Galopp verfallen ließ, und erst als sie merkte, daß es aus dem Rhythmus geriet und immer kürzer und abgehackter atmete, zügel-te sie es und setzte den Ritt im Schrittempo fort, um das Tier zu schonen. In die Dunkelheit der langen Winternacht gehüllt, ritten sie nun langsam durch die nebelige Landschaft mit ihren schwarzen Baumskeletten; hin und wieder zerriß das Heulen eines streunenden Hundes die Stille. Livia hielt erst inne, als sie vor Müdigkeit beinahe vom Pferd kippte: ein schwacher Lichtschimmer - der einzige weit und breit - zog sie an wie einen Nachtfalter. Als sie sich ihm näherte, schlug ein Hund an, aber Livia achtete nicht auf sein wütendes Gebell. Sie war hungrig und am Rande der Erschöpfung; die feuchte Kälte hatte ihre Glieder taub gemacht, jede Bewegung kostete sie Anstrengung und Schmerz. Der erspähte Lichtschimmer kam von einer Laterne, die an einem baufälligen Wirtshaus mit der Aufschrift Ad pontem Trebiae baumelte.

Den Angaben des rostigen Schilds entgegen gab es keine Brücke, bestenfalls eine Fähre, aber das Tosen des Flusses war auch hier laut genug, um zu begreifen, daß es weiter nördlich mit Sicherheit keine andere Möglichkeit gab überzusetzen. Die Luft, die ihr beim Eintreten entgegenschlug, war zum Schneiden. Ein Feuer aus feuchten Pappelzweigen in der Zimmermitte verbreitete mehr Rauch als Wärme. Um einen Tisch aus Schwemmholz saß eine kleine Gruppe Reisender; die Männer löffelten Hirsesuppe und angelten sich von einem Teller in der Tischmitte grüne Saubohnen und Rüben, die sie mit etwas Salz würzten. Der Wirt hockte auf der andern Seite des Raums neben dem Herd, enthäutete noch lebende Frösche und warf sie in einen Korb, wo sie sich unter Zuckungen wanden. Ein abgemagertes, in Lumpen gehülltes Mädchen holte sie einen nach dem anderen heraus, köpfte sie und nahm sie aus, um sie hernach in einem Topf mit siedendem Schweineschmalz zu braten. Livia ließ sich etwas abseits nieder, und als der Wirt zu ihr kam, fragte sie nur, ob er Brot da habe.

»Roggenbrot«, lautete die Antwort.

Livia nickte. »Gut, Roggenbrot für mich und einen Unterstand und etwas Heu für mein Pferd.«

»Wir haben nur Stroh. Und das Pferd kann mit dir im Stall übernachten.«

»In Ordnung. Werft ihm schon mal die Decke über, die an den Sattel gebunden ist.«

Der Wirt befahl dem Mädchen, Brot zu bringen, während er selbst brummend das Pferd versorgen ging. Na ja, immerhin mußte dieser junge Bursche Geld haben, sonst hätte er keine Lederstiefel und erst recht kein Pferd besessen. Kaum vor die Tür getreten, fiel er allerdings aus allen Wolken: Da legte doch tatsächlich eine Gruppe Reiter mit der Seilfähre am Ufer an! Unter wilden Flüchen gingen die Männer nacheinander an Land, in einer Hand die Zügel ihres Pferdes, in der anderen eine Laterne. Kurz darauf übergaben sie ihm die Tiere und verlangten barsch nach Essen. »Fleisch!« brüllten sie, noch bevor er den Mund aufmachen konnte, und flegelten sich an einen Tisch. Der Wirt rief nach seinem Knecht. »Schlachte den Hund«, befahl er ihm leise, »und koch ihnen den, etwas anderes haben wir nicht. Bestimmt merken sie es gar nicht, viehisch wie sie sind. Wenn wir denen nicht geben, was sie verlangen, schlagen sie uns alles kurz und klein.«

Livia beobachtete die Männer aus den Augenwinkeln: Es waren Barbaren, Söldner, die vermutlich im kaiserlichen Heer dienten. Livia fühlte sich sehr unwohl, am liebsten wäre sie sofort gegangen, und wenn sie es nicht tat, so nur, um keinen Verdacht zu erregen. Mühsam würgte sie ihr hartes Brot hinunter und trank ein paar Schluck Wein, der allerdings eher nach Essig schmeckte. Als sie sich schließlich erheben wollte, merkte sie, daß sich einer von den Barbaren vor ihrem Tisch aufgebaut hatte und sie eindringlich musterte. Ihre Hand wanderte instinktiv zu dem Dolch unter ihrem Wams, während sie sich mit der anderen noch etwas Wein einschenkte, um ihre Aufregung zu verbergen. Langsam leerte sie den Becher, dann holte sie tief Luft und stand auf. Glücklicherweise entfernte sich der Barbar ohne ein Wort und ging in die Küche, um noch mehr Wein zu verlangen. Livia bezahlte ihr Abendessen und verließ die Wirtsstube, um sich im Stall neben ihrem Pferd einen Schlafplatz zu suchen. Sie merkte nicht, wie sich der Barbar erneut nach ihr umdrehte und dann einen vielsagenden Blick mit seinem Anführer wechselte, wie um zu sagen: »Das ist sie, was?«, worauf dieser nickte und gleich darauf den Wirt anbrüllte: »He, bringst du uns jetzt endlich den Wein und das Fleisch, oder muß ich dich erst auspeitschen lassen?«

»Noch etwas Geduld, mein Herr«, entgegnete der Wirt untertänig. »Wir haben eigens für euch ein Zicklein geschlachtet, laß uns etwas Zeit, es zuzubereiten.«

Es dauerte noch eine ganze Stunde, bis der Hund gekocht war und, in kleine Stücke zerlegt, mit Marienblatt als Beilage auf den Tisch kam. Die Barbaren warfen die Kräuter weg und machten sich über das Fleisch her, das sie unter dem zufriedenen Blick des Wirts bis auf die Knochen abnagten. Es gab nur einen kritischen Moment, als nämlich der Anführer nach dem Kopf verlangte: »Die Augen sind das Beste. Also, her mit dem Kopf!« Der Wirt erschrak, fing sich aber sofort: »Der Kopf, mein Herr? Oh, wie mir das leid tut -den Kopf und die Innereien haben wir ... dem Hund gegeben.«

Livia, aufgewühlt vom seltsamen Verhalten des Barbaren, lag lange wach und lauschte auf den Lärm in der Wirtsstube, jeden Moment bereit, auf ihr Pferd zu springen und zu fliehen. Aber es geschah nichts, und irgendwann hörte sie, daß die Männer die Schenke verließen und in Richtung Süden weiterzogen. Sie atmete erleichtert auf und machte es sich zum Schlafen bequem, aber der Aufruhr in ihrem Inneren ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Sie sehnte sich nach Aurelius, seiner Stimme, seiner Gegenwart, und machte sich große Sorgen um Romulus - wie ging es ihm, wo war er, was dachte er wohl in diesem Augenblick? Sie vermißte den alten Ambrosinus, der auf alles eine Antwort wußte, seine stoische Gelassenheit, seine eifersüchtige Liebe zu dem Jungen und seinen blinden Glauben an dessen Zukunft, allem zum Trotz. Und die anderen Gefährten fehlten ihr nicht minder: Vatrenus, Batiatus, Orosius und Demetrios, unzertrennlich wie die Dioskuren, ihr Mut, ihre Opferbereitschaft, ihre unglaubliche Seelenstärke. Wie hatte sie sie bloß verlassen können, bloß um ein bißchen Geld aufzutreiben?

Selbst die Erinnerung an ihre Stadt verblaßte in diesem Moment. Livia fühlte nur, daß ihr alles fehlte, was sie zum Leben brauchte, und sie konnte an nichts anderes denken als daran, wie sie die Gefährten wiederfand. Diese fürchterliche Welt, die elende Niedertracht, die sie allenthalben umgab, das quälende Gefühl der Einsamkeit, das sie plötzlich so heftig empfand, und die Gewißheit, daß es äußerst schwierig werden würde, die Freunde wiederzufinden, zwangen sie zu einer raschen Entscheidung. Sie hätte noch, ein, zwei Tage abwarten können, um zu sehen, ob sie nachkamen, wenn sie aber nicht kamen, würde der Abstand zu ihnen zu groß werden und Livia auf dem Weg zum Paß so weit zurückfallen, daß sie womöglich endgültig den Anschluß verlor. Das einzig Kluge war im Grunde das, was bereits Ambrosinus vorgeschlagen hatte: ihnen zum Gebirgspaß vorauszureiten und dort auf sie zu warten. Alles weitere lag in Gottes Hand.

Mit dem ersten Lichtschimmer des anbrechenden Tages stand sie auf, sattelte ihr Pferd und machte sich in aller Stille auf den Weg nach Norden, den auch die Gefährten nehmen mußten, egal, ob sie nun vor oder noch hinter ihr waren. Da sie allein ritt, kam sie rasch vorwärts, und wenn nichts Unvorhergesehenes passierte, würde sie den Alpenpaß bestimmt noch vor Aurelius und seinen Gefährten erreichen. Einen Moment lang kam ihr der Gedanke, die schlechten Bodenverhältnisse oder irgendein Zwischenfall könnte die anderen womöglich gezwungen haben, ihre Route zu ändern - ein Gedanke, bei dem sie ganz mutlos wurde - , aber sie verscheuchte ihn sofort wieder. Gewiß, die Möglichkeit, sich zu verpassen und niemals wieder zu begegnen, bestand, andererseits wußte Livia, daß Ambrosinus seine Entscheidungen nur nach reiflicher Überlegung traf und für gewöhnlich daran festhielt, koste es, was es wolle.

Stephanus war noch am selben Abend davon unterrichtet worden, daß eine Frau, auf welche die Beschreibung Livias zutraf, in der Schenke an der Fähre über die Trebia gesehen worden war. Er hatte sich daraufhin mit einer Eskorte aufgemacht, um ihr in einiger Entfernung unbemerkt zu folgen. Früher oder später würde er sie auf dem Weg nach Raetien einholen und dazu bringen, mit ihm zurückzukehren, dessen war er sich sicher, und auf demselben Wege würde er auch in den Besitz des Schwertes gelangen, das einer von ihren Gefährten bei sich haben mußte. Stephanus hatte den Gesandten Kaiser Zenons von der Wunderwaffe erzählt, und es stand außer Zweifel, daß der »Cäsar des Ostens« ihm jede Summe und jedes nur erdenkliche Privileg anbieten würde, um an das wertvolle Objekt zu kommen, das eine Art Symbol oder Reliquie der ursprünglichen Größe des Römischen Reiches darstellte.

Stephanus war aufgebrochen, sobald sich das Unwetter etwas beruhigt hatte und die überschüssigen Wassermassen der Flüsse ins Meer abgeflossen waren. Es war ihm sogar gelungen, Odoaker unter einem fadenscheinigen Vorwand einen kleinen Söldnertrupp abzuringen. Doch hinter ihm war auch Wulfila aufgebrochen, sicher, daß nur Stephanus ihn auf die Spur seiner Beute bringen konnte. Zwar hatte der Barbar bereits Späher in alle Richtungen ausgesandt, aber eine kleine Reisegesellschaft mit einem schwarzen Riesen, einem alten Mann und einem Jungen hatte niemand gesehen. Als Wulfila jedoch erfuhr, daß Stephanus Vorbereitungen für einen überstürzten Aufbruch traf und daß er sich unter dem Vorwand einer diplomatischen Mission in die Alpenregion von Odoaker einen bewaffneten Begleitschutz hatte geben lassen, ahnte er sofort den wahren Grund.

Er trommelte seine Männer zusammen, rund sechzig Krieger, die vor nichts zurückschreckten, und heftete sich an Stephanus Fersen, fest davon überzeugt, daß sie beide dasselbe Ziel hatten. Sollte sich später herausstellen, daß dem doch nicht so war und er alles auf die falsche Karte gesetzt hatte, so gab es für ihn kein Zurück. Dann mußte er für immer untertauchen, sich in den endlosen Weiten des Kontinents verlieren, denn ein zweites Versagen innerhalb so kurzer Zeit würde Odoaker ihm niemals verzeihen. Aber Wulfila wußte, daß er sich nicht täuschte. Er würde die Fliehenden einholen und ihrer Flucht ein jähes Ende bereiten. Er würde mit dem berühmten Wunderschwert den Jungen köpfen und das Gesicht dieses Römers entstellen, wie dieser das seine entstellt hatte; und dann würde er endlich auch dessen wahre Identität herausfinden, bevor er ihn endgültig über die Klinge springen ließ.

Livia setzte unterdessen die Suche nach Aurelius und den anderen fort, und nichts lag ihr ferner als die Vorstellung, unfreiwillig Führerin jener grausamen Männer zu sein, die ihre Freunde neuerlich in tödliche Gefahr bringen und wie Jagdwild hetzen würden.

XXV

Livia hatte zunächst gehofft, die obligatorische Überquerung des Po's biete ihr eine zweite Gelegenheit, die Gefährten wiederzutreffen, gesetzt den Fall, daß diese die Überfahrt auf einer der wenigen noch funktionstüchtigen Seilfähren wie der an der Trebia geschafft hatten. Die antiken Schiffsbrücken - einst sichere Wege über den Fluß und Verbindungsglieder mit den wichtigsten Verkehrsadern wie der Via Postumia und der Via Emilia - waren im Lauf der letzten Jahrzehnte mit ihrer verheerenden Anarchie und den Unruhen nach der Ermordung Flavius Orestes zerstört, die schwimmenden Kähne von den Uferbewohnern gestohlen und als Fracht- oder Fischerboote verwendet worden.

Auf ähnliche Weise nahm alles, was einst dazu beigetragen hatte, Städte und Völker, Berg- und Landbevölkerung, ja die entlegensten Provinzen des Reichs miteinander zu verbinden, nach und nach Schaden, wurde vernachlässigt, geplündert, aufgegeben. Öffentliche Einrichtungen wie die mansiones entlang der Hauptstraßen, Thermalanstalten, Foren und Basiliken, Aquädukte, ja sogar die Pflastersteine der Straßen wurden demoliert, zerlegt, verkauft oder anderweitig eingesetzt. Alles kam herunter, die Not zwang die Leute, das eigene Land zu plündern, um wenn schon nicht als Gemeinschaft, so wenigstens als Individuen überleben zu können; von gesellschaftlichem Fortschritt konnte man nur noch träumen. Die antiken Denkmäler, die Bronzestatuen, mit denen man den Ruhm der Ahnen und des gemeinsamen Vaterlandes gefeiert hatte, waren längst eingeschmolzen und in Münzen oder alltägliche Gebrauchsartikel verwandelt worden. Und so war das edle Metall, aus dem einst die Bildnisse eines Scipio und Trajanus, eines Augustus und Marcus Aurehus gegossen worden waren, heute Bestandteil des Kochgeschirrs der neuen Herrschaften oder der Münzen, mit denen man die Barbarensöldner bezahlte - wilde Kerle, die allenthalben den Ton angaben.

Armes Land! Selbst die gemeinsame Sprache, das Lateinische, das Dutzende von Völkern miteinander verbunden hatte, wurde - in seiner vornehmen Form - nur noch von Flonoratioren, Rhetoren und Geistlichen gesprochen, während es auf Volksebene in Tausende von Dialekten und Untersprachen zerfiel, in denen einerseits wieder die Sprache der Urbevölkerung durchschlug - also jener Menschen, die Italien vor der römischen Eroberung bewohnt hatten - , in denen sich andererseits aber auch ganz neue, teils auf winzige Gegenden beschränkte Sprachgepflogenheiten durchsetzten, die andernorts niemand verstand; auch dies hatte zur Folge, daß die einzelnen Regionen sich immer mehr isolierten und voneinander abschotteten. Die Städte hatten ihre römische Verwaltung zum Teil beibehalten, viele besaßen immerhin noch ein eigenes Gerichtswesen, manche eine Stadtmauer, die ihnen zumindest erlaubte, sich gegen marodierende Rotten und bewaffnete Banden zur Wehr zu setzen, die landaus, landein ihr Unwesen trieben.

Nicht einmal die ausgedienten Tempel der alten Religion blieben verschont - als Behausungen antiker Dämonen verschrien, wurden sie schon seit langem einer nach dem anderen zerstört und abgerissen. Manchmal überlebten wenigstens ihre Säulen und ihr wertvoller Marmor, indem sie beim Bau christlicher Kirchen wiederverwendet und in neue, nicht weniger prachtvolle Bauwerke eingefügt wurden, wo sie immerhin damit fortfuhren, mit ihrer Schönheit die Gläubigen zu erheben.

Eins stand jedenfalls fest: Das Trennende wurde immer mehr und das Einende immer weniger. Eine Welt fiel zusammen, zerbrach in tausend Scherben, die ziellos auf dem Fluß der Geschichte dahintrieben. Nur die Religion, der christliche Glaube mit seiner Unsterblichkeitsverheißung und dem Versprechen grenzenlosen Glücks im Jenseits, schien noch in der Lage, die Menschen zusammenzuhalten, aber auch dies nur an der Oberfläche. Tatsächlich verbreiteten sich immer neue Irrlehren, die schlimme, oft blutige Auseinandersetzungen nach sich zogen und dafür sorgten, daß im Namen des alleinigen Gottes, der eigentlich Vater der gesamten Menschheit hätte sein sollen, mit Anathemata und Exkommunikationen nur so um sich geworfen wurde. Ein Großteil der Menschen lebte in bitterster Not, einer Not, die ohne den Glauben an ein besseres Leben nach dem - häufig verfrühten - Tode unerträglich gewesen wäre.

Derlei Dinge gingen durch Livias Kopf, während sie durch das große Tal des Nordens ritt, wohl wissend, daß sie einiges riskierte, ganz allein, wie sie war, und mit einem so schönen Pferd, das sowohl als Kampfroß als auch als Fleischreserve sehr viel wert war. Sie war deshalb darauf bedacht, alle Listen und Kniffe anzuwenden, die sie bei unzähligen Fluchten, Überfällen und Hinterhalten zu Lande und zu Wasser gelernt hatte. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, daß sie beschützter war denn je, daß unsichtbare Augen sie Tag und Nacht bewachten und daß jeder Schritt von ihr, jede Richtungsänderung umgehend Stephanus gemeldet wurde, der in sicherer Entfernung hinter ihr herritt und jeden direkten Kontakt peinlich vermied. Wenigstens für den Moment.

Er hatte alles im Griff, so glaubte er. Wie hätte er auch ahnen können, daß er seinerseits verfolgt und ausspioniert wurde, und zwar von Männern, die noch viel gefährlicher waren als seine Söldner?

Livia ging irgendwann dazu über, auf der leicht erhöht verlaufenden Uferböschung des Po's entlang zureiten, denn von dieser konnte man über weite Strecken hinweg das umliegende Land überblicken und war damit viel sicherer als auf einer Straße. Wahrend sie den Blick umherschweifen ließ, überlegte sie sich, daß es für ihre Gefährten eigentlich viel zu gefährlich gewesen wäre, mit der Fähre über den Fluß zu setzen, wie ihr eigenes Erlebnis mit den Barbaren im Wirtshaus Ad pontem Trebiae ja deutlich gezeigt hatte. Andererseits: Wie hätten sie mit Pferden ohne eine Fähre, also ohne Aufsehen zu erregen, über den Fluß kommen sollen? Ob sie die Tiere verkauft und am anderen Ufer neue erworben hatten? Dazu wäre es nötig gewesen, daß Aurelius sich von Juba trennte ...

Ach, es hatte keinen Sinn zu grübeln, im Moment dachte sie besser an sich selbst, und endlich bot sich ihr tatsächlich eine Möglichkeit, nahezu problemlos über den Fluß zu gelangen: Eine halbe Meile vor ihr lag im seichten Wasser ein großer Frachtkahn, mit dem Kies und Sand von einem Ufer ans andere transportiert wurde. Sie handelte einen günstigen Preis für die Überfahrt aus und schaffte ihr Pferd ohne größere Schwierigkeiten an Bord. Langsam begann sie wieder Hoffnung zu schöpfen; das Schlimmste schien überstanden; ab jetzt würde sie mit Sicherheit um einiges schneller reiten können und den Paß mindestens zwei Tage vor ihren Gefährten erreichen, sofern nichts dazwischenkam. Sie steuerte also zielstrebig auf Pavia zu, hielt sich aber in respektvoller Entfernung zu der Stadt selbst, da sie dort eine Garnison Odoakers vermutete. Danach ritt sie zum Lago Verbano weiter, wo sie sich einer Maultierkarawane anschließen konnte, die mit einer Ladung Getreide und drei Wagen Heu ebenfalls auf dem Weg zum Paß war. Das Futter war für die Bauernhöfe im Gebirge gedacht, wo Kühe und Schafe im Stall überwintern mußten. Wie ihr berichtet wurde, trauten sich die Bauern aus Angst vor Überfällen nicht mehr in die Ebene hinunter.

Die Leute sprachen hier einen ganz anderen Akzent, und auch die Landschaft änderte sich laufend, je höher sie kamen. Sie ließen den blaugrünen, in ein tiefes Tal eingebetteten und von bewaldeten Hängen, saftigen Weiden, Weinbergen, ja sogar Olivenbäumen gesäumten See unter sich und stiegen auf steilen Wegen immer höher hinauf. Zunächst kamen sie noch durch dichte Eichen- und Buchenwälder, später wurde die Vegetation spärlicher und bestand nur noch aus dürren Tannen und Lärchen.

Am vierten Tag trennte Livia sich wieder von der Gruppe und folgte gemäß den Angaben ihrer kleinen Landkarte allein der schneebedeckten Straße, die zum Paß hinaufführte. Die alte Poststation am cursus publicus, nördlich des Dorfes Tarussedum, war noch in Betrieb, aus ihrem Kamin stieg Rauch auf, und Livia war versucht, wenigstens kurz einzukehren, um sich ein wenig aufzuwärmen, doch dann sah sie, daß unter dem Vordach zahlreiche Kampfrösser angebunden waren, denen man dicke Filzdecken aufgelegt hatte, und beschloß, sich doch lieber eine abgelegenere Unterkunft irgendwo in der Höhe zu suchen, von wo aus sie die Straße überblicken konnte. Tatsächlich entdeckte sie auf dem Osthang des Gebirgspasses schon bald ein paar Holzhütten, von denen ebenfalls Rauch aufstieg. Livia nahm an, daß sie Holzfällern gehörten, denn ringsumher waren Holzstämme aufgestapelt, teils noch mit Rinde, teils bereits ohne und der Länge nach gespalten. Sie ging auf eine der Hütten zu und klopfte mehrmals an. Die alte Frau, die ihr schließlich öffnete, trug Filzpantoffeln und ein Kleid aus grober Wolle; ihr Haar war zu einem Zopf geflochten und mit Holznadeln im Nacken aufgesteckt.

»Wer bist du?« fragte die Alte mürrisch. »Was willst du?«

Livia streifte ihre Kapuze zurück und lächelte. »Ich heiße Irene und war mit meinen Brüdern nach Raetien unterwegs. Gestern haben wir uns in einem Schneesturm aus den Augen verloren, aber es war bereits abgemacht, daß wir in einem solchen Fall hier, auf dem Paß, aufeinander warten. Leider ist die Poststation voller Soldaten, ich bin ein Mädchen, ohne Begleitung, du verstehst schon ...«

»Tut mir leid, bei mir kannst du nicht bleiben, und zu essen habe ich auch nichts da«, erwiderte die Frau bereits etwas freundlicher.

»Ich wäre schon mit einem Stück Brot und einem Platz im Stall zufrieden, ich könnte auch dafür bezahlen, und mein Vater und meine Brüder würden sich dir ebenfalls erkenntlich zeigen, sobald sie nachkommen.«

»Und wenn sie nicht nachkommen?«

Livia senkte traurig den Kopf. Ja, was, wenn ihre Gefährten nicht nachkamen, was, wenn sie einen anderen Weg eingeschlagen oder sich verirrt hatten? Die Möglichkeit, sie nie mehr wiederzusehen, bestand durchaus. Die alte Frau schien in ihren Gedanken zu lesen und wurde plötzlich ganz mitfühlend. »Ach, Unsinn«, sagte sie, »wenn du es bis hier rauf geschafft hast, schaffen sie es auch. Und du hast überhaupt recht: Ein Mädchen kann nicht alleine dort unten übernachten, inmitten von so vielen Barbaren. Bist du noch Jungfrau?«

Livia nickte mit einem schwachen Lächeln.

»Das solltest du in deinem Alter aber nicht mehr sein. Ich meine, da sollte man längst verheiratet sein und einen Stall voll Kinder haben, du siehst doch ganz nett aus ... Obwohl die Ehe natürlich auch kein Zuckerschlecken ist. Auf, steh nicht rum, bring deinen Gaul in den Stall und komm rein.«

Livia kam der Aufforderung der Frau dankbar nach. In der Hütte stellte sie sich vors Feuer und rieb sich die Hände, die steif vor Kälte waren.

»Vielleicht könnte ich meinen Mann zum Schlafen in den Stall schicken, und du schläfst bei mir im Bett«, sagte die Frau, die zusehends auftaute. »So wenig wie der ausrichtet ... im Bett, meine ich.«

»Ich danke dir«, erwiderte Livia, »aber ich will euch wirklich keine Unannehmlichkeiten bereiten. Laß mich ruhig im Stall übernachten, ich kann mich anpassen, und außerdem ist es ja nicht für lange.«

»Wie du möchtest ... Dann gebe ich dir einen Strohsack, den du auf der anderen Seite an die Wand der Feuerstelle legst, so hast du es die ganze Nacht über schön warm. Hier wird es nämlich eiskalt, wenn die Sonne erst mal weg ist.«

Ihr Mann, der Holzfäller, kam gegen Abend nach Hause zurück. Er trug seine Axt auf der Schulter, einen Sack Eisenhaken in der Hand und wurde von einem hübschen Hund mit schäfchenweichem, weißem Fell begleitet, der ihm aufs Wort gehorchte und nicht von seiner Seite wich. Der Mann zeigte sich hocherfreut, einen Gast zu haben, und stellte Livia während des Abendbrots einen Haufen Fragen. Er wollte haargenau wissen, was in Pavia, Mailand und am Hof von Ravenna vorging. Der Tatsache, daß er an einem so stark benützten Verkehrsweg wohnte, verdankte er es offensichtlich, bestens über die Ereignisse im Land oder zumindest in der Poebene Bescheid zu wissen. Die beiden Eheleute hießen Ursinus und Agata und hatten keine Kinder. Sie lebten allein in dieser Hütte, solange sie verheiratet waren, vermutlich also mindestens vierzig Jahre. Ursinus wollte unbedingt, daß Livia bei seiner Frau schlief, aber Livia lehnte dankend ab. »Mein Pferd ist unruhig, wenn es mich nicht sieht, und würde uns die ganze Nacht nicht schlafen lassen. Außerdem habe ich Angst, daß es mir gestohlen wird - ein so schönes Pferd, ich hänge sehr an ihm, ohne es wäre ich gestorben.«

Livia richtete es sich also bei den Tieren im Stall ein und schmiegte sich mit dem Rücken behaglich an die Wand, hinter der sich die Feuerstelle befand. Agata gab ihr noch ein paar Wolldecken und wünschte ihr eine gute Nacht. Es war eine herrliche, sternenklare Nacht, wie Livia sie noch nie erlebt hatte; die Milchstraße, die den Himmel überquerte, nahm sich aus wie ein silbernes Diadem auf der Stirn Gottes. Von Müdigkeit übermannt, fiel Livia schließlich in einen unruhigen Halbschlaf. Sie nahm das kleinste Geräusch wahr, das aus dem Tal heraufdrang und hin und wieder erwachte sie ganz und spähte hinunter. Was, wenn sie die Gefährten verpaßte, wenn sie vorüberzogen, solange sie schlief? Dann wäre alle Mühe umsonst gewesen. Nein, sie mußte unbedingt einen Weg finden, dies zu vermeiden.

Am nächsten Morgen sprach sie mit Ursinus, während sie an einem Becher heißer Milch nippte. »Ich habe Angst, meine Brüder könnten vorüberziehen, ohne daß ich es merke. Aber wie soll ich es anstellen, die ganze Nacht wach zu bleiben?«

»Das ist nicht nötig«, erwiderte Ursinus. »Sie kommen bestimmt bei Tag über den Paß, bei Nacht wäre es viel zu gefährlich.«

»Ich fürchte leider, du irrst dich. Schau, unsere Familie hat Haus und Hof verloren, die Barbaren haben uns alles weggenommen; unsere einzige Hoffnung besteht jetzt darin, uns zu entfernten Verwandten in Raetien durchzuschlagen und diese um Hilfe zu bitten. Aber gerade deshalb könnten meine Brüder die Paßstraße vermeiden wollen, denn hier wimmelt es von Barbarensoldaten ...«

Ursinus betrachtete sie einen Moment lang schweigend, und Livia merkte, daß ihre seltsame Geschichte ihn alles andere als überzeugt hatte. Also unternahm sie einen weiteren Versuch: »Wir sind auf der Flucht«, sagte sie. »Odoaker will uns töten, seine Soldaten jagen uns gnadenlos. Dabei haben wir nichts Böses getan. Wir haben uns lediglich gegen seine Gewaltherrschaft gewehrt, wir wollen unseren alten Prinzipien treu bleiben, das ist alles.«

»Was sind das für Prinzipien?« fragte Ursinus mit einem seltsamen Gesichtsausdruck.

»Die Treue zur Tradition unserer Väter, der Glaube an die Zukunft Roms.«

Ursinus seufzte und sagte: »Ich weiß nicht, ob du mir mit deiner rührseligen Geschichte einen Bären aufbindest, aber mir ist inzwischen klar, daß du sehr auf der Hut sein mußt und deshalb selbst den Leuten mißtraust, die dich bei sich aufgenommen haben. Laß mich dir etwas zeigen, was dir vielleicht mehr Vertrauen in mich schenkt ...« Livia wollte widersprechen, doch Ursinus brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. Er stand auf, öffnete eine Schublade und zog ein kleines Bronzetäfelchen heraus, das er vor ihr auf den Tisch legte. Es handelte sich um eine honesta misso, eine ehrenvolle Entlassung aus dem Militärdienst, ausgestellt auf den Namen Ursinus, Sohn des Sergius, und unterzeichnet von Aetius, dem obersten Befehlshaber des kaiserlichen Heers zu Zeiten Valentinianus III.

»Wie du siehst, liebes Mädchen, war ich früher Soldat«, sagte Ursinus. »Vor vielen Jahren habe ich unter Aetius gegen die Barbaren gekämpft und ihnen auf den Katalaunischen Feldern eine ihrer schwersten Niederlagen beigebracht.« Er sah sie wehmütig an. »An diesem Tag hofften wir alle, unsere Zivilisation gerettet zu haben.«

»Tut mir leid«, entgegnete Livia. »Das konnte ich nicht wissen.«

»Und jetzt raus mit der Wahrheit. Sind es wirklich deine Brüder, auf die du wartest?«

»Nein ... Freunde und Waffenbrüder. Wir versuchen, dieses Land zu verlassen und einen unschuldigen Jungen vor dem sicheren Tod zu retten.«

»Wer ist dieser Junge, kannst du mir das sagen?«

Livia sah ihm in die Augen, und es waren die Augen eines ehrlichen Menschen. »Ich heiße in Wahrheit Livia Prisca«, gestand sie ihm. »Ich habe eine Gruppe römischer Soldaten bei dem Versuch angeführt, Kaiser Romulus Augustus aus der Gefangenschaft zu befreien, und wir haben es geschafft. Wir hätten den Jungen treuen Freunden übergeben sollen, aber wir wurden verraten und sind seither auf der Flucht. Odoakers Männer jagen uns im ganzen Reich. Unsere einzige Hoffnung besteht dann, über die Grenze nach Rae-tien zu kommen und von dort aus weiter nach Gallien, wo Odoaker keinen Einfluß mehr hat.«

»Allmächtiger Gott!« rief Ursinus aus. »Und warum bist du allein? Warum hast du deine Gefährten verlassen?«

»Wir sind durch eine Überschwemmung voneinander getrennt worden, danach habe ich es nicht geschafft, sie wiederzufinden.«

»Und woher weißt du, daß sie hier vorüberkommen?«

»So war es abgemacht.«

»Sonst noch etwas? Berichte mir genau, was sie zu dir gesagt haben, Wort für Wort, das ist sehr wichtig.«

»Zu unserer Gruppe gehört ein alter Mann, der Lehrer des jungen Cäsars, er ist vor vielen Jahren auf dem Weg von Britannien hier durchgekommen. Nach seinen Worten gibt es einen kleinen Pfad, auf dem man über den Berg kommt, ohne die Kontrollposten auf der Hauptstraße passieren zu müssen. Hier, schau«, sagte sie und zeigte ihm Ambrosinus' Landkarte.

»Ja, ich glaube, ich weiß, welchen Pfad du meinst«, erwiderte Ursinus. »Dann gilt es keinen Augenblick mehr zu verlieren. Was meinst du, wieviel Vorsprung du vor den anderen hast?«

»Ich weiß es nicht. Vermutlich einen Tag, vielleicht aber auch zwei oder drei, schwer zu sagen. Wer weiß, auf was für Schwierigkeiten sie unterwegs gestoßen sind. Vielleicht haben sie es sich auch anders überlegt ...«

»Unsinn«, erwiderte Ursinus. »Wenn ihr hier verabredet seid, dann kommen sie auch. Jetzt sag mir bitte, wie viele es sind und wie sie aussehen, damit ich sie erkenne.« »Das ist nicht nötig. Ich gehe mit dir.«

»Du traust mir immer noch nicht, was? Aber du mußt hierbleiben für den Fall, daß sie doch über die Paßstraße kommen. Ganz ist das nicht auszuschließen - der Pfad, von dem du gesprochen hast, ist zugeschneit und schwer zu erkennen. Verstehst du jetzt?«

Livia nickte. »Es sind sechs Männer, einer von ihnen fällt durch seine Größe sofort auf und auch weil er dunkelhäutig ist. Der alte Mann, den ich vorher erwähnte, hat kaum noch Haare auf dem Kopf, aber einen Bart, er ist um die Sechzig, trägt eine Kutte und geht an einem langen Pilgerstab. Dann ist da noch ein dreizehnjähriger Junge. Er ist der Kaiser. Sie haben Pferde und sind bewaffnet.«

»Gut. Dann höre mir zu: Ich steige jetzt dort auf den Berg, und wenn ich sie sehe, schicke ich dir den Hund runter, verstanden? Wenn du ihn kommen und bellen siehst, folge ihm; er bringt dich zu mir. Wenn du sie dagegen siehst, versuche, sie vor dem Paß abzufangen, und verstecke sie im Wald. Ich bringe euch dann rüber, wenn es dunkel ist. Das Zeichen für mich ist weißer Rauch aus dem Kamin - du sagst Agata Bescheid, und die legt dann grüne Äste aufs Feuer.«

»Ja, aber wie hältst du es bei dieser Kälte dort oben aus?«

»Keine Sorge, ich bin an die Temperaturen gewöhnt; außerdem habe ich auf dem Berg einen kleinen Unterschlupf aus Baumstämmen, der mich vor dem Wind schützt. Ich komme schon durch.« Mit diesen Worten machte Ursinus sich auf den Weg, gefolgt von seinem Hund, der freudig mit dem Schwanz wedelte.

»Ursinus!« rief Livia ihm nach.

»Ja?«

»Danke für alles.«

Ursinus lächelte. »Ich tue das nicht nur für dich, sondern auch für mich, mein Kind. Das ist ein bißchen, als würde ich wieder in den Dienst treten und noch einmal jung werden, begreifst du?«

Wenig später sah Livia ihn den verschneiten Berghang auf der anderen Talseite emporsteigen. Es vergingen mehrere Stunden. Irgendwann schien es Livia, als tue sich unten, bei der Poststation etwas, bewaffnete Reiter kamen und gingen, und sie begann bereits, Verdacht zu schöpfen: Was konnte sich in einem Wirtshaus, das um diese Jahreszeit so wenig besucht war, groß ereignen? Doch dann kehrte wieder Ruhe ein. Zwei Wachsoldaten zu Pferde patrouillierten die Straße auf und ab, was nichts Außergewöhnliches war. Während des langen Wartens wurde Livia neuerlich von Zweifeln gepackt: Wie hatte sie sich bloß einbilden können, in einem so riesigen Gebiet, inmitten von Wäldern, Schluchten und labyrinthischen Paßstraßen, eine winzige Gruppe von Reisenden wiederzufinden? Aber während sie noch trüben Gedanken nachhing, schreckte sie plötzlich das Bellen des Hundes auf, den sie bis zu diesem Augenblick mit seinem weißen Fell im Schnee gar nicht gesehen hatte. Sie spähte zu Ursinus hinauf: Ja, er schien sie tatsächlich zu sich heraufzuwinken. Gütiger Himmel! Waren ihre Gebete tatsächlich erhört worden? War dieses Wunder tatsächlich möglich? Livia warf sich rasch den Mantel über die Schulter, verabschiedete sich von Agata und folgte dem Hund auf einem Weg, der sie den Blicken der Männer in der Poststation entzog, hinunter ins Tal und auf der anderen Seite wieder hinauf. Sie war entsetzlich aufgeregt und konnte es noch immer nicht glauben, wagte nicht zu hoffen, daß sie ihre Freunde tatsächlich wiedersehen würde. Was, wenn Ursinus sich getäuscht oder den Hund aus einem anderen Grund zu ihr geschickt hatte? Mit den widersprüchlichsten Gefühlen kämpfend erreichte sie schließlich den alten Holzfäller auf der Bergspitze. Er drehte sich bei ihrer Ankunft gar nicht nach ihr um, sondern hielt den Blick starr ins Tal gerichtet, wo sich in weiter Ferne, auf einem von der Hauptstraße abzweigenden Weg, der sich in Serpentinen emporwandt, etwas bewegte.

»Glaubst du, das könnten sie sein?« fragte er Livia. »Schau selbst, meine Augen sind nicht mehr das, was sie mal waren.«

Livia genügte ein Blick, und ihr Herz blieb fast stehen: Sie waren weit weg und ganz winzig, aber es waren sieben, mit sechs Pferden, einer von ihnen überragte alle anderen, und einer war deutlich kleiner, sie stapften langsam voran und führten ihre Pferde an den Zügeln mit sich. Livia hätte vor Freude schreien, weinen, lauthals nach ihnen rufen mögen, statt dessen mußte sie schweigen und die nahezu unerträgliche Spannung weiter aushalten, mußte weiter warten, leiden und unter Einsatz ihres Leben weiteren, tödlichen Gefahren begegnen. Aber dies alles war nichts gegen die grenzenlose Freude, die Gefährten wenigstens mit den Augen wiedergefunden zu haben.

Stürmisch schlang sie Ursinus die Arme um den Hals. »Mein guter Freund, das sind sie! Das sind wirklich sie!«

»Was habe ich dir gesagt? Siehst du jetzt, daß deine Bedenken umsonst waren?«

»Ich gehe, mein Pferd holen«, sagte Livia. »Warte hier auf mich, ich bin gleich zurück.«

»Es eilt nicht, mein Kind«, erwiderte der Alte. »Deine Gefährten haben noch einen weiten Weg vor sich, im Gebirge sind die Entfernungen viel größer, als man denkt, da täuscht man sich leicht. Außerdem ändert sich das Wetter«, meinte er mit einem Blick zum Himmel, der sich zusehends bewölkte, »und leider nicht gerade zum Besseren.«

Livia warf einen letzten Blick auf den kleinen Trupp, der sich mühsam den verschneiten Weg heraufkämpfte, dann rannte sie den Hang hinunter.

»Agata«, rief sie, während sie aufgeregt in die kleine Hütte stürzte, »Agata, meine Freunde sind da!« Aber Agata erwiderte nichts, starrte sie nur mit angsterfüllten Augen und aschfahlem Gesicht an.

»Na, das ist aber eine gute Nachricht!« rief hinter ihr eine Stimme -eine Stimme die Livia zusammenzucken ließ und die sie sehr gut kannte, sie gehörte ... Stephanus!

»Die Ärmste ist etwas eingeschüchtert, weil ihr einer von meinen Männern die Spitze seines Schwerts in den Rücken bohrt«, erklärte er überflüssigerweise und trat auf sie zu. »Und jetzt laß dich ansehen, meine Liebe, wir haben uns lange nicht gesehen.«

»Verdammter Schweinehund!« fluchte Livia, indem sie zu ihm herumfuhr. »Das hätte ich mir denken sollen!«

»Fehler, die man bezahlt«, erwiderte Stephanus kalt. »Aber glücklicherweise gibt es für alles einen Ausweg. Man braucht sich nur darauf zu einigen.«

Livia umklammerte krampfhaft den Dolch unter ihrem Wams und hätte ihn am liebsten damit an die Wand genagelt, aber Stephanus schien m ihren Gedanken zu lesen. »Laß dich nicht von deinen Gefühlen hinreißen, Gefühle sind ein schlechter Ratgeber.«

»Wie hast du mich gefunden?« fragte Livia beinahe resigniert.

»Ach, wie naseweis die Frauen doch sind!« bemerkte Stephanus ironisch. »Aber ich will deine Neugier stillen - im Grunde kostet es mich ja nichts. Eine meiner Mägde hat in deinen Kleidern eine Landkarte gefunden, in der deine Marschroute exakt eingezeichnet war. Außerdem hat dich dieses Medaillon verraten, das du immer um den Hals trägst«, Livia umschloß das ihr so heilige Stück schützend mit der Hand, »ein völlig wertloses, aber äußerst seltenes Objekt. Es ist einem meiner Männer in der Schenke an der Fähre über die Trebia aufgefallen. Der gute Kerl hat nicht nur an deinen weichen Bewegungen und an deinen kleinen Mädchenfüßen gemerkt, daß du eine Frau bist, er ist auch auf den groben Klunker da aufmerksam geworden, den ich allen als dein persönliches Erkennungszeichen genannt hatte. Meine Leute hatten Befehl, nichts zu unternehmen, wenn sie einen von euch fanden; sie sollten mich lediglich benachrichtigen, und genau das haben sie getan.

»Was willst du noch?« fragte Livia, ohne ihn anzusehen. »Reicht dir noch nicht, was du uns angetan hast?«

»Das ganze umhegende Gebiet ist von meinen Männern umstellt, außerdem gibt es hier auf dem Paß eine Garnison von vierzig gotischen Söldnern, die meinem Befehl unterstehen und sich schon in Alarmbereitschaft befinden. Deine Männer haben also nicht die geringste Chance zu entkommen, egal, wo sie stecken. Doch ich bin ein ziviler Mensch und will kein Blutvergießen. Ich will etwas anderes, nämlich dich und dieses Schwert - es wird mir mehr Geld einbringen, als ich in einem Leben ausgeben kann, und du wirst diesen Reichtum mit mir teilen. Du wirst sehen, man gewöhnt sich schnell an Luxus und Wohlstand. Diesen ungehobelten Römer hast du bestimmt bald vergessen. Und wenn dir etwas an ihm liegt, solltest du sowieso tun, was ich dir sage.«

»Ich habe es dir schon gesagt: Das Schwert ist verlorengegangen.«

»Lüg nicht, oder ich lasse diese Frau sofort umbringen.« Er hob die Hand.

»Nein, halt«, sagte Livia. »Laß sie in Ruhe. Ich sage dir, was ich weiß. Es ist wahr, das Schwert existiert, aber ich habe meine Leute schon seit Tagen nicht mehr gesehen, und sie könnten es inzwischen wirklich verloren oder verkauft haben.«

»Das werden wir schnell erfahren, du brauchst sie nur danach zu fragen. Du bist meine Unterhändlerin. Ich will dieses Schwert, danach lasse ich alle gehen, auch den Jungen. Alle außer dir, versteht sich. Das ist ein sehr großzügiges Angebot - Odoaker hat angeordnet, euch umzubringen. Also, was antwortest du mir?«

Livia nickte. »In Ordnung. Aber wie kann ich sicher sein, daß du uns nicht trotzdem verrätst?«

»Das ersiehst du erstens daraus, daß ich Wulfila nicht unterrichtet habe. Er sucht ebenfalls nach euch, und wehe, wenn er vor mir hiergewesen wäre«, erwiderte Stephanus. »Dann hätte keiner von euch überlebt. Zweitens sehe ich nicht gern Blut und habe deshalb keinerlei Interesse daran, ein Gemetzel zu veranstalten. Und drittens: Du hast keine andere Wahl, liebe Livia.«

»Gut«, entgegnete die junge Frau zähneknirschend, »dann laß uns gehen. Aber merk dir eins: Wenn du mich belogen hast, bring ich dich um wie einen räudigen Hund. Und bevor du stirbst, wirst du genug Gelegenheit haben, den Tag deiner Geburt zu verfluchen.«

Stephanus verzog keine Miene, sondern sagte nur: »Dann los. Und ihr da kommt mit!« Bei diesen Worten traten rund zwanzig Bewaffnete aus dem Stall neben dem Haus und folgten ihm mit wenigen Schritten Abstand.

»Versuch nicht, mich reinzulegen«, sagte Stephanus zu Livia. »Für den Fall, daß mir etwas geschieht, haben meine Männer Befehl, dich augenblicklich umzubringen und Alarm zu schlagen - deine Leute wären in Kürze von allen Seiten umzingelt und niedergemäht.«

»Laß mich mein Pferd holen, und befiehl deinen Söldnern, sich in etwas Entfernung da drüben am Waldrand zu verstecken. Ich habe jemanden dort oben, den Mann dieser Frau, er könnte Verdacht schöpfen und die anderen alarmieren.«

Stephanus befahl seinen Soldaten, ihnen im Schutz des Waldes zu folgen, der sich bis zu den ersten, schneebedeckten Lichtungen hinaufzog. Livia nahm ihr Pferd am Zügel und stieg mit Stephanus zur Paßstraße hinunter und auf der anderen Seite langsam wieder den Berg hinauf.

»Jetzt bleib du auch ein Stück zurück«, sagte Livia irgendwann zu ihm. »Wir wissen nicht, wie sie reagieren, wenn sie dich neben mir sehen.«

Stephanus verlangsamte den Schritt, während Livia auf Ursinus zustapfte. In diesem Augenblick bogen Aurelius, Vatrenus und die anderen in etwa zwanzig Schritt Entfernung um einen Felsvorsprung.

»Livia!« schrie Romulus, kaum daß er sie sah.

»Romulus!« rief Livia aus, dann wandte sie sich sofort an Aurelius: »Aurelius, hör zu!«, aber sie brachte ihren Satz nicht zu Ende, sah nur, wie sich die freudig überraschten Gesichter ihrer Gefährten in Fratzen der Empörung verwandelten. Und sie sah, wie Aurelius das Schwert aus der Scheide zog und auf sie zustürzte. »Verfluchtes Weib, du hast uns verraten!«

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