In einem Bett aus Metall, weiß emailliert, lagen zwei Mädchen und stießen abwechselnd mit ihren nackten Füßen gegen das heiße Kupfer der Wärmflasche. Immer wieder versuchte die Kleine mit den Zehen stoßend und der Ferse schiebend das Kupfer auf ihre Seite zu schaffen. Doch im letzten Augenblick hinderte sie das lange Bein der Schwester. Die Länge ihrer Beine und ihre schmalen, grazilen Füße bewunderte Helene an Martha. Aber die Entschlossenheit, mit der Martha scheinbar mühelos die Wärmflasche für sich beanspruchte und Helenes Begehrlichkeiten zurückwies, ließ Helene verzweifeln. Sie stemmte ihre Hände gegen den Rücken der Schwester und suchte mit den kalten Zehen einen Weg vorbei an den Beinen und Füßen unter der schweren Decke. Das Licht der Kerze flackerte, jeder Windstoß, ausgelöst vom Gerangel unter der Decke und ihrem plötzlichen Heben und Senken, bewegte die Flamme. Helene wollte lachen und weinen vor Ungeduld, sie presste die Lippen zusammen und umfasste die Schwester, das Nachthemd war hoch gerutscht und Helene gelangte mit ihrer Hand auf Marthas nackten Bauch, Marthas Hüfte, Marthas Schenkel. Helene wollte sie kitzeln, aber Martha wand sich, Helenes Hände glitten immer wieder ab und bald musste Helene sie kneifen, um auch nur etwas von Martha zu fassen zu kriegen. Es gab eine stillschweigende Abmachung zwischen beiden, keine durfte einen Laut von sich geben.
Martha schrie nicht, sie hielt Helenes Hände einfach fest. Ihre Augen glänzten. So stark sie konnte, drückte sie Helenes Hände zwischen ihren zusammen, es knackte, Helene fiepte, sie winselte, Martha presste, bis Helenes Widerstand erloschen schien und die Kleine immer wieder flüsterte: Lass los, bitte, lass los.
Martha lächelte, sie wollte jetzt gern eine Seite in ihrem Buch umblättern. Die blonden Wimpern der kleinen Schwester flatterten, ihre Augen barsten. Wie fein das Geäst der Adern ihre Augäpfel umspannte. Kein Zweifel, Martha würde Helene be gnadigen, früher oder später. Das alles wegen einer kupfernen Wärmflasche zu ihren Füßen. Helenes Flehen klang vertraut, es beruhigte Martha. Sie ließ die Hände der Kleinen los, wandte ihrer Schwester den Rücken zu und zog das Federbett mit sich.
Helene fror, sie setzte sich auf. Und obwohl ihre Hände noch schmerzten, streckte sie sie aus, berührte Marthas Schulter und fasste nach ihrem dicken Zopf, aus dem überall kleine Locken sprossen. Marthas Haar war wild und weich zugleich, nur wenig heller als das schwarze Haar der Mutter. Helene beobachtete es gern, wenn Martha die Mutter kämmen durfte. Die Mutter saß dann mit geschlossenen Augen da und summte ein Lied, das wie das Schnurren einer Katze klang, in verschiedenen Tonhöhen schnurrte sie behaglich, während Martha mit der Bürste das dicke und lange Fell der Mutter striegelte. Einmal stand Helene am Waschtisch, sie spülte das Laken, und als die Seife raus war, wrang sie es über dem großen Eimer aus. Sie gab acht, dass kein Wasser auf den Küchenboden spritzte. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Mutter aufschrie. Sie schrie nicht hoch und hell, sondern tief und kehlig, mit der Inbrunst eines großen Tieres. Die Mutter bäumte sich auf. Ihr Stuhl, auf dem sie bis eben gesessen hatte, krachte zu Boden. Sie schubste Martha von sich, die Bürste fiel zu Boden. Unter heftigen und ziellosen Bewegungen der Arme schlug sie um sich, Spangen und Kämme flogen vom Tisch, sie trat nach dem Stuhl, fasste ihn, hob ihn hoch und schleuderte ihn in Helenes Richtung. Ihr Brüllen dröhnte, als habe die Erde ihren Schlund aufgerissen und grolle. Die auf dem Tisch liegenden Häkeleien flogen quer durch das Zimmer. Etwas hatte geziept.
Doch während die Mutter über ihre Töchter schimpfte, fluchte, sie habe eine nichtsnutzige Brut geboren, wiederholte Helene wie ein Gebet immer denselben Satz: Darf ich dich kämmen? Ihre Stimme zitterte: Darf ich dich kämmen? Als eine Schere durch die Luft flog, hob sie schützend die Arme über ihren Kopf: Darf ich dich kämmen? Und kauerte sich unter den Tisch. Darf ich dich kämmen?
Die Mutter hörte sie anscheinend nicht, erst als Helene schwieg, wandte sich die Mutter zu ihr um. Sie beugte sich nach vorn, um Helene besser unter dem Tisch sehen zu können, ihre grünen Augen blitzten. Bloß das nicht, schnaubte die Mutter. Sie richtete sich auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass es ihr weh tun musste. Helene solle unter dem elenden Tisch hervorkommen. Sie sei noch ungeschickter als die Große. Die Mutter betrachtete das kriechende, sich umständlich aufrichtende Mädchen mit seinen hellen, goldenen Locken wie eine Fremde.
Haare willst du kämmen. Die Mutter lachte böse. Pah, nicht mal die Wäsche kannst du richtig wringen! Die Mutter packte das Laken aus dem Eimer und schleuderte es zu Boden. Vielleicht sind dir deine Hände zu schade? Dem Eimer gab die Mutter einen kräftigen Tritt, und noch einen, bis er umfiel, scheppernd.
Unwillkürlich zuckte Helene zusammen, sie wich zurück. Die Mädchen kannten die Wutausbrüche ihrer Mutter, allein die Plötzlichkeit, dass es keinerlei Vorwarnung gab, ließ sie erschrecken. Winzige Bläschen zersprangen auf den Lippen der Mutter, neue bildeten sich, sie schillerten. Zweifellos, die Mutter schäumte, sie kochte. Geifernd erhob sie ihren Arm, Helene machte einen Schritt seitwärts und fasste nach Marthas Hand. Etwas streifte Helenes Schulter und klirrte und brach unter dem Schreien der Mutter am Boden entzwei. Glas zersprang. Tausend Splitter, abertausend. Helene flüsterte die unfassbare Zahl, die unbegreifliche, abertausend. Abertausend glitzerte. Unzählige Scherben lagen verstreut. Die Mutter musste ihre Vase aus böhmischem Glas vom Schrank gerissen haben. Helene wollte weglaufen, nur waren ihre Beine zu schwer.
Die Mutter krümmte sich, sie schluchzte und sank auf die Knie. Die Scherben mussten sich durch den Stoff ihres Kleides bohren, doch es kümmerte sie nicht. Sie durchfurchte mit ihren Händen die grünen Scherben und erstes Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor, sie weinte wie ein Kind, zartes Stimm chen, fragte, ob denn kein verdammter Gott da sei, der ihr helfen wolle, sie wimmerte, und schließlich stammelte sie in einem fort den Namen Ernst Josef, Ernst Josef.
Helene wollte sich bücken, sich zu ihrer Mutter knien, sie trösten, aber Martha hielt sie entschlossen zurück.
Wir sind es, Mutter. Das sagte Martha streng und gefasst. Wir sind hier, Ernst Josef ist tot wie deine anderen Söhne auch, tot geboren, hörst du, Mutter. Zehn Jahre, tot. Aber wir sind da.
Aus Marthas Stimme klang die Empörung und Wut, es war nicht das erste Mal, dass sie der Mutter die Stirn bot.
Ah! Die Mutter brüllte, als ramme Martha ihr einen Dolch in die Brust.
Da zog Martha Helene mit sich aus dem Zimmer.
Widerlich, flüsterte Martha, das müssen wir uns nicht anhören, Engelchen, komm, wir gehen.
Martha legte ihren Arm um Helene. Sie gingen in den Garten und hängten die Wäsche auf.
Immer wieder hatte Helene hinauf zum Haus blicken müssen, wo durch das geöffnete Fenster das Klagen und Schreien der Mutter leiser und seltener geworden und schließlich gänzlich verstummt war, so dass Helene fürchtete, die Mutter sei nun verblutet oder habe sich noch Schlimmeres angetan.
Helene dachte weiter, als sie neben Martha im Bett saß, dass der Mutter das Schreien womöglich nur vor ihren Kindern gelang, allein musste es ihr zwecklos erscheinen. Was galt das Schreien schon ohne Gehör? Helene schüttelte sich vor Kälte und berührte den Zopf der Schwester, den Zopf, aus dessen Inneren Löckchen sprossen, fein und weich, der Schwester, die gut war, die sie im Zweifel beschützte.
Ich friere, sagte Helene. Bitte, lass mich unter die Decke.
Und sie war froh, als sich der Berg vor ihr öffnete und Martha ihre Hand ausstreckte, den Arm wie einen Stützpfeiler hob, damit Helene zu ihr unter die Federn schlüpfen konnte. Helene steckte ihre Nase in die Achselhöhle der Schwester, und als diese sich wieder zu ihrem Buch umdrehte, drückte Helene ihr Gesicht in Marthas Rücken, in tiefen Zügen atmete sie den warmen und vertrauten Geruch. Helene überlegte, ob sie ihr Abendgebet sprechen sollte. Sie konnte die Hände falten. Ihr war wohl zumute. Ein Gefühl von Dankbarkeit durchströmte sie, doch empfand sie es Martha gegenüber, nicht gegenüber Gott.
Im Schatten des Kerzenlichts spielte Helene mit Marthas Zopf. Der matte Schein ließ ihr Haar noch dunkler erscheinen als es war, fast schwarz waren die Locken. Helene streichelte sich mit Marthas Zopfende über die Stirn, die Haare kitzelten sie an den Wangen und an den Ohren. Martha blätterte eine Seite ihres Buches um und Helene begann mit dem Zählen der Sommersprossen auf Marthas Rücken. Jeden Abend zählte Helene Marthas Sommersprossen. War sie sich der Zahl auf der linken Schulter bis zum Muttermal über der Wirbelsäule sicher, schob sie den Zopf zur Seite und zählte rechts weiter. Martha ließ sich das gefallen, sie blätterte eine Seite um und kicherte leise.
Was liest du?
Nichts für dich.
Helene liebte das Zählen. Es war aufregend und beruhigend. Wenn Helene zum Bäcker ging, zählte sie auf dem Hinweg die Vögel und auf dem Rückweg die Menschen, die ihr begegneten. Ging sie mit dem Vater aus dem Haus, zählte sie, wie oft sein großer sandfarbener Hund namens Baldo das Bein hob und auch, wie oft sie gegrüßt wurden, und freute sich über die hohen Zahlen, einmal spielte sie sie gegeneinander aus, jeder Gruß vernichtete eine Marke des Hundes. Hin und wieder wurde der Vater im Übermut mit Herr Professor angesprochen, wobei es sich eher um den Ausdruck von Schmeichelei als um ein Miss verständnis handelte. Jeder wusste, dass Ernst Ludwig Würsich zwar seit einigen Jahren philosophische und literarische Bücher verlegte und in seiner Druckerei setzen ließ, aber er hatte damit keinen Professorentitel erworben. Der Bürgermeister Koban blieb stehen und tätschelte Baldo über den Kopf. Die Männer tauschten Zahlen aus über die Druckauflage der Festschrift zur Räteversammlung und Koban fragte den Vater, was für einer sein Hund sei. Doch der Vater weigerte sich stets, Mutmaßungen über beteiligte Rassen zu äußern, sondern antwortete: Ein Guter.
Helene wunderte sich über die vielen Bekannten, die grußlos an ihnen vorübereilten, sobald sie mit der Mutter auf die Straße trat. Der Mutter schien das nicht aufzufallen. Helene zählte still und heimlich, wobei sie oft nicht über eine Begrüßung hinaus kam. Die Bäckersfrau Hantusch, die dem Vater sonst fast um den Hals fiel, schaute sie nicht einmal an. Lieber senkte sie ihren Schirm leicht, schob ihn wie einen Schutzschild vor sich her und verhinderte auf diese Weise jeden Blickwechsel. Vermutlich war es Martha, von der Helene eines Tages erfahren hatte, dass die Mutter keineswegs Frau Würsich genannt wurde. Die Bewohner der Tuchmacherstraße sprachen von der Fremden, die Fremde, die zwar den angesehenen Bautzener Bürger und Buchdruckmeister Würsich geheiratet hatte, aber selbst hinter dessen Ladentheke und auf der Straße mit den gemeinsamen Töchtern an der Hand eine Fremde blieb. Obwohl es in der Lausitz durchaus Brauch war, am Herkunftsort der Frau zu heiraten, gab es auch noch zehn Jahre nach der Eheschließung Gerede über die Herkunft dieser Braut. Es hieß, die Eheleute seien standesamtlich in Breslau getraut worden. Standesamtlich, das klang nach einer ehrrührigen Verbindung. Jeder wusste, dass die Fremde ihrem Mann sonntags nicht in den Petridom folgte. Ein Gerücht besagte, sie sei gottlos.
Da nützte es nichts, dass ihre Töchter im Dom getauft worden waren. Die Bewohner Bautzens empfanden offenbar die nicht stattgefundene kirchliche Trauung als Schmach für das Ansehen ihres Bürgerstandes. Niemand würdigte die Fremde eines Grußes. Jeder Blick, auch wenn er Selma Würsich nicht treffen konnte, weil sie wie in weiser Voraussicht den raren Fundstücken zwischen den Pflastersteinen mehr Aufmerksamkeit schenkte als den Bürgern der Stadt, war abschätzig von einem Kopfschütteln und Flüstern begleitet. Ob stolz oder verlegen, die Passanten blickten an Helene und ihrer Mutter vorbei, hinweg über die am Boden hockende Frau und durch sie hindurch. Begegnete Helene an der Hand der Mutter dem Bürgermeister Koban, einem Freund des Vaters, so wechselte dieser grußlos die Straßenseite. Die Söhne vom Richter Fiebinger lachten und drehten sich um, weil sie die im Sommer dünnen Stoffe anstößig und die im Winter ausladenden Kleider der Mutter seltsam fanden. Doch die Mutter schien von alldem nichts zu bemerken. Sie bückte sich und zeigte Helene strahlend eine kleine Glasperle, die sie gefunden hatte. Schau mal, ist die nicht schön? Helene nickte. Die Welt steckte voller Schätze.
Wann immer die Mutter das Haus verließ, sammelte sie auf, was sie am Boden fand — das waren Knöpfe und Münzen, ein alter Schuh, der so aussah, als könne man ihn noch einige Monate tragen und vielleicht etwas aus ihm machen, zumindest war der Schnürsenkel im Gegensatz zur Sohle neu und die Haken am Schaft erschienen in den Augen der Mutter von großer Seltenheit und besonderem Wert. Aber auch ein buntes Stück Keramik unten am Fluss, wenn es rundgespült war, entlockte der Mutter einen Ausruf der Freude. Einmal fand sie unmittelbar vor der Haustür einen Gänseflügel und weinte Tränen der Rührung.
Martha hatte damals behauptet, es sei mehr als wahrscheinlich, dass jemand den Flederwisch vor die Tür gelegt habe, nur, um zu sehen, wie die Fremde sich bückte und ihn auflas. Die Federn waren vom Gebrauch schon gestutzt, einige Kiele ragten wie abgebrochene Zähne hervor, blank und kahl.
Die Mutter sammelte Flederwische, auch wenn sie selten von einem Gebrauch machte. Sie hängte die Vogelflügel an die Wand über ihrem Bett. Ein Vogelschwarm für das Geleit von Seelen, so nannte sie ihre Sammlung. Nur ein gefundener Flederwisch erhielt einen Platz über dem Kopfende. Es waren neun an der Zahl mit diesem, sie hoffte auf den zehnten. Sind es erst zehn, so konnte sie die zweiundzwanzig Buchstaben ergänzen und Wege erhellen, wie sie sich ausdrückte. Keine der beiden Töchter erfragte, woher und wohin welche Seelen geleitet werden sollten. Ihnen war die auf parallele Welten begründete und aus ihnen geliehene Bedeutung einer wandernden Seele unheimlich. Es sollte neben ihrer Welt, in der ein Ding ein Ding war und ein Lebewesen ein Lebewesen, auch eine geben, in der die Bezüge zwischen Leben und Ding eine Einheit schufen. Helene hielt sich die Ohren zu. War es nicht schon schwierig genug, sich die Beschaffenheit einer Seele vorzustellen? Was konnte einer Seele erst geschehen, wenn sie auf Wanderschaft ging? Blieb sie die eine Seele, eine wiedererkennbare, einzelne? Würde man sich wirklich in einer anderen Welt zu gegebener Zeit wieder begegnen müssen? Die Mutter drohte damit. Wenn ich tot bin, werden wir uns wieder begegnen, wir werden verbunden sein. Es gibt kein Entrinnen. Aus Furcht wollte Helene nichts mehr über Seelen wissen. Für jeden Gegenstand kannte die Mutter eine mutmaßliche Bestimmung, notfalls erfand sie eine. Über die Jahre der Ehe hatte sich das Haus gefüllt, nicht nur in den Schränken und Vitrinen, auch auf dem Boden zwischen den Möbelstücken drohte beständig eine eigenwillige Landschaft zu wachsen, Hügel und Haufen legte die Mutter an, Sammlungen bestimmter und weniger bestimmter Gegenstände. Einzig die Haushälterin Marja, von den Herrschaften Mariechen genannt und nur wenige Jahre älter als die Mutter, schaffte es mit großer Geduld und Beharrlichkeit, in manchen Räumen für erkennbare Ordnung zu sorgen. Die Küche unterstand Mariechens Regiment, das Esszimmer, die schmale Treppe in die beiden höheren Stockwerke. Aber im Schlafzimmer der Mutter und im angrenzenden Raum waren es kaum erkenntliche Pfade, auf denen man gehen durfte. Selten war hier ein Stuhl frei, so dass man sich setzen konnte. Die Mutter sammelte Äste und Schnüre, Federn und Stoffe, aber auch kein zerbrochenes Geschirr durfte fortgeworfen werden, keine noch so angestoßene Schachtel und kein von Würmern zernagter Schemel, auch nicht, wenn er wackelte, weil eins der Beine inzwischen morsch und zu kurz war. Was das Mariechen aus ihren Wirtschaftsräumen ausrangierte, wurde von der Mutter hinauf in die oberen Gemächer getragen, wo sie den löchrigen Topf oder das zerbrochene Glas erst einmal abstellte, in der Zuversicht, eines Tages einen Platz und auch eine Verwendung für den Gegenstand zu finden. Niemand konnte in der Ansammlung eine Ordnung erkennen, einzig die Mutter selbst ahnte, in welchem Stapel sie einen gewissen Zeitungsausschnitt suchen konnte und unter welchem Kleiderhaufen sie die kostbare sorbische Spitze abgelegt hatte. War das filigrane Muster dieser Spitze nicht einzigartig, wo hatte es je so zarte und ungestüm aus der Textur herausragende Lilien gegeben wie diese?
Auf der Suche nach einem wollenen Winterkleid, das Martha vor fast zehn Jahren abgelegt hatte und das Helene nun tragen sollte, hatte die Mutter im Innern des höchsten, bis knapp unter die Zimmerdecke reichenden Kleiderberges gewühlt, war bald darunter verschwunden und kroch schließlich mit einem anderen, schon viel zu kleinen Kleid daraus hervor. Der Kleiderhaufen war mit der Suche in die Breite geraten und erstreckte sich nun über das Regal, zwei Stühle und den Trampelpfad. Helene schien es, als müsse das Haus bald unter der Last seiner Füllung auseinanderbrechen. Die Mutter bückte sich, hob einzelne Dinge auf, legte sie links und rechts zur Seite und arbeitete sich so in die Ecke des Zimmers vor. Dort stieß sie in Bodennähe auf eine runde Hutschachtel. Sie drückte die Hutschachtel an ihre Brust wie einen verlorenen Sohn.
In dieser Schachtel habe sie einst den Hut ihrer Verlobung ins eheliche Haus gebracht, einen ungewöhnlich ausladenden, mit Schleier und dunkelblau, fast schwarz schimmernden Federn einer Elster. Zärtlich streichelte sie das feine graue Papier des Deckels und strich über die kaum angestoßenen Kanten. Doch dann beäugte sie die Schachtel misstrauisch, sie drehte und wendete und schüttelte sie, und es klimperte darin, als habe sich der Verlobungshut in lauter Nägel oder Münzen verwandelt. Eine Weile versuchte die Mutter mit zittrigen Fingern das violette Schleifenband aus Atlas, das vielfach um die Schachtel gewunden war, zu lösen. Bis sie die Geduld verlor. Zorn verzerrte ihr Gesicht. Mit einem Aufschrei warf sie die Schachtel vor Marthas Füße: Du schaffst das!
Martha hob die Hutschachtel auf, die Schachtel hatte jetzt eine große Beule. Martha blickte sich um; weit und breit konnte sie keinen freien Platz entdecken, auf den sie den Schatz hätte stellen können. Also trug sie die Schachtel hinunter in die Küche und stellte sie dort auf den Tisch. Helene und die Mutter folgten ihr. Marthas Hände waren flink, geschickt öffnete sie die Knoten.
Den Deckel wollte die Mutter selbst abheben. Sie seufzte, als ihr Blick ins Innere fiel. Ein Meer von Knöpfen und anderen Nähutensilien kam zum Vorschein, geklöppelte Blüten und kleine Stofffetzen, mit denen vermutlich die noch nackten und zu erneuernden Knöpfe bezogen werden sollten.
Die Mutter musste sich auf einen Stuhl setzen und tief Atem holen. Dabei hob und senkte sich ihr Brustkorb heftig, als wehre sie sich mit aller Kraft gegen die aufsteigende Erregung. Sie schluchzte, Tränen rannen ihr über die Wangen, und Helene fragte sich, wo sich in der schmalen Mutter der schier unend liche Vorrat an Tränen verbergen konnte.
Am späten Nachmittag hatte sich die Mutter hingelegt, die Mädchen saßen nahe dem Bett, Helene auf dem Hocker, Martha im Schaukelstuhl. Helene beugte sich über die runde Schachtel und war damit beschäftigt, kleine Ösen und große Ösen, goldene und schwarze, weiße und silberne herauszufischen. In dem Knäuel aus Nähbändern und Litzen entdeckte Helene ein Gespinst von Motten. Die leeren Hüllen der Larven klebten zwischen den Stoffen. Helene blickte sich um. Die Mutter lag auf einem hohen Kissen. Sie hatte eine Hand auf ihrer kleinen Truhe mit den zwei Schubladen abgelegt, in der sich Ansichtspostkarten und Briefe, aber auch getrocknete Blätter und einzelne Spielkarten befanden — man konnte ja nie wissen, ob man nicht eines Tages wieder ein ganzes Spiel zusammenfand oder eine einzelne Karte für ein sonst unvollständiges Spiel benötigte. In der unteren Schublade bewahrte die Mutter vor allem Kaffee- und Briefmarken auf. Sie hatte die Augen geschlossen und zuvor ihre Töchter ermahnt, sie sollten ruhig sein und ihre Arbeiten erledigen. Seit Stunden litt die Mutter an heftigen Kopfschmerzen, ihre Stirn zeigte zwischen den Augen das Faltendreieck einer Leidenden. Offenbar erachtete Martha die Gelegenheit als günstig. Die ihr zugewiesene Aufgabe musste ihr mühsam und unsinnig erscheinen, sie sollte die Fäden der achtlos in den Nähkasten geworfenen Garnrollen entwirren und ordentlich aufwickeln. Die Garnrollen mussten nach Farben und Qualität sortiert werden.
Sobald der Arm der Mutter schwer im Schlaf von der kleinen Truhe rutschte und ihr Atem gleichmäßig ging, zog Martha ein schmales senffarbenes Buch unter ihrer Schürze hervor und begann darin zu lesen. Sie kicherte in sich hinein, wobei ihre Füße auf und ab wippten, als wolle sie jeden Augenblick tanzen oder wenigstens aufspringen. Helene blickte sehnsüchtig zu Martha hinüber, gern hätte sie gewusst, was der Anlass ihrer Heiterkeit war. Helene betrachtete das Knäuel Nähbänder in ihren Händen. Ekel erfasste sie, als sie auf dem dunkelblauen Samt ihres Kleides eine weiße Made entdeckte, die mühsam in Richtung Knie kroch. Schon fiel eine zweite, winzige Made aus dem verlassen geglaubten Mottengespinst in ihren Händen und landete unweit der ersten auf ihrem Schoß. Die Made krümmte sich, es war ungewiss, welche Richtung sie einschlagen würde. Voller Hoffnung, Martha könne sie erlösen, flüsterte Helene hinüber: Kann ich das wegwerfen?
Durch die zugezogenen Gardinen schimmerte blattgrünes Licht. Von Zeit zu Zeit blähte ein Windstoß die Gardinen, und in dem schmalen Sonnenstrahl, der nur kurz durch das Fenster brach, tanzten winzige Staubkörnchen. Martha schaukelte vor, hielt einige Sekunden inne und schaukelte zurück. Sie blätterte eine Seite um und würdigte das Knäuel in Helenes Hand keines Blickes. Als sie streng den Kopf schüttelte und dabei doch lächelte, war Helene nicht sicher, ob Martha sie überhaupt gehört hatte, vielleicht war sie ganz in ihrer Welt und in Gedanken mitten in ihrem Buch, vielleicht war sie auch einfach froh, dass sie nicht selbst dieses Knäuel aus zerfressenen Nähbändern und Larven in der Hand hielt. Helene musste würgen. Vorsichtig schob sie das Knäuel auf das Bett der Mutter, wo am Fußende verschiedene Strumpfhalter, Strümpfe und Kleidungsstücke der vergangenen Tage lagen.
Martha lehnte sich im Schaukelstuhl zurück, sie streckte ihre Beine aus. Mit einer zärtlichen Bewegung legte sie sich die Locke, die aus dem dicken Zopf gerutscht war, hinter das Ohr. Hin und wieder schnalzte sie mit der Zunge, schlug ein Bein über das andere und kniff die Augen zusammen, leckte sich über die Lippen, als schmeckte ihr das Gelesene außerordentlich. Erst als der Vater mit seinem Hund das Zimmer betrat, schreckte sie zusammen. Baldo hatte den Schwanz eingeklemmt und legte sich sogleich vor den Ofen.
Doch der Vater konnte die roten Wangen seiner älteren Tochter so wenig wie das Buch bemerken, das sie eilig unter der Schürze verschwinden ließ. Einzig für seine Frau hatte er Augen. Er wusste nicht, wie er Abschied nehmen sollte, und seufzte, während er in seiner Husarenuniform auf und ab ging. Bei jeder Kehrtwende sah er seine Frau an, als ersuchte er sie um Hilfe und erbitte ihren Rat. Helene schien es, als wollte der Vater sprechen, aber er atmete nur schwer und schluckte und schickte schließlich die Mädchen aus dem Zimmer.
Später klopfte Helene gegen die angelehnte Tür, sie wollte eine gute Nacht wünschen und dabei gern einen Blick auf den neuen Säbel und die Schärpe an der väterlichen Uniform werfen. In Helenes Augen war die Furcht, die Martha und die Mutter vor dem Kriegszug des Vaters äußerten, völlig unbegründet. Der Vater mit seinem kaiserlichen Schnurrbart, den er mehr aus Bewunderung und Respekt denn wegen erster leiser Zweifel ein wenig kürzer als der Kaiser trug, und seiner felsenfesten Zuversicht und Liebe für diese wundersame Mutter erschien ihr ganz und gar unversehrbar. Dieser Eindruck wurde vom Glänzen und Funkeln des neuen Krummsäbels untermalt. Noch während Helene klopfte, öffnete sich die Tür einen Spalt. Der Vater kniete auf dem dunklen Holzboden, Eichenparkett, das erst vor wenigen Tagen poliert worden war. Es duftete nach Harz und Zwiebeln. Seine Stirn hatte er auf die Hand der Mutter gelegt.
Gute Nacht, flüsterte Helene, sie warf einen Blick auf den Säbel, den der Vater nachlässig auf dem Schaukelstuhl abgelegt hatte. Da der Vater nicht antwortete, nahm Helene an, er schlafe. Auf Zehenspitzen näherte sie sich dem Schaukelstuhl. Sie strich mit dem Finger über die Schneide und wunderte sich, wie stumpf sie war, wie kühl. Ein leises Schnalzen scheuchte sie auf, sie sah, wie der Vater mit einem Arm fuchtelte, um ihr zu bedeuten, dass sie sich davonscheren solle. Der Vater wollte mit der Mutter allein sein. Es störte ihn nicht, dass Helene die Schneide seines Säbels befühlte, einzig ihre Anwesenheit störte ihn. Er musste Abschied von seiner Frau nehmen. Selma Würsich lag mit geschlossenen Augen ausgestreckt auf ihrem Bett, vielleicht war es der hohe Kragen, der ihren Hals steif hielt und der Zwiebelgeruch, der ihren geschlossenen Augen Tränen entlockte. Die Mutter hörte nichts, sah nichts, sagte nichts.
Auf leisen Sohlen ging Helene rückwärts zur Tür, dort wartete sie, sie hoffte, der Vater würde sie noch etwas fragen, aber der Vater hatte die Stirn wieder auf den Handrücken der Mutter gelegt und wiederholte die Worte: Mein Täubchen, meine Liebe. Helene bewunderte ihren Vater für seine Liebe. Wer ihre Mutter liebte, dem konnte kein Krieg etwas anhaben.
Am folgenden Abend hatte keines der Mädchen dem Vater eine gute Nacht gewünscht. Sie hörten ihn im Zimmer nebenan auf und ab gehen und wussten, dass er weder Rat noch Hilfe erhielt. Manchmal sagte er etwas, es klang wie Freude! und wie Gott! Nur selten hörten sie zwischen diesen Worten das Fiepen seines Hundes.
Die Mädchen lagen eng aneinandergeschmiegt, Helene drückte ihre Nase zwischen die Schulterblätter der großen Schwester, von Zeit zu Zeit reckte sie ihr Kinn und schnappte nach Luft, während Martha in regelmäßigen Abständen eine Seite umblätterte und leise für sich lachte. Doch dann hörten die Mädchen laut und deutlich die tiefe, vom starken Rauchen etwas mitgenommene Stimme der Mutter: Wenn du gehst, sterbe ich.
Helene strich mit der Hand über das mattbraune Mal, Marthas Rücken war mager und zart, und sie strich auch über die Sommersprossen, mit dem Finger fuhr sie entlang der fein gehäkelten Spitze des Nachthemdes, hin und her.
Ein Wort nur, bitte.
Nicht betteln.
Bitte. Nur ein Wort.
Erst mach weiter. Oben, ja, weiter oben.
Helene folgte den Anweisungen ihrer Schwester und ließ ihre Hand über die Haut streichen, das Nachthemd und die Schulter hinauf, kreisen, von dort den Arm hinab, über die nackte Haut, und wieder das Leinen unter sich den Rücken aufwärts und abwärts und entlang der Wirbelsäule, Wirbel um Wirbel, die sie deutlich unter dem Stoff spüren konnte. Dann hielt sie still.
Ein Wort.
Stern.
Helene bewegte nur leicht ihre Hand, sie malte die Zacken, hielt inne und forderte.
Noch eins.
Will der Stern meiner Hoffnung verglühn.
Helene belohnte Martha. Sie kraulte ihren Nacken. Zeile für Zeile, Strophe für Strophe erwarb sich Helene mit ihren Händen Byrons Worte aus Marthas Mund.
Unter dem Fenster fuhr ein Pferdewagen vorüber, und mit dem Rütteln des Wagens auf dem Kopfsteinpflaster schepperte etwas und klirrte, als habe der Wagen Gläser geladen. Vermutlich war es ein Lieferant vom Gasthaus Drei Raben, das im Frühjahr sein neues Haus in der Tuchmacherstraße bezogen hatte. Die Eröffnung hatte die Straße belebt. Der Bierkutscher verstellte mit seinen Fässern den Bürgersteig, die feineren Damen gingen mitten am Tage zum Kaffeetrinken, während ihre Köchinnen und Haushälterinnen oben auf dem Kornmarkt die Einkäufe erledigten, und abends grölten die Husaren auf der Straße, die plötzlich zu schmal und zu klein wirkte.
An den Wochenenden, in der Nacht vom Sonnabend auf den Sonntag, bebte jetzt das Viertel südlich des Kornmarkts. Bis in den frühen Morgen sangen und stampften die Männer und Frauen zu den bekannten Melodien eines Klaviers. Wurde der Klavierspieler müde und verstummten seine Tasten, so packte ein anderer sein Akkordeon aus. Sie kamen aus den kleinen Orten in den Bergen, aus Singwitz und Obergurig, selbst aus Cunewalde und Löbau reisten die Menschen an den Wochenenden an. Am Morgen gingen sie auf den Markt, verkauften ihre Leitern und Seile, ihre Körbe und Krüge, die Zwiebeln und den Kohl und erwarben etwas, das es bei ihnen nicht gab. Apfelsinen und Kaffee, feine Pfeifen und grobgeschnittenen Tabak. Die Nacht hindurch tanzten sie im Gasthaus Drei Raben, bevor sie am frühen Morgen ihre Wagen anspannten und bestiegen, manch einer zog einfach seinen Handkarren zurück ins Bergdorf. Doch während der Woche war es in Bautzen still.
Helene streichelte den Rücken ihrer Schwester, mit der Daumenkuppe strich sie die Wirbelsäule entlang.
Fester, sagte Martha, mit den Nägeln.
Helene bog ihre Finger, damit ihre allzu kurzen Nägel wenigstens die Haut ihrer Schwester streifen konnten. Vielleicht würde sie die Nägel Martha zuliebe lang wachsen lassen, sie spitz feilen, wie sie es bei einer Freundin gesehen hatte.
So? Mit der linken Hand zeichnete Helene eine Himmelskarte auf Marthas Schulterblatt, von Sommersprosse zu Sommersprosse zog sie Linien und verband sie zu Sternbildern, die sie kannte. Das erste war der Orion, der Marthas Muttermal wie ein Schutzschild über der Brust trug, der mittlere der drei hellsten Gürtelsterne war etwas erhaben. Helene wusste, an welchen Stellen sich Martha strecken und wann sie sich dehnen würde, lautlos, erstarren und krümmen. Cassiopeia ging auf ihrer Karte unmittelbar in die Schlange über, eine Schlange mit großem Kopf. In ihrer Mitte erhob sich der Schlangenträger. Helene kannte ihn aus einem Buch, das sie im Regal des Vaters gefunden hatte. An manchen Tagen wand sich Martha unter Helenes Händen, und hörte Helene genau hin, konnte Marthas Atem als ein Zischen gelten. Helene stellte sich vor, wie es wäre, Martha in die Luft zu heben, sie zu tragen, wie schwer sie wäre. Marthas Seufzen war unvorhersehbar, Helene lockte es, sie glaubte, jede Faser, jeden Nerv unter ihrer Schwester Haut zu kennen, strich an ihr entlang wie auf einem Instrument, das nur klang, wenn man die Saiten auf eine ganz bestimmte Weise strich. In Helenes Augen war Martha schon eine Frau. Vollkommen erschien sie ihr. Sie hatte Brüste, deren Knospen gewölbt waren, hell und zart und weich, und an manchen Tagen im Monat wusch sie heimlich kleine Wäsche. Nur wenn Helene eine Strafe verbüßen sollte, weil sie Rosinen stibitzt oder ein falsches Wort fallen gelassen hatte, übergab Martha Helene ihre kleine Wäsche. Helene fürchtete Marthas schroffe Weisungen. Sie wusch Marthas Blut aus dem Leinen, nahm das braune Fläschchen Terpentinöl, drehte den Schraubverschluss auf und zählte für das letzte Spülwasser dreißig Tropfen ab. Zum Trocknen hängte sie im Winter die kleine Wäsche vor das Südfenster des Dachbodens. Das Terpentin verflog, und die Sonne tat ihr Übriges, um die Wäsche weiß leuchten zu lassen. Es würde noch Jahre dauern, bis Helene selbst kleine Wäsche zu wringen hatte, sie war neun Jahre jünger als Martha und erst im vergangenen Sommer in die Schule gekommen.
Weiter unten, sagte Martha, und Helene folgte ihrem Befehl, sie streichelte tiefer die Flanke der Schwester hinab, bis dorthin, wo die Hüfte sich sanft wölbte, und von hier im Bogen zurück zum Ende der Wirbelsäule.
Martha seufzte tief, es folgte ein Schmatzen, als öffne sie den Mund, um etwas zu sagen.
Nierchen, sagte Helene.
Ja, und auf zu den Rippchen, zur Lunge, mein Herz.
Schon seit einigen Minuten hatte Helene nicht mehr das Umblättern einer Seite gehört. Martha verharrte auf der Seite liegend, den Rücken ihr zugewandt und hielt still in der Erwartung. Helenes Hände kamen und gingen, sie steigerte Marthas Verlangen, noch ein Seufzen, ein einziges wollte sie hören, ihre Hände flogen jetzt sachte über die Haut, berührten nicht mehr alles, nur noch wenig, das wenigste, ihr Verlangen ließ sie schneller atmen, erst Helene, dann Martha, und schließlich beide, es klang wie das Keuchen beim Wringen, wenn man allein am Waschtisch stand und nichts hörte als den eigenen Atem und das Gurgeln der Wäsche im Wasser der Emailleschüssel, das Sprudeln des Waschpulvers, schäumendes Soda, hier das Keuchen zweier Mädchen, noch kein Gurgeln, nur Atmen, ein Sprudeln, bis Martha sich plötzlich umdrehte.
Mein kleiner Engel, Martha umfasste Helenes Hände, die sie eben noch gestreichelt hatten, sie sprach leise und deutlich: Morgen habe ich um vier Dienstschluss, und du holst mich vom Krankenhaus ab. Wir gehen hinunter zum Fluss. Marthas Augen leuchteten auf, wie manchmal in letzter Zeit, wenn sie einen Gang zur Spree ankündigte.
Helene versuchte ihre Hände loszumachen. Sie fragte es kaum, eher stellte sie es fest: Mit Arthur.
Martha legte ihrer Schwester den Zeigefinger auf die Lippen. Nicht traurig sein.
Helene schüttelte den Kopf, obwohl sie traurig war. Sie riss die Augen weit auf, sie würde nicht weinen. Selbst wenn sie hätte weinen wollen, es ging nicht. Martha strich über Helenes Haar. Engelchen, wir treffen ihn am alten Weinberg hinter der Bahnlinie. Wenn Martha glücklich war und aufgeregt, gluckste ihr Lächeln in der Kehle. Er wird Botanik studieren in Heidelberg. Dort kann er bei seinem Onkel wohnen.
Und du?
Ich werde seine Frau.
Nein.
Das Nein kam schneller über Helenes Lippen, als sie es denken konnte, es platzte heraus. Sie fügte leise hinzu: Nein, das wird nicht möglich sein.
Nicht möglich sein? Alles ist möglich, Engel, die Welt steht uns offen. Frohlockend strahlte Martha, aber Helene kniff die Augen zusammen und schüttelte beharrlich den Kopf.
Vater wird es nicht erlauben.
Vater wird keinen Mann an meiner Seite erlauben. Martha ließ Helenes Hände los und musste trotz ihrer Einsicht lachen. Er liebt mich.
Vater oder Arthur?
Arthur natürlich. Vater besitzt mich. Er kann mich nicht hergeben. Selbst wenn er wollte, er kann es einfach nicht. Er wird mich niemandem überlassen.
Dem gewiss nicht.
Martha drehte sich auf den Rücken, sie faltete ihre Hände, als wollte sie beten. Gott, was bleibt ihm anderes übrig? Ich habe zwei Beine, mit denen gehe ich davon. Und eine Hand, die gebe ich Arthur. Warum bist du so streng, Helene, so ängstlich? Ich weiß, was du denkst.
Was denke ich?
Du glaubst, es wäre wegen Arthurs Familie, du glaubst, Vater hegt gewisse Vorbehalte. Aber das ist nicht wahr. Warum auch, sie gehen nicht einmal ins Bethaus. Manchmal redet Vater schlecht über diese Leute, aber bemerkst du dann nicht sein Lächeln, er macht sich freundlich lustig, so, wie wenn er dich Dreckspatz nennt, Engelchen. Er hätte Mutter nicht geheiratet, wenn er so denken würde, wie er spricht.
Er liebt Mutter.
Hat er dir erzählt, wie sie sich kennengelernt haben? Helene schüttelte den Kopf und Martha fuhr fort. Wie er nach Breslau gereist ist und dort das Fräulein Steinitz mit ihren auffallenden Hüten in der Druckerei entdeckte. Apart war sie, sagt er, ein apartes Fräulein mit einem zyanfarbenen Mantel. Den hat sie heute noch. Jeden Tag trug sie einen anderen Hut.
Apart, sagte Helene vor sich hin. Das Wort klang wie eine Praline, es sollte etwas Edles bezeichnen, und doch schmeckten Pralinen nur bitter.
Ihr Onkel war Hutmacher und sie sein liebstes Modell. Keines dieser heute unansehnlichen Filzbündel darf weggeworfen werden. Einmal habe ich gehört, wie Vater ihr vorhielt, sie sei in den Onkel verliebt gewesen, deshalb könne sie sich von den Filzbündeln nicht trennen. Da hat Mutter nur gelacht, so gelacht, dass ich dachte, es stimmt, was Vater vermutet. Meinst du, es hat ihn interessiert, dass sie Jüdin ist?
Helene sah Martha ungläubig an, sie kniff die Augen zusammen. Das ist sie nicht. Zur Bekräftigung schüttelte Helene den Kopf. Nicht richtig.
Du merkst es nicht, weil sie keine Perücke trägt. Und in welche Synagoge sollte sie gehen? Sie trennt kein Geschirr, das Kochen überlässt sie dem Mariechen. Aber natürlich ist sie eine. Du glaubst, sie wird in Bautzen die Fremde genannt, weil sie mit Breslauer Akzent spricht. Glaubst du das? Glaubst du, das ist Breslauer Akzent? Ich glaube das nicht, es ist die Sprache ihrer Sippschaft. Sie benutzt all die Worte, die dir vertraut erscheinen, von denen du nicht einmal ahnst, dass sie sie erkennbar machen.
Martha, wie redest du denn? Noch immer schüttelte Helene langsam und beharrlich den Kopf, so als könnte sie damit Mar thas Worte stillen.
Ist doch wahr. Sie muss uns nichts vormachen. Was glaubst du, warum sie nie mit in die Kirche kommt? Einen großen Bogen macht sie um den Dom.
Das liegt an dem Fleischmarkt. Sie sagt, die Fleischbänke riechen übel. Helene wollte, dass Martha schwieg.
Aber Martha ließ sich nicht aufhalten. Wenn wir Weihnachten mit Vater zum Gottesdienst gehen, dann behauptet sie, einer müsste ja das Essen vorbereiten. Von wegen. Warum muss sie ausgerechnet Weihnachten das Essen vorbereiten? Weil sie dem Mariechen freigeben will, weil sie so ein großes Herz hat — weil sie schlicht mit Weihnachten in der Kirche und unserem Gott nichts am Hut hat, Engelchen. Ist dir das nie aufgefallen, nein?
Helene stützte ihren Kopf auf die Hand, so, wie sie es bei Martha sah. Hast du mit ihr darüber gesprochen?
Natürlich. Sie sagt, es geht mich nichts an. Ich sage ihr, wenn ich heiraten möchte, findet man sie in keinem Kirchenregister, und mir fehlt ihr Familienbuch und somit die Hälfte meines eigenen. Rate, was sie geantwortet hat? Ich soll nicht frech werden. Wenn ich so weitermachte, dann wollte mich nie einer heiraten.
Helene betrachtete Martha und wusste, dass die Mutter log. Martha war mindestens so schön wie die Mutter, sie hatte deren schmale schöne Nase, die weiße Haut mit den Sommersprossen und ihre geschwungene Hüfte. Wen interessierte schon ein Familienbuch?
Martha sagte, es nütze nichts, wenn das Mariechen ihnen die Stiche zeigte, mit deren Hilfe sie ihre Initialen in Leinen sticken konnten. Der Makel war die Herkunft, nicht das Initial.
Das Mariechen galt auch unter ihren wendischen Verwandten als Meisterin der Handarbeitskunst. Obwohl die Frauen häufig an die Tür in der Tuchmacherstraße klopften und Spitzentücher und Hauben und Decken bei Mariechen in Auftrag geben wollten, lehnte das Mariechen diese Bitten ab. Sie befinde sich in fester Anstellung, antwortete sie mit einem treuen Lächeln. Nur selten verschenkte sie einer Schwester, Base oder Nichte etwas. Die meisten Spitzen und Deckchen, die das Mariechen in freien Minuten häkelte und bestickte, blieben im Hause. Ihre unbedingte Treue schuf eine sonderbare Allianz zwischen der Wendin Marja und ihrer Dame, Frau Selma Würsich. Vielleicht teilten sie einfach die Liebe zu Stoffen?
Helene betrachtete Martha. Sie erkannte keinen Makel. Martha schien ihr vollkommen. Die feinen Züge ihres Gesichts zogen keineswegs allein Arthurs Blicke auf sich. Wenn Helene mit Martha über den Kornmarkt ging, dann sahen ihr nicht nur die jungen Männer nach und pfiffen fröhlich, wünschten einen guten Tag. Auch die alten Männer übten Laute, die wie Ächzen und Grunzen klangen. Marthas Schritte waren leicht und lang, den Rücken hielt sie gerade und stolz, so dass man ihr mit Achtung begegnete, zumindest war es das, was Helene empfand. Die Männer schnalzten und schmatzten, als schmeckten sie Sirup auf der Zunge. Selbst die Marktfrauen sprachen Martha mit Schönes Fräulein und Tausendschönchen an. Es fanden sich von Tag zu Tag mehr Männer in der Nähe des kleinen Druckhauses in der Tuchmacherstraße ein, die Martha heiraten wollten. Stand Martha hinter der Theke im kleinen Ladenbereich und half aus, versammelten sich dort im Laufe des Nachmittags einige junge Männer, die sich verschiedene Papiere und Druckbilder zeigen ließen, sich aber selten entscheiden konnten. Sie wägten ab, kamen miteinander ins Gespräch, mit unverhohlenen Blicken in Marthas Richtung prahlten sie über ihre eigenen Geschäfte und Studien und umwarben Martha, so gut sie konnten. Erst wenn einer sich traute und sie fragte, ob er sie einmal zum Kaffee einladen dürfte, und sie lachend ablehnte, sie gehe niemals mit Kunden einen Kaffee trinken, rückte die Entscheidung für einen kleinen Druckauftrag näher. Aber sie kamen wieder, die Männer, sie bewachten einander, jeder Einzelne achtete darauf, dass kein anderer höher in Marthas Gunst stünde als er selbst. Helene konnte die Männer gut verstehen, nur wollte sie gern allein ein Leben lang neben der schönen Martha einschlafen und aufwachen. Die Ehe mit einem Mann erschien Helene völlig sinnlos und unnötig. Eine Heirat war das Allerletzte.
Und was glaubst du, warum Vater dich keinem Arthur Cohen zur Frau geben wird?
Warum wohl? Martha ließ ihren Kopf auf das Kissen sinken, sie sah weniger nachdenklich als ärgerlich aus, und als Martha unter dem Kopfkissen ein Taschentuch hervorholte und sich ausgiebig schnäuzte, wie die Mutter es nach langem Weinen tat, bereute Helene, Martha gefragt zu haben. Doch dann breitete sich unerwartet ihr Lächeln aus, ein Lächeln, dessen sie sich in letzter Zeit kaum erwehren konnte, das leicht in ein Kichern umschlug und selten — nur wenn kein Vater und keine Mutter zugegen war — zu einem vollen, ausgelassenen Lachen wurde.
Engelchen, wie soll er sich denn auf Mutter verlassen? Wenn Mutter zu einem Jahrmarkt fährt, wird sie für Tage nicht gesehen. Bestimmt steigt sie in Zwickau und Pirna in Gasthäusern ab und tanzt mit fremden Männern bis in den Morgen.
Niemals. Helene musste lächeln, weil sie nicht wusste, ob Martha diese Vermutung nur äußerte, um sie zu ärgern, oder ob etwas Wahres an dieser Behauptung war.
Wer soll sich dann um dich kümmern? Er kann nicht auf sein Pferd steigen und in den Krieg ziehen, ohne uns versorgt zu wissen. Er fürchtet sich, das ist alles. Und er möchte, dass ich für dich sorge. Das werde ich auch. Du wirst sehen.
Helene wollte nichts erwidern. Sie ahnte, dass jedes Wort Martha dienen könnte, eifriger und genauer über die Möglichkeiten ihres Entkommens nachzudenken. Seit Wochen schon dachte sie gewiss über nichts anderes nach, als wie sie mit Arthur Cohen ein gemeinsames Leben beginnen könnte.
Von wem ist das, was du liest?
Nichts für dich.
Ich will es aber wissen.
Alles willst du wissen. Martha rümpfte die Nase, sie freute sich über Helenes Neugier und den Vorsprung, den sie selbst noch hatte. Als Helene vor einem Jahr endlich die Städtische Mädchenschule am Lauengraben besuchen durfte, konnte sie bereits lesen und schreiben. Sie hatte von Martha auf dem alten Klavier das Spielen gelernt, wobei Martha voller Bewunderung und mit ein wenig Neid ihr dabei zusah, wie geschmeidig ihre Hände von Anfang an, so ganz ohne Übung, über die Tasten glitten, wie schnell ihr Lauf auch in den tiefen Oktaven wurde und wie sicher sie die Melodien erinnerte, die Martha sich oft mühsam zusammensuchen und Note für Note lesen musste. Noch schneller und sicherer als mit den Fingern auf dem Klavier sprang Helene mit Zahlen im Kopf um, egal, welche Zahlen Martha Helene zuwarf, Helene hatte keinerlei Mühe, die Zahlen umzuwandeln, aufzubrechen, zu teilen und mit anderen in neue Zusammenhänge zu fügen. Schon nach wenigen Wochen in der Schule setzte die Lehrerin Helene zu den älteren Schülerinnen und gab ihr die Aufgaben für Zehnjährige. Inzwischen war Helene sieben. Es zeichnete sich ab, dass die Lehrerin in wenigen Monaten ihr gesamtes Wissen an das Mädchen weitergegeben haben würde, ohne dass es das angemessene Alter erreicht hätte. Helene schämte sich dafür, nicht schnell genug älter zu werden. Sie fürchtete sich auch. Mit vierzehn, spätestens sechzehn gingen die Mädchen zurück in ihr Elternhaus, sie übernahmen die Hauswirtschaft und wurden Männern zugeführt, von denen man sagte, sie wären wohlhabend und genössen ein Ansehen, das ihnen die junge Frau mehren sollte. Nur wenige durften die Höhere Schule besuchen, diese wenigen waren unter den anderen Mädchen der Stadt bekannt und beneidet. Äußerte eine Freundin von Martha den Wunsch, Kindergärtnerin zu werden, so wurde sie von ihren Eltern abschätzig gefragt, ob das denn nötig sei. Die Familie habe genügend Geld, das Mädchen sei hinreichend gebildet und könne schon jetzt unter zwei Bewerbern einen tüchtigen und wohlhabenden Mann wählen. Wenn Martha Helene von ihren Freundinnen erzählte, klang es wie eine Gruselgeschichte. Sie setzte eine bedeutungsvolle Pause, diese Freundin wolle aber einen, den sie liebe, das habe sie den Eltern geantwortet. Darauf lächelten die Eltern. Im Ton der Weisheit gab der Vater zu bedenken, dass ja wohl erst einmal der passende Mann da sein müsse, dann könne sich die Liebe zeigen. Der Richter Fiebinger, dessen Söhne erst nach einer gewissen Dienstzeit im hiesigen Regiment das Studium aufnehmen sollten, schickte seine Töchter gleich nach Dresden, die eine ans Konservatorium, die andere zum Seminar für Lehrerinnen. Martha erzählte Helene häufig von den Töchtern des Richters. Lehrerin müsste man werden. Martha hatte noch vor wenigen Jahren in der Schule neben der angehenden Lehrerin gesessen und ihr beim Rechnen geholfen. Womöglich hätte es das Mädchen ohne ihre Hilfe nicht auf die Höhere Schule geschafft? Martha flüsterte Helene ins Ohr, dass der Vater Helene zum Studieren schicken werde, wenn sie so weiter mache, bis nach Dresden und Heidelberg, ganz sicher. Ihre Lippen berührten beim Flüstern Helenes Ohr, es kitzelte angenehm, und Helene konnte nicht genug davon kriegen. Nachdem der Vater Martha schon die Krankenpflegeschule erlaubt habe, werde er in Anbetracht von Helenes Klugheit nicht davor zurückschrecken, seinen ganzen Stolz auf die Jüngere zu richten und sie nach Heidelberg bringen, damit sie dort als eine der wenigen Frauen Medizin studiere. Wenn Martha ihr so eine Zukunft ausmalte, hielt Helene den Atem an, sie hoffte, dass Martha nicht aufhören würde, diese Geschichte zu erzählen, sie sollte weitersprechen und davon erzählen, wie Helene eines Tages in einem großen Lehrsaal an der Dresdner Universität die Anatomie des Menschen studieren würde und welche lustigen Namen der Körper in sich trug, das Rückenmark und den Wirbelkanal. Helene konnte sich nicht satthören an diesen Wörtern, mit denen Martha nach Hause kam, die sie Helene einmal sagte, zweimal, um sie selbst bald zu vergessen. Helene wollte mehr wissen über die Rautengrube und die Arterien der Schädelbasis, doch Martha geriet ins Stottern, sie wirkte ertappt. Ratlos blickte sie Helene an und gestand, dass sie nur die Worte kenne, keinen Ort und keine Geschichte dafür. Sie strich ihrem Engelchen über den Kopf und tröstete Helene, nicht mehr lange und sie würde studieren gehen, wenige Jahre nur noch, sie werde sehen. Sobald Marthas Erzählfluss stockte, sie womöglich selig neben Helene eingeschlafen war, wurde Helene von weniger angenehmen Gedanken erfasst. Ihr fiel jetzt ein, dass der Vater sie zwar neuerdings die Buchhaltung für die Druckerei machen ließ, sich aber lediglich sanft und leise in Selbstgesprächen darüber ärgerte, wenn Helene irgendwo einen Fehler gefunden hatte. Ihm wollte einfach keinerlei Klugheit an seiner jüngeren Tochter auffallen. Solange Helene am Abend auch im Bürozimmer des Vaters sitzen blieb und rechnete, kein einziges Mal war der Vater erstaunt und freute sich. Sie errichtete ganze Zahlenkolonnen, nur, damit er einmal stehenbleiben und sich wundern und bemerken würde, dass sie mit seinen Zahlen bald leichter umging als er selbst. Doch der Vater sah Helenes Bemühungen nicht. Als die Lehrerin die Eltern ins Schulhaus am Lauengraben bat und mit dem Vater darüber sprach, dass Helene im Laufe des Schuljahrs in manchen Fächern den Stoff der ersten vier Jahre überflogen habe, lächelte er freundlich und unaufmerksam, wie es seine Art war, er zuckte mit den Achseln und blickte voller Zärtlichkeit zu seiner Frau, die umständlich eine mitgebrachte Nähnadel aus dem Revers ihres Mantels zog und das zu Hause eingesteckte Stopfgarn aus der Manteltasche holte, um sich nunmehr anzuschicken, inmitten der Unterredung und trotz der Gegenwart dieser Lehrerin mit dem roten Garn ein Loch in ihrem malvenfarbenen Kleid zu stopfen. Während die Eltern erleichtert waren, dass Helene nichts gestohlen und sich keine andere Unartigkeit hatte zuschulden kommen lassen, begriffen sie nicht, warum die Lehrerin sie in die Schule bestellt hatte und ihnen sagte, dass sie bald nicht mehr wisse, was sie diesem Mädchen beibringen könne. Sie werde sie schlicht lesen lassen, Reime und Märchen, wenn die Eltern nichts dagegen einwendeten. Die Mutter biss mit den Zähnen das Garn durch, ihr Loch war geflickt. Der Hund schlug mit seinem langen Schwanz ungeduldig gegen das Bein seines Herren. Dem Vater war der fragende Blick der Lehrerin unangenehm. Es war doch nicht an ihm, der Lehrerin zu sagen, was sie mit Helene machen sollte.
Bei ihrer Rückkehr sprachen sie mit Helene kein Wort über den Besuch bei der Lehrerin. Es wirkte, als sei ihnen Helene peinlich.
Helene wollte gern in der Schule bleiben, sie hatte kleine und erhebliche Zweifel an dem Traum, den Martha für sie ersponnen hatte. Niemals hatte einer der Eltern das Wort Heidelberg oder Studium in den Mund genommen. Helene wollte keinesfalls vorzeitig aus der Schule nach Hause zur Mutter geschickt werden und deren Mottengespinste aus den Schränken sammeln.
Was willst du einmal werden? Manchmal fragte Martha Helene das.
Dabei kannte sie die Antwort, es war immer dieselbe: Ich werde Krankenschwester, wie du. Helene drückte ihre Nase an Marthas Schulter und sog den Duft ihrer Schwester ein. Martha duftete wie ein Brötchen und nur wenig nach dem Essig, mit dem sie sich bei Dienstschluss die Hände abrieb. Helene beobachtete Marthas Lächeln. Freute sich Martha über Helenes zuverlässige Antwort? Schmeichelte es ihr, dass die Kleine vorgab, dasselbe zu wollen wie sie? Doch im nächsten Augenblick erkannte Helene, dass Marthas Lächeln nicht zu Helenes Antwort gehörte. Martha strich über die goldgeprägten Buchstaben auf dem Einband.
Was für ein Geschenk.
Lass mich sehen.
Schließ die Augen, so, ja. Du kannst blind lesen.
Helene spürte, wie Martha ihre Hand nahm, doch anstatt sie zu dem Buchdeckel zu führen, fühlte sie Marthas Bauch, ihren Bauchnabel, der schon in einer kleinen Grube lag, im Gegensatz zu Helenes, der wie ein Knopf vorstand. Helene kniff beide Augen fest zusammen und spürte, dass Martha ihren Finger nahm und ihn in die Höhle des Bauchnabels drückte.
Und, was kannst du entziffern?
Helene fühlte die leichte Wölbung von Marthas Bauch. Wie weich Marthas Haut war. Im Gegensatz zum Bauch der Mutter, der sich vor allem unterhalb des Nabels in die Breite zog, hatte Martha einen schönen Bauch, der sich nur sanft der Länge nach andeutete, Helene ertastete Marthas Rippen und dachte an die goldenen Buchstaben auf dem senffarbenen Buch, die sie längst heimlich entziffert hatte. Byron stand da. Also sagte sie: Byron.
Byron. Martha verbesserte Helenes Aussprache. Lass die Augen zu und lies weiter.
Helene hörte an Marthas Stimme, dass Martha von ihren blindlesenden Fähigkeiten begeistert war. Lies weiter, forderte Martha sie ein zweites Mal auf. Und Helene spürte, wie Martha ihre Hand nahm und Helenes Hand über ihren Bauch führte, kreisend, wie sie Helenes Hand über ihre Hüfte führte, streichend. Lies.
Vermischte lyrische Gedichte.
Helene hatte sich die goldenen Buchstaben gemerkt und dachte seit geraumer Zeit darüber nach, was wohl lyrische Gedichte sein mochten. Doch dann nahm Martha Helenes Hand und legte sie auf den untersten Rippenbogen.
Kannst du auch unter die Haut blicken, Engelchen? Weißt du, was hier unter den Rippen liegt? Hier liegt die Leber.
Schwesternwissen. Merk dir das gut, das musst du später alles lernen. Und hier sitzt die Galle, dicht daneben, ja. Helene lag das Wort Milz auf den Lippen, sie wollte es nicht sagen, nur die Augen wollte sie öffnen, aber Martha bemerkte es und befahl: Lass die Augen zu.
Helene spürte, wie Martha ihre Hand nahm und sie zum anderen Rippenbogen führte und wie sie sie schließlich höher hinauf schob, zu ihrer Brust.
Obwohl sie die Augen fest verschlossen hielt und sie nicht sehen konnte, was sie fühlte, bemerkte Helene, wie ihr Gesicht plötzlich heiß wurde. Martha führte ihre Hand, und Helene fühlte deutlich die Spitze der Brust, das Feste, das Weiche, die vollkommene Rundung. Hinab ins Tal, wo sie einen Knochen spürte.
Rippchen.
Martha antwortete nicht mehr, schon ging es den anderen Hügel hinauf. Helene blinzelte, aber Marthas Augen prüften sie nicht mehr, sie wanderten ziellos unter den halb geschlossenen Lidern, entzückt, und Helene sah, wie sich Marthas Lippen leicht öffneten, bewegten.
Komm her.
Marthas Stimme kratzte, sie zog mit der anderen Hand Helenes Kopf zu sich und drückte ihren Mund auf Helenes Mund. Helene erschrak, sie spürte Marthas Zunge an ihren Lippen, die fordernd war, sie hatte sich nicht vorstellen können, wie rau und glatt Marthas Zunge auf ihren Lippen sein würde. Es kitzelte, fast musste Helene lachen, doch Marthas Zunge wurde fest und bedrängte Helenes Lippen, als suchte sie etwas. Die Zunge öffnete Helenes Lippen und stieß gegen ihre Zähne, Helene musste atmen, sie wollte Luft holen, sie öffnete die Lippen und schon füllte Marthas Zunge ihren Mund aus, ganz und gar. Helene spürte, wie sich Marthas Zunge in ihren Mund wühlte, sich hin und her bewegte, innen gegen die Wangen stieß und dabei ihre eigene Zunge schob und drängte, Helene dachte an den letzten Spaziergang zur Spree und wie Martha ihr befohlen hatte, einige Schritte hinter ihr und Arthur zu laufen, und bemerkte plötzlich, dass ihre Hand nun allein auf Marthas Brust lag und Marthas Hände sich längst in ihren Haaren bewegten und auf ihrem Rücken.
Sie waren zu der versteckten Mole hinter dem Weinberg gegangen, die man nur durch Weiden erreichen konnte. Der Boden war schwarz und glitschig. Komm, rief Martha einige Meter entfernt und lief mit Arthur voraus. Sie sprangen von Baumstumpf zu Baumstumpf, der Boden rutschte, gab nach, die nackten Füße sanken ein. Überall gluckste Wasser, das in kleinen Tümpeln stand. Schwärme winziger Mücken surrten. Hier in der Biege des Flusses hatte sich die Spree eine kleine Bucht geschaffen, ein Land, das nicht mehr fest war und von kaum einem Spaziergänger je betreten wurde. Sumpfdotterblumen blühten, wohin man sah. Der Kranz aus Gänseblümchen, den Martha für Helene auf der Wiese am Hang geflochten hatte, drohte Helene vom Kopf zu rutschen, sie hielt ihn mit einer Hand fest, mit der anderen hielt sie die Schuhe und hob das Kleid, damit es nicht schmutzig wurde. Es war schwer zu erkennen, wo der Boden fest war, immer wieder gab er nach, und so schnell sie auch liefen, die Zehenspitzen zuerst, waren die Füße doch bald bis zum Knöchel und zur Wade schwarz. Die schwertförmigen Blätter der Lilien schimmerten silbrig in der Sonne.
Arthur hatte hinter einer Weide einen Badeanzug angezogen und war als erster ins Wasser gerannt, hatte sich in die Strömung geworfen und ruderte wild mit den Armen, um sich nicht flussabwärts treiben zu lassen. Es sah aus, als bewegte er sich auf der Stelle. Der Wind fuhr durch das Schilf, es wogte und beugte sich zum Wasser hin. Im nächsten Augenblick blähte der Wind, die grüngelben Zweige, Halme stülpten Bäuche und verneigten sich. Das Rauschen brandete an Helenes Ohren. Obwohl Arthur immer wieder nach ihnen rief, konnte Martha sich nicht entschließen. Sie besaß keinen Badeanzug, im letzten Jahr war sie so schnell gewachsen, dass ihr der alte nicht mehr passte.
Wir lassen das Unterkleid an und gehen nur mit den Füßen ins Wasser.
Martha und Helene zogen ihre Kleider aus und hängten sie über den Ast einer niedrigen Weide. Das Wasser war eiskalt, die Kälte zog in den Waden. Als Arthur ans Ufer kam und sie nass spritzen wollte, flohen die Mädchen. Martha kreischte und lachte, sie rief ein ums andere Mal Helenes Namen. Arthur wollte sich mit Martha flussabwärts am Fuß des Hanges ins Gras legen, aber Martha fasste Helenes Hand und sagte, sie könne ohne ihre kleine Schwester nirgendwo hin. Womöglich gäbe es Grasflecken, wenn sie sich mit den Unterkleidern dort hinlegten. Arthur sagte, sie könne sich auf seine Jacke setzen, Martha lehnte das ab. Sie zeigte auf ihren Mund und ließ Arthur hören, wie laut ihre Zähne klapperten.
Ich wärme dich. Arthur legte seine Hände auf Marthas Arme, er wollte sie streicheln und reiben, aber Martha klapperte jetzt so laut mit den Zähnen, wie nur sie das konnte.
Arthur brachte Martha ihr Kleid. Er forderte sie auf, sich wieder anzuziehen, und Martha dankte ihm.
Später saßen die beiden Schwestern dicht aneinandergedrängt am Hang. Arthur hatte etwas oberhalb kleine Erdbeeren entdeckt und krabbelte nun auf allen vieren durch die Wiese. Von Zeit zu Zeit kam er zu den Mädchen, kniete sich vor Martha hin und reichte ihr auf einem Weinblatt eine Handvoll Beeren.
Kaum hatte er sich wieder entfernt, nahm Martha die Beeren und steckte abwechselnd Helene und sich selbst eine in den Mund. Sie ließen sich rückwärts ins Gras fallen und betrachteten die Wolken. Der Wind hatte sich um sie gelegt, nur einen zarten Hauch von Holz trug er vom Sägewerk zu ihnen herauf. Helene sog den Holzgeruch ein, süßer Duft irgendwelcher Blüten mischte sich darunter. Martha entdeckte einen Husaren, dessen Pferd bloß Vorderbeine hatte, und selbst die verschwanden bei längerem Hinsehen. Während es hier unten nahezu windstill schien, zogen die Wolken oben immer schneller gen Osten. Helene wollte einen Drachen erkennen, aber Martha sagte, ein Drache habe Flügel.
Kein Wunder, dass alle Welt von Mobilisierung spricht, rief Arthur herab. Wenn man euch da so liegen sieht, fällt das Beerensammeln gar nicht schwer!
Die Schwestern tauschten einen vielsagenden Blick. Arthur ging es um ihre Nähe und um keine Mobilisierung, da waren sie sicher. Keine von beiden hatte eine Vorstellung, was Arthur mit Mobilisierung meinte. Sie vermuteten, dass er über diesen Begriff ähnliche Rätsel anstellte wie sie selbst. In Fetzen trug der Wind sein Pfeifen zu ihnen, er pfiff einen fröhlichen Marsch. Wer sollte schon wofür in einen Krieg ziehen? Gab es einen herrlicheren Ort als das Spreeufer und eine größere Zuversicht, als die Sonne sie mit ihrer Wärme seit Monaten ausstrahlte? Die Ferien würden kein Ende nehmen, niemand würde dem Aufruf zur Mobilisierung folgen.
Mehr gibt es nicht, sagte Arthur, als er nach längerer Zeit mit zwei vollen Händen Walderdbeeren kam und sich vor die Schwestern setzte. Nimmst du sie? Er streckte seine Hände Martha entgegen, die Beeren kullerten und drohten ins Gras zu fallen.
Nein, ich möchte nicht mehr.
Vielleicht du.
Helene schüttelte den Kopf. Einen Augenblick schaute Arthur unschlüssig auf seine Hände.
Teuerste. Er flehte Martha lachend an. Sie sind für dich.
Von wegen, wir füttern das Engelchen.
Martha hielt ihre Hände auf und übernahm die Erdbeeren von Arthur, einige fielen auf die Wiese.
Pack sie. Martha deutete mit dem Kopf zu Helene. Arthur folgte ihrem Befehl, er warf sich auf Helene, zwang sie unter sich und kniete fest auf ihrem kleinen Körper, mit seinen starken Händen drückte er ihre Arme zu Boden. Während Arthur und Martha lachten, kämpfte Helene, sie ballte ihre Fäuste, sie rief, dass man sie loslassen solle. Helene wollte ihr Rückgrat durchbiegen, um Arthur von sich zu schütteln, aber er war schwer, er lachte und war so schwer, dass ihr Rücken unter der Spannung nachgab. Martha drückte nun eine Beere nach der anderen zwischen Helenes Lippen. Helene presste ihre Lippen aufeinander, so fest es ging. Der Saft rann aus ihren Mundwinkeln das Kinn und den Hals entlang. Helene versuchte mit geschlossenem Kiefer zu betteln, man sollte sie in Ruhe lassen. Martha stopfte jetzt die kleinen Beeren in Helenes Nase, dass sie kaum noch Luft bekam und der Saft im Innern der Nase brannte. Martha zerquetschte die Beeren auf Helenes Mund, auf ihren Zähnen, quetschte sie, dass die Haut rund um Helenes Mund vom süßen Saft der Beeren juckte, bis Helene den Mund öffnete und mit ihrer Zunge nicht nur die Erdbeeren von den Zähnen, sondern auch Marthas Finger ableckte, die ihr in den Mund geschoben wurden.
Das kitzelt, Martha lachte, das fühlt sich an, wie, wie, fühl mal.
Schon spürte Helene Arthurs Finger in ihrem Mund. Sie dachte nicht nach, sie biss einfach zu. Arthur schrie und sprang auf.
Er war einige Meter davongerannt.
Bist du verrückt? Voller Entsetzen hatte Martha Helene angesehen, das war doch Spaß.
Jetzt, da Helene Marthas Zunge in ihrem Mund fühlte, überlegte sie, ob sie zubeißen sollte. Aber sie konnte nicht, etwas gefiel ihr an Marthas Zunge, und zugleich schämte sich Helene.
Martha rüttelte sie wach. Es war noch dunkel, Martha hielt eine Kerze. Die Mädchen sollten dem Vater ins Nebenzimmer folgen. Dort lag die Mutter steif auf dem Bett. Ihre Augen waren stumpf, kein Blick schien ihnen mehr zu entkommen. Helene wollte ein Blinzeln erkennen, sie stützte sich mit den Fäusten auf das Bett und beugte sich über die Mutter, aber die Augen der Mutter blieben reglos.
Ich sterbe, sagte die Mutter mit leiser Stimme.
Der Vater schwieg, er sah ernst aus. Unruhig fingerte er am Knauf seines Krummsäbels. Keinen Tag länger wollte er über den Sinn des Krieges und seine Aufgabe darin sprechen. In der Kaserne am Stadtrand wurde er seit letzter Woche erwartet, das Regiment duldete keine Verspätung. Es gab weder Aufschub noch Entrinnen. Dass seine Frau angesichts des Abschiedes das Sterben vorzog, überraschte Ernst Ludwig Würsich nicht. Schon häufig hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihn laut und leise für sich und andere ausgesprochen. Jedes Kind, das sie nach Marthas Geburt verloren hatte, war ihr als Aufforderung erschienen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Das Pendel der Wanduhr zerschlug die Zeit in kleine zählbare Einheiten.
Behutsam näherte Helene sich der Hand der Mutter, sie wollte sie küssen. Die Hand bewegte sich, sie wurde fortge zogen. Helene neigte sich über das mütterliche Gesicht. Aber ohne ihr einen ihrer befremdlichen Blicke zu schenken, wandte die Mutter den Kopf. Ihre vier totgeborenen Kinder sollten Jungen gewesen sein. Einer nach dem anderen war gestorben, zwei noch im Mutterleib, die anderen beiden kurz nach der Geburt. Jedes von ihnen hatte bei der Geburt schwarzes Haar, dichtes, langes, schwarzes Haar und eine dunkle, fast blaue Haut. Der vierte Sohn hatte am Morgen seiner Geburt geröchelt, mühsam geröchelt, es hatte geklungen, als atme er tief ein, dann ist es still gewesen. Ganz so, als könnte die Luft seinen kleinen Körper nicht mehr verlassen. Dabei hatte er gelächelt, wo doch sonst Säuglinge nicht lächeln. Die Mutter hatte das tote Kind Ernst Josef genannt, sie hatte das tote Kind in ihren Arm geschlossen und über Tage nicht loslassen wollen. Es lag in ihren Armen mit ihr im Bett und wenn sie zum Häuschen musste, nahm sie es mit. Mariechen hatte Martha und Helene später davon erzählt, wie sie vom Vater beauftragt worden war, nach dem Rechten zu sehen, und wie sie ins Zimmer der Mutter getreten war, wo die Mutter mit offenem Haar am Bettrand gesessen und ihr totes Kind gewiegt hatte. Nach Tagen erst hörte man sie beten und sei erleichtert gewesen. Die Mutter hatte für Ernst Josef ein langes Kaddisch gesprochen. Obwohl es niemanden gab, der Amen sagte, niemanden, der mit ihr trauerte. Der Vater und das Mariechen waren in Sorge um sie, keiner von ihnen weinte um das tote Kind. Wann immer jemand in den folgenden Tagen die Mutter ansprach, etwas zu ihr sagte, sie etwas fragte, wurde ihre Stimme lauter, ein Gemurmel, ein Sprechen, so schien es, als spreche sie ununterbrochen vor sich hin und werde das Sprechen nur bis zur Unhörbarkeit leise in den Stunden, in denen niemand das Wort an sie richtete. Bis heute hörte man sie jeden Tag beten. Die fremden Laute aus dem Mund der Mutter klangen wie eine ausgedachte Sprache. Helene konnte sich nicht vorstellen, dass die Mutter wusste, was sie da sprach. Die Worte hatten etwas Einschließendes und Abschließendes, sie besaßen in Helenes Ohren keinerlei Bedeutung und schirmten das Haus doch ab, ruhten wie ein Schweigen über dem Haus, ein geräuschvolles.
Wenn das Mariechen am Morgen die Gardinen aufzog, zog die Mutter sie wieder zu. Seither gab es lediglich ein, zwei Monate im Jahr, in denen die Mutter aus ihrer Dunkelheit erwachte, ihr fiel ein, dass sie ein lebendiges Kind hatte, ein Mädchen namens Martha, mit dem wollte sie spielen, albern, als sei sie selbst ein Kind. Es war Ostern und da kam der Mutter das Eierschieben auf dem Protschenberg gelegen. Die Mutter wirkte aufgekratzt, sie trug einen ihrer federbesetzten Hüte. Sie warf ihren Hut wie eine Wurfscheibe in die Luft und ließ sich ins Gras fallen, sie rollte über die Wiese den Hang hinab und blieb unten liegen. Martha lief hinterher. Aus sicherem Abstand schauten Damen und Herren mit Sonnenschirmen her über, sie wunderten sich nicht mehr über die Fremde, verärgert über den Anblick schüttelten sie den Kopf und wandten sich ab, ihre Eier mussten ihnen wichtiger erscheinen als jene Frau, die soeben den Hang herabgerollt war. Marthas Vater war seiner Frau und der Tochter gefolgt, er beugte sich zu seiner Frau und hielt ihr die Hand, damit sie aufstehe. Die damals achtjährige Martha hielt die andere Hand der Mutter. Die Mutter stieß ihr kehliges Lachen aus, sie sprach davon, dass sie seinen Gott mehr liebe als ihren, die beiden aber ein und derselbe seien, nämlich kein anderer als der gemeinsame Spuk einiger wahnfreudiger Erdbewohner, Menschenwürmer, die seit Jahrhunderten und Jahrtausenden einen Großteil ihres Lebens mit dem Nachdenken über eine plausible Rechtfertigung ihres Daseins zubrächten. Seltsame Eigenart dieser Lebewesen, lächerlich.
Um sie zu beruhigen, brachte Ernst Ludwig Würsich seine Frau nach Hause.
Martha wurde dem Hausmädchen anvertraut, und der Mann setzte sich zu seiner Frau ans Bett. Niemals erwarte er von seiner Frau Respekt für seine Person, das sagte er sanft, einzig für Gott bitte er sie um Schweigen. Er streichelte seiner Frau über die Stirn, Schweiß rann ihre Schläfe herab. Ob ihr warm sei, wollte der Mann wissen und half seiner Frau, das Kleid auszu ziehen. Vorsichtig strich er über ihre Schultern und Arme. Er küsste das Rinnsal an ihrer Schläfe. Gott sei barmherzig und gerecht. Gleich darauf wusste er, dass er etwas Falsches gesagt hatte. Denn seine Frau schüttelte den Kopf und flüsterte: Ernst Josef. Erst als er Sekunden später ihren Mund mit einem Kuss verschließen und besänftigen wollte, vollendete sie ihren Satz flüsternd: War einer von vieren. Wie kannst du einen Gott barmherzig und gerecht nennen, der mir vier Söhne genommen hat?
Tränen flossen aus ihren Augen. Der Mann küsste ihr Gesicht, er küsste ihre Tränen, er trank ihr Unglück und legte sich zu ihr ins Bett.
Schon am selben Abend sagte sie zu ihrem Mann: Das war das letzte Mal, ich möchte keinen Sohn mehr verlieren. Sie musste ihn nicht fragen, ob er sie verstand, denn er verstand sie, obgleich es ihm nicht gefiel.
Fast zehn Monate später wurde ein Kind geboren. Groß und schwer und weißhäutig mit einem rosigen Schimmer, ein kahler Kopf mit riesigen Augen, die binnen weniger Wochen in einem Blau erstrahlten, das die Mutter erschreckte. Das Kind war ein Mädchen, seine Mutter erkannte nichts an ihm. Und als der Vater seine Tochter zum Pfarrer bringen wollte, wählte das Mariechen den Namen für das Kind. Helene.
Die Mutter hatte keine Augen für Helene, sie wollte das Kind nicht auf den Arm nehmen und konnte es nicht an sich drücken. Das Kind schrie, während es wuchs, magerte es ab, es vertrug die Ziegenmilch nicht und spuckte mehr, als es trinken wollte. Um es zu beruhigen, legte das Mariechen das Kind an ihre Brust, aber die Brust war alt, sie hatte noch nie nach Milch geduftet und konnte keine Milch geben, das Kind schrie. Eine Amme wurde gefunden, die Helene an die Brust nahm. Das Kind trank, es wurde wieder schwer und rund. Seine Augen schienen von Tag zu Tag heller zu werden, und das erste Haar spross, weißgoldener Flaum. Die Mutter lag reglos im Bett, sie wandte ihr Gesicht ab, wenn man ihr das Kind brachte. Wenn sie von dem Kind sprach, nannte sie nicht seinen Namen, auch mein Kind kam ihr nicht über die Lippen. Sie sagte: Das Kind.
Helene wusste von diesen ersten Jahren. Sie hatte gehört, wie sich das Hausmädchen mit Martha darüber unterhalten hatte. Die Mutter wollte von keinem Gott mehr etwas hören. Sie hatte sich in dem Haus ein Zimmer angeeignet, ein Zimmer für sich allein, dort schlief sie in einem schmalen Bett unter Flederwischen und sprach vom Geleit der Seelen. Wenn Helene abends in Marthas Bett lag, Sommersprossen zählte und ihre Nase in Marthas Rücken drückte, geschah es immer häufiger, ohne Absicht, dass sie jenen Blickwinkel einnahm, der wohl einzig einem Gott vorbehalten war. Sie stellte sich die vielen kleinen aufrechten Wesen vor, die über den Erdball krabbelten und sich Bilder von ihm machten, Namen für ihn erdachten, Schöpfungsgeschichten. Der Gedanke lächerlicher Erdwürmer, wie die Mutter sie nannte, erschien ihr einerseits plausibel, andererseits empfand sie Mitgefühl für diese Wesen, die doch auf ihre Weise nichts anderes taten als die Ameisen und die Lemminge und die Pinguine. Sie sorgten für Hierarchien und Strukturen, die ihrer Art, dem Grübeln und Zweifeln, entsprachen und beides in sich einfassten, weil ein Mensch ohne seinen Zweifel nicht vorstellbar war. Sie wusste, wie empfindlich der Vater auf diese Gedanken reagierte. Und insbesondere, wenn die Mutter lachend darüber sprach, dass sie mit allen Seelen, er möge es Gott nennen, eine Nacht verbracht habe und sich nun, da sie einen Sohn unter dem Herzen trage, selig fühle, weshalb sie bald mit den Seelen gehen wolle, ihr Fleisch mit den Seelen, für immer, wurde der Vater ernst und stumm. Helene hörte, wie ein Freund, der Bürgermeister Koban, auf den Vater einredete, er solle die Mutter in eine Anstalt bringen. Aber der Vater wollte nichts davon wissen. Er liebte seine Frau. Ihn quälte die Vorstellung einer Anstalt, mehr als ihr Rückzug. Es störte ihn nicht, wenn sie sich viele Monate im Jahr in den abgedunkelten Räumen des Hauses aufhielt und keinen Fuß auf die Tuchmacherstraße setzte.
Selbst als die Wege im Haus eng geworden waren, weil seine Frau in ihren wenigen wachen Monaten von draußen unaufhörlich Dinge ins Haus schleppte, um sie zu sammeln und ihnen auf verschiedenen Haufen einen Platz zu geben, Haufen, die sie mit unterschiedlich farbigen Tüchern bedeckte, war dem Vater dieses Leben mit seiner Frau lieber als die Aussicht, ohne sie zu leben.
Hatte er sich früher noch gegen das Auflesen und Ansammeln gesträubt, ihr hier und dort geraten, einen Gegenstand aus dem Haus zu entfernen, worauf sie ihm lang und breit die Verwendung für den Gegenstand erklärte, es konnte ein besonders angelaufener Kronkorken sein, von dem sie sich das Beobachten einer Metamorphose versprach, so befragte er seine Frau in den letzten Jahren nur nach dem Zweck eines Dings, wenn ihm der Sinn nach einer Liebeserklärung stand. Ihre Liebeserklärungen zu den gemeinhin überflüssig und wertlos erscheinenden Dingen waren die aufregendsten Erzählungen, die Ernst Ludwig Würsich kannte.
Einmal saß Helene in der Küche und half dem Mariechen beim Einwecken der Stachelbeeren.
Wo sind die Apfelsinenschalen, die ich zum Trocknen in die Kammer gehängt habe?
Verzeihung, gnädige Dame, beeilte sich das Hausmädchen zu sagen, sie liegen in einer Zigarrenschachtel in der Kammer. Wir brauchten den Platz für die Holunderblüten.
Holunderblüten, Tee! Verächtlich blähte die Mutter ihre Nasenflügel. Das riecht nach Katzenurin, Mariechen, wie oft habe ich das schon gesagt? Pflück Minze, trockne Schafgarbe, aber keine Holunderblüten.
Mein Täubchen, mischte sich jetzt der Vater ein. Was möchtest du mit den Apfelsinenschalen anstellen? Sie sind schon vertrocknet.
Ja, sie erinnern an Leder, findest du nicht? Die Stimme der Mutter wurde samtig, sie geriet ins Schwärmen. Apfelsinenschalen, in einer sich windenden Schlange von der Frucht geschnitten und zum Trocknen aufgehängt. Ist der Duft in der Kammer nicht berauschend? Und wie sie sich drehen, wenn man sie an einem Faden über den Ofen hängt — das ist einfach zu schön. Warte, ich zeigs dir. Und schon stürmte die Mutter wie ein junges Mädchen zur Kammer, suchte die Zigarrenkiste und nahm mit vorsichtigen Händen die Apfelsinenschalen heraus. Wie Haut, findest du nicht? Sie nahm seine Hand, damit er die Apfelsinenschale streichelte, er sollte sie ebenso streicheln wie sie, damit er fühlte, was sie fühlte, damit er wusste, wovon sie sprach. Die Haut einer jungen Schildkröte.
Helene beobachtete, wie zärtlich ihr Vater seine Frau ansah, er verfolgte, wie sie mit den Fingern über die getrocknete Schale der Apfelsine strich, sie an ihre Nase hob, die Lider senkte, um ihre Nüstern zu blähen und daran zu riechen, und offensichtlich wollte er ihr nicht sagen, dass die Zeit des Heizens vorbei war. Sie würde die Apfelsinenschalen bis zum nächsten Winter in der Zigarrenschachtel aufbewahren, bis zum übernächsten, für immer, niemand durfte etwas wegwerfen, und Helenes Vater wusste warum. Helene liebte ihren Vater für sein Fragen und Schweigen im richtigen Augenblick, sie liebte ihn, wenn er ihre Mutter ansah wie jetzt. Im Stillen dankte er gewiss Gott für diese Frau.
Knapp zwei Jahre nach Kriegsende schaffte es Ernst Ludwig Würsich endlich, sich zusammen mit einem aus Dresden stammenden und ebenfalls zurückkehrenden Pfleger auf den Heimweg zu machen. Es wurde ein mühsamer Weg, den er größtenteils auf einem Karren saß und von dem Pfleger gezogen wurde, einem Pfleger, der ihn je nach Tageszeit beschimpfte, morgens, weil er sich für die Unannehmlichkeiten entschuldigte, die er verursachte, mittags, weil er viel zu weit wollte und abends, weil er trotz fehlenden Beins wohl einige Kilo zu schwer wog.
Zu seiner Enttäuschung hatte man ihn aufgrund der Verspätung, mit der er sich erst Wochen nach Kriegsbeginn in der Kaserne gemeldet hatte, aus dem vier Jahre zuvor errichteten 3. Sächsischen Husaren-Regiment verwiesen. Wem hätte er anvertrauen können, dass seine Frau zu Hause sagte, sie liege im Sterben, und dass ihm ohne ihr Dasein der Sinn für jegliche Heldenhaftigkeit zu fehlen drohte? Doch was gewiss noch schlimmer wog, und weshalb er vielleicht mit niemandem über das drohende Sterben seiner Frau sprechen konnte: Es war keineswegs die erste Gelegenheit, die sie zu dieser Äußerung veranlasste. Obwohl er seit einigen Jahren mit ihren Worten im Ohr lebte, die Anlässe waren verschiedene, gab es keine Gewöhnung an diese äußerste Bedrohung. Auch pflegte er ein Bewusstsein dafür, wie wenig diese Worte irgendeiner Garnison etwas anhaben konnten und dem Befehl seines Staates zur unbedingten Gefolgschaft je als Grund zur Verweigerung gelten mochten. Vor einem Deutschen Reich, dem er den Einsatz seines Lebens schuldig war, erschien das drohende Sterben seiner Selma schlicht lächerlich und bedeutungslos.
Man hatte ihm bei der Ankunft in der Alten Kaserne am Stadtrand ohne Zögern die erst wenige Monate zuvor erworbene Husarenuniform und den Krummsäbel abgenommen und ihm gesagt, auf seinem Pferd sei nun schon ein anderer gen Frankreich geritten und habe bereits den Heldentod gefunden. Auch die Artillerie sei auf und davon, er solle sich in der neuen Infanterie-Kaserne melden. Immerzu war ihm auf diesen Wegen sein Hund, der alte Baldo, zwischen die Beine gelaufen. Er hatte ihn fortgeschickt, aber Baldo ließ sich nicht fortschicken, er wollte sein Herrchen einfach nicht allein lassen. Gott mit uns! Das hatte Ernst Ludwig Würsich seinem Baldo zugerufen und ihn mit ausgestrecktem Arm von sich fortgeschickt. Dass einer, der seinen Namen zu Ehren des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg trug, sich bei dieser Losung nicht trennen konnte, war vielleicht gar nicht so unverständlich. Baldo senkte das Haupt und wedelte tief mit dem Schwanz. So hartnäckig verfolgte der Hund ihn von Kasernentor zu Kasernentor, dass Ernst Ludwig Würsich die Tränen kamen und er ihm mit der bloßen Hand Schläge androhen musste, damit er nach Hause zu seiner Frau lief, wo niemand auf ihn wartete. In der Infanterie-Kaserne händigte man dem Bürger Würsich, der bis eben noch Husar gewesen war, die sichtlich schon zu Ehren gekommene einfache Soldatenuniform aus und überlegte einige Wochen, in welche Himmelsrichtung man ihn schicken sollte. Mitte Januar sollte er nach Masuren aufbrechen. Das Schneetreiben ließ sie kaum vorwärts kommen. Während die Männer vor und hinter und neben ihm von Vergeltung und Rückschlag sprachen, sehnte er sich unter die wärmenden Gänsefedern im Bett der Bautzener Tuchmacherstraße. Zwar bestritt die Armee, der man ihn zugeteilt hatte, kurz darauf zwischen vereisten Äckern und zugefrorenen Seen die Schlacht, aber ehe Ernst Ludwig Würsich am Saum eines noch jungen und niedrigen Eichenwäldchens seine Waffe zum Einsatz bringen konnte, verlor er beim Angriff seiner Truppe durch eine fehlgezündete Handgranate seines unmittelbaren Nachbarn das linke Bein. Zwei Kameraden zogen ihn über das Eis des Löwentinsees und brachten ihn noch im Februar in ein Lazarett bei Lötzen, in dem er für die Dauer der verbleibenden Kriegsjahre vergessen und also von einer Heimkehr ausgeschlossen werden sollte.
Sobald er auf dem Krankenlager liegend durch den Schmerz hindurch zu einem Bewusstsein gelangte, ließ er seinen Talisman suchen; seine Frau hatte ihm den Stein an einem der Tage des Abschieds in die Hand gedrückt, zuerst wohl in der Hoffnung, der Talisman würde ihn bekehren und zum Dableiben verleiten, später, als er bereits den Säbel polierte, hatte sie ihm geraten, den Talisman als Heilsbringer anzusehen. Er fand sich in der Innentasche seiner Uniform eingenäht, ein Stein in der Form eines Herzens. Seine Frau wollte darin ein Lindenblatt erkannt haben, und er sollte den Stein auf jegliche Wunde legen, damit diese heile. Da ihm die Wunde unten am Rumpf nun aber zu groß erschien und er in den ersten Wochen nach dem Unglück den Blick hinab scheute, und erst recht jegliche Berüh rung mit dem weit unten befindlichen, wunden Fleisch vermied, legte er sich den Stein auf die Augenhöhle. Dort wog er schwer und kühlte angenehm.
Während der Stein auf seiner Augenhöhle lag, sprach sich Ernst Ludwig Würsich Worte des Trostes zu, Worte, die ihn an die Worte seiner Frau erinnerten, gute Worte, mein Lieber, und aufmunternde Worte, es wird wieder. Später nahm er den Stein in die Hand und drückte ihn fest und es war ihm, als presse er nicht nur seinen Schmerz, den beißenden Vertrauten, dessen Aufbäumen, weiß und gleißend, ihm immer wieder die Sicht nahm, und auch das Gehör, sondern auch seine letzte Kraft in den Stein und hauche ihm Leben ein. Zumindest ein klein wenig, so wenig und viel, dass der Stein ihm bald heißer als seine Hand erschien. Erst wenn der Stein geraume Zeit neben ihm auf dem Laken gelegen hatte, konnte er die Augenhöhle wieder kühlen. So verbrachte er Tage mit der einfachsten Handlung. Diese Tage erschienen ihm zuerst alles andere als dumpf, der Schmerz hielt ihn wach, er kratzte ihn auf, reizte ihn, dass er am liebsten gerannt wäre, mit beiden Beinen, er wusste genau, wie das Laufen ging. Niemals zuvor hatte er mit der jetzigen Leidenschaft an seine Frau gedacht, noch nie war ihm das Gefühl der Liebe so klar und rein und ohne jegliche Ablenkung und den leisesten Zweifel erschienen wie in jenen Tagen, in denen sein Handeln allein im Aufheben und Ablegen ihres Steines bestand.
Doch der Schmerz dauerte an, erschöpfte die Nerven und durch die Klarheit der ersten Tage zogen sich feine Risse, die Erkenntnis seiner reinen Liebe bröckelte, sie fiel in sich zusammen. Eines Nachts wachte er von den Schmerzen auf, konnte sich nicht nach links noch nach rechts drehen, der Schmerz war nicht mehr weiß und gleißend, er war flüssig geworden, schwarz, eine Lava ohne Licht, nur von Ferne hörte er das Wimmern und Winseln unter den anderen Laken dicht neben ihm, und ihm war, als wäre all die Liebe, die ganze Erkenntnis seines Daseins nichts weiter als ein tapferes und vergebliches Aufbäu men gegen den Schmerz gewesen. Nichts erschien ihm mehr rein und klar. Alles war Schmerz. Er wollte nicht stöhnen, aber für das Wollen war keine Zeit mehr, kein Raum. Die Hilfsschwester sorgte sich um einen anderen Verwundeten, mit dem es nicht mehr lange dauern würde, dessen war er sicher, das Jammern am Ende der Baracke müsste aufhören, ganz bald, vor seinem. Er wollte seine Ruhe. Er schrie, er wollte jemanden anklagen und ihm fehlte die Erinnerung an Gott und Glauben. Er bettelte. Die Hilfsschwester kam, sie gab ihm eine Spritze. Und die Spritze zeigte keinerlei Wirkung. Erst nach der Morgendämmerung konnte er einschlafen. Mittags ließ er sich ein Blatt Papier und einen Bleistift geben. Der Arm war ihm schwer, und kraftlos erschien ihm seine Hand, kaum konnte er den Bleistift aufrecht halten. Er schrieb an Selma. Er schrieb, um die Verbindung zwischen ihnen nicht abreißen zu lassen, so fahl schien ihm jetzt die Erinnerung an seine Liebe, so willkürlich das Objekt seiner Begierde. Die folgenden Tage widmete er sich seinem Stein aus Treue. Ein ritterliches Gefühl durchströmte ihn beim Berühren des Steines. Er hätte weinen mögen. Vorsichtig umkreisten seine Gedanken Begriffe wie Ehre und Gewissen. Ernst Ludwig Würsich fühlte Scham für sein Dasein. Was war schließlich ein verwundeter Mann ohne Bein? Nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte er einen Russen, keinem Feind ins Antlitz geschaut. Geschweige denn hatte er in diesem Krieg sein Leben irgendeinem ehrenvollen Einsatz entgegengebracht. Sein Bein war ein kläglicher Unfall und konnte als kei nerlei Tribut an den Feind gelten. Er wusste, er würde den Stein aufheben und ablegen, bis ihn die nächste Infektion der Wunde oder des Darmes ereilte, seinen Körper in Brand setzte, ausbrannte, er in ein Fieber und in die Dämmerung des Schmerzes sank.
Der Erfolg jener Winterschlacht sollte Ernst Ludwig Würsich ähnlich fremd bleiben wie das Fragen nach einem Sinn des Krieges. Als eines Tages, kurz nach Kriegsende, das Lazarett aufgelöst wurde, wollte man ihn und die anderen Verwundeten nach Hause bringen. Aber der Transport stellte sich als schwierig und langwierig heraus. Auf halber Strecke ging es einigen schlechter, Typhus breitete sich unter ihnen aus, manche starben und die Übrigen wurden vorübergehend in einer kleinen Siedlung aus Baracken nahe Warschau untergebracht. Von dort ging es mit einem größeren Krankentransport nach Greifswald. Jetzt hieß es von Woche zu Woche, man warte lediglich auf seine Genesung, um ihn zurück nach Bautzen zu schicken. Aber so gut die Genesung auch voranschritt, im Zweifel waren es Hilfskräfte und finanzielle Mittel, die für seine Heimkehr fehlten. Zwei, drei Briefe schrieb er in jedem Monat nach Hause, er richtete sie an seine Frau, auch wenn er nicht wissen konnte, ob sie noch am Leben war. Eine Antwort erhielt er nicht. Er schrieb Selma, dass der Stumpf seines Beines nicht verheilen wollte, wohingegen die Wunden im Gesicht, dort, wo sich einmal das rechte Auge befunden habe, vortrefflich zugewachsen seien, die Narben sich von Tag zu Tag ebneten. Jedenfalls vermutete er das beim Tasten, wissen konnte er es nicht, weil er keinen Spiegel besaß. Er hoffe, sie werde ihn wiedererkennen. Ausgerechnet die Nase sei fast unverändert geblieben. Ja, das Gesicht sei wunderbar verheilt, man könne wohl nur bei genauem Hinsehen und mit Hilfe einiger Rückschlüsse von der sonstigen Physiognomie erkennen, wo sich einmal dieses rechte Auge befunden habe. Er würde bei künftigen Theaterbesuchen nunmehr gern ihr goldenes Binokel ausleihen, das er ihr zum ersten Hochzeitstag geschenkt hatte, und ihr im Gegenzug endlich sein Monokel anbieten. Sie habe doch schon immer gefunden, das Monokel passe besser in ihre Hände als in seine.
Er glaubte, seine Frau könnte zumindest auf ihre bezaubernde Weise lächeln, falls sie noch am Leben war, falls sie seinen Brief las und falls sie so von seinen Verletzungen erfuhr. Allein wenn er sich das Funkeln ihrer Augen vorstellte, deren Farbe zwischen grün und braun und gelb wechselte, lief ihm ein Schauer des Verlangens und Wohlseins in der Welt über den Rücken. Selbst den bislang unbekannten Schmerz, den eine wundgelegene Stelle am Steißbein ausstrahlte, pochend und den Rücken hinauf strebend, als würden die oberen Hautschichten in feinste Streifen geschnitten, selbst den spürte er für Minuten nicht.
Wie konnte er ahnen, dass seine Frau Selma die Briefe ungelesen und noch verschlossen ihrem Mariechen zur Aufbewahrung gab?
Voller Abscheu sagte Selma Würsich dem Mariechen, es ekele sie zunehmend an, von diesem Mann, wie sie inzwischen von ihm sprach, der gegen ihren ausdrücklichen Willen und doch angeblich ihr zuliebe gerne Held geworden wäre, Kriegspost zu erhalten. Sie glaubte in diesen Lebenszeichen einen besserwisserischen Spott zu erkennen, dessen sie ihren Mann ohne weitere Gründe schon verdächtigte, solange sie einander kannten. Innerlich wartete sie auf den Tag seiner Heimkehr und darauf, ihm mit einem pure Gleichgültigkeit ausdrückenden Achselzucken die folgenden Worte des Willkommens zu sagen: Ach, sag bloß, dich gibt’s noch?
Eine auf diese Weise ausgestellte Gleichgültigkeit versprach ihr nach den ersten Wochen des Vermissens und den folgenden Wochen und Monaten der Wut über seinen Weggang den höchsten Triumph. Ausgerechnet das wendische Hausmädchen, eine ältliche Jungfer, als das Ernst Ludwig das Mariechen einmal vor den Ohren der Töchter bezeichnet hatte, war ihr nun der einzige Mensch, mit dem sie noch sprach, wenn auch wenig.
Selma Würsich verbrachte die Jahreszeiten auf der Lauer. Sie fand keine Zeit mehr, eine innere Rastlosigkeit jagte sie im Frühling, von innen nach außen. Plötzlich stand eine Tochter vor ihr und fragte etwas, das Wort Himmelfahrt fiel, und schon wandte sich Selma ab, denn diese Worte hatten mit ihr nichts zu tun, so meinte sie, zwar schallten sie an ihre Ohren, richteten sich Augen einer Tochter paarweise auf sie, aber unmöglich konnte das ihr gelten. Sie sagte dann einfach, sie wollte ungestört sein, und verlangte Ruhe.
Das Verzieren der Ostereier überließ sie dem Mariechen, das in diesen Dingen ohnehin geschickter war. Überhaupt empfand Selma das Zusammensein mit anderen Menschen als immer lästiger, ihr fehlte schlicht die Geduld, das Geschnatter und Gefrage der Töchter zu ertragen. Wie zärtlich dankte sie heimlich dem Himmel, dass ihr Mariechen ihr diese Geselligkeiten vom Leibe hielt.
Im Sommer pflückte Selma die wenigen Kirschen von dem großen unbeschnittenen Baum, den ihr die Kinder der Straße und die eigenen Töchter über Wochen geplündert hatten. Dabei trug sie einen der ausladenden Hüte mit Schleier, unter dem hervor sie unauffälliger in Richtung Kornmarkt schauen konnte, und drehte sich auf der Leiter stets in die Richtung, aus der sie ihren Mann nahen glaubte. Als sie mit ihrem Korb voller Kirschen auf der Treppe vor dem Haus saß, knabberte sie das magere und wurmstichige Fleisch von den Kernen. Es schmeckte sauer und leicht bitter. Die Kerne legte sie zum Trocknen in die Sonne. Wie Knochen blichen sie aus. Alle paar Tage nahm sie eine Handvoll Kerne und schüttelte sie zwischen ihren hohlen Händen. Das Geräusch wärmte sie, so könnte das Glück klingen, dachte Selma.
Im Herbst meinte sie einmal, ihren Mann durch das Laub auf der gegenüberliegenden Straßenseite stapfen zu sehen, und drehte sich eilig um, damit sie im Haus wäre, wenn er käme. Sie bemühte sich, nichts als Gleichgültigkeit zu empfinden. Aber sie bemühte sich umsonst, die Türglocke blieb still, und er kam nicht. Der durch das Laub stapfende Mann musste ein anderer gewesen sein, womöglich einer, der mit einer leidenschaftlichen Umarmung empfangen jetzt bei einer heißen Kohlsuppe lachend mit seiner Frau am Tisch saß.
Zum Winterbeginn entfernte Selma Würsich mit einem Messer die noch grünen und die schon schwarzen, getrockneten Schalen der Walnüsse und blickte dabei aus dem Fenster hinaus in ein langsames Schneetreiben. Flocken taumelten auf und ab, als kennten sie keine Schwerkraft. Häufig sah sie ihn die Tuchmacherstraße herunterkommen. Er würde in den Jahren gealtert sein und nach Fremde riechen. Wenn er wiederkäme, würde er schon sehen.
Doch auf den kommenden Frühling und den Sommer ausdauernden Wartens und herbeigesehnter Schadenfreude folgte eine Zeit der Erschöpfung. Das Geschäft ging nur schleppend, kaum jemand verlangte Gedrucktes. Das Papier wurde teuer. Während Selma mit leerem Blick am Fenster saß, berechnete Helene nun in jedem Quartal neue Preise für Briefschaften und Todesanzeigen. Die Ansichtskarten verkauften sich so schlecht, dass sie schon seit Monaten keine mehr nachdrucken konnten. Speisekarten wurden kaum noch bestellt, die meisten Wirte schrieben ihre wenigen Gerichte jetzt auf Tafeln. Die Ersparnisse aus der Zeit vor dem Krieg, als die Druckerei noch florierte und Helenes Vater begonnen hatte, Ratgeber für die Ehe, Hefte mit Kreuzworträtseln und schließlich Gedichte zu drucken, verloren zusehends an Wert. Die Stückzahl der jährlich verkauften Kalender war zuletzt unter hundert gesunken. Allein die Einrichtung der Blätter für 1920 versprach mehr Kosten als Aussicht auf einen Absatz der Kalender.
Einem nächtlichen Einfall folgend war Helenes Mutter dazu übergegangen, den seit vielen Jahren angestellten Schriftsetzer für Monate im Voraus zu bezahlen. Offenbar glaubte sie, auf diese Weise der Teuerung entgegenzuwirken, sie gewissermaßen zu überlisten. Aber es kamen immer weniger Aufträge, und der Schriftsetzer saß tatenlos unten in der Druckerei und löste Kreuzworträtsel, die Hefte stapelten sich im Lagerraum, weil keiner sie mehr kaufte. Aufgrund eines Minderwuchses mit zu kurzen Beinen hatte das Regiment den Mann im Krieg nicht haben wollen. Seine Frau und die acht Kinder hungerten mit ihm, manche der Kinder bettelten auf dem Kornmarkt um Brot und Schmalz, immer wieder wurden sie beim Stehlen von Äpfeln und Nüssen erwischt.
Eines Abends fand Selma in der Tasche des Kittels, den der Schriftsetzer bei Feierabend neben die Tür gehängt hatte, eine Handvoll Zuckerwürfel, die sie aufgrund von Farbe und Form unschwer als aus ihrer Küche gestohlen zu erkennen glaubte. Am nächsten Morgen war sie den Anblick des tatenlosen Mannes leid. Selma verspürte einen starken Widerwillen, mit ihm über den Zucker und das Stehlen und die Kosten seiner Arbeitskraft zu sprechen. Sie erwartete Ausreden und suchte lieber einen Ausweg, einen endgültigen. Sie würde ihm auftragen, ihre jüngere Tochter das Schriftsetzen und den Umgang mit den Lettern und der Presse zu lehren. Schließlich würde sie Helene für die selten anfallenden Arbeiten und die wenigen Aufträge, die überhaupt noch kamen, nicht bezahlen müssen.
Das Mädchen langweilte sich in seinem letzten Schuljahr zu Tode, es wurde Zeit, dass es sich nützlich machte. Helenes Drängen, auf eine Höhere Töchterschule zu gehen, gab die Mutter nicht nach. Wo sie sich schon bisher in der Schule so gelangweilt hatte, schien es in den Augen der Mutter ein allzu kostspieliges Vergnügen, diese gepflegte Faulenzerei noch um zwei Jahre zu verlängern.
Selma Würsich stand am Fenster und schaute die Tuchmacherstraße hinauf, sie hielt sich den Morgenmantel zu, seit Tagen konnte sie den Gürtel ihres Morgenmantels nicht finden, die Glocken läuteten, gleich würden ihre Töchter aus der Kirche kommen. Allein die Vorstellung, dass ihre Tochter Lehrerin werden könnte und in ihrer kindlichen Unbefangenheit einmal den Wunsch nach einem medizinischen Studium geäußert hatte, behagte Selma nicht. Aufmüpfig und widerborstig ist das Kind, flüsterte sie für sich.
Martha hatte Helene am Arm, als sie vom Kornmarkt her die Straße entlangschlenderten. Auf der Vitrine entdeckte Selma ein Geschenkband aus violettem Atlas. Ihr Hausmädchen musste es ordentlich zusammengerollt und dort abgelegt haben. Selma band es sich an Stelle des fehlenden Gürtels um den Morgenmantel. Mit großer Sorgfalt knüpfte sie eine Schleife und lä chelte über ihren Einfall. Jetzt hörte sie das hohe Läuten der Tür.
Kommt herauf, ich möchte mit euch sprechen! Oben am Geländer stand die Mutter und winkte Helene und Martha zu sich hinauf. Die Mutter wartete nicht, bis die Mädchen Platz genommen hatten.
Seit Jahren führst du die Bücher, Helene, es schadet nichts, wenn du die praktische Arbeit lernst. Die Mutter warf einen vorsichtigen Blick zu ihrer älteren Tochter, sie fürchtete deren Kritik. Aber Martha schien in Gedanken woanders zu sein. Schon jetzt könnte ich die Abgaben nicht ohne deine Buchführung ausweisen, du kümmerst dich um die Papierkäufe und die Wartung. Der Setzer frisst uns noch die Haare vom Kopf. Es wäre gut, wenn er dir die nötigen Dinge zeigt und wir ihn entlassen könnten.
Helenes Augen glänzten. Herrlich, flüsterte sie. Sie sprang Martha an den Hals, küsste sie und rief: Als erstes drucke ich uns Geld und gleich danach ein Familienbuch für dich.
Martha schüttelte Helene von sich ab. Sie wurde rot und schwieg. Die Mutter griff Helene am Arm, sie nötigte Helene in die Knie.
Welche Flausen. Deine Freude ängstigt mich, Kind. Die Arbeit wird nicht einfach sein. Dann ließ sie locker, und Helene konnte wieder aufstehen.
Vergnügt sah Helene ihre Mutter an. Es wunderte sie nicht, dass die Mutter glaubte, es handele sich um eine schwierige Arbeit, schließlich betrat die Mutter nur selten die Räume der Druckerei — womöglich hatte sie nie zugesehen, wie etwas gesetzt wurde, und aus der Entfernung musste ihr die Angelegenheit rätselhaft erscheinen. Helene dachte an das Klacken und leise Schnaufen der Presse, das Malmen der Walzen. Wie unterschiedlich so ein Auge doch schauen konnte! Was dem Schriftsetzer gerade richtig erschien, verursachte in Helene Unruhe. Deutlich sah sie vor sich, wie sie endlich die Buchstaben und Worte so sperren würde, dass die Lücken für Harmonie und Klarheit sorgten. Die Vorstellung, allein die große Presse zu bedienen, versetzte sie in Aufregung. Schon oft hatte sie sich gewünscht, die Arbeit des Schriftsetzers vollkommen zu machen.
Selma beobachtete Helene. Das Leuchten in ihren Augen war ihr unheimlich. Die Freude ließ das Kind noch größer und heller erscheinen als sonst.
Was dir fehlt, sagte die Mutter jetzt streng, ist ein gewisses Maß für die Dinge. Ihre Stimme schnitt, jedes Wort wirkte hauchfein. Du erkennst ihre Ordnung noch nicht. Offenbar fällt dir deshalb eine Anerkennung unser aller Ordnung schwer. Eine wichtige Sache, die du von unserem Schriftsetzer wirst lernen können, ist die Unterordnung, Kind. Demut.
Helene spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Sie schlug die Augen nieder. Hell und Dunkel brachen auseinander und zerfielen, die Farben verschwammen. Noch fehlte jeglicher Gedanke für eine Antwort. Das Kaleidoskop drehte sich, ein rostiger Nagel rückte mehrfach in die Nähe von Walnussschalen, man konnte nie wissen, wofür man das eine oder andere noch brauchte. Es dauerte Sekunden, bis ihr im Innern wieder ein klares Bild entstand. Wie ein Geschenk sah sie aus, diese Mutter, auf deren Leib Helene die violette Schleife aus Atlas entdeckte. Die violette Schleife bebte, während die Mutter sprach. Sie möchte ausgewickelt werden, kein Zweifel, schoss es Helene durch den Kopf. Helene sah jetzt die mütterliche Landschaft aus Kleiderresten und an den Enden von schwarzem Blut verkrus teten Flederwischen, die Kissenbezüge, aus deren löchrigen Zipfeln Kirschkerne rieselten, und die Berge gesammelter Zeitungen. Den Gipfel, von dem herab die Mutter ihr etwas über einen Sinn für bestehende Ordnungen erzählen wollte, konnte Helene nicht erkennen. Helene schaffte es nicht mehr, den Blick zu heben und dem ihrer Mutter zu begegnen. Suchend sah sie in Marthas Richtung, aber Martha sprang ihr nicht zur Hilfe, diesmal nicht.
Binnen weniger Wochen verlor Helene ihre Ehrfurcht vor dem Glanzstück in der Druckerei ihres Vaters. Die Tiegeldruckpresse mit dem Namen Monopol versetzte sie nicht mehr in Andacht, sondern forderte den Einsatz ihres Körpers. Während der Schriftsetzer, da er zu klein war, um vom Hocker des Vaters aus mit den Beinen an das Pedal zu gelangen, geschickt eines seiner kurzen Beine hob und mit kräftigem Treten das Pedal in Schwung hielt, rührte sich bei Helenes ersten Versuchen das Pedal keinen Millimeter. Obwohl sie gut mit der Nähmaschine umzugehen wusste und es keinerlei Schwierigkeit darstellte, deren Räder mit beständigem Treten am Laufen zu halten, brauchte es für die Monopol offenbar die Kraft eines Mannes. Helene stellte sich mit beiden Füßen auf das Pedal und sackte ab. Das Rad hatte lediglich einen Ruck vorwärts getan. Der Schriftsetzer lachte. Vielleicht wolle er ihr das Reinigen der Walzen zeigen, sagte Helene scharf und mit einem deutlichen Blick auf die Walzen, auf denen fingerdick Staub lag.
Dass ihr Lernen an der Kraft ihres Körpers scheitern könnte, wollte Helene nicht hinnehmen. Kaum verließ der Schriftsetzer am Abend das Haus, stellte sie sich an die Monopol und übte mit dem rechten Bein. Sie stützte sich auf die Papierablage und trat und trat, bis sich das große Rad immer schneller drehte und das Reiben der Walzen ein wunderbar tiefes Geräusch verursachte. Sie schwitzte, aber sie konnte nicht aufhören.
Tagsüber zeigte ihr der Schriftsetzer den Umgang mit der Heftmaschine, der Anpressmaschine und der Blechklammermaschine, beflissen kam er seinem Auftrag nach, und doch bemerkte er immer wieder mit einem Augenzwinkern, die Monopol gehorche nur ihrem Meister. Offenbar empfand er sich selbst seit der Abwesenheit des Vaters als dieser Meister. Dem Schriftsetzer behagte die Gewissheit seiner vermeintlichen Unabkömmlichkeit.
Niemand wusste, dass sich zwischen Helene und dem Schriftsetzer über die vergangenen Jahre ein freundschaftliches Arbeitsverhältnis entwickelt hatte. Er war der erste erwachsene Mensch, der Helene ernst nahm. Schon seit sie mit sieben Jahren begonnen hatte, die Bücher ihres Vaters zu führen und nun in dessen dem Krieg geschuldeten Abwesenheit Einkäufe und Buchführung übernahm, begegnete ihr der Schriftsetzer mit großer Ehrerbietung. Er nannte sie Fräulein Würsich, das gefiel Helene. Jede ihrer Rechnungen akzeptierte er anstandslos.
Selbst als Helene nach Kriegsende seinen Wünschen auf Lohnerhöhung nicht in vollem Umfang nachkam, änderte sich nichts an seiner freundlichen Haltung gegenüber dem Mäd chen. Sie war diejenige, mit der er über die anstehenden Erledigungen in der Druckerei sprach. Und musste eine der Maschinen gewartet werden, so hielt der Schriftsetzer Rücksprache mit Helene. Besonders seit ihre Mutter wieder über Monate im oberen Teil des Hauses verschwand, wo sie die Gardinen schloss und den Fenstern den Rücken kehrte. Helene mochte den Schriftsetzer. Sie war es, die hinauf in die Küche ging, dort die Speisekammer aufsuchte, sich mehrfach umblickte, um sicher zu sein, dass niemand sie ertappen konnte, und eine aus Zeitung gerollte Papiertüte mit Graupen füllte, eine zweite mit Grieß und in die dritte schließlich eine Gurke, einen Kohlrabi und eine Handvoll Nüsse steckte. Als sie eines Tages im obers ten Fach der Speisekammer den riesigen Karton Würfelzucker entdeckte, riss sie ohne Zögern eine Seite aus dem Bautzener Wirtschaftskalender, wickelte einen ordentlichen Stapel Zu ckerwürfel ein und brachte auch den dem Schriftsetzer.
Kaum war der Schriftsetzer abends gegangen, übte Helene heimlich das Treten der Monopol. Nach einigen Tagen übte sie nicht nur mit dem rechten, sondern auch mit dem linken Bein. Sie übte, bis sie nicht mehr konnte. Und wenn sie nicht mehr konnte, übte sie weiter, sie übte das Nichtmehrkönnen zu überwinden und übte weiter. Am Abend fühlte sie, wie fest ihre Beine wurden, und am nächsten Morgen spürte sie ein ungewohntes Ziehen, dessen Bezeichnung sie bislang nur aus den Mündern der Jungen kannte: Muskelkater. Es sollte den Namen Muskelkater tragen, was für ein komisch ernsthafter Name.
Eines Abends erklomm sie den im Boden verankerten Hocker ihres Vaters. Zu ihrem Erstaunen brauchte sie ihre Beine nicht einmal auszustrecken, der Hocker schien für sie gebaut worden zu sein. Sie setzte beide Füße auf das Pedal und trat los, dabei musste sie den Bauch fest anspannen, und es kitzelte angenehm, sie hatte ein Flattern im Bauch wie beim Schaukeln. Sie musste an Marthas Hände und an Marthas weiche Brüste denken.
Erst als Selma Würsich einige Wochen später fragte, ob ihre Tochter endlich alles gelernt habe, führte der Schriftsetzer Helene an die Schneidemaschine. Bisher hatte er es vermieden, sie auch nur in die Nähe der Maschine zu bringen. Ihn erfasste jetzt eine dunkle Ahnung. Er betrachtete ihr blondes Haar, das sie zu einem dicken Zopf geflochten trug, und nur zögerlich kamen ihm die Worte über die Lippen. Knapp waren seine Kommentare: Erst öffnen. Dort einstellen. Der Schriftsetzer schob die Lineale wie Leisten übereinander. Hier anlegen.
Ohne ein Wort der Entschuldigung schob der Schriftsetzer Helene ein wenig zur Seite, er zeigte ihr schweigend, wie sie den Papierstoß erst schlagen und dann begradigen musste, um ihn in die Maschine einzupassen. In seinen Augen war die Schneidemaschine gefährlich, nicht, weil Helene ein zartes Mädchen von gerade mal dreizehn Jahren war, sondern weil sie nun alle Maschinen bedienen konnte, alle, mit Ausnahme der Mo nopol.
Aus Anlass von Marthas zweiundzwanzigstem Geburtstag ließ die Mutter das Mariechen einen Rinderbraten mit Thymian kruste zubereiten. Wie immer, wenn es Fleisch gab, aß sie selbst davon nichts. Niemand sprach über den Grund, aber die Töchter waren sich einig, dass es mit gewissen Speisevorschriften zusammenhängen musste. Es gab keinen koscheren Metzger in Bautzen. Zwar ließen angeblich Kristallerers beim Metzger für ihre Bedürfnisse schächten, und es ging das Gerücht, dass sie für diesen Zweck auch eigene Messer zum Metzger brachten. Aber der Mutter war es offenbar nicht angenehm, mit solchen Wünschen in die doch überschaubare städtische Öffentlichkeit zu gehen. Vielleicht stimmte auch, was sie behauptete, und sie mochte einfach kein Fleisch.
Zur Feier hatte Martha ihre Freundin Leontine einladen dürfen. Die Mutter trug ein langes Kleid aus kaffeefarbenem Samt. Den Saum hatte sie eigenhändig mit einer Spitze verlängert, die Helene unpassend und ein wenig lächerlich erschien. Schon am Abend zuvor hatte Helene Martha die Haare aufgewickelt und sie über Nacht trocknen lassen. Nun verbrachte sie den Nachmittag damit, Marthas Haare hochzustecken, in die kleinen Zöpfe flocht sie seidene Malven, so dass Martha schließlich aussah wie eine Prinzessin und ein wenig wie eine Braut. Dann half Helene dem Mariechen beim Eindecken des Tisches, es wurde das kostbare chinesische Porzellan aus dem Schrank geholt, die Servietten steckten in Rosenblättern aus Silber, die zur Aussteuer der Mutter gehört hatten und sonst nur zu Weihnachten benutzt wurden.
Als es läutete, rannten Martha und Helene gleichzeitig zur Tür. Draußen stand Leontine. Sie versteckte ihr Gesicht hinter einem großen Strauß, den sie offenbar unten auf den Wiesen gepflückt hatte. Kornblumen, Raute und Gerste. Sie lachte wild und drehte sich einmal im Kreis: Sie hatte ihr Haar kurz geschnitten. Wo zuvor ein strenger Dutt im Nacken gesessen hatte, war nun der weiße Hals sichtbar, die Strömung des kurzen Haars mit ihren Wirbeln, das Ohr. Helene konnte sich nicht sattsehen.
Später bei Tisch haftete Helenes Blick an Leontine, sie versuchte, ihn loszureißen, aber vergebens. Helene bewunderte Leontines langen Hals. Sie war schmal und kräftig. An ihren Unterarmen konnte Helene jede Ader und Sehne erkennen. Leontine arbeitete mit Martha im Städtischen Krankenhaus. Zwar war sie nicht Oberschwester und auch noch viel zu jung dafür, aber dennoch hatte sie mit ihren dreiundzwanzig Jahren seit einigen Monaten die erste Stelle unter den Schwestern im Operationssaal inne. Leontine war die rechte Hand des Chirurgen. Sie konnte jeden Patienten alleine heben — und zugleich waren ihre Hände während den Operationen so ruhig und bestimmt, dass der erst kürzlich zum Professor ernannte Chirurg sie bei schwierigen Nähten immer häufiger um Hilfe bat.
Wenn Leontine lachte, lachte sie tief und lang.
Wann immer sich die Gelegenheit bot, verbrachte Helene ihre Zeit mit Martha und Leontine. Leontine lachte, dass es einem das Zwerchfell rührte. Wenn sie sich hinsetzte, konnte man deutlich sehen, wie unter dem Rock ihre spitzen Knie auseinanderfielen. Sie saß völlig ungerührt und selbstverständlich breitbeinig da. Hin und wieder stützte sie ihre Hand auf das Knie, und winkelte dabei den Arm leicht an, so dass der Ellenbogen nach außen stand. Es gab kurze, knappe Bemerkungen, die von einem Unglück erzählten, denen aber ihr tiefes Lachen folgte. Meist lachte Leontine allein. Martha und Helene lauschten ihrem Lachen mit offenem Mund; vielleicht konnte das Lachen so besser durchs Zwerchfell in die Bauchgrube sickern. Martha und Helene brauchten lange, bis sie wenigstens ahnten, worüber Leontine gelacht hatte. Sie mochten blöde dabei aussehen. Sie schüttelten nicht den Kopf, weil sie Leontines Lachen für ein Lachen am falschen Platz hielten, sondern weil sie staunten. Besonders gefiel Helene die Stimme. Sie war fest und klar.
Als sie nun zu Marthas Geburtstag mit dem Rinderbraten in ihrer Mitte am Tisch saßen, sagte Leontine: Mein Vater will mich studieren lassen.
Studieren? Die Mutter war überrascht.
Ja, er glaubt, es wäre gut, wenn ich mehr Geld verdienen könnte.
Die Mutter schüttelte den Kopf. Aber ein Studium kostet. Sie reichte Leontine die Schale mit den Wickelklößen.
Ich möchte auch nicht. Leontine strich sich mit der Hand das Haar aus der Stirn, ihr dunkles Haar fiel jetzt seitlich wie bei einem Mann.
Nun nickte die Mutter zustimmend. Das ist verständlich. Wer möchte schon lauter unnütze Dinge lernen? Als Krankenschwester werdet ihr immer gebraucht. Zu jeder Zeit an jedem Ort, eine Krankenschwester findet immer eine Arbeit.
Warum unnütze Dinge? Helene blickte fragend zu Leontine, in deren Mund ein großes Stück Rinderbraten verschwand.
Unnütz vielleicht weniger, antwortete Leontine, aber ich möchte nicht weg. Weg, wovon, fragte sich Helene. Als hörte Leontine ihren Gedanken, sagte Leontine: weg von Bautzen. Helene nahm es hin, obwohl sie daran zweifelte.
Wieder nickte die Mutter. Helene fragte sich, ob die Mutter echtes Verständnis für Leontines Worte aufbrachte, schließlich war sie selbst in Bautzen nach all den Jahren alles andere als verwurzelt. An Bautzen konnte der Mutter nichts liegen. In Helenes Augen konnte es nicht viele Gründe geben, weshalb Leontine in Bautzen bleiben wollte. Ihr Vater war ein angesehener Advokat, er war auch Witwer und Trinker, beides mit ganz eigenem Maß. Er bevorzugte seine jüngeren Töchter. Unternahm er geschäftliche Reisen, nahm er stets eine der beiden jüngeren mit und brachte sie in einem neuen Kleid oder mit einem modischen Sonnenschirm zurück. Der Vater war ein wohlhabender Mann, man konnte nicht behaupten, dass seine älteste Tochter ein Aschenputtel wäre, das niedere Arbeiten ausführen musste. Auch wurde sie nicht willkürlich geschlagen. Aber Leontine schien ihrem Vater lästig zu sein. Es störte ihn, dass sie nicht heiratete. Von Zeit zu Zeit machte er ihr Vorschläge und stritt mit ihr. Nachdem seine Frau vor mehr als zehn Jahren gestorben war, lebte er allein mit den drei Töchtern und einer Schwiegermutter, die seit Jahren verwirrt war. An Sonntagen führte er die jüngeren Töchter links und rechts am Arm am Rathaus vorbei in den Petridom. Die Schwiegermutter lief gemeinsam mit der Köchin einige Schritte hinter ihm, und es sah aus, als habe Leontine keinen festen Platz in dieser Familie. Es war Leontine selbst überlassen, sich eine Begleitung zu suchen. Häufig stützte Leontine ihre Großmutter, aber sobald sie die Kirche erreicht hatten und sie in der Menschentraube am Eingang Martha entdeckte, nahm sie die Gelegenheit wahr und ging mit ihr Hand in Hand bis zur Sitzbank. Hier saß sie zwischen Martha und Helene, auf jenem Platz, der in Gedanken für den aus dem beendeten Krieg noch nicht heimgekehrten Vater freigehalten wurde. Sie genoss es, wenn Martha während des Gottesdienstes ihre Hand mit den schönen langen Fingern neben ihre legte und sich ihre Finger verhakelten. Manchmal spürte sie dann von der anderen Seite ein warmes Gewicht an ihrer Schulter, Helene schmiegte ihren Kopf an ihren Arm, als habe sie in ihr eine Mutter gefunden.
Es gab kaum einen Tag, an dem Martha Leontine nicht aus dem Krankenhaus mit in die Tuchmacherstraße brachte. Gemeinsam erledigten sie Hausarbeiten und halfen je nach Dienstzeiten in der großen Bleicherei auf den Spreewiesen aus. Sie waren unzertrennlich.
Keine zehn Pferde brächten mich hier weg, bekräftigte Leontine, sie nahm sich einen etwas klein geratenen Wickelkloß und es entging Helene nicht, wie Martha mit ihrem Ellenbogen Leontines berührte, während die beiden jeden Blick untereinander vermieden, der sie verraten konnte.
Esst das Fleisch nur auf, Mädchen. Helene, wie geht es in der Druckerei voran? Die Mutter lächelte mit einem gewissen Spott. Du lernst doch sonst so schnell. Kannst du jetzt alles? Gibt es Dinge, die du noch nicht weißt?
Wie soll ich wissen, was ich nicht weiß? Helene nahm sich eine Scheibe Fleisch.
Die Mutter verdrehte die Augen. Sie seufzte. Vielleicht beantwortest du einfach die Frage, Fräulein?
Wie soll ich die Frage beantworten? Ich kann sie nicht beantworten.
Dann beantworte ich sie für dich, Liebes.
Noch nie hatte die Mutter Liebes zu ihr gesagt. Es klang wie ein Fremdwort, scharf, als wolle die Mutter vor Marthas Freundin betonen, wie freundlich sie zu ihren Kindern sei, obwohl ihr das nicht gerade leichtfalle. Zehn Wochen sind jetzt um, Zeit genug für dich, das Wichtigste gelernt zu haben. Was du jetzt nicht weißt und kannst, das wirst du dir auf eigenen Wegen aneignen. Morgen früh entlasse ich den Schriftsetzer. Fristlos.
Wie bitte? Martha ließ ihre Gabel fallen. Er hat acht Kinder, Mutter.
Und? Habe ich nicht auch zwei? Uns fehlt der Mann im Haus. Wir können ihn nicht länger bezahlen. Wir schreiben keine Gewinne mehr. Helene, du weißt es am besten von uns allen. Wie sah das vergangene Jahr aus?
Helene legte ihr Besteck beiseite. Sie nahm die Serviette und tupfte sich den Mund ab. Besser als dieses.
Und schlechter als jedes andere zuvor, sehe ich das richtig?
Helene nickte nicht, sie hasste es, der Mutter erwartete Worte und Gesten zu schenken.
Also. Der Schriftsetzer ist entlassen.
Die kommenden Wochen erschienen Helene als eine schwere Zeit. Sie war es nicht gewohnt, den ganzen Tag allein zu sein. Der Schriftsetzer hatte sich seit dem Tag der Kündigung nicht mehr blicken lassen. Es hieß, er habe mit seiner Familie die Stadt verlassen. Helene saß Tag für Tag in der Druckerei und wartete auf Kundschaft, die nicht kam. Aus Marthas Buch sollte sie für die Aufnahmeprüfung zur Schwesternschülerin lernen, aber sie blätterte es durch und entdeckte kaum etwas, das sie noch nicht wusste. Die genaue Reihenfolge der Kompressen und Wickel bei den verschiedenen Krankheiten gehörten schon eher zur Abschlussprüfung. Wie das meiste in dem Buch sich dem Wissen zuwendete, das während der Lehrzeit erworben werden sollte. Die wenigen unbekannten Einzelheiten waren mit dem Umblättern in ihrem Gedächtnis verankert. Also begann Helene andere Bücher zu lesen, die sie im Bücherregal des Vaters entdeckte. Das Herausnehmen eines Buches aus dem mächtigen Regal war den Töchtern verboten. Aber schon früher, als der Vater noch da war, galt es beiden Töchtern als Abenteuer und Mutprobe mit besonderem Kitzel, die kostbaren Bücher zu entwenden. Damit keine Lücke an der Stelle klaffte, wo eben noch Kleists Marquise von O. gestanden hatte, schob sie Stifters Condor weiter nach links. Es herrschte keine Ordnung im Bücherregal des Vaters, das quälte Helene ein wenig, aber sie war unsicher, ob diese Unordnung von der Mutter überwacht wurde und was geschehen konnte, würde sie eigenmächtig hier ein Alphabet walten lassen. Beim Lesen waren Helenes Ohren gespitzt, und sobald sie ein Geräusch hörte, ließ sie das Buch unter ihrer Schürze verschwinden. Häufig sah Helene zur Tür hinaus, wenn sie glaubte, Leontines tiefe Stimme zu erkennen. Einmal ging ganz unerwartet die Tür, herein kamen Martha und Leontine mit einem großen Korb, sie lachten.
Du hast vielleicht rote Wangen! Stellte Leontine fest und strich dabei flüchtig über Helenes Haar. Doch kein Fieber?
Helene schüttelte den Kopf, unter ihrer Schürze klemmte ein Schatz. Sie hatte ihn ganz oben im Bücherregal entdeckt, eingeschlagen in eine Zeitung hatte er hinter den anderen Büchern wie in einem Versteck gelegen. Er war mehr als hundert Jahre alt. Der Pappeinband war mit Buntpapier überzogen und der Titel geprägt: Penthesilea. Ein Trauerspiel. Helene entschuldigte sich kurz bei Martha und Leontine, sie bückte sich hinter dem großen hölzernen Ladentisch und verbarg ihren Schatz im untersten Fach. Um es zu verdecken, legte sie einen der alten Bautzener Wirtschaftskalender über das Buch.
Ein Bauer aus den Lausitzer Bergen hatte den Korb Leontine zum Dank geschenkt. Vor Monaten hatte sie ihm einen schwierigen Bruch des Handgelenks geschient. Jetzt stellte Leontine den großen Korb vor Helene auf den Tisch. Er war voller dicker, hellgrüner Schoten. Ohne Zögern griff Helene mit beiden Händen hinein und pflügte die Schoten. Es roch grasig und jung. Helene liebte das Aufziehen der Schoten mit dem Daumen, und das Gefühl, wenn die Erbsen, glatt und glänzend und grün, von oben nach unten der Größe nach aus ihrer Schote geschoben wurden und am Daumen entlang hinab in die Schale rollten. Die winzigen, noch nicht ausgewachsenen Erbsen steckte sich Helene in den Mund. Martha und Leontine unterhielten sich über etwas, von dem Helene nichts verstehen sollte. Sie kicherten dabei und glucksten. Sie sprachen nur in rätselhaften Halbsätzen.
Alle Schwestern und Kranken hat er nach dir gefragt. Und dann sein Blick, als er dich endlich gefunden hatte! Martha war belustigt.
Mein Kindchen. Leontine verdrehte die Augen, während sie offenbar den Bauern nachahmte.
Ach, mir wird ganz blümerant, wenn ich Sie wiedersehe, fiel Martha ein. Sie prustete. Mit Leib und Seele Schwester!
Etwa nicht? Leontine lachte.
Gewiss. Du hättest sehen sollen, wie seine Hand immer wieder zur Hose ging. Ich dachte schon, er fällt gleich über dich her.
Aber unser guter Professor fand es gar nicht komisch: Nehmen Sie Ihre Erbsen und verschwinden Sie, Sie hatten schon heute Mittag Feierabend. Leontine seufzte. Wo ich ihm sonst nie lang genug bleibe.
Wundert dich das? Hast du nicht gehört, wie er letztens zur Oberschwester über dich sagte: Ein Blaustrumpf im Backfischmantel. Helene musste sich einen blauen Strumpf im Teig mantel vorstellen. Sollte sie sich den Fisch im Strumpf im Teig denken?
Er schätzt dich, aber seine Furcht wächst.
Furcht? Leontine machte eine wegwerfende Handbewegung. Herr Professor kennt keine Furcht. Warum auch? Krankenschwester bin ich, sonst nichts.
Die Mädchen pulten die Erbsen.
Das Schweigen zwischen ihnen wurde lang. Und wenn du doch gehst? Martha war zu allem bereit.
Um keinen Preis wollte Helene jetzt Marthas ernstes Gesicht sehen, sie stellte sich vor, sie wäre unsichtbar.
Leontine reagierte nicht.
Nach Dresden, meine ich. Studieren. Alle sagen das.
Niemals. Leontine zögerte. Nur, wenn du auch gehst.
Das ist dumm, Leontine, einfach dumm. Martha wurde traurig und streng. Du weißt, dass ich nicht kann.
Siehst du, sagte Leontine, ich auch nicht.
Martha legte nun ihrer Freundin die Hand in den Nacken, zog ihr Gesicht zu sich heran und küsste sie auf die Lippen.
Helene stockte der Atem, schnell drehte sie sich weg. Gewiss gab es etwas zu tun, sie musste in dem hohen Regal etwas suchen, vielleicht einen Stapel Papier aus dem Fach nehmen und ihn auf den Tisch legen. Das Bild schien wie eingebrannt auf ihrer Netzhaut, wie Martha Leontine zu sich zog und Leontine die Lippen spitzte. Vielleicht hatte sich Helene getäuscht? Vorsichtig riskierte sie einen Blick über die Schulter. Leontine und Martha standen über den Korb mit den Schoten gebeugt, und es war, als hätte es keinen Kuss gegeben.
Und wenn du sie mitnimmst? Sie könnte in Dresden zur Schwesternschule gehen. Leontine sprach jetzt leise und ihr Blick deutete auf Helene. Helene tat, als habe sie nichts gehört und würde nicht bemerken, dass von ihr die Rede war. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Martha den Kopf schüttelte. Das folgende Schweigen war beharrlich. Helene spürte, dass ihre Gegenwart dem Gespräch im Wege stand. Im ersten Moment wollte sie die beiden allein lassen und rausgehen, im nächsten blieb sie einfach stehen. Helene konnte ihre Füße nicht bewegen, sie entnabelte die Erbsen und empfand Scham. Sie wollte nicht, dass Leontine sie verließ, sie wollte nicht, dass Martha und Leontine wegen ihr schwiegen, und sie wollte auch nicht, dass sich Martha und Leontine küssten.
Abends im Bett drehte Helene Martha den Rücken zu. Mochte Martha sich ihren Rücken selbst kraulen. Helene wollte nicht weinen. Sie atmete tief und ihre Augen wurden immer dicker, die Nase kleiner und enger. Das Luftholen fiel schwer.
Helene wollte keine Sommersprossen zählen und unter keiner Decke nach Marthas Bauch tasten. Sie dachte an den Kuss. Und während sie sich vorstellte, Leontine zu küssen, und wusste, dass allein Martha Leontine küssen würde, entkamen Tränen ihren Augen.
Die Mutter verlangte von Helene, die Druckerei so zu führen, dass keine roten Zahlen geschrieben wurden. Das war von Tag zu Tag leichter möglich. Ein zuletzt eingetragener Gewinn konnte spielend die im zahlenmäßigen Verhältnis gering erscheinenden Verluste vom Jahresanfang ausgleichen. Was das bedeutete, war der Mutter nicht klar. Sie wunderte sich nur, wie selten Helene eine der Maschinen anwarf.
Um nicht sinnlos Papier zu verschwenden, entwarf Helene einfache Rechentabellen. Sie vermutete, dass die Leute sie in dieser Zeit der Teuerung gut gebrauchen konnten.
Schon der Anblick einer solchen Tabelle stimmte Helene froh. Wie gerade ihre Zahlen standen. Es hatte sich gelohnt, der Acht größeren Raum zu geben, und wie sauber der Rand war!
Als sich die Entlassung des Schriftsetzers in der Stadt herumsprach, dauerte es nicht lange und die Bäckersfrau Hantusch legte Helene ein ungewöhnlich kleines und zu scharf gebackenes Brot auf den Ladentisch.
Helene fragte, ob sie nicht eines der beiden größeren und helleren Brote aus dem Regal bekommen könne. Doch die Bäckersfrau, die ihr noch vor wenigen Jahren kleine Stücke Butterkuchen in die Hand gedrückt hatte, schüttelte nach bestem Vermögen ihren halslosen Kopf. Die tiefe Falte, die den knappen Übergang von Brust zu Kopf kennzeichnete, bewegte sich beim Schütteln des Kopfes keinen Millimeter. Helene solle froh sein, dass sie überhaupt noch eines kaufen könne. Helene nahm das Brot.
Armes Ding. Die Bäckersfrau japste, ihre schweren Lider verdeckten die Augen, aus ihren Worten sprach Mitleid, aber sie klangen zugleich empört und beleidigt. Bedienst jetzt schwere Maschinen. Ein Mädchen an Maschinen. Die Bäckersfrau schüttelte auf ihre mühsame Art den Kopf.
Helene blieb in der Tür stehen. Schwer sind die Handgriffe nicht, sagte Helene und fühlte sich, als lüge sie. Sie sehen schön aus, meine Preistafeln. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen am Montag eine mitbringen und wir könnten tauschen — Sie bekommen eine Preistafel und ich vier Laibe Brot.
Lass man, sagte die Bäckersfrau.
Drei?
Dass Mädchen jetzt die Arbeit von Männern machen, das können wir nicht unterstützen. Deine Mutter ist wohlhabend. Warum hat sie den Schriftsetzer nicht im Dienst gelassen?
Keine Sorge, im September fange ich mit der Schwesternschule an. Wir haben nichts mehr. Das meiste war Geld. Und das Geld ist wertlos geworden.
Mit dem Runzeln der Augenbrauen verriet die Bäckersfrau ihren Zweifel. Jeder verdächtigte in dieser Zeit seinen Nachbarn, mehr zu besitzen als er selbst. Helene dachte daran, wie sie zu Beginn des Jahres der Mutter eine Freude hatte machen wollen, in ihr Zimmer gegangen war und für eine große Wäsche ihr Laken abgezogen hatte. Erst als sie die Matratze anhob, um das neue Laken aufzuziehen, sah sie die Scheine. Eine Unmenge von Scheinen steckte da im Federboden. Die Scheine unterschiedlichster Währung klemmten bündelweise zwischen den Federn, zusammengehalten von Büroklammern. Es waren kleine Zahlen, die auf die Scheine gedruckt waren, lächerlich kleine. Als Helene, erschrocken über ihre ungewollte Entdeckung, eilig das alte Laken wieder über die Matratze schlug, ertönte hinter ihr die Stimme ihrer Mutter.
Du kleines Aas. Wieviel hast du mir schon entwendet, wieviel?
Helene drehte sich um und sah, wie sich ihre Mutter vor Wut kaum noch am Türrahmen festhalten konnte. Sie zog an ihrer dünnen Zigarre, als söge sie Erkenntnis.
Seit Jahren frage ich mich schon: Selma, frage ich mich, wer bestiehlt dich hier? Ihre Stimme klang leise und drohend. Wie viele Jahre sage ich mir, es wird nicht deine Tochter sein, Selma, niemals, nicht dein Kind.
Ich wollte nur die Bettwäsche wechseln, Mutter.
Was für eine Ausrede, was für eine feine, schäbige Ausrede. Mit diesen Worten stürzte sich die Mutter auf Helene, sie umklammerte ihren Hals, so fest, dass Helene nicht anders um Luft ringen konnte, als ihre Hand gegen die Mutter zu erheben und sie mit aller Kraft von sich zu drücken, sie kniff in ihre Arme, doch die Mutter ließ nicht locker. Helene wollte schreien und konnte nicht. Erst als Schritte auf der Treppe ertönten und sich das Mariechen hörbar räusperte, ließ die Mutter von ihr ab.
Seither hatte Helene keinen Fuß mehr in das Zimmer ihrer Mutter gesetzt. Helene dachte daran, wie sie sich beim Anblick der Scheine erschrocken hatte und fragte sich, wie es ihrer Mutter bei der lückenlosen Buchführung gelungen sein konnte, das Geld beiseite zu schaffen. Geld, da war sich Helene sicher, das schon jetzt, wenige Monate später, kaum noch einen Wert hatte. Geld, das beizeiten ausgegeben wohl ein ganzes Haus und vielleicht ein Studium bedeutet hätte.
Helene sah die Bäckersfrau Hantusch an. Sie musste denken, dass deren Zweifel dem Missmut über die eigene Lage entsprang.
Letzte Woche haben wir ein besonders festes Papier bekommen, mit hohem Wachsanteil. Helene lächelte so freundlich wie möglich. Es hält Feuchtigkeit aus, das wäre gerade richtig für Ihr Geschäft.
Danke, Lenchen, vielen Dank. Aber ich kann meinen Kunden den Tagespreis nennen. Die Bäckersfrau zeigte sich mit ihrem wulstigen Zeigefinger auf den Mund. Hier. Das zählt. Papier wäre die reinste Verschwendung.
Als Ernst Ludwig Würsich unangekündigt an einem Abend Ende November den Pfleger, der ihn die letzten Kilometer nach Bautzen in einem Leiterwagen gezogen hatte, an seine Haustür klopfen ließ und das Mariechen ängstlich ob der späten Störung öffnete, ihn kaum wiedererkannte und ihn schließlich doch mitsamt dem Pfleger und im Zuge der erklärenden Worte in die Stube bat, befand sich seine Frau in einem Zustand seelischer Dämmerung. Einzig ihr Nachttopf stand alle paar Stunden vor ihrer Tür. Meist leerte das Mariechen ihn und dreimal am Tag stellte sie ein kleines Tablett mit Mahlzeiten dort hin. Die Mutter lag in ihrem Bett und wusste seit Wochen zu verhindern, dass eine ihrer Töchter oder das Mariechen ihr Zimmer betrat.
Der Vater wurde in die Stube gebracht und in seinen Sessel gesetzt. Er blickte sich um und fragte: Meine Frau, lebt hier nicht meine Frau?
Natürlich, lachte das Mariechen erleichtert. Die Dame macht sich zurecht. Mögen Sie einen Tee?
Nein, ich möchte auf sie warten, sagte Ernst Ludwig Würsich, und mit jedem Wort sprach er langsamer.
Wie geht es Ihnen? Die Stimme vom Mariechen war höher als sonst, glockenklar, ihr musste daran liegen, das Warten auf die Dame des Hauses zu verkürzen, es gar in Vergessenheit geraten zu lassen.
Wie es mir geht? Der Vater blickte aus dem übrig gebliebenen Auge in die Leere. Nun, meist fühle ich mich als der, den meine Frau in mir sieht. Er unterdrückte ein Stöhnen. Es schien, als lächelte er.
Obwohl das Mariechen gleich zu Anfang der Mutter Bescheid gegeben haben wollte, erschien die Dame nicht. Helene wärmte die Suppe vom Mittag auf und Martha verköstigte den Pfleger, der bald darauf verabschiedet werden konnte. Ernst Ludwig Würsich fiel das Sprechen so schwer wie ein Aufrichten. Die ersten Stunden verbrachte er zusammengesunken in seinem großen Sessel. Die Töchter saßen bei ihm. Sie gaben sich Mühe. Sie wollten sein fehlendes Bein nicht beachten. Nur der Blick ins Gesicht fiel schwer, es war, als gleite der Blick vom geöffneten Auge zur zugewachsenen Augenhöhle, immer wieder, er rutschte. Das Gleiten wurden zum Schliddern. Die Mädchen suchten Halt. Es gelang ihnen nicht, nur auf das eine Auge zu schauen. Sie fragten nach den vergangenen Jahren. Ihre Fragen waren allgemeine Fragen, schon um die persönliche Anrede zu vermeiden, fragten die Schwestern nach Sieg und Niederlage. Ernst Ludwig Würsich konnte keine ihrer Fragen beantworten. Wenn sich sein Mund verzog, sah es aus, als habe er große Schmerzen und versuche dennoch ein Lächeln. Ein Lächeln, das diese jungen Frauen, zu denen er seine Töchter gediehen fand, vertrösten sollte. Die Zunge klebte ihm im Mund, der Schmerz füllte ihn aus.
Helene klopfte an die Tür ihrer Mutter und schob sie ungeachtet der dahinter gestapelten Bücher und Kleider und Stoffe auf.
Unser Vater ist heimgekehrt, flüsterte Helene in die Dunkelheit.
Wer?
Unser Vater, dein Mann.
Es ist nachts, ich schlafe schon.
Helene hielt still. Vielleicht hatte die Mutter ihre Worte nicht verstanden? Helene stand in der Tür und wollte noch nicht gehen.
Nun geh schon. Ich werde kommen, sobald es mir besser geht.
Helene zögerte. Sie konnte nicht glauben, dass die Mutter in ihrem Bett bleiben wollte. Doch dann hörte sie, wie sich die Mutter wälzte und Decken über sich schlug.
Leise zog Helene sich zurück, sie schloss die Tür.
Offenbar ging es der Mutter an den folgenden Tagen nicht gut genug. Und so wurde der verletzte Hausherr an ihrer Zimmertür vorbei hinauf ins oberste Stockwerk getragen und dort auf die rechte Seite des Ehebettes gelegt. Innerhalb weniger Tage konnte das eingestaubte eheliche Schlafgemach in ein Kranken zimmer umgewandelt werden. Auf Marthas Geheiß half Helene dem Mariechen einen Waschtisch hinaufzutragen. Während der beschwerlichen Reise hatte sich der Stumpf des Beines erneut entzündet. Hinzu kamen jetzt leichte Temperaturen und jene alle anderen Sinne betäubenden Schmerzen, die er nicht zum ersten Mal im fehlenden Bein spürte.
Dem Vater zuliebe ordnete Martha eine wohldosierte Trunkenheit an. Sie sollte so lange dauern, bis es Martha gelungen wäre, aus dem Städtischen Krankenhaus Morphium und Kokain in wirksamen Mengen zu entwenden. Seit geraumer Zeit arbeitete Martha bei Leontine im Operationssaal; sie kannte die Augenblicke, in denen sich Substanzen entwenden ließen. Die Oberschwester hatte zwar als einzige den Schlüssel zum Giftschrank, aber es gab gewisse Situationen, in denen sie den Schlüssel Leontine anvertrauen musste. Wer wollte später noch messen, wieviel Milligramm dieser oder jener Kranke erhalten hatte?
Am nächsten Morgen nähte das Hausmädchen ein neues Nachthemd für den Vater. Das Fenster stand offen, von draußen waren die Krähen zu hören, die in der jungen Ulme saßen. Das Mariechen hatte die Federbetten der Kinder zum Lüften auf das Fensterbrett gelegt. Die Betten dufteten am Abend nach Holz und Kohle. Helene war hinunter in die Druckerei gegangen und saß seit geraumer Zeit über dem dicken Buch mit der monat lichen Abrechnung, als es läutete.
Vor der Tür wartete ein feingekleideter Herr. Er stand leicht vornübergebeugt. Der linke Arm fehlte ihm, mit dem rechten stützte er sich auf einen Stock. Helene kannte den Mann vom Sehen, er war früher manchmal zu Gast gewesen.
Grumbach, stellte er sich vor. Er räusperte sich. Er habe gehört, dass sein alter Freund und Buchdruckmeister, der Verleger seiner ersten Gedichte, wieder daheim wäre. Ein Räuspern. Sechs Jahre habe man sich nicht gesehen, da wolle er es sich nicht nehmen lassen, ihm einen kurzen Besuch abzustatten. Das feuchte Räuspern war offenbar weniger Verlegenheit als ständige Notwendigkeit. Grumbach wollte sich nicht setzen.
Wir haben uns lang nicht gesehen, hörte Helene ihn zum Vater sagen. Sie konnte Herrn Grumbach nicht aus dem Auge lassen, sie fürchtete, dass er mit seinem Räuspern dem Vater zu nahe käme. Der Vater schaute ihn an, er bewegte die Lippen.
Vielleicht geht es ihm morgen besser? Der Gast schien diese Frage nur für sich zu stellen, er sah weder Helene noch das Hausmädchen an. Räuspernd trat er den Rückweg an.
Wider Erwarten läutete der Gast am folgenden Tag erneut.
Seine Augen leuchteten, als er Martha entdeckte. Sie war an diesem Tag nicht ins Krankenhaus gegangen. Schon an der Tür ließ er sich den Schirm abnehmen, lehnte aber noch höflich die Tasse Tee ab, die ihm Helene anbot.
Am folgenden Tag nahm er sie; und von jetzt an kam er täglich zu Besuch. Man hatte ihn nicht einladen müssen. Er trank den Tee in großen Zügen, leerte eine Tasse nach der anderen und kaute geräuschvoll auf dem Brocken Kandiszucker. Schon im Laufe eines Besuches musste die Schale aufgefüllt werden. Der Gast war einarmig. Mit dem vorhandenen Daumen wies er auf seinen Rücken, er sei mit einem Splitter aus dem Krieg heimgekehrt, der ihn tief vornübergeneigt nicht ohne Stock gehen lasse, er mied das Wort Buckel, doch er freue sich bester Laune. Er räusperte sich. Helene musste sich fragen, ob der Splitter im Rücken die Lungen verletzt haben könnte und er sich deshalb in einem fort räusperte. Über die vergangenen Monate habe er so viele Gedichte geschrieben, dass sie nun gemeinsam eine siebenbändige Werkausgabe vorbereiten könnten, das sagte der Gast vergnügt. Er wollte nicht bemerken, dass ihm sein guter alter Freund nicht antworten konnte — nach der letzten Spritze seiner schönen und großen Tochter schien dem Kranken der nötige Speichel für jegliche Worte zu fehlen.
Obwohl Martha Helene hinunterschickte, wo sie dem Mariechen beim Entkernen, Erhitzen und Einwecken der Pflaumen helfen sollte, blieb Helene sitzen. Der süffige Pflaumengeruch stieg bis unters Dach, er drang in jede Ritze und nistete sich in Helenes Haar. Sie lehnte sich zurück. Niemals wollte sie diesen Gast mit ihrem Vater und ihrer Martha allein lassen.
Wie schön, dass wir nun endlich wieder Zeit zum Plaudern haben, sagte Grumbach, er schätzte wohl das gewohnte Schweigen seines Freundes.
Helene betrachtete den Spazierstock, dessen feingeschnitzter Griff aus Elfenbein in einem sonderbaren Kontrast zu den drei Plaketten stand, die er an den Stock geschraubt hatte. Es waren dies eine farbige, eine goldene und eine silberne Plakette, deren Prägung Helene auf die Entfernung nicht erkennen konnte. Am unteren Ende des Stockes war an der nachträglichen Schnitzung deutlich erkennbar, dass er über der Metallspitze einmal gekürzt worden sein musste. Vermutlich besaß Grumbach diesen Stock schon unzählige Jahre und konnte ihn nach dem Krieg nicht mehr in seiner ursprünglichen Länge verwenden.
Der Gast ließ Martha nicht aus den Augen. Martha streckte sich jetzt, um das Oberfenster zu öffnen.
Du erinnerst dich doch an mich, den alten Onkel Gustav? Gusti? Fragte der Gast in Marthas Richtung und freute sich gewiss über ihr großzügiges Lächeln, in dem alles liegen mochte, das Erkennen wie eine Freude des Wiedersehens.
Grumbach hatte in dem Ohrensessel neben dem Bett seines Freundes Platz genommen, konnte aber nur vornübergebeugt darin sitzen. Begleitet vom bekannten Räuspern und einem leisen Schmatzen lutschte er den Brocken Kandis. So ein Brocken verlangte mutige Zähne, aber seit dem Mann erst kürzlich der dritte Backenzahn rausgebrochen war, zog er das Lutschen vor.
Onkel Gustav, flüsterte Helene bei nächster Gelegenheit Martha zu, sie musste kichern. Helene erschien der Versuch einer Vertrautheit und die dafür entdeckte Bezeichnung des Wortes Onkel so plump und abwegig, dass ihr trotz der offenbaren Gebrechlichkeit von Onkel Gustav nach Lachen war. Sein Schlürfen bei halbgeöffnetem Mund setzte kleine Akzente in der Stille. Helene durfte ihn nicht aus den Augen lassen. Sie beobachtete, wie sein Blick über Marthas Gestalt wanderte, so, als stünde ihm mit dem Gastrecht nun auch ein gewisses Recht der ungezügelten Betrachtung zu. Das hochgesteckte schimmernde Haar, der lange weiße Hals, die schlanke Taille, und erst das, was darunter kam. Das alles ließ dem Anschein nach Onkel Gustav Stolz und Frohlocken empfinden. War es ihm bis vor wenigen Tagen lediglich vergönnt, Martha von ferne zu beobachten, so fühlte er sich ihr nun endlich angemessen nah. Wie die meisten Männer im Umkreis der Druckerei hatte auch er ihr Heranwachsen mit jener seltsamen Mischung aus Staunen und schwer zu unterdrückender Gier verfolgt. Grumbach bewachte das Einhalten der gebührenden Distanz anderer Verehrer so peinlich, wie diese ihn im Auge hatten. Die Heimkehr und das Wiedersehen des alten Freundes beglückte ihn also nicht minder als die mit ihr verbundene Gelegenheit, ungestört Zutritt zum Haus und zur Gegenwart seiner Töchter zu erhalten. Wenn der Gast dabei zusah, wie Martha jetzt sorgsam die Spritze reinigte, ihm den Rücken zukehrte und am Waschtisch mit Tüchern und Essenzen der Wundheilung hantierte, so war es ein Leichtes, den Krückstock und die auf ihm ruhende Hand wie zufällig einige Zentimeter zur Seite sinken zu lassen, um bei ihrer nächsten Wendung mit dem Handrücken den rauen Stoff von Marthas Kleiderschürze zu spüren. Die schlanke Taille und was erst darunter kam. Offenbar bemerkte Martha die Berührung nicht, gewiss waren die Falten von Kleid und Schürze zu dicht, immer wieder drehte und wendete sie sich vor dem Waschtisch. Der Gast genoss mit diebischer Freude das von ihren Bewegungen ausgelöste Streicheln seines Handrückens.
Helene beobachtete, wie Onkel Gustav die Nase hob und schnupperte, gewiss entging ihm nichts und bemerkte er den Geruch von Kaffee in der Luft, und während ihn Marthas ungewolltes Streicheln erregte, schwankte er vielleicht, ob er Helene bitten sollte, ihm eine Tasse zu bringen. Es bereitete ihm Vergnügen, die beiden Töchter seines Freundes nach verschiedenen Dingen im Haus umherzuschicken. Obwohl Martha ihn ermahnte, in Gegenwart ihres Vaters nicht zu rauchen, hatte er sich von ihr einen Aschenbecher für seine Pfeife bringen lassen, dann ein Glas Wein, und später hatte er auch den Haferbrei nicht abgelehnt, den Helene für ihren Vater gekocht hatte und von dem der Vater kaum etwas hatte essen können.
Wonach es so gut rieche, das wollte Grumbach jeden Tag wissen, wenn er wie zufällig um die Mittagszeit das Haus betrat. Rhabarbergrütze, Bohneneintopf und Kümmel, gestampfte Kartoffeln mit Muskat. Grumbach beteuerte, dass er seit dem Krieg keine Uhr mehr besitze und so ganz ohne Frau und Kinder, da verliere man die Zeit aus dem Auge. Umso erstaunlicher schien es, dass der Gast immer rechtzeitig zur Mittagszeit an die Tür klopfte.
Wenn Martha und Helene ihm von allem etwas angeboten hatten, in der Hoffnung, er wäre dann satt und würde verschwinden, blieb Grumbach sitzen, wippte fröhlich mit dem Oberkörper und machte es sich gemütlich. Er schnallte den Holzarm ab und drückte ihn ganz selbstverständlich Helene in die Hand, damit sie ihn in die Ecke stellte.
Herrlich, wie alles wächst und gedeiht, sagte der Gast und tätschelte mit den Augen Marthas Rücken. Wenn sie des Vaters Bett machte, sich weit vornüber neigte, um die Laken festzustecken, ihre Schürze sich hinten leicht öffnete und das Kleid darunter zum Vorschein kam, dann war dem Mann, als beuge sie sich nur für ihn.
Alles verkommen, sagte Helenes Vater und blinzelte.
Was, Vater, was ist verkommen? Martha stand wieder am Waschtisch und der Gast im Ohrensessel ließ sich von ihrer Schürze den Handrücken streicheln.
Das Haus, schaut euch mal die Blätter an, Blätter voll Farbe, große Blätter.
Tatsächlich war in den Jahren seiner Abwesenheit wenig im Haus gemacht worden. Niemand kümmerte sich um die Farbe, die hier oben unter dem Dach welkte und wie alte Haut von der Wand blätterte.
Dass sein Freund und Vater der Mädchen sich über den Zustand des Hauses wunderte, störte Grumbach nicht bei seiner stillen Lust. Zu süß schien ihm die Berührung von Marthas Kleid. Erst als Helene aufstand, drehte sich Martha zu ihnen um. Ihre zart geröteten Wangen leuchteten, ihre feinen Grübchen betörten. Die Unschuld, die der Gast in ihrem Augenaufschlag vermuten konnte, ließ ihn vielleicht Scham empfinden. Helene hoffte das.
Kann ich dir helfen? fragte Helene und schnitt mit ihrem Blick den Gast, der gern Onkel Gustav genannt werden wollte.
Martha schüttelte den Kopf. Helene drängelte sich zwischen Martha und dem Gast vorbei, sie kniete am Kopfende des Bettes nieder.
Sind Sie wach? Helene flüsterte. Seit der Rückkehr des Vaters konnte sie nicht anders als Sie zu ihm sagen. Ihm fehlte die Stimme und Aufmerksamkeit, um die Fremdheit zwischen ihnen zu bannen.
Vater, ich bin es, die Kleine. Ihr Goldblatt.
Helene nahm die Hand des Vaters in ihre und küsste sie. Bestimmt fragen Sie sich, was wir die ganze Zeit während Ihrer Abwesenheit gemacht haben. Ihre Stimme klang beschwörend. Es war nicht erkennbar, ob der Vater hörte, was sie sagte. Wir sind in die Schule gegangen. Martha hat mir Etüden beigebracht, die Ödnis, dann das Wohltemperierte Klavier, Vater. Ich fürchte, mir fehlt die Geduld für das Klavierspiel. Wir haben den Arthur Cohen vor gut drei Jahren mit seinem Gepäck zur Eisenbahn gebracht. Hat Martha Ihnen davon erzählt? Stellen Sie sich vor, der Arthur konnte nicht in den Krieg. Sie hatten ihn nicht erfasst.
Jud, unterbrach Grumbach Helenes Raunen, er lehnte sich in seinem Ohrensessel zurück und fügte mit einem abfälligen Schnalzen hinzu, wer erfasst den schon?
Helene drehte sich nur halb zu ihm um, so weit, dass er ihren Blick auf seinem Handrücken an Marthas Kleid bemerken musste, und kniff die Augen zusammen. Der Gast schnaufte, ließ aber seine Hand an Marthas Schürze. Das musste ihm der angemessene Lohn seines Schweigens sein. Helene wandte sich zurück zum Vater, küsste die Innenfläche seiner Hand, den Zeigefinger, jeden Finger einzeln, und fuhr fort.
Als Arthur sich meldete, hieß es, ohne nachweislichen Wohnsitz in Bautzen sei er nicht erfasst und man wolle ihn keinem Regiment zuordnen. Arthur protestierte, bis man ihn untersuchte und ihm sagte, man könne ihn wegen einer Rachitis im Krieg nicht gebrauchen. Er solle nur nach Heidelberg fahren, wenn er das notwendige Geld und die Empfehlungen beisammen habe. Von einem jungen Arzt habe man im Zweifel mehr als von einem rachitischen Soldaten.
Der Vater räusperte sich, Helene fuhr fort.
Sie erinnern sich an ihn? Arthur Cohen, der Neffe des Peruquiers. Er hat hier in Bautzen die Schule besucht. Sein Onkel hat sie ihm bezahlt. Ein guter Schüler.
Der Vater begann jetzt lauter zu husten und Martha sah von ihrer Tätigkeit am Waschtisch auf, um einen strengen Blick auf Helene zu werfen. Ihr Blick verriet, dass sie sich vor einer Offenbarung ihrer Bekanntschaft mit Arthur Cohen fürchtete. Weder der Vater noch sein Gast, niemand sollte von den Spaziergängen an die Spree etwas erfahren.
Er studiert jetzt in Heidelberg. Helene machte eine Pause, sie atmete tief, es fiel ihr nicht leicht, die Worte Heidelberg und die erläuternden auszusprechen: Botanik. Genau, er studiert dort Botanik. Und er hat uns einen Brief geschickt, darin schrieb er, dass es dort Frauen gibt, die Medizin studieren.
Der Vater hustete jetzt so laut, dass Helenes Worte untergingen, obgleich sie mit aller Mühe ihre Stimme angehoben hatte. Was noch konnte sie dem Vater zu Heidelberg und dem Studium sagen? Was würde ihn begeistern, sie zögerte, doch schon im nächsten Augenblick erbrach sich der Vater mitsamt dem Husten. Helene sprang zurück, sie riss dabei den Stock des Gastes mit sich. Hätte sie sich nicht an Marthas Kleid festgehalten und sich gleich darauf von den Knien des hinter ihr sitzenden Gastes abgestoßen, sie wäre wohl rückwärts gestolpert und dabei unmittelbar auf den Gast gefallen. Da dieser vornübergebeugt saß, wohl auf dessen Kopf und Schulter.
So aber landete Helene auf dem Boden. Ihr Blick fiel auf die vielen Abzeichen, mit denen der Stock des Gastes geschmückt war. Weimar. Cassel. Bad Wildungen. Helene erhob sich und gab den Stock zurück.
Der Gast schüttelte den Kopf. Er stand auf, nahm seinen Holzarm vom Bett und stellte sich neben Martha. Er flüsterte so laut, dass Helene ihn hören musste: Ich werde um deine Hand anhalten.
Nein, das werden Sie nicht. In Marthas Stimme klang mehr Verachtung als Furcht.
Doch, sagte der Gast. Dann eilte er die Treppe hinunter ins Freie.
Martha und Helene wuschen ihren Vater. Martha zeigte Helene, wie sie die Kompressen am Stumpf des Beines erneuerte und in welchem Verhältnis das Morphium gespritzt werden musste. Vorsicht war geboten, denn die letzte Gabe lag nicht lang zurück. Unter Marthas wachenden Augen setzte Helene dem Vater ihre erste Spritze. Ihr gefiel das gelöste Lächeln, das sie kurz darauf im Gesicht des Vaters entdeckte, ein Lächeln, das zweifellos ihr galt.
Schon am nächsten Tag gegen Mittag klopfte Grumbach erneut an die Tür seines Freundes. Das Mariechen öffnete. Über den Lausitzer Bergen hatte es die ganze Nacht geschneit und beim Öffnen der Tür musste das Mariechen blinzeln, so blendete das Licht von der Straße her. Die Schneeflocken schmückten das Haar des Gastes. Er trug offenbar seinen besten Anzug. In der Hand hielt er zusammen mit dem Stock einen kleinen Korb voller Walnüsse, und auch die Nüsse trugen Schneehäubchen.
Ach, wann immer ich komme, duftet es herrlich in diesem Haus, sagte der ungeladene Gast. Er stampfte mit den Füßen, damit der Schnee von seinen Schuhen fiel. Das Mariechen blieb in der Tür stehen, als sei es unentschlossen, wie weit es den Gast eintreten lassen könne. Grumbachs Blick fiel durch die offene Tür in die Stube zum Esstisch, auf dem drei gefüllte Teller standen. Der Gast drängte sich am Mariechen vorbei ins Haus hinein. Es roch nach Roten Beeten. Aus den Tellern dampfte es und die Suppenlöffel lagen in den Tellern, als habe man eilig aufspringen und den Tisch verlassen müssen. Die leeren Stühle standen etwas abseits. Während sich der Gast umständlich seiner Stiefel entledigte, wagte er einen zweiten neugierigen Blick ins Esszimmer. Das Mariechen schlug die Augen nieder, denn aus dem oberen Stockwerk drang ein Rumpeln und Scheppern. Plötzlich war laut und deutlich die Stimme von Selma Würsich zu hören.
Dein Vater braucht Pflege? Ein hämisch keckerndes Lachen folgte. Weißt du überhaupt, was das ist, Pflege? Spielst hier die Gute und hast nicht mal ein Glas Wasser für deine Mutter. Etwas polterte. Deine Mutter! Hörst du? Wart nur, eines Tages wirst du mich pflegen müssen. Ha. Mich, hörst du? Bis zum Tode. Meine Exkremente mit den Händen halten.
Das keckernde Lachen verebbte, es wandelte sich und wurde zum Schluchzen.
Sehen wir nach dem Rechten, sagte der Gast und stieg entschlossen dem Mariechen voran die Treppe hinauf.
Gerade als der Gast die letzte Stufe erreichte, flog nahe vor seinem Gesicht ein Stiefel an die Wand. Helene hatte sich geduckt, da packte die Mutter schon den zweiten Stiefel und warf auch den mit aller Kraft in Helenes Richtung.
Verfluchtes Balg, du kleine Zecke, du bringst mich noch um!
Helene hielt sich schützend die Arme über den Kopf.
Nein, diesen Gefallen werde ich dir nicht tun. Helenes Antwort kam leise und klar.
Niemand wollte das Erscheinen des Gastes bemerken. Er traute seinen Augen nicht. Wäre ihm das Mariechen nicht auf dichtem Fuß die Treppe hinauf gefolgt und stünde jetzt hinter ihm, versperrte ihm den Weg hinaus, er hätte sich umgedreht und gemacht, dass er unentdeckt wieder davonkäme. Frau Selma Würsich stand dort im Nachthemd, dessen Ausschnitt mehr von ihren Brüsten sehen ließ, als ihr recht sein konnte. Gestickte Margeriten rankten sich entlang der Spitze. Das offene Haar aber wirbelte durch die Luft und ringelte sich auf ihren nackten Schultern, als lebe es. Die silbernen Fäden glänzten. Blindschleichen wanden sich auf ihren Brüsten. Offenbar hatte sie mit keinem Besuch gerechnet und sah ihn auch jetzt nicht, wo er unschlüssig auf der vorletzten Treppenstufe stand und nach einem Ausweg für sich suchte.
Frech bist du, verdorben!
Wer hat mich denn erzogen, Mutter?
Und so etwas ernähre ich in meinem Haus. Die Mutter schnaubte. Schämst du dich nicht?
Martha ernährt uns, Mutter, ist dir das nicht aufgefallen? Helenes Stimme war von herausfordernder Gelassenheit. Ich schreibe dir vielleicht rote und schwarze Zahlen in die Bücher der Druckerei, aber Martha ernährt uns. Was glaubst du, von welchem Geld wir am Sonnabend auf dem Markt bezahlen? Von deinem? Gibt es das, dein Geld?
Aah, du kleiner Teufel, scher dich davon, mach, dass du wegkommst! Die Mutter riss ein Buch aus dem Regal und warf es in Helenes Richtung.
Die gute Reue. Helenes Stimme war leise. Warum hast du mich geboren, Mutter? Warum. Warum nicht zu den Engeln geschickt?
Ehe der Gast ausweichen konnte, prallte ein Buch von seiner Schulter ab.
Sag bloß, du hast nicht gewusst wie?
Erst jetzt bemerkte Selma Würsich den Gast. Tränen schossen aus ihren Augen, sie sank auf die Knie und flehte den Gast an: Haben Sie das gehört, mein Herr? Helfen Sie mir! Das will meine Tochter sein. Sie schluchzte haltlos.
Verzeihen Sie. Der Gast stammelte. Unschlüssig stand er an der Treppe, mit einer Hand stützte er sich auf seinen Stock, Weimar, Cassel, Bad Wildungen, wo wart ihr? Er lehnte sich an das Geländer, er zitterte.
Und das will meine Tochter sein! Die Mutter brüllte jetzt, die Stadt sollte von ihrem Unglück erfahren, die Menschheit. Ihre Seele wollte zu mir, sie war es, die mich gewählt hat.
Helene würdigte den Gast keines Blickes, leise murmelte sie, von Wollen kann keine Rede sein.
Sie richtete sich auf, ordnete ihr Haar und ging zielstrebig die Treppe hinauf zu ihrem Vater, der auf der rechten Seite des Ehebettes lag und gewiss ihre Pflege und Hilfe benötigte. Noch ehe der Gast Helene folgen konnte, hinauf, wo er Martha vermuten durf te, kroch ihm die Frau seines alten Freundes in den Weg. Sie packte sein Bein, umfasste es mit beiden Händen, sie stöhnte, sie winselte. Der Gast drehte sich um, mit den Augen suchte er das Mariechen, das Mariechen war verschwunden. Er war allein mit der Fremden.
Helene versuchte oben die Tür zu öffnen, aber vergeblich. Die Tür ließ sich nicht öffnen, und so setzte sich Helene ins Dunkel der obersten Stufe und blickte unbemerkt durch die Stäbe des Geländers hinab zu ihrer Mutter. Die umklammerte Grumbachs Bein und robbte dabei den Boden entlang; vergeblich versuchte Grumbach ihr zu entkommen.
Haben Sie das gesehen? Ihre Nägel krallten sich in Grum bachs Fesseln.
Verzeihen Sie, wiederholte der Gast, ah, verzeihen Sie. Kann ich Ihnen aufhelfen?
Wenigstens ein Mensch mit Herz in diesem Haus. Helenes Mutter reckte dem Gast ihre Hand entgegen, zog sich schwer an ihm hoch und stützte sich mit ihren nackten Armen schließlich auf ihn und seinen Stock, dass er ins Schwanken geriet. Sein Blick fiel auf ihre Brüste und von dort zur zarten Stickerei mit Margeriten, zurück zu den Brüsten, wo sich die dunkel silbernen Locken wanden. Schließlich riss er diesen Blick los und richtete ihn mühsam auf den Boden.
Kaum stand sie wieder aufrecht, sah sie auf den gebückten Mann vor sich herab.
Wer sind Sie? Das fragte sie verwundert.
Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, noch immer schenkte sie ihrem weiten Ausschnitt keine Beachtung. Miss trauisch sah sie den Mann an. Kenne ich Sie? Was machen Sie in unserem Haus?
Grumbach mein Name, Gustav Grumbach. Ihr Mann hat meine Gedichte gedruckt: An die Holde. Grumbach räusperte sich, er versuchte aus der Aufregung ein zutrauliches Lächeln zu formen.
An die Holde? Die Mutter brach in schallendes Gelächter aus.
Der Wechsel vom herzzerreißenden Weinen zum donnernden Lachen war so plötzlich, dass dem Gast ein Schauer über den Rücken laufen musste, vielleicht klopfte sein Herz, zumindest wagte er es nicht, der Frau in die Augen zu blicken. Überhaupt wusste er nicht, wohin er blicken sollte, da ihm wohl auch der Ausschnitt ihres Nachthemds mit den winzigen Brüsten nicht als angemessener Ort des Verweilens erschien. Etwas mehr als zwanzig Jahre kannte er Selma Würsich nun aus der Ferne. Früher hatte sie noch manchmal hinter dem hölzernen Ladentisch der Druckerei gestanden, bestimmt hatte er sich ein paar Male mit ihr unterhalten, nur fiel es ihm in diesem Augenblick nicht mehr ein. Sie hatte sich über die Jahre aus dem städtischen Bild gestohlen. Man hatte sie vergessen, man musste sie vergessen.
Seit seiner Heimkehr aus Verdun hatte Grumbach sie nur ein einziges Mal von Ferne gesehen. Wenn sie es überhaupt war. Dass mit ihr einiges nicht stimmte, erzählten sich die Bewohner der Stadt. Umso mehr musste Gustav Grumbach erleichtert gewesen sein, dass er dieser Fremden seit dem Beginn seiner Besuche im Hause Würsich nie begegnet war.
An die Holde? Selma Würsich hatte ein ernstes Gesicht aufgesetzt, sie fragte es und ließ dabei die Schulter des Gastes nicht los. Und wer ist sie, diese Holde? Wer soll das sein? Während sie noch fragte, schien sie etwas zu suchen, sie befühlte ihren Unterrock und blickte unruhig über die Schultern des Gastes. Zigarette? fragte sie und griff nach einer Schachtel, die auf dem schmalen Regal in Griffweite stand.
Danke nein.
Selma Würsich zündete sich eine der feinen Zigaretten an und atmete tief. Wissen Sie, wer die Holde ist? Ich nehme an, Sie haben da eine bestimmte im Herzen, ja? Sie werden den Daumer kennen? Wehe Lüftchen, lind und lieblich. Die Stimme der Mutter war rau. Wehe! Sagte sie tief und mit drohender Stimme. Wehe! Sie lachte, und das Krächzen tat Helene weh. Helene legte sich beide Hände auf die Ohren.
Prüfend zog Selma Würsich den Rauch ihrer Zigarette ein, in kleinen Wölkchen ließ sie ihn durch die Nasenlöcher entweichen.
Grumbach presste die Worte heraus: Ja, natürlich.
Das war wohl mehr eine Behauptung, so zumindest deutete Helene den Druck hinter seinen Lauten und den rastlosen Blick.
Willst du dein Herz mir schenken, so fang es… begann die Mutter mit bedeutungsvoller Stimme.
… heimlich an. Dass unser beider Denken niemand erraten kann. Natürlich, auch das, ja, beeilte sich der Gast zu sagen — aber er schien für die Gemeinsamkeit keine rechte Freude aufbringen zu können.
Nur haben Sie je darüber nachgedacht, welche Hinterlist in diesem Liebesschwur liegt? Nein? Ja? Welche Polemik. Ich verrate es Ihnen: Er fordert sie zum Schweigen auf, damit ihm selbst die Stimme über das Gemeinsame gehört. Und die ist nicht glücklich. Haben Sie verstanden? Ungeheuer, sowas. Für diese offenkundige Schmäh ihrer Worte und die im Unglück liegende Abkehr von sich selbst muss der Leser weinen. Wenigstens die Leserin, flüsterte sie fast nicht mehr hörbar, dann sagte sie laut zu ihm: Sie aber weinen nicht. Sie wollen triumphieren. An die Holde!
Wieder hörte Helene das böse Lachen ihrer Mutter, dessen Abgrund einem Gast wie diesem nur schwer einsichtig sein konnte. Dieser Heine gehört von Ihnen nicht gelesen. Haben Sie gehört? Sie verraten ihn, noch ehe Sie ihm nahegekommen sind. Was, und Sie lesen ihn aber, ja? Sind Sie noch bei Verstand?
Nicht gelesen?
Nicht von Ihnen. Sie machen aus Ihrem Missverstehen gleich einen ganzen Band. An die Holde. Hören Sie, das geht nicht. Das ist nicht einfach schlecht, schlimm ist das, schlimm.
Verzeihen Sie, gnädige Dame. Der Gast stotterte.
Doch mit dem Verzeihen schien Helenes Mutter so ihre Schwierigkeiten zu haben.
Gnade, die gibt es nicht unter Menschen. Wir sind dafür nicht zuständig.
Verzeihen Sie, Werte. Vielleicht haben Sie recht und ich habe nichts als leeres Stroh gedroschen. Schwamm drüber, verehrte Frau Würsich. Es ist nicht mehr der Rede wert.
Leeres Stroh gedroschen? Hören Sie, Grumbach, dreschen Sie Stroh, soviel Sie wollen. Nur verschonen Sie Ihre Mitmenschen mit sich und Ihren Schwämmen. Die wahre Gnade, die suchen Sie nur bei Ihrem Gott, mein Herr. Helenes Mutter konnte sich über die letzten Worte fassen, sie sprach klar und streng.
Wenn er klug war, dachte Helene, sollte Grumbach jetzt gehen, am besten wortlos. Aber es gehörte offenbar nicht zu seinen Fähigkeiten, einem anderen das letzte Wort zu lassen.
Ich möchte Sie wirklich bitten, hob Grumbach an.
An die Holde! Und wieder hörte Helene das Lachen ihrer Mutter, dessen Abgrund ein Gast wie dieser nicht einmal erahnen und niemals vermessen konnte; was nur gut war.
Helenes Mutter hielt dem Gast den Rest ihrer Zigarette hin.
Und jetzt, mein Herr, nehmen Sie das hier mit vor die Tür. Sie wollen mich bitten? Betteln, Hausieren und Musizieren, Sie wissen schon… Sie entschuldigen mich.
Von oben aus ihrem sicheren Dunkel sah Helene den Gast nicken. Er nahm die Glut der Zigarette, die an seinen Fingern brennen musste. Noch als die Mutter hustend in ihrem Schlafgemach verschwunden war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, nickte der Gast. Er stieg vorsichtig, Stock und verglühende Zigarette in einer Hand, die steile Treppe abwärts. Er nickte noch immer, als er unten an der Eingangstür anlangte und auf die Tuchmacherstraße trat. Die Tür fiel ins Schloss.
Helene stand auf und wollte die Tür zu ihrem Vater öffnen. Sie rüttelte an der Tür.
Lass mich rein, ich bins.
Zuerst blieb es still hinter der Tür, dann aber hörte Helene Marthas leichte Schritte.
Warum hast du nicht geöffnet?
Ich wollte nicht, dass er sie hört.
Warum nicht?
Er hat sie vergessen. Ist dir aufgefallen, dass er in den letzten Wochen nicht mehr nach ihr fragt? Ich könnte ihm nicht sagen, dass sie einen Stock tiefer lebt und ihn einfach nicht sehen möchte.
Martha nahm Helene bei der Hand und zog sie mit sich an das Bett des Vaters.
Wie befreit er aussieht, bemerkte Helene.
Martha blieb stumm.
Findest du nicht, er sieht befreit aus?
Martha antwortete nicht und Helene dachte, er musste froh sein, eine Tochter zu haben, die als fürsorgliche Kranken schwester ihm nicht nur täglich den entzündeten Stumpf seines verlorenen Beines versorgte, sondern ihm auch ein Mittel gegen die Schmerzen spritzte und Tag für Tag bemüht war, sich selbst und ihm die Furcht vor einem mitgebrachten Typhus auszureden. Der Vater konnte keine Flüssigkeiten mehr bei sich behalten, aber dafür gab es einige Erklärungen, die Martha eilig heraufbeschwor, während Helene in medizinischen Lehrbüchern las, angeblich um sich auf ihr Leben als Krankenschwester vorzubereiten, in Wirklichkeit jedoch, um den Wunsch nach einem Studium nicht gänzlich aus den Augen zu verlieren.
Helene setzte sich auf den Stuhl, und während Martha sich anschickte, den gelben Fuß des Vaters zu waschen, nahm sie das oberste Buch des neben ihr liegenden Stapels. Sie blickte nur hin und wieder auf. Sie gab zu bedenken, dass es sich bei dem treppenförmig ansteigenden Fieber doch um einen Typhus handeln könnte, einer, der sich verzögert entwickelte.
Martha sagte nichts dazu. Ihr war keineswegs entgangen, dass sich der Zustand des Vaters seit der Rückkehr erheblich verschlechtert hatte. Aber sie sagte: Du verstehst davon noch nichts.
In den vergangenen Wochen hatte Martha Helene jeden ihrer Handgriffe gezeigt. Abwechselnd betasteten sie den Leib des Vaters. Und der Vater lag ganz wehrlos da, so erschien es Helene. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Hände seiner Töchter auf seinem Leib zu dulden. Das war kein Streicheln aus Liebe, sie drückten, als ginge es um Erkenntnis und als nütze ihnen die etwas. Martha erklärte Helene, wo sich welches Organ befand, obwohl Helene das längst wusste. Martha musste bemerken, wie die Milz von Tag zu Tag anschwoll, sie musste wissen, was das bedeutete.
Seit geraumer Zeit konnte Martha nicht mehr morgens zum Krankenhaus gehen. Sie blieb zu Hause, um das Leben ihres Vaters zu bewachen und zu erleichtern. Helene bemerkte, dass Martha sich von Tag zu Tag häufiger kratzte. Nach jedem Besuch am Bett des Vaters kratzte sich Martha jetzt gründlich die Hände, bis hinauf zu den Ellenbogen, sie nahm die Haarbürste zu Hilfe und schrubbte sich schamlos ihren Rücken.
Erst bat sie Helene zögerlich, dann wurde es selbstverständlich, dass Helene die Bettpfannen voller Flüssigkeiten aus dem Zimmer trug, sie mit kochendem Wasser spülte und das Fieberthermometer reinigte. Helene wusch sich die Hände, bis hinauf zu den Ellenbogen, sie schrubbte mit der Nagelbürste die Finger, die Handteller und Handrücken. Es sollte nicht jucken, es durfte nicht jucken. Kaltes Wasser auf die Handgelenke, Seife, viel Seife. Schäumen musste es. Es juckte nicht, nur waschen musste sie sich. Gewissenhaft trug Helene die Daten des Thermometers in die Kurve ein. Martha beobachtete sie dabei.
Du weißt, was die Schwellung der Milz bedeutet, sagte Helene. Martha schaute sie nicht an. Helene wollte Martha helfen, sie wollte wenigstens den Puls des Vaters fühlen, aber Martha stieß sie vom Bett und vom Kranken zurück.
An einem Abend stieg Helene dem süßen Geruch entgegen die Treppe hinauf. Das Faulige nahm ihr fast den Atem. Sie öffnete das Fenster, der Geruch von feuchtem Laub stieg herauf. Ein kühler Oktobertag neigte sich seinem Ende zu. Der Wind ging durch die Ulme, und das Auge des Vaters wollte sich nicht mehr öffnen, er atmete durch den weit geöffneten Mund.
Nicht ohne sie. Martha stand neben Helene, sie fasste nach ihrer Hand, drückte die Hand der kleinen Schwester, dass es beide schmerzte, und wiederholte ihre Worte: Nicht ohne sie.
Martha verließ das Zimmer. Notfalls unter Gewaltanwendung wollte sie die Tür zum Schlafgemach der Mutter aufbrechen.
Seit Tagen war dies der einzige Augenblick, den Helene allein mit ihrem Vater hatte. Helene konnte nur flach atmen. Sie trat an sein Bett. Seine Hand war schwer, und spröde war die Haut. Seine gelbe Haut blieb stehen, als Helene sie mit zwei Fingern anhob. Helene war nicht verwundert, als sie im Schein der Lampe durch die Öffnung des Nachthemds den roten Ausschlag auf seiner Brust sah. Die Hand ihres Vaters war angenehm warm, sein Fieber war Tag für Tag um Zehntelgrade auf vierzig angestiegen.
Von unten hörte sie das Poltern und wütende Schreie. Niemand sollte die Mutter stören. Helene wechselte das Laken, das dem Vater in diesen Tagen innerster Hitze als Decke diente. Unwillkürlich fiel ihr Blick auf den eiternden Stumpf, der süße Duft hatte Maden gelockt. Sie wollte nicht länger hinsehen, es war ihr, als lebe seine Wunde, als lechze der Tod ihr entgegen. Helene schluckte, als sie sein Geschlecht entdeckte — es erschien ihr klein und wie vertrocknet, als wäre es verwelkt und liege nur noch zufällig an jenem Ort. Das Instrument ihrer Zeugung. Helene legte ihre Hand auf die Stirn des Vaters, sie beugte sich über ihn.
Die Worte, ich liebe Sie, flüsterte sie nicht einmal. Allein ihre Lippen formten die Worte, während sie seine Stirn küsste.
Ein Raureif, klein, klein. Mein Täubchen. Wir frieren nicht mehr. Das stammelte der Vater. Seit Wochen hatte er nicht gesprochen. Sie erkannte seine Stimme kaum, aber es musste seine sein. Helene blieb bei ihm, sie ließ ihre Lippen auf seiner Stirn liegen. Ihr Kopf war plötzlich so schwer, dass sie sich mit ihrem Gesicht auf das des Vaters legen wollte. Sie wusste, dass der Vater die Mutter von jeher Täubchen genannt hatte.
Nichts als Tarnung so ein Körper, flüsterte der Vater. Ganz und gar, unsichtbar. Im Bau ist es warm, Täubchen, komm herein zu mir, niemand kann uns entdecken, keiner uns erschrecken. Der Vater nahm die Hände zu seinen Ohren und hielt sie sich zu. Bleibt bei mir, meine Worte, lauft nicht aus. Das Täubchen kommt, mein Täubchen kommt.
Einen Augenblick schämte sich Helene, hatte sie doch die für die Mutter bestimmten, zumindest an die Mutter gerichteten Worte empfangen und würde sie diese für sich behalten.
Erst als das Zittern begann, erhob sich Helene, während sie dem Vater über den Kopf strich. An ihrer Hand blieben un zählige seiner lang gewachsenen Haare kleben. Es waren so viele Haare, die an Helenes Hand klebten. Voller Verwunderung fragte sie sich, wie es sein konnte, dass er überhaupt noch welche auf dem Kopf hatte. Was als Zittern begonnen hatte, wurde heftiger, ein Rütteln ging durch den Körper des Vaters, Speichel floss ihm aus dem Mundwinkel. Helene erwartete, dass er nun blau werde, wie sie es vor einigen Tagen schon einmal erlebt hatte. Sie sagte: Ich bin es, Helene.
Aber inmitten des Zitterns klangen seine Worte unnatürlich klar: Süßes Lächeln, du. Vertraut wir zwei. Nur Granaten kommen, und verraten uns, weil sie so laut sind, und wir zu weich. Zu weich. Es spritzt, pass auf!
Helene wich einen Schritt zurück, damit die ausschlagende Faust des Vaters sie nicht treffen konnte.
Vater, möchtest du etwas trinken?
Ein Bein, ein Bein, das tanzt von ganz allein. Der Vater lachte und mit dem Lachen ebbte sein Zittern ab. Wellen, die sich von ihrem Ursprung lösen. Helene war unsicher, ob er vom verlo renen Bein sprach.
Trinken?
Plötzlich packte die Hand des Vaters Helene, unerwartet kräftig, und hielt sie am Handgelenk fest.
Helene erschrak, sie drehte sich um, doch von Martha weit und breit keine Spur. Lediglich unklare Geräusche aus dem un teren Stockwerk zeugten davon, dass Martha sich mit dem Ma riechen Zutritt erobert hatte. Helene wand sich aus dem Griff ihres Vaters, der im nächsten Augenblick zu schlafen schien. Sie nahm die Karaffe Wasser vom Nachttisch und goss etwas davon in das Fläschchen, das Martha während der vergangenen Tage benutzt hatte, um dem Vater Wasser in den Mund zu flößen.
Kaum setzte sie das Fläschchen an die Lippen des Vaters, sagte dieser mitten aus der Haltung des Schlafes heraus: Getrunkene Weiber in meinem Mund.
Er konnte nicht trinken, kein Wasser mehr aufnehmen. Mit den Fingern benetzte sie die Lippen ihres Vaters.
Helene nahm die Spritze zuhilfe, sie zog die Nadel ab und träufelte ihm Wasser in den Mund.
Dann steckte sie die Nadel wieder auf und zog die Spritze bis zum untersten Strich mit Morphium auf, sie hielt die Spritze in die Höhe und presste die Luft hinaus. Da die Arme des Vaters vollkommen zerstochen waren, wollte sie ihm die Spritze in den Hals setzen. Dort hatte sich ein Abszess gebildet, aber gleich daneben entdeckte sie eine gute Stelle für den Einstich. Sie drückte langsam.
Später musste sie vor Erschöpfung an seinem Bett eingeschlafen sein. Es dämmerte, als sie den Kopf hob und hörte, unter welchen Flüchen sich die Mutter näherte. Offenbar wurde sie gewaltsam die Treppe heraufbefördert. Da war Marthas Stimme, laut und heftig: Sieh ihn dir an, Mutter.
Die Tür wurde geöffnet, die Mutter wehrte sich, sie wollte das Zimmer nicht betreten.
Ich will das nicht, sagte die Mutter wieder und wieder, ich will das nicht. Sie schlug um sich. Aber Martha und das Mariechen nahmen keine Rücksicht, sie schoben die Mutter zur Tür hinein und stießen sie, die sich jetzt an den beiden festklammerte, mit aller Kraft auf das Bett des Vaters.
Einen Augenblick war Stille. Die Mutter rappelte sich. Sie entdeckte ihren Mann, den sie sechs Jahre nicht gesehen hatte. Sie schloss die Augen.
Was hat er dir getan? Martha durchbrach das Schweigen, sie konnte ihre Empörung nicht verbergen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hörte Helene das Mariechen in ihrer Sprache sprechen, ein weicher Singsang, den sie vom Markt her gut kannte. Das Mariechen faltete die Hände, offenbar betete sie.
Dessen ungeachtet tastete sich die Mutter auf dem Bett vorwärts, wie ein blindes Hündchen, ein Welpe, der seinen Weg nicht kennt, aber aufnimmt. Sie erfasste das Laken des Vaters und neigte sich über den Kranken. Als er das gesunde Auge öffnete, flüsterte sie mit einer Zärtlichkeit, die Helene erschrecken ließ: Sag bloß, du lebst noch.
Ihr Kopf sank auf die Brust des Vaters und Helene war sicher, dass sie nun weinen würde. Aber sie blieb reglos und still.
Mein Täubchen, sagte der Vater, mühsam suchte er Worte zusammen. Ich habe dir kein Zimmer in meinem Haus gegeben, damit du dich darin einschließt.
Die Mutter wich zurück.
Doch, sagte sie leise. All die Dinge in meinem Gemach, die Berge und Täler, die sie bilden, darin bin ich zu Hause. Nirgend sonst. Ich bin das. Wer schätzt, mit welcher Sorgfalt meine Trampelpfade angelegt sind? Lichtungen. Deine Töchter wollten einfach die Bautzener Nachrichten entsorgen, Ordnung machen, nennen sie das. Sie haben den Chiffon fortgerissen, als berge er nichts, sie haben die Ausgaben vom letzten Dezember auseinandergepflückt, dass ich tagelang Mühe hatte, sie wieder auf einen Stapel zu bringen. Thematisch. Ihren Themen folgend, Thema, Gegenstand und Stoff, tithenai, setzen, stellen, legen, nicht dem Datum nach. Ich bin ein Nachttier. Bei mir ist es dunkel und doch nie dunkel genug.
Helene warf über das Bett und die Eltern hinweg einen Blick zu Martha. Die Eltern waren so miteinander beschäftigt, dass Helene sich wie im Theater fühlte. Vielleicht dachte Martha dasselbe wie sie. Die Mutter sei am Herzen erblindet, das hatte Martha einmal gesagt, als Helene ihre Schwester gefragt hatte, was die Mutter habe. Sie könne nur noch Dinge wahrnehmen, keine Menschen mehr, deshalb sammele sie die alten Töpfe, die löchrigen Tücher und gewöhnlichen Obstkerne. Man konnte nie wissen, wozu man das eine und andere eines Tages brauchte. Erst kürzlich nähte sie sich einen Pfirsichkern als Knopf an ihren wollenen Umhang. In einer gebogenen Baumwurzel entdeckte die Mutter ein Pferd und flocht ihm die jüngst abgeschnittenen Haare einer Tochter statt eines Schweifes an den Hintern. Durch das Loch eines Emaille-Topfes, auf dem in großen Buchstaben Seife stand, zog sie einen Wollfaden, an den sie verschiedene Knöpfe und Steinchen knotete, die sich in den vergangenen Jahren angesammelt hatten. Diesen Seifentopf hatte sie über die Tür ihres Schlafzimmers gehängt, als Glocke, damit sie noch im Dämmerzustand gewarnt wurde, wenn jemand ihr Gemach betrat. Helene fiel ein Spaziergang vor vielen Jahren ein, vielleicht die letzte gemeinsame Unternehmung, bevor der Vater in den Krieg gezogen war. Es war ein Spaziergang, den die Mutter nur widerwillig und nach mehrmaligen Bitten ihres Mannes mit ihrer Familie unternommen hatte. Sie hatte sich plötzlich gebückt, das abgesprungene Eisen eines Wagens aufgehoben und glücklich ausgestoßen: Heureka! Sie erkannte die Erde im Eisen und das Feuer in seiner Form. Nahm sie es auf, in die Luft und mit nach Hause, wo sie ihm als Schuhanzieher eine neue Bestimmung zuwies, erkannte sie eine Seele im Ding. Sie sprach ihm die Seele zu, verlieh sie gewissermaßen. Die Mutter als Gott. Alles sollte sein Dasein einzig durch sie erfahren. Heureka, über die Bedeutung des Wortes hatte Helene häufig nachdenken müssen. Nur ihre jüngere Tochter konnte die Mutter nicht mehr erkennen, eben blind am Herzen, wie Martha sagte, dass sie niemanden mehr sehen konnte; ertragen konnte sie lediglich jene Menschen, die ihr vor dem Tod der vier Söhne erschienen waren.
Helene betrachtete ihre Mutter, die von sich als Nachttier sprach. Die Kunde von ihrer Sorge um ihre Pfade und Lichtungen und ihr Dasein gab, und die bei all diesen Geständnissen wie eine glänzende Darstellerin wirkte. Das Böse war ihr zum Wesen geworden: Was zählte, war die Wirkung. Helene konnte sich irren. Der böse Schein war ihr die einzig mögliche Rüstung und das böse Wort die Waffe im Sieg über das, was beide einmal verbunden hatte, Mann und Frau. Etwas an dieser Frau erschien Helene so unermesslich falsch, so unbarmherzig auf sich selbst bezogen ohne den winzigsten Schimmer einer Liebe oder auch nur eines Blickes für den Vater, dass Helene nicht anders konnte, als ihre Mutter zu hassen.
Der Vater bewegte seinen Mund, er kämpfte mit einem Kiefer, der ihm nicht gehorchen wollte. Und dann sagte er deutlich: Ich wollte dich sehen, mein Täubchen. Wegen dir bin ich hier.
Du hättest nicht gehen dürfen.
Da war kein Leid mehr in der Stimme der Mutter, alles Leid war zur Gewissheit erstarrt. Deine Töchter wollten meine Bücher entsorgen, aber ich habe dir einen Satz gerettet, einen meines Geliebten, der mich über deine Abwesenheit tröstete.
Ich bin froh, dass du Trost hattest. Die Stimme des Vaters war schwach und bar jeden Spottes.
Sein Name ist Machiavell, du erinnerst dich seiner? Höre, das erste Gesetz für jedwedes Wesen heißt: Erhalte dich! Lebe! — Ihr sät Schierling und tut so, als sähet Ihr Ähren reifen!
Mein Bein ist fort, schau, jetzt bleibe ich. Der Vater bemühte sich um ein Lächeln, ein gütiges. Ein einvernehmliches, frommes. Eines, mit dem er früher noch jede Unstimmigkeit zwischen ihnen besänftigen konnte.
Hier wäre es nie verloren gegangen, hier, bei mir.
Der Vater schwieg. Helene verspürte den dringenden Wunsch, ihn zu verteidigen, sie wollte etwas sagen, das sein Gehen vor sechs Jahren gerechtfertigt hätte, aber ihr fiel nichts ein. Deshalb sagte sie: Mutter, er ist für uns alle in den Krieg gegangen, er hat für uns alle sein Bein verloren.
Nein, die Mutter schüttelte den Kopf. Für mich nicht.
Sie stand auf.
Sie ging aus der Tür und drehte sich noch einmal um, ohne Helene dabei eines Blickes zu würdigen, sagte sie: Und misch dich da nicht ein, Kind. Was weißt du schon von mir und ihm?
Martha folgte der Mutter ins Treppenhaus, sie war unerschrocken, sie ließ sich nicht beeindrucken.
Nun trat diese herzensblinde Mutter, von der Helene vor allem Befehle und sich selbst aus der Welt ausschließende Gedanken kannte, zurück an das Bett ihres sterbenden Mannes, sie wusste ihre Töchter in ihrem Rücken, und doch sagte sie die Worte: Ich sterbe nicht zum ersten Mal.
Helene griff nach Marthas Hand, ihr war nach Lachen zumute. Wie oft hatte sie die Mutter schon diesen Satz sprechen hören, meist war er die Einleitung zur Forderung nach mehr Fleiß im Haushalt, größerer Ehrerbietung oder einem Botengang gewesen, manchmal eine bloße Erklärung, deren Absicht nicht leicht entzifferbar war und über deren Ziel sich die Mädchen mitunter stundenlang Gedanken machten. Doch hier am Sterbebett ihres Mannes galt der Mutter offensichtlich nichts etwas als die eigene Ergriffenheit und die Niederung eines Fühlens, das nur noch für sich selbst langte.
Martha löste ihre Hand aus Helenes. Sie packte die Mutter an der Schulter. Siehst du nicht, dass er es ist, der stirbt? Vater stirbt. Nicht du, es geht hier nicht um dein Sterben, begreif das endlich.
Nicht? Die Mutter sah Martha erstaunt an.
Nein. Martha schüttelte den Kopf, als müsse sie die Mutter überzeugen.
Der ratlose Blick der Mutter fiel plötzlich auf Helene. Ein Lächeln trat in ihr Gesicht, anscheinend entdeckte sie einen Menschen, den sie lange nicht gesehen hatte. Komm her, meine Tochter. Das sagte sie zu Helene.
Helene wagte keine Bewegung mehr, sie wollte sich der Mutter keinen Zentimeter nähern, keinen noch so kleinen Schritt. Am liebsten hätte sie das Zimmer verlassen. Sie mied weniger die im nächsten Augenblick drohende Abweisung der Mutter als eine Berührung, eine Berührung, die etwas wie Ansteckung mit sich bringen könnte. Helene spürte die alte Furcht in sich aufkommen, sie könne eines Tages erblinden wie diese Mutter. Das Lächeln der Mutter, eben noch zutraulich, erfror. Helene kannte nur einen Albtraum, der sie seit Jahren immer wieder heimsuchte: Zwei Götter, die aussahen wie Apollo auf dem Stich über dem Papierregal im Verkaufsraum der Druckerei. Die beiden Götter stritten sich um ihre alleinige Daseinsberechtigung, jeder brüllte aus vollem Halse: Ich! Gleichzeitig riefen sie: Ich bin der Herr, dein Gott. Und es wurde finster um Helene. So finster, dass sie nichts mehr sehen konnte. In diesen Träumen tastete sie sich vorwärts, sie fühlte Glitschiges und Schnecken, Heißes und Feuer und schließlich das Nichts, in das sie fiel. Ehe sie aufschlagen konnte, erwachte sie jedes Mal, ihr Herz raste, sie drückte ihre Nase in den Rücken der gleichmäßig atmenden Martha, und während ihr das Nachthemd nasskalt am Rücken klebte, betete sie zu Gott, er möge sie von diesem Albtraum befreien. Doch Gott zürnte offenbar. Der Albtraum kehrte wieder. Vielleicht war er nur beleidigt. Helene wusste warum, weil er ahnte, dass Helene ihm eine Gestalt zudachte, es war die Gestalt eines stattlichen Apollo, und nicht nur das, sie sah ihn doppelt, sie sah den Bruder, und während sie zu dem einen betete, wandte sie dem anderen den Rücken zu — und schließlich ließ allein ihr Gebet einem Gott keine andere Wahl als den Zorn.
Im nächsten Augenblick, den sie erstarrt dastand und längst deutlich war, dass sie der Aufforderung ihrer Mutter nicht nachkommen wollte und konnte, fiel ihr ein, wie die Mutter vor Jahren auf dem Protschenberg über ihren Gott gesprochen hatte und den des Vaters, als rivalisiere ihrer beider Glaube. Dass die Mutter die Menschen als Erdwürmer bezeichnete, empfand Helene als Ausdruck des Hasses, den ihr die Mutter von jeher mitteilen wollte und der Früchte zeigte, wenn Helene von den nackten Schnecken träumte, um in ein Nichts zu fallen, das ihr wie der mütterliche Schoß erschien.
Helene wollte sich waschen, die Hände waschen bis zum Ellenbogen, den Hals, das Haar. Alles musste gewaschen werden. Ihre Gedanken drehten sich. Sie wandte sich ab und stolperte die Treppe hinunter. Sie hörte das Mariechen hinter sich rufen, sie hörte, wie Martha ihren Namen rief, aber sie konnte nichts denken und nicht einhalten, sie musste laufen. Sie öffnete die Haustür und rannte die Tuchmacherstraße hinauf und über den Lauengraben bis zur Kronprinzenbrücke. Dort tastete sie sich auf Zehenspitzen im Dunkeln unterhalb des Bürgergartens die Böschung zur Spree hinab, mal konnte sie sich mit den Händen am dicken Fundament der Brücke halten, mal hielt sie sich an Büschen und Bäumen. Sie lief auf der unteren Straße am Lattenzaun entlang, vorbei am Restaurant zur Hopfenblüte, wo noch reger Betrieb herrschte, Tanzmusik erschallte, laut, die Menschen wollten endlich mit dem Krieg und seinem Schweigen und ihrer Niederlage brechen, und erst als sie unten am Wehr anlangte und in der Finsternis nichts als das Glucksen und Rauschen des Flusses hörte, konnte sie stehenbleiben. Sie ging in die Hocke und hielt ihre Hände in das eisige Wasser. Nebel hing in dem Flussbett und Helene lauschte auf ihren Atem, der ruhiger wurde.
Spät, als die Musik aus dem Gasthaus verstummt war und ihre Kleider feucht und kalt von der Nacht und dem Fluss geworden waren, kehrte sie nach Hause zurück. Sie schlich auf Zehenspitzen hinauf in ihr dunkles Zimmer, tastete nach Martha und schlüpfte zu ihr unter die Decke. Martha legte einen Arm über sie und ein Bein, ihr schweres, langes Bein, unter dem sich Helene geborgen fühlte.
Helene stand am Fenster und zerkratzte mit dem Fingernagel die Blätter der Eisblumen. Eine feine Schicht Eis, noch glatt, das Schaben der Blumen, schon weiß. Kleiner Haufen, winzige Kristalle. Der Vater ist tot. Martha hatte ihr das am Morgen gesagt. Helene suchte die Worte einzeln nach ihrer Bedeutung ab. Widersprachen sich nicht schon ist und tot, sein und haben? Er hatte kein Leben mehr, noch gab es den, der irgendetwas sein eigen nennen konnte. Wie wollte es sich auch besitzen lassen, so ein Leben? Sie fragte sich, warum Martha sie in der Nacht nicht geweckt hatte, damit auch sie die Hand des Vaters hätte halten können. Martha war allein bei ihm gewesen.
Wie war das?
Was?
Wie ist er gestorben?
Du hast ihn doch gesehen, Engelchen.
Aber das letzte Atmen, was kam danach?
Nichts. Martha sah Helene mit offenen Augen an, Augen, die nicht blinzelten und die sagen wollten, sie können nicht lügen. Helene wusste, dass Martha ihr darüber nicht mehr sagen würde, selbst wenn sie etwas wüsste. Sie würde es für sich behalten. Danach kam also nichts. Helene hauchte ihren Atem gegen die Eisblätter, sie berührte mit den Lippen die spitzgezackten Blüten. Ihre Lippen klebten am Eis und brannten. Haut abgezogen, feine Lippenhaut. Martha wird ihm die Hände gefaltet, das Laken über sein Gesicht gelegt und das Bett zum Fenster gedreht haben, damit seine Seele zu Gott schauen konnte. Roh das Fleisch der Lippen.
Helene wäre gern geweckt worden. Vielleicht wäre er nicht gestorben, wenn sie seine Hand gehalten hätte. Zumindest nicht so, so einfach, einfach so, nicht ohne sie.
In allen Zimmern des Hauses brannten Kerzen, der Tag wollte nicht beginnen. Die Wolken lagen tief und schwer über den Dächern, sie hingen zwischen den Mauern, die Nacht schaukelte noch in den Wolken.
Wir warten auf den Pfarrer, sagte Martha und setzte sich auf die Treppe.
Du wartest, ich gehe hinauf und lese mein Buch, antwortete Helene. Sie ging hinauf, aber nicht ins Mädchenzimmer, wo ihre Vertrauten warteten, der Werther und die Marquise, deren Ohnmacht Helene noch für sonderbar und unglaublich hielt, sie stieg eine Treppe höher. Über Nacht war es kalt hier oben geworden. Niemand mehr hatte heute Morgen den kleinen Ofen befeuert. Sie trat zum Bett und sah, wie sich seine Nase durch das Laken drückte. Sie fragte sich, wie er jetzt wohl aussah. Doch es entstand kein Bild vor ihren Augen. Selbst die Erinnerung daran, wie er ausgesehen hatte, als er noch lebte, fehlte; gestern hatte sie versucht, ihm etwas Wasser einzuflößen, und er hatte den Mund nicht mehr geöffnet, keinen Spalt weit, von seinem gestrigen Aussehen fehlte in ihr eine Spur. Überall auf dem Kopfkissen hatten Haare geklebt, seine aschfahlen, zuletzt gelblichen, langen Haare, daran erinnerte sie sich. Sie hatte die Haare vom Kopfkissen gezupft und lange in ihrer Hand gehalten, weil sie nicht wusste, wohin damit. Konnte sie das Haar ihres sterbenden Vaters wegwerfen? Sie konnte. Sie hatte sein Haar ins Häuschen auf dem Hof gebracht und wollte es dort in die gefrorene Grube fallen lassen. Das Haar war nicht einfach aus der Hand gefallen. Es hatte sich nicht aus ihrer Hand lösen wollen. Auch im Häuschen hatte sie es abzupfen müssen, von ihren Händen, Haar um Haar. Und es war nicht gefallen, es schwebte, so langsam, dass sie Ekel empfand und nicht hinsehen wollte. Daran erinnerte sich Helene, an sein Haar, gestern, nicht aber an sein Aussehen. Das Laken war weiß, und sonst nichts. Helene hob es an, erst vorsichtig, dann ganz, sie betrachtete ihren Vater. Die Haut über seiner Augenhöhle spiegelte, makellos glatt. Er trug einen Verband um den Kopf, der wohl den Kiefer geschlossen halten sollte, ehe die Totenstarre einsetzte. Helene wunderte sich, dass seine Haut noch schimmerte, das Gesicht noch glänzte. Mit dem Handrücken be rührte sie seine Wange. Das Nichts war nur ein wenig kühl.
Sie legte das Laken über ihn und verließ den Raum auf Zehenspitzen, sie wollte nicht, dass die Mutter im Zimmer unter ihr ihre Schritte hörte, sie sollte nicht hören, dass sie bei ihm war. Helene stieg die Treppe wieder hinab und stellte sich vor das Fenster. Sie atmete tief ein und hauchte ein Loch in die Eisblumen. Durch das Loch konnte Helene sehen, wie der Pfarrer mit schnellen Schritten vom Kornmarkt herunter kam, er lief dicht an den rußigen Mauern der Häuser entlang, wechselte die Straßenseite und kam herüber zum Haus. Er blieb stehen. Er suchte etwas in seinem langen Mantel, fand ein Taschentuch und schnäuzte sich. Dann läutete er.
Martha bot dem Pfarrer Tee an. Sie sprachen leise und Helene hörte kaum zu. Einmal läutete es und das Mariechen öffnete sechs schwarz gekleideten Herren. In einem erkannte Helene den Bürgermeister Koban, der sich nicht am Krankenbett des Freundes hatte sehen lassen, in einem anderen erkannte sie Grumbach, der aber scheute sich, den Blick zu heben, ihrem zu begegnen. Vor der Tür wartete ein Zweispanner. Die Pferde trugen Decken gegen die Kälte. Sie schnaubten und ihr Atem sah aus wie der einer kleinen Dampflok. Die sechs Herren trugen den Sarg die Treppe hinauf und kurze Zeit später die Treppe wieder hinab.
Wir müssen gehen, die Menschen warten am Friedhof, sie werden frieren, die Kapelle hat im Krieg nicht nur die Glocke, sondern auch ihren Ofen verloren, sagte der Pfarrer und fragte: Ist Ihre werte Mutter zum Aufbruch bereit?
Erst jetzt horchte Helene auf.
Nein, sagte Martha. Sie wird nicht mitkommen.
Sie wird nicht…? Der Pfarrer sah verständnislos zu Martha, dann zu Helene und zuletzt zum Mariechen, das die Augen niederschlug.
Nein, sagte Helene, sie will nicht.
Sie sagt, sie ist müde, erklärte Martha, ihre Stimme wirkte sonderbar schwach.
Müde? Dem Pfarrer blieb der Mund offen stehen. Helene mochte es, wie weich er das D sprach. Er war nicht aus der Gegend, er kam aus dem Rheinland und hatte die Pfarrei erst seit zwei Jahren. Helene mochte seine Predigten, in seiner Sprache glaubte sie etwas von der großen Welt zu hören, etwas, das weit über die Welt des Gottes, von dem er sprach, hinausschwang.
Martha nahm entschlossen ihren Mantel. Der Pfarrer blieb sitzen, das letzte Geleit, hob er an und verstummte. Weich das G und hart das T. Wo waren seine Worte für fehlenden Gehorsam?
Gehen wir und lassen ihr den Willen, forderte Martha den Pfarrer nun streng auf.
Nein, stammelte der Pfarrer. Wir können doch nicht ohne sie, ohne seine Gattin, ohne Ihre werte Mutter — gehen. Ich werde mit ihr sprechen. Erlauben Sie? Der Pfarrer erhob sich. Er hoffte, dass Martha ihn zur Dame des Hauses führen würde. Aber Martha stellte sich ihm in den Weg.
Es hat keinen Zweck, glauben Sie mir. Martha strich sich zum Aufbruch bereit über das Haar.
Bitte. Der Pfarrer gab nicht nach. Er zeigte deutlich, dass er nicht aufgeben würde.
Wie Sie wollen. Aber Sie sagen selbst, die Menschen am Friedhof warten.
Martha bedeutete dem Mariechen mit einem Nicken, sie möge dem Pfarrer den Weg hinauf ins Gemach der Mutter weisen.
Kommt Leontine? Helene zog ihren Mantel über und bemerkte, wie Martha errötete.
Von oben hörten die Mädchen das Klimpern der Steinchen und Knöpfe in der Zimmerglocke ihrer Mutter. Dann war es ungewohnt still, kein Schreien, kein Poltern. Marthas Erröten zeigte Flecken bis zum Hals, sie sah unglücklich aus.
Was ist? Habt ihr gestritten?
Wie kommst du darauf? Martha war empört. Leise setzte sie hinzu: Leontine ist verhindert.
Der Pfarrer und das Mariechen kamen die Treppe hinunter. Das Mariechen zog sich ihren Mantel über und öffnete die Tür.
Die Mutter wollte nicht, hab ich recht? Helene blickte den Pfarrer forschend an.
Wir wollen sie nicht zwingen. Jeder mag seinen eigenen Weg zu Gott finden.
Sie nicht. Wissen Sie nicht, dass sie Jüdin ist?
Auch die Juden werden eines Tages vor Gott stehen. Der Pfarrer sprach bedächtig und mit einer strengen, ja nicht entrinnbaren Güte, mit weichem D und G und hartem T. Er schien über eine Gewissheit zu verfügen, eine Gewissheit des Glaubens, die Helene Ehrfurcht empfinden ließ.
Für den Leichenschmaus hatte Martha einen Tisch im Keller des Rathauses bestellt. Keiner der schwarzgekleideten Herren sagte ein Wort. Sie schwiegen und tranken. Das Mariechen weinte leise. Und während der Pfarrer in einem fort aus dem Buch Hiob zitierte, wollte Helene sich die Ohren zuhalten, trotz seiner angenehmen Stimme. Helene streckte unter dem Tisch ihren Fuß nach Martha aus, sie berührte sanft Marthas Wade, doch Martha antwortete ihr mit keinem noch so kleinen Zeichen des Erkennens.
Und sehen Sie, Fräulein Martha, Gott nimmt diejenigen zu sich, die ihm die Liebsten sind. Und er gibt Freude und Liebe an all jene, die ihren Weg noch vor sich haben. Schauen wir uns um in unserer Gemeinde. Ist das Fräulein Leontine nicht eine gute Freundin von Ihnen? Sehen Sie, ihre Verlobung ist der Beginn eines neuen Weges, die Wiege ihrer Kinder und ihres Glückes. Der vertraute A-Dur-Akkord vom Petridom erklang, der Glockenschlag schien dem Pfarrer recht zu geben.
Verlobung? Helene war erstaunt. Ging ihre Frage im Geläut der Glocken unter?
Martha weinte jetzt, sie schluchzte hemmungslos.
Fräulein Leontine heiratet nach Berlin, mit einem gewissen Stolz lächelte das Mariechen in die Herrenrunde, vielleicht war es bloß Freude, sie trocknete ihre Tränen und tätschelte Helenes Arm. Vermutlich war sie erleichtert, dass die schwer vermittelbare junge Frau nun doch noch einen Mann bekam. Offenbar war Helene die Einzige am Tisch, die nichts von Leontines Verlobung gewusst hatte.
Wusstest du das? Helene beugte sich vor, in der Hoffnung, dass Martha sie ansehen würde. Doch Martha blickte niemanden an, sie nickte nur, fast unmerklich.
Auch wenn Sie in diesem Augenblick nicht daran denken mögen, Fräulein Martha, auch Sie wird der Vater beschenken. Sie werden heiraten und Söhne gebären. Das Leben, mein gutes Kind, hält so vieles bereit.
So vieles? Martha schnäuzte sich. Verstehen Sie Gott, verstehen Sie, warum er uns leiden lässt?
Der Pfarrer lächelte milde, geradeso als habe er auf diese Frage von Martha gewartet. Der Tod Ihres Vaters ist eine Prüfung. Gott meint es gut mit Ihnen, Martha, das wissen Sie. Es geht nicht um das Verstehen, mein gutes Kind, Bestehen ist alles. Als der Pfarrer seine Hand über den Tisch hinweg ausstreckte, um sie tröstend auf Marthas zu legen, sprang Martha auf.
Sie entschuldigen mich bitte. Ich sollte nach der Mutter sehen. Martha stürzte die Treppe hinauf und verließ den Ratskeller. Helene blieb nichts anderes übrig, sie musste allein am Tisch sitzen bleiben, obwohl sie ahnte, dass Martha nichts als eine passende Ausrede gefunden hatte, um wegzulaufen.
Sie hat ihren Vater sehr geliebt, sagte Grumbach, der in dieser Runde zum ersten Mal das Wort erhob. Die anderen Männer nickten, und in die allgemeine Zustimmung sagte er mit Grimm: Zu sehr.
Gottes Liebe ist groß. Eine Tochter kann ihren Vater nicht zu sehr lieben. Sie kann von Gott nur lernen, das Lieben und Geben. Martha wird diese Prüfung bestehen, daran zweifeln wir keinen Augenblick. Der Pfarrer glaubte an seine Worte und wusste um deren Wirkung. Die Herren nickten.
Beide Kinder haben ihn geliebt, beide. Das Mariechen hörte nicht auf, Helenes Arm zu tätscheln.
Als der Leichenschmaus beendet war, schickte Helene das Mariechen zu ihren Freundinnen, um Garn für neue Spitzen zu besorgen, in Wahrheit aber, damit sie allein in die Tuchmacherstraße zurückkehren konnte. Im Haus war es still. Helene klopfte an die Tür der Mutter, ein Mal, zwei Mal, und da keine Antwort kam, öffnete sie.
Ist Martha hier gewesen?
Die Mutter lag mit offenen Augen im Bett und starrte Helene an. Immerzu sucht ihr einander. Habt ihr nichts Besseres zu tun?
Wir haben Vater beerdigt.
Die Mutter schwieg und so wiederholte Helene ihre Worte: Wir haben den Vater beerdigt.
So.
Helene wartete, in der Hoffnung, der Mutter falle noch ein weiteres Wort oder gar ein ganzer Satz ein.
Was gibts? Warum stehst du so in der Tür? Martha ist nicht hier, das siehst du doch.
Helene lief die Treppe hinunter. Sie trat durch die Hintertür. Reif lag noch auf den schwarzen Bäumen und dem Laub. Es wirkte, als könne der Tag nicht anbrechen, als bliebe es nun ewig Morgen, Novembermorgen am frühen Nachmittag. He lene trat in den Garten, sie stapfte zum Häuschen, das Laub brach unter ihren Füßen. Die Tür war verriegelt.
Bist du da drinnen? Helene klopfte zögernd an die Tür. Von innen hörte sie es rascheln und schließlich öffnete ihr Martha.
Es ist alles gut. Martha strich sich das Haar aus dem Gesicht und strahlte plötzlich.
Ja? Helene sah Marthas glasige Augen, sie wollte nicht belogen werden.
Ja, alles ist gut! Martha atmete tief durch und breitete die Arme aus. Helene umschlang Marthas Hüften. Nicht so stürmisch, meine Kleine! Martha lachte auf. Vergiss nicht, wir sind im Freien, alle können uns sehen!
Du bist schrecklich, Martha. Helene lächelte, sie schämte sich, sie hatte an nichts anderes als an Trost gedacht. Sie wollte Martha trösten, sie wollte alles über Leontine und Martha wissen und hatte sich doch fest vorgenommen, keine Fragen zu stellen.
Gehen wir hinauf? Martha blickte Helene lüstern an.
Helene konnte nicht nein sagen, aber sie sagte: Ich wollte dich nur trösten.
Ja, tröste mich! Martha atmete wieder tief und hörbar ein und aus. Unter dem dicken Mantel trug Martha ihr neues schwarzes Kleid mit dem hohen Kragen, Mariechen hatte es eigens für die Beerdigung genäht. Das Schwarz stand in einem reizvollen Gegensatz zu Marthas weißer Haut. Ihre Wangen und ihre große, feine Nase waren von der Kälte gerötet. Die glasigen Augen wirkten heller als sonst. Tröste mich!
Helene wollte nach Marthas Hand greifen, aber Martha zog ihre Hand fort. Sie hielt etwas in dieser Hand, das sie jetzt in der Manteltasche verschwinden ließ.
Die Schwestern gingen die Treppe hinauf und verschlossen ihre Zimmertür. Sie ließen sich auf das gemeinsame Bett fallen und entkleideten sich. Helene erwiderte Marthas Küsse, sie empfing jeden von ihnen, als gelte er allein ihr und dächten sie nicht beide an Leontine.
Meine Brüste wachsen nicht mehr, flüsterte Helene später in das blaue Licht der Dämmerung.
Das macht nichts, sagte Martha, sie werden schöner. Ist das nichts?
Helene biss sich auf die Zunge. Martha hätte sagen können, dass sich Helene noch ein, zwei Jahre gedulden sollte, schließlich gab die Zeit einigen Anlass für solche Hoffnungen, aber an ihrer freundlichen Antwort las Helene ab, wie schwer ihr an diesem Tag die Aufmerksamkeit für die Schwester fiel. Dabei dachte auch Helene vor allem an Leontine und deren Verlobung nach Berlin. Vielleicht hatte Leontine Martha einen Brief geschrieben und den hatte Martha im Häuschen heimlich gelesen und in ihrer Manteltasche verschwinden lassen, ehe sie Helenes Hand ergreifen konnte. Ein Abschiedsbrief, einer, der Martha erklären sollte, woher dieser Verlobte plötzlich kam und warum sie entgegen bisherigen Versprechen doch fortgehen würde. Helene fragte sich, was nun aus Martha werden konnte. Doch Martha wollte offenbar nicht über Leontine sprechen.
Ich habe Durst, sagte Martha.
Helene stand auf. Sie nahm den Wasserkrug vom Waschtisch, goss etwas in einen Becher und reichte ihn Martha.
Leg dich auf mich, Engelchen, komm.
Helene schüttelte den Kopf, sie setzte sich an den Bettrand und streichelte Marthas Arm.
Bitte.
Helene schüttelte wieder den Kopf.
Dann geh ich hinunter. Ich glaube, ich hab das Mariechen vorhin gehört. Ich werde ihr beim Abendbrot helfen. Martha stand auf, befestigte ihre wollenen Strümpfe und zog ihr schwarzes Kleid an.
Kaum war Martha aus der Tür und waren ihre Schritte auf der Treppe verklungen, streckte Helene ihren Arm aus, sie hob den am Boden liegenden Mantel auf. Helene fand keinen Brief und keinen Zettel in der Manteltasche, sondern ein Taschentuch und darin eine Spritze. Eine Erinnerung an den Vater? Helenes Gedanken fielen übereinander. Warum sollte Martha die Spritze des Vaters heimlich verschwinden lassen, auf dem Taschentuch entdeckte Helene kleine Blutflecken, sie wickelte die Spritze hastig in das Taschentuch zurück, es öffnete sich wieder, Helene rollte es, wickelte es und stopfte das kleine Bündel dorthin zurück, woher sie es genommen hatte, warum in ihrer Manteltasche, warum mit ihr im Häuschen, mit der Spritze, und nicht mit einem Brief von Leontine?