Peter hörte, was ihm sein Onkel sagte. Jetzt kommt die, was sich deine Mutter nennt. Der Onkel schnaubte in sein kariertes Taschentuch und spuckte verächtlich in Richtung Misthaufen. Na, jetzt aber schnell, sagte er mit einem Blick gen Himmel zu den Kranichen. Die anderen waren schon vor Wochen nach Süden gezogen. Peter sollte dem Onkel helfen, den Stall auszumisten. Er sollte ja nicht glauben, er sei zum Faulenzen da. Nur weil er in der Schule so schlau tue, solle er sich nicht zu fein sein. Peter war sich nicht zu fein. Er half im Stall, er half beim Melken, er bekam seine Milch, und er hatte seinen eigenen Schlafplatz auf der Küchenbank. Er wurde gelitten.
All die Jahre meldet die sich nicht, schimpfte der Onkel. Hat sich einfach verdrückt. So was soll eine Mutter sein. Verächtlich schüttelte der Onkel den Kopf und spuckte wieder aus. Mit der Mistgabel stocherte der Onkel in dem großen Haufen. Sieh zu, dass der hier unten nicht in die Breite geht, Peter, immer schön oben drauf.
Peter nickte, er lief vor, zur Stalltür, die schon geschlossen gehalten wurde, weil es ein ungewöhnlich kalter Herbst war. Er öffnete die Tür. Den warmen Atem der Tiere mochte er, ihr Grunzen und Muhen, das Malmen und Schmatzen. Sie hatte sich für seinen Geburtstag angemeldet, für seinen siebzehnten. Peter wusste, dass der Onkel sich über seine Mutter ärgerte. Seine Frau und er hatten keine eigenen Kinder, offenbar wollten sie auch nie welche haben. Peter war zu einer guten Hilfe auf dem Hof herangewachsen, aber die ersten Jahre waren schwer, man glaubte, man müsse sich aneinander gewöhnen, und wusste nicht, ob es für einige Wochen oder einige Monate sein würde. Inzwischen war allen klar, dass es ein Bleiben für immer war, bis Peter alt genug sein würde. Niemand hatte sich an den anderen gewöhnt, sie ertrugen einander. Bei jeder Ausgabe für ein Kleidungsstück hatten Onkel und Tante geächzt. Das Fahrrad, mit dem Peter in die Schule erst nach Graal-Müritz und später zum Bahnhof und nach Rostock fuhr, hatte er sich aus tauglichen Einzelteilen zusammenbauen und die tauglichen Einzelteile selbst finden und im Notfall verdienen sollen. Er hatte verdient, indem er den ersten Feriensommer von früh bis spät Heu gewendet hatte. Danach konnte er es, er hatte Onkel und Tante bewiesen, dass er sich nützlich machen konnte. Das war gut so. Auch sollte er nicht viel essen, aß er einmal zuviel, wurde gesagt: Der frisst uns noch alle Haare vom Kopf. Immer wieder hatten Onkel und Tante die Hoffnung geäußert, dass jemand kommen und Peter holen werde, die Mutter, vor allem die Mutter sollte kommen, hatte die doch damals ihre Adresse angegeben. Onkel Sehmisch, Gelbensande. Einfach so, ohne zu fragen. Aber sie blieb lange verschollen. Auch der Bruder hätte sich mal blicken lassen können, der Bruder, der inzwischen mit seiner neuen Lebensgefährtin am Markt in Braunfels bei Wetzlar residierte, vornehm im Westen. Da war man wer und hatte keine Zeit für so ein Balg. Noch einer zum Füttern, so hatte man Peter in den ersten Jahren auf dem Hof genannt.
Woher kommt sie, kommt sie aus dem Westen? Peter wusste, dass seine Frage den Onkel nur zu neuem Ärger reizen würde, aber er wollte es wissen, er wollte wissen, woher sie kam.
Papperlapapp, Westen. Lebt in der Nähe von Berlin. Will dich mal sehen, pff. Der Onkel rümpfte die Nase und blickte Peter nicht an. Die Tante hat gleich geschrieben, ob sie dich zurückhaben will. Haben wir sie gefragt. Von wegen. Zurückhaben. So wären ihre Verhältnisse nicht, pff, lebt ganz bescheiden mit ihrer Schwester in einer Einzimmerwohnung, arbeitet viel. Pff. Der Onkel bückte sich. Und arbeiten wir nicht alle viel? Hier, Peter, pack mal an. Peter hob den Trog an, der Onkel hob ihn am anderen Ende in die Höhe, gemeinsam trugen sie den Trog in den hintersten Stall, wo in diesen Tagen die stallälteste Sau werfen sollte.
Peter wusste jetzt, dass sie aus der Nähe von Berlin kam. Sie hatte keinen Mann, sie wollte ihn trotzdem nicht zurück. Nur sehen wollte sie ihn mal. Peter spürte, wie er die Lippen aufeinanderpresste, mit den Zähnen die spröde Haut löste, weichte, knabberte und abzog. Was fiel ihr nur ein? Nach all den Jahren. Er ließ sich nicht nur mal sehen, in gar keinem Fall. Sollte sie ruhig kommen.
Der Onkel holte die Mutter am Morgen vom Bahnhof Gelbensande ab, sie sollte mit dem Zug über Rostock eintreffen. Der Onkel fragte, ob Peter ihn zum Bahnhof begleiten wolle, aber die Tante sagte, die Sau habe in der Nacht geworfen, einer müsse sich um die Ferkel kümmern. Die Sau hatte zu viele Ferkel geworfen, es fehlten zwei Zitzen und die zwei überzähligen Ferkel drohten totgebissen zu werden oder zu verhungern, weil jedes einzelne Ferkel eifersüchtig über seine Zitze wachte. Peter ging gerne in den Stall, er kniete sich neben die liegende Sau und suchte unter den saugenden Ferkeln das kräftigste aus. Die hellen Borsten der Sau waren entlang der Milchleiste seltsam weich, ihre Zitzen waren unterschiedlich gefüllt, manche groß und knotig, andere klein und lang. Die Ferkel machten ihre Augen noch gar nicht auf. Peter zog das kräftigste Ferkel von seiner Zitze weg, es quietschte, als wollte man es erstechen. Er würde es eine Weile auf dem Arm tragen, so dass eines der zwei Schwachen in der Zeit an seiner Zitze liegen konnte. Mit dem Ferkel im Arm stapfte Peter durch das Stroh. Er kletterte die schmale Leiter hinauf zum Heuboden. Dort war es trocken und warm, noch wärmer als unten. Hier versteckte sich Peter manchmal, zum Träumen und Lesen. Durch die Ritze der Dachluke konnte man gut den ganzen Hof überblicken. Von hier oben war das Tor zu sehen, die Einfahrt, der Anfang der Pappelallee. Er nahm sein Klappmesser aus der Hose und ritzte in den schon reich verzierten Rahmen eine kleine Kerbe, noch eine, ein Muster, ein Ornament. Es dauerte nicht lang, bis es knatterte und der kleine Lastwagen in Peters Blickfeld erschien. Der Onkel stieg aus, öffnete das Tor, stieg wieder ein, fuhr auf den Hof und stieg wieder aus, um das Tor zu schließen. Hasso schlug an und sprang am Onkel hoch. Er war ein gutmütiger Schäferhund, scharf genug, um den Hof zu bewachen. Den letzten Hund, einen großen Mischling, den Peter sehr ins Herz geschlossen hatte, hatte der Onkel einschläfern lassen, weil er nicht laut genug angeschlagen hatte. Die andere Tür des Wagens öffnete sich und eine junge Frau stieg heraus. Von hier oben sah sie aus wie ein Mädchen, die schlanken Beine unter dem Rock, der modische Mantel im Pepitamuster, das blaue Kopftuch. Peter erkannte ihre blonden Haare wieder, die so hell schienen, als seien sie weiß geworden. Ihre vertraute Gestalt, wie sie ging, wie sie einen Fuß vor den anderen setzte, Peter bekam eine Gänsehaut. Sie trug ein kleines Täschchen und ein Einkaufsnetz in der Hand. Zögerlich blickte sie sich um. Vielleicht hatte sie ihm ein Geschenk mitgebracht. Wie alt mochte seine Mutter jetzt sein? Peter rechnete schnell, sie musste siebenundvierzig sein. Siebenundvierzig! Immerhin, sechs Jahre jünger als Onkel und Tante. Das Ferkel auf Peters Arm quietschte. Peter beobachtete, wie der Onkel mit der Mutter im Haus verschwand. Gewandt stieg Peter die Leiter hinunter und brachte das Ferkel zurück.
Peter! Das war die Stimme des Onkels. Er musste vor die Tür getreten sein, um nach Peter zu rufen. Peter hielt still, er antwortete nicht. Reinkommen, Kaffee trinken!
Noch nie hatte der Onkel ihn zum Kaffeetrinken gerufen. Nur heimlich hatte Peter sich einmal etwas aus der Kanne eingegossen und den Kaffee mit viel Milch und Zucker gekostet.
Peter wartete, bis er nur noch das Schnaufen und Atmen der Tiere hörte, und kletterte wieder hinauf in sein Versteck. Durch die Ritze konnte er das Haus sehen, über die Eingangstür ragte ein hölzernes Dach, mit Bänken links und rechts, wo man sich die Gummistiefel ausziehen und in die Holzpantinen steigen konnte. Wenn es kalt war wie jetzt, dann legte Hasso sich auf die Bohlen zwischen die Schuhe und Bänke. Er fraß gerne an den Schuhen, das war sein einziges Laster, es wurde ihm verziehen, weil er so gut anschlug. Peter konnte durch die Ritze der Dachluke Hassos Schwanz erkennen, der in regelmäßigen Abständen auf die Bohlen schlug. Dann beobachtete er, wie Hasso aufsprang und mit dem Schwanz wedelte. Der Onkel erschien unter dem Vordach und brüllte: Peter!
Schon an dem vereinzelten Ruf seines Namens war erkennbar, dass Rücksicht auf den Besuch genommen wurde. Niemals wäre der Onkel sonst so geduldig, würde seinen Namen rufen, anstatt zu fluchen, über den Lümmel, und wo der schon wieder steckt. Peter musste lächeln. Gleich würde sie unter dem Dach erscheinen. Womöglich würde sie seinen Namen rufen? Peter spürte seine Erregung. Er würde sich nicht zeigen, niemals. Peter! Sollten sie nur rufen, auf ihn warten, hoffen, dass er käme. Mit einer Hand tastete Peter nach seiner Hose, überall an seiner Hose hing Heu und Stroh.
Wart nur, hörte er den Onkel zum Hund sagen, dem werd ich Beine machen. Peter musste mal, aber er wollte seinen Platz nicht verlassen, er wollte sie sehen, wie sie unter dem Dach erscheinen und nach ihm Ausschau halten würde.
Wo ist Peter? Hörte Peter den Onkel fragen. Fass, Hasso, fass. Der Onkel schlug sich ungeduldig auf den Oberschenkel. Gewiss hatte die Tante drinnen schon die Kartoffeln aufgesetzt. Die Mutter sollte zum Mittag bleiben. Die Tante wollte Kohlrouladen machen. Peter hatte vorgeschlagen, sie solle Saure Heringe machen. Er dachte sich, seine Mutter habe die genauso gern gemocht wie er. Rollmöpse und Saure Heringe. Aber die Tante mochte keinen Fisch. Sie wohnten acht Kilometer von der Küste entfernt und die Tante hatte ihr Lebtag keinen Fisch gegessen. Also gab es nie einen. Peter musste daran denken, wie seine Mutter ihm früher öfter einen Fisch zubereitet hatte. Wacholder, das Wort kam ihm in den Sinn. Was für ein schönes Wort. Er sprach es laut: Wacholder. Das waren so kleine schwarze Beeren, mit denen seine Mutter den Fisch gegart hatte. Peter hatte gerne an ihren Händen gerochen; selbst, wenn sie den Fisch ausgenommen und gegart hatte, dufteten ihre Hände wunderbar. Vielleicht konnte er ihn eines Tages vergessen, den Geruch seiner Mutter. Erst gegen vier Uhr sollte ihr Zug von Gelbensande über Rostock zurück nach Berlin gehen. Hasso wedelte mit dem Schwanz. Offensichtlich nahm er den Suchbefehl des Onkels nicht ernst.
Peter holte sein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte seine Hände ab. Er musste sich häufig die Hände abwischen, mehrmals am Tag. Die anderen Jungen in der Schule erzählten, man werde unfruchtbar davon. Das war gut. Peter konnte sich nicht vorstellen, selbst einmal Kinder zu zeugen. Jetzt erschien seine Mutter unter dem Vordach. Sie trug das Kopftuch nicht mehr, und auch den Mantel hatte sie drinnen wohl abgelegt. Ihr Haar war hochgesteckt. Sie musste frieren. Peter sah, wie sie ihre Arme verschränkte und unschlüssig auf der kleinen Treppe unter dem Vordach stehen blieb. Vor ihrem Gesicht stand weiß ihr Atem. Ein schönes Gesicht hatte sie. Ebenmäßig und groß. Ihre gewölbte, hohe Stirn, die schmalen Augen, von denen Peter noch genau wusste, wie hell sie leuchteten, so hell wie die Ostsee im Sommer. Der Onkel war in den Hof getreten und forderte Hasso auf, nach Peter zu suchen. Such, Hasso, such. Peter sah, wie der Onkel auf den Stall zuging, schließlich hatte man Peter heute Morgen ja gesagt, er solle auf die Ferkel aufpassen. Der Onkel verschwand aus dem Blickfeld und Peter hörte die Tür unter sich. Vorsichtig und leise zwängte er sich zwischen die Strohballen. Er hörte, wie der Onkel seinen Namen rief, und dann hörte er ein Klappern, ein Rumsen, als stampfe der Onkel mit dem Fuß und stoße einen Eimer um, das Quietschen der Ferkel, als trete er sie.
Die Schritte des Onkels führten unten durch den Stall, vielleicht vermutete er Peter hinten bei den Kühen. Noch einmal drang sein Name zu ihm herauf, dumpf durch das Stroh. Hasso bellte, diesmal nur kurz und weit weg.
Nachdem die hintere Stalltür zugefallen war und die Luft sauber schien, kroch Peter aus seinem Versteck. Die Ritze gab den Blick auf das Vordach frei, auf Hasso und den Onkel. Die Mutter war bestimmt wieder hineingegangen, in die Wärme. Ob sie etwas fragte, sich nach ihm erkundigte? Vielleicht war sie stolz, dass er auf die Oberschule ging. Onkel und Tante sprachen ungern darüber, sie hatten sich aber nicht getraut, dem Lehrer und seiner Empfehlung zu widersprechen. Na meinetwegen, hatte der Onkel nach dem Gespräch in der Schule gesagt. Solange Peter auf dem Hof half, sollte er noch zur Schule gehen. Peter wusste schon, wohin er später wollte. In Potsdam bei Berlin war vor wenigen Wochen eine Filmhochschule eröffnet worden, er hatte in der Zeitung darüber gelesen. Im Radio war eines Sonntags ein langer Bericht gekommen, dass man junge, talentierte Menschen ausbilden wolle. Wer weiß, vielleicht war er so einer. Sie würden sich noch alle umschauen, der Onkel und die Tante, der Vater und die Mutter.
Unten im Stall ging ein Schnattern und Flattern durch die Gänse. Jemand musste sie aufgescheucht haben, Gänse schnatterten nicht einfach so drauflos. Nur wenn sie Hunger hatten oder jemand sie ängstigte. Peter wäre gerne hinuntergestiegen und hätte nachgesehen, aber es war zu gefährlich. Drüben aus dem Schornstein stieg Rauch auf. Es war Mittagszeit, Peter hatte Hunger. Essen, rief diesmal die Tante unter dem schmalen Dach hervor, Peter, essen kommen!
Es war ihm eine Lust, dem Hunger und dem Angesicht der Mutter zu widerstehen, eine unbändige, eine zwingende, eine süß schmerzhafte Lust. Peter stellte sich vor, wie sie beim Essen saßen, der Onkel schimpfend, die Tante verlegen und nur leise fluchend, die Mutter schweigend. Ob die Mutter auf der Kü chenbank saß, die ihm nachts als Bett diente? Gewiss würde sie nicht fragen: Wo schläft er denn? So etwas fragte sie nicht, sie musste dankbar sein, dass er die letzten Jahre hier hatte wohnen dürfen. Einmal hatte Peter gehört, wie Onkel und Tante nachts um Geld gestritten hatten, es hatte geklungen, als schicke sein Vater hin und wieder Geld für ihn. Aber Peter wusste davon nichts; was er wusste, war, dass er sich sein Bleiben verdienen sollte, und er verdiente es sich, sein Bleiben und die Zeit, die er auf dem Hof fehlte, wenn er zur Schule ging. Wie sie wohl von ihm sprach? Sagte sie mein Peter, sagte sie einfach nur Peter, oder gar der Junge? Vielleicht sprach sie gar nicht von ihm. Vielleicht schwieg sie. Sie mochte nicht verstehen, warum er nicht auftauchte. Es konnte ihr peinlich sein, dass ihr Sohn so ungezogen war und sie nicht sehen wollte. Sollte es sie peinigen. Peter stemmte die Faust auf die Beule in seiner Hose, er drückte sich, er boxte sich zärtlich. Sie sollte abhauen, die Mutter da unten, sie sollte endlich gehen. Begriff sie nicht, dass sie umsonst wartete? Sie würde ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen, jetzt nicht, heute nicht, und nie mehr. Sollte sie ihre blonden Locken aus der Stirn streichen, ihre weißen Schürzen waschen und zu irgendeiner Schwester in die Nähe von Berlin zurückfahren. Weg mit ihr, nur weg!
Peter starrte durch die Ritze in der Fensterluke. Große und weich wirkende Flocken taumelten in der Luft. Man konnte nicht sagen, dass sie fielen, sie schwebten, sie tanzten aufwärts und östlich und blieben auf den buckligen Steinen unten im Hof liegen. Wie oft hatte er sich als Kind vorgestellt, dass er von Onkel und Tante weglaufe, hinaus auf den Acker, in den Schnee. Dass er sich dort in den Schnee legen und einfach warten würde, bis das Atmen aufhörte. Aber damit war es jetzt vorbei, den Gefallen würde er ihnen nicht tun, er wollte sie warten und zappeln lassen und einfach allein seiner Wege gehen. Er brauchte niemanden.
Hasso bellte und lief zum Tor, er wedelte mit dem Schwanz. Jemand mit einem Fahrrad und einem Milchkübel am Lenker öffnete das Tor und wischte sich die Schneeflocken aus dem Gesicht. Sie trug ihren roten Anorak, Bärbel. Bärbel war etwas Besseres, etwas viel Besseres. Zumindest glaubte sie das. Ihre Eltern schickten sie am Wochenende herüber, damit sie Milch holen kam. Bärbel war so alt wie Peter, sie lernte schon Verkäuferin in Willershagen. Im Sommer sah er sie manchmal in Graal-Müritz am Strand. Peter wurde es nur selten gestattet, mit dem Fahrrad durch die Rostocker Heide an die Küste zu fahren. Dabei ging das schnell. Manchmal fuhr er, ohne um Erlaubnis zu bitten. Am Strand konnte man die Mädchen und Jungen sehen, sie waren fast nackt. Auch Bärbel. Bärbel glaubte, dass ihr die Welt gehörte, weil der Strand und die Sommergäste ihr zu Füßen lagen. Niemand sah, wie sie jetzt im Winter mit ihrem Milchkübel über den Lenker auf den Hof kam und ausrutschte. Sie rutschte wirklich aus, sie fiel der Länge nach hin, das Fahrrad mit ihr, und Hasso bellte und wedelte mit dem Schwanz. Der Onkel erschien unter dem Vordach. Er konnte nicht wissen, wie Bärbel im Sommer am Strand aussah, weil er nie zum Strand fuhr. Trotzdem mochte er Bärbel und wollte nicht, dass Peter oder die Tante Bärbel die Milch abfüllten. Das wollte der Onkel lieber allein machen. Bärbel war eine blöde Pute. Sie hatte zu Peter gesagt, er sei ein Spätentwickler. Sie hatte recht, mit allem, was sie sagte, hatte sie recht.
Peter hörte, wie die Stalltür unter ihm geöffnet wurde. Abgehauen, hörte er den Onkel zu Bärbel sagen. Ausgerechnet heute. Ist das zu fassen. Bärbel kicherte. Bärbel kicherte meistens, wenn sie mit dem Onkel in den Stall ging. Sie kicherte auch auf dem Fahrrad und im Geschäft, wo sie als Lehrling schon an der Kasse stehen durfte, dort kicherte sie auch und stöhnte, wenn Peter fragte, wann es wieder echten Bienenhonig gebe.
Peter lauschte unter sich. Der Onkel und Bärbel sprachen jetzt leise. Sie wisperten. Vielleicht sprachen sie auch gar nicht. Peter hörte die Milch aus dem großen Tank in Bärbels Kübel fließen. Dann hörte er die Stalltür und sah durch die Ritze, wie Bärbel dem Onkel die Hand gab, das Tor öffnete und ihr Fahrrad hinausschob. Der Onkel ging zum Haus zurück. Er drehte sich noch einmal um, zum Tor, dorthin, wo Bärbel jetzt das Tor schloss. Hasso stand vor dem Onkel, die Ohren aufgerichtet schlug er mit dem Schwanz und winselte. Gewiss roch er die Kohlrouladen, er konnte hoffen, dass etwas für ihn übrig geblieben war. Der Onkel schaute in verschiedene Richtungen. Er rief nicht mehr nach Peter, man konnte ja nicht wissen, dass er nur vorübergehend verschwunden war, gar nicht richtig. Es wurde blau und dunkler. Novembernachmittagdunkel; Zeit für die Mutter. Vielleicht waren es nur die Schneewolken, die den Abend ankündigten. Womöglich freute sich der Onkel schon, war erleichtert, dass Peter endlich fort war. Abgehauen. Gewiss wurde der Onkel wütend, wenn Peter am Abend auftauchen und seinen Schlafplatz auf der Küchenbank begehren würde. Auch noch Ansprüche. Das würde der Onkel sagen.
Was hatte sich die Mutter vorgestellt? Sie wollte ihn sehen, und dann? Wollte sie ihn womöglich um Verzeihung bitten, sollte er ihr vergeben? Er konnte ihr nicht vergeben, niemals würde er ihr verzeihen können. Das stand gar nicht in seiner Macht, selbst wenn er es gewollt hätte, er konnte nicht. Was wollte sie entdecken, wenn sie ihn sah? Mutig war sie. Kam jetzt, nach so vielen Jahren. Einfach so. Seinen siebzehnten Geburtstag hatte sie sich dafür ausgesucht. Den verbrachte er jetzt in seinem Versteck auf dem Heuboden. Er klemmte mit dem Auge an der Ritze, um nicht zu verpassen, wenn sie ging. Die anbrechende Dunkelheit erschwerte die Sicht. Die kleine Lampe an der Eingangstür war angegangen. Hinter dem Küchenfenster leuchtete Licht. Peter fror nicht. Nur der Hunger kam wieder auf. Peter kletterte leise die Leiter hinunter und schlich zum Milchtank. Die Dunkelheit hinderte ihn nicht, hier im Stall kannte er sich aus. Er öffnete den Hahn und trank. Das Schmatzen und leise Fiepen der Ferkel klang wohlig. Keines schrie und quietschte, vielleicht waren die zwei überzähligen schon tot. Draußen bellte Hasso kurz auf, Peter wischte sich mit dem Ärmel die Milch vom Mund, er musste sich beeilen; er wollte es nicht verpassen, wenn sie ging. Hastig stieg er die Leiter wieder hinauf. Er nahm seine Stellung an der Ritze ein und starrte hinaus in den dunkelblauen Hof. Im Stroh über den Tieren war es warm. Er hatte in die Ecke gepinkelt, vorhin, als er musste. Was war ihm anderes übriggeblieben? Hier im Stall konnte es keiner bemerken, niemand roch es. Peter pinkelte gerne ins Stroh. Was gab es Schöneres, als in Stroh zu pinkeln? Er pinkelte in hohem Bogen, so weit er konnte.
Vom Hof her hörte er Stimmen. Ob sie noch manchmal lächelte? Wenn sie gelächelt hatte, hatten sich Grübchen in ihren Wangen gebildet. Die hatte Peter im Gedächtnis, ihre Grübchen. Sie hatte selten gelächelt. Peter kniete sich an die Ritze. In der blauen Stunde sah er seine Mutter, wie sie über den dünnen Teppich frisch gefallenen Schnees lief, sie band sich ihr Kopftuch um und öffnete die Wagentür. Was war ihm von seiner Mutter geblieben? Peter musste an den Fisch denken, den komischen Fisch aus Horn. Niemand wusste etwas mit dem Fisch anzufangen, der Onkel nicht, die Tante nicht. Peter hatte den Fisch lange betrachtet, jeden Abend, er hatte ihn geöffnet und ihm in den Bauch geschaut, aber da war nichts, nur ein Hohlraum. Die Mutter dort unten hatte ihr Kopftuch zugeknotet. Von hier oben sah es nicht so aus, als lächele jemand, und die Abschiedsworte mussten kurz und knapp sein. In der Hand trug die Mutter ihr Täschchen und das Einkaufsnetz. Sollte sie das Geschenk wieder mitgenommen haben? Vielleicht hatte sie an kein Geschenk gedacht, und es war lediglich Proviant für die Reise, den sie in dem Netz trug. Peter war der Hohlraum im Bauch des Fisches unheimlich gewesen. Vielleicht war es drei Jahre her, vielleicht erst zwei, da hatte er den Fisch mit zur Küste genommen und ihn dort ins Meer geworfen. Blöder Fisch, er wollte nicht untergehen, er schwamm auf den Wellen. Die Krümmung des Horizonts, die gefiel Peter. Man konnte sie besonders gut von der Steilküste im Osten sehen, vom Fischland aus. Vielleicht war der Rücken der Mutter etwas gekrümmt? Ganz leicht nur, so, als gräme sie sich. Sie sollte sich grämen, Peter wünschte es sich. Er konnte sich nichts anderes denken, als dass sie sich grämte. Aber das sollte ihm gleichgültig sein, nur eines wollte er ganz sicher: Er wollte sie sein Leben lang nicht mehr sehen. Peter sah, wie die Mutter den Griff der Tür festhielt und hinaufstieg, in den Wagen. Der Onkel schloss ihre Tür und ging hinüber zur anderen Seite, um selbst einzusteigen. Peter hörte den Wind in den Pappeln. Die Tante öffnete die Pforten des Tors. Der Motor wurde gezündet, der kleine Lastwagen fuhr eine Schleife über den Hof und zur Ausfahrt hinaus. Die Tante sprach mit Hasso, sie schloss das Tor. Peter legte sich auf den Rücken. Das Stroh kitzelte ihn im Nacken. Die Dunkelheit besänftigte, er war ganz ruhig.