Kein schönerer Augenblick als dieser

Im Winter nach dem Tod des Vaters fror die Spree vom Ufer her zu, bis im Januar die Eisschollen so dicht saßen, dass es eine Mutprobe für die Jungen der Stadt war, auf ihnen den Fluss zu überqueren. Für Helene galt das Schauspiel als Hinweis auf die Wahrheit der Bibel. Konnte nicht auch in der Wüste das Wasser gefrieren und war es nichts als ein zeitlicher Hinweis, wann es war, dass Jesus über das Wasser ging? Aus den Schornsteinen quoll in der Frühe Rauch, seine Schwaden hüllten die auf dem Granitfelsen liegende Stadt ein. Nur die Spitze des Lauenturms, der Petridom und der schiefe Reichenturm ragten in den Morgenstunden aus dem weithin sichtbaren Bautzener Nebel. Selbst die hohen Mauern der Ortenburg und die Alte Wasserkunst waren in Dunst getaucht. In den meisten Häusern ging das Brennholz Ende Januar aus, und wo das Geld fehlte und die Lieferung von Kohle auf sich warten ließ, zerhackten die Menschen kleinere Möbelstücke, Schemel und Bänke, Gartenmöbel, solche, die ihnen mitten im Winter unnütz erschienen. Martha und Helene sahen, wie ihre Barschaften schwanden. Kaum konnten sie einen Kalender oder eine Ansichtskarte verkaufen, wollte das eingenommene Geld umgehend ausgegeben werden. Nie war das Brot so teuer wie morgen. Sie wollten einen Pächter für die Druckerei finden, doch alles Werben und Suchen war vergeblich. Die Fabriken unten am Fluss entließen ihre Arbeiter, wer konnte, floh nach Breslau, Dresden oder Leipzig; jede größere Stadt versprach bessere Möglichkeiten, an Essbares und eine beheizte Bleibe zu gelangen.

Helene räumte die Lagerräume und die Regale im Werkraum auf. Auf den oberen Brettern lag dicker Staub und eine Vielzahl kleinerer Druckvorlagen, die niemand mehr benötigen würde. In den unteren Fächern hatte Helene in den vergangenen Jahren Papiere gestapelt, aber vieles davon war in den letzten Wochen in die Öfen gewandert. Ein kurzes Brennen war besser als gar keins. Sicherlich würden die langen Bretter des hohen Regals gut heizen. Man musste ja nicht gleich das ganze Regal auseinandernehmen. Nur das Holz der oberen beiden Fächer wollte Helene verwenden. Die Bretter waren fest in den Stütz pfosten verankert. Das Regal streckte sich an der Längswand vom Boden bis zur Decke und von der hinteren Ecke bis nach vorne zur Tür und darüber hinweg. Es würde noch groß genug sein, wenn die obersten Bretter fehlten. Mit einem Hammer in der Hand stieg Helene auf die Leiter. Eine Pappe war hinter das Regal gerutscht und klemmte dort zwischen einem Brett, der Wand und dem Pfosten. Helene beugte sich vor, hielt sich mit einer Hand an dem Regal fest und wollte die Pappe herausziehen. Mit dem Hammer wollte sie sodann das oberste Brett aus seiner Verankerung schlagen. Die Pappe klemmte fest. Helene tastete an der Wand entlang und versuchte, die eine Ecke der Pappe hinter dem Pfosten zu lösen, als sie etwas Bewegliches, Metallisches spürte. An der Rückseite des äußeren Stützpfos tens ertastete sie den Gegenstand, sie löste ihn und fand in ihrer Hand einen Schlüssel. Er hatte etwas Rost angesetzt, aber Helene wusste sofort, um welchen Schlüssel es sich handelte. Seine Form und seine ungewöhnliche Verzierung am Kopf waren ihr vertraut. Selbst sein Gewicht kam ihr bekannt vor — dabei hatte sie ihn nie zuvor in der Hand gehalten. Ein wenig kleiner wirkte er, als wäre er geschrumpft. Helene erinnerte sich gut, wie vor dem Krieg zum Feierabend der Vater die Kasse geleert hatte, den Schlüssel in der Hand, und mit den Händen voller Geld in den hinteren Raum gegangen war, wo er die Tür zum großen Schrank öffnete. Obwohl Helene sich schon beim Öffnen der Kasse zur Tür wandte, zwinkerte er ihr jeden Abend mit dem später fehlenden Auge zu und sagte: Hältst du an der Tür Wache? Und wenn jemand kommt, dann pfeifst du. Manchmal sagte Helene: Mädchen sollen nicht pfeifen. Dann fragte er lächelnd zurück: Ja, bist du denn ein Mädchen? Und einmal sang er hinter der geöffneten Schranktür hervor jenen Vers, den er ihr schon ins Album geschrieben hatte: Sei wie das Veilchen im Moose, sittsam, bescheiden und rein, nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein. Dann veränderte er seinen Tonfall, drohend, fast beschwörend flüsterte er: Aber jedes Mädchen muss pfeifen können, merk dir das.

Helene wusste, dass sich in der Rückwand des Schrankes die Tür zum Tresor befand. In den Jahren der Abwesenheit des Vaters fand sich der Schlüssel nicht, und nach seiner Rückkehr hatte die Gelegenheit gefehlt, ihn nach dem Schlüssel zu fragen. Helene liebte ihren Vater, wenn er ihr über das Haar strich und ihren Kopf an sich zog wie den seines großen Hundes, wollte sie die gefundene Geborgenheit um keinen Preis mehr verlassen, sie verharrte still, bis der Vater sie mit einem freundlichen Klaps hinauf in die Küche oder auf die Straße schickte. Trotzdem der Spruch vom Veilchen Helene nicht gefiel. Sie mochte den süßen Duft von Veilchen und auch ihr zartes Äußeres, aber mindes tens ebenso gefiel ihr der aufrechte Wuchs von Rosen, die Stacheln, mit denen sie sich schützten, ihre leuchtenden Farben, das aufbrechende Rosa, ein Gelb wie das späte Sonnenlicht im Oktober, und besonders liebte Helene das Lied von Maria, die durch den Dornwald ging. Leontine hatte es ihnen beigebracht, ehe sie nach Berlin gegangen war. Erwiesen die Dornen Maria nicht alle erdenkbare Ehrfurcht, ja Hingabe, indem sie blühten? Alles an der Rose erschien Helene wenn nicht beneidens-, so zumindest bewundernswert. Nur aus Achtung für ihren Vater versuchte sie, dem Gleichnis der Blumen mit Mädchen etwas abzugewinnen, doch es blieb bei dem Versuch. Im Garten vor dem Haus hegte Helene seit dem vergangenen Jahr Rosen, keine Veilchen. Sie züchtete die Rosen nicht, sie hegte Wildlinge, die sie am Hang des Schafberges gefunden und ausgegraben hatte.

Als Helene nun gemeinsam mit Martha zum ersten Mal den Tresor öffnete, fanden sie alte Geldscheine in mehreren Stapeln geordnet, die zusammengerechnet gut zweitausend Mark ergaben und Martha und Helene lächeln ließen. Was hatte man damit wohl vor Jahren kaufen können? Ein ganzes Brot vielleicht, vielleicht ein halbes. Wenigstens ein halbes Pfund. Zweitausend Brote, behauptete Martha. Sie entdeckten ein ledernes Adressbuch, dessen Schnitt golden angemalt war, und eine Mappe mit ungeordneten Lithographien verschiedenster Größe und dem Druckbild nach unterschiedlicher Herkunft. Auf den Lithographien waren nackte Frauen zu sehen. Füllige Frauen, solche, die ihnen selbst und ihrer Mutter sehr unähnlich waren. Frauen in Strümpfen und Frauen mit Schleiern und Korsagen, aber auch Frauen, die einfach gar nichts auf dem Leib trugen.

Gemeinsam machten sich die Schwestern daran, die Namen und Adressen aus dem ledernen Buch auf Briefumschläge zu schreiben. In jeden Umschlag steckten sie eine Todesanzeige. Unter S lasen sie den Namen einer Tante, von der sie noch nie etwas gehört hatten. Dort stand: Fanny Steinitz. Hinter dem Namen hatte der Vater mit der feinen Handschrift eines leidenschaftlichen Buchhalters in Klammern Selmas Base, Tochter des verstorbenen Bruders von Hugo Steinitz aus Gleiwitz vermerkt. Die Adresse lautete Achenbachstraße 21, W 50, in Berlin-Wilmersdorf.

Noch ehe Helene in der folgenden Woche einen Augenblick geistiger Klarheit bei ihrer Mutter abwarten und nutzen konnte, um sie auf ihre in Berlin lebende Cousine anzusprechen, verfasste Helene eigenmächtig einen kurzen Brief. Geehrte Tante, so begann sie den Brief, leider wenden wir uns heute mit einer traurigen Nachricht an Sie, denn unser Vater, der Gatte Ihrer Base Selma Würsich, ist am elften November vergangenen Jahres an den Folgen seiner Kriegsverletzungen gestorben. Unsere Traueranzeige finden Sie anbei. Helene überlegte, ob und in welcher Weise sie sich zum Zustand der Mutter äußern, ihn erklären sollte. Schließlich würde sich die Base wundern, dass sie den Brief von ihren Nichten und nicht von ihrer Base erhielt. Gewiss würde Ihnen unsere Mutter die besten Wünsche senden, doch leider erfreut sie sich in den vergangenen Jahren keiner prächtigen Gesundheit. Mit herzlichen Grüßen, Ihre Nichten Martha und Helene Würsich.

Helene fragte sich, ob die Tante wohl noch unter jener Adresse wohnte. Musste sie nicht im Laufe der Jahre einmal geheiratet haben und heute einen anderen Namen tragen? Natürlich mochte die Tante staunen, weshalb man nach so vielen Jahren einen Kontakt aufnahm — zumal etwas vorgefallen sein musste, das zu dem Verschweigen jener mütterlichen Base aus den erzählten Geschichten der Familie geführt hatte. Doch Helenes Wunsch, diesen Brief zu schreiben, ihre Neugier und die Hoffnung auf eine Antwort aus Berlin ließen sie schnell alle Bedenken beiseite schieben.

Es wurde Ostern, ehe der Postbote einen selten schmalen, gefalteten Umschlag brachte, auf dem ihr Name stand: Fräulein Helene Würsich. Die Tante schrieb mit einer schwungvollen, beinahe auf dem rechten Rücken liegenden Schrift, die obere Schleife ihres Hs lag sanft auf dem feingestrichelten e. Das sei ja eine ungeheure Überraschung! Nach diesem Ausruf ließ die Tante zwei Zeilen frei. Schon lange habe sie nichts von ihrer verrückten Cousine gehört. Es freue sie aufrichtig, dass es mit den Jahren offenbar zwei Kinder gebe, denn ihr Kontakt sei nach der Geburt des ersten Kindes, Martha, abgerissen. Sie habe sich schon gefragt, ob ihre Cousine wegen früherer Streitigkeiten den Kontakt verweigere oder gar im Kindbettfieber gestorben sei. Im Postskriptum fragte Tante Fanny ihre Nichten, ob deren Mutter ernstlich erkrankt sei.

Ein Briefwechsel begann. Über die Mutter sei wenig zu berichten, da es ihr seit Jahren nicht gut gehe und wohl kein Arzt ihr helfen könne. Helene überlegte mit Martha, wie sie den Zustand ihrer Mutter beschreiben konnten. Eine schlechte Verfassung sagte wenig, zumal der Mutter organisch nichts fehlte. Ihnen fiel die Mittagsfrau ein, von der das Mariechen von Zeit zu Zeit sprach. Mit einem merkwürdigen Lächeln bemerkte das Mariechen dann, ihre Dame, wie sie die Mutter nannte, weigere sich einfach, mit der Mittagsfrau zu sprechen. Da könne man nichts machen, sagte das Mariechen und zuckte die Schultern. Dabei müsse die Dame nichts weiter tun, als der Mittagsfrau eine volle Stunde lang von der Verarbeitung des Flachses zu erzählen, nichts sonst. Das Mariechen blinzelte. Nur ein wenig Wissen weitergeben. Martha und Helene kannten die Geschichte von der Mittagsfrau, solange sie denken konnten, es lag etwas Tröstliches in ihr, weil sie nahelegte, dass es sich bei der mütterlichen Verwirrung um nichts anderes als einen leicht zu verscheuchenden Fluch handelte. Da kann man nichts machen, sagte das Mariechen dann wieder und zuckte mit den Achseln, ihr Lächeln verriet, dass sie sich ihrer Mittagsfrau sicher war und nur ein winziges Mitleid für ihre ungläubige Dame empfand. Andererseits gehörte ihr ihre Dame auf diese Weise, unentrinnbar, ihr und ihrem Glauben. Doch Martha und Helene unterließen es, der Berliner Tante von der Mittagsfrau zu schreiben, sie wollten vermeiden, dass die Tante sie mit jenem ländlichem Volksglauben in Verbindung sah und ihnen Einfalt unterstellte. Also beließen sie es bei einer sachlichen Schilderung: ein unerklärliches Leiden, eine Seelenqual, deren Ursache schwer bestimmbar und deren Behandlung wohl unmöglich sei.

Ach, das würde sie nicht verwundern, schrieb Tante Fanny zurück, solche Leiden lägen in der Familie, und sie erkundigte sich, wer denn jetzt für die Mädchen sorge.

Sie sorgten selbst für sich, sagte Martha stolz und bat Helene, das zu schreiben. Alle beide. Helene sollte der Tante nur berichten, dass sie nach gerade zwei Jahren im September als jüngste Schwesternschülerin ihre Prüfung bestehen werde. Schon jetzt helfe sie in der Wäscherei des Krankenhauses und verdiene dabei etwas, so dass ihrer beider Einkommen für ihren bescheidenen Lebensunterhalt langten. Die Reste des elter lichen Vermögens konnten bislang die Mutter, das Haus und das treue Mariechen unterhalten, gerade so.

Helene zögerte. Wäre es nicht besser, von einem spärlichen Vermögen zu schreiben?

Warum? Ein Vermögen kann nicht spärlich sein. Es war beträchtlich, Engelchen.

Aber jetzt ist alles weg.

Muss sie das erfahren? Wir sind doch keine Bettler.

Helene wollte Martha nicht widersprechen. In Marthas Stolz lag eine Unbezwingbarkeit, die Helene gefiel. Helene schrieb weiter. Die Druckerei haben wir nicht verpachten, wohl aber einige der Maschinen verkaufen können. Auch die Monopol müssen wir nun verkaufen, da die im Wert zerfallenden Barschaften sich ihrem Ende neigen und von der Breslauer Erbschaft keine Nachricht kommt. Ob Tante Fanny etwas von dem verstorbenen Onkel wisse, dem Hutmacher Herbert Steinitz mit seinem großen Salon, den er zuletzt in Breslau am Ring geführt haben soll.

So was, der Hutmacher, schrieb Tante Fanny zurück. Der betuchte Onkel mochte nur einen Menschen auf der Welt, das sei ihre sonderbare Cousine Selma gewesen. Gewiss habe er alles allein ihr vermacht. Aber die Bekanntschaft zu diesem Onkel habe sie selbst wahrlich nie gepflegt. Vielleicht sollte sich das nachträglich ändern lassen? Immerhin, das Ansehen des Onkels beziehe sich ausschließlich auf sein Vermögen. Sie könne ihre Brüder nach ihm fragen, von denen einer noch in Gleiwitz, der andere in Breslau lebe.

Es sollte Herbst werden, ehe Martha und Helene die Erbschaft für ihre Mutter erhielten. Es waren dies ständige Mieteinnahmen aus einem Wohn- und Geschäftshaus, das der Onkel in Breslau hatte bauen lassen, als auch einige Wertpapiere, die kaum noch einen Wert besaßen, und schließlich ein großer, nagelneuer Schrankkoffer, der an einem der ersten kühlen Tage Ende September von einem Fuhrwerk gebracht wurde.

Der Fuhrmann erklärte, der Schrankkoffer sei so leicht, dass er ihn gern allein die Treppe hinauftragen könne.

Es war ein Glück, dass die Mutter in ihrem Schlafgemach das Eintreffen des Koffers nicht bemerkte. So warteten Martha und Helene, bis sich das Mariechen am Abend in seine Kammer zurückgezogen hatte. Mit einem Messer und einem Hammer brachen sie die Plomben und Siegel auf. Ein Duft von Thymian und südländischem Nadelholz schlug ihnen entgegen. Im Koffer befanden sich zwischen Seidenpapier und einer Vielzahl ausgefallener Hüte, die aufwendig mit Federn und Steinen verziert waren, eckige Holzklötzchen, die einen harzigen Geruch ausströmten und zwar glatt geschliffen waren, aber an den Seiten klebten. Auf jeden Hut kam eines der flachen Säckchen aus gelbem Hanf, gefüllt mit getrockneten Kräutern, die wohl Motten abhalten sollten. Unter den Hüten waren zwei merkwürdige, kleine, runde Hüte, die wie Töpfe aussahen und sich eng an die Köpfe von Helene und Martha schmiegten. Am Boden des Koffers lag, eingeschlagen in schweren moosgrünen Samt, eine Menora und ein sonderbarer Fisch. Der Fisch bestand aus zwei verschiedenfarbigen Hörnern, die mit Schnitzereien verziert und kunstvoll zusammengesetzt waren. Seine Augenhöh len, Intarsien aus hellem Horn in dunklem, mochten einst Edelsteine geborgen haben, zumindest glaubte Martha das. In seinem Inneren, dem hohlen Hornleib, fand Helene einen zusammengerollten Zettel. Testament. Ich vermache alles meiner geliebten Nichte Selma Steinitz, geehelichte Würsich in Bautzen. Unterzeichnet war dieser Wille vom Onkel Herbert. Tiefer im Bauch des Fisches versteckte sich eine dünne goldene Halskette mit winzigen durchsichtigen Steinen von bläulichem Rot. Rubine, vermutete Martha. Helene wunderte sich, woher Martha eine Kenntnis von Edelsteinen besitzen wollte. Unwillkürlich ließ Helene die Steine durch ihre Hand gleiten und zählte sie, zweiundzwanzig.

Wir verwahren den Fisch hier in der Vitrine, sagte Martha, sie nahm Helene den Fisch aus den Händen und schloss die Vitrine auf. Sie legte den Fisch in eines der unteren Fächer, die von außen nicht einsehbar waren. Es geschah im stillen Einvernehmen, dass Helene und Martha ihre Mutter nicht fragten, was mit diesem Fisch geschehen sollte. Das Wort Verwahren kennzeichnete möglicherweise einen Zeitraum, der der Lebenszeit der Mutter entsprechen sollte. Sie erzählten ihr nichts vom Fisch, und die beiden modernen Topfhüte ließen sie in ihrem Kleiderschrank verschwinden.

Als Martha eines Morgens mit Helenes Hilfe den Schrankkoffer mit den anderen Hüten, dem Testament und der Menora zur Mutter ins abgedunkelte Schlafgemach erst schob und dann trug, mit vorsichtigen Schritten, von Lichtung zu Lichtung, weil der Boden im Zimmer keinen freien Weg mehr für den großen Koffer ließ, blickte die Mutter erschrocken auf. Wie ein scheues Tier verfolgte die Mutter die Bewegungen ihrer Töchter. Sie trugen den Koffer über einen Haufen Stoffe und Kleider, über zwei Tischlein voller Vasen und Ästchen, Kästchen und Steine, und unzähliger auf den ersten Blick nicht erkennbarer Gegenstände hinweg, stemmten ihn in die Höhe und ließen ihn schließlich am Fußende auf das Bett der Mutter fallen. Martha öffnete den Koffer.

Von dem Onkel aus Breslau, dem Hutmacher, sagte sie und hielt zwei große, mit Strass, Steinen und Perlen reichbesetzte Hüte in die Höhe.

Onkel Herbert, Breslau, bekräftigte Helene.

Die Mutter nickte so eifrig und schaute gehetzt zur Tür, zum Fenster und zurück zu Helene, dass die Mädchen nicht wussten, ob die Mutter sie verstanden hatte.

Nicht die Vorhänge öffnen, herrschte die Mutter Helene an. Sie schnaubte verächtlich, als Helene die Menora auf das Fens terbrett neben den kleineren Leuchter der Mutter stellte. Die Menora der Mutter hatte zum letzten Mal am Tag des Todes ihres Mannes gebrannt, die Mutter hatte nur sechs Lichter angezündet und auf Helenes Frage, warum die Mutter ausgerechnet die mittlere Kerze weggelassen hätte, hatte die Mutter tonlos geflüstert, es gebe kein Hier mehr, ob das dem Kind nicht aufgefallen sei. Helene öffnete das Fenster, als sie plötzlich ein Kichern hinter sich hörte. Die Mutter schnappte nach Luft, etwas musste ihr ungemein komisch erscheinen.

Mutter? Helene versuchte es zuerst mit der Anrede, schließlich gab es Tage, an denen eine Frage völlig umsonst gestellt wurde. Die Mutter kicherte. Mutter?

Plötzlich verstummte die Mutter. Wer sonst? Fragte sie und das Kichern brach wieder aus.

Martha, die schon die Treppe hinunterging, rief nach Helene. Doch als Helene an die Tür gelangte, hob die Mutter von neuem an.

Glaubst du, ich wüsste nicht, warum du das Fenster öffnest? Wann immer du mein Zimmer betrittst, öffnest du es, ungefragt.

Ich wollte einfach…

Du denkst nicht nach, Kind. Du meinst wohl, in meinem Zimmer stinkt es? Ja, ist es das, was du mir zeigen möchtest? Ich stinke? Soll ich dir etwas verraten, Dummerchen? Das Alter kommt, es wird auch über dich kommen, und es macht die Wesen faulen. Ja, schau nur genau hin, so wirst auch du eines Tages faulen. Buhh! Die Mutter sprang in ihrem Bett auf und drohte, auf den Knien schaukelnd, kopfüber vom Bett zu kippen. Dabei lachte sie, das Lachen rollte ihr aus der Kehle, dass es Helene weh tat. Ich verrate dir ein Geheimnis: Wenn du nicht das Zimmer betrittst, dann stinkt es auch nicht. Ganz einfach, ha! Die Mutter lachte nun nicht mehr böse, sondern unbekümmert, erleichtert. Helene blieb unschlüssig stehen. Sie versuchte, über den Sinn der Worte nachzudenken. Was ist? Troll dich, oder möchtest du mich stinken lassen, du Unbarmherzige?

Helene ging.

Und schließ die Tür hinter dir! Hörte sie die Mutter in ihrem Rücken rufen.

Helene schloss die Tür. Sie legte ihre Hand auf das Geländer, als sie die Treppe hinunterging. Wie vertraut ihr das Geländer erschien, fast empfand sie ein Glück, dass dieses Geländer sie so sicher nach unten führte.

Unten fand Helene Martha im Sessel des Vaters sitzen. Sie half dem Mariechen beim Stopfen der Bettwäsche.

Für die vermittelnde Tätigkeit dankten Helene und Martha ihrer Tante Fanny in einem langen Brief voll ausführlichster Wetterbeschreibungen und Schilderungen des kleinstädtischen und alltäglichen Lebens. Sie schrieben ihr, dass sie im Garten hinter dem Haus eine zweite Aussaat von Wintersalaten gemacht hätten, erst am folgenden Tage seien die Kohlsorten zum Überwintern an der Reihe. Niemand würde verlangen, dass man sich in Zeiten wie diesen um einen Blumengarten kümmerte, doch ihnen sei es eine wahre Herzensangelegenheit. Wiewohl sich der Wasserzins erschreckend erhöhe, sei es ihnen über den Sommer gelungen, das Beet vor dem Haus nicht verdorren zu lassen. Der Spätsommer erfordere viel Arbeit im Freien. Nun habe Helene schon alle Rosenblätter abgeschnitten und verbrannt. Eine Kupferbrühe sei angerührt, mit der man gegen Rost, und eine Schwefelkalkbrühe, mit der man gegen Mehltau spritzen wolle. Die Astern blühten prächtig. Unsicher sei man nur mit den Blumenzwiebeln. Das Mariechen empfehle, die Zwiebeln von Scilla und Narzissen, von Tulpen und Hyazinthen jetzt zu pflanzen. Aber im vergangenen Jahr seien viele dieser früh gepflanzten Zwiebeln über den Winter erfroren. Rapünzchen und Spinat mochten sie sehr und hätten für den Winter große Mengen gesät, wo es doch nicht absehbar sei, wann sich die allgemeine Lage bessern werde. Schließlich haben sie auf einer kleinen Presse, die noch voll funktionstüchtig abgedeckt im Werkraum gestanden habe, kleine Kalender für das kommende Jahr gedruckt und diese kolorierten sie nun jeden Abend von Hand. Man hoffe sehr, dass sich mit ihnen auf den Jahrmärkten, spätestens aber im Winter zum Christmarkt noch etwas machen ließe. Gottseidank sei der Christmarkt einheimischen Händlern vorbehalten. Die Bauern aus den Bergen drückten sonst die Preise. Jeder schaue, wo er bleibe. Gestern erst hätten sie einen kleinen Kalender mit Bauernregeln und guten Leitsätzen entworfen. Die Menschen hier in der Provinz mochten das Mahnen an ihre Tugenden, vor Gott, so erscheine es Helene zunehmend, sei es die Übereinkunft in diesen Fragen, die hier in der Lausitz Gemeinsamkeit, Trost und Tapferkeit stifte. Und was sei wichtiger in diesen Zeiten als Zuversicht und Hoffnung? Was die Tante zum Beispiel von derlei Empfehlungen hielte: Mäßigkeit und Arbeit sind die wahren Ärzte des Menschen; die Arbeit reizt den Appetit und die Mäßigkeit verhindert die missbräuchliche Befriedigung desselben. Wie oft die Menschen Bildung und Sitte mit Etikette verwechseln! Einen Bubenstreich vergeben sie eher als einen Verstoß gegen die herkömmlichen Formen des Umgangs. Man verdirbt einen Jüngling am sichersten, wenn man ihn verleitet, den Gleichdenkenden höher zu achten als den Andersdenkenden. Man kann einen Vorsatz nicht sicherer abstumpfen, als wenn man ihn öfter durchspricht.

Solcherlei erschien Helene und Martha wie ein Strecken ihrer anmutigen Seelen in den Berliner Himmel, und nichts hofften sie inniger, als mit diesen Zeilen mitten ins Herz der Tante zu gelangen. Bildung heißt, sich mit jedem Menschen auf den Ton setzen zu können, dessen Zusammenklang mit dem eigenen Wohllaut gibt, nicht wahr, verehrte Tante Fanny? Sie sind uns da ein heiliges Vorbild.

Helene und Martha bemühten sich, Zeile um Zeile der Tante frohgemute Eigenständigkeit und zugleich Dankbarkeit zu beweisen. Eine Freude! Diese Behauptung erschien Helene zu schön, um nicht aufgeschrieben zu werden. Martha dagegen empfand einen solchen Ausdruck als Lüge und Demütigung im Verhältnis zur Erschöpfung, die sie in Gedanken an ihr Leben in Bautzen befiel. Der schmale Grat zwischen Stolz und Bescheidenheit im Tone erschien ihnen als wahre Herausforderung des Briefes. Immer wieder wurden Sätze gestrichen und neue formuliert.

Heiliges Vorbild, zweifelte Martha, das könnte sie falsch verstehen.

Warum falsch?

Weil sie vielleicht glaubt, wir wollen uns belustigen. Womöglich empfindet sie sich alles andere als heilig und möchte gar kein heiliges Vorbild sein.

Nicht? Helene sah Martha forschend an. Dann wird sie wenigstens lachen können. Wir sollten den Satz unbedingt schreiben, anders lernen wir sie doch gar nicht kennen.

Martha schüttelte nachdenklich den Kopf.

Nach Stunden erst konnten sie sich an die saubere Abschrift machen, die Helene ausführen musste, da Marthas Schrift in jüngster Zeit häufig wackelig und krumm erschien. Etwas sei an ihrem Auge, behauptete Martha, aber Helene glaubte ihr nicht. Sie schrieb den Satz mit dem heiligen Vorbild und im letzten Satz schließlich fragte sie die Tante höflich, ob sie sie einmal in Bautzen besuchen wolle.

Als nach Tagen und einer Woche und zweien keine Antwort kam, wurde Helene unruhig.

Marthas Augen waren ganz sicher nicht erkrankt. Gingen sie spazieren, und zeigte Helene auf einen weit entfernten Hund, einen sandfarbenen, der dem alten Hund des Vaters ähnlich sah, jenem, der seit dem Tag verschwunden war, an dem der Vater hatte in den Krieg ziehen müssen, oder wies sie auf eine winzige Blume am Wegesrand, hatte Martha keine Mühe, das eine und andere scharf zu erkennen. Helene vermutete, dass die nur an manchen Tagen unsaubere Schrift wie auch ihre plötzliche Zerstreutheit in manchen Stunden in einem gewissen Zusammenhang mit der Spritze stand, die in den vergangenen Monaten manchmal auf dem Waschbeckenrand lag, wo sie offenbar von Martha nachlässig liegen gelassen worden war. Sooft Helene im Krankenhaus jetzt mit Spritzen hantierte, der Anblick einer solchen auf ihrem heimischen Waschbecken schnürte ihr die Kehle zu. Alles in Helene krampfte sich zusammen, wenn sie die Spritze sah und nicht sehen wollte. Die ersten Male erschrak Helene so und schämte sich für Martha, dass sie die Spritze verschwinden lassen wollte, ehe das Mariechen sie entdeckte oder etwa Martha selbst ihre Nachlässigkeit bemerken musste. Doch ein Verschwinden musste erst recht bemerkt werden und ein Schweigen unmöglich machen.

Mit der Zeit gewöhnte sich Helene an den Gedanken, dass Martha eine Gewohnheit, einen alltäglichen Umgang mit der Spritze pflegte. Helene sprach Martha nicht darauf an. Auch hätte sie kaum aufrecht die Frage stellen können, wo sie doch wusste, dass Martha seit dem Sterben des Vaters und Leontines Verlassen hin und wieder geringe Mengen spritzte, Morphium vermutlich, vielleicht Kokain.

Es waren in der Zeit seit Vaters Tod vor allem die Briefe von Tante Fanny, die Helene auf ein noch fremdes Leben jenseits der Bautzener Stadtgrenzen hoffen machten. Allein die Ansichten, die Helene von Berlin kannte, ließen sie von den vielen Gesichtern der Stadt schwärmen. War Berlin mit seinen elegant gekleideten Frauen nicht das Paris des Ostens, das London des Kontinents mit seinen nie endenden Nächten?

Doch Tante Fanny schwieg den ganzen Oktober zu jenem ausführlichsten und prächtigsten Brief, den ihr Martha und Helene je zugedacht hatten. Anfang November ertrug Helene das Warten nicht länger und schrieb erneut. Sie hoffe, der Tante sei nichts zugestoßen? Immerhin, hier in Bautzen sei man ihr wirklich mehr als dankbar für die Vermittlungen zu den Verwandten des Erblassers nach Breslau. Ob der letzte Brief angekommen sei? In Bautzen ginge das Leben so seinen Lauf. Helene habe nach den Prüfungen, das Wort glänzend strich Helene wieder, im September ihre Arbeit in der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses aufgenommen. Seither verdiene sie etwas mehr, freue sich aber besonders über die Arbeit, die ihr zugeteilt werde. Martha nahm Helene die Feder aus der Hand und ergänzte mit ihrer krakeligen Schrift, dort erobere sich Helene den Platz der vor zwei Jahren nach Berlin verzogenen Schwester Leontine, einer Freundin. Aufgrund ihres außerordentlichen Talents wünsche sich der Professor nun immer häufiger Helene an seine Seite, wenn er bei schwierigen Operationen eine Unterstützung mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit und sicheren Händen brauche. Helene wollte Marthas Sätze streichen, etwas daran schien ihr prahlerisch und unbotmäßig. Aber Martha sagte, Helenes größter Fehler könne werden, ihre Fähigkeiten zu verheimlichen und schließlich als armes Hascherl bettelnd in den Armen eines Mannes zu enden. Martha hielt Helene die Feder entgegen.

Das glaubst du nicht wirklich? Es wäre Helene lieb gewesen, wenn Martha sie nicht immer wieder auf ihre Weise herausforderte. Helene nahm die Feder und schrieb weiter.

Die Pflege der Mutter sei nunmehr dank der Hinterlassenschaften des Onkels gesichert. Tante Fanny wäre herzlich eingeladen und zu jeder Zeit der willkommenste Gast. Mit besten Grüßen und in der Hoffnung auf ein baldiges Lebenszeichen.

Helene überlegte, ob sie sich für die ausschweifenden Beschreibungen ihrer Wirtschaftsverrichtungen im vorangegangenen Brief entschuldigen sollte. Schließlich mochte die Tante von derlei gelangweilt und abgestoßen sein. Dass sie das heilige Vorbild für eine Beleidigung halten konnte, wollte sich Helene nicht vorstellen. Womöglich empfand sie es als Zumutung, von den beiden protestantischen Nichten aus dem Lausitzer Kaff zum Vorbild erkoren worden zu sein?

Es vergingen Wochen. Erst kurz vor Weihnachten traf der langersehnte Brief ein. Er war umfangreicher und erschien flüchtiger geschrieben als die vorigen, die ineinanderliegenden Buchstaben waren kaum entzifferbar. Sie habe jede Menge mit den Erledigungen für die Festlichkeiten zu schaffen, die Kinder ihres Vetters freuten sich auf Chanukka und sie wolle ihnen kleine Geschenke kaufen, selbst ihr Geliebter rechne zu Weihnachten mit einer Aufmerksamkeit. Der werde schon sehen. Sie erwarte zu Chanukka Besuch von den Vettern aus Wien und Antwerpen mit der ganzen Mischpoke. Gerade heute habe sie alle Hände voll zu tun, weil sie mit ihrer neuen Köchin die Speisefolge für die Festtage besprechen wolle. Die Köchin sei noch ganz grün hinter den Ohren, jung und unerfahren, so dass sie ihr immer wieder beim Zubereiten der Speisen helfen müsse. Das gefalle ihr gut, schließlich koche sie selbst gern und habe es nicht gemocht, mit wieviel Mehl ihre alte, endlich in Pension entlassene Köchin, jede Soße zu einem festen Brei geraten ließ. Je älter die Köchin geworden sei, desto dicker wären ihre Soßen geraten, auch mehrten sich die Mehlklümpchen, die sie entweder mit ihren trüben Augen nicht mehr hatte erkennen können oder die sie vielleicht gar absichtlich in den Soßen hatte ent stehen lassen. Aus Überdruss an der Arbeit? Womöglich im Ärger über ihren Mann, der sie bis an sein Lebensende allein hatte arbeiten lassen und den schlaffen Ärmel als Vorwand dafür genutzt hatte, ihre Tüchtigkeit auszubeuten. Sie habe die alte Köchin im Verdacht gehabt, Milch oder Sahne in die Töpfe zu schütten, obwohl sie ihr mehrfach geboten hatte, solcherlei zu unterlassen. Bestimmt wolle sie nicht heucheln und behaupten, nach alten Speisevorschriften zu leben. Nein, sie möge derlei milchige Manschereien nicht. Mehr noch als die Klümpchen hätten sie zuletzt die täglichen Schimpfereien über den faulen Mann zu Hause gestört. Und das wolle was heißen, wo doch die Soßen kaum noch Soßen zu nennen waren! Dass schließlich die Frikasseestücke aufrecht im Mehlbrei gestanden hätten, dabei sei nicht die Spur mehr von Lorbeer und Zitrone zu schmecken gewesen. Fleischpudding, einfach scheußlich!

Helene und Martha mussten lachen, als sie den langersehnten Brief in den Händen hielten. Eine Welt lag da aufgefaltet vor ihnen, jeder Satz musste mehrmals gelesen werden.

Helene und Martha fragten sich, ob solche Vettern aus Wien und Antwerpen auch ihre Verwandten wären, die Bezeichnung und der Umstand, dass Tante Fanny in keinem ihrer Briefe einen Ehemann erwähnte, ließ die Vermutung zu. Unmerklich richteten sich Martha und Helene auf. Sie saßen auf der Ofenbank und wärmten ihre Rücken. Es schien ihnen, als umspanne der Brief den ganzen Erdball mit einem Netz und wäre Tante Fanny die Vertraute und Kennerin dieser Welt, wenn nicht gar die Welt selbst. Im Postskriptum schrieb die Tante, ihr Weg führe in absehbarer Zeit gewiss nicht in die Lausitz, im Postpostskriptum schrieb sie, aber sie könne sich vorstellen, dass die Mädchen einmal nach Berlin kommen wollten, zu Besuch, und gern auch für länger. Anbei fänden die Mädchen zwei Eisenbahnfahrkarten erster Klasse von Dresden nach Berlin. Gewiss sei Dresden der nächste richtige Bahnhof? Ihre Wohnung sei groß genug, da sie selbst keine Kinder habe. Arbeit gäbe es in Berlin bestimmt für die beiden Mädchen. Sie wolle zu gern dafür sorgen, dass aus ihnen etwas werde.

Helene und Martha sahen sich an. Lachend schüttelten sie den Kopf. Hatten sie noch vor zwei Jahren beim Tode des Vaters geglaubt, ihr Leben werde von nun an darin bestehen, im Krankenhaus zu arbeiten und an der Seite ihrer zunehmend verwirrten Mutter in Bautzen alt zu werden, gab dieser Brief den Auftakt für eine erst zu erträumende Zukunft. Helene griff nach Marthas Hand und wischte ihr eine Träne aus dem Gesicht. Sie betrachtete ihre große und ältere Schwester, die sie stets für die bescheiden wirkende Haltung bewundert hatte, deren Augenaufschlag seine Anmut aus dem vollkommenen Schein einer Reinheit bezog, und deren Reiz doch von jenen Küssen geprägt war, die Helene zwischen Martha und Leontine beobachtet hatte. Helene kannte den Anschein weiblicher Tugend gut, das sittsame und bescheidene, das reine Mädchen, nichts lieber als das sollte ein Mädchen geben, machte ein Mädchen aus, doch etwas anderes sprach aus diesem Brief und weckte jetzt Helenes Verlangen. Helene küsste ihre ältere Schwester auf das Ohrläppchen, sie saugte sich daran fest, und je hemmungsloser der Schwester die heißen Tränen über die Wangen flossen, desto besinnungsloser lutschte Helene — als wäre dieses Lutschen am Ohrläppchen und den salzigen Rinnsalen der Schwester ihre einzige Möglichkeit, deren Tränen nicht zu sehen und nichts denken noch sagen zu müssen. Helene und Martha saßen eine unbestimmte Zeit aneinander, Gesicht an Gesicht. Erst nach einer Weile kam das Denken wieder. Marthas Weinen, die Erleichterung, von der es ausgelöst und gekennzeichnet war, ließ Helene ahnen, wie sehr Martha gelitten haben musste. Wechselte Martha nicht seit zwei Jahren romantische Briefe mit ihrer fernen Freundin in Berlin, die zwar unglücklich in ihrer Ehe war, aber froh über die vielen Theater und Clubs der Stadt? Vor einigen Tagen erst, als Helene noch voller Hoffnung und Ungewissheit auf den Brief von Tante Fanny wartete, hatte sie nicht widerstehen können und heimlich einen an Martha adressierten Brief an sich genommen. Er kam von Leontine aus Berlin. Helene hatte Marthas Spätdienst im Krankenhaus ausgenutzt und den Brief geschickt über dem dampfenden Wasserkessel geöffnet. Süße Freundin, so begann Leontine. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr ich Dich vermisse. Das Studium fordert nur selten ein Lernen bis in die späte Nacht. In der Pathologie halte ich schon den jüngeren Studenten Vorträge. Aber die Wochenenden gehören mir. Gestern waren wir tanzen. Antonie brachte ihre Freundin Hedwig mit. Ich führte ihnen ungeniert meine neue Garderobe vor — die habe ich Lorenz entwendet. Meine Freundinnen jubelten, aber ich trage seine Hose nur im Haus. Zum Ausgehen habe ich mir ein neues Kleid genäht. Auch Antonie trug ein bezauberndes Kleid, ein cremefarbenes Teekleid, für das wir sie bewunderten und lobten. Knielang! Ohne Taille! Sie tanzte darin einfach wunderbar, und genoss es, uns um den Verstand zu bringen. Was gibt es Aufregenderes als die Ahnung einer Taille und einer Hüfte, wenn der ganze Schnitt des Kleides behauptet, da wäre nichts!? An ihrem Ausschnitt blühte eine Pfingstrose aus Seide. Wir rissen uns darum, mit ihr zu tanzen. Meine schöne, große Freundin, ich musste immerzu an Dich denken. Weißt Du noch, wie wir die halbe Nacht auf unserem Dachboden getanzt haben? Du süßes, zartes Mäd chen, wie oft bin ich in Gedanken bei Dir. Wie zerreißt es mir das Herz, dass ich auch dieses Weihnachten nicht werde kommen können. Lorenz will davon nichts wissen. Er meint, es wäre eine unnötige Ausgabe, schließlich ginge es meinem Vater doch in Schwester Mimis Familie sehr gut und vermisse mich niemand daheim. Lorenz achtet immer sehr darauf, recht zu haben. Er sagt nichts, das auch nur entfernt zweifelhaft wäre. Ich sage Dir, er hätte Jurist werden sollen. Die Gerichte hätten ihre wahre Freude an ihm. Nur im zivilen Zusammenleben behagt sein rechtschaffener Blick aus den echsenhaft zusammengekniffenen Augen in die Welt wenig. Du kannst Dir denken, wie sehr mich seine Behauptungen reizen. Immerzu könnte ich ihm widersprechen. Doch dann sind mir seine Worte unversehens gleichgültig und ich verlasse häufiger das Zimmer und noch lieber das Haus, ohne ihm zu antworten. Er liebt das letzte Wort und bleibt damit immer öfter allein. Ob ihn das zufriedenstellt? Zum Glück sehen wir uns nur selten. Er schläft in der Bibliothek. Jeden Morgen behaupte ich, man höre sein Schnarchen durch das ganze Haus. Wenn es das nur wäre. Dir kann ich die Wahrheit ja sagen: Er schnarcht so selten wie Du und ich. Aber mir ist es lieber, wenn er am anderen Ende der Wohnung schläft und wir uns möglichst wenig begegnen. Heute Abend gehe ich mit Antonie ins Theater. Vorn an der Hardenbergstraße hat das Terra-Kino geschlossen und an seiner Stelle im Oktober ein Theater eröffnet. Der Ruf von Miss Sara Sampson schallt schon durch die ganze Stadt. Lucie Höflich als Marwood muss einfach wunderbar sein. Aber was erzähle ich Dir, mein Herzblatt, Du hast sie ja noch nie gesehen. Was gäbe ich darum, mit Dir heute Abend dorthin zu gehen. Nicht eifersüchtig sein, Du, mein süßer Honigmund. Antonie wird im April heiraten und sie sagt, sie wäre schon ganz verliebt. Einmal habe ich ihren Bräutigam von Ferne gesehen, er wirkte nicht gerade fein, ein grober, breitbeiniger Kerl war das! Das ganze Gegenteil von der zierlichen Antonie. Wie ist es mit Helenes Prüfungen gegangen? Grüß mir die Kleine, sei umarmt und geküsst, Dein Leo.

Es fehlte das E für Deine, und zumindest ein langer Tintenschwung für den Rest des Namens, aber es war zweifellos Leontines Schrift. Helene hatte sich nicht anmerken lassen, dass sie den Brief von Leontine an Martha gelesen hatte. Doch als sie nun, Tage später, Gesicht an Gesicht über dem Brief von Tante Fanny saßen und Martha weinte und im nächsten Augenblick aus Freude über die Einladung lachte, war Helene sicher, dass Martha nichts lieber tun wollte, als sofort einen Koffer packen und für immer nach Berlin reisen. Mit einer Bahnfahrt erster Klasse, von Dresden nach Berlin. Was zählte da schon, dass Bautzen durchaus einen großen Bahnhof hatte, einen, von dem Helene für ihren Professor immer wieder seine Kollegen, Ärzte und Professoren aus ganz Deutschland abholte, einen Bahnhof, der sich keineswegs provinziell nennen ließ. Auch wurden von hier aus die in der Bautzener Waggonfabrik gefertigten Wagen um die halbe Welt geschickt, gewiss auch nach Berlin. Es war Tante Fanny nicht vorzuwerfen, dass sie Bautzen für ein Dorf hielt, zeigte sie doch eine ungeahnte Großzügigkeit mit den Fahrkarten erster Klasse. Wo weder Martha noch Helene jemals mit einem Zug gefahren waren!

An einem Nachmittag im Januar, die Dunkelheit war schon angebrochen, bat der chirurgische Professor die junge Schwester Helene in sein Arztzimmer. Er eröffnete ihr, er wolle im März für eine Woche nach Dresden reisen. Dort sollte er sich mit Kollegen an der Universität treffen und wollte ein gemeinsames Buch über die neuesten Erkenntnisse der Medizin vorbereiten. Er fragte Helene, ob sie ihn begleiten würde, es solle nicht ihr Schaden sein. Er wolle nicht zuviel versprechen, so sagte er der noch fünfzehnjährigen Schwester, aber er könne sie sich durchaus eines Tages als Assistentin vorstellen. Ihre Flinkheit an der Schreibmaschine und ihre Kenntnisse in der Stenographie überzeugten ihn. Sie sei begabt und gescheit, es wäre ihm eine Ehre, sie zu der Professorenrunde mitzunehmen. Gewiss sei sie noch nie mit einem Automobil gefahren? Sein feierlicher Blick ließ Helene verlegen werden, sie spürte, wie sich ihr Hals verengte. Sie brauche sich nicht fürchten, der Professor lächelte nun, sie müsse lediglich das eine oder andere Protokoll erstellen, denn seine alte Sekretärin könne aufgrund des Wassers keine Reisen mehr unternehmen und sei nur noch wenig belastbar. Helene merkte, wie sie errötete. Noch vor kurzer Zeit wäre ihr dieses Angebot als die schönste Herausforderung erschienen. Doch heute hegte sie andere Pläne, von denen freilich der Professor nichts wissen konnte.

Wir werden im März die Stadt verlassen, alle beide, Martha und ich, platzte Helene heraus.

Und da der Herr Professor sie schweigend ansah, ganz so, als verstehe er den Sinn ihrer Worte nicht, suchte sie nach mehr Worten.

Wir wollen nach Berlin, dort lebt eine Tante, die uns Logis angeboten hat.

Der Professor stand nun auf und beugte sich mit dem Monokel vor dem großen Pharus-Plan, der an seiner Wand hing, nach vorn. Berlin? Es wirkte, als kenne er diese Stadt nicht und müsse sie mühsam auf der Landkarte suchen.

Helene nickte, die Fahrkarten von Dresden nach Berlin habe die Tante geschickt, nur das Geld für die Bahnfahrt von Bautzen nach Dresden fehle ihnen. Sollte der Herr Professor die Freundlichkeit besitzen, sie, nun ja, mit dem Automobil bis Dresden mitnehmen zu können, wolle sie ihm gern während seiner Professorenrunde die Protokolle schreiben und erst anschließend die Weiterreise mit dem Zug nach Berlin antreten. Dürfte ich erfahren, wann Ihre Professorenrunde zusammenkommen wird?

Der Professor Chirurg konnte sich nicht recht mit Helene freuen. Er antwortete auf ihre Frage nach dem genauen Zeitpunkt nicht, vielmehr warnte er sie jetzt vor unüberlegten Taten. Und als Helene ihm versicherte, dass sie keineswegs un überlegt seien, im Gegenteil, Martha und sie bereits seit geraumer Zeit an nichts anderes mehr dächten, wurde er unwirsch.

Die jungen Damen sollten sich nicht überschätzen, mahnte er. Sie seien doch Töchter einer protestantischen Bürgersfamilie, ihr Vater sei ein angesehener Bautzener Bürger gewesen. Die arme Mutter wäre, soweit er wisse, einsam und pflegebedürftig? Was denn in sie gefahren sei, dem Schoß ihrer Herkunft so unverantwortlich den Rücken zu kehren?

Helene wippte mit den Fersen auf und ab. Sie erinnerte den Professor daran, dass auch Schwester Leontine in Berlin lebe und dort vor allem dank seiner Empfehlungen Medizin studiere. Doch das hätte sie wohl nicht sagen dürfen. Jetzt wurde der Professor zornig. Er schrie: Dank meiner Empfehlungen? Ein undankbares Pack seid ihr, kennt keinen Anstand! Von Dankbarkeit ganz zu schweigen. Es sei ja wohl mehr als offensichtlich, dass diese Heirat von Leontine keine Liebesheirat gewesen sei. Er habe genau gehört, wie sie zu einer anderen Schwester gesagt habe, diese Heirat sei eine kluge Sache. Keine gute Sache, nein, eine kluge Sache! Das müsse man sich mal vorstellen, sich das auf der Zunge zergehen lassen. Wollte sie ihn, ihren Professor, lächerlich machen, eifersüchtig gar? Vielleicht sei der kleinen Leontine ihre Verehrung zu ihm etwas zu Kopfe gestiegen! Eine kluge Sache? Klüger wäre es gewiss, Leontine wäre an seiner Seite geblieben. Welch vergebliche Mühe, Frauen das Studieren zu gestatten! In einem Beruf, der Ausdauer, Kraft und Konzentration, ja das Beugen des Menschen in geistige und körperliche Zwänge bedeute, da hätten Frauen nichts verloren. Sie würden immer in zweiter Reihe stehen, einfach, weil in seiner Zunft nur die Besten forschen und praktizieren könnten. Der Professor geriet außer Atem. Schärfe des Geistes, darauf kommt es an. Er keuchte nur mehr. Warum also sollte eine Frau studieren? Leontine sei eine hervorragende Schwester gewesen, wirklich, exzellent. Ein Jammer wäre es um sie. Wer hätte das ahnen können? Als wahrer Verrat erscheine es ihm, dass sie seine Empfehlung bedenkenlos in die Tasche gesteckt und nach Berlin geheiratet habe!

Helene schlug sich die Hände vor das Gesicht. Niemals hätte sie erwartet, dass der Professor einen derartigen Zorn gegen Leontine hegte. Wann immer er vor den anderen Schwestern und den Ärzten an sie erinnerte, sprach er voller Respekt und Ehrerbietung von Schwester Leontines Fähigkeiten. Helene hatte geglaubt, einen Stolz in seiner Stimme zu hören, wenn er berichtete, dass seine kleinste Schwester, wie er sie nannte, heute in Berlin studierte.

Nehmen Sie Ihre Hände weg, Helene, rief er und griff mit seinen nach ihren Händen, um sie aus ihrem Gesicht zu zerren, um ihr in die Augen zu sehen, wobei seine Hände ihre Brüste berühr ten, mit dem Handrücken und so grob, dass Helene sich Mühe gab anzunehmen, er bemerke es nicht. Er zog sie jetzt mit beiden Händen am Kopf von ihrem Stuhl hoch. Seine Hände pressten ihre Ohren so fest an den Kopf, dass es schmerzte. Was bilden Sie sich ein, Schwester? Glauben Sie, Sie könnten es jemals besser haben als an meiner Seite, auf meiner Station? Sie dürfen meine Instrumente halten, wenn ich Köpfe öffne, selbst bei der Operation meiner Frau habe ich Sie nähen lassen. Was wollen Sie?

Helene wollte seine Frage beantworten, aber in ihrem Kopf war es taub und still.

Der Professor ließ nun ihren Kopf los und ging mit schnellen Schritten auf und ab. Helene spürte, wie ihr die Ohren weh taten, wie sie glühten. Seit sie zum ersten Mal bei einer Operation dabei gewesen war und seine Hände entdeckt hatte, die ruhig und sicher wirkten, fast sanft, so als spiele er ein Instrument und lange nicht nach Knochen und Sehnen, Gewächsen und Arterien, seit diesem ersten Anblick seiner Hände, der Beobachtung der feinen und genauen Bewegungen einzelner Finger, hatte sie ihn bewundert. Anfangs hatte sie ihn gefürchtet, ob ihrer Bewunderung und seiner Fähigkeiten, später lernte sie ihn schätzen, gerade weil er diese niemals missbrauchte, um einen seiner Mitarbeiter zu demütigen, weil er stets im Dienste der Patienten und seiner Kunst, der medizinischen Kunst, stand. Noch nie hatte Helene ein lautes Wort, geschweige denn eine grobe Geste an ihm bemerkt. Selbst wenn sie zehn Stunden am Stück gearbeitet hatten, einmal fünfzehn Stunden, die halbe Nacht hindurch, nach dem Unglück in der Waggonfabrik, stets schien der Professor von einer göttlichen Ruhe beseelt, die nicht nur an Selbstgewissheit, auch an Güte denken ließ. Jetzt drehte der Professor die Lampe seines Schreibtisches so, dass sie Helenes Augen blendete.

Übermut? Der Professor fragte, als wolle er eine Anamnese stellen. Wohl kaum, gab er sich zur Antwort. Er trat einen Schritt auf sie zu und nahm ihr Kinn in seine Hand.

Gedankenlosigkeit? Gewiss. Dabei legte der Professor den Kopf schief und seine Stimme wurde sanft. Vielleicht: Dummheit? Als überlege er, ob Helene mit dieser Diagnose zu helfen sei.

Helene senkte die Augen. Verzeihen Sie, bitte.

Verzeihen? Dummheit ist das Letzte, was ich verzeihen könnte. Sagen Sie mir offen und frei heraus, was versprechen Sie sich von Berlin, Kind?

Helene sah auf den Boden, der blank gewichst war. Wir, wir, sie stammelte und suchte nach Worten, die mehr sagen mochten, als sie denken konnte. Die heutige Zeit, die Teuerung. Herr Professor. Die Menschen wollen vor den Stadtrat ziehen, sie wollen Arbeit und Brot fordern. Auch hier im Krankenhaus gab es Gerüchte um Entlassungen. Davon müssen Sie doch erfahren haben, Herr Professor? In Berlin werden Martha und ich Möglichkeiten haben, bitte verstehen Sie, Möglichkeiten. Wir werden dort arbeiten, studieren — vielleicht.

Studieren — vielleicht? Sie haben ja gar keine Vorstellung, was das bedeutet, Kind. Wissen Sie, welchen Einsatz ein Studium erfordert, welche Beherrschung des Geistes, welche Fordernisse? Denen sind Sie nicht gewachsen. Es tut mir leid, Ihnen das offen sagen zu müssen, Kind, aber ich möchte Sie warnen. Ja, ich muss Sie warnen. Und die Kosten, Sie machen sich keine Vorstellung von den Kosten. — Wer soll für Sie aufkommen, wenn Sie studieren? Sie sind doch kein Freiwild, das als Dirnen durch die Welt tingeln wollte.

Gewiss, Herr Professor, gewiss. Mehr fiel Helene nicht ein. Sie schämte sich.

Gewiss, murmelte der Professor. Sein Blick haftete auf ihrem großen und flachen Gesicht, das bestimmt nichts verbergen konnte, schwer schien sein Blick, er drückte sich in sie, sie wollte etwas erwidern, seinen Blick abwehren, aber sie erkannte ein Begehren darin, das sie eilig wegsehen und ihren Tränen jetzt freien Lauf ließ. Sie nahm ihr Taschentuch aus dem Ärmel und tupfte sich die Augen ab.

Helene. Die sanfte Stimme des Professors schmiegte sich in ihr Ohr. Weinen Sie nicht, Kind. Sie haben ja niemanden, ich weiß. Niemand, der für Sie sorgt und Sie schützt, wie nur ein Vater es könnte.

Diese Worte ließen Helene noch heftiger weinen, sie wollte es nicht, aber sie schluchzte jetzt und ließ es zu, dass der Professor seine Hand auf ihre Schulter und sogleich seinen Arm um sie legte.

So hören Sie doch auf, flehte er. Helene, verzeihen Sie mir meine Strenge. Helene. Der Professor drückte sie nun vorsichtig an sich, Helene spürte, wie sein Bart ihr Haar berührte, wie er den Kopf senkte und Mund und Nase auf ihrem Haar lagen, als wären sie Mann und Frau und gehörten zusammen, als Mann und Frau. Es war das erste Mal, dass ihr ein Mann so nahe war. Er roch nach Tabak und Wermut und vielleicht nach Mann. Helene bemerkte das Flimmern in ihrer Brust, ihr Herz raste. Ihr wurde heiß und kalt und dann war ihr übel. Sie musste das Atmen vergessen haben. Schließlich dachte sie nur noch daran, dass er sie loslassen müsse, weil sie ihn andernfalls von sich stoßen musste, mit aller Kraft, von sich weg, wie es sich wohl gehörte für ein junges Mädchen.

Und er ließ los. Ganz plötzlich. Einfach so. Er trat einen Schritt zurück und wandte sich ab. Ohne sie anzusehen sagte er mit trockener Stimme: Ich werde Sie mitnehmen, Helene, nach Dresden, Sie und Ihre Schwester. Sie sagen, die Fahrkarten für die Weiterreise haben Sie?

Helene nickte.

Der Professor trat hinter seinen Schreibtisch und rückte den Stapel Bücher auf Kante.

Natürlich werde ich Ihnen in Dresden die Protokolle schreiben, beeilte sich Helene zu sagen. Ihre Stimme klang leise.

Wie bitte? Der Professor sah sie jetzt fragend an. Protokolle? Ach, das meinen Sie. Nein, Schwester Helene, Sie werden keine Protokolle für mich schreiben, jetzt nicht mehr.

In den kommenden Wochen bestellte der Professor nur noch selten Schwester Helene an seine Seite zum Operationstisch. Auch diktierte er ihr keine Berichte und Briefe mehr. Und jede Tätigkeit, die abseits des Operationstisches wartete, unterstand den strengen Anweisungen der Oberschwester. Helene reinigte die Instrumente, sie wusch und fütterte die Patienten in den Betten und leerte die Bettpfannen. Sie kratzte den Alten den Belag von der Zunge und salbte ihre Wunden. Da ihr der Schlüssel zum Giftschrank noch nicht entzogen worden war, konnte sie winzige Mengen Morphium für Martha beiseiteschaffen. Durch die Flügeltür hörte sie das Schreien und Winseln der Frauen aus dem Kreißsaal, und an Sonnentagen beobachtete sie, wie die Frauen im Garten ihren Neugeborenen den Schnee zeigten. Die Station der Wöchnerinnen war in der festen Hand der Hebammen. Wollte Helene hierbleiben, wäre sie wohl hinübergegangen und hätte ihre Hilfe angeboten. Aber hätte sie hierbleiben wollen, würde sie noch am Operationstisch stehen und dem Professor seine Instrumente reichen, die Nadel nehmen und Bäuche zunähen. Helene schrubbte die Böden. Der Vorteil war, dass sie nun häufiger mit Martha arbeitete und sie gemeinsam beim Aufwischen der Flure über die Zukunft und Berlin sprechen konnten. Ungeachtet der Operationen, an denen Helene kaum noch teilnahm, zumal sich der Professor eine neue Schwester an die Seite geholt hatte, ließ der Professor an der Einlösung seines Versprechens nicht den geringsten Zweifel. Es galt nur zu warten, bis es März und bald Ende des Monats wurde.

Es gelang dem Professor mit Hilfe seines Assistenzarztes, den Koffer der beiden Schwestern am Heck seines Wagens zu befestigen. Sodann durften die jungen Frauen aufsteigen. Während der Fahrt belehrte er die Mädchen schreiend, der laute Motor und die sonstigen Fahrgeräusche nötigten ihn dazu. In dieser Zeit wäre es wichtig, seine Werte in bleibenden Gütern anzulegen. Ein Automobil wie seines wäre da gerade das Richtige. Ob sie auch einmal fahren wollten?

Unbedingt. Martha sollte als erste steuern dürfen. Nach wenigen Metern lenkte sie das Gefährt geradewegs auf ein Feld. Die noch schwarzen Furchen des Ackers gaben nach, als das Fahrzeug in die Erde fuhr. Dann steckte es fest und dampfte. Alle drei mussten aussteigen. Auf dem Wasser, das in den Furchen des Ackers stand, hatte sich eine dünne Haut aus Eis gebildet, die knackte, wenn man sie eintrat. Während Martha sich ihren Arm rieb, schoben und stemmten der Professor und Helene mit aller Kraft, bis sie das Automobil wieder zurück auf die Straße geschafft hatten. Nun wollte der Professor nichts mehr davon wissen, dass eine der Schwestern fahren könnte.

Noch vor Mittag fuhren sie über das Blaue Wunder. Der Professor schwärmte von der Pracht und Genialität der Konstruktion, aber Martha und Helene konnten nur metallene Streben erkennen, die neben dem Fenster in die Höhe ragten und deren sagenumwobenes Blau nichts war gegen die Farbe des Stromes. Viel prächtiger erschien ihnen die Elbe, die hoch über ihre Ufer stand. Die Fahrt durch das Villenviertel dauerte länger als gedacht, einmal mussten sie anhalten und Wasser nachfüllen. Dann ging alles sehr schnell, Droschken überholten sie, Verkehr kam auf. Helene wollte gern den Hafen besichtigen, aber die Zeit drängte. Der Professor brachte die Schwestern wie versprochen zum Hauptbahnhof. Die Uhren an den zwei Türmen zeigten unterschiedliche Zeiten; der Professor war sicher, dass man der um zehn Minuten schnelleren glauben musste. Die Größe der dreischiffigen Stahlbogenhalle ließ Martha und Helene staunen. Zum ersten Mal sahen sie solche Stahlbögen für ein gewölbtes gläsernes Dach. Die Sonne blitzte durch graue Wolken, es würde regnen. Menschenmassen drückten sich vor den prunkvollen Schaufenstern der Geschäfte und strebten einem der vielen Bahnsteige entgegen. Ein Korb Zitronen fiel um und die Menschen bückten sich nach den kullernden gelben Früchten, als gebe es kein Morgen. Auch Helene musste sich bücken und ließ eine Zitrone in ihrer Tasche verschwinden. Zwei kleine Jungen bestürmten Martha und Helene, ihnen ein Bündel Weidenkätzchen abzukaufen. Eine alte Frau mit einem Säugling im Arm hielt die Hand auf. Es konnte unmöglich ihr Kind sein, Helene musste denken, dass die Mutter im Kindbett gestorben sein könnte. Aber was fiel ihr ein, den Tod einer Mutter zu denken? Ehe sich die Schwestern versahen, lud ein Kofferjunge ihr Gepäck auf seinen Wagen und lief ihnen mit den Rufen Platz da, Platz da voraus. Der Professor ermahnte Martha und Helene, sie sollten in dem Gedränge niemals ihre Taschen und den Kofferjungen aus dem Auge verlieren. Trotz Widerrede bestand der Professor darauf, die beiden Schwestern zu ihrem Zug zu bringen. Er begleitete sie auf den Bahnsteig, zum Gepäckwagen, zu ihrem Waggon und schließlich bis zu ihren Sitzplätzen in ihrem Abteil der ersten Klasse. Mit einem gefassten Lächeln überreichte er Martha ein kleines Päckchen mit Proviant, das ihm seine Frau am Morgen zurechtgemacht hatte. Brühwurst und hartgekochte Eier, sagte er leise. Wie schon auf der bisherigen Reise vermied es der Professor, Helene anzusehen. Doch er war freundlich, er reichte beiden die Hand und stieg aus dem Zug. Vielleicht würde er vor dem Fenster auf dem Bahnsteig erscheinen und mit einem weißen Taschentuch winken? Aber nein, sie sahen ihn nicht wieder.

Der Zug zischte. Nur stockend fuhr er aus dem Dresdner Bahnhof aus. Das Wummern der Lok war so ohrenbetäubend, dass Helene und Martha nicht miteinander sprachen. Noch drängelten sich die Reisenden auf dem Gang und suchten ihre Abteile und Sitzplätze. Helene und Martha saßen schon länger auf ihren samtgepolsterten Sitzen. Zwar hatten sie in der Aufregung vergessen, ihre Mäntel und Handschuhe abzulegen, aber sie lehnten sich vor und zur Seite, um keinen Blick aus dem Fenster zu verpassen. Sie hatten das bestimmte Gefühl, dass mit ihren vornehmen Plätzen, diesem Fenster und diesem Zug ein neues Leben begann, eines, das nichts mehr mit Bautzen zu tun haben würde, eines, das sie die letzten Wochen mit der fluchenden und dämmernden Mutter vergessen lassen sollte. Linkerhand ragten in der Ferne Kräne in den Himmel, die bestimmt zu dem Hafen und der Werft gehörten, der vom Zug aus nicht zu sehen war. Gewiss würde sich das Mariechen gut um die Mutter kümmern, sie wollten ihr zu jedem Monatsersten ausreichend Geld schicken, das hatten Martha und Helene beim Abschied versprochen. Wofür sonst gab es die Breslauer Mieteinnahmen? Gemeinsam hatten sie beschlossen, dass das Mariechen vorerst mit der Mutter in der Tuchmacherstraße wohnen bleiben sollte. Das Mariechen dankte ihnen für diesen Vorschlag, sie hätte wohl auch nicht gewusst, wohin sie in ihrem greisen Alter nach den siebenundzwanzig Dienstjahren in der Familie hätte ziehen sollen.

Die letzten Häuser der Altstadt zogen vorüber, der Zug fuhr so langsam auf die Marienbrücke, dass man hätte laufen können, die Elbwiesen waren noch mehr schwarz als grün. Die Elbe füllte ihr Bett und trat hier in der Stadt kaum über die Ufer. Ein mit Kohle beladener Kahn schleppte sich träge gegen den Strom. Helene musste Zweifel haben, dass er es bis Pirna schaffen würde. Wieder kamen Häuser, Straßen, Plätze, der Zug fuhr durch einen kleinen Bahnhof. Es dauerte, bis die Stadthäuser vorübergezogen waren und auch die flachen Häuschen und Gärten der Vorstadt hinter ihnen lagen. In der Ferne glaubte Helene die Ausläufer der Lausitzer Berge zu erkennen, eine freudige Erregung und Erleichterung erfasste sie, als auch diese aus ihrem Blickfeld verschwanden und der Zug endlich durch Auen und Wald und Flur schnaufte. Über den vorbeiziehenden Äckern hing Nebel, noch kaum ein Grün kündete vom anbrechenden Frühling, nur die Sonne leuchtete immer wieder durch den Nebelteppich.

Helene erschien es, als seien sie bereits seit Wochen unterwegs. Sie öffnete das Proviantpäckchen von Frau Professor und bot Martha etwas an. Sie verzehrten die Brote mit der sogenannten Brühwurst, die nach Blutwurst schmeckte und auch die feine Konsistenz gestockten Blutes hatte, sie schlangen die Brote mit dem rotschwarzen Brei herunter, als hätten sie schon Jahre nichts mehr zu essen bekommen und sei Blutwurst eine wohlschmeckende Speise. Dazu tranken sie den Tee, den sie sich in einer korbummantelten Flasche mitgenommen hatten. Später fühlten sie sich schlapp, noch ehe der Zug ein nächstes Mal hielt, fielen ihnen die Augen zu.

Als sie wieder aufwachten, standen die Reisenden bereits an den Fenstern und auf dem Gang. Die Einfahrt in die Stadt und bald darauf in den Anhalter Bahnhof entlockte ihnen leise Ausrufe des Staunens. Wer konnte sich Berlin vorstellen, seine Größe, die vielen Passanten, Fahrräder, Droschken und Automobile? Glaubten sich Martha und Helene nach dem Dresdner Bahnhof bestens gewappnet für die Metropole, hielten sie sich nun gegenseitig an kalten und schwitzigen Händen fest. Durch die geöffneten Fenster drang ohrenbetäubender Lärm aus der Bahnhofshalle ins Innere des Zuges. Die Reisenden drängten aus den Abteilen auf den Gang und strebten zu den Türen, von draußen hörte Helene das Pfeifen und Rufen der Gepäckträger, die schon vom Bahnsteig her laut ihre Dienste feilboten. Eine Panik überfiel die Mädchen, sie fürchteten, nicht rechtzeitig aus dem Zug zu gelangen. Martha stolperte beim Aussteigen und verhedderte sich mit ihrem Mantel, so dass sie von der letzten Stufe auf den Bahnsteig halb rutschte, halb fiel. Sie landete auf allen vieren. Helene musste lachen und schämte sich. Sie ballte ihre Faust, sie biss sich auf den Handschuh. Im nächsten Augenblick fasste sie nach der Stange, nahm die helfende Hand eines älteren Herrn und beeilte sich, aus dem Zug zu steigen. Gemeinsam mit dem älteren Herrn half sie Martha auf. Der Bahnhof war voller Menschen, solchen, die ihre Nächsten vom Zug abholten, aber auch viele Händler und junge Frauen liefen auf und ab, sie boten von der Zeitung über Blumen bis zum Schuheputzen lauter Dinge an, von denen Martha und Helene erst jetzt merkten, dass sie ihnen fehlten. Zur selben Zeit schauten sie aneinander herab und wurden sich ihrer dreckigen Schuhe bewusst. An ihnen haftete noch die Erde vom sächsischen Acker, aus dessen Furchen sie das Automobil des Professors befreit hatten. Ihre Hände waren leer, wo sie doch längst an ein Gastgeschenk für die Tante hätten denken müssen. War nicht kürzlich erst der Physiker Röntgen gestorben? Helene durchforstete ihr Gedächtnis und jagte darin nach welthaltigen Nachrichten, von denen sie in jüngster Zeit etwas gehört hatte. Nur selten nahm Helene die Gelegenheit wahr, im Krankenhaus eine der liegengebliebenen Zeitungen zu lesen. Was wussten sie schon über das Weltgeschehen im Allgemeinen und das Berliner im Besonderen? Ein kleines Sträußchen Märzbecher vielleicht? Waren das echte Tulpen? Noch nie hatte Helene so große und schlanke Tulpen gesehen.

Da Helene keinen der flüchtigen Gedanken erhaschen und festhalten konnte — in die Notenpresse hätten sie beizeiten einsteigen sollen, dachte sie, und: welcher Unsinn, und: wer war noch Cuno? Reichspräsident, Kanzler? Und dann fiel ihr wieder jener wohlklingende Name ein: Thyssen und Frankreich und Kohle, Kohle, Kohle, eine Notenpresse, das wäre es gewesen, legal oder nicht — sagte sie zu Martha, die sich noch den Mantel ausschlug und das Haar unter den Hut steckte: Auf gehts. Hoffentlich gab es ihren Koffer noch.

Gemeinsam eilten die Schwestern den Bahnsteig entlang zum Gepäckwagen. Dort hatte sich eine Schlange gebildet. Immer wieder schauten sich die Mädchen über die Schulter. Zwar hatte die Tante im letzten Brief vorgeschlagen, dass sie einen Kremser oder die Straßenbahn nehmen sollten, um zu ihr in die Achenbachstraße zu kommen. Aber war es nicht möglich, dass sie trotz dieses Ratschlags zum Bahnhof kommen und sie abholen würde?

Glaubst du, Tante Fanny wird uns erkennen?

Ihr wird nichts anderes übrigbleiben. Martha hielt das Gepäckbillet bereit und zählte schon das passende Geld ab, obwohl vor ihnen noch eine dichte Schlange stand.

Bei dir wird es nicht schwer sein. Helene musterte Martha: Du siehst Mutter ähnlich.

Fragt sich nur, ob Tante Fanny das bemerken kann und will. Vielleicht weiß sie gar nicht mehr, wie ihre Cousine ausgesehen hat?

Sie wird keine Fotografie von Mutter haben, Mutter besitzt von der Zeit vor unserer Geburt nur eine einzige, die von ihrer Hochzeit.

Besitzt? Martha lächelte. Ich würde sagen, sie besaß. Zumindest habe ich die Fotografie mitgenommen. Wir brauchen doch eine Erinnerung, nicht?

Eine Erinnerung? Helene sah Martha ratlos an. Sie wollte sagen: Ich nicht, unterließ das aber.

Unterkunft jefällig? Anständjes Hospiz, meene Frolleins? Jemand zupfte und zog hinten an Helenes Mantel. Oder ne billige Bude, privat, bei ner Wirtin? Helene drehte sich um, hinter ihr stand ein junger Mann in abgerissener Kleidung.

Fließend Wasser und elektrische Beleuchtung? Fragte ein zweiter und schubste den ersten beiseite.

Ick kann da wat empfehlen, die Fremdenheime sind lausig und die Hotels kann ja keena mehr bezahlen. Kommen Se mit! Eine ältere Frau packte Helene am Arm.

Lassen Sie los! Vor Angst überschlug sich Helenes Stimme. Danke, danke, wir brauchen nichts, sagte Martha in alle Richtungen.

Wir haben eine Tante in Berlin, ergänzte Helene und schloss jetzt den oberen Knopf ihres Mantels.

Bestimmt mochten sie einander nicht, weil Tante Fanny sich als etwas Besseres fühlte. Das rief Martha hinter vorgehaltener Hand Helene ins Ohr. Und auch was Besseres war!

Meinst du? Das glaube ich nicht. Helene war es oft unangenehm, wenn Martha etwas Schlechtes über die Mutter sagte. So sehr sie die Mutter auch fürchtete und mit ihr gestritten hatte, so sehr erschrak sie und so wenig ertrug sie es, wenn Martha völlig ohne Zusammenhang ihre schlechte Meinung kundtat. Die Benennung des Schlechten bereitete Martha Lust, eine Freude an der Entblößung, die Helene erst zart und nur in wenigen Augenblicken teilte.

Tante Fanny hat Mutter bestohlen, behauptete Helene jetzt. Sie erinnerte sich daran, dass die Mutter es an jenem Abend gesagt hatte, als sie ihr zum ersten Mal von ihrem Briefwechsel mit Tante Fanny erzählten.

Ach ja, glaubst du das? Martha spottete. Was soll sie denn gestohlen haben? Einen getrockneten Fliegenpilz vielleicht? Wenn du mich fragst, hat sie sich das ausgedacht. Vielleicht war es andersrum. Tante Fanny hätte das nicht nötig, niemals.

Sie wird eine feine Dame sein, da bin ich sicher. Helene schaute nach vorn, die Schlange hatte sich gelichtet und die beiden Schwestern waren im Eifer des Gesprächs so abgelenkt gewesen, dass sie nicht gehört hatten, wie der Mann vorne an der großen Tür des Gepäckwagens bereits zum vierten Mal ihre Nummer und nun auch ihren Namen in die Runde rief.

Anträge der demokratischen Parteien abgelehnt! Ein Bursche brüllte aus vollem Hals und winkte wild mit einer Zeitung, der Stapel drohte ihm aus dem Arm zu rutschen. Weiter lebe die Sturmabteilung der nationalsozialistischen Partei!

Olle Kamellen, höhnte ein anderer Zeitungsjunge und schrie nun seinerseits aus vollem Halse: Erdbeben! Auch er winkte wild, und Helene fragte sich, ob er sich die Nachricht gerade ausgedacht hatte, um besseren Absatz zu machen. Immerhin, die Menschen rissen ihm die Zeitungen aus der Hand. Großes Erdbeben in China!

Und jetzt zum letzten Mal! Erste Klasse, Würsich, Numero vierhundertsiebenunddreißig!

Hier, das sind wir, brüllte Helene jetzt so laut sie konnte und stürzte die wenigen Meter nach vorn zu dem Mann, der gerade ihren Schrankkoffer in Ermangelung eines Besitzers auf den großen Gepäckwagen für nicht abgeholte Stücke schieben wollte.

Rote Fahne! Rief ein dünnes Mädchen mit einem kleinen Handwagen voller Zeitungen. Rote Fahne!

Die Vossische!

Der Völkische Beobachter! Helene erkannte den jungen Zeitungsburschen von vorhin. Wie alt mochte er sein? Zehn? Zwölf? Besetzung im Ruhrgebiet dauert an! Keine Kohle für Frankreich! Erdbeben in China! Auch er rief jetzt das Erdbeben aus, obwohl zweifelhaft war, dass sich seine Zeitung schon damit befasste.

Kaufen Sie die Weltbühne, meine Damen und Herren, ganz druckfrisch, die Weltbühne! Ein auffallend großer Herr mit Hut, Brille und Anzug lief in langen Schritten den Bahnsteig entlang. Obwohl er mit einem seltsamen Akzent sprach, hinter dem Helene sofort einen Russen vermutete, fanden seine kleinen, roten Hefte besten Anklang. Kurz nachdem er an Martha und Helene vorübergeschritten war, nahm ihm eine elegante Dame das letzte Heft ab.

Erst als jemand Vorwärts! Vorwärts! Vorwärts! rief, fasste Helene den mutigen Entschluss, ein Bündel Markscheine aus der Manteltasche zu ziehen. In ihrem Mantel steckte noch die Zitrone. Die Markscheine rochen jetzt nach Zitrone. Schließlich kannte sie den Vorwärts, und es sah hoffentlich fein und gebildet aus, wenn sie mit einer Zeitung unter dem Arm bei der Tante eintrafen.

Sie nahmen eine Droschke mit mehreren Sitzen, vielleicht war es das, was Tante Fanny mit einem Kremser meinte. Die Häuser und Litfaßsäulen warfen schon lange Schatten. Am Schöneberger Ufer kam die Droschke zum Stehen, es sah aus, als wollte sich das Pferd verbeugen, es ging auf die Knie, die Vorderbeine sackten ihm ein, es krachte, Holz knackte, und das Pferd fiel seitlich in das Geschirr. Der Kutscher sprang auf. Er schrie etwas, stieg ab und klopfte dem liegenden Pferd auf den Hals, er ging um die Kutsche herum, nahm den Eimer vom Haken und entfernte sich ohne ein erklärendes Wort. Helene konnte erkennen, dass er zu einer Pumpe ging, wo er warten musste, bis ein anderer seinen Eimer voll hatte und er drankam. Die Laternen entlang der Straße wurden angezündet. Überall leuchtete und funkelte es. So viele Lichter, Helene stand auf und drehte sich rundherum. Ein Automobil mit einem lustigen Schachmuster, das sich wie eine Borte rund um das Gefährt rankte, hielt neben ihnen. Ob sie Hilfe benötigten, wollte der Fahrer aus seinem Fenster heraus wissen. Vielleicht brauchten sie ein Taxi? Aber Martha und Helene schüttelten den Kopf und blickten sich wieder nach ihrem Kutscher um. Der Taxifahrer ließ sich das nicht zweimal sagen. Vorn auf der Kreuzung winkte ein junger Mann nach ihm.

Wir hätten vielleicht umsteigen sollen, Helene blickte sich um. Der Kutscher kam mit dem Eimer Wasser in der Hand zu rück. Er spritzte das Pferd nass, schüttete dann den ganzen Eimer Wasser über das Pferd, aber das Pferd rührte sich nicht. Die Sonne war untergegangen, die Vögel zwitscherten noch, es wurde kühl.

Ham Ses noch weit? Das war das erste, was der Kutscher jetzt zu ihnen sagte.

Martha und Helene zuckten unschlüssig die Schultern.

Ach ja, Achenbach. Det is weit, kann ick nich lofen, Ihr Jepäck is ja och noch da. Der Kutscher sah betrübt aus.

Ein Wachmann schlenderte heran. Der Koffer wurde abge laden, Martha und Helene mussten absteigen. Ihnen wurde eine andere Droschke gewunken. Der Himmel war blau, als sie schließlich vor dem Haus in der Achenbachstraße ankamen. Der Hauseingang des vierstöckigen Hauses war erleuchtet, eine breite fünfstufige Steintreppe führte zu der eleganten Eingangstür aus Holz und Glas. In der Tür wartete ein Diener, der sie willkommen hieß und zur Droschke trat, um ihren Koffer in Empfang zu nehmen. Martha und Helene stiegen die breite Treppe hinauf in die Beletage. War das Marmor, echter, italienischer Marmor?

Da seid ihr endlich, rief eine große Frau. Sie streckte Martha und Helene ihre Hände entgegen, die bis über den Ellenbogen in Handschuhen steckten. Darüber glänzten nackte Schultern. Martha zögerte nicht lang, sie ergriff eine Hand, verneigte sich und küsste sie.

Nicht doch, sind wir bei Königen? Meine Nichten. Tante Fanny drehte sich auf dem Absatz und ihr langer Schal wehte Helene ins Gesicht. Anerkennend nickten einige der umherstehenden Damen und Herren, sie hielten den Schwestern zum Zeichen des Willkommens ihre Gläser entgegen und prosteten sich gegenseitig zu. Die Damen trugen Kleider aus dünnen Stoffen ohne deutliche Taille mit Kordeln und Tüchern um die Hüfte, ihre Röcke gingen nur wenig über das Knie hinaus und an den Füßen hatten sie Schuhe mit Riemchen und Absätzen. Manche von ihnen trugen das Haar so kurz, wie es sich einst Leontine geschnitten hatte, bis zum Ohrläppchen und im Nacken noch kürzer. Bei einer Frau schien das Haar in Wellen eng an den Kopf gepresst worden zu sein, neugierig betrachtete Helene die Frisuren und fragte sich, wie sie hergestellt wurden. Allein die vielen Hälse, wie sie hier aus geraden, markanten Schultern ragten, dort aus zierlich abfallenden, und stets zum Kopf der Mädchen, jungen Frauen und Damen führten, als sei neuerdings ihr Kopf die Krone der Schöpfung und nicht mehr ihre Hüften, an der sich alle längst sattgesehen hatten, verwirrten Helene. Die Herren trugen feine Anzüge und rauchten Pfeife, sie betrachteten die eingetretenen Schwestern mit begehrlichem Wohlwollen. Ein beleibter Herr blickte freundlich in Helenes Gesicht, dann glitt sein Blick an ihr entlang, über den sich öffnenden Mantel, unter dem ein in seinen Augen gewiss ländlich altmodisches Kleid zum Vorschein kam. Mit einem onkelhaft gütigen Nicken drehte er sich um, nahm dem Fräulein mit dem Tablett eins der Gläser ab und vertiefte sich in ein Gespräch mit einer kleinen Frau, deren Federstola bis zur Kniekehle reichte.

Was für hübsche Kinder! Eine Freundin hakte sich bei Tante Fanny ein und schwankte trunken, den Kopf voran wie ein Stier mit roten Locken, Helene entgegen. Ihr gewaltiger Paillettenbusen blinkte, als sie kurz vor Helene in die Höhe schoss.

Warum hast du uns diese zauberhaften Wesen so lange vorenthalten, meine Teure?

Lucinde, meine Nichten.

Ein Herr beugte sich neugierig über Tante Fannys nackte Schulter und schaute von Helene zu Martha und wieder zurück. Offenbar füllten die Gäste die Beletage bis in den letzten Winkel aus. Noch stand die Tür hinter ihnen offen. Helene blickte sich um, sie wollte fliehen. Als Helene etwas an ihrer Wade spürte und an sich herabsah, entdeckte sie einen kohlschwarzen Pudel, der frisch frisiert war. Es war der Anblick des Pudels, der sie ruhiger atmen ließ.

Ein Hausmädchen und ein Diener nahmen den Schwestern die Taschen aus den Händen und halfen ihnen aus den Mänteln, achtlos wurde Helene die Zeitung abgenommen, zwei weitere Diener kamen mit dem Koffer die Treppe herauf. Helene eilte einige Schritte hinter dem Fräulein mit ihrem Mantel her und nahm ihre Zitrone aus der Manteltasche.

Eine Zitrone, wie entzückend! Der rotlockige Stier namens Lucinde kreischte so leise wie nur möglich.

Rasch, macht euch frisch und zieht euch um, das Diner beginnt in einer Stunde. Tante Fanny strahlte. Ihr Gesicht, schmal und ebenmäßig, erinnerte an ein Gemälde, so dunkel waren die Wangen vom Rouge, so grüngold schimmerten ihre Augenlider. Die langen Wimpern hoben und senkten sich wie schwarze Schleier über ihren großen schwarzen Augen. Ein junger Mann ging an ihr vorbei. Mit dem Rücken zu Martha und Helene blieb er an Tante Fannys Seite stehen. Er küsste sie auf die bloße Schulter, dann legte er ihr nur flüchtig die Hand an die Wange und ging weiter zu einer anderen Dame, die offenbar auf ihn wartete. Fanny deutete ein Klatschen in die Hände an, vornehm, elegant, grazil — in Helenes Kopf überschlugen sich Worte für ihre Erscheinung, anmutig, wobei ihre langen Hände sich zwar berührten, aber keinen Laut von sich gaben. Phantas tisch. Meine Perle wird euch alles zeigen. Otta?

Das Hausmädchen Otta, weißhaarig und glatthäutig, bahnte den Weg durch die große Versammlung von Gästen und führte die Schwestern in ein kleines Zimmer am Ende der Wohnung. Es roch nach violetten Blüten. Dort waren zwei schmale Betten gemacht und ein Waschtisch mit einem großen Spiegel, in dessen Ränder Lilien geschliffen waren, stand in einer Nische der Wand. Die Kerzen eines fünfarmigen silbernen Leuchters gaben das Licht eines Altars. Das Hausmädchen zeigte ihnen Hand tücher, Nachtgeschirr und Kleiderschrank. Ein Badezimmer und die Toilette, das Hausmädchen flüsterte die Worte, mit Wasserklosett, befänden sich zudem vorne am Eingang. Dann entschuldigte sich das Hausmädchen, es müsse weitere Gäste empfangen.

Eine Feier? Martha sah erstaunt zur Tür, die sich hinter dem Hausmädchen geschlossen hatte.

Umziehen? Helene warf ihre Zitrone auf das Bett und stemmte ihre Hände in die Hüften. Mein bestes Kleid trage ich schon.

Engelchen, das kann sie doch nicht wissen. Sie wird nicht genau hingeschaut haben.

Hast du ihre Lippen gesehen, wie sie geschminkt ist?

Zinnober. Und ihr Haar, kurz bis zu den Ohrläppchen, das ist die Stadt, Engelchen. Morgen schneide ich dir dein blondes Haar ab, sagte Martha, sie lachte nervös und öffnete den Koffer. Mit beiden Händen wühlte sie und seufzte erleichtert, als sie ihr kleines Täschchen fand. Sie drehte Helene den Rücken zu und schüttete den Inhalt des Täschchens auf dem Waschtisch aus. Helene setzte sich vorsichtig auf das eine der beiden Betten. Sie streichelte den Überwurf, der weich war. Das Wort Kaschmir kam ihr in den Sinn, aber sie hatte keine Ahnung, wie sich Kaschmir anfühlte. Unter Marthas Armen hindurch sah He lene, wie Martha ein kleines Fläschchen öffnete und die Flüssigkeit mit der Spritze aufzog. Ihre Hände zitterten. Sie krempelte den Ärmel ihres Kleides hoch. Geschickt schlang sie sich ihr großes Taschentuch als Binde um den Arm und setzte die Spritze an.

Helene war erstaunt über die Offenheit, mit der Martha sich ihr zeigte. Noch nie hatte Martha vor ihren Augen zu der Spritze gegriffen. Helene stand auf und trat an das Fenster, das zu einem schattigen Hof mit Ahornbäumen, einer Teppichstange und einem kleinen Brunnen hinausging. Osterglocken blühten in die blaue Stunde.

Warum machst du das jetzt?

Martha in ihrem Rücken antwortete nicht. Sie presste den Inhalt der Spritze langsam in ihre Vene und sank dann rückwärts auf das Bett.

Engelchen, gibt es einen schöneren Augenblick als diesen? Wir sind angekommen. Wir sind da. Martha rekelte sich auf dem Bett und streckte einen Arm nach Helene aus. Berlin, sagte sie leise, als sterbe ihre Stimme und ertrinke im Glück, das sind jetzt wir.

Sag nicht sowas. Helene machte einen Schritt zum Koffer hin, fand in der Tasche des Deckels ihre Bürste und öffnete ihr Haar.

Das Gift ist süß, Engelchen. Schau mich nicht an wie eine Verdammte. Ich sterbe, ja und? Ein wenig leben wird doch vorher noch gestattet sein? Martha kicherte, dass es Helene für einen Augenblick an die im Wahnsinn zurückgelassene Mutter erinnerte.

Auf dem Rücken liegend streifte sich Martha mit den Füßen die Schuhe ab, deren lange Senkel sie offenbar schon zuvor gelöst hatte, sie öffnete die Knöpfe ihres Kleides und legte wie selbstverständlich eine Hand auf ihre entblößte Brust. Weiß war ihre Haut und dünn und fein, so fein, dass Helene die Adern darunter schimmern sah.

Helene kämmte sich ihr Haar. Sie setzte sich an den Waschtisch und goss aus dem silbernen Krug etwas Wasser in die Schüssel, sie nahm die selten duftende Seife in die Hände, Lavendel aus dem Süden, und wusch sich. Martha seufzte in Abständen.

Singst du mir ein Lied, Engelchen?

Was soll ich denn singen? Helenes Stimme war eingetrocknet. Trotz des langen Nachmittagsschlafes im Zug war sie matt und vermisste in sich die Freude und das Glück, das sie mit ihrer Ankunft in Berlin erwartet und noch auf dem Bahnhof empfunden hatte.

Liebst du mich, Herzchen, Goldblatt mein?

Helene drehte sich zu Martha um. Es fiel Martha schwer, ihre Augen auf Helene zu konzentrieren, immer wieder glitten sie ihr davon und es schien, als sperrten ihre Pupillen die Augen bis zum Rand.

Martha, brauchst du Hilfe? Helene betrachtete ihre Schwes ter und fragte sich, ob es ihr danach immer so ging.

Martha summte eine Melodie, die in Helenes Ohren nur selten bekannt klang, ein Schlingern zwischen Fis-Dur und b-Moll. Ob sie ein Klavier hat, die Tante?

Du hast schon ewig nicht gespielt.

Noch ist es nicht zu spät. Martha kicherte wieder sonderbar und schmatzte sanft, als falle es ihr schwer, das Kichern hinunterzuschlucken. Sie würgte. Im nächsten Augenblick richtete sich Martha auf, griff nach einem der kleinen roten Gläser, die auf der Vitrine standen, und spuckte hinein.

Das ist edel, so ein Spuckgläschen. Sie hat für alles gesorgt, unsere feine Tante.

Martha, was soll das? Helene nahm ihr Haar zusammen, drehte es an den Seiten ein und steckte es auf. Wir müssen in einer halben Stunde da draußen erscheinen. Schaffst du das? Kannst du dich zusammenreißen?

Warum die Sorge, Engelchen? Habe ich nicht alles geschafft, bisher, ich meine, alles?

Vielleicht öffne ich das Fenster.

Alles, Engelchen, was blieb mir anderes übrig, als alles zu schaffen. Aber jetzt sind wir da, Goldblatt.

Warum nennst du mich Goldblatt, so hat Vater mich genannt. Helene wollte wohl die Augenbrauen runzeln, dabei bildeten sich lediglich winzig feine Falten über ihrer Nase, so flach war die Delle zwischen ihrer gewölbten Stirn und der auffallend kleinen Nase.

Ich weiß, ich weiß. Und ist die Liebkosung mit ihm gestorben, Engelchen?

Helene reichte Martha einen Becher voll Wasser. Trink, ich hoffe, dann lichtet sich dein Nebel.

Ts ts ts, Nebel, mein Herzchen. Martha schüttelte den Kopf. Das hier ist Frühlings Erwachen, Engelchen.

Bitte, zieh dich an, ich helf dir. Ehe Martha Helenes Angebot zurückweisen konnte, knöpfte Helene ihr das Kleid zu.

Und ich dachte, du wolltest mich küssen, mein Herz. Geantwortet hast du nicht. Du erinnerst dich an meine Frage?

Helene kniete jetzt vor Martha, um ihr in die Schuhe zu helfen. Martha ließ sich wieder rückwärts aufs Bett fallen und säuselte: Herzchen, Herzchen, du wirst mir doch antworten.

Als Helene Marthas Schnürstiefel zugebunden hatte, zog sie an ihrem Arm, damit sie sich aufsetzte. Marthas langer Oberkörper war schwer und schwankte. Sie sank zurück.

Mein Fuß, er ist zu leicht für das Parkett, halt ihn bitte fest. Helene sah, wie Martha beide Beine steif von sich streckte, so dass sie über den Rand des Bettes ragten, dabei atmete sie tief Luft ein und zog ihre Schultern hoch.

Kannst du aufstehen?

Nichts besser als das. Martha richtete sich nun, gestützt auf Helenes Arm, auf und hob ihren Kopf, mit dem sie Helene nur noch wenig überragte. Ihre Worte kamen gestochen scharf aus ihrem Mund, jedes S zischte, nur die Abstände zwischen den einzelnen Worten waren auffallend lang. Vielleicht glaubte Mar tha, so sprechen zu müssen, um klar und nüchtern zu wirken.

Jemand klopfte von außen an die Tür.

Ja bitte? Helene öffnete, und das Hausmädchen Otta trat mit einem kurzen Schritt zur Seite und einem Knicks ein. Ihr Häubchen saß so weiß und steif in ihrem Haar, als habe es am heutigen Abend noch keinerlei Anstrengung gegeben.

Wenn ich den Mademoiselles noch behilflich sein kann?

Danke sehr, wir finden uns zurecht. Helene zupfte ein Haar von Marthas Kleid. Wie sprach man in Berlin wohl das Hausmädchen an?

Sie werden gleich den Gong hören, das Essen beginnt. Wenn Sie kommen und sich setzen wollen?

Wir wollen, sagte Martha feierlich und schritt erhobenen Hauptes am Hausmädchen vorbei in den langgestreckten Flur. Ihr Schwanken war kaum zu erkennen.

Bei Tisch gab es Platzkarten.

Sobald sich die Abendgesellschaft gesetzt hatte, erhob sich ein Herr am Kopf des Tisches. An jedem Finger seiner Hand steckte ein Ring, einer prächtiger als der andere. Bonsoir, mes amis, copains et copines, cousin et cousine. Er erhob sein Glas vornehm in die Runde. Die schmalzig zurückgekämmten Haare lagen auf seinem Hemdkragen auf, sein weißes Gesicht wirkte geschminkt. Er lachte schallend und sprach nun Deutsch mit französischem Akzent. Es ist mir eine Ehre, meiner lieben Cousine, ach, werfen wir heute die Lügen über Bord und widmen uns anderen Lastern, es ist mir eine Freude, meiner jungen Geliebten ein noch langes Leben zu wünschen. Auf Fanny, auf unsere Freundin!

Helene blickte erstaunt in die Runde. Sollte er Fanny gemeint haben, Tante Fanny? Wie konnte er sie als seine junge Geliebte bezeichnen, wo sie doch Mitte vierzig sein mochte und der Sprecher keine dreißig war? Fanny dankte, sie lächelte mit ihren schwarzen Augen, deren Wimpern schwer über den Augäpfeln hingen. In ihrem Haar funkelten Sterne. Sie legte sich selbst die Hand an den langen Hals und es schien, als streichele sie sich, hier am Tisch, vor ihren Gästen. Über ihrem kurzen dunklen Haar spannte ein Netz, das wohl von Diamanten übersät war. Vielleicht waren es auch nur Glassteinchen. Aber sie trug sie wie Diamanten. Die Damen und Herren erhoben ihre Gläser und stießen enchanté und à votre santé, ma chère und à mon amie auf Tante Fanny an.

Schräg gegenüber am Tisch hielt sich Martha aufrecht, ihre Augen leuchteten, sie plauderte mit ihren Nachbarn, lachte immer wieder hell auf und ließ sich Champagner nachfüllen. Helene behielt sie im Auge, sie wollte achtgeben auf Martha. Die Köstlichkeiten rührte Martha kaum an, mal stocherte sie mit der Gabel in der Pastete und später pustete sie unaufhörlich ins Soufflé, als wäre dieses zu heiß. Aus einem großen messingfarbenen Trichter knarzte es, es knackte, eine Stimme krächzte: In fünfzig Jahren ist alles vorbei. Als es vom Tisch zur Chaise longue ging, nahm Martha dankbar den Arm des Mannes, der beim Diner neben ihr gesessen und ihrem Plaudern gelauscht hatte. Einmal schien es Helene, als weine Martha. Doch kaum hatte sich Helene den Weg durch den Saal zu ihr gebahnt, wurde gelacht und tupfte sich Martha mit jenem Taschentuch, das sie sich vorhin um den Arm geschlungen hatte, die Tränen der Freude vom Gesicht. Im Verlauf des Abends nahm Martha Zigaretten an, sie rauchte mit einer Spitze, die Helene noch nie in Marthas Händen gesehen hatte. Später ließ der Geliebte von Fanny, mit Namen Bernard, französisch gesprochen, eine Pfeife anzünden. Nichts Geringeres als Opium sei zu ihrer Lobpreisung angemessen. Die Freunde klatschten.

Als Martha einmal lauter rief, Tante, welch wunderbares Fest, und Helene ihren Ohren nicht traute, weil sie Martha noch nie in einer solchen Runde frei rufen und lachen gehört hatte, rief Tante Fanny lachend aus der anderen Ecke des großen Berliner Zimmers zurück: Tante? Liebchen, soll das mein Name sein? Da fühle ich mich gleich hundert Jahre älter. Eine Greisin, ist das nicht die Tante? Fanny, Liebchen, nur Fanny!

Helene bot man keine Pfeife und keine Zigaretten an, es hatte sich wohl bald herumgesprochen, dass sie noch keine sechzehn war und aus der Lausitz kam. Zwei Herren kümmerten sich um das Küken, sie gossen Helene Champagner ein und später Wasser, wobei sie offenbar Freude daran hatten, sich gegenseitig immer wieder daran zu erinnern, dass Helene noch ein Kind war. Was für ein Küken! Reizend sei es, wie sie das Wasser aus dem Glas hinunterstürze. Ob sie immer solchen Durst habe? Die beiden Herren amüsierten sich, während Helene sich vorsah, Martha nicht aus den Augen zu verlieren. Martha lachte in alle Richtungen, sie stülpte anzüglich ihre Lippen, als wolle sie den jungen Herrn, der seine Mütze nicht absetzte, küssen. Doch im nächsten Augenblick schlang sie ihren Arm um eine halbnackte Frau, die ein ähnlich ärmelloses Kleid wie die Tante trug und deren Schreie oh là là weithin über alle Köpfe hinweg spitz an Helenes Ohr drangen, dass es wehtat. Oh là là, rief die Frau immer wieder und legte nun ihrerseits einen Arm um Martha, wobei Helene genau sah, wie ihre Hand nach Marthas Schulter fasste und wenig später an ihrer Taille lag, bis es so schien, als wolle die Frau Martha gar nicht mehr loslassen. War das eine Pfeife, an der Martha da zog? Vielleicht hatte sich Helene getäuscht.

Noch etwas Wasser? Einer der beiden Herren neigte sich vor, um Helene aus der kristallenen Karaffe Wasser einzuschenken.

Am späten Abend brach die Abendgesellschaft auf. Nicht aber, wie Helene zuerst glaubte, um nun nach Hause zu gehen, sondern man wollte gemeinsam in einen Club.

Du hilfst meiner Nichte in den Mantel, befahl Fanny mit samtiger Stimme einem großen blonden Verehrer, ihr Blick wies auf Martha. Zu Helene sagte die Tante freundlich, sie solle sich ganz zu Hause fühlen und süß träumen.

Doch das süße Träumen fiel Helene nicht leicht, an Schlaf war nicht zu denken. Helene, die mit dem Personal allein zurück blieb, hatte sich zwar stracks in ihr Zimmer zurückgezogen, aber sie konnte nicht anders, sie wartete dort bis zur Morgendämmerung. Erst als matt das Morgenlicht durch die steingrünen Vorhänge fiel, hörte sie Geräusche in der Wohnung. Eine Tür fiel ins Schloss. Stimmen, Lachen, Schritte auf dem langen Flur näherten sich. Ihre Zimmertür wurde geöffnet und Martha wurde halb stolpernd, halb torkelnd ins Zimmer geschoben, wo sie unmittelbar auf Helenes Bett fiel. Die Tür schloss sich wieder. Draußen im Flur hörte Helene Fanny mit ihrem französischen Liebhaber und einer Freundin lachen. Vielleicht war es Lucinde. Helene stand auf, sie schob das zweite Bett an ihres und entkleidete Martha, die nur noch ihre Lippen bewegen konnte.

Engelchen, wir sind da. Der Pfand ist ein Kuss. Du musst sie nur aufstoßen, die Himmelspforte, wenn du noch durchpasst. Martha konnte nicht mehr kichern, sie schnaufte und schlief. Ihr Kopf fiel zur Seite.

Helene zog Martha das Nachthemd an, öffnete ihr Haar und legte die große Schwester neben sich. Martha roch nach Wein und Rauch und einem Helene nicht bekannten schweren Duft, blumig und harzig. Helene schlang ihre Arme fest um Martha, sie starrte noch in die Dämmerung, als Martha schon längst leise schnarchte.

Der kommende Winter brachte viel Schnee. Martha und Helene hatten den Koffer weit unter das Bett geschoben und selbst zu Weihnachten war ihnen nicht eingefallen, ihn zu packen und die Mutter in Bautzen zu besuchen. An jedem Monatsanfang kam ein Brief vom Mariechen. Es beschrieb den Gesundheitszustand der Mutter, berichtete vom Wetter und den häuslichen Finanzen. Während Fanny Marthas Gesellschaft genoss, sie in jeden Club und jede Revue führte, genoss Helene die Stille der Beletage. Was für eine umfangreiche Bibliothek besaß Fanny, alles Bücher, die sie selbst offensichtlich nie gelesen hatte, deren Anblick ihr aber schmeichelte. Oft verbrachte Helene ihre Nächte lesend auf der Chaiselongue. Stolperten Fanny und Martha am frühen Morgen zur Tür herein, stets im Hintergrund hielt sich der Mann, den sie im Schlepptau hatten, und fiel ihr Blick auf Helene, brachen sie in Gelächter aus. Rümpfte Fanny die Nase? Vielleicht war es ihr nicht recht, dass Helene ihre Bücher las. Kindchen, spottete Fanny und hob drohend den Zeigefinger, wer schön werden will, muss schlafen. Lag Helene später im Bett und roch den Rauch und das Parfum von Marthas Nacht, streckte sie zögernd die Hand aus. Sie strich ihr über den Rücken und ließ die Hand auf Marthas Hüfte liegen. Mit dem gleichmäßigen Atem der Schwester schlief Helene ein.

Ich liebe euch, beteuerte Fanny eines Vormittags, als sie bei Tee und Ingwerstäbchen am niedrigen Tisch ihrer Veranda saßen, dessen Kacheln blass mit Rosen bemalt waren. Die Veranda war vom Duft der Bergamotte ausgefüllt, Fanny trank ihren Tee mit viel Kandis und ohne Milch. Auf dem Tisch stand wie jeden Morgen ein Teller mit Mohnkuchen, von dem Helene aus Scheu vor dem unaufgeforderten Über-den-Tisch-Langen und dem Zugreifen noch nie gekostet hatte. Gewiss lag Fannys Liebhaber noch im Bett, in der Kemenate, wie Fanny gern sagte. Zumindest einer von ihnen. In letzter Zeit war häufig ein neuer da, der große, blonde Erich. Wie Bernard war auch er einige unbedeutende Jahre jünger als Fanny. Noch schien sich Tante Fanny zwischen beiden nicht entschieden zu haben, aber es kam selten vor, dass sie gleichzeitig zu Gast waren. Wie Bernard schlief auch Erich meist bis zum Mittag, doch während sich Bernard den Rest des Tages mit Wettgeschäften rund um die Pferderennen und als Zuschauer auf der Trabrennbahn seine Zeit vertrieb, lockte es den großen blonden Erich auf die Tennisplätze am Grunewald und jetzt im Winter in die Hallen. Einmal hatte er Helene gefragt, ob sie ihn begleiten wolle. Dafür hatte er einen Augenblick abgepasst, in dem Fanny nicht zugegen war, und er hatte dabei Helene so plötzlich und ungestüm seine Hand in den Nacken gelegt, dass Helene seither Begegnungen mit Erich fürchtete. Zwar beachtete er sie in Fannys Beisein nicht im Geringsten, umso jäher aber fielen seine Blicke über Helene her, kaum dass Fanny ihnen den Rücken zukehrte. Die Fenster der Veranda waren beschlagen, in der Wohnung wurde noch kräftig geheizt, und der Februarschnee blieb auf den Bäumen und Dächern liegen.

Die Tür wurde geöffnet und das Hausmädchen Otta brachte auf einem Tablett eine Kanne mit frisch aufgebrühtem Tee. Aus Ceylon, sagte Otta und stellte die Kanne auf den Tisch. Sie stülpte einen silbern schimmernden Wärmehut über die Kanne und entschuldigte sich.

Ich liebe euch, flüsterte Fanny wieder. Ihr schwarzer Königspudel, der auf den Namen Cleo hörte, sie sprach es englisch aus und behauptete, es käme von Cleopatra, wedelte mit dem kurzen Schwanz, ein weiches Knäuel. Sein Fell glänzte. Er blickte aufmerksam von einer jungen Frau zur anderen. Wenn Fanny ihm ein kleines Stück vom Mohnkuchen zuwarf, schnappte er es auf, ohne sie dabei anzusehen, so, als warte er auf keine süße Zuwendung, sondern gehöre seine Aufmerksamkeit ganz dem Gespräch. Mit dem Taschentuch tupfte sich Fanny die Nase ab, nicht nur im Winter musste sie häufig schniefen.

Meine Nase ist wieder gereizt, flüsterte sie und starrte dabei gedankenverloren auf ihre Knie, wie überhaupt meine Sinne, meine Kinder, ich liebe euch.

Auf der hölzernen Lehne von Marthas Sessel saß Leontine und wippte ungeduldig mit den Zehen. Martha hatte Leontine im Sommer wiedergetroffen, seither sahen sich die beiden jeden Tag. Immer häufiger übernachtete Leontine in der Beletage der Achenbachstraße.

Mein Freund sagt, sie haben nur eine Stelle frei. Sie suchen eine erfahrene Schwester. Das ist Martha. Fanny machte einen mitleidigen Schnabelmund in Helenes Richtung, sie klimperte mit den Wimpern, damit Helene ihr Bedauern erkannte und für wahr nahm. Gute Helene, Liebchen, für dich werden wir etwas anderes finden, ganz bald.

Schon in der kommenden Woche sollte Martha in der Exerzierstraße im Norden der Stadt anfangen. Fannys Verehrer war Oberarzt auf der Sterbestation des Jüdischen Krankenhauses. Fanny behauptete, er sei greis und lüstern und habe die Stelle entsprechend ausgeschrieben. Die Schwester sollte zwischen zwanzig und dreißig sein. Also Martha. Im richtigen Alter sollte sie sein. Er mochte Frauen im richtigen Alter. Nur solche. Weshalb sich die Verehrung für Fanny in den letzten Jahren etwas verflüchtigt habe. Die Sterbestation sei schwer zu verkraften, wegen der Siechen und Sterbenden, deshalb sei der Leitung eine ältere Schwester lieber. Nun sei sechsundzwanzig noch nicht alt, aber immerhin, Martha habe im Vergleich zu Helene schon mehr Erfahrung, nicht wahr?

Helene bemühte sich um ein bescheidenes Gesicht. Martha konnte ihr Gähnen nicht unterdrücken. Sie trug noch den seidenen Morgenmantel, den ihr die Tante jüngst überlassen hatte.

Leontine nickte für Martha: Kein Zweifel, Martha leert und füllt, reinigt und beruhigt, füttert und wickelt wie keine andere.

Das Beten wirst du noch lernen? Fanny meinte es ernst. Sie nahm Martha zu hohen Feiertagen mit in die Synagoge, aber Martha war schon im Petridom keine beflissene Beterin gewesen.

Martha spreizte den kleinen Finger ab, sie griff nach einem Ingwerstäbchen aus der blütenförmigen Glasschale und knabberte zögernd daran. Helene und Martha hatten sich häufig in den letzten Monaten darüber unterhalten, wie ungern sie der Tante zur Last fielen und auf ihre Kosten lebten. Sie genossen das gemeinsame Leben in der großen Wohnung, aber sie hätten Fanny gern etwas Geld gegeben und eigenes Geld zur Verfügung gehabt. Es war ihnen unangenehm, die Geldgeschenke der Tante annehmen zu müssen. Die Breslauer Erbschaft entpuppte sich als Schwierigkeit. Die Mieten kamen nicht flüssig, der bestellte Verwalter meldete sich schon seit Monaten nicht mehr. Martha und Helene trauten sich nicht, die Tante um Geld zu bitten, das sie gern nach Bautzen geschickt hätten. Als ein hilfesuchender Brief vom Mariechen gekommen war, sie wisse nicht, wovon sie der Mutter etwas zum Essen kaufen sollte, hatte sich Helene in die Speisekammer geschlichen und Lebens mittel erbeutet, die in einem Paket nach Bautzen geschickt worden waren. Zur gleichen Zeit hatte Martha eine von Fannys Schallplatten entwendet und sie im Pfandhaus gegen etwas Geld eingelöst. Eine Leihgabe, so hatten es Martha und Helene voreinander bezeichnet, bis Tante Fanny sie beiläufig gefragt hatte, ob sie wüssten, wohin ihr Richard Tauber verschwunden sein könnte. Helene hatte einen Hustenanfall erlitten, um Fanny nicht die angebrachte Gewissensnot zeigen zu müssen. Die sei ihr runtergefallen und kaputt gegangen, das hatte Martha sofort geantwortet. Sie habe sich nur nicht getraut, es der Tante zu sagen. Falsche Reue? Marthas Augenaufschlag, die Unschuld in ihrem Antlitz war immer wieder erstaunlich. Fanny konnte Großmut beweisen.

Martha und Helene hatten sich in den vergangenen Monaten in einigen Krankenhäusern vorgestellt, aber bislang ohne Erfolg. Die ganze Stadt schien Arbeit zu suchen, und wer welche hatte, wollte eine bessere, eine mit höherem Lohn. Wer keine hatte, machte Geschäfte, aber von denen verstanden die Schwes tern noch zu wenig. In Andeutungen wurde von Schiebereien und Wetten gesprochen und davon, dass sich nur hübsche Mädchen verkaufen könnten, zumindest in der Revue. Lucinde, Fannys Freundin, arbeitete in einer Revue, nackt, wie sie zum Besten gab, bekleidet nur mit ihrem Haar. Helenes Zeugnisse aus Bautzen fanden einige Bewunderung, doch schreckte ihr Alter ab, man fand sie für eine feste Stelle im Krankenhaus zu jung.

Das werde ich machen, Martha legte das angeknabberte Ingwerstäbchen auf den Rand ihrer Untertasse. Sie lehnte ihren Kopf an Leontine und hielt sich wieder die Hand vor den Mund. Fanny betrachtete Leontine und Martha, sie lächelte und fuhr sich mit der Zunge erst über die Zähne und an schließend über die Lippe.

Das freut mich. Ihr wisst ja, ihr seid meine Gäste, für immer, wenn ihr so wollt. Meinetwegen müsst ihr nicht arbeiten, keine von euch. Das wisst ihr? Fanny blickte in die Runde. Zwar hatte sie keinen Mann und keine Eltern mehr, aber offenbar war Fanny noch so reich und allein mit ihrem Vermögen, dass sie sich keine Gedanken über finanzielle Dinge machen musste. Außer Leontine natürlich, sagte Fanny, wer wollte nicht endlich eine schöne Frau zur Hausärztin haben. Leontine, wann machst du dein Examen?

Im Herbst. Keine falschen Hoffnungen, ich werde bei Professor Friedrich an der Charité anfangen. Es könnte sein, dass er sich für eine Habilitation einsetzt.

Du enttäuschst mich, Liebchen, ich sehe dich mit dem Arztkoffer in einem kleinen Doktorwagen vor meinem Haus halten. Warum keine Praxis — du könntest dir junge Assistenten zur Hilfe nehmen, solche wie Erich oder Bernard.

Leontine lächelte geschmeichelt. Sie hatte sich in Berlin eine seltsame Geschmeidigkeit zugelegt, sie lächelte häufiger, manch mal nur mit den Augen, und selbst ihre Bewegungen waren denen einer Katze ähnlich geworden. Leontine erhob sich und ging um den Tisch herum. Sie nahm Helenes blonden Zopf in beide Hände, als wolle sie ihr Haar wiegen, und legte dann ihre Hand auf Helenes Kopf. Helene wurde warm, es gab nichts Besseres als Leontines Hand auf dem Kopf.

Den privaten Patienten fehlt noch das Zutrauen in eine Ärztin, sagte Leontine und hob entschuldigend die Augenbrauen. Zudem verfüge ich nicht über das nötige Kleingeld.

Selbstverständlich müssen es keine Assistenten sein, es könnten auch Assistentinnen sein, Leontine. Solche wie Martha und Helene. Fanny kicherte. Wie ich höre, bist du mit einem debilen Paläontologen verheiratet. Man möchte meinen, der hätte etwas Kleingeld.

Lorenz und debil? Leontines Augen funkelten. Wer behauptet das? Mein werter Mann hegt wohl nicht das nötige Vertrauen in meine Niederlassung. Jetzt lachte Leontine ihr altbekanntes schwarzes Lachen.

Muss er nicht debil sein, wenn ihm nicht auffällt, dass seine Frau ihre Nächte nicht zu Hause verbringt? Fannys Zunge glitt wieder an der oberen Zahnreihe entlang und fuhr über die Lippen.

Lorenz ist liberal, von Grund auf, und zudem hat er schlicht das Interesse an mir verloren.

Fanny warf ihrem Königspudel Cleo einen Brocken vom Mohnkuchen zu und schenkte sich ein Glas Weinbrand ein. Jetzt fiel Fannys Blick auf Helene. Leontine sagt, du beherrschst die Schreibmaschine und Stenographie? Fannys Nase lief, doch sie bemerkte es zu spät. Es gelang ihr lediglich, das Rinnsal mit dem Taschentuch am Kinn aufzufangen. Du hast die Buchhaltung in der Druckerei eures Vaters gemacht?

Helene zuckte unschlüssig die Achseln. Es schien ihr lange her zu sein, dass sie diese Dinge erledigt hatte. Ihr altes Leben war in eine gute Ferne gerückt, sie erinnerte sich lieber nicht. Was sie übte, war die Erinnerungslosigkeit, nur so, das hatte sie bei einer Gesellschaft jüngst einem Galan zugeflüstert, könne man die Jugend halten. Dabei hatte sie ihn so unschuldig angesehen, dass der Galan sie ernst nehmen musste und ihr zustimmen wollte.

Die vergangenen Monate in Berlin hatten für Helene vornehmlich aus dem Lesen in Fannys Bibliothek, Spaziergängen und der heimlichen Sorge um Martha bestanden. Helene ließ Martha nur ungern aus den Augen. Dabei bewunderte sie jene Furchtlosigkeit, mit der Martha und Leontine sich in jeden noch so anrüchigen Club auf der Bülowstraße schmuggelten. Helene hasste die Nächte, in denen sie vom Stöhnen ihrer Schwester und der Freundin geweckt wurde. Nie fühlte sie sich einsamer als auf dem schmalen Bett, wenn keinen Meter entfernt auf einem ebenso schmalen Bett Martha und Leontine um Luft rangen. Mal kicherten sie, mal hielten sie inne, sie wisperten und fragten sich so laut, dass Helene es hören musste, ob Helene wohl von ihrem Geflüster geweckt wurde. Dann wieder ihr Schmatzen, das Seufzen, vor allem Marthas, und das Rascheln ihrer Bettdecke. Manchmal hatte Helene den Eindruck, sie spüre die Wärme, die von ihren Körpern ausging.

Du kennst meinen Freund, Clemens, den Apotheker, er sucht eine Helferin, eine, die mit der Schreibmaschine kann, die hübsch ist und freundlich zu den Kunden. Ich könnte ihn fragen.

Das ist sie, sagte Leontine und strich Helene über das Haar.

Du bist doch verschwiegen? Martha zog zweifelnd ihre Stirn kraus.

Das ist sie, wiederholte Leontine und hörte nicht auf, Helenes Haar zu streicheln.

Apotheker wahren Geheimnisse, Fanny flüsterte nicht, sie raunte mit ihrer samtigen Stimme, meine, Bernards, Lucindes, die der halben Stadt.

Helene wusste nicht, was sie antworten sollte. Im Gegensatz zu Martha war es ihr nicht gelungen, Fannys Zuneigung und Vertrauen zu gewinnen. Zwar wohnten sie nun schon fast ein Jahr bei der Tante, überließ die Tante ihnen ihre Kleider und führte sie in ihren Freundeskreis ein, aber es schien, als hielte sie Helene für ein unschuldiges Kind und wollte sie alles dafür tun, dass sich daran nichts ändere. Manchmal glaubte Helene, an Fanny eine Scheu ihr gegenüber zu erkennen. Bestimmte Dinge besprach sie nur mit Martha, ob es sich um die Garderobe oder den Klatsch der Gesellschaft handelte. Selten hatte Helene die neun Jahre Altersunterschied zwischen Martha und sich so groß empfunden wie in Gegenwart der Tante. Gewöhnlich standen alle Türen in der Beletage offen. Doch wenn Fanny Martha zu sich in ein Zimmer rief, schloss sie häufig die Tür, und Helene ahnte, dass Fanny hinter der Tür ihre kleine runde Dose mit dem Löffelchen und dem weißen Pulver zum Vorschein brachte, das sie einzig mit Martha teilte, mit niemandem sonst. Dann lauschte Helene auf Zehenspitzen und hörte sie schnupfen und seufzen, und Helene bereute in diesen Augenblicken, in denen sie auf Zehenspitzen mit kalten Füßen in einem dunklen Flur stand und ihr nur das Pendel der weißen, englischen Standuhr mit ihrem goldenen Ziffernblatt Gesellschaft leistete, dass sie mit Martha nach Berlin gegangen war. Kein einziges Mal hatte Fanny gefragt, ob Helene sie abends begleiten wolle.

Nur wenn Leontine mit Martha in den etwas abgetakelten Lunapark ging, durfte Helene mitgehen. Dort ließen sich die Mädchen im alten Wellenbad treiben, dessen Wellen nur noch vom Wind erzeugt wurden, sie unterhielten sich, sie planschten, und es war ihnen gleich, wenn die am Beckenrand lungernden jungen und älteren Herren sie dabei beobachteten. Das Wellenbad trug in der Stadt die Spitznamen Nymphenbecken und Nuttenaquarium, was den Mädchen als schlechte Formulierung für die Lebensfreude junger und älterer Herren erschien. Die Mädchen bezahlten ihren Eintritt selbst, sie mochten die Wellen und die Rutschbahn in den See. Nahm das den männ lichen Zuschauern nicht das Recht, sich als Luden und auch nur als potenzielle Freier zu fühlen?

Die Stadt ist klein, das verrate ich euch. Alle Welt hält sie für groß, weil sie eine so wunderschöne Seifenblase unserer Phantasien ist. Fanny zündete sich eine ihrer englischen Zigarren an und legte ihren Kopf in den Nacken. Jede eurer phantastischen Blasen dehnt sie, macht sie größer, schillernder, fragiler. Taumelt sie? Fanny zog an der dünnen Zigarre. Steigt sie? Fanny paffte kleine Ringe. Sinkt sie? Fanny gefiel ihre Idee, dann verschwand ihr Lächeln. Gut, wenn du Geheimnisse wahren kannst, Helene. Das wird der Apotheker zu schätzen wissen. Und ich auch. Ich werde ihn fragen. Fanny nickte, als müsse sie ihre Worte bekräftigen und sich Mut machen. Sie nahm den letzten Schluck Weinbrand aus ihrem Gläschen, tupfte sich mit dem Taschentuch behutsam die Nase ab. Ihr rann eine Träne aus dem Augenwinkel. Meine Sinne, Kinder, ich liebe euch. Ihr wisst, dass ihr nicht arbeiten müsst? Warum sollte es euch schlechter gehen als Erich und Bernard. Bleibt bei mir. Füllt mir das Haus wie das Herz, sagte sie und war nun sichtlich ergriffen und gerührt. Ob von ihrer Einsamkeit oder der Vorstellung eines großen Herzens, das fragte sich Helene. Fanny schnäuzte sich und streichelte Cleos Schnauze.

Es läutete an der Tür. Wenig später erschien Otta und meldete einen Besuch an. Ihr Freund, Mademoiselle, der Herr Baron. Er kommt mit mehreren Koffern. Soll ich ein Zimmer herrichten?

Ach, habe ich das vergessen? Meine gute alte Otta, bitte, ja, richten Sie ein Zimmer, das goldene am besten. Er wird länger bleiben, er möchte sich in Berlin umsehen. Zu Martha sagte Fanny: Er ist Maler, ein echter Künstler. Fanny riss ihre geröteten Augen auf. Die Asche ihrer Zigarre war lang geworden. Suchend blickte sich Fanny um. Sie hatte den Aschenbecher aus dem Auge verloren und streifte die Asche nun an dem Teller mit Mohnkuchen ab. Er hat es in Paris versucht, jetzt kommt er her. Hier kann er malen bis zum Umfallen. Wenn es das nur wäre. Heute will ja jeder gleich einen Club gründen und Häuptling werden. Fanny schüttelte sich. Kürzlich war sie einem kleinen, aufgedrehten Mann begegnet, der viel von sich reden und sich selbst einen Namen gemacht hatte, einem Künstler, der sich gegen jeden Inhalt wehrte. Allein die Form galt ihm, das Dasein als Künstler, die Anerkennung und, freilich, die Gefolgschaft. Er gründete einen Club und ernannte sich selbst zum Häuptling. Es war ihm ernst, das erstaunte Fanny. Etwas an der Begegnung musste Fanny nachhaltig missfallen haben, womöglich war es der Anspruch auf liebendes, vergötterndes Gefolge.

Neugierig blickten die Mädchen auf, noch nie hatten Martha und Helene einen Adligen aus der Nähe kennengelernt. Doch wie sich schon bald im Gespräch herausstellte, war er nicht adlig. Einzig sein Name lautete Baron, Heinrich Baron.

Er besaß nicht viel, vor allem wenig Geld. Das wenige, das er hatte, wollte er mit einem jungen hübschen Mädchen teilen, das ihm Modell stehen wolle und ihn zeichnen lasse, zeichnen bis zum Umfallen. Der Baron war ein kleiner Mann, klein war einer, der genauso groß war wie Helene. Seine Stirn war hoch, licht war das Haar, eine Schneise deutete sich von der Stirn bis zum Hinterkopf an. Sie mochte seine Augen, die mit ihrem traurigen und verlorenen Ausdruck wohl leicht Vertrauen weckten und ein junges Mädchen wie Helene größer erscheinen ließen.

Auch wenn es Helene unangenehm war, wie die Augen des Barons an ihr klebten, so versprach sein Augenmerk einen gewissen Schutz vor dem großen Erich, der nun kaum noch eine ungestörte Gelegenheit fand, Helene in eine dunkle Ecke zu schubsen und ihr, während Fanny nur kurz in die Küche gegangen war, um nach Otta zu schauen, und Martha im Krankenhaus arbeitete und lediglich Cleo mit ihren aufmerksamen Augen und zuversichtlich wedelndem Schwanz Zeugin wurde, eine Hand auf die Brust zu legen, um ihr im selben Augenblick die dicke, nasse Zunge ins Ohr zu stoßen und schnaufend seine Zunge in ihrer Ohrmuschel zu wälzen. Sobald Helene hörte, die erschrocken den Atem anhielt und der es nicht einfiel, laut zu rufen, an den leichten Trappelgeräuschen von Cleos Beinen, dass Fanny aus der Küche zurückkam, und waren endlich auch ihre Schritte zu hören, ließ Erich so plötzlich von Helene ab wie er nach ihr gegriffen hatte, und trat festen Schrittes Fanny entgegen. Ob sie nicht ihren Schläger nehmen und mit zum Grunewald kommen wolle, er habe ein Automobil geliehen, sie fahre doch so gern.

Eines Tages setzte der Baron seine Brille ab, putzte sie und fuhr sich sacht mit der flachen Hand über seine ausgeprägte Stirnglatze. Er fragte Helene, ob sie etwas verdienen wolle. Helene fühlte sich geschmeichelt, noch nie hatte ein Maler sie zeichnen wollen. Sie schämte sich. Wer außer Martha hatte sie schon nackt gesehen?

Scham ist etwas für andere Mädchen, nicht für Schönheiten wie sie eine sei. Das sagte der Baron laut aus der anderen Ecke des Zimmers, in dem sie sich an einem Sonntagmorgen, an dem niemandem mehr einfiel zur Kirche zu gehen oder auch nur an Gott zu denken, verabredet hatten. Er hoffte, Helene damit hinter dem Paravent hervorzulocken. Sie sollte es ja nicht umsonst tun, sich zeigen. Sie bekam etwas dafür. Der Baron wedelte mit einem Schein. Dass ihre Brüste winzig waren, störte den Baron wenig, er hielt es für ein Zeichen ihrer Jugend. Ihr blondes Haar machte ihn froh. Er lachte, sie sei ja noch ein Kind. Das gefiel ihm und er zeichnete und fiel und fiel einfach nicht um. Helene wurde müde. Nach einigen Wochen sagte er, sie sei eine Magierin, da sie jeden Tag anders aussähe und ihn neu sehen ließe. Der Baron sprach davon, dass sie ihm neue Augen schenke, jeden Tag. Er gab ihr die frischgepressten Münzen und die druckfrischen Scheine, auf denen jetzt nicht mehr Rentenmark, sondern Reichsmark stand, und die Helene wie Eintrittskarten in ein selbstbestimmtes Leben erschienen.

Helene ging nun tagsüber in die Apotheke, bewies dort ihre Verschwiegenheit, und abends zog sie sich für den Baron aus, für einen Baron, der sie als Magierin und Kind sah und in dessen Gegenwart sie sich doch zum ersten Mal als Frau fühlte. Das verheimlichte sie ihm. Schließlich lag es an der Scham und an der Aufregung, nicht etwa an seinem taxierenden Blick, mit dem er um sie herum schlich, sie bat, sich zu setzen, zu legen, den Arm anzuwinkeln, und das linke Bein etwas mehr nach außen, ja, so zu spreizen; und bald hatte er eine Sehnenentzündung. Helene musste an jenen Drachen denken, der auf dem Felsen lebte und sich von Jungfrauen ernährte. Sie war sich keiner Schuld bewusst, er erregte ihr Mitleid. Er konnte die Kohle nicht mehr halten. Helene sollte sich nicht mehr ausziehen. Sie verdiente nicht mehr sein weniges Geld und ging nun länger in die Apotheke.

Abends, wenn sie aus der Apotheke kam, brachte Helene in einer kleinen Schachtel weißes Pulver mit, das sie Fanny zum Beweis ihrer Vertrauenswürdigkeit wortlos auf den Nachttisch stellte. Für Martha sorgte Leontine, wenn auch widerwillig, nur manchmal, wenn sich eine gute Gelegenheit ergab, brachte Helene für Martha etwas Morphium aus der Apotheke mit. Im Berliner Zimmer saß der Baron auf der Chaiselongue und erwartete Helene mit seinen traurigen und verlorenen Augen. Dass er sie nur ansah und nicht anrührte, mochte Helene. Alle Frauen um sie herum pflegten Verhältnisse. Helene fühlte sich nicht mehr zu jung, nur konnte sie sich nicht entscheiden. Sie verband den Arm des Barons und kühlte und wärmte ihm die Sehne. Er schenkte ihr ein Sträußchen hellgelbe Astern. Sie nahm es gerne an. Schon während sie die Blumen in eine Vase stellte, stellte sie sich vor, es wären späte Rosen und wie es wäre, wenn Clemens, der Apotheker, ihr diese Blumen geschenkt hätte. Helene wollte lieben, mit aller Unbedingtheit und Furcht, die wohl dazu gehörte. Aber war das schon alles, das Kitzeln im Bauch und das Flimmern unter der Brust? Sie musste lächeln. Fannys Glauben, es handele sich bei Clemens um einen Freund, konnte Helene nicht teilen. Der ausgemergelte Apotheker, an den Helene häufig denken musste, wenn sie mal einen Tag frei hatte, blickte weder Fanny noch einer anderen Frau länger in die Augen als nötig. Auch sah er keiner von ihnen nach und sprach kein Wort zuviel. Einzig, wenn seine Frau die Apotheke betrat und mit zwei, drei ihrer insgesamt fünf kleinen Kinder an den Rockzipfeln etwas abholen oder erfragen wollte, die Kälte hatte ihr rundes Gesicht gerötet und ihre riesigen blauen Augen leuchteten, öffnete sich das Gesicht des Apothekers und er erwachte. Er küsste seine Frau und herzte seine Kinder, als sähe er sie nur selten.

Der Apotheker kam aus keiner vermögenden Familie, er verdiente sein Geld schwer und musste Schulden für die Apotheke auslösen. Tagsüber verzehrte er sich nach seiner Frau und den Kindern. Wenn Fanny in ihm einen Freund sah, mochte es daran liegen, dass sie nicht erkannte, wie wichtig ihm das Geldverdienen war. Helene schrieb auf der Schreibmaschine für ihn die Bestellungen, Briefe und Abrechnungen. Er zeigte ihr, zu welchen Konsistenzen sich Fette und Säuren mischen ließen, brachte ihr notwendige Kenntnisse über die Reaktionen von Basen und Säuren bei und überließ ihr schließlich ein dickes Buch für das Lernen zu Hause. Helene wusste, dass sie diese Kenntnisse für ein mögliches Studium benötigen könnte, also eignete sie sich alles an, was ihr geboten wurde. Sie machte es sich zur Gewohnheit, dem Apotheker jeden Abend fünf Maiblätter, und wenn das große Glas leer war, ihm aus dem kleinen Glas Himbeeren und Veilchenbonbons einzupacken. Seine Kinder freuten sich darüber. Helene arbeitete seine Rechnungsbücher vor und rührte Salben an, sie blieb nach Ladenschluss in der Apotheke, wenn er schon nach Hause zu seiner Frau und seinen Kindern eilte. Das Abzweigen von Giften war ein Leichtes, nach kurzer Zeit kannte Helene die Unterschriften und Stempel der Ärzte, sie wusste, wer was wem verordnete und wo sie eine Null an die Bestellungen hängen konnte. Aus zwei Gramm Kokain wurden zwanzig, aber nur selten aus einem Gramm Morphium zehn und hundert. Die Bestellungen nahm sie selbst entgegen, sie wusste, wann der Lieferant kam. Sie ordnete die Gläser und Schachteln selbst, bestätigte den Empfang und wog die Substanzen. Der Apotheker wusste, dass er Helene vertrauen konnte. Sie entlastete ihn, in der Verantwortung, aber auch bei der Arbeit. Wenn sie die Kristalle zu Pulver rieb und in Kapseln stopfte und Flüssigkeiten in kleine Fläschchen füllte, genügten kurze Anweisungen und ein flüchtiges Lächeln. Im Laufe der Zeit lernte Helene hinzu, sie mischte Alkohol mit kostbaren Wirkstoffen und ermittelte Basen und Säuren der Tinkturen, so dass sie den Apotheker nicht weiter behelligen musste.

Aber das Lächeln des Apothekers war zu flüchtig. Ein sanftes Kitzeln im Bauch und ein Flimmern unter der Brust entfachte noch kein Feuer und bescherte Helene nicht das Verhältnis, von dem sie glaubte, dass sie es nun haben müsste.

Der Baron umschmeichelte sie und bewachte sie mit seinen aufmerksamen Blicken, nur ließ er jede noch so günstige Gelegenheit verstreichen, die Hand nach Helene auszustrecken.

Einmal saßen sie am frühen Abend beisammen, Martha hatte den Kopf auf Leontines Schoß gelegt und war eingeschlafen, Fanny stritt sich mit Erich über die weitere Abendgestaltung und Helene las aus der neuen Ausgabe von Rot und Schwarz vor. Der Baron hatte sich in den Sessel neben Helene gesetzt, nippte an einem Glas Absinth und lauschte.

Leontine entschuldigte Martha und sich, umständlich stand sie auf, Martha barmte, ihre Knochen, ihre Nerven, ihre Haarwurzeln taten weh, halb musste Leontine Martha tragen, halb stützte sie Martha, um mit ihr ins Bett zu kommen. Kaum hatten die beiden das Zimmer verlassen, sprang Erich entschlossen auf. Die Nacht sei jung, und das nicht lang, er wolle endlich aufbrechen. Fanny hielt ihn am Hemd fest. Erich schüttelte sie ab. Nimm mich mit, flehte sie. Türen schlugen.

Plötzlich war Helene mit dem Baron allein, sie las weiter, wie Julian Madame Rênal anbot, ihr Haus zu verlassen, wie er angeblich die Ehre seiner Herzensdame und doch auch beider Liebe retten wollte, wie sich die Dame erhob und zu allem Leid bereit war. War dies nicht der Augenblick, in dem der Abstand zwischen dem Baron und Helene so ganz geronnen war, geschmolzen? Angeregt durch die fremde Leidenschaft, die hier größer zu werden schien als die Seiten im Buch, musste er bloß seine Hand ausstrecken. Aber er hob den Arm nur, um seine Hand jetzt auf der Lehne seines Sessels, zwischen sich und Helene, abzulegen. Mit der anderen hielt er fest sein Glas, nahm den letzten Schluck und füllte sich das Glas neu auf. Helene bemerkte, wie ihre Ungeduld in Ärger umschlug. Sie hielt beim Lesen inne.

Möchtest du auch etwas trinken, Helene?

Sie nickte, obgleich sie nicht wollte. Nie hätte Stendhal Julian jetzt etwas derart Profanes sagen lassen. Helenes Blick fiel auf die erste Seite: Die Wahrheit! Die bittere Wahrheit! Helene ahnte, was dieser Stendhal mit dem Ausruf Dantons bezweckte. Unverdrossen goss der Baron Helene ein Gläschen ein, er pros tete ihr zu und fragte, ob sie nicht weiterlesen wolle. Vielleicht bemerkte der Baron ihr Zögern? Mit eigensinniger Freude holte er aus. Zwar sei er in Frankreich gewesen und spreche fließend, aber er habe in seinem Leben noch keine Zeit gefunden, diesen Roman zu lesen. Wie dankbar sei er nun, dass Helene ihm auch diese Welt eröffne. Helene spürte Müdigkeit aufkommen, nur halbherzig unterdrückte sie ein Gähnen. Eine Jungfrau sollte eine Jungfrau bleiben sollte eine Jungfrau bleiben. Während sie lustlos und bald angestrengt fortfuhr, erblassten ihre noch eben von der Erwartung geröteten Wangen. Ein Kopfweh kroch ihr den Nacken herauf. Als die Standuhr im Korridor ihren Gong zur vollen zehnten Stunde schlug, schloss Helene das Buch.

Ob sie nicht weiterlesen wolle? Der Baron wirkte erstaunt.

Nein. Helene stand auf, ihre Kehle war trocken, der Geschmack des Absinth verursachte eine leichte Übelkeit. Sie wollte nur noch in ihr Bett und hoffte, dass Martha und Leontine im gemeinsamen Zimmer schon fest schliefen.

Der Frühling flog vorbei; ohne Erwecken und Erwachen. Im Juni zur kürzesten Nacht wurde Helene neunzehn. Noch keine einundzwanzig, aber alt genug, wie Fanny und Martha meinten, um sie das erste Mal mit in die Weiße Maus zu nehmen. Fanny überreichte Helene einen schmalen Umschlag, darin steckte ein mit ihrer wunderbar liegenden Schrift verfasster Gutschein über einen Gymnasialkurs für Mädchen in der Marburger Straße. Der Kurs sollte schon im September beginnen, er würde sich gut mit Helenes Arbeit vertragen, da er abends stattfinden sollte. Aus unerfindlichem Grund hatte Fanny dem Gutschein den Titel Zur Bewährung gegeben, sie hatte diesen über allem thronenden Titel unterstrichen, und es schien Helene, als wolle sie damit auf jenen unsichtbaren Graben verweisen, der durch die Geste keineswegs zugeschüttet werden durfte.

Helene bedankte sich, aber Fanny sah sie nur streng an und begann mit Martha eine Unterhaltung über den im nächsten Jahr anstehenden ersten Schönheitswettbewerb auf deutschem Boden, an dem Martha nach Fannys Ansicht dringend teilnehmen sollte.

Lauter Knochen und Nerven, bündelweise, sagte Martha erschöpft.

Ach was, entgegnete Fanny, von außen sieht man besser. Schau dich mal an. Fanny legte Martha ihre lange Hand in den Nacken. Helene musste wegsehen.

Aus einer Laune heraus und zur Erschütterung des Barons schnitt Leontine Helenes Haare am Nachmittag kurz, kurz bis zum Ohrläppchen, der Haarsaum wurde im Nacken mit dem Messer angeschoren. Wie leicht ihr Kopf jetzt war.

Zur Feier des Tages, sagte Leontine und ließ sich zum Dank von Helene küssen. Dass Helene ihren angewachsenen Ohrläppchen jemals so nah sein würde! War es möglich, diese Ohrläppchen zu küssen? Helene berührte nur flüchtig mit ihren Wangen Leontines Wangen, ihre Küsse flogen in die Luft über Leontines Schultern, zwei, drei, vier, nur Helenes Nase berührte die Ohren der Freundin. Wie konnte Leontine ihren Duft aus der Lausitz bis in den heutigen Tag retten?

Der Baron war während der Prozedur des Haareschneidens ständig an der offenen Tür des Badezimmers vorbeigeschlichen, steckte unter fadenscheinigen Vorwänden seinen Kopf zur Tür herein und stieß dabei Klagen aus. Das könne er nicht sehen, rief er, während er mit der Hand nur zaghaft die eigene Bresche befühlte und kaum mehr bedecken konnte. Eine Sünde ist das!

Martha überreichte Helene ein knielanges Kleid aus Seidenatlas und Chiffon, das sie selbst noch in der letzten Saison getragen hatte und das ursprünglich von Fanny stammte. Helene würde jetzt groß genug sein, das stimmte. Nur war Helene nicht so mager wie Fanny und Martha. Leontine zögerte nicht, sie ließ das Kleid an den Nähten aus und verlangte eine Nadel. In weniger als einer halben Stunde passte das Kleid Helene wie angegossen. Aus dem Augenwinkel sah Helene, wie der Baron sich bückte und ihr zu Boden gefallenes Haar aufhob. Er legte sich die langen goldenen Strähnen über den Arm und verschwand damit, beinahe unbemerkt, aus dem Badezimmer. Fanny verkündete, sie fühle sich für Atlas zu alt und zu jung. Für Helene wäre das Kleid das richtige, sagte Fanny und sah nicht mehr hin, als Helene das Kleid angezogen hatte. Gymnasialkurs und Kleid mussten ihr als geeigneter Weg erscheinen, Helene loszuwerden.

Die Nacht in den Sommer, die Luft war warm, ein Wind kam auf. War Helene die neue Frisur nicht geheuer? Sie setzte jenen Hut auf, der mit der Hinterlassenschaft des Breslauer Groß onkels nach Bautzen geschickt worden war, ein topfähnlicher Hut, ähnlich denen, die jetzt alle Frauen trugen, nur war ihrer aus Samt und mit Straßsteinchen besetzt.

Fanny ging mit Lucinde und dem Baron voraus, Leontine und Martha nahmen Helene in ihre Mitte und hängten sich ein. Der Duft von Lindenblüten wehte ihnen entgegen. Ein durchsichtiger Schal aus Organza ersetzte Helene ein Jäckchen. Angenehm kühl strich der Wind um ihren Hals.

Am Eingang der Weißen Maus standen zwei weißgesichtige Menschen, deren Schminke schwer erkennen ließ, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Die Portiere verhandelten ohne Lächeln über den Einlass der Gäste, Bekannte wurden begrüßt und Fremde abgewiesen. Fanny wurde erkannt, sie steckte mit einem der beiden Portiere den Kopf zusammen und sagte ihm wohl, dass der Baron, Lucinde und die jungen Frauen zu ihr gehörten. Dem Portier war das recht, mit einer einlassenden Geste öffnete er ihnen die Tür. Das Lokal war nicht besonders groß, die Menschen standen eng aneinandergedrängt. Weiter vorn an einer Bühne gab es Tische, an denen Gäste saßen. Die Zeit, in der eine gewisse Anita Berber hier ihren Tanz des Lasters und des Grauens aufführte, ein Spektakel, das nur mehr Totentanz hieß, war vorüber, es hieß, sie sei jetzt auf einer richtigen Bühne angekündigt, erscheine aber nicht allzu häufig. Doch jeder der Gäste sah sie noch hier auf der Bühne stehen. Immer wieder gingen die Blicke zu den roten Vorhängen, als vermute man, sie könne dort jeden Augenblick erscheinen und tanzen. Man hatte lesen müssen, wie sie von ihrem Liebsten in Wien bestohlen und verlassen worden war, worauf er nach Amerika gereist sein und dort binnen eines Jahres vier Frauen geheiratet haben sollte. Das neueste Gerücht lautete, er sei zurück in Hamburg schnell verstorben.

Doch statt der Berber versammelten sich bald drei Musiker auf der Bühne, eine Posaune, eine Klarinette und eine Trompete. Und als Helene noch glaubte, mit diesen langgezogenen Tönen übten sie, begannen einzelne Gäste mit dem Tanzen. Helene wurde durch die Menge geschoben, Fanny gab an der Garderobe ihren Umhang ab und nahm Helene ungefragt den Hut vom Kopf, Lucinde ließ Champagner und Gläser kommen. Sie tuschelten, war das nicht Margo Lion, die dort hinten in einer Traube von Menschen stand? Die Blicke des Barons galten einzig Helene, sie klebten an ihr, an ihrem Gesicht, an ihren Schultern, ihren Händen. Seine Blicke gaben ihr ein zugleich sicheres und unangenehmes Gefühl. Die Nacktheit ihres Halses war wohl eine Herausforderung, eine nicht ungewollte, wie Helene zu sich sagte, aber eine durchaus erregende. Plötzlich spürte sie einen Atem auf ihrer Schulter, und der Baron sagte mit seiner zarten Stimme, die fast quietschte, wo er ihr Festigkeit verleihen wollte: Helene, dein Schal ist dir von der Schulter geglitten. Helene sah an sich herab, verständnislos betrachtete sie den Baron, der ihr heute Nacht noch kleiner als sonst erschien. Wieder näherte er seine Lippen, fast küsste er ihren Hals: Ich sehe deine Grübchen in den Schultern, und sie machen mich verrückt.

Helene musste lachen. Jemand stieß ihr sacht in den Rücken.

Du solltest den Schal wieder um die Schultern legen, sonst entdecken dich andere Männer.

Der Baron wollte wohl ein Recht an ihrer Nacktheit äußern. Helene drehte sich um. Hinter ihr standen Fanny und Lucinde, sie hatten Bernard und einen Freund getroffen. Fanny forderte ihre Freunde und Nichten auf, sich ein Glas vom Tablett zu nehmen. Es war ein Glück, dass es in diesem Lokal laut war. Helene wollte dem Baron nichts erwidern, sie ließ nachlässig den Schal in ihren Armbeugen, auch das Klimpern mit den falschen Wimpern war aufregend, und es machte ihr gar nichts aus, wenn andere Männer ihre Grübchen sahen.

Leontine begrüßte einen jungen Mann, sie stellte ihn vor, sein Name sei Carl Wertheimer. Die Musik wurde so laut, dass Leontine schreien musste, während er sich mit den Händen die Ohren zuhielt. Er sei einer ihrer Studenten in der Pathologie, schrie Leontine, einer, der sich hineingeschummelt habe. In Wirklichkeit studiere er Philosophie und Sprachen, Latein, Griechisch, aber auch neuzeitliche Literaturen, offenbar wolle er Dichter werden. Der junge Mann schüttelte heftig den Kopf. Niemals. Doch, sagte Leontine lachend, sie habe schon einmal beobachtet, wie er im Kreise von Studenten ein Gedicht auf gesagt hätte, gewiss ein selbst gedichtetes. Carl Wertheimer wusste nicht, wie ihm geschah. Er sei ein ganz gewöhnlicher Student, wenn er den Ovid oder Aristoteles zitiere, dann dürfe man das nicht mit den nachahmenden Bemühungen Heranwachsender vergleichen. Im Übrigen besitze er in Anbetracht der klugen Damen nicht den Mut, sich zu solchen Bemühungen zu bekennen. Leontine fuhr ihm über das Haar, so, wie eine große Schwester es machen könnte, sie ließ ihn als kleinen Jungen erscheinen, und Helene blickte ihn jetzt forschend an, seine Augen befanden sich auf ihrer Höhe, sein schmaler Körper war der eines Knaben. Er mochte in Helenes Alter sein. Helene sah ihn einen Augenblick lang wie einen, der zu ihr gehören könnte, aber noch galt seine Aufmerksamkeit ausschließlich Leontine. Es war deutlich, dass Carl Wertheimer zu Leontine aufblickte, nicht nur, weil sie wenige Zentimeter größer zu sein schien als er, vermutlich schätzte er diese ungewöhnliche Frau als Lehrerin, vielleicht war er ein wenig verliebt in sie.

Auf der Bühne gesellten sich weitere Musiker zu den ersten, auch sie spielten Posaune, Klarinette und Trompete. Die Töne wurden verschleppt, der Takt schlingerte und schwang. Zu Helenes Erstaunen begannen immer mehr Menschen um sie her zu tanzen, schon konnte Helene kaum noch den Tanzboden erkennen, das Parkett unter ihren Füßen vibrierte mit der Musik. Fanny und Bernard stürmten voran, Lucinde nahm Bernards Freund an die Hand, selbst Martha und Leontine mengten sich unter die Tanzenden, nur der Baron zog sich zurück. Er bewachte das Tablett mit den zurückgelassenen Gläsern, er stand mit dem Rücken zur Wand und ließ Helene, die noch unschlüssig war, nicht aus den Augen. Eine Hand legte sich sacht auf Helenes Arm. Ob sie tanzen wolle, fragte ein bartloser Mann, er nahm ihr das Glas aus der Hand und zog sie mit sich. Mit einer Hand hielt er Helene fest, als müsse er aufpassen und könne die Musik sie davonlocken, erst tragend, dann schnell, mit der anderen Hand berührte er wie zufällig beim Tanzen ihre nackten Arme. Kein Ding und kein Lebewesen blieb von der Musik verschont, sie ging durch sie hindurch, erfasste jedes Teilchen und wandelte in Bruchstücken der Zeit den Aggregatzustand des Raumes, der eben noch still und starr war, jetzt aber sich in einem Aufruhr befand, wie es Helene schien, der nicht nur jedes Molekül und jedes Organ in Schwingungen versetzte, sondern die Hüllen der Körper wie auch die Grenzen des Raumes strapazierte, ohne sie zu sprengen. Die Musik dehnte sich aus, erfüllte den Raum mit ihrem matten Glanz, einem zarten Glitzern, dem Sprühen feinster Melodien, die kein übliches Maß mehr kannten, sie bog die Körper der Tanzenden, krümmte sie, richtete sie auf, das Schilf im Wind. Einmal legte der Bartlose seine Hand auf ihre Hüfte, dass Helene erschrak, aber er wollte sie nur davor bewahren, mit einem tanzenden Paar zusammenzustoßen. Helene hielt Ausschau, sie erkannte Leontines Hals, ihr dunkles kurzes Haar, Helene drängte seitwärts, sie wand sich an den Körpern entlang, die sich ihr zuneigten und abwendeten, sie schlängelte sich durch die Tanzenden, der bartlose Mann folgte ihr mit jedem Schritt, vorbei an Tänzern, unter ihren Armen hindurch, bis Helene Marthas Hand erwischte und Leontines Lachen entdeckte. Der Bartlose ruderte wild mit den Armen, er drohte, er machte Handstand und kam wieder auf die Füße. Helene musste lachen. Sie versuchte, dem Eiern der Musik zu folgen, ihre Schultern und Arme bewegten sich, die Menschen um sie her zappelten, sie wirbelten sich in die Musik, verhedderten sich und traten einander auf die Füße. Die Musik erinnerte Helene ans Schaukeln: Wurde man angestoßen, riss der Schwung alles mit sich und wirkte zielgenau und stark, doch schon im folgenden Takt begann das Straucheln. Ließ man sich baumeln und streckte die Beine mal in die eine, dann in die andere Richtung, so begann ein Taumeln und ein Trudeln, ein elliptisches, mit einer eingeschriebenen Konsequenz sich verringernder Kreise. Marthas Kopf wackelte bedenklich, ihr Haar löste sich, wie eine Ertrinkende warf Martha ihre Arme in Leontines Richtung. Helene sah ihre glasigen Augen, den nachtverschleierten Blick, der keinen mehr traf und niemanden erkennen konnte. Sie winkte Martha zu, aber Martha stützte sich jetzt auf Leontine und ein trunkenes, etwas dümmliches Lächeln quoll aus ihrem Gesicht. Wieder stieß die Trompete vor, gab Anstoß und die Tanzenden gerieten ins Schwitzen und die nackten Arme und Schultern der Frauen glänzten im schmalen Lichtschein der kleinen Lampen. Im nächsten Augenblick konnte Helene das Veilchenblau von Leontines Kleid nicht mehr sehen, und Mar thas rührseliges Lächeln war verschwunden, ein neuer Rhythmus setzte ein, Helene schaute sich um, konnte aber weder Leontine noch Martha entdecken. Derweil erblickte sie den Rücken ihres bartlosen Tanzpartners vor sich, der nun mit einer anderen jungen Frau tanzte.

Helene fand sich allein inmitten der aufgebrachten Menge. Die Musik umfing sie, nahm Besitz, wollte herein in sie und zugleich hinaus, Helene stieß Arme und Beine von sich. Eine Angst ermächtigte sich Helenes Körper, Helene kannte keine der Bewegungen, noch wusste sie, wo sich der Boden befand. Selbst wenn der Boden nachgab, ihre Füße landeten und hoben sich von ihm, man befand sich in gegenseitiger Abhängigkeit. Helene wollte an den Rand gelangen, dorthin, wo sie den Baron vermutete, auch wenn sie seinen Hut nicht entdecken konnte und auch sonst keinen der ihrigen sah, aber die Tanzenden stießen sie immer wieder in ihre Mitte und ihre Beine hörten nicht auf, dem Rhythmus zu folgen. Nirgends war ein Verschwinden möglicher als inmitten dieser tanzenden Menschen. Helene gab sich hin; ihre Füße wurden von den Tönen der Klarinette gejagt, schon holte der Takt sie ein, mit den Armen stieß sie Löcher in die Luft.

Eine Hand griff nach ihr, sie kannte den Mann nicht. Sein Gesicht war weiß geschminkt, die Lippen fast schwarz, und Helene tanzte. Mit jedem Tanz änderte ihr Gegenüber Gesicht und Gestalt. Bald tauchten Leontine und Martha wieder auf, Martha lachte ihr beim Tanzen zu, vielleicht, vielleicht galt das Lachen ihrer Himmelsrichtung, den Tönen, dem Verschwinden, aber Helene suchte nicht länger ihre Nähe. Es gab einen Blick, der Helene seit geraumer Zeit verfolgte, aus dem Dunkel neben der Bühne, von einem der kleinen Tische mit den grünen Lämpchen her. Helene erkannte Carl Wertheimer und war froh, dass er sie endlich entdeckt hatte. Vielleicht war er bloß neugierig, mit welchen Freunden sich Leontine umgab. Sein Blick war kein lästiger, er war aufmerksam. Carl Wertheimer trug noch seinen Mantel, der glatte Pelzkragen schimmerte, vielleicht war er im Aufbruch begriffen. Er rauchte eine kurze schlanke Pfeife. Immer wieder glitt sein Blick zu den anderen Tanzenden, zu Leontine, und wieder zurück zu Helene. Trotz der Jugend waren seine Züge ernst, würdevoll, musste Helene denken.

Die Klarinette rief, Helene sprang, die Posaune schob und Helene lehnte sich zurück, die Trompete lockte, Helene sträubte sich, noch.

Bald darauf knickte Helene mit dem Fuß um, sie stolperte und verlor das Gleichgewicht. Damit sie nicht fiel, packte sie Marthas Schulter und stützte sich. Martha musste sie verwechselt haben, ohne genau auf sie zu achten, entfernte Martha Helenes Hand mit einer groben Geste. Das Riemchen von Helenes Schuh war gerissen, ihr blieb nichts anderes, sie nahm den Schuh in die Hand und drängelte sich zwischen den Tanzenden und ihrem süßsauren Geruch hindurch. An der Bühnenbrüstung hielt sie sich links. Kaum war sie der dunstigen Wärme der Tänzer und ihren hitzigen Fängen entkommen, zog es kühl aus der Dunkelheit. Gab es Fenster? Fenster gab es keine. Womöglich hatte jemand die Tür zum Lüften geöffnet. Helene blickte über die Köpfe hinweg, weit hinten im Dunkel des Raumes erkannte sie Fannys weißes Gesicht. Vom Hut des Barons war glücklicherweise weit und breit nichts zu sehen. Was trinken? Jemand rempelte sie an, Helene dankte flüchtig und eilte weiter. Ihr Weg führte vorbei an nachterschöpften Gestalten und morgenblassen Gesichtern. Ein Frösteln zog über ihren Rücken und unversehens blickte sie jenem Mann mit den hageren Gesichtszügen in die Augen.

Verzeihen Sie, sagte er, Sie sind eine Freundin von Leontine. Seine Stimme war erstaunlich tief für seine Jugend. Ihr Blick fiel auf seinen Pelzkragen. Das Schimmern war so schön, dass sie am liebsten den Pelz berührt hätte.

Helene nickte, gewiss kannte er ihren Namen nicht. Also sagte sie: Helene, Helene Würsich.

Wertheimer, Carl. Fräulein Leontine war so freundlich, mich zu Beginn des Abends vorzustellen.

Der Student.

Er nickte und bot ihr seinen Arm. Benötigen Sie Hilfe?

Und wie, mein Schuh ist hinüber. Helene hielt ihm zum Beweis den Schuh entgegen. Ihr fiel Martha ein, ängstlich schaute sie sich um und entdeckte ihre Schwester unter den Tanzenden, sie schlang ihre Arme um Leontine, es fehlte nicht viel und Martha würde Leontine vor aller Augen küssen. Ein leichtes Unwohlsein, ein zarter Ekel überkam Helene, es war mehr die Furcht vor dem Entdecken des Fremden, der Entblößung jenes Geflechts, zu dem sie als Schwester und Mitwisserin gehörte, als das schwache Gefühl des Ausgeschlossenseins. Rasch wollte Helene Wertheimers Aufmerksamkeit ablenken.

Ihr kennt Doktor Leontine schon lang?

Unsere Tante hat uns eingeladen, ihr Freundeskreis ist groß. Helene machte eine unbestimmte Geste. Ich fürchte, ich muss jetzt gehen.

Gewiss. Darf ich Sie begleiten? Es wäre nicht gut, wenn Sie allein durch die leeren Straßen hinken.

Gern. Weder Asche noch Tauben haben mir Anmut geschenkt, sagte sie und merkte, dass ihre Ohren glühten, mit dem Wort Anmut meinte sie wohl so etwas wie jungfräuliche Geduld.

Helene verabschiedete sich von ihrer Tante. Fanny würdigte den jungen Studenten Wertheimer keines Blickes, sie versicherte Helene, dass Otta zu Hause die Tür öffnen werde.

Draußen war es hell geworden. Die Vögel schilpten nur noch leise dem längst angebrochenen Sommertag entgegen und die Laternen waren erloschen. Eine Droschke wartete auf Kundschaft. Offenbar mussten die ersten Menschen zur Arbeit gehen. An der Ecke stand ein Zeitungsverkäufer, er bot die Morgenpost und den Querschnitt an.

Der Querschnitt am frühen Morgen auf der Straße, Carl schüttelte lächelnd den Kopf.

Helene genoss die Begegnung mit Wertheimer, und während sie einander erste Fragen nach ihrem Leben stellten, verschwieg sie ihm, wie nah sie wohnte. Ein Fuß im Schuh, den anderen auf dem Pflaster spürte Helene das Kleben der Straße, die Linden hatten über Nacht ihren Nektar tropfen lassen.

Komm, wir wollen uns näher verbergen…, Wertheimer sah Helene forschend an.

Das Leben liegt in aller Herzen. Helene sagte es nebenher, als ginge es sie nichts an.

Wie in Särgen. Wertheimer frohlockte, doch Helene antwortete nicht mehr, sie zog es vor zu lächeln. Was ist, wollen Sie nicht weiter?

Ich habe vergessen, wie es geht.

Das glaube ich nicht. In seinen Blick trat Befremden, sie besänftigte ihn.

Sie sagen es so fröhlich, das Weltende ist ein trauriges Gedicht, meinen Sie nicht?

Traurig nennen Sie das? Es ist optimistisch, Helene! Was ist verheißungsvollerer als die Hingabe, der Kuss, eine Sehnsucht, die uns umfängt und sterben lässt.

Glauben Sie, sie denkt an Gott?

Keineswegs, das Göttliche ist ihr näher. Wie anders beginnt ihr Gedicht, als mit mehrfachem Zweifel, sie spricht vom Weinen, als ob der liebe Gott gestorben wär. Aber glaubte sie an Gott, würde sie ihm die Unsterblichkeit zugestehen, als ob ist eine doppelte Ablehnung des Glaubens, sie glaubt nicht an den lieben, so wenig wie an den bösen oder irgendeinen. Gottes Sterben sollte ein Weinen in der Welt verursachen, die Welt weinen wegen ihm oder weinen, weil sie ihn los ist?

Helene sah Wertheimer an, sie durfte nicht vergessen, die Lippen zu schließen. Hatte nicht Martha immer zu ihr gesagt, sie solle den Mund zumachen, sonst flögen Fliegen hinein? Noch nie hatte sie einen Menschen über ein Gedicht sprechen hören.

Gehörte das Gedicht nicht ihr, ihr allein? Eifer entfachte, Helene sprach drauflos, um ihr Gedicht mehr als um ihr Leben, aber das ließ sich gegenüber einem Wertheimer nicht mehr scharf trennen.

Lasker-Schüler delektiert sich nicht an Gott, sie erfreut sich auch nicht an den Menschen und ihrem Leid, dem sie gehorchen, nur gönnt sie ihnen einen Kuss vor dem Vergängnis. Glauben Sie mir, die eigene Sterblichkeit, der sie ins Auge blickt, ob an der Sehnsucht und begleitet von einem Weinen oder nicht, diese menschliche Sterblichkeit, ihre Einsicht, die Unausweichlichkeit, die steht doch deutlich der Unsterblichkeit Gottes gegenüber.

Lesen Sie Gedichte immer von hinten?

Nur wenn jemand kommt, der auf Linearität besteht.

Der junge Mann wollte die Straßenbahn oder einen Autobus nehmen und bog um die Ecke.

Und Sie benutzen gern lateinische Begriffe, delektieren sich, unterstellen mir Linearität!? Ich verlasse die Gerade gern und werde gewiss auf gar nichts bestehen, Ihnen gegenüber nicht. Wertheimer gab seinen Worten Strenge, im nächsten Augenblick leuchtete Schalk aus seinen Augen. Wie steht es mit dem Müll von Kultur und Wissenschaft? Sagen Sie, halten Sie nicht unsere ganzen Bemühungen für verwerfliche Anmaßung? Hat der Club, in dem jeder Vorsitzender sein darf, nicht den größten Zulauf? Ist Dada ein Papierkorb für die Kunst?

Helene überlegte. Was sollte schlecht an Unterschieden sein, sagen Sie mir das? Es war eine aufrichtige Frage, schließlich, so dachte Helene, wen störten all die Clubs, solange jeder gründen und beitreten konnte, sooft er nur wollte.

Am Kurfürstendamm ließen sie die erste Straßenbahn durchfahren, sie war voll besetzt, allein die Mutigen schwangen sich auf und ihr Gespräch ließ keine Pause zu, fand keine Unterbrechung für ein bisschen Mut, noch für den Kuss.

Sie kennen den Lenz von Büchner, woran leidet er, Helene?

Helene sah, mit welcher Neugier Carl auf ihre Antwort lauerte, sie zögerte. An dem Unterschied. Das meinen Sie? Aber nicht jeder Unterschied verursacht Leid.

Nein? Carl Wertheimer schien plötzlich zu wissen, worauf er hinauswollte. Er wartete nicht mehr auf ihre Antwort. Sie sind eine Frau, ich ein Mann — glauben Sie, das bringt Glück?

Helene musste lachen, sie zuckte mit den Achseln. Was sonst, Herr Wertheimer?

Selbstverständlich, werden Sie sagen, Helene. Zumindest hoffe ich das. Das sei Ihnen zugestanden. Aber nur, weil Glück und Leid sich nicht ausschließen. Im Gegenteil, Leid schließt die Vorstellung von Glück in sich ein, birgt es gewissermaßen. Die Vorstellung vom Glück kann im Leid niemals verloren gehen.

Nur sind die Vorstellung vom Glück und das Glück selbst ja verschiedene Dinge. Helene spürte ihre Langsamkeit, sie hinkte, nur kurz bemerkte sie, wie weh ihre Füße taten. Lenz hat doch alles, seine Wolken sind rosa, der Himmel leuchtet — all das, wovon andere bloß träumen.

Helene und Carl bestiegen einen Autobus gen Osten, sie nahmen an Deck Platz, der Fahrtwind wehte ihnen entgegen, und damit Helene nicht fror, legte Carl seinen Mantel um ihre Schultern.

Aber das lässt Büchners Lenz leiden, warf Carl ein. Was sind ihm die Wolken, was das Gebirg, wenn er Oberlin nicht gewinnt.

Gewinnt? Helene glaubte eine Unschärfe in Carls Gedanken zu entdecken, ihre Aufmerksamkeit ließ sie schwer darüber hinweghören. Carl mochte ihre Nachfrage falsch verstanden haben.

Was führt euch Schwestern nach Berlin, ein Besuch bei der Tante?

Helene nickte entschlossen. Ein Besuch auf lange Zeit, wir sind gute drei Jahre hier. Helene schmiegte ihr Kinn an den Pelzkragen seines Mantels. Wie glatt der war, wie gut der duftete, ein Pelzkragen im Sommer. Martha arbeitet im Jüdischen Krankenhaus. Ich bin auch Krankenschwester geworden und habe meine Prüfung noch in Bautzen abgelegt, aber hier in Berlin ist es nicht leicht für eine Schwester, wenn sie so jung ist und keine Referenzen hat. Helenes Füße brannten. Sie überlegte, ob sie ihm sagen sollte, dass sie Geburtstag hatte und dass sie einen Gymnasialkurs für Mädchen beginnen würde, dass sie studieren wollte, und ließ es bleiben. Schließlich war ihr Geburtstag seit einigen Stunden vorüber und die Morgensonne, die erste Sommersonne nach der Sonnenwende, die ihnen jetzt warm ins Gesicht schien, war etwas wichtiger, solange sie diesen Pelz an ihrer Wange spürte.

So jung? Carl sah sie schätzend an. Helenes Wangen glühten, ihre Füße waren kalt geworden, der eine Schuh lag in ihrem Schoß, am Rücken klebte das vom Tanzen durchnässte Kleid und machte sie frieren, doch ihre Wangen glühten und sie lächelte und erwiderte Carls Blick.

Er beugte sich zu ihr, Helene glaubte, er wolle sie küssen, aber er flüsterte ihr tonlos in Ohr: Wenn ich mich traute, würde ich Sie gern küssen.

Helene zog den durchsichtigen Schal fester um ihre Schultern, ihr Blick fiel durch das Blattwerk der Platanen auf die vorüberziehenden Geschäfte. Sie sprang auf, hier mussten sie raus.

Wir sind doch erst eine Station gefahren. Wertheimer lief hinter ihr her, die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße.

Helene humpelte, ihr rechtes Bein war nun viel kürzer als das linke.

Ich würde Sie tragen, Helene, aber das gefiele Ihnen vielleicht nicht.

Was mir nicht alles gefiele, Helene verdrehte die Augen, die Nacht hatte sie aufgekratzt und die Helligkeit des Morgens ließ sie sich mutiger fühlen. Vergnügt legte sie ihre Arme um Carl Wertheimer. Er war erstaunt und zögerte kurz. Kaum umfasste er sie, um sie hochzuheben, gab sie ihm einen flüchtigen Kuss, seine Wange war rau, und schubste ihn freundlich von sich.

Die Sonne scheint ja schon. Helene blieb stehen, sie stützte sich auf Carl Wertheimers Schulter und zog ihren zweiten Schuh aus. Keine Sorge, die Steine sind warm.

Während sie einige Schritte vor ihm herlief und er sie einholen wollte, begann sie zu rennen. Sie sagte sich, dass er sie zum Abschied küssen werde. Plötzlich erschien es Helene so, als durchschaue sie die Menschen und wisse genau, welcher Schritt zu welchem Ziel führte. Sie konnte die Menschen lenken, jeden einzelnen, wie Marionetten an den Fäden ihrer Wege ziehen, ganz besonders galt das für Carl Wertheimer, den sie hinter sich wusste, dessen Schritte immer näher kamen, dessen Hand sie im nächsten Augenblick an ihrer Schulter spürte. Vor ihrem Haus blieb sie stehen und drehte sich zu Carl Wertheimer um, er nahm sie bei der Hand, zog sie in den Hauseingang und legte seine Hand an ihre Wange.

So weich, sagte er. Helene mochte seine Hand, sie meinte, dass sie den jungen Freund ermutigen könnte, sie legte ihre Hand auf seine, presste sie an ihr Gesicht und küsste den spröden Rücken seiner Hand. Vorsichtig suchte sie seinen Blick. Carls Augenlid zuckte, nur das eine, es flatterte wie ein junger ängstlicher Vogel, vielleicht hatte er noch nie ein Mädchen geküsst, er zog sie an sich. Sie mochte seinen Mund an ihrem Haar. Helene wusste nicht, wohin mit ihren Händen, sein Mantel schien ihr abweisend und zu grob. Eine Hand legte sie an seine Schläfe, seinen Wangenknochen, die Höhle seiner Augen, mit ihrem Finger suchte sie sein Augenlid, das flatternde. Schützend legte sie ihre Finger auf sein Auge, es sollte sich beruhigen. Helene spürte Seitenstiche, sie atmete tief, sie atmete gleichmäßig, so gleichmäßig wie nur möglich. In Carl Wertheimers Umarmung war sie nicht klein noch groß, seine Hände an ihrem nackten Hals wärmten sie und riefen Gänsehaut an ihren nackten Armen hervor. Helene musste sich schütteln. Die Berührung war ihr noch unbekannt, das Begehren umso vertrauter. Eine Amsel flötete laut, eine zweite übertönte sie erst trillernd, dann flötend im Dreiklang von niedrigerer Warte und die beiden Amseln gerieten in Wettstreit. Helene prustete aus Anspannung; er mochte es als Lachen verstehen. Dann spürte sie seinen ernsten Blick auf sich ruhen und ihr Lachen wurde leise. Sie schämte sich, sie fürchtete, dass er ihre noch eben vermutete Allmacht bemerkte, eine Hülse, deren Keim zerfallen war, von der nichts mehr blieb als der Anschein von Hochmut oder gar Eitelkeit, die er gering bewerten musste. Sie fragte sich, was er wollte. Überhaupt und mit ihr. Ihr Herz pochte am Hals. Sie mussten Abschied nehmen.

Stolz sagte sie ihm, dass sie seit neustem einen Telefonapparat besäßen.

Carl Wertheimer fragte nicht nach der Nummer, es war, als habe er sie nicht gehört, er sah ihr nach und winkte, sie winkte zurück, ihre Hände waren warm.

Schon als sie an Fannys prächtiger Tür den schweren Messingring hob, um zu läuten, sie hatte sich fest vorgenommen, sich nicht nach Carl umzudrehen, und Otta ihr öffnete, in Schürze und Häubchen, von Kopf bis Fuß angekleidet, zweifelte Helene, ob Carl anrufen würde. Er wollte ein Techtelmechtel, vielleicht, vielleicht nur einen Kuss, den er jetzt schon hatte, und womöglich war das alles, und sonst wollte er nichts.

Es duftete nach Kaffee, die Standuhr schlug, es war halb sieben. Aus der Küche hörte Helene das vertraute Geklapper von Besteck und Geschirr, gewiss brühte die Köchin den Kaffee auf und bereitete ungeachtet der Abwesenheit ihrer Herrschaften ein Frühstück vor, schnitt den Mohnkuchen auf und rührte das Porridge an, das Fanny gerne aß, sobald sie etwas zu sich nehmen konnte. Helene spürte keinerlei Müdigkeit. Mit leichtem Schritt, der noch ganz einem Tanz von Trompete und Klarinette gehörte, ging sie in die Veranda und ließ sich in einen der niedrigen, gepolsterten Stühle fallen. Ihre Haarsträhnen, die kaum noch bis zur Nase reichten, rochen nach Rauch. Sie fühlte ihr Haar im Nacken, die Leichtigkeit, mit der sie ihren Kopf jetzt bewegen konnte, verlockte zu schnellen Bewegungen, führte man sie ruckartig aus, so fiel einem das Haar ins Gesicht. Helene zupfte sich die falschen Wimpern von den Lidern. Ihre Augen brannten vom Rauch der Nacht. Als sie die Wimpern auf den Tisch legte, dachte sie, es wäre schön, wenn sie ihre Augen danebenlegen könnte. Cleo sprang aus ihrem Körbchen unter dem Tisch hervor, sie wedelte mit ihrem aufrechten Stummelschwanz und leckte Helenes Hand ab. Die Zunge kitzelte, Helene musste an die Ziegen im Garten der Tuchmacherstraße denken, die sie als Kind manchmal gemolken hatte. Die Finger von oben nach unten pressend war ihr die Haut des Euters rau an den Handflächen erschienen, und man hatte die Hände gründlich waschen müssen, am besten in heißem Wasser mit viel Seife, der Geruch haftete wie Pech und Schwefel, er hatte etwas ranziges, ranzige Ziege. Sie war entkommen, dachte Helene erleichtert, und während sie es sich genüsslich im Pols ter bequem machte, schämte sie sich nur wenig und süß für diese Empfindung. Was galt das schon, entkommen? Mit Schnelligkeit ein Leben durchjagen. Konsequent, konsequent, flüsterte Helene zu sich, und als sie ihr Flüstern hörte, sagte sie lauter, mit fester Stimme die beschließenden Worte des Büchnerschen Lenz: Inkonsequent, inkonsequent. Helene streichelte dem Hund über das feste, lockige Fell. Was für ein liebes Tier du bist. Seine Schlappohren waren seidig und weich. Helene küsste den Hund auf die lange Schnauze, noch nie hatte sie Cleo geküsst; an diesem Morgen konnte sie nicht anders.

Das unerwartete Auftauchen Carl Wertheimers fand keine große Beachtung im Hause der Tante. Zwar rief er Helene nicht über das Telefon an, aber er ließ ihr durch einen Boten Blumen bringen. Helene war erstaunt, erschrocken, erfreut. Bergend legte sie ihre Hand um die Blüten, um die Luft der Blüten, die zu dicht war, ihren leichten Duft zu tragen. Wie einen Schatz brachte sie die Anemonen in ihr Zimmer. Dort war sie allein und froh, dass Martha erst spät kommen würde. Sie fragte sich, wo er jetzt noch Anemonen gefunden hatte. Sie betrachtete die Blüten, ihr Blau veränderte sich über den Tag. Die zarten Blätter wurden schwer.

Als die Anemonen am Ende des Tages gewelkt waren, verbot sie Otta, die Blumen aus der Vase zu nehmen. Helene konnte nicht schlafen. Wenn sie die Augen schloss, sah sie nur blau. Ihre Aufregung galt einer Begegnung, wie sie noch nie eine erlebt hatte, ein Zusammentreffen mit einem Menschen, mit dem es ein gemeinsames Denken, eine gemeinsame Neugier, ja, wie sie Martha anvertraute, eine gemeinsame Leidenschaft für die Literatur gab.

Martha gähnte bei dieser Vertraulichkeit. Du meinst geteilt, Engelchen, nicht gemeinsam.

Helene wusste jetzt umso deutlicher, dass ihr etwas ganz Einzigartiges widerfahren war. Sie wollte nicht länger um Martha buhlen, ihre Begegnung mit Carl war unvergleichbar und schien sich einer Martha nicht vermitteln zu lassen.

Als es am Sonntag endlich klingelte und Helene im Flur Ottas Stimme hörte, die höflich und mit deutlicher Stimme nachfragte: Carl Wertheimer? sprang Helene auf, griff zu dem seidenen Jäckchen, das Fanny erst kürzlich abgelegt und ihr geschenkt hatte, und folgte Carl in den frühen Sommertag.

Sie nahmen die Wannseebahn und spazierten zum Stölpchensee. Carl wagte es nicht, sie an der Hand zu nehmen. Ein Hase sprang vor ihnen über den Waldweg. Durch die Blätter glitzerte von unten das Wasser, und in der Ferne wölbten sich weiße Segel. Helenes Hals war wie zugeschnürt, sie fürchtete plötzlich, dass sie stottern könnte und sich ihre Erinnerung an das Gemeinsame und ihre Freude als eine einzelne entpuppte.

Da begann Carl: Ist nicht das Genügen der Natur in sich, das Selbstherrliche des Augenblicks, wie Lenz es uns sichtbar macht, die Lobpreisung des Lebens?

Der Frevel an Gott.

Sie meinen den Zweifel, Helene, das Zweifeln sei erlaubt, der Zweifel ist kein Frevel.

Vielleicht sehen Sie das anders, für uns Christen ist es so.

Protestantin, habe ich recht? Carl Wertheimers Frage enthielt keinerlei Spott und so nickte Helene schwach. Es erschien ihr plötzlich ungültig, was sie über ihre Zugehörigkeit zum lutherischen Glauben und sein Wesen äußerte, nicht weil sie den Atheismus und die andere Geburt ihrer Mutter bedachte, sondern weil ihr Gott hier so fern und von Büchner aus der Welt gejagt schien. Wer wollte schon aus Gott Alles erkennen?

Darf ich Ihnen etwas anvertrauen, Carl? Helene und Carl blieben an einer Weggabel stehen, rechts ging es zur Brücke und links tiefer in den Wald. Die Entscheidung für einen der beiden Wege konnte nicht getroffen werden, ehe sie ihm gesagt hätte, was ihr auf dem Herz lag, bleiern.

Wissen Sie, in den letzten Jahren, seit wir in Berlin sind, habe ich mich geschämt vor Gott, wann immer er mir einfiel, und ich wusste, dass ich ihn über viele Tage und Wochen vergessen hatte. Wir sind hier in keine Kirche gegangen.

Und gab es Ersatz?

Wie meinen Sie das, Carl?

Hat Ihnen etwas Freude gemacht, können Sie glauben?

Nun ja, wenn ich ehrlich bin, habe ich mir diese Frage nicht gestellt.

Carl ballte eine Faust und stemmte sie in den Himmel: Und es war ihm, als könnte er die Welt mit den Zähnen zermalmen und sie dem Schöpfer ins Gesicht speien; er schwur, er lästerte.

Lachen Sie nicht, Sie machen sich lustig.

Helene, ich mache mich doch nicht lustig. Das würde ich nie wagen. Carl zügelte seine Fröhlichkeit so gut er konnte.

Lachen Sie nur. Mit dem Lachen nahm der Atheismus schon von Lenz Besitz.

Sie glauben, ich wäre Atheist? So einfach ist das nicht, Helene. Tatsächlich kennt Gott das Lachen nicht. Und ist das nicht schade? Carl steckte seine Hände in die Hosentaschen.

Auf die Idee, Sie mit Lenz zu verwechseln, wäre ich nicht gekommen. Helene zwinkerte ihm zu. Endlich wusste sie, für welchen Augenblick sie in den letzten Wochen stundenlang vor dem Spiegel mit den geschliffenen Lilien gestanden und das Zwinkern mit einem Auge geübt hatte. Dann wurde sie ernst und sah Carl streng an. Ich wollte Ihnen etwas anvertrauen.

Ich weiß, ich schweige. Und Carl schwieg wirklich.

Es dauerte eine Ewigkeit, ehe Helene das Schweigen brechen konnte.

Ich schäme mich nicht mehr, das ist es, was mich entsetzt. Verstehen Sie? Ich war in keiner Kirche mehr, ich habe Gott vergessen, über lange Zeit habe ich mich geschämt, wenn er mir einfiel. Und jetzt? Nichts.

Gehen wir weiter. Carl schlug den Weg zur Brücke ein. Die Wolken türmten sich auf, dicke weiße Wolken, einzeln, der blaue Himmel dahinter war unerschütterlich. Auf der anderen Seite der Brücke lag ein Lokal mit Garten. Es gab kaum einen leeren Tisch im Garten, die Gesellschaften mit Sonnenschirmen und Kindern unterhielten sich laut, auch sie schienen an keinen Gott mehr zu denken. Carl wählte einen Platz. Er sagte, dieser Platz gehöre ihm, erst gehörte er nur seinen Eltern, und seit er alleine hin und wieder herkomme, gehöre er ihm. Helene stellte sich ein Leben mit Eltern in einem Gartenlokal schön vor. Carl wies zu einem anderen Tisch und flüsterte ihr zu, dass dort häufig die Maler säßen. Helene erschien der Zauber dieser Welt so fremdartig, dass sie am liebsten aufgestanden und gegangen wäre. Aber jetzt griff Carl nach ihrer Hand und sagte ihr, dass sie ein schönes Lächeln habe, das wolle er öfter sehen.

Carl Wertheimer kam aus gutem Hause, wohlhabend und gebildet, sein Vater war Professor für Astronomie, und so konnte trotz wirtschaftlicher Einbußen der letzten Jahre dem Sohn ein Studium ermöglicht werden. Der Kellner brachte Himbeerbrause. Carl zeigte in die nordöstliche Richtung, dort hinten am Ufer stehe das Haus seiner Eltern. Seine zwei Brüder waren im Krieg verschollen, der älteste sei umgekommen, seine Habseligkeiten waren geschickt worden, aber die Eltern weigerten sich, an seinen Tod zu glauben. Helene dachte an ihren Vater, aber sie mochte nicht von ihm erzählen.

Er selber habe zum Glück seiner Mutter nicht in den Krieg gemusst. Seine Schwester schließe ihr Physikstudium in diesem Jahr ab, sie sei die einzige Frau an ihrer Fakultät. Im nächsten Jahr wolle sie heiraten. Kein Zweifel, Carl war stolz auf seine Schwester. Er sei der Jüngste, für ihn sei noch Zeit, das sage seine Mutter. Carl schnalzte entschuldigend mit der Zunge, obwohl seine Augen blitzten und das Bedauern alles andere als ernst erscheinen ließen. Ein Spatz setzte sich zu ihnen auf den Tisch, er hüpfte vor und zurück und pickte die Krumen, die er von Vorgängern auf dem Tisch fand.

Der Ausblick in Carls friedliche Welt am Wannsee erweckte in Helene eine unbestimmte Beklommenheit. Was hatte sie dem entgegenzusetzen, was dem hinzuzufügen? In ihrer Himbeerbrause schwamm eine Wespe, sie rang um ihr Leben.

Carl bemerkte wohl, wie Helene ihm gegenüber am Tisch verstummt war. Er sagte zu ihr: Ihre Augen sind blauer als der Himmel. Und als er ihr Lächeln entdeckte, das wie in den Zwingen eines Schraubstocks klemmte, dachte er vielleicht, sie schämt sich doch, sie hat ihren Gott nicht vergessen. Kein Wunder, wenn ich nach ihrer Hand greife. Wohl, um sie aus der Schwere zu erobern, sagte er: Meine Liebe, hat Ihre Welt nun einen ungeheuren Riss?

Helene sah den Schalk in seinen Augen, sie entdeckte etwas an ihm wieder, so als kennte sie ihn nun schon ein wenig — und allein das tröstete sie. Jetzt konnte er nicht aufhören, in seinem Erinnerungsschatz zu wühlen: Um es nicht allein an Lenz festzumachen, möchte ich Ihnen raten, lassen Sie nur die abstrakten Worte in Ihrem Mund zerfallen wie modrige Pilze. Selbst Hofmannsthal hat sich von seiner Langeweile erholt. Und ist es etwas anderes als Langeweile, wenn sich das Nichts vor uns ausdehnt und uns mit Unbehagen füllt?

Da war es wieder, das Unbehagen. Helene empfand seine Worte als zudringlich, etwas drohte zu missglücken, die Wespe in ihrer Himbeerbrause rutschte an der Wand des Glases ab, es war Helene, als müsse sie Kopfschmerzen bekommen. Am Nebentisch wurde laut gelacht und Helene hatte vergessen, Carl zu antworten.

Ich möchte mit Ihnen Boot fahren. Sie sollen im Boot liegen und das Wasser soll Sie schaukeln und Sie müssen in den Himmel schauen, versprechen Sie mir das? Carl winkte dem Kellner, er wollte zahlen.

Vor dem Lokal stand ein offener Mercedeswagen, um ihn herum drängten sich die Leute, sie staunten, sie streichelten die Karosserie wie ein Pferd, klopfend. Helene war froh, dass Carl und sie endlich aufstanden und die Wespe sich selbst überließen.

Carl fasste sie jetzt an der Hand. Seine Hand war unerwartet schmal und fest. Es ging sich leicht an seiner Hand. Kein bleierner Schatten mehr, nichts lastete grabesschwer, die Welt war noch längst nicht an ihrem Ende. Ein Knattern am Himmel ließ sie stehen bleiben. Helene legte ihren Kopf in den Nacken.

Darf ich Ihnen auch etwas anvertrauen, Helene?

Nur zu. Helene hielt sich die Hand über die Augen, die Sonne blendete. Sie haben eine Schwäche für Flugzeuge, ist es das?

Carl trat einen Schritt auf sie zu. Junkers F 13. Sie spürte die Luft seiner Worte an ihrem Hals.

Ohne die Hand von der Stirn zu nehmen, senkte Helene ihren Kopf, mit ihrer Hand berührte sie fast Carls Augenbrauen.

Carl setzte den Schritt wieder rückwärts. So nah an Ihnen kann ich nicht sprechen. Nein, meine Schwäche für Flugzeuge wollte ich Ihnen nicht anvertrauen. Carl hielt inne. Ihr Mund ist schön. Und mir fällt kein Zitat ein. Warum auch die Worte eines anderen nehmen? Ich bin es, der Sie gerne küssen würde.

Vielleicht einmal.

Im nächsten Jahr? Wussten Sie, dass die Junkerswerke einen Flug über den Atlantik planen.

Schon oft gescheitert, Helene gab sich weltläufig.

Von Europa nach Amerika. Aber so lange kann ich nicht auf Ihren Kuss warten.

Helene ging voran, sie war froh, dass Carl ihr Lächeln nicht sah. Sie gingen lange schweigend. Jeder war für sich und wusste den anderen nah. Helene wunderte sich jetzt über ihren Anflug von Fremdheit im Lokal und hoffte, dass Carl ihn nicht bemerkt hatte. Sie fühlte sich der Fremdheit fern. Der Bootsverleiher saß auf einem Klappstuhl und las die Abendzeitung, die ihm vielleicht einer seiner Gäste gebracht hatte. Er bedauerte, aber alle Boote waren verliehen, die ersten, die jetzt zurückkamen, wollte er dabehalten. Nach achte kommt mir keiner mehr aufs Wasser, sagte er. Während sie am Ufer entlanggingen, ihre Schuhe auszogen und über die vom Tag gespeicherte Hitze des Sandes staunten, sprach Carl vom Theater. In kurzen Sätzen einigten sie sich auf eine gemeinsame Vorliebe für klassische Tragödien auf der Bühne und romantische Literatur zu Hause, doch die Verständigung, das Nicken und Jasagen, war vor allem ihrer Ungeduld geschuldet, sie wollten sich nicht näher verbergen, sie wollten sich nahe kommen und suchten einen Anschluss an ihr gemeinsames Denken. Die rötlichen Stämme der märkischen Kiefern gefielen Helene, nichts Heimatliches, nur Berlin. Die langen Nadeln lagen gut zwischen ihren Fingern. Warum waren sie immer zu zweit? Unter der hölzernen Kruste verband ein feines Häutchen die beiden Kiefernnadeln. Ihr schien es, als entzünde die Abendsonne den Wald. Der Tag neigte sich, die Kiefern dufteten schwer, Helene fühlte sich benommen, sie wollte sich auf den Waldboden setzen und da bleiben. Carl hockte sich neben sie, er sagte, er gestatte ihr nicht, im Wald zu bleiben, hier gebe es wilde Tiere und dafür sei sie schlicht zu zart.

Martha war es nur lieb, dass sich Helene eines Freundes annahm und sie umso unbehelligter mit Leontine leben konnte. Doch war es, als habe Carl Wertheimers Erscheinen die Sprache zwischen den Schwestern geraubt. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Die bislang so geliebte Wohnung der Tante erschien Helene von Tag zu Tag unwirtlicher. Das lag weniger daran, dass die Tante einen Gegenstand nach dem anderen ins Pfandhaus brachte, erst den kleinen Samowar, der ihr angeblich nicht so lieb wie der große gewesen sei, dann das Bild von Corinth, welches ihr nie gefallen habe, sie habe die junge Frau mit Hut ekelerregend gefunden, wie sie jetzt behauptete, wäre ihr da sein Selbstbildnis mit Skelett schon lieber gewesen, und schließlich auch das Grammophon, dessen Wert sich so wenig verleugnen ließ wie ihre Liebe zu ihm.

An vielen Tagen saß Fanny mit Erich mittags in ihrer kleinen Veranda und zankte über die Pläne des Tages. Wenn er aufstand, weil er genug von ihr hatte und den Tag lieber ohne sie verbringen wollte, rief sie ihm hinterher, dass es durch die Beletage hallte: Ich wünsche mir eine Affenliebe! Erdrücke mich jemand!

Es klang bettelnd und spottend zugleich, und Helene sah zu, dass sie weder Erich noch Fanny über den Weg lief. Sie schloss die Tür zu ihrem Zimmer. Wie süß waren die Stunden gewesen, die sie einmal allein in der Wohnung verbracht hatte. Aber diese Stunden gab es anscheinend nicht mehr, wann immer Helene nach Hause kam, räumte jemand in der Küche, rief jemand laut ins Telefon, saß jemand auf der Chaiselongue und las.

Du liebst mich nicht! Schallte es durch die Zimmer, Helene konnte nicht anders als lauschen, die Stille kannte kein Erbarmen, es folgte die umfangreiche, schier nicht enden wollende Deklinierung ihrer Vermutung. Auf Zehenspitzen huschte Helene durch den Flur, sie musste zum Badezimmer. Erst wenn Fanny am Boden lag und behauptete, ohne Liebe nicht leben zu können, reichte Erich ihr seine Pranke. Er zog sie vom Boden zu sich herauf und stieß sie vor sich her bis in ihr Schlafzimmer. Helene rechnete ihre Ersparnisse zusammen, sie würden nicht einmal für einen Monat Miete einer Dachkammer langen. Die Bücher für den Gymnasialkurs waren teuer, und Fanny gab zu verstehen, dass sie dieses Geld nicht mehr aufbringen könne. Helene konnte froh sein, dass sie die ersten zwei Jahre Gym nasialkurs schon Anfang letzten Jahres bezahlt habe, denn jetzt sei ihr Geld auch mal alle, weiter wisse sie leider nicht. Helene hatte aufgehört, Gifte aus der Apotheke mitzubringen, das Vertrauen zwischen der Tante und Helene hatte sich nicht erzwingen lassen, und so wurde auch die Freundlichkeit im Umgang mit Helene etwas nachlässig. Es kam vor, dass Helene die Wohnung betrat, Otta ihr den Mantel abnahm und Helene ins Zimmer trat, um Fanny zu begrüßen, Fanny aber von ihrem Buch nicht aufsah oder sich tief schlafend gab, während der Tee aus ihrem Glas neben der Chaiselongue dampfte.

Die Nächte auf dem schmalen Bett neben Leontine und Martha wurden eine Qual, da Liebe und Lust den beiden schier nicht langweilig wurde. Der Baron war dazu übergegangen, Helene bekümmerte Briefe zu schreiben. Er sehe sie nur noch selten, sein Herz blute und erkalte. Sein Leben sei fade ohne sie. Doch die Angebetete antwortete nicht. Nach anfänglicher Ratlosigkeit über seine Erwartung und die Bekundungen einer Liebe, die sie nicht teilte, steckte Helene die Briefe, die sie unter der Zimmertür fand, ungelesen durch den Spalt des großen Koffers, der unter ihrem Bett stand. Ein erster Versuch, mit zwei Junkers von Europa nach Amerika über den Atlantik zu fliegen, war noch im August gescheitert, die Herbststürme und die Wolkenfronten des Winters galten als unüberwindbare Hürden, und so wollte man für den nächsten Flugversuch bis zum Frühjahr warten. Allein Carl und Helene warteten nicht mehr.

Carl führte Helene in die Staatsoper Unter den Linden, sie hörten den Singenden Teufel und standen zwanzig Minuten klatschend, obwohl Pfiffe in ihren Ohren gellten, und während Helenes Hände vom Klatschen schmerzten, hoffte sie, dass Carl nicht den Menschen zur Tür folgen würde. Aber das Unvermeidliche trat ein. An der Garderobe bat Helene Carl, sie noch nicht nach Hause zu bringen. Helene wollte noch in die Nacht spazieren. Der Schnee fiel in dicken Flocken und blieb kaum auf dem nachtschwarzen Pflaster liegen. Carl und Helene gingen am Adlon vorbei. Der Schnee schmolz auf Helenes Zunge. Vor dem Eingang des großen Hotels hielten stattliche Karossen und ein Menschenauflauf verriet die erwartete Ankunft eines hohen Gastes.

Du frierst und bist müde, ich bringe dich nach Hause.

Bitte nicht. Helene blieb jetzt stehen. Carl suchte mit seinen Händen nach Wärme in ihrem felligen Muff.

Wir können hier nicht stehen bleiben, sagte Carl.

Ich komme mit zu dir, in deine Kammer. Sie hatte es gesagt, einfach so.

Carl zog seine Hände von ihr fort. Er traute seinen Ohren nicht. Wie oft hatte er Helene gedrängt, sie möge ihn begleiten, wie oft hatte er sie beruhigt, dass er alle Schlüssel habe und die Vermieterin schwerhörig sei. Ich freue mich, sagte er leise und küsste ihre Stirn.

Auf dem Weg zum Viktoria-Luise-Platz beharrte sie darauf, dass man nicht bei der Tante anrufen sollte. Dort kümmerte niemanden ihr Verbleib und falle es im Zweifel nicht mal auf, wenn sie nicht kam. Helene kannte Carls Kammer unter dem Dach. Sie hatte ihn schon tagsüber dort besucht. Dennoch erkannte sie das Zimmer kaum wieder. Das Licht der elektrischen Lampe ließ die Farben schal erscheinen, seine Bücher stapelten sich auf dem Boden, das Bett war nicht gemacht. Es roch nach Urin, als habe er den Nachttopf nicht geleert. Carl hatte nicht mit ihrem Besuch rechnen können. Er entschuldigte sich jetzt und schlug eilig die Decke über das Bett. Sie könne ein Nachthemd von ihm geliehen haben, ob er ihr vorlesen dürfe. Seine Stimme war trocken und die abgehackten Bewegungen verrieten, wie ungeheuer ihm ihre Anwesenheit, womöglich ihr ganzes Wesen und Dasein, war.

Liest du noch Hofmannsthal? Sie nahm das Nachthemd entgegen und setzte sich im geschlossenen Mantel auf seinen Stuhl am Schreibtisch.

Er wies auf die Bücher am Boden. Gestern abend Spinoza, wir vergleichen im Seminar seine Ethik mit der dualistischen Weltanschauung von Descartes.

Davon hast du noch gar nichts erzählt. Helene sah Carl misstrauisch an, sie konnte ihre glatte Stirn nicht runzeln, die feinen Falten, die sich über ihrer kurzen Nase bildeten, sahen einfach zu komisch aus.

Bist du eifersüchtig? Carl neckte sie, obwohl er wissen muss te, dass es ihr ernst war und sie tatsächlich eifersüchtig auf sein Studium war, nicht, weil sie ihn für sich allein haben wollte und ihm das Studium nicht gönnte, sondern weil sie selbst gern daran teilgenommen hätte.

Deine Schuhe sind ganz nass, warte, ich ziehe sie dir aus. Carl bückte sich vor ihr zu Boden und zog ihre Schuhe aus. Und kalt sind deine Füße, eisig. Hast du keine Winterstiefel? Helene schüttelte den Kopf. Warte, ich bring dir heißes Wasser, du musst ein Fußbad nehmen. Carl verschwand, Helene hörte ihn auf der Treppe. Sie betrachtete das Nachthemd auf ihrem Schoß und verstand sein Hinausgehen als Aufforderung, sich umzuziehen. Ihre Kleider legte sie über die Stuhllehne, die Strümpfe rollte sie ein, nur das neue Höschen wollte sie nicht ausziehen. In der Ecke unter dem Fenster entdeckte Helene ein Terrarium, in dem eine Orchidee blühte. Eine blühende Orchidee in einer Dachkammer inmitten der stumpfen Farben des elektrischen Lichts. Von der Treppe hörte sie Geräusche, und schnell zog sie sich das Nachthemd über den Kopf. Es roch nach Carl. Der zweitoberste Knopf fehlte, sie schloss den obersten und hielt das Nachthemd an der zweifelhaften Stelle zu. Helene zitterte jetzt am ganzen Körper. Carl brachte ihr heißes Wasser. Die Schüssel stellte er vor das Bett und sagte ihr, sie möge sich auf sein Bett setzen. Er legte seine Decke um sie und rieb ihre Füße, damit sie ihre blaue Färbung an den Zehen verloren. Helene biss die Zähne aufeinander.

Während Carl geschäftig seine Bücher von einem Stapel zum nächsten legte, goss er ihr zweimal heißes Wasser auf. Erst dann war es gut, und er ging hinaus, um die Schüssel wegzubringen und sich einen Pyjama anzuziehen, den seine Mutter ihm zu Weihnachten von ihrer Reise aus Paris mitgebracht hatte. Helene lag schon unter der Decke, sie lag kerzengerade auf dem Rücken, es sah aus, als schlafe sie. Er schlug die Decke zurück und legte sich neben sie.

Wundere dich nicht, wenn du mein Herz hörst, sagte er mit seiner nicht mehr ganz so trockenen Stimme und löschte die Lampe.

Wolltest du mir nicht vorlesen?

Er stützte sich auf, schaltete das Licht wieder an und sah, dass sie die Augen jetzt geöffnet hatte.

Gut, ich lese dir vor. Er nahm die Ethik von Spinoza, die auf dem Nachttisch lag, und blätterte.

In der griechischen Antike entsprachen Zügellosigkeit und Freiheit, die vollkommene Ausschweifung in Lust und Verlangen der Glückseligkeit. Doch dann kamen die Stoiker und haben Gott zugearbeitet, Pflicht und Tugend, alles Geistige sollte sich über die niederen Gelüste erheben, das Fleisch wurde verbannt in seine Zeit. Ein einziges Jammertal, das Mittelalter. Für Kant, den alten Moralisten, gab es nur noch Pflicht — Ödnis, wohin man auch blickt.

Was redest du so abfällig. Du tust so, als läge das Glück allein in der körperlichen Vereinigung. Helene stützte ihren Kopf auf, sie vermutete, dass Carl zwar Kants Ödnis verdammte, selbst aber keinen noch so winzigen Gedanken mehr an den Kuss verschwendete, den sie ihm seit Monaten schuldete.

Carl übersprang ihren Einwurf. Ganz zu schweigen von Schopenhauer, der es als angeborenen Irrtum ansah, gewissermaßen eine Fehlbildung des Menschen, seine Vorstellung, er wäre da, um glücklich zu sein. Dabei kommt es nicht auf das Glück an, Helene, aber das weißt du, nicht? Gähne nur. Carl stieß ihr sacht mit dem Lesezeichen an die Stirn.

Helene nahm ihm das Lesezeichen aus der Hand. Wenn ich jedes Buch mit dir zusammen lesen könnte, wär ich glücklich, glaubst du das? Helene lächelte. Am liebsten mit deinen Augen, mit deiner Stimme, mit deiner Gelenkigkeit.

Gelenkigkeit, wovon redest du? Carl lachte.

Ich hör dir gern zu, du springst dabei manchmal zum Fens ter raus und manchmal kriechst du unter einen Tisch.

Und du kletterst auf Bäume und springst, wie mir scheint, aus Prinzip auf den Tisch, wenn ich mich darunter verkrochen habe.

Tue ich das? Helene überlegte, was er meinte. Glaubte er sich von ihr geärgert, genoss er nicht ihrer beider Ausmessung, die Spannweite, die sich zwischen ihm dort und ihr hier ergab?

Und überhaupt, jetzt liegen wir unter einer Decke, ein Engel und ich, wie konnte das passieren? Carl blickte sie jetzt so herausfordernd an, sein Mund näherte sich um einen ganzen Millimeter, dass Helene den Mut verlor und ihre Angst vor dem Kuss plötzlich größer war als die Lust. Also, es kommt auf das Glück nicht an, nein? Helene tippte auf Carls Buch. Keine Wollust und ausschweifende Zügellosigkeit?

Carl räusperte sich. Was willst du, Helene, willst du denken lernen?

Die Ellenbogen vor dem Buch, die Arme aufgestützt zum Kinn, lachte Carl jetzt in die Faust, die seine Hände vor seinem Mund bildeten. Schopenhauer kennt Trost, der geistige Reichtum überwindet selbst Schmerz und Langeweile — demnach war unser alter Lenz offenbar nicht klug genug.

Helene legte ihren Kopf auf das Kissen zurück, sie hielt ihm ihre Kehle hin, bewusst, sie drehte sich auf die Seite und beobachtete seinen Mund, während er sprach. Seine etwas aufgeworfenen Lippen bewegten sich viel zu schnell für sie. Er bemerkte ihren Blick und sein Augenlid flatterte wieder, als erwarte es, von ihr berührt zu werden, als wollte es nichts lieber als das. Plötzlich senkte er seine Augen, die Finger auf den Seiten zitterten ihm, Helene sah es genau, aber er las tapfer einen Satz vor, den er sich auf die erste Seite im Buch notiert hatte: Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst. Wir freuen uns ihrer nicht, weil wir die Gelüste hemmen, sondern weil wir uns ihrer erfreuen, darum können wir die Gelüste hemmen.

Das klingt wie ein guter Rat für angehende Priester.

Du irrst, Helene. Das ist der teure Rat für jeden jungen Mann. Teuer, weil wir dafür jahrelang studieren und erst wenn wir jahrelang studiert haben, wissen wir einen Funken von der Glückseligkeit. Carl biss sich auf die Zunge. Er wollte etwas darüber sagen, wie wichtig es dabei wäre, ein Mädchen neben sich im Bett zu wissen, eine Frau, nicht nur eine, sondern diese, seine Helene. Aber er fürchtete, eine solche Bemerkung könnte sie verscheuchen. Er wollte nicht, dass sie zurück in ihre nasskalten Strümpfe und Schuhe schlüpfte und durch die Nacht in die Achenbachstraße lief, sich dort in ein Bett neben ihrer Schwes ter legte. Also blätterte er zurück, dorthin, wo sein Zeigefinger die Seiten auseinandergehalten hatte, und las.

Die Begierde, die aus der Erkenntnis des Guten und Schlechten entspringt, kann durch viele andere Begierden erstickt oder eingeschränkt werden, die aus Affekten, welche uns bestürmen, entspringen. Carls Finger ließen die ganze Seite zittern.

Frierst du jetzt? Helene schob ihre Hand neben seine, ihre kleinen Finger berührten sich fast.

Die Vernunft kann die Leidenschaften überwinden, indem sie selbst zur Leidenschaft wird.

Helene hörte es und sagte: Du hast schöne Augen.

Beweis. Der Affekt gegenüber einem Ding, das wir uns als zu künftig vorstellen, ist schwächer als der gegen ein gegenwärtiges.

Sprichst du von uns, sprichst du von Liebe? Helene berührte jetzt mit ihrem Finger seinen und bemerkte, wie er zuckte. Er war so gefangen, dass er nicht einmal den Blick wendete, um sie anzusehen.

Du wolltest, dass ich vorlese, und ich lese vor. Liebe ist bei Spinoza nichts anderes als Fröhlichkeit, Fröhlichkeit verbunden mit der Vorstellung ihrer äußeren Ursache.

Deine Augen glühen. Ich könnte den ganzen Abend neben dir liegen und einfach dein Kinn ansehen, dein Profil, die Nase, wie sich die Lider über deine Augen senken. Helene zog ihre Knie an, da war noch die Decke zwischen ihr und Carl.

Carl wollte ihr etwas von der Begierde im Verhältnis zur Liebe und beider Verhältnis zur Vernunft erklären, aber er hatte die Logik vergessen, etwas anderes hatte Besitz von ihm ergriffen, etwas, das nicht mehr in sich ruhen, nicht mehr Gegenstand des Denkens sein konnte, nur über sich hinaus, aus sich heraus wollte er, zu ihr. Worte flogen vorüber, die Süße ihres Mundes. Er vermochte kein Denken, sein Wille war abhanden gekommen, es gab keine Zähmung mehr. Er fühlte sich nackt. Die Berührung mit der Decke, die ihn von ihr trennte, erregte ihn maßlos. Mit reiner Begierde sah er Helene an und küsste sie. Er küsste ihren Mund, ihre Wangen, ihre Augen, seine Lippen spürten die glatte Haut ihrer gewölbten Stirn, die Hand ihr seidiges Haar, durch die schmale Öffnung seiner Augen fiel Gold, der Lichtschein ihres Haars. Seine Hand ertastete ihr Schlüsselbein, die Wölbung ihrer Schulter, seine Fingerspitze fühlte ihre Grübchen, die er vom Sehen gut kannte. Ihre Arme schienen endlos lang, ihre Achselhöhle war feucht, er krümmte seine Hand in ihr, er schmiegte sich. Er hörte sein Keuchen an ihr. Helenes Duft lockte ihn, dass es wehtat. Ihre Arme verschränkten sich vor ihren Brüsten, er musste tief atmen, er sah die Zeit vor sich, wie sie sich entrollte, er mit ihr Ruhe gewinnen konnte, wenn er nur wollte, nur wollte, aber wo war er nur, der Wille. Vernunft, rief er still zu sich, er sah das Wort vor seinem Auge, schlicht, er kannte seine Bedeutung nicht mehr. Nichts als Buchstaben, ihr Laut fehlte. Klang und Bedeutung auf und davon. Doch sein Keuchen fing sich zwischen seinen Lippen und ihren Wölbungen und Höhlen und trug ihren Atem in sein Ohr.

Die Kerze knisterte, der Docht bog sich und versank. Die Dunkelheit kühlte angenehm. Carl starrte in das Dunkel. Helenes Atem war gleichmäßig, ihre Augen wohl geschlossen. Er fand kaum in den Schlaf, ihr Geruch hielt ihn wach und weckte ihn, wenn er für Sekunden träumte. Sie atmete kürzer als er, vielleicht schlief sie nicht. Er streckte seine Hand nach ihr aus.

Sie mochte seinen sanften Mund, die Lippen, die anders forderten als Marthas, und den Geschmack, der ihr neu war.

Es ist schön, wenn dein Haar länger wird, flüsterte Carl in die Stille. Warum war es so kurz?

Um dich kennenzulernen. Weißt du das gar nicht? Es war lang bis hier, wenige Stunden bevor ich dich das erste Mal gesehen habe. Leontine hat es mir abgeschnitten.

Carl verbarg sein Gesicht an ihrem Hals, mit dem Flügelschlag seiner Augen strich er ihr Ohr. Dein Haar schimmert wie Gold. Wenn wir nichts mehr zu essen haben, schneide ich es dir heimlich nachts ab und gehe es verkaufen.

Sie mochte es, wenn er wir sagte und sie in seinen Armen lag.

Das Frühjahr kam, die Stürme legten sich und der erste Flug von Ost nach West über den Atlantik gelang. Helene verbrachte seit jenem Wintertag ihre Nächte bei Carl. Nur manchmal ging sie in die Achenbachstraße und war erleichtert, dass es Martha besser ging. Leontine hatte sich mit ihr über Tage eingeschlossen. Martha sollte getobt und gelitten haben, der geschliffene Spiegel mit den Lilien über dem Waschtisch hatte einen Sprung, Bettwäsche war zerrissen und vom Schweiß durchnässt am Morgen und am Abend gewechselt worden, manchmal mitten am Tag; aber dann war sie ruhig, schwach und ruhig. Die Leere blieb, die Fragen, woher und warum und wer. Es war ein Wunder, wie Martha es schaffte, jeden Tag zur Arbeit ins Krankenhaus zu fahren. Leontine sagte, Martha sei zäh. Ihr Körper habe sich an sie gewöhnt. Die beiden Frauen hatten die Betten zusammengeschoben, und nur der Koffer unter dem Bett war noch ein Hinweis auf Helene, auf ihr früheres Leben hier, er barg Helenes Habseligkeiten. Helene kam, öffnete den Koffer und schob die Briefe des Barons beiseite. Sie nahm den aus Horn geschnitzten Fisch und holte die Kette hervor.

Du kannst sie mitnehmen, sagte Martha. Martha machte sich nichts aus dem Koffer, sie wollte, dass er endlich verschwand. Ihr Hut war von Motten zerfressen, Helene fragte sich, wo ihrer war. Sie musste ihn an jenem Abend vor zwei Jahren in der Garderobe vergessen haben, der Garderobe der Weißen Maus.

Auf meiner Station wird eine Stelle frei, sagte Martha, du kannst dich bewerben. Helene lehnte ab, sie wollte nicht in den Norden in ein Jüdisches Krankenhaus fahren. Der Apotheker bezahlte sie jetzt besser, und sie musste nicht mehr an ihn denken, wenn sie abends allein in der Apotheke stand und Tinkturen schüttelte. Carl wollte keine Miete von ihr, seine Eltern gaben ihm an jedem Monatsanfang einen Wechsel. Wenn er sie besuchte, nahm er Helene mit auf die Wannseebahn, er setzte Helene in das Gartenlokal am Stölpchensee, bestellte ihr eine Himbeerbrause und holte sie eine Stunde später wieder ab. Manchmal fragte er sie, ob sie ihn nicht begleiten wolle, er wollte sie seinen Eltern vorstellen. Sie scheute sich davor. Vielleicht mögen sie mich nicht, gab Helene zu bedenken und ließ weder Zuspruch noch Einwände gelten. In Wirklichkeit genoss sie die Sonntagnachmittage, an denen sie ungestört in dem Gartenlokal sitzen und lesen konnte.

Am Ende des Sommers ergatterten sie über Bernards nützliche Verbindungen Karten für das neue Stück am Schiffbauerdamm. Carl saß neben Helene und vergaß, ihre Hand zu halten. Er ballte die Hände im Schoß zu Fäusten und schlug sich mit der Hand an die Stirn, er weinte, und im nächsten Augenblick johlte er. Nur als auf Verlangen des Publikums der Kanonensong wiederholt wurde und in den hinteren Reihen Menschen aufstanden, sich unterhakten und schunkelten, lehnte sich Carl etwas erschöpft zurück und schenkte Helene einen Blick.

Gefällts dir nicht?

Helene zögerte, sie legte ihren Kopf schief. Ich weiß noch nicht.

Das ist genial, sagte Carl, sein Blick war längst wieder auf der Bühne und sollte im Laufe der Vorstellung nicht mehr zu Helene gelangen, gebannt lauschte er Lotte Lenya, fast benommen sah er dabei aus. Als auf die erste Strophe des Eifersuchtsduetts eine zweite folgte, prustete Carl, er hielt sich den Bauch vor Lachen.

Carls Wangen waren gerötet, als er schon aufstand und klatschte, ehe der letzte Vorhang fiel. Das Publikum brodelte. Die Menschen wollten nicht gehen, ehe die Schlussstrophen der Moritat noch einmal gesungen wurden. Das Publikum grölte mit, selbst Harald Paulsen bewegte seine Lippen, nur war es im Lärm nicht mehr hörbar, ob er dieses Lied oder ein anderes sang. Der Beifall toste. Blumen wurden aus dem Rang und vom Parkett auf die Bühne geworfen. Wie Püppchen, so erschien es Helene, verbeugten sich die Schauspieler, kleine Stehaufmännchen, die, von ihren Claqueuren wieder und wieder in die Waagerechte genötigt, ihres Auftritts nicht müde wurden. Die Scheinwerfer ließen keinen der Schauspieler von der Bühne und keinen Zuschauer aus dem Saal. Sie beklatschen sich selbst, ging es Helene durch den Kopf, als sie sich vorsichtig umsah. Die frisch eingesprungene Roma Bahn riss sich ihre lange Perlenkette vom Hals und streute die Glasperlen ins Publikum, sie tat, als wolle sie die Bühne verlassen, aber die Männer pfiffen, ob aus Wut oder Freude, sie blieb. Die Leute brüllten, sie trampelten, ein Mann im Parkett warf mit Münzen um sich.

Helene hielt sich die Ohren zu. Sie war nicht aufgestanden, als einzige wohl weit und breit, sie beugte sich vornüber, das Kinn auf der Brust, das Gesicht ihrem Schoß entgegen und wollte am liebsten in ihrem Sessel verschwinden. Sie wäre gern gegangen. Es dauerte über eine Stunde, ehe sie den Saal verlassen konnten. Die Menschen verstopften die Ausgänge, blieben stehen, klatschten, liefen rückwärts, schoben sich und drängelten. Es war stickig geworden, Helene schwitzte. Der Aufruhr ängstigte sie. Jemand boxte ihre Schulter, es sollte wohl einem jungen Mann gelten, der rechtzeitig ausgewichen war. Helene ließ Carls Hand nicht los, Menschen drängten sich zwischen sie, immer wieder drohten sie auseinandergerissen zu werden. Helene war übel. Raus, dachte sie, nur raus.

Carl wollte die Friedrichstraße entlanggehen und unter die Linden. Das Wasser im Kanal war schwarz, oben fuhr eine S-Bahn vorüber. Helene beugte sich auf der Brücke über die steinerne Balustrade und erbrach sich.

Dir hat es nicht gefallen. Er fragte es nicht, er stellte es fest.

Du bist ja ganz verliebt.

Ich bin begeistert. Ja.

Helene suchte nach ihrem Taschentuch, sie fand es nicht. Der säuerliche Geschmack im Mund ließ die Übelkeit nicht vergehen. Ihr war ein wenig schwindelig, und so hielt sie sich am Stein der Balustrade fest.

Ist das nicht der Aufbruch, die wahre Moderne? Wir sind alle Teil des Ganzen, die Grenzen zwischen Wesen und Darstellung werden brüchig. Das Sein und sein Schein, sie nähern sich an. Die Menschen haben Hunger, hast du das nicht bemerkt, sie dursten nach der Welt, die sie selbst bestimmen.

Was redest du? Welche Welt bestimmen sie? Du sprichst von Begeisterung, der Pöbel brüllt. Mich ängstigt das, die gnadenlose Selbstherrlichkeit in allen Schichten. Helene musste aufstoßen, ihr Schwindel bäumte sich, auf und nieder, die Übelkeit, sie wandte Carl den Rücken zu und krümmte sich wieder. Wie schön rau und fest der Sandstein war.

Carl legte ihr jetzt seine Hand auf den Rücken. Liebe, bist du krank? Meinst du, die Königsberger Klopse waren schlecht?

Helene hing mit dem Gesicht gen Wasser und stellte sich vor, dort hineinzuspringen. Aus ihrem Mund zogen Fäden, ihre Nase lief, ihr Taschentuch fehlte.

Er konnte ja nicht wissen, dass ihr ein Taschentuch fehlte, bloß ein Taschentuch, um sich wieder aufzurichten. Also musste sie ihn fragen: Hast du ein Taschentuch?

Natürlich habe ich eins, hier. Komm, lass dir helfen. Carl sorgte sich um sie, aber Helene wurde wütend.

Wie kannst du so einfältig sein, wie das Begeisterung nennen? Du liest Schopenhauer und Spinoza und wirfst dich an so einem Abend in die Menge, als gäbe es kein Morgen, kein Ges tern, einfach gar nichts als das große Bad des kleinen Mannes.

Was hast du gegen den kleinen Mann?

Nichts. Helene bemerkte, wie sie die Lippen aufeinanderpresste. Ich achte ihn. Sie überlegte, ob sie ihm sagen sollte, dass sie selbst eine kleine Frau war. Aber was nützte das? Also sagte sie: Der Kleine ist der Kleine nicht, der Große nicht der Große. Vielleicht muss man wie du aus großbürgerlichen Verhältnissen kommen, um sich auf diese Weise am kleinen Mann zu erfreuen. Öffne deine Augen, Carl.

Carl umarmte sie jetzt. Lass uns nicht streiten, bat er.

Warum nicht, fragte Helene leise, ihr war ein Streit lieber als die ihr offenbare Entgeisterung Carls als Begeisterung anzuerkennen. Das Stück war eine einzige Aneinanderreihung von Gassenhauern.

Carl hielt Helene beschwichtigend seine Hand auf den Mund. Psch, psch, sagte er, als weine sie und wolle er sie trösten. Ich könnte es nicht ertragen, wenn wir uns entzweien.

Das werden wir nicht. Helene strich den Kragen seines Mantels glatt.

Ich liebe dich. Carl wollte Helene küssen, aber sie schämte sich für ihren sauren Mund. Sie neigte ihren Kopf zur Seite.

Wende dich nicht ab, Liebe. Ich habe nur dich.

Helene musste plötzlich lachen. Ich wende mich doch nicht ab, lachte sie. Wie kannst du das denken? Ich habe mich übergeben, mir ist schlecht, und ich bin müde. Lass uns nach Hause gehen.

Dir ist schlecht, wir nehmen ein Taxi.

Nein, lass uns gehen, ich brauche Luft.

Sie gingen lange durch die Nacht und schwiegen ebenso lang. Die schmalen Holzbrücken im Tiergarten knarrten und verströmten ihren modrigen Geruch. Im Dickicht raschelte es, die Ratten flohen vor ihnen über den Weg. Unter der Linde nahe der Schleuse blieben sie stehen, sie hörten die Affen aus ihrem Gehege in die Nacht brüllen.

Carl erschien es seltsam, als Erster das Wort an sie zu richten. Was er sagen wollte, hätte ohnehin in keinem Gespräch Platz gefunden. Er bückte sich und hob ein Lindenblatt auf. Unverwundbar, gibt es das? Er hielt sich das Lindenblatt vor die Brust, etwa dorthin, wo die meisten Menschen ihr Herz vermuten. Helene legte ihre Hand auf seine und führte sie vorsichtig zur Mitte hin. Sie sagte nichts. Carl ließ das Blatt fallen, er nahm ihre beiden Hände in seine und glaubte, sie müsste sein Herz in seinen Handflächen schlagen spüren. Ich könnte dich fragen, ob du meine Frau werden möchtest, hörte er sich sagen. Du bist jetzt einundzwanzig. Deine Mutter ist Jüdin, meine Eltern werden nichts gegen meine Wahl vorbringen.

Du könntest mich fragen. Ihre Augen verrieten nicht, was sie dachte. Forschend sah er sie an.

Dein Schuh ist offen, sagte sie, ohne zu seinen Füßen zu schauen. Offenbar war ihr das schon vor längerer Zeit aufgefallen. Carl bückte sich, er band seinen Schuh zu.

Du kennst meine Mutter nicht, meinen Vater nicht, niemanden.

Ich kenne Martha. Was kümmern mich deine Eltern, meine kümmern dich ebensowenig. Das hier ist etwas zwischen uns beiden, nur zwischen uns. Versprichst du mir, meine Frau zu werden?

Der Schrei eines Affen gellte zu ihnen herüber. Helene musste lachen, aber Carl sah sie ernst an, er wartete auf Antwort.

Sie sagte Ja, sie sagte es schnell und leise und im ersten Augenblick fürchtete sie, er könnte es nicht gehört haben, im nächsten hoffte sie es, weil es so schwach geklungen hatte und sie es gerne frei und voll gesagt hätte. Ein zweites Ja hätte das erste noch unentschlossener und feiger erscheinen lassen.

Carl zog Helene zu sich und küsste sie.

Rieche ich nicht vergoren?

Carl stimmte zu. Ein wenig, ja. Vielleicht habe ich zu lange gewartet?

Er nahm ihre Hand. Das Eis war gebrochen. Vielleicht schenkst du mir Kinder, sagte er und stellte es sich schön vor, wenn sie zwei, drei Kinderlein bekämen.

Helene war wieder ins Schweigen verfallen, sie gingen nebeneinander.

Könnte es sein, dass dir übel war, weil du ein Kind erwartest? Carl freute sich über seinen Einfall.

Helene blieb auf der Stelle stehen. Nein.

Was macht dich so sicher?

Ich weiß es, ganz einfach. Sie lachte. Glaub mir, eine Krankenschwester wüsste auch gut, wie sie dem abhelfen könnte.

Während Helene noch fröhlich war, war Carl schon erschrocken.

So etwas sollst du nicht sagen. Das möchte ich nicht. Du willst doch auch Kinder?

Sicher, aber nicht jetzt. Ich möchte die Schule beenden, ich ha be noch nicht die Hoffnung aufgegeben, dass ich studieren kann. Ich arbeite viel und bekomme kaum das Geld für eine Miete.

Wir. Du kannst dich auf mich verlassen. Schenkst du mir Kinder, schenk ich dir ein Studium. Carl meinte es ernst.

Willst du handeln?

Meine Eltern werden uns unterstützen.

Ja, vielleicht. Deine Eltern, die ich noch gar nicht kenne. Carl, ich muss dir etwas sagen. Ich schenke einem Mann keine Kinder. Kinder lassen sich nicht schenken. Die Christen schenken ihrem Herrn etwas, sie schenken Liebe. Vorhin, im Theater, da war vom Schenken die Rede. Ich halte das für Unsinn. Ich will mir auch kein Studium von dir schenken lassen.

Warum nicht? Mein Vater hat mir Geld in Aussicht gestellt, wenn ich das Examen mit Auszeichnung bestehe.

Dann ist es für mich doch längst zu spät. Helene spürte ihre Ungeduld. Wenn ich die Schule abgeschlossen habe, werde ich selbst für mein Studium arbeiten.

Vertraust du mir nicht?

Carl, bitte, mach es nicht zu einer Frage von Vertrauen.

Wenn unsere Kinder dein Haar haben, dein goldenes Haar, dann bin ich froh. Carl nahm ihr Gesicht in seine Hände.

Helene lächelte. Carl küsste sie wieder, ihm schien der saure Geschmack nichts auszumachen, er drückte sie gegen den Lindenstamm und kostete die Haut ihrer Wangen, er leckte mit der Zungenspitze um ihren Mund herum.

Spaziergänger kamen vorbei und Carl behauptete, man könne sie im schummrigen Licht der Laterne und im Schatten der Linde nicht sehen. Ein Blatt fiel vom Baum, es landete auf seiner Schulter.

Vielleicht werden unsere Kinder nur meine kleine Nase haben und deine mageren Knochen. Helene pustete, sie wollte das Blatt von Carls Schulter pusten.

Das wär mir egal. Carl streichelte mit beiden Händen ihr Gesicht. Er bedeckte ihr Gesicht. Lass uns nach Hause gehen. Er schob seine Hand in ihren Sommermantel und hielt ihren untersten Rippenbogen. Das ist dein schönster Ort. Helene fürchtete, er könne die Wölbung der Rippe für ihre Brust halten, unter so einem Mantel, war er auch noch so leicht, konnte man sich schon irren. Sie pustete wieder gegen seine Schulter, aber das Lindenblatt blieb hartnäckig liegen. Jetzt hob sie ihre Hand, sie wollte nicht, dass er das Lindenblatt bemerkte, sie strich seinen Kragen glatt und sah aus dem Augenwinkel, wie das Blatt zu Boden segelte.

Sie nahmen vom Bahnhof Zoologischer Garten die Straßenbahn zum Nollendorfplatz. Hand in Hand liefen sie die Treppe zu seiner Dachkammer hinauf. Er schloss die Tür auf, hängte seinen Hut an den Haken und half ihr, den Sommermantel auszuziehen, die Schuhe auszuziehen, das Kleid auszuziehen. Lass dich sehen. Sie zeigte sich. Dass sich ihm jemals eine Frau zeigen würde wie sie, darauf hatte er nicht hoffen können, ihm hatte schlicht die Vorstellung gefehlt. Sie lachte, als schäme sie sich, und er wusste, dass sie diese Scham nicht kannte. Er liebte sie für das Spiel. Sie legte ihre Hand auf ihren Bauch, wie es eine Frau tun könnte, die sich bedecken wollte. Doch sie schob ihre Hand zur Scham, in die Leiste, zwischen ihre Schenkel. Dabei wurde ihr Blick fester, ihre Nasenflügel bebten und ihr Mund deutete ein Lächeln an. Ihre Finger schienen den Weg zu kennen. Dann führte sie ihre Hand zum Mund, es sah aus, als müsse sie aus Verlegenheit an den Nägeln knabbern. Plötzlich drehte sie sich um, blickte über ihre Schulter, in der die Grübchen lockten, und fragte: Worauf wartest du?

Er legte sie auf das Bett und küsste sie.

Der Morgen graute, als sie voneinander ablassen konnten.

Carl stand auf und öffnete das Fenster. Es wird kühl, der Herbst liegt in der Luft.

Komm her, Helene klopfte neben sich auf das Kissen. Carl legte sich zu ihr. Er wollte keine Decke. Der Anblick seiner Nacktheit gefiel ihr. Er war erschöpft, der letzte Schlaf schon lange her. Sie hatte tagsüber noch gearbeitet, er studiert, sie waren in einer kleinen Gaststätte etwas essen gewesen, Königsberger Klopse, ihr Leibgericht, sie waren ins Theater gegangen und hatten auf der Brücke gestanden. Später gab es ihr schwaches Ja unter der Linde. Sie schämte sich, als sie daran dachte. Sie streichelte seine Brust und umkreiste seinen Nabel, von dem aus eine lange Narbe abwärts führte. Akuter Blinddarm, Darmverschlingung, Verschluss beinahe, beinahe Schluss. Ihre Hand berührte geschickt jeden Flecken seines Körpers rund um den Hof seines Geschlechtes, suchte seine Lenden und mied sein Geschlecht. Er wusste, dass sie mit ihm spielte und wie sie ihn an anderen Tagen eben dort anfassen konnte. Es gab nichts an seinem Körper, vor dem sie eine Scheu gehabt hätte. Das war ihm manchmal unheimlich, schließlich behauptete sie doch, er wäre ihr erster Mann. Was war schon der Erste? Der Letzte wollte er sein, also hatte er zu ihr gesagt: Du bist meine Letzte, hörst du, meine süße Allerletzte. Er legte seine Hand auf ihre Hüfte.

Am besten gefallen hat mir die Lenya, wie sie ihre Rache ankündigt. Gib zu, das geht unter die Haut.

Helene konnte nicht glauben, dass er wieder davon anfing. Das arme Mädchen, sagte sie. Sie ließ Carl hören, dass sich ihr Mitleid in Grenzen hielt. Du lässt dich mitreißen. Helene schüttelte den Kopf, gütig, wie eine Mutter über ihr Kind.

Entfachen, ja. Die Oper hat gezündet, das hat Knall gemacht.

Und Puff. Helene blies ihm ins Ohr.

Seine Hände streichelten ihren Bauch, sein Mund suchte ihre kleinen Zitzen, die sein waren, sein allein, allein sein. Ehe Helene sich hingab, flüsterte sie in seinen Haarschopf: Ich möchte nur nicht, dass du erblindest.

Später, die Sonne fiel schon auf ihr Bett, wachte Helene über ihn, sie sah zu, wie er schlief. Seine Augäpfel bewegten sich unter den Lidern wie kleine Lebewesen, etwas Stimmhaftes aus seiner Kehle ließ ihn zusammenschrecken, dann atmete er ruhig. Helene flüsterte ihm etwas ins Ohr und hoffte, dass Worte, die sich im Schlaf in die Träume stahlen, diese Worte mit ihrer Stimme, tief in ihn sanken, in jede Zelle seines Daseins. Sie war zu müde zum Schlafen.

Man müsse Körper und Seele trennen, sagte Leontine, anders könne sie nicht arbeiten.

Den Affekt vom Ding lösen, das ginge wohl nur zugunsten des Dings. Denn ein Affekt ohne Ursache und Ding, dem es anhängt, das könne er sich nicht vorstellen. Carl stopfte seine kleine Pfeife nach und zündete sie an. Seine neue Hornbrille verschwand im Qualm, noch fehlte ihm beim Rauchen die Eleganz eines Alten. Wenn er sprach, sprach er in anregenden Gesprächen wie diesen so schnell, dass er einzelne Worte verschluckte und man sie sich denken musste, um zu erfassen, was er genau gesagt hatte. Nur wie könnte ein Ding ohne seinen Betrachter noch dinghaft sein? Auch das Ding besitzt ein Aussehen, eine Konsistenz und Temperatur; nicht zuletzt eine Funktion.

Leontine warf einen Blick auf Helene, die sich auf der Chaiselongue ausgestreckt und die Augen geschlossen hatte.

Vermutlich ist genau das die Herausforderung meiner Zunft, die Trennung. Allein die Sezierung des Körpers trennt einzelne Teile aus einem Ganzen. Wir können sie ansehen, die Leber und ihre Geschwulst. Wir können die Geschwulst von der Leber und die Leber vom Körper trennen.

Aber nicht vom Menschen, und es wird immer die Leber dieses Menschen bleiben. Die örtliche Entfernung und die funktionale Durchbrechung ihrer Symbiose beraubt weder die Leber des Menschen noch den Menschen seiner Leber.

Nehmen wir ein Bein. Carl war noch nicht sicher, ob sich sein Gedanke Leontines anschließen oder widersetzen würde. Wievielen unserer Väter fehlt eines der äußeren Gliedmaßen. Sie leben ohne ihren Arm, ohne ihren Finger.

Martha stöhnte demonstrativ, ihr wurde das Gespräch zwischen Leontine und Carl zu lang, es war Leontine und ihr seit einiger Zeit zum ersten Mal gelungen, gleichzeitig einen freien Tag zu haben; mitten in der Woche wollten sie einen Ausflug machen und ein befreundetes Paar in Friedenau besuchen. Martha legte jetzt ihren Arm um Leontines Hals und drosselte sie damit.

Wenn ihr euch nicht trennen könnt, haben unsere Gastgeber den Kuchen verspeist, ehe wir dort eintreffen.

Leontine löste Marthas Arm von ihrem Hals. Allein das Wort Erkenntnis unterliegt einer gewissen Wesenswandlung. Die Hülle bleibt bestehen, aber was gestern noch die Erkenntnis Gottes und seiner Allmacht war, ist heute der Schnitt in die Geschwulst.

Carl rauchte, er hielt seinen Kopf steif, es lag ihm viel an seiner Haltung, daran, den Kopf noch nicht zu schütteln, ehe er seinen Gedanken klar vermessen und die richtigen Worte für den Widerspruch gefunden hatte.

Leontine nutzte indessen die Gelegenheit, ihren Affront auszuweiten. Carl, es ist nicht allein die Medizin, die der Erkenntnis so viele neue Attribute hinzugefügt hat, dass wir nicht mehr vom selben Charakter sprechen können. Ein Blick in den Himmel, die Technik der Flugzeuge, die Vernichtungen durch Gas bei Kriegsende, das alles spricht gegen Gott.

Nein, Carl senkte den Kopf, nein, das ist die falsche Herangehensweise, Technik und Wissenschaft sind unmittelbare Kinder der göttlichen Erkenntnis. Es ist nur konsequent, dass der Mensch sich nicht dem Licht allein entzieht, dem Licht der Erkenntnis. Das lässt sich nicht trennen. Der Mensch zieht Lehren. Ob deshalb Gebete zu einem Gott etwas nützen, das weiß ich auch nicht. Ich wollte Gott keine menschlichen Züge verleihen, er spricht nicht, wie es heilige Schriften vorschlagen, er richtet nicht. Jegliche moralische Kapazität, alles Menschliche würde ich Gott absprechen. Gott lässt sich besser als Prinzip beschreiben, er ist das weltliche Prinzip. Der Glaube an ihn als die Metamorphose einer Person ist allein den Affekten des Menschen anzulasten. Carl zog an seiner Pfeife.

Die Katastrophen verursacht heute der Mensch, schau dir den Krieg und seine Helden an. Konnten wir uns von ihm erholen? Und was war schlimmer, die materielle Einbuße, der Verlust von Menschenleben oder die Kränkung? Leontine stand auf, sie ging zu dem großen Samowar, der als einziger Gegenstand noch auf der langgestreckten Konsole stand, und drehte den Hahn auf. Die Helden des Krieges waren andere. Das Wasser war zu heiß, sie hielt das kleine Glas nur an die Lippen, ohne trinken zu können. Sie sprach über den Rand des heißen Glases hinweg: Keine zehn Jahre später und schau, wie die Menschen seit Tagen an den Kiosken lauern und ihrem Händler die Vossische aus der Hand reißen. Wenn sie sich auf Remarque stürzen und seine Kriegsschilderungen aufsaugen, betrachten sie ihr eigenes Machwerk. Wir sind uns selbst genug.

Eben nicht, wären sie sich selbst genug, so hätten sie keinen Hunger, weder geistigen noch physischen. Carls Stimme verlor ihre Leichtigkeit, seine sonst einfach schnell gesprochenen Worte wurden nur noch halb ausgesprochen. Ich möchte mich korrigieren, ich möchte nicht behaupten, dass wir dem Menschen und seinen Affekten auch nur das Geringste anlasten sollten. Eher sollten wir nach dem göttlichen Prinzip schielen, das meiner Ansicht nach wie gesagt kein moralisches ist. Hören wir auf, den Menschen auf sein Gutes und Schlechtes zu belauern, haben wir Mitgefühl mit dem Sein des Menschen.

Du bist verrückt, Helene sagte es freundlich und unbestimmt, sie war sich dieser Annahme keineswegs sicher, sie richtete sich auf, streckte sich auf ihrer Chaiselongue und machte einen Katzenbuckel. Dann breitete sie ihre Arme aus und ächzte befreiend.

Für mich als Ärztin ist das Maß von Mitgefühl entscheidend. Ich möchte dem Menschen helfen, dass er lebt, möglichst gesund. Der Schmerz ist schlecht, also belauere ich den Menschen, ich untersuche die Ursache des Schmerzes, ich will sie beheben. Leontine trank einen kleinen Schluck vom schwarzen Tee und setzte sich wieder. Sie fuhr sich mit der Hand durch das kurze schwarze Haar. Sie rückte vor, saß am Rande des Polsters und stellte ihre Beine in der Weise nach außen, wie sie es schon als junges Mädchen getan hatte. Es war ein Rätsel, wo sie diesen grob gewebten Hosenrock aufgetrieben hatte, er erinnerte an die Jupe-Culotte, die Helene nur noch aus alten Modezeitschriften kannte. Leontine stützte den einen ausgestreckten Arm auf ihr Knie und mit dem anderen hielt sie, angewinkelt, den Ellenbogen nach außen zeigend, das Teeglas. Eine Herausforderung lag in ihrem Sitzen, eine Haltung, die Helene heute so aufregend wie früher, aber zum erstenmal unweiblich erschien.

Helene stellte ihre Füße auf den Boden und bückte sich auf der Suche nach ihren Schuhen. Carl, sagte Helene, insbesondere wenn du die Moral für ein Kennzeichen des Menschen hältst, sollten wir dieses ursprünglich menschliche Maß nicht verachten.

Ich verachte es nicht, ich schlage lediglich vor, es zu missachten.

Den Kopf zum besseren Sehen auf den Boden gelegt, langte Helene mit dem Arm tief unter die Chaiselongue. Ihr Gesicht war von Anstrengung verzerrt, sie blickte hinauf zu Carl: Lass uns lieber noch ins Kino gehen. Morgen arbeite ich bis sechs und die Schule geht bis zehn. Helene hatte ihre Stiefel gefunden, zog sie an und schnürte sie zu. Der November machte die Stadt grau, man musste sich warm anziehen und möglichst mehrmals in der Woche ins Theater oder Kino gehen, um die Farb losigkeit der Tage zu erdulden. Carl blieb auf seinem Stuhl sitzen und rauchte weiter. Es war unklar, ob er überhaupt gehört hatte, dass Helene ihm einen Vorschlag gemacht hatte.

Ich bewundere Sie, Leontine, deshalb lassen Sie mich Ihnen noch etwas erwidern. Meines Erachtens ist der Schmerz der einzige Zustand, den wir nicht mit den gewöhnlichen Affekten gleichsetzen dürfen. Der Schmerz ist es, der den Menschen dazu veranlasst, sich eine Zukunft vorzustellen, und sei es die Utopie, das Paradies. Wenn Sie als Ärztin das Leid des Menschen verringern, ist das gut für den Einzelnen, aber schlecht für Gott. Das Prinzip Gott baut auf den Schmerz. Erst wenn der Schmerz in der Welt ausgelöscht wäre, könnten wir von der Vernichtung Gottes sprechen.

Was ist, wollen wir noch vor Einbruch der Dunkelheit in Friedenau ankommen? Martha stand schon in der Zimmertür und hoffte, dass Leontine sich endlich aus ihrem Gespräch mit Carl lösen konnte.

Leontine sah den mehr als zehn Jahre jüngeren Carl an, in ihren Ausdruck gelangte etwas von Traurigkeit und Ergeben. Ihre Stimme war zugleich tragend und fest, als sie sagte: Grausam. Sie machte eine Pause, schien sich besinnen zu müssen. Ihre Sicht ist grausam, Carl. Das ist der richtige Augenblick zum Aufbruch. In Leontines Stimme mischte sich eine gewisse Härte, die fast bitter klang. Wenn man Ihnen zuhört, möchte man meinen, dass die Priester, über Ihre Rabbiner weiß ich zu wenig, dass die Priester also mit ihrem Versprechen auf Linderung des Schmerzes die ersten Ketzer waren. Eine organisierte Bande, die Christen? Leontine schüttelte den Kopf. Verachtung trat in ihr Gesicht. Sie blickte weg, blickte zu Martha, die noch immer an der offenen Flügeltür wartete. Leontine stand auf, sie legte ihre Hand auf Marthas Arm. Komm, Martha, wir gehen.

Die beiden Frauen verließen das Zimmer. Man hörte sie im Flur leise, wenige und kurze Sätze reden. Dann fiel die Wohnungstür ins Schloss. Helene traute sich nicht, Carl anzusehen. Das Schweigen zwischen ihnen dehnte sich aus. Carl rauchte und saß da, seine schmale Gestalt sah im Gegenlicht wie die eines alten Männleins aus. Er war es nicht gewohnt, mitten im Gespräch verlassen zu werden. Helene verschränkte die Arme. Sie überlegte, was sie Aufmunterndes zu ihm sagen könnte, zugleich spürte sie, dass sie ihn nicht aufmuntern wollte. Er hatte ihren Einwurf vorhin schlicht überhört, vermutlich hatte er ihr nicht einmal absichtlich das Gehör verwehrt.

Um sechs könnten wir Pat und Patachon sehen, das schaffen wir noch. Helene sagte es fast beiläufig, sie war jetzt ebenfalls zur Tür gegangen und hoffte, dass er endlich aufstehen und ihr folgen würde.

Leontine hat die Kränkung angesprochen, Carl sprach jetzt langsam und blieb im Satz hängen. Sein Blick ruhte auf dem Stuhl, auf dem Leontine zuvor gesessen hatte. Es fiel ihm schwer, mit dem Verlust seines Gegenübers zu denken. Sie hat den Wunsch genannt, den Wunsch nach Helden, zumindest Heldentum. Ich halte es nicht mit dem Heldentum eines Arthur Trebitsch. Es gibt weder die Erlösung einer nordischen Rasse noch die jüdische Weltverschwörung. Tragisch ist, dass mit der Beendigung eines persönlichen Leids, sagen wir durch den Tod, bestimmte Ideen niemals, und vielleicht sogar keine einzige jemals, verloren gehen. Sie entwickeln sich außerhalb des Einzelnen, der an ihnen auf die winzige Lebenszeit hin gedacht hat, weiter. Der Urheber lässt sich nicht feststellen, weil dieses Gebräu menschlichen Geistes, vom Leid geprägt und befruchtet, im Zweifel an sich selbst, keinen Beginn und kein Ende besitzt. Diese Uferlosigkeit macht mich ganz schwach. Es gibt keinen Saum der Menschheit. Der Mensch vertreibt Gott von seiner Erde. Und ab in die Glutenkiste.

Carl hatte für sich gesprochen und zur längst verschwundenen Leontine. Erschöpft ließ er jetzt seine Hände auf die Schenkel fallen.

Wie wäre es mit dem Zirkus von Chaplin? Helene verschränkte die Arme, sie lehnte sich gegen den Türrahmen.

Carl sah erstaunt hinüber zu ihr. Er brauchte einen Augenblick, ehe er antworten konnte. Kino, sagte er schroff, gehen wir ins Kino, jetzt nüchtern. Gibt es nicht diese Boxfilme? Alle Welt dreht Boxfilme, wir sollten uns einen ansehen. Combat de Boxe, das ist die junge Avantgarde Belgiens, mit einem Regisseur, der einen schier unaussprechlichen Namen hat, Dekeukeleire. Schon der Name reicht für einen Film, nicht? Oder dieser Engländer, sein Film heißt The Ring — die hiesigen Kinobetreiber haben daraus den Weltmeister gemacht. Ist das nicht lustig? Carl versuchte, sich selbst von der Lustigkeit seiner Bemerkung zu überzeugen.

Ein Film über das Boxen? Helene war nicht überzeugt, aber sie wollte alles tun, damit Carl endlich von diesem Stuhl aufstand und mit hinauskam.

Die Straße schimmerte dunkelgrau, zwischen den Häusern hing kalte Feuchtigkeit. Die Laternen brannten schon, und an den Ecken wurden die Abendzeitungen verkauft.

Warst du in Leontine verliebt?

In Leontine? Carl grub seine Hände in die Manteltaschen. Gut, ich gebe es zu. Er sah Helene nicht an, und sie wollte nicht weiter fragen, was er damit meinte.

Helene war die letzten Meter zur Charité gerannt. Sie hatte ihre Schule an diesem Abend ausfallen lassen, in den letzten Wochen ging es dort nur um die möglichen Fragen im Abitur. Es war Ostern, der Apotheker hatte ihr für den Rest der Woche freigegeben. Ihr kleiner Koffer war ochsenblutrot und leicht, sie hatte ihn vor wenigen Tagen erstanden und nicht viel eingepackt. Helene atmete noch heftig, als sie gegen die Zimmertür von Frau Doktor klopfte. Leontine öffnete ihr, sie küssten sich über die Schulter.

Du bist dir sicher?

Ja. Helene zog ihren Mantel aus. Ziemlich. Mir ist nicht übel, gar nichts, nur auf die Blase drückt es nachts.

Wie lange ist die letzte Periode her?

Helene wurde rot. So häufig sie im Krankenhaus während ihrer Ausbildung bettlägerigen Frauen die Binden gewechselt hatte, so genau sie sich an das Waschen von Marthas kleiner Wäsche erinnern konnte, sie hatte noch nie über ihre Periode gesprochen. Und nun galt diese erste Frage danach sogleich ihrer letzten.

Neunundzwanzigster Januar.

Sie könnte sich verzögert haben. Leontine blickte Helene fragend an, kein Vorwurf, kein Richten.

Das habe ich auch gehofft.

Ich werde keine von Aschheims Mäusen holen müssen? Leontine arbeitete Schulter an Schulter mit Aschheim in seinem Laboratorium, aber sie hätte für den Versuch Helenes Morgenurin benötigt. Sie hätte eines der kleinen, noch nackten Mäusemädchen nehmen und ihm Helenes Urin subkutan in jizieren müssen. Dann hätte sie zwei Tage warten und die Maus obduzieren müssen. Wenn das winzige Mäusemädchen mit einer Ovulation reagierte, war sicher, dass die Frau schwanger war. Leontine half Aschheim, eine Abhandlung darüber zu verfassen, sie sollte gegen Ende des Jahres fertig sein, so alles gut ging, und im kommenden Jahr veröffentlicht werden.

Ich gebe dir einen kleinen Schlaftrunk.

Und ich merke nichts?

Nein. Leontine drehte sich um, sie hatte in einer Glaskanne eine Flüssigkeit angerührt und goss diese Helene in einen Becher. Ich kenne die Arbeit der Anästhesisten.

Kein Zweifel. Helene hatte jetzt Angst. Sie hatte keine Angst vor dem Abbruch, sie hatte Angst vor der Bewusstlosigkeit. Sie setzte sich auf den Stuhl und trank das Glas in einem Zug. Durch ihre Arbeit bei dem Apotheker wusste sie selbst, welche Substanzen sich für eine wohldosierte zeitlich begrenzte Abwesenheit eigneten.

Es klopfte, und Martha trat ein. Sie drehte den Schlüssel in der Tür um und ging zum Fenster, um die Rollläden zu schließen.

Es muss ja niemand sehen, sagte sie und kam auf Helene zu. Jetzt atmen. Nur wenig Äther. Helene sah, wie sich Marthas Schritte bis zur Zeitlupe verlangsamten und Martha ihre Hand ergriff. Sie konnte Marthas Hand nicht spüren. Martha stellte sich neben sie und legte einen Arm um ihre Schulter. Ich bin bei dir.

Es gab keinen Traum, kein Licht am Ende des Tunnels, keine Ahnung von dem, was hätte sein können, und auch keinen Zeigefinger eines Gottvaters, der sich drohend über Helene erhoben hätte.

Als sie aufwachte, bemerkte sie noch immer die Taubheit am ganzen Körper, erst nach und nach konnte sie das Brennen spüren. Sie lag auf dem Rücken, einen Gurt fest über der Brust. Wie hatten die beiden Frauen sie auf die Liege geschafft? Helene traute sich nicht, sich zu bewegen. Am Schreibtisch brannte eine Lampe, davor saß Leontine und las.

Ist es weg? Helenes Stimme zitterte.

Leontine drehte sich zu Helene um, sie blieb auf ihrem Stuhl sitzen und sagte: Schlaf, Helene. Wir bleiben heute Nacht hier.

Ist es weg?

Leontine vertiefte sich wieder in ihr Buch, sie schien Helenes Frage nicht gehört zu haben.

Ein Junge oder ein Mädchen?

Jetzt drehte sich Leontine abrupt zu ihr um. Da war nichts, sagte sie ärgerlich. Du sollst schlafen. Da war kein Embryo, kein befruchtetes Ei, du warst nicht schwanger.

Auf dem Gang waren Schritte zu hören, die sich wieder entfernten. Helene wurde jetzt wacher. Das glaube ich dir nicht, flüsterte sie und spürte, wie ihr Tränen über die Schläfe und ins Ohr liefen, lauwarm.

Leontine schwieg, sie hatte sich über ihr Buch gebeugt und blätterte eine Seite um. Im Gegenlicht, das sich unter den Tränen wie ein Prisma brach, sah es aus, als gebe es Leontine tausendfach. Sollte das eine Brille sein, die sie da trug? Helene bewegte ihre Zehen, das Ziehen in ihrem Leib wurde jetzt so heftig und schneidend, dass sie eine leichte Übelkeit empfand.

Martha hat Nachtdienst? Helene versuchte, den Schmerz zu unterdrücken, sie wollte nicht, dass man ihn aus ihrer Stimme hörte.

Die ganze Woche schon. Sie kommt nachher, und wir bringen dich nach Hause. Bis dahin hast du noch sieben Stunden, die solltest du schlafen.

Hätte Helene nicht diese Schmerzen gehabt, wäre es ihr gelungen, Leontine zu sagen, dass sie nicht schlafen wolle. Aber der Schmerz ließ nur wenig Worte und keinen Trotz zu. Gibt es eine Wärmflasche?

Nein, Wärme würde es nur schlimmer machen. Leontine deutete ein Lächeln an. Sie stand auf und kam zu Helene, um ihr die Hand auf die Stirn zu legen. Du weinst. Ich könnte dir Morphium geben, zumindest wenig.

Helene schüttelte heftig den Kopf. Auf keinen Fall. Niemals wollte sie Morphium nehmen, sie würde den Schmerz ertragen, jeden Schmerz, auch wenn sie es nicht laut sagte. Sie biss sich auf die Lippen, ihr Kiefer klemmte zusammen.

Vergiss das Atmen nicht, jetzt lächelte Leontine wirklich, sie streichelte Helenes Haar, das feucht wurde vom Schweiß, der ihr auf der Stirn stand. Die Tränen liefen, sie konnte sie nicht aufhalten.

Wenn du musst, sag mir Bescheid, das erste Mal tut weh. Aber der Urin hilft, es wird heilen. Du sollst nur liegen, möglichst viel. Weiß Carl inzwischen etwas?

Helene schüttelte wieder den Kopf, es machte nichts, dass sie weinte. Ich habe Carl gesagt, dass wir in die Ferien fahren, an die See. Wir fahren nach Ahlbeck, nicht wahr?

Leontine zog die Augenbrauen hoch. Und wenn er Martha oder mich zufällig trifft?

Das wird er nicht, er lernt für sein Examen. Er sitzt seit drei Wochen in seiner Kammer. Helene keuchte, das Lachen gelang mit Schmerz nicht gut. Er hat gesagt, es wäre bestimmt noch frisch am Meer, wir sollen uns nicht erkälten.

Leontine ließ Helenes Stirn los, sie ging zu ihrem Schreibtisch, zog die Lampe tiefer zu sich, damit der sonstige Raum noch dunkler wurde, und las. Im Schein der Lampe sah es aus, als habe Leontine einen Flaum auf der Oberlippe.

Ich wusste gar nicht, dass du eine Brille hast.

Verrat es keinem, sonst verrat ich dich.

Am Morgen nahmen Martha und Leontine Helene in ihre Mitte. Martha trug den kleinen, ochsenblutroten Koffer, in den sie Helenes Wäsche gelegt hatten. Helene musste immer wieder stehen bleiben, ihr Leib zog sich zusammen, sie wollte sich nicht auf offener Straße krümmen. Blut floss aus ihr, es schien dicker als sonst. Der Wind pfiff, die Mädchen hielten ihre Hüte fest. Helene fühlte sich von innen nach außen durchnässt, bis zu den Nieren kroch die Nässe, sie zog sich an den Beinen entlang, und es war Helene, als erreichte sie ihre Kniekehlen.

Leontine sagte zu Martha: Du wartest hier mit ihr. Und Martha wartete mit Helene, sie legte einen Arm um Helenes Hüfte. Helene erschien Marthas Arm unangenehm schwer, ihr schien, als reize die Berührung den Schmerz und locke ihn. Marthas Arm war ihr lästig. Aber sie konnte nicht sprechen, sie wollte Martha nicht von sich stoßen. Plötzlich musste sie an ihre Mutter denken, ihr wurde schlecht. Sie hatten lange nichts von der Mutter gehört. Der letzte Brief vom Mariechen war zu Weihnachten gekommen, alles sei in bester Ordnung, der Mutter ginge es besser, sie könne manchmal mit ihr spazieren gehen. Ein Ziehen riss Helenes Leib auseinander, sie knickte fast unmerklich ein. Martha hob jetzt ihren Arm und legte ihre Hand um Helenes Schulter, ungefragt versicherte sie Helene, dass sie es gleich geschafft hätten. In Marthas Gesicht war ein sonderbarer Ausdruck, den Helene noch nie gesehen hatte. War es Furcht?

Engelchen. Martha zog Helene an sich, sich an Helene. Sie streichelte Helene über das Gesicht. Helene wollte ihr sagen, dass das nicht nötig sei, es war ja nur Schmerz, nichts sonst. Sie musste ihn nur überwinden, ihm standhalten, warten. Leontine winkte vorn an der Straße, endlich hatte ein Taxi gehalten. Es begann zu regnen, die Passanten schlugen ihre Schirme auf. Leontine ruderte jetzt mit dem Arm, sie sollten hinüberkommen. Das Blut zwischen Helenes Beinen war kalt geworden. Martha und Leontine brachten Helene in das kleine Zimmer in der Achenbachstraße. Dort hatten sie die Betten wieder je an eine Wand geschoben und versicherten, dass es ihnen nichts ausmachte, für diese Woche in einem Bett zu schlafen. Sie brachten ihr Wasser und sagten, es sei wichtig, dass Helene möglichst viel ruhe. Es duftete nach Bergamotte und Lavendel. Helene wollte sich waschen, aber sie sollte nicht aufstehen. Im Flur schlugen Türen. Vielleicht der Baron?

Nein, Heinrich Baron sei wegen seiner Tuberkulose nach Davos gereist. Es sei ihm in der letzten Zeit so schlecht gegangen, dass Leontine ihm Empfehlungen und Rezepte ausgestellt habe. Statt seiner hätte jetzt das Ehepaar Karfunkel das Zimmer gemietet. Fanny sei froh, eine gute Miete zu bekommen, sie habe sich immerhin das Grammophon zurückholen können.

Helene legte sich auf das schmale Bett und schloss die Augen, es war zu hell.

Besser ist es, wenn du dich auf den Bauch legst, Engelchen, dann kann sich die Gebärmutter leichter senken. Helene drehte sich auf den Bauch. Das Kissen und die Matratze, einfach alles hier roch nach Leontine. Helene schloss wieder die Augen. Das Ziehen war nicht schlimm. Sie war nicht schwanger, das war gut.

Sie lag die ganze Woche auf dem Bauch und sog Leontines Geruch ein und übte Geduld.

Martha hatte herausgefunden, dass der Autobus von Ahlbeck nach Heringsdorf fuhr und der Schnellzug vom Bahnhof Heringsdorf Seebad um halb drei in Berlin am Stettiner Bahnhof ankommen würde. Also telefonierte Leontine mit einer Freundin in Ahlbeck und bat um Telegrammaufgabe: An Carl Wertheimer. Ankunft Sonntag halb drei, Stettiner Bahnhof. Küsse, Helene.

Am Sonntag hatte Leontine Dienst im Krankenhaus. Martha und Helene fuhren allein mit der Elektrischen hinaus nach Bernau. Dort warteten sie eine gute halbe Stunde auf die Eisenbahn. Einige der Zeitungsjungen liefen dem einfahrenden Zug entgegen und priesen den Menschen an den Fenstern ihre Sonderausgaben an. Der Zug dampfte und zischte, auch als er schon hielt. Berlin, alle einsteigen. Er war so überfüllt, dass Martha und Helene nur mit Mühe aufsteigen konnten. Die Pfeife trillerte. Und — Abfahrt. Der Zug war voller Berliner, die ihre Ostertage an der See und anderswo im Nordosten verbracht hatten und jetzt in ihre Stadt zurückkehrten. Sie ergötzten sich an ihren Zeitungen und tauschten Meinungen über die jüngsten Vorfälle in Schleswig-Holstein. Ein alter Mann sagte: Die hatten in Wöhrden gar nichts zu suchen. Was wollten die da überhaupt? Um den alten Mann herum fielen jetzt heftige Worte. Feiglinge sind das.

Von wegen Feiglinge, es geht um die Gerechtigkeit.

Mit Messern spielt man nicht.

Helene hielt sich an der Stange fest. Sie hatten keinen Platz mehr bekommen. Der Schmerz war jetzt geradezu sanft, er hatte sich vom Unterleib in den tiefen Rücken zurückgezogen, dort pochte er in Maßen, die Helene gut ertrug. Die Menschen um sie her konnten gar nicht aufhören, jeder sprach zu jedem. Offenbar war dieser Eifer ansteckend, jeder Mann und selbst jede Frau wollte seine Meinungen und Argumente zum Besten geben.

Hinterrücks nenne ich die. Die Frau, die das sagte, wirkte beleidigt.

Wir lassen uns doch keine Versammlung verbieten, rief ein Mann und sein Nachbar stimmte ihm zu, abschlachten erst recht nicht. Martha und Helene blieben bis zum Stettiner Bahnhof an der Tür stehen.

Carl wartete am Bahnhof, er winkte mit den Armen, als habe er Flügel. Der Zug ächzte und stand schließlich. Sie stiegen aus, Carl rannte auf sie zu, er gab Martha die Hand und schloss Helene in seine Arme.

Hab ich dich vermisst.

Helene drückte ihr Gesicht fest an ihn, die Glätte seines Pelzkragens, sie wollte nicht, dass er sie ansah. Die Menschen strömten an ihnen vorbei.

Eine ganze Woche an der See und ich sitze in meiner Kammer und frage mich, ob Hegel die deutsche Sprache von ihrem ursprünglichen Gebrauch entfremden musste, um seine Gedanken adäquat zu äußern. War das nötig? Carl lachte. Wo habt ihr Leontine gelassen?

Sie musste eher zurück, ihr Professor Friedrich hat ihr telegraphiert, er benötigte sie dringend.

Lass dich ansehen, erholt siehst du aus. Carl betrachtete Helene wie eine zu kaufende Aprikose, er kniff ihr zärtlich in die Wange. Vielleicht kleine Augenringe. Ihr werdet doch nicht ohne mich getanzt haben?

Und ob. Martha drückte Carl den kleinen Koffer in die Hand.

Frühling und Sommer vergingen wie im Flug. Helene arbeitete in der Apotheke, legte ihre Reifeprüfung ab und wartete auf die Ergebnisse. Carl saß von früh bis spät zwischen den Büchertürmen an seinem Schreibtisch, ging er hinaus, so nur um eine der schriftlichen und mündlichen Prüfungen hinter sich zu bringen. Am Ende des Sommers glaubten sie beide, dass ihnen das Leben zu Füßen lag. Zwei Professoren buhlten um Carls Aufmerksamkeit, er musste sich nur entscheiden, ob er lieber weiter Hegel lesen oder doch der allgemeinen Strömung folgend sich tiefer mit Kant und Nietzsche auseinandersetzen wollte. Er schrieb Briefe nach Hamburg und Freiburg, wo er von Professoren wusste, deren Arbeit ihn begeisterte. Nachdem sein summa cum laude bekannt geworden war, erreichte ihn eine Einladung aus Dresden, er möge sich doch dem Problem der Allgemeingültigkeit in Kants Ästhetik widmen. Aber Carl wartete noch auf Antwort aus Hamburg und Freiburg.

Du weißt, dass wir heiraten müssen, ehe ich aus Berlin weggehe?

Carl drückte Helenes Hand in seiner. Sie überquerten die Passauer Straße. Es roch nach Laub. Das lichte Gelb der Lindenblätter holte die Herbstsonne in die dunklen Äste. In der Nürnberger Straße war das Laub zu Haufen gekehrt. Helene lief mitten durch einen der Haufen, dass die Blätter über ihre Schuhspitzen flogen und das dürre Laub raschelte. Der Ahorn glühte grün und rot, gelb und grün leuchteten die Blattadern, brauner Brand vom Rande her. Braunes Gold von Kastanienblättern. Helene bückte sich und hob eine der Kastanien auf. Schau mal, wie glatt die ist und was für eine schöne Farbe. Sie strich mit dem Daumen über die Rundung und hielt Carl die Kastanie hin.

Carl nahm ihr die Kastanie aus der Hand und wartete auf ihre Antwort. Ihre Augen waren hell, in dem gelben Licht der untergehenden Sonne wirkten ihre Augen fast grün. Ihre Augen lächelten. Wir müssen?

Er nickte, er konnte es nicht erwarten. Werd meine Frau.

Helene musste sich kaum strecken, um ihn auf den Mund zu küssen. Ich bin dein, flüsterte sie.

Im Frühjahr? Er wollte sich versichern, er nahm ihre Hand und ging voran.

Im Frühjahr, bestätigte sie. Sie ließ sich nicht ziehen, sie holte auf und ihrer beider Schritte wurden immer schneller. Sie waren eingeladen. In der Achenbachstraße brannten schon die Lichter. Fanny war noch mit Vorbereitungen beschäftigt, sie brauchte die Hilfe ihres Personals und bat Carl und Helene, mit Cleo eine Runde zu gehen. Als sie später zurückkehrten, war die Wohnung voller Gäste. Aus dem Trichter klang eine knarzige Stimme und beklagte ihre Zeit. Der Vetter aus Wien, den Helene nur flüchtig kannte, stürzte sich schon beim Eintreten an der Tür auf sie. Er freue sich so sehr, Helene zu sehen, und habe ihr schönes Gespräch vor zwei Jahren nie vergessen können. Helene überlegte, welches Gespräch er wohl meinte. Sie erinnerte sich nur vage, es ging um Kindererziehung. Es sei zu schade, sagte der Vetter mit seiner feuchten Aussprache, dass sie kein Französisch spreche. Jetzt legte er seine große weiche Hand auf Helenes Arm. Er habe schon überlegt, ob er ihr ein Angebot als Privatlehrerin für seine Töchter machen könnte. Erstaunt sah Helene ihn an. Es wäre zu schön, wenn Sie nach Wien kämen. Sie könnten unser Mädchenzimmer haben, wir sind doch Verwandte.

Ob sie die Mäntel abnehmen dürfe? Otta fragte offenbar nicht zum ersten Mal. Helene drehte sich erleichtert zur Seite, zog ihren Mantel aus und tauschte mit Carl, der geduldig neben ihr wartete, einen Blick. Helene ergriff seine Hand.

Wie ich von Fanny gehört habe, ist Ihnen die Reifeprüfung prächtig gelungen? Na, wer hätte was anderes erwartet. Ich bin sicher, dass Sie meine Töchter wunderbar unterrichten werden, es sind zwei.

Mein Verlobter, Carl Wertheimer, sagte Helene jetzt mitten in den Satz des Vetters hinein. Der Vetter schluckte, sein Blick fiel zum ersten Mal auf Carl.

Freut mich. Der Vetter streckte Carl die Hand entgegen. Sie haben also das Glück, der Vetter musste offenbar nachgrübeln, welches Glück er annahm, dass Carl es hätte. Das Glück, hob er ein zweites Mal an, diese schöne junge Frau in die Ehe zu führen.

Carl verheimlichte weder Freude noch Stolz. Es war das erste Mal, dass Helene ihn als ihren Verlobten vorgestellt hatte. Wir werden Sie zur Hochzeit einladen, sagte Carl freundlich. Sie entschuldigen uns? Carl schob Helene vor sich her, um durch die im Flur wartenden Gäste in den Salon zu gelangen. Dort saßen und standen die Menschen dicht beieinander. Martha unterhielt sich mit den neuen Untermietern, sie wirkte neben den Leuten groß und blass und nüchtern. Sie hielt ein Glas in der Hand und Leontine veranlasste, dass ihr Wasser nachgeschenkt wurde. Zu Helenes Überraschung entdeckte sie neben Leontine die wohlbekannte Stirnglatze des Barons. Er stand mit dem Rücken zur Tür und sah Helene nicht kommen.

Wie schön, Sie zu sehen, sagte Helene, sie tippte ihm an die Schulter.

Helene, der Baron breitete mit leicht gekrümmten, nach oben geöffneten Händen seine Arme aus, eine Geste, die zugleich Distanz ausdrückte. Er nahm Helenes Hand und küsste sie.

Geht es Ihnen besser, konnten Sie sich erholen?

Keine Spur. Bei meiner Ankunft diagnostizierte der Arzt: Erkältung des Herzens, Helene, was sagen Sie dazu? Einen Augenblick sah es so aus, als wolle sich der Baron vor allen Leuten bloßstellen. Der Baron sah forsch in die Runde, doch schon beeilte er sich herzhaft zu lachen. Davos ist längst nicht mehr, was es war. Ein paar Siechende, denen man besser nicht begegnen will, und viele Hysteriker, die den lieben, langen Tag Krankengeschichten austauschen und wie getrieben durch die Kurparks eilen. Sie pilgern in Grüppchen zum Waldsanatorium.

Nicht wahr? Sagte jetzt eine kleine schmale Person, die He lene noch nicht kannte. Offenbar bewunderte das zarte Wesen den Baron, es lauschte mit dem Finger am Ohr.

Aber dort erhält der Normalsterbliche ja nicht einmal Einlass. Der Baron freute sich, endlich Zuhörer zu haben. Da behauptete ich einfach mit wichtiger Miene, ich sei mit einem Monsieur Richter verabredet. Der Name fiel mir gerade so ein. Der Portier nickte, ihm war das recht, und er ließ mich eine Zeitlang in einem großen Sessel versinken. Ich tat, als würde ich warten. Unerträglich, diese Gesellschaft dort, furchtbar.

Wie wahr, sagte das zarte Wesen jetzt und schob eine kupferne Haarsträhne aus dem Gesicht.

Die Aufgekratztheit des Barons freute Helene, seine Erholung war sichtbar.

Carl Wertheimer, sagte der Baron jetzt, er bemühte sich um einen erfreuten Ausdruck. Wie schön, dass Sie auch gekommen sind.

Wir haben uns verlobt. Helene blickte den Baron herausfordernd an.

Ja, äh, ja, das habe ich schon gehört. Der Baron kratzte sich am Ohr. Leontine hat mir davon erzählt. Da möchte ich Glückwunsch sagen. Als falle ihm eben dies schwer, legte der Baron nun seine flache Hand auf die Stirnglatze und zupfte selbstvergessen mit Zeige- und Mittelfinger im dünnen Haar. Das zarte Wesen neben ihm trat unruhig von einem Bein auf das andere, es schaute freundlich in die Runde.

Mein Gott, ja, was wollte ich gerade sagen? Ich wollte Ihnen von dem philosophischen Symposium erzählen, dem Streit, der uns in Davos nicht erspart geblieben ist. Aber vielleicht stelle ich Ihnen zuerst das Fräulein Pina Giotto vor, wir haben uns in Arosa kennengelernt.

Dieselbe Pension, ja, das zarte Wesen pflichtete ihm jetzt erleichtert bei.

Das war so, nun, die Preise in Davos, davon machen wir uns hier keine Vorstellung. Und Arosa, ach, das gehört ja fast dazu. Der Baron nestelte an seinem Haar, sein Blick hing an Helene, er vergaß das Blinzeln.

Und liegt noch höher, behauptete das zarte Wesen jetzt.

Der Baron riss sich aus seiner Betrachtung und sah seine Begleitung unsicher an. Nur vorsichtig wagte er eine sanfte, aber abwehrende Handbewegung in ihre Richtung und ergriff das Wort.

Sie wissen sicherlich davon, Carl, der Streit zwischen Cassirer und Heidegger hat den ganzen Ort in Aufregung versetzt.

Schrecklich, ja, nickte das Fräulein Giotto. Der eine ist einfach abgereist.

Heidegger kündigte an, Cassirers Philosophie zu vernichten.

Ja, und da ist der eine einfach abgereist. Wo gibts denn sowas? Ich habe zum Heini gesagt, der ist ein Feigling. Kneifen tut man nicht.

Der Baron errötete jetzt und Schweiß brach auf seiner Stirn aus. Ihm war die Äußerung von Fräulein Giotto wohl nicht ganz geheuer. Nun, es war etwas anders. Entschuldigend blickte der Baron von Carl zu Helene und wieder zurück zu Carl. Ich möchte Ihnen das erklären. Der Baron fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn und die glänzende Schneise auf seinem Kopf entlang. Es ging um Kant. Heideggers verwandelte Seinstheorie ist fundamental, sie ist radikal, er ließ Cassirer kaum zu Wort kommen, vielleicht fühlte sich Cassirer nicht ernst genommen. Ihm ging es um die symbolischen Formen. Er sprach immerzu vom Symbol. Vielleicht erschien seine über eilte Abreise den meisten deshalb als Zeichen, als Symbol seiner Niederlage.

Helene vermied es, mit Carl Blicke zu tauschen. Sie wollte ihn nicht verraten. Waren es nicht eben diese zwei Herren, denen Carl nach Hamburg und Freiburg Briefe geschickt hatte und auf deren Antwort er seit einigen Wochen wartete?

Als die Gesellschaft später um den großen Tisch Platz genommen hatte und nach vielen Gängen schließlich ein Soufflé auf Äpfeln gereicht wurde, unterhielt sich Carl mit Erich über die jüngsten Entwicklungen der Wirtschaft.

Kaufen, sage ich Ihnen, kaufen, kaufen, kaufen. Erich saß Carl und Helene an der Tafel gegenüber. Er hatte seinen Arm auf Fannys Stuhl abgelegt und schwenkte ein Glas mit Cognac. Erichs Sportlerhals erschien Helene heute noch massiger als sonst. Wir werden davon profitieren, glauben Sie mir. Das Platzen der Spekulationsblase ist für uns in Europa nur von Vorteil.

Sie sehen keine Gefahr?

Ach, New York. Sie sind noch jung, Carl. Sie haben vermutlich kein Geld. Aber hätten Sie welches, ich würde Ihnen den guten Rat geben. Der Zusammenbruch in Amerika wird uns nutzen. Erich beugte sich über den Tisch und sagte hinter vorgehaltener Hand, damit Fanny, die neben ihm saß und sich mit dem Herren zur anderen Seite unterhielt, ihn nicht hörte: Sie wird bald wieder eine reiche Frau sein. Ich konnte sie über reden, eine Hypothek auf die Wohnung aufzunehmen. In Kürze wird sie das ganze Haus kaufen, glauben Sie mir.

Fanny stand jetzt auf und erhob ihr hohes Kristallglas. Sie schlug den Löffel dagegen, aber das Glas war so dick, dass es kaum klirrte. Sie bat ihre Gäste um Aufmerksamkeit. Fanny lobte ihre Freunde, sie zählte die Jubiläen und Ehren einiger aus den letzten Wochen auf, nach jeder Preisung klatschte die Gesellschaft. Helene und Carl waren froh, dass sie ihre Prüfungen und Ergebnisse nicht erwähnte, sie nicht aufstehen, würdig in die Runde nicken und sich stolz zeigen mussten.

Carl lehnte sich zu Helene und sagte leise: Stolz ist etwas für Philister. Helene schlug die Augen nieder, sie gab ihm recht. In ihren Augen widersprach das behaglich stolze Nicken der Herren jeder Würde, obwohl es gerade um deren Darstellung ging.

Am fortgeschrittenen Abend stand Helene zwischen dem Baron und Pina Giotto. So sehr sie deren Geplauder nicht mehr ertragen konnte, so wenig wollte sie von ihrer Seite weichen, weil Erich sie über den ganzen Abend mit seinen gierigen Augen verfolgte. Durch die offene Tür der Veranda sah Helene, dass Carl dort mit Leontine, Martha und einem unbekannten Paar saß und sich unterhielt. Pina Giotto wollte den Baron überreden, mit ihr am nächsten Tag in eines der großen Kaufhäuser zu gehen, sie wünschte sich eine Federboa. Der Baron suchte Ausflüchte, vermutlich ahnte er, wie teuer eine solche Boa war. Boa Boa, Pina Giotto gab keine Ruhe. Feder Boa Boa Feder. Lange Federn, leichte Federn, glänzend oder matt? Pfauenfedern, fremde Feder, Federkleid. Helene musste vor lauter Federn an ihre Mutter denken. Im letzten Brief hatte es geheißen, es ginge ihr etwas besser. Keine Verwirrung mehr, Spaziergänge möglich. Es war gegen elf, als sich die ersten Gäste in den Flur begaben, sie ließen sich ihre Mäntel bringen. Die einen wollten zur Mitternachts-Revue, die anderen lockte es ins Ballhaus. Ihr kommt mit, bestimmte Fanny und verlor eine eingemeindende Geste über den Köpfen vom Baron, seinem Fräulein Giotto und Helene. Als Fanny unter ihren späten Gästen Helene erkannte, rief sie mit Lallen: Du auch, du alte Kanaille!

Helene hielt Ausschau nach Carl, doch in der Veranda saßen jetzt zwei Männer, die an dem niedrigen Tisch Armdrücken übten. Während das Fräulein Giotto dem Baron deutlich machte, dass der Brillant, den sie heute Mittag beim Juwelier gesehen hätten, eine schöne Größe habe und gut für eine einfache Kette geeignet sei, erfasste Helene eine Unruhe. Wohin sie auch sah, sie konnte weder Carl noch Martha und Leontine erblicken. Trotz der Gefahr, dass Erich ihr folgen würde, entschuldigte sie sich fast unhörbar und schlenderte so gelassen wie möglich durch die angrenzenden Zimmer. Nirgends konnte sie die Vermissten entdecken. Gerade als sie das Berliner Zimmer durchquert hatte und sich noch einmal umsah, zurücksah, entdeckte sie sich in Erichs Fadenkreuz. Er war ihr schon gefolgt und kam jetzt mit großen Schritten auf sie zu. Helene öffnete die Tür in den hinteren Teil der Wohnung. Das Licht im Flur ließ sich nicht anzünden, sie hastete an den ersten zwei Türen vorbei, als sie hinter sich Schritte hörte. Für einen Augenblick verschwand der Lichtkegel, der aus dem Berliner Zimmer zu ihr in den Flur fiel. Erich hatte die Tür geschlossen. Plötzlich panisch tastete Helene mit der Hand an der Tapete entlang, bis sie den Türrahmen und die Klinke spürte. Es musste ihr altes Zimmer sein, das, in dem Leontine und Martha wohnten. Stimmen und Lachen drangen durch die Tür. Erich hatte am anderen Ende des Flures offenbar die Orientierung verloren. Sie hörte sein Schnaufen. Doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Helene rüttelte an der Klinke.

Einen Augenblick, sagte eine Stimme aus dem Inneren des Zimmers. Es dauerte Sekunden, bis ihr geöffnet wurde. Martha ließ Helene eintreten.

Du bist es, Martha war offenbar erleichtert und bat Helene, sie möge schnell eintreten. Hinter Helene verschloss Martha die Tür. Ohne sich weiter um Helene zu kümmern, setzte sie sich auf das schmale Bett, auf dessen Rand Leontine mit der fremden Frau saß, die vorhin unter den anderen auf der Veranda gesessen hatte. Die fremde Frau trug die Federboa, von der Pina Giotto träumte. Dunkle, violette Federn brachten ihre markanten Wangenknochen und die schattigen Augen gut zur Geltung, eine feine Dauerwelle lag schmal am Schädel, ein wohlgeformter Schädel, lang. Carl saß mit dem Rücken zu Helene am Waschtisch, er stand jetzt auf und zeigte sich erstaunt, Helene zu sehen. Helene bemerkte, wie er die kleine silberne Dose unter seiner Hand auf dem Tisch zu dem fremden Mann schob, den Helene vorhin mit Blick auf die Veranda für den Ehemann der Frau gehalten hatte, die nun allerdings auf dem Bett saß und sich mit Leontine küsste. Die violetten Federn verdeckten Leontines Gesicht. Helene erschrak, als sie sich bewusst wurde, wie sie ihre Augen aufriss, beiläufig versuchte sie in eine andere Richtung zu sehen. Nur wohin jetzt? Sie wusste, um welche Dose es sich handelte, und das heimliche Zuschieben dieser Dose zwischen Carl und diesem Mann konnte nur bedeuten, dass Carl Helene nicht ins Vertrauen ziehen wollte.

Die anderen brechen auf. Fanny möchte, dass wir mitgehen, tanzen.

Sie will immer in diesen Königsklub, sagte Martha etwas enttäuscht. Lasst uns ins Silhouette gehen, da ist es schöner. Martha schloss die Tür auf.

Gut, gehen wir. Carl sagte das förmlich. Kaum hörbar zog er die Nase hoch. Er trat jetzt zu Helene und fasste sie am Arm. Gehen wir tanzen, meine Liebe.

Helene stimmte zu, sie wollte sich nichts anmerken lassen.

Erst als sie später in einem schwach beleuchteten Ballsaal tanzten und Carl seine Hände nicht von ihren Hüften nahm und sie überall dort streichelte, wo er es sonst im Beisein anderer nicht tat, er sie bestürmte, als hätten sie sich seit Tagen nicht gesehen und sich nicht noch am Morgen geliebt, konnte sie ihre Gedanken nicht beruhigen und sich nicht länger zurückhalten. Also rief sie ihm zum Trotz der lauten Musik ins Ohr: Schnupfst du öfter?

Carl hatte sie verstanden, er musste ahnen, dass sie die Dose gesehen hatte. Carl hielt Helene jetzt mit ausgestreckten Armen von sich weg, senkte die Stirn leicht und sah sie an, er schüttelte den Kopf. Es war ihm ernst, sie musste ihm glauben. Sie glaubte ihm, nicht nur, weil ihr nichts anderes übrig blieb. Ihre Körper gehörten zueinander, wie er sie hielt beim Tanz, wie sie einander losließen und wiederfanden, sein Blick in ihre Augen, die Suche und Ungewissheit, in das Innere, zum Vertrauten, sein Kuss auf ihren Lippen, und die Zugehörigkeit, die sie zwischen ihm und sich spürte, war eine, die kleine Geheimnisse und Verschiedenheiten nicht zugestand oder gestattete, sie feierte die Geheimnisse, unbedingt.

Helene tanzte mit ihm bis in den Morgen. Einmal rief sie ihm zu: Hamburg oder Freiburg?

Helene, rief Carl zurück. Er zog sie an sich und flüsterte ihr ins Ohr, wo du bist, will auch ich sein, seine Zunge berührte ihre Ohrmuschel, wenn meine Frau mich begleitet, gehen wir nach Paris.

An einem Februartag, an dem die Sonne von einem blauen Himmel strahlte und der auf den Straßen liegende Schnee schon rotbraun von der Asche war, stand Helene in der Apotheke vor ihrer Waage und wog für eine Kundin Salbeiblätter. Ein Pfund sollte es sein. Helene stieß die kleine Schaufel in das Glas und schüttete eine Schaufel nach der anderen in die Waagschale. Vielleicht wollte die Kundin in dem Salbei baden. Die Glocke läutete mit der sich öffnenden Tür. Helene blickte auf. Der kleine Junge, der lange vor den Bonbongläsern gestanden hatte, verließ, die Hände in den Hosentaschen, die Apotheke. Von draußen drang der Brandgeruch von Kohle und Benzin herein. Es war mittags, außer ihrer Kundin wartete nur noch eine ältere Dame auf Bedienung. Das Telefon klingelte. Der Apotheker erschien in der Tür des Hinterzimmers. Für Sie, Helene, rief er und sah sie erfreut an. Es war der erste Anruf, den er in all den Jahren für sie entgegennahm. Ich übernehme, gehen Sie nur. Der Apotheker drängte Helene zur Seite, Helene ging zum Telefon.

Ja bitte? Sie sagte es wohl zu leise und jetzt rief sie in das Rauschen: Ja bitte?

Hier ist Carl. Helene, ich muss dich sprechen.

Ist etwas passiert?

Ich will dich sehen.

Wie bitte?

Kannst du früh Schluss machen?

Es ist Mittwoch, da geh ich doch mittags. In einer Viertelstunde komm ich hier weg.

Helene musste sich ihr linkes Ohr zuhalten, um ihn besser zu verstehen.

Ausgezeichnet. Carl schrie. Wir treffen uns am Romanischen Café.

Wann?

Ein lautes Rauschen unterbrach sie.

Liebe! Um eins am Romanischen Café?

Um eins am Romanischen Café. Helene hängte den Hörer auf. Sie hatte den Hörer so fest auf ihr Ohr gepresst, dass jetzt die Schläfe wehtat. Als sie wieder nach vorne kam, wickelte der Apotheker eine Schachtel Veronal ein und nahm die Münzen der älteren Dame entgegen.

Sie dürfen sich schon umziehen, Helene, sagte er freundlich und mit einem listigen Lächeln, als stünde es in seiner Macht, ihr ein Treffen mit dem Liebsten zu ermöglichen.

Helene überquerte den Steinplatz. Tauwetter, unbeständig. Sie fragte sich, warum Carl sie so dringend sehen wollte. Es konnte sein, dass ihm der Philosoph aus Hamburg geantwortet hatte. Der aus Freiburg hatte ihm kurz vor Weihnachten eine ablehnende Antwort beschieden. Von Carls summa cum laude wäre er zwar beeindruckt, von Hegel dagegen weniger. Seine Assistentenstellen seien alle besetzt. An der Fasanenstraße blieb Helene stehen. Hinter ihr klingelte ein Fahrrad. Plötzlich glaubte sie, es könne Carl sein, der bei jedem Wetter fuhr. Sie drehte sich um, es war aber nur ein Bäckersjunge, dem die Straße zum Fahren wohl zu matschig erschien. Helene trat einen Schritt zur Seite, sie stellte sich auf einen kleinen Eishügel, dessen Ränder schmolzen, und ließ den Bäckersjungen vorbei. Die Räder spritzten ihr Schneeasche auf den Mantel. Nun stand noch die Antwort Cassirers aus. Schon im Januar hieß es, dass Carl in Berlin alle Türen offen stünden. Er konnte wählen, zwei Professoren rissen sich um ihn. Noch lieber aber wollte er einen eigenen Forschungsplatz aufbauen. Es hatte in den letzten Wochen nicht so ausgesehen, als warte er noch ernsthaft auf eine Antwort von diesem Cassirer aus Hamburg. Was konnte es sonst sein, das Carl so eilig erschien, weshalb er nicht bis zum Abend warten wollte? Vielleicht wollte er sie treffen, um den am Wochenende anstehenden Besuch bei seinen Eltern mit ihr zu besprechen? Sie fürchtete sich vor dem Besuch. Am Abend zuvor hatten sie sich fast gestritten. Helene hatte gesagt, sie könne nicht mit leeren Händen zu seinen Eltern, sie wolle ihnen ein Geschenk kaufen. Carl hatte das nicht richtig gefunden. Das Geld bräuchten sie dringend für andere Dinge, für Essen, Bücher und nicht zuletzt für das gemeinsame Leben, einen Umzug, eine richtige Wohnung. Helene wollte seinen Eltern eine kleine grüne Vase schenken, die sie bei Kronenberg vorn an der Ecke im Schaufenster gesehen hatte. Eine grüne Vase, hatte Carl ungläubig gefragt, und es hatte Helene so geschienen, als spotte er. Noch heute Morgen, als sie sich verabschiedeten, hatte Carl zu ihr gesagt, seine Eltern erwarteten kein Geschenk. Carl hatte sie geküsst. Seit Jahren seien sie neugierig, Helene endlich kennenzulernen. Schließlich wüssten die Eltern, dass sie nicht gerade reich waren. Carl hatte mit dem Rücken zu ihr seine Bücher zusammengesucht und für den nächsten Morgen bereitgelegt und dabei etwas gemurmelt. Was hast du gesagt? Das hatte Helene nachfragen müssen, und er hatte sich umgedreht und mit einem beiläufigen Tonfall gesagt: Sie wissen nur nicht, dass du bei mir wohnst. Helene hatte sich hinsetzen müssen. Es waren gut drei Jahre, die sie jetzt mit ihm in seiner Kammer lebte. Jeden Monat versuchte sie, von ihrem Geld soviel Essen wie nur möglich für den gemeinsamen Haushalt zu kaufen, wo doch Carl kein Geld für die Miete von ihr annehmen wollte, weil seine Eltern dafür aufkamen. Was sollte sie seinen Eltern also am Sonntag vorspielen? Dass sie noch bei ihrer Tante lebte?

Carl hatte sie beruhigen wollen und ihr versichert, dass er es ihnen sagen wolle, an diesem Sonntag.

Aber das war in Helenes Augen das Schlimmste. Er konnte unmöglich die langangekündigte Verlobte zum ersten Mal mit nach Hause bringen und während des Essens sagen, wir kennen uns erst vier Jahre und haben uns vor zwei Jahren die Ehe versprochen, aber wir wohnen übrigens schon mehr als drei Jahren zusammen. Helene rieb sich die Augen.

Schau, du wolltest mich nie zu ihnen begleiten, wie hätte ich ihnen erklären sollen, dass du zwar mit mir lebst, sie aber nicht kennenlernen möchtest?

Jetzt bin ich schuld?

Nein, Helene, mit Schuld hat das nichts zu tun. Es wäre ihnen unhöflich erschienen. Wie hätte ich ihnen erklären sollen, dass du dich nicht traust?

Helene hatte etwas erwidern wollen, es war ihr unangenehm, dass sie sich nicht traute. Sie hatte ihre Augen gerieben, bis Carl zu ihr kam und ihre Hände festgehalten hatte. Was glaubten seine Eltern, wer Carls Wäsche wusch und flickte, wer dafür sorgte, dass er am Abend ein warmes Essen bekam und die Wohnung belebte, die Spatzen auf dem Dachsims fütterte und die Orchidee in ihrem Glaskasten goss, während Carl jeden Sommer mit seinen Eltern in die Ferien über die Monti della Trinità an den Zürichsee fuhr, wo sein Vater an der Eidgenössischen Sternwarte seine Forschungen verfolgte, Zykloiden errechnete und Sonnenflecken kartographierte, während die Mutter mit ihrem Sohn Konzerte besuchte? Seine Schwester begleitete diese Reisen seit ihrer Heirat nicht mehr. Carl hatte Helenes Hände geküsst und ihr versichert, dass sie am Sonntag alles klären würden. Gemeinsam. Es wäre doch nur eine Bagatelle, die sie da am Sonntag klären müssten, gemeinsam, schließlich ging es um ihr gemeinsames Leben und all das, was noch vor ihnen lag.

Helene musste beim Gehen aufpassen, dass sie nicht ausrutschte. Unter dem schmelzenden Schnee lag an manchen Stellen noch Eis. Vor der Gedächtniskirche musste sie lange warten, die Autos fuhren langsam, sie schlidderten auf der Fahrbahn. Carl war ein guter Fahrradfahrer, er würde aufpassen, vielleicht hatte er das Fahrrad auch an der Bibliothek stehen lassen. Die große Uhr am Kurfürstendamm zeigte auf zehn vor eins. Helene war unruhig, sie stellte sich unter die Markise vor die riesigen Schaufenster des Romanischen Cafés.

Bestimmt wollte Carl ihr eine frohe Botschaft übermitteln. Vielleicht war ihm eine andere Stelle angeboten worden? Noch war er nicht entschieden, und er hätte sie gewiss gefragt, welche sie für die beste halte. Aber wenn er den Vormittag in der Bibliothek gewesen war, wie er es am Morgen angekündigt hatte, so konnte sich dort nichts Weltbewegendes ereignet haben. Helene lächelte nervös. Ihr fiel ein, wie Carl sie abends manchmal beim Lesen unterbrach, weil er ihr einen ungeheuerlichen Gedanken mitteilen wollte. Helene schaute an beiden Seiten der Gedächtniskirche vorbei, auf die andere Seite der Kreuzung. War dort nicht ein Mann auf dem Fahrrad mit einer Mütze, wie Carl sie trug? Aber es konnte sein, er war längst aus der Bibliothek zurückgewesen und hatte vom Viktoria-Luise-Platz aus angerufen. Weil er den Postboten getroffen hatte. Und der Postbote hatte ihm den Brief aus Hamburg gebracht. Hamburg sollte eine schöne Stadt sein. Manchmal träumte Helene davon, in einer Stadt mit Hafen zu leben. Sie liebte große Schiffe. Es erschien ihr als eine Benachteiligung ihrer Geburt, weder am Meer noch in den hohen Bergen geboren worden zu sein. Sie kannte die Berge nur aus der Ferne, und es waren kleine Berge, die Lausitzer Berge, eher Hügel. Das Meer stand ihr klar und deutlich vor Augen. Sie hatte es sich für Carl in den prächtigsten Farben ausgemalt. Aber gesehen hatte sie es noch nie.

Helene trat unter der Markise hervor, sie wandte sich einige Schritte nach links zum Tauentzien, zur Fahrbahn hin, er mochte von dort kommen, prüfend sah sie sich um, mochte er bloß kommen, vier Himmelsrichtungen langten nicht an diesem Ort, sie wusste nicht, woher er kommen würde. Sie kannte die großen Schiffe von der Elbe bei Dresden. Die Uhr zeigte fünf nach eins. Plötzlich glaubte Helene zu wissen, warum er sie so eilig treffen musste. Erleichtert musste sie lachen. Er hatte die Ringe gekauft. Helene rückte ihren Hut zurecht. Dass sie daran nicht gedacht hatte! Er wollte sie überraschen, kein Zweifel. Womöglich wollte er sie drinnen treffen, drinnen im Lokal, und sie hatte es bloß nicht verstanden? Zur Feier des Tages wollte er sie zum Essen einladen. Helene schaute sich um. Sie konnte schlecht reingehen, dann würde sie womöglich seine Ankunft verpassen. Ein Auto hupte. Konnte diese Frau mit ihren zwei Kindern nicht schneller gehen? Die Verkehrsverhältnisse wurden aber auch immer schlimmer, und wenn dann noch so ein Wetter hinzukam. Helene sah zur Uhr hinauf. Es war viertel nach eins. Vielleicht war er aufgehalten worden. Es war nicht Carls Art, zu spät zu kommen. Wenn sie verabredet waren, stand er meist schon am ausgemachten Ort und erwartete sie. Helene blickte wieder in jede Richtung, sie wandte sich einige Schritte nach rechts, auch aus der Budapester Straße konnte er kommen. Der Platz um die hohe Kirche, die Gehwege, die Fahrbahnen, alles war unübersichtlich, trotz Sonnenschein. Litfaß säulen, Menschen, die vor den Kiosken Schlange standen. Der Schneematsch ließ die Wagen und Passanten schliddern, ein Kutscher musste seine Peitsche immer wieder schwingen, damit sich sein Pferd bewegte. Helene trat von einem Fuß auf den anderen, ihre Füße waren nass und kalt. Ihr fiel das gestürzte Pferd ein, am ersten Tag, als sie gerade in Berlin angekommen waren. Ob das Pferd gestorben war? Infarkt des Herzens, des Hirns, der Lunge. Eine Embolie. Sie hatte sich vorgenommen, ihre Schuhe noch diese Woche zum Schuster zu bringen. Heute wäre ein guter Tag gewesen, heute hätte sie Zeit gehabt. Weil sie kein zweites Paar Stiefel besaß, würde sie beim Schuster warten müssen, bis er sie genäht und frisch besohlt hätte.

Wenige Minuten vor halb zwei beschloss Helene, drinnen im Lokal zu schauen, wenn Carl bis um halb nicht da sein sollte. Vielleicht wollte er ihr einen Wunsch erfüllen und endlich mit ihr Rollschuhlaufen gehen, er war hinüber zu der großen Rollschuhbahn gegangen, um sich nach den Modalitäten einer Miete und eines Billets zu erkundigen. Es sollte teuer sein. Die russischen Mädchen aus Helenes Gymnasialkurs hatten häufig über die Rollschuhbahn und ihre neuesten Bekanntschaften gesprochen, sie trafen sich regelmäßig dort und drehten Pirouetten. Die Mädchen waren alle jünger als Helene, sie kamen aus guten jüdischen Familien. Rollschuhlaufen musste ein Vergnügen sein. Helene wartete, bis der lange Zeiger auf der Sechs, auf der Sieben und schließlich noch, bis er auf der Acht stand. Dann ging sie hinein.

Der Saal war gut besucht. Die Gäste saßen an den kleinen Tischen, sie vermehrten sich in den Spiegeln, die hoch hinauf bis unter die Decke reichten. Es war Mittagszeit, manche speisten Rouladen und Kartoffeln, es roch nach Wirsingkohl. Ein vornehmer Herr in Schwarz winkte einem zweiten, auffallend lässig gekleideten Herrn mit heller weiter Hose, Hosenträgern über einem ungebügelten Hemd und flachem, weißen Hut, es fehlte nur die Palette in der Hand; hier zog man sich gerne in eins der vornehmen Séparées zurück. Aus hohen Gläsern wurde Wein getrunken. Helenes Hals schnürte sich zu, sie blickte sich um, tatsächlich saß an manchem Tisch ein einzelner Gast, ältere und jüngere, aber kein Carl. Die Uhr über der getäfelten Bar zeigte Viertel vor zwei. Warum schlug ihr Herz so heftig? Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Helene trat aus dem Lokal hinaus auf den Kurfürstendamm. Es gab einen kleinen Menschenauflauf, eine ältere Dame rief immer wieder Dieb, Dieb. Andere hielten einen Jungen fest, er war wohl erst zehn oder zwölf. Er wehrte sich nicht, er weinte. Lausbengel, sagte einer der Männer, die ihn festhielten. Aber der alten Dame war das zu wenig. Sie schimpfte: Bengel wie dich sollte man einsperren, warte nur, bis die Polizei da ist!

Helene wollte nicht länger warten. Sie wusste, dass Carl nicht mehr kommen würde.

Vielleicht hatten sie sich missverstanden und er hatte eine andere Uhrzeit gemeint? Sie wusste genau, dass er um eins gesagt hatte. War es nicht möglich, er hatte etwas anderes gemeint? Vielleicht einen anderen Ort? Sie hatten sich schon häufig an dieser Ecke hier getroffen. Vielleicht wollte er sie heute woanders treffen und hatte versehentlich diesen Ort genannt, dabei aber an einen anderen gedacht? Helene wusste nicht, wohin sie sich wenden, wohin sie gehen sollte, sie spürte Angst und sagte sich doch, sie müsste keine Angst haben. Sie ging zum Kiosk und kaufte Zigaretten. Es war das erste Mal, dass sie sich Zigaretten kaufte. Sie hätte das Geld dringend für den Schuster benötigt, aber sie wollte jetzt nicht an einen Schuster denken, sie wollte eine Zigarette rauchen. Eine Zigarettenspitze besaß sie nicht, sie würde ohne rauchen müssen. Zwei Zündhölzer brachen ab, ehe es ihr gelang, die Zigarette anzuzünden. Ein Tabakstückchen löste sich und schmeckte bitter auf der Zunge. Es war nicht leicht, es mit den behandschuhten Fingern zu fassen zu kriegen. Helene wusste nicht mehr, in welche Richtung sie schauen sollte. Sie stand inmitten der vorübereilenden Menschen, deren Mittagspause wohl zu Ende war und die an ihren Arbeitsplatz zurückeilen mussten, manch einer mochte verabredet sein und musste hinüber zum Bahnhof laufen und einen Zug nach Westen bekommen.

Der Wind blies ihr entgegen, Westwind, von der Gedächtniskirche her. Helene wollte tief atmen, den Rauch einsaugen. Süden, Osten, Norden. Doch ehe sie den Rauch bis tief in die Lunge ziehen konnte, verschlossen sich schon die Bronchien und Helene musste husten. Also paffte sie. Wölkchen kamen aus ihrem Mund. Der etwas säuerlich bittere Rauchgeschmack verursachte eine angenehme Übelkeit. Sie nahm schnelle, kurze Züge, blähte ihre Backen so weit es ging und ließ schließlich den Stummel in den Matsch zu ihren Füßen fallen, wo er sofort erlosch.

Helene wusste nicht, wohin sie gehen und nach Carl suchen sollte. Sie lief den Tauentzien hinab zur Nürnberger Straße, sie lief um verschiedene Blöcke, vorbei an ihrer Schule, die sie seit einigen Monaten nicht mehr besuchen musste, und bog erst bei hereinbrechender Dunkelheit in die Geisbergstraße ein. Schon von der anderen Seite des Platzes her sah sie das schwarze Dach, kein noch so schwaches Licht brannte oben in der Kammer.

Dennoch ging sie hinauf und prüfte, ob jemand gekommen war. Die Tür zur Kammer war verschlossen. Das Zimmer lag so da, wie sie es am Morgen verlassen hatten. Helene zog ihren Mantel nicht aus. Sie ging die Treppe wieder hinunter, vorbei an jenem jungen Mann, der im dritten Stock wohnte und häufig seinen Schlüssel vergaß, weshalb er mit einem Stapel Papier, auf das ein zu bearbeitendes Theaterstück oder Drehbuch geschrieben sein mochte, bei seinen Vermietern vor der Tür saß und wartete, bis jemand kam und ihm aufschloss. Meist hielt er einen Stift in der Hand und kritzelte etwas an den Rand der vollgetippten Seiten. Helene lief die Bayreuther Straße hinunter bis zum Wittenbergplatz und über die Ansbacher Straße wieder zurück bis zur Geisbergstraße, zum Viktoria-Luise-Platz, hinauf bis unter das Dach und wieder raus auf die Straße. Der Untermieter aus dem dritten Stock hatte wohl inzwischen Einlass gefunden.

Helene fragte sich nicht mehr, weshalb Carl sie heute Mittag so dringend sprechen wollte, sie hoffte nur noch, dass er auftauchen und sie einander in die Arme fallen konnten. Er musste aufgehalten worden sein. Helene rauchte eine zweite Zigarette, bei der dritten Runde eine dritte, und schließlich hatte sie acht Zigaretten geraucht. Ihr war speiübel, Hunger verspürte sie keinen.

Sie sagte sich, sie wolle zu Hause sein, wenn er käme. Wenn er käme, könnten sie gemeinsam essen; er würde seine Hand auf ihre Wange legen, wenn er nur käme.

Sie zog ihre Schuhe aus. Die Vermieterin wollte sie nicht mehr stören und um heißes Wasser bitten. Also setzte sie sich ins Bett, wickelte ihre kalten Füße in die Decke und versuchte in dem neuen Buch zu lesen, das Carl ihr vor zwei Tagen mitgebracht hatte, doch kam sie über das erste Gedicht nicht hinweg. Sie las es immer wieder, jede Zeile mehrmals, und hatte sie die letzten Zeilen laut vor sich hingesagt, Von fernen Stunden krank / und leerst die Schale, / aus der ich vor dir trank, begann sie wieder mit den ersten: Was dann nach jener Stunde / sein wird, wenn dies geschah, / weiß niemand, keine Kunde / kam je von da. Helene verstand nur einen Bruchteil der Worte, ihr Sinn hing irgendwo dazwischen, halb noch in Gedanken, halb ganz verschlossen, wo doch ihr Herz klopfte und sich die Augen verengten. Als gäbe das eine Gewissheit, die sich ihr mit dem wiederholten Lesen aufdrängte und Besitz von ihr nahm. Einmal stand Helene auf. Sie fror. Unter dem Waschtisch befand sich ein Korb und über dem Korb hing das Unterhemd von Carl, das gewaschen werden musste. Sie zog sein Unterhemd auf die Haut, seinen Pyjama darüber. Über Nacht zählte sie den entfernten Glockenschlag. Als aus dem Morgendunkel die ersten Geräusche im Haus zu hören waren, blieb sie an der Wand auf dem Bett sitzen und dachte, es müsse etwas geschehen, damit sie aufstehen, sich waschen und ankleiden könne. Der Apotheker hatte gestern zu ihr gesagt: Bis morgen. Sie konnte ihn nicht warten lassen. Helene hörte Schritte auf der Treppe, ihrer Treppe, der letzten, die nur zu ihr hinauf in die Dachkammer führte. Es klopfte leise. Helene wusste, dass Carl nicht vergesslich war, er hatte den Schlüssel stets bei sich, sie wollte nicht öffnen. Es klopfte lauter, Helene schaute auf die Tür. Ihr Herz schlug schwer, es war über Nacht ganz müde geworden vom Schlagen. Helene wusste, dass ihr nichts anderes übrig blieb, sie musste aufstehen, sie stand auf, sie musste zur Tür gehen, sie ging zur Tür, sie musste öffnen, sie öffnete.

Vor der Tür stand die Vermieterin, sie trug noch ihren Morgenmantel. Fräulein Helene, sagte sie und blickte dabei seitwärts zum Boden. Helene hielt sich an der Türklinke fest, sie war so schwach, dass der Boden sich ihr leicht entgegenwölbte und bewegte, er drehte sich, er tanzte vor und zurück. Die Vermieterin hatte Mühe, so früh am Morgen sprachen manche Menschen nur ungern. Mein Telefon hat geklingelt, Herr Wertheimer hat mir gesagt, dass sein Sohn nicht mehr kommen werde, er sei verunglückt.

Welcher Sohn, ging es Helene durch den Kopf.

Sie wusste, dass Carl es war, der verunglückt war, sie ahnte es schon, ehe sie die Schritte auf der Treppe gehört hatte und die Tür hatte öffnen müssen. Aber welcher Sohn, von welchem Sohn sprach die Vermieterin jetzt? Helene sagte Ja, sie wollte ihren Kopf nicht unnötig bewegen, kein Nicken, kein Zurseitelegen, schließlich konnte er beim Drehen von ihren Schultern fallen.

Ich habe den Professor Wertheimer gefragt, ob Sie bereits informiert sind. Er sagte, das könne er sich nicht vorstellen. Ich sagte ihm, ich würde mich darum kümmern, ich könne zu Ihnen hinaufgehen. Der Professor Wertheimer sagte, er wisse nicht, wo Sie wohnen, aber wenn ich mich kümmern könne, dann wäre das gut. Er fragte mich, ob ich eine Adresse von Ihnen hätte, ich sagte, ich müsse da erst nachschauen. Er weiß wohl noch immer nicht, dass Sie hier wohnen?

Helene hielt sich mit beiden Händen an der Klinke fest.

Er ist tot. Die Vermieterin sagte es wohl für den Fall, dass diese Nachricht untergegangen wäre. Das wollte ich Ihnen gesagt haben.

Helene atmete tief ein, einst würde sie ausatmen müssen. Ja.

Helene schob, sich noch immer mit beiden Händen an der Klinke festhaltend, die Tür zu, bis das Schloss hörbar schnappte.

Wenn ich etwas für Sie tun kann, hörte sie die Vermieterin auf der anderen Seite der Tür sagen, Helene, lassen Sie es mich wissen?

Helene antwortete nicht mehr. Sie setzte sich auf das Bett und nahm das Buch auf ihren Schoß, sie musste blinzeln: Ich kannte deine Blicke und in des tiefsten Schoß sammelst du unsere Glücke, den Traum, das Loos. Sie las jetzt laut, als lese sie vor und gelange das Gedicht nur auf diese Weise aus ihr hinaus. Es glückte ihr nicht, die Stimme auch nur ein wenig zu heben oder zu senken. Helene las das Gedicht noch bis zum Ende, ein letztes Mal, die Nacht war ausgeklungen. Dann klappte sie das Buch zu und legte es auf den Tisch. Helene öffnete das Fenster. Kalte Luft kam herein. Am Himmel standen die ersten hellen Streifen des anbrechenden Tages. Ein Rosa leuchtete in diesen Streifen, blass und zart. Sein Unterhemd musste sie nicht ausziehen. Helene wusch sich und zog ihr Kleid wieder an. Ihre Schuhe waren noch nass, sie hatte vergessen, Zeitung hineinzustopfen. Der Mantel roch nach dem Rauch des gestrigen Tages.

Es sollte Helene an diesem Morgen nicht gelingen, bei ihrer Arbeit anzukommen. An der letzten Ecke, sie konnte schon das vertraute Schild der Apotheke sehen, bog sie ab. Sie ging die Straße hinunter, sie entfernte sich von der Apotheke. Es gab keinen Entschluss in ihr, wohin sie gehen wollte, auch keinen Gedanken, wohin sie gehen konnte. Sie setzte einfach einen Fuß vor den anderen. Wagen fuhren, Menschen gingen ihrer Wege, die Straßenbahn bewegte sich, womöglich quietschte sie, und doch erschien es Helene so, als liege die Stadt still. Ihr war nicht der Atem ausgegangen, sie war nur still.

Dass es so einfach war, einen Fuß vor den anderen zu setzen, weckte in Helene eine Erinnerung, die sogleich wieder verschwand. Helene überquerte Straßen, sie musste nicht mehr nach links und rechts schauen. Das Rosa hatte den Himmel erleuchtet, jetzt war die Welt in Rosa getaucht, ein gelbes Rosa, auch wenn es ihr nicht stand. Aus blauen Häusern wurden violette. Im nächsten Augenblick war der Morgen da, von Rosa keine Spur. Der Apotheker würde sich fragen, wo sie blieb. Aber sie war ja da. Sie konnte ihn über ein Telefon anrufen und sagen, dass sie heute nicht kommen könne. Sollte er sich nur wundern, sie war sonst nie krank, aber heute, heute konnte sie nicht. He lene setzte einen Fuß vor den anderen. Morgen? Was war das für ein Tag, morgen. Was konnte morgen sein? Helene wusste es nicht. Sie stand vor der breiten Steintreppe in der Achenbachstraße. Otta öffnete ihr und sagte, Martha schlafe noch, Leontine sei vor einer Stunde fortgegangen, sie habe zur Arbeit gemusst.

In Marthas Zimmer nahm Helene am Waschtisch Platz. Es würde nur wenige Stunden dauern, bis Martha aufwachte. Sie hatte Nachtdienst gehabt. Helene wartete nicht. Sie saß einfach da und ließ die Zeit vergehen. Sie wartete nicht auf Martha und nicht auf Leontine. Helene wartete auf nichts mehr. Es war beruhigend, dass die Zeit trotzdem verging.

Martha brachte ihr später einen Tee, sie holte ihr etwas zu essen, sie telefonierte für sie mit dem Apotheker. Wenn Martha saß, hielt sie sich am Tisch fest, wenn sie ging, berührte sie die Wand. Helene wusste, dass Martha ein Gleichgewicht fehlte, schon länger. Helene betrachtete den Dampf über dem Teeglas. Martha sagte etwas. Helene senkte ihren Kopf, bis ihr Kinn auf der Brust lag, so konnte sie ihn am besten riechen, Carl, dessen Geruch ihr aus ihrem Ausschnitt entgegenkam. Nur leicht, so, dass Martha es nicht bemerkte, hob sie einen Arm. Auch unter der Achsel saß sein Geruch. Mit seinem Unterhemd haftete er an ihr. Martha sagte ihr etwas jetzt lauter, so laut, dass Helene endlich zuhören sollte, sie müsse etwas trinken, sie solle auch etwas essen. Das konnte sich Helene nicht vorstellen.

Sie konnte sitzen, sie wusste nicht, ob sie schlucken konnte. Sie versuchte es, sie schluckte, sie stellte das Glas zurück. Das konnte für den Morgen reichen, vielleicht.

Mittags stürzte sie den kalten Tee hinunter und trank in einem Zug aus dem Wasserkrug vom Waschtisch. Der Krug war leer, ihr Hals schmerzte vom Dehnen und Schließen des Trinkens. Dann setzte sich Helene wieder und wartete nicht. Es vergingen Tage.

War Martha arbeiten, so lag Helene auf dem Rücken auf ihrem Bett und ächzte, manchmal weinte sie leise.

Als Martha und Leontine sagten, Helene solle den Mantel anziehen, zog sie den Mantel an und folgte ihnen. Martha ging hinüber zum Viktoria-Luise-Platz Nummer elf und holte Helenes Sachen von oben runter, sie gab Helenes Schlüssel der Vermieterin zurück und bat sie, den Eltern von Carl nicht zu sagen, dass Helene dort gewohnt hatte. Die Miete war von Carls Eltern bis zum Monatsende bezahlt.

Helene hatte sich auf dem Platz vor dem Haus auf die Bank gesetzt. Sie hatte in das Becken des leeren Springbrunnens geschaut und den Spatzen zugesehen, die am Rand der kleinen Pfützen hüpften und ihre Schnäbel ins Wasser stießen. Sie badeten, das Wasser musste eiskalt sein.

Martha und Leontine wollten, dass Helene möglichst viel rausging, sich bewegte. Helene bewegte sich. Martha sagte, Helene müsse etwas essen, Leontine widersprach, sie müsse gar nichts. Der Hunger käme von allein wieder. Es war nur gut, dass Helene auf nichts mehr wartete, auf den Hunger nicht, nicht auf das Essen. Der Sonntag kam. Helene dachte an die Verabredung, die Carl und sie für diesen Tag mit Carls Eltern gehabt hatten. Ob seine Eltern beteten? Gott war nicht da, sie hörte keine Stimme, kein Zeichen erschien. Helene wusste nicht, wann es eine Beerdigung gab. Sie fand nicht den Mut, zum Telefonapparat zu gehen, war sie doch eine Fremde und wollte sie seine Familie besonders jetzt nicht stören. Die Zeit zog sich zusammen, sie rollte sich ein und faltete sich.

Der Sonntag war vergangen, andere Sonntage würden vergehen.

Die Sonne schien wärmer, die Krokusse blühten auf den Rabatten der breiten Straßen. Leontine und Martha verabschiedeten sich, Leontine wollte Martha für einen Monat in ein Sanatorium bringen. Das Gleichgewicht, Balance klang soviel leichter. Sie müsse sich erholen und die Gifte sollten ihren Körper verlassen. Martha weinte beim Abschied, es tat ihr leid, dass sie ausgerechnet jetzt für ihr Engelchen nicht da sein könne. Martha klammerte sich an Helene fest, sie umschlang sie mit ihren dünnen und langen Armen, dass Helene kaum noch Luft holen konnte. Wozu brauchte man schon Luft? Helene wehrte sich nicht. Leontine musste Martha mit sich fortziehen, Martha tobte, sie beschimpfte Leontine mit Ausdrücken, wie Helene sie noch nicht gehört hatte.

Wehe, du trennst mich von meiner Schwester, du Niederträchtige, du trennst mich nicht.

Aber Leontine war ihrer Sache sicher, es führte kein Weg daran vorbei, sie wollte Martha nicht verlieren, also musste sie sie aus der Stadt bringen, für einen Monat vielleicht, vielleicht für zwei. Leontine zog Martha mit sich fort, mit Gewalt erst, dann mit Strenge. Helene hörte, wie Leontine Martha noch beim Verlassen der Wohnung zuredete, wie man einem Tier zuredete, ohne Antwort. Ohne Martha empfand Leontine für sich allein wohl nicht das Recht, in Fannys Wohnung zu logieren. Helene fragte Leontine nicht, ob sie nun wieder bei ihrem Mann lebte.

Sie sah Leontine kaum noch. Einmal brachte Leontine Fanny Medikamente, ein anderes Mal holte sie ihre Winterschuhe ab, die sie vergessen hatte. Helene brachte Leontine zur Tür. Dort wandte sich Leontine zu Helene um und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Martha braucht mich. Du weißt, dass ich mich jetzt um sie kümmern muss? Helene nickte, ihre Augen brannten. Sie wollte ihre Arme um Leontine legen, sie festhalten, aber sie errötete nur. Und Leontine ließ die Hand von ihrer Schulter gleiten, öffnete die Tür und ging.

Helene schlief jetzt allein in dem Zimmer zum Hof, sie hatte die Betten wieder auseinandergestellt. Sie ging in die Apotheke arbeiten und war froh, dass der Apotheker sein Beileid mit Zurückhaltung zeigte. Er drang mit keinerlei Fragen in Helene. Dabei konnte er kaum wissen, wie taub sich Helene fühlte. Im Frühling sagte der Apotheker zu Helene, sie werde immer schmaler. Helene nahm es zur Kenntnis, ihre Kleider hingen weit an ihr herab, sie vergaß das Essen, und wo man es ihr vorsetzte, empfand sie keinen Appetit.

Eines Tages erhielt sie einen Brief von Carls Mutter. Sie schrieb ihr, sie sei in tiefer Trauer, ein Leben ohne ihren Jüngs ten falle schwer. Ob sie bewusst nichts von den beiden anderen Söhnen schrieb, deren Tod sie, wie Carl erzählt hatte, so beharrlich leugnete? Carl liege auf dem Friedhof in Weißensee. Die Entwicklungen der jüngsten Zeit bewirkten in ihrem Leben einige Änderungen. Ihr Mann habe ein Angebot aus New York und sie denken, sie würden es diesmal annehmen. Keines der Kinder lebe mehr in Berlin, die Tochter siedle in diesen Tagen mit ihrem Gatten nach Palästina über. Zuletzt schrieb Frau Wertheimer, sie wisse, Helene könne dieser Wunsch befremden, aber es wäre ihr ein Anliegen von Herzen, sie trotz Carls Tod kennenzulernen. Carl habe seinen Eltern voller Zuneigung und Begeisterung von Helene erzählt, so verliebt, dass sie sicher waren, er habe ihnen bei dem im Februar verabredeten Besuch von einer anstehenden Verlobung erzählen wollen. Vielleicht irre sie sich auch und die beiden seien lediglich befreundet gewesen? Sie wolle Helene mit diesem Brief herzlich einladen und bitte Helene, sie auf dem Telefon anzurufen. Falls Helene das, aus welchen Gründen auch immer, nicht wolle, werde sie Verständnis haben und wünsche ihr voller Zuversicht für ihr junges Leben viel Glück.

Helene wollte nicht. Von Wollen fand sie keine Spur in sich. Aber wie der Wille hatte sie auch die Furcht verlassen. Wenn es ein Herzenswunsch war, dann würde sie den Carls Mutter erfüllen. Von Fannys Telefonapparat aus rief sie am Wannsee an und verabredete einen Besuch Anfang Mai.

Sie kaufte weißen Flieder und fuhr damit hinaus an den Wannsee. Das Tor wurde ihr von einem Gärtner geöffnet. Am Hauseingang nahm ein Hausmädchen sie in Empfang. Ob sie etwas ablegen möge? Helene trug wegen der Wärme keine Jacke, nur den hauchdünnen Schal aus Organza trug sie, und den wollte sie nicht dem Hausmädchen geben. Das Hausmädchen nahm ihr den Flieder ab und so stand Helene mit leeren Händen da, als sie in ihrem Rücken eine Stimme hörte: Willkommen.

Guten Tag. Ich bin Helene. Helene trat der Dame entgegen.

Carls Mutter streckte ihre Hand aus. Frau Professor Wertheimer, mein Gatte wird jeden Augenblick hier sein. Wie schön, dass Sie sich den Weg gemacht haben. Ein zarter Hauch von Blütenduft umgab sie.

Keine Ursache, sagte Helene.

Wie bitte?

Helene überlegte, ob sie sich falsch ausgedrückt hatte. Ich bin gern gekommen. Die Lider von Frau Professor flatterten leicht, einen Augenblick erinnerte ihr Augenaufschlag an Carl. Helene sah sich um.

Mögen Sie Tee? Carls Mutter führte Helene durch die hohe Eingangshalle. An den Wänden hingen Gemälde. Im Vorübergehen erkannte Helene das Aquarell von Rodin, von dem Carl ihr erzählt hatte. Sie wollte sich umdrehen und stehen bleiben, aber sie fürchtete, seine Mutter hielte das nicht für angemessen. Das dunkle Bild konnte aus Spanien kommen. Carls Mutter schritt in ihrem langen vornehmen Gewand, das an die Abendgarderobe einer orientalischen Prinzessin erinnerte, durch ein anschließendes Zimmer mit hohen Fenstern, die den Blick in einen Garten freigaben. Rhododendron blühte auf, in Büscheln leuchtete das zarte Violett und ein Purpur aus dem dunklen Grün der glatten Blätter. Die Wiese stand hier oben hoch, sie war übersät von Blüten und Dolden, über denen Insekten taumelten. Helene wusste von Carl, dass der Garten bis an den See hinab reichte und sie über einen Bootssteg verfügten, an dem das Segelboot und ein Ruderboot lagen, mit denen noch vor mehr als fünfzehn Jahren sein im Krieg verschollener Bruder gesegelt und gerudert sein sollte.

Carls Mutter ging nun in den angrenzenden Saal. Meterhohe chinesische Vasen und Möbel im Biedermeier-Stil standen dort. Die breite Flügeltür stand offen, die auf die Terrasse führte. Der See lag unter ihnen. Mit der lauen Feuchtigkeit des Frühlings stieg der Geruch von frischgeschnittenem Gras zu ihnen herauf, vermutlich schnitt der Gärtner, auch wenn man ihn nicht sah. Es war eher ein etwas wilder Park als ein Garten; wohin sie auch blickte, einen Zaun konnte Helene nicht erkennen. Einzig die hölzernen Bögen eines Rosengartens blinkten weiß aus dem etwas abwärts liegenden Rondell.

Setzen wir uns? Carls Mutter zog einen der Stühle zurück und rückte das flache Kissen zurecht, damit Helene Platz nahm. Der Tisch war für drei Personen gedeckt. In der Mitte des Tisches stand eine Schale voller Erdbeeren, die wohl aus einem südlichen Land kommen mussten, wo die einheimischen Erdbeeren noch nicht reif waren. Die Erdbeeren lagen auf einem Bett aus jungen Buchenblättern. Ein ausladender Sonnenschirm spendete Schatten. In den Rhododendren und den Wipfeln der alten Laubbäume zwitscherten Vögel. War das der Ort, den Carl an jenen Sonntagen aufgesucht hatte, wenn sie rausgefahren waren und Helene sich in das Gartenlokal zum Lesen gesetzt hatte? Helene hatte sich keine Vorstellung davon gemacht, wohin Carl verschwand, wenn er zu seinen Eltern ging. An der ockergelben Hauswand rankte Wein, die Blätter wirkten noch jung und weich. Kam Carl aus dieser Farbenpracht, wenn er sie im Gartenlokal abholte? Vielleicht hatte er an diesem Tisch und auf diesem Stuhl gesessen, und sein Blick fiel wie Helenes auf den verblühenden Apfelbaum. Roch seine Mutter schon immer nach diesem feinen, süßen und ungewöhnlich leichten Parfum? In den großen Kübeln und Töpfen, die auf der Terrasse standen, streckten Fuchsien ihre ersten Blüten empor und entlang der nach unten breiter werdenden Treppe in den zum Wasser abfallenden Garten wuchsen große Farne von einem nahezu unwirklich hellen Grün. Die Farben blendeten Helenes Augen. Helene setzte sich mit Bedacht, der Stuhl knarrte und wackelte leicht. Die Tischdecke war mit feinen Blumen bestickt, wie es das Mariechen nicht schöner hätte machen können. Helene strich vorsichtig mit ihrer Hand über die Stickerei.

Möchten Sie Ihre Hände waschen, sich ein wenig erfrischen?

Helene erschrak, sie beeilte sich, die Frage zu bejahen. Erst auf dem Weg zurück ins Haus warf sie einen heimlichen Blick auf ihre Hände, ihr fiel aber kein Schmutzrand unter den Nägeln und auch sonst nichts Verdächtiges auf.

Das Bad war aus Marmor, selbst der Badeofen hatte ein marmornes Gehäuse, die Seife duftete nach Sandelholz. Helene ließ sich Zeit. Man würde draußen auf sie warten. Auf dem Kaminsims lag eine Hornbrille. Helene erkannte die Hornbrille. Es sah aus, als habe Carl sie nur eben hingelegt, um sich auf dem Liegestuhl auszustrecken und die Augen zu reiben. Als Helene den Weg zurück zur Terrasse gefunden hatte, hörte sie schon von weitem eine männliche Stimme, die sie an Carl denken ließ.

Die äußere Ähnlichkeit von Carls Vater mit seinem Sohn verschlug Helene die Sprache, sie nickte nur zur Begrüßung, ihre Lippen formten ein Lächeln, während Carls Mutter ihren Gatten vorstellte und auch Helenes Namen nannte.

Die drei setzten sich. Viel Zeit habe ich nicht, sagte Carls Vater, als seine Frau ihm Tee einschenkte. Er sagte es nicht zu Helene, er sagte es in seine Tasse und warf einen Blick auf die große Armbanduhr, die er trug.

Sie sind sehr hübsch, sagte Carls Mutter, und etwas schüchtern ob ihrer Verwunderung fügte sie hinzu: Und so blond.

Blond ist sie, ja. Carls Vater schmatzte beim Trinken aus seiner Tasse, es klang, als spüle er sich den Mund mit dem Tee aus.

Und so hübsch, sagte Carls Mutter wieder.

Jetzt lass mal das arme Kind, Lilly, du machst sie ja ganz verlegen.

Studieren Sie, wenn ich fragen darf? Der Professor stellte auch diese Frage, ohne Helene anzusehen. Er nahm eine der Erdbeeren und steckte sie in den Mund. Seine Frau schob ihm einen kleinen Obstteller mit einem noch kleineren Obstmesser zu, wohl, damit er beim nächsten Mal Verwendung dafür fand, und ehe Helene antworten konnte, sagte die Gattin: Nein, Carl hat es uns doch erzählt, sie hat Krankenschwester gelernt.

Krankenschwester? Der Professor brauchte einen Augenblick, ehe er weitersprechen konnte. Nun, als Krankenschwester sind Sie sehr nützlich. Eine Freundin von unserer Ilse…

Ilse ist unsere Tochter, erklärte Carls Mutter.

Aber Carls Vater ließ sich nicht unterbrechen… hat auch Krankenschwester gelernt, heute ist sie Ärztin.

In London, ergänzte Carls Mutter und fragte, ob sie Tee nachschenken dürfe.

Helene trank ihren Tee, sie wollte nicht erzählen, dass sie in einer Apotheke arbeitete und ungefragt erklären, wie sie sich mit Carl eine Zukunft vorgestellt hatte. Sie hatten die Idee gehabt, gemeinsam nach Freiburg oder Hamburg zu gehen, dort hätte Helene studiert. Vermutlich Chemie, Pharmazie oder Medizin, Carl war für Chemie, sie für Medizin, das Naheliegende nach der Arbeit in der Apotheke wäre vielleicht Pharmazie gewesen. Helene allein fehlte das Geld für ein Studium. Aber unabhängig davon war ihre hehre Vorstellung zu studieren in weite Ferne gerückt, es schien Helene, als gehörte dieser Wunsch zu einem anderen, früheren Leben, nicht mehr zu ihr. Helene wünschte sich nichts mehr. Visionen, da sie gemeinsam entwickelt, gemeinsam erwogen und gemeinsam erkoren worden waren, gab es nicht mehr. Sie waren mit Carl verschwunden. Denjenigen, der ihr Gedächtnis teilte, gab es nicht mehr. Helene sah auf. Wie lange mochten sie schon schweigen? Carls Vater hatte die halbe Schale Erdbeeren ohne Benutzung des Obstmessers verspeist. Aus der Kanne tröpfelte ein letzter schwarzer Grund und die anfangs so spürbare Freude und Aufregung von Carls Mutter schien an diesem Tisch erloschen zu sein.

Nun, dann. Carls Vater nahm die Serviette ab, die er sich oben in das Hemd gesteckt hatte, er legte sie neben das unbenutzte Obsttellerchen und das kleine Messer.

Mein Mann arbeitet viel.

Das stimmt nicht, ich arbeite nicht viel, ich arbeite gern. Der Professor legte seiner Frau zärtlich die Hand auf den Arm.

Er hat dort oben eine kleine Sternwarte. Carls Mutter zeigte hinauf zu der höher liegenden Terrasse, über deren Brüstung einige Fernrohre ragten.

Eine kleine, sagte der Professor und stand auf. Er nickte beiden zu und wollte sich verabschieden, doch Helene stand mit ihm auf.

Sie können sich glücklich schätzen, dass Sie Carl zum Sohn hatten. Er war ein wunderbarer Mensch. Helene wunderte sich über die Fröhlichkeit und Zuversicht in ihrer Stimme. Es klang wie ein Glückwunsch zum Geburtstag.

Carls Mutter weinte.

Er war ihr Liebling, sagte Carls Vater zu Helene. Helene musste wieder an die anderen beiden Söhne denken, von denen die beiden kein einziges Mal gesprochen hatten.

Carls Vater stellte sich jetzt neben den Stuhl seiner Frau, er nahm ihren Kopf in beide Hände und drückte ihn gegen seinen Bauch. Sie verbarg ihr Gesicht hinter ihren langen, schmalen Händen. Etwas an dieser Geste erinnerte Helene an Carl, sein Nähertreten, wenn sie traurig und erschöpft gewesen war, die kalten, müden Füße, die er ihr gewärmt hatte.

Der Professor ließ seine Frau los. Ich werde Gisèle sagen, dass sie euch noch einen Tee bringt. Helene wollte ablehnen, sie wollte nicht mehr bleiben, sie konnte das Schweigen und die Farben nicht länger ertragen. Sie öffnete ihren Mund, aber kein Laut verließ ihre Kehle, und niemand bemerkte, dass sie aufgestanden war, um sich seinem Gehen anzuschließen. Der Professor gab ihr eine warme und feste Hand. Er wünschte ihr alles Gute und verschwand durch die Flügeltür ins Innere des Hauses. Helene musste sich wieder setzen.

Mein kleiner Liebling, sagte Carls Mutter mit einer Zärtlichkeit, die Helene einen Schauer über den Rücken scheuchte. Carls Mutter knetete ihr Taschentuch vor sich auf dem Tisch und beobachtete, in welchen Falten es auseinanderfiel. Am Ende ihrer langen Finger saßen ovale Nägel, deren weißer Halbmond schimmerte, sie waren von einer Ebenmäßigkeit, dass Helene nicht anders konnte, als auf die Hände von Carls Mutter zu starren.

Er wollte Sie heiraten, nicht wahr? Carls Mutter sah Helene mit einem offenen Blick an, einem Blick, der alles wissen wollte und auf alles gefasst war.

Helene schluckte. Ja.

Carls Mutter rannen die Tränen über das feine und schöne Gesicht. Carl konnte nicht anders, wissen Sie. Er war zum Lieben geboren.

Helene ging die Frage durch den Kopf: Sind wir das nicht alle? Aber vermutlich waren wir das nicht alle. Vermutlich stimmte es, dass manche Menschen inniger liebten als andere und Carl nicht anders konnte. Helene fragte sich, wie es passiert war, sie überlegte, ob sie danach fragen durfte, ob es der Mutter unangemessen und indiskret erschien, wenn Helene danach fragte. Wie genau ist er gestorben? Andererseits konnte Carls Mutter bis heute nicht wissen, dass sie an jenem Tag verabredet waren. Dass er auf dem Weg zu ihr gestorben war. Dass sie gewartet hatte, umsonst.

Helene hätte auch gern gewusst, ob Carl bei seinem Unfall Ringe bei sich gehabt hatte. Sie traute sich nicht, Carls Mutter danach zu fragen. Es stand ihr nicht zu. Seine letzte Absicht mochte ihm allein gehören, vielleicht noch seinen Erben, und seine Erben waren seine Eltern.

Es hat noch Schnee gelegen. Carls Mutter trocknete sich mit dem Taschentuch ihre Augen; neue Tränen quollen heraus und rollten über ihre Wange, unten am Kinn hingen sie, sammelten sich, bis sie so schwer waren, dass sie auf ihr orientalisches Gewand tropften, wo sie immer größere, dunkle Flecken bildeten.

Helene hob ihren Kopf. Wir waren an dem Tag verabredet.

Kein Zwinkern, kein Blick, nichts verriet, ob Carls Mutter Helenes deutlich gesprochene Worte gehört hatte.

Die Sonne hat geschienen, sagte Carls Mutter, aber es lag noch Schnee. Er ist ausgerutscht und mit dem Kopf gegen den Kühler eines Wagens geprallt. Der Wagen konnte nicht so schnell halten. Sie haben uns das Fahrrad gebracht. Es war ganz zerbeult. Ich habe es abgerieben. An den Speichen klebte etwas Blut. Nur wenig. Das meiste war wohl auf der Straße geblieben.

Das Hausmädchen brachte eine Kanne mit Tee, fragte, ob noch etwas gewünscht sei. Aber da Carls Mutter sie nicht beachtete, entfernte sie sich wieder.

Die Schneeglöckchen, die er in der Hand gehalten hatte, waren noch frisch. Der Beamte hat uns alles gebracht. Die Schneeglöckchen, seine Brille, das Fahrrad. Er hatte eine Tasche mit Büchern bei sich. In seiner Brieftasche waren neun Mark, glatt, keine Groschen, keine Pfennige. Carls Mutter lächelte plötzlich. Neun Mark, ich habe mich gefragt, ob jemand Geld aus der Brieftasche genommen hat. Ihr Lächeln versiegte. Eine blonde Locke war darin. Von Ihnen? Er war sofort tot.

Carls Mutter tupfte ihre Augen, vergeblich. Es wirkte, als würde ihr Tupfen die Tränen nur umso heftiger hervorlocken. Sie schnäuzte sich, sie wischte mit einem noch halbwegs trockenen Zipfel des Tuchs die Augenwinkel aus.

Helene streckte ihren Rücken durch. Sie konnte nicht mehr lange hier sitzen bleiben, eins ihrer Beine war eingeschlafen. Mein herzliches Beileid, Frau Professor. Helene hörte ihre Worte, sie erschrak, über die Falschheit darin. Dabei meinte sie es, sie wollte es sagen, aber wie sie es gesagt hatte, klang es falsch, es klang unbeteiligt und kalt.

Carls Mutter hob jetzt ihren Blick und sah unter ihren schweren und nassen Wimpern hervor Helene an. Sie sind jung, Ihr Leben liegt vor Ihnen. Carls Mutter nickte jetzt, als wollte sie ihren Worten Nachdruck verleihen, dabei war ihr Blick von einer Warmherzigkeit, wie Helene sie noch nie an einer Frau gesehen hatte. Sie werden einen Mann finden, der Sie lieben und heiraten wird. Schön wie Sie sind und klug.

Helene wusste, dass nicht stimmte, was Carls Mutter ihr da prophezeite, was sie sich selbst und Helene zum Trost sagte. Sie sagte es, und darin enthalten lag der Hinweis auf einen feinen Unterschied: Helene konnte sich einen anderen Mann suchen, sie würde ihn finden, nichts leichter als das. Doch niemand konnte sich einen anderen Sohn suchen. Dieses Gleichnis von Mann und Mann, die aufleuchtende Konkurrenz der Funktionen eines Menschen, die Reduzierung dieses Menschen auf seinen Platz im Leben der ihn Liebenden erschien Helene von Grund auf falsch. Aber sie wusste, dass jedes Kopfschütteln und jede Verneinung Carls Mutter kränken würde. Das Messen von Trauer war hier unmöglich und hätte etwas Grausames gehabt, sie beide weinten um einen anderen Carl.

Ich muss jetzt gehen, sagte Helene. Sie stand ungeachtet ihrer gefüllten Tasse auf. Der Stuhl erzeugte beim Zurückschieben ein raues Knirschen. Carls Mutter erhob sich, sie musste ihr Gewand mit einer Hand raffen. Womöglich war sie in ihrem Gewand geschrumpft. Mit der Hand wies sie auf die Tür, damit kein Zweifel daran aufkam, dass Helene den Rückweg durch das Innere des Hauses antrat. Helene wollte warten, sollte nun aber vorausgehen. Gehen Sie nur, sagte Carls Mutter, sie wollte nicht von Helene angesehen werden. Helene hörte, wie sie hinter ihr durch den Saal ging, vorbei an dem Kamin, auf dessen Sims Carls Brille lag, vorbei an den hohen Vasen und an gerahmten Seidenstickereien, die Helene erst jetzt sah, pastellene Bilder von Reihern und Nachtfaltern, Bambus und Lotusblüten. Sie gelangten in die Eingangshalle zurück. Zwei Frauen waren auf dem Rodin zu sehen, tanzende, nackte Mädchen.

Ich danke Ihnen für Ihre Einladung, Helene drehte sich zu Carls Mutter um und streckte ihr eine Hand entgegen.

Der Dank ist auf unserer Seite, sagte sie, und musste ihr Taschentuch in die linke Hand nehmen, um Helene ihre lange Hand zu reichen, die merkwürdig lauwarm und trocken und feucht zugleich war. Eine leichte Hand. Eine Hand, die nicht mehr gehalten werden musste und nichts mehr halten wollte.

Das Hausmädchen öffnete Helene die Haustür und brachte sie bis ans schmiedeeiserne Tor.

Kaum war das Tor hinter Helene ins Schloss gefallen und konnte sie gehen, die Straße hinunter, am Wald entlang und unter der Sonne, die erbarmungslos schien, weinte sie. Sie fand in ihrer kleinen Handtasche kein Taschentuch, deshalb trocknete sie die Tränen von Zeit zu Zeit mit ihren nackten Unterarmen. Als die Nase lief, pflückte sie ein Ahornblatt und schnäuzte sich damit. Junge Eichentriebe im Unterholz. Sie lief durch den Wald, vorbei an den rotfleckigen Stämmen der Kiefern, hinweg über wulstige Wurzeln, der sandige Waldboden staubte.

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