Warum habt ihr gedacht, ich wäre tot? Carl legte seinen Arm um Helene und zog sie mit einer leisen Bewegung an sich. Wie warm er war. Sein Pelzkragen schimmerte grün. Helene steckte ihre Nase in glattes Haar, Fell, das nach Carl roch, fein würziger Tabak.
Alle haben das gedacht. Du warst verschwunden.
Ich musste untertauchen. Carl wollte wohl nicht weitersprechen. Helene dachte, es konnte Gründe geben, von deren Exis tenz sie nichts wissen sollte. Sie war froh, dass er da war.
Nur das Zwitschern des Vogels störte. Tschilp, tschilp. Steingrün. Die Vorhänge waren steingrün, flechtengrün, das Licht ließ das Grün fluten und die Vorhänge heller erscheinen. Helenes Herz hämmerte. Leichter Wind blies herein, die Vorhänge strauchelten. Das konnten nicht die Vorhänge im Hofzimmer der Beletage sein. Keinesfalls. Helene drehte sich um, ihr Herz raste, legte sie sich auf den Bauch, schlug es gegen die Matratze, pochte, als wolle es wohin, von hier nach dort, wälzte sie sich auf den Rücken, hüpfte es aus ihr hinaus, es überschlug sich, stolperte, Helene holte Luft, tief atmen, ruhig atmen, das Herz zähmen, nichts leichter als das, zu leicht das Herz, schon war es auf und davon. Helene zählte, Schlag für Schlag, sie zählte über hundert hinaus, ihr Hals wurde eng, das Herz rannte ihrem Zählen davon, sie legte sich die Finger an das Handgelenk, auch der Puls raste, Ruhepuls von hundertvier, fünf, sechs, sieben. Musste sie diese Decke kennen, war es ihre? Wo war die acht, es musste schon der zwölfte Schlag sein, hundertzwölf. Sie schloss ihre Augen fest, harte Augen, vielleicht konnte sie wieder zurück, zurück zu Carl. Aber es gelang nicht. Je unbedingter sie es wollte, desto ferner rückte er in den Traum, rückte in eine Welt, in der ihr Wille nichts war. Mit dem Betttuch trocknete Helene ihr Gesicht. Sonnenflecken auf der Matratze. Lichtmale einer Erinnerung, an was? Decken, Helene schob ihre Hand in das Licht, Sonne auf der Haut, das war schon etwas durchaus Feines. Ein feines Glück, so ein Tag mochte etwas bereithalten. Dunkle Flecken auf dem Laken, nasse, der Schweiß war ihr aus den Achseln geronnen, sie hatte aus den Poren unter ihren Armen geweint, Tränen, dünner Schweiß. Helene würde aufstehen, sie wurde erwartet, nach der Nachtschicht begann ihr Dienst heute erst um zwei. Helene stand auf, sie schwitzte nur noch mäßig, sie zog sich an. Am Abend zuvor hatte sie noch ihre Kleider gewaschen und sie über den Stuhl vor das Fenster gehängt, damit sie am Morgen trocken waren. Ihre Kleider rochen nach Fannys Seife, alle, außer seinem Unterhemd, das sie nach wie vor trug, sein Innen ihr Außen, wo er war, war jetzt sie, des Nachts. Sie wollte nicht, dass andere Menschen Carl rochen, das Gemisch, das Carl und sie mit der Zeit geworden waren.
Draußen war die Luft voll Sonne, der Postbote ging pfeifend seines Weges, er schwang die Tasche vor und zurück, ein leichtes Schlenkern, vielleicht war er schon alle Briefe los, sein Blick streifte Helene, er pfiff freundlich durch die Zähne und nahm es zum Anfang einer bekannten Melodie. Zwei Kinder hüpften mit ihren Schulmappen auf dem Rücken das Pflaster ab, das eine fiel, das andere hatte es geschubst und rannte jetzt unter hämischem Lachen davon. Überall gab es Pfeifen und Pflaster und Hüpfen und Kinder und Wege, all das war keine Absicht, hatte mit Helene im Besonderen gar nichts zu tun, würde vermutlich so sein, wenn sie nicht wäre. Niemand meinte es schlecht mit Helene.
Die Hitze des Sommers ließ die Luft über dem Pflaster flimmern, flüssige Luft, die Bilder verschwammen und Pfützen wurden sichtbar, wo schon seit Wochen keine mehr waren.
Es roch nach Teer, auf der anderen Straßenseite wurde ein Holzzaun schwarz gestrichen, und der Boden unter Helenes Füßen gab leicht nach. Die Straßenbahn quietschte in der Kurve, sie fuhr langsam, das Quietschen zog sich, man hörte die Biege, das Schleifen und Funken, es hörte lange nicht auf. Helene mochte in letzter Zeit das Vage, das Ungenaue, sie lauerte ihm auf, doch sobald sie es zu erkennen glaubte, verflüchtigte es sich. Die Hitze verlangsamte das Treiben der Stadt, sie weichte die Bewohner der Stadt auf, dachte Helene, machte sie biegsam und sanft, sie erlahmte die Menschen. Je leichter Helene wurde, desto drückender lastete die Hitze auf ihr. Das war ihr nicht unangenehm. Helenes Körper war schmal geworden, nicht schwach. Sie hatte auf Leontines Empfehlungen hin im Bethanien eine Stelle bekommen und arbeitete nach Jahren zum ersten Mal wieder als Krankenschwester. Der Apotheker war erleichtert, geradezu entbürdet, hatte er doch zuletzt kaum noch gewusst, wovon er sie bezahlen sollte. Auch im Bethanien erhielt sie vorerst kein Geld, die ersten drei Monate galten als Probezeit, der Lohn sollte kommen, sobald sie ihre restlichen Papiere gebracht hätte. Helene lieh sich fürs erste etwas Geld von Leontine.
Helene war freundlich zu jedermann und sprach doch mit niemandem. Guten Tag, sagte sie im Zimmer sechsundzwanzig zu dem aufgedunsenen Mann, der im Sterben lag. Geht es Ihnen heute besser?
Natürlich, dank Ihrer Pillen gestern abend konnte ich endlich aufhören, mir Gedanken um mein Erbe zu machen, und etwas schlafen.
Die Patienten sprachen gerne mit ihr, nicht nur über ihr Leid, auch über ihre Verwandtschaft, die sich im Umfeld eines Sterbebettes besonders komisch verhalten konnte. So traute sich die Ehefrau des aufgedunsenen Mannes nicht mehr allein an sein Bett, stets kam sie in Begleitung seines jüngeren Bruders, dessen Hand sie mal suchte, mal verstieß, etwas war mit den Händen der beiden, und der Sterbende vertraute Helene an, dass er schon seit einigen Jahren von deren heimlichem Verhältnis wisse, sich aber nichts anmerken ließe, weil er sie guten Gewissens erben lassen wollte. Blieb so nicht alles in der Familie? Keiner der Patienten hätte es je gewagt, Helene zurückzufragen, wie es ihr ginge. Die Uniform schützte sie. Der weiße Kittel war ein stärkeres Signal als jede der Ampeln, die an immer mehr Kreuzungen der Stadt aufgestellt wurden und weithin leuchteten, anzeigten, wer gehen und wer stehen musste. Wer Weiß trug, durfte schweigen, wer Weiß trug, wurde nicht gefragt, wie es ihm ging. Die Höflichkeit war für Helene eine äußere Haltung, die ihre Verzweiflung kaum zähmte, eher fasste, die Anteilnahme am Leiden anderer stützte sie von innen. Sie dachte darüber nach, ob ihr aufgedunsener Patient wohl leichter sterben konnte, wenn er wusste, dass seine Frau ein Verhältnis mit dem Bruder hatte. Vielleicht bildete sich der Sterbende das Verhältnis nur ein, um den Abschied zu ertragen. Es fiel Helene leicht, sich die Namen der Patienten zu merken, ihre Herkunft, ihre Familiengeschichten. Sie wusste genau, in welchem Ton welcher Mensch gefragt werden wollte, und achtete es, wenn ein Kranker das Schweigen vorzog. Konnte Helene nachts einmal einschlafen, wachte sie vom Knirschen ihrer Zähne und vom Weinen auf. Nur wenn sie träumte, dass Carl zurückkam, sie umarmte und sich wunderte, weil er Helene und seine Familie in Schrecken und Trauer gestürzt hatte, und ein Missverständnis aufklärte, wo er doch gar nicht gestorben war, schlief sie gut. Doch war das Aufwachen nach solchen Nächten und die Rückkehr in ihr Leben, die Ankunft in so einen nächsten Tag ihres Lebens, einen selbstverständlichen, unerfragten, ungebetenen und gar nicht vorstellbaren Tag ihres Lebens schwer. Was war das, ihr Leben? Was sollte das sein, sollte es überhaupt etwas, es etwas, sie etwas? Helene versuchte zu atmen, leicht zu atmen, zu leicht. Ihr Brustkorb wollte sich nicht dehnen, kaum gelangte Luft hinein. Sie musste daran denken, wie es war, wenn man als Kind hinfiel, hinschlug, der Länge nach, und die Lunge durch den Aufschlag zusammenfiel, das Atmen wurde für eine Ewigkeit unmöglich, der Mund geöffnet, die Luft am Mund, aber der Körper sonst war dicht, verschlossen. Geläufig leben, äußerlich unbemerkt weiterleben, das fiel erstaunlich leicht. Sie war gesund, sie konnte jeden Finger einzeln strecken und beugen, sie streckte jeden Finger, alle Zehen beugen und strecken, weit auseinander, bis sie nach einer kurz geratenen Hand aussahen, den Kopf auf die Seite legen, ihr Körper gehorchte und die vegetativen Unregelmäßigkeiten waren keineswegs hinderlich, Helene konnte arbeiten, auch wenn sich das Herz manchmal überschlug und das Atmen schwerfiel.
Die anderen Schwestern verabredeten sich zu Bällen, sie unternahmen Mondscheinfahrten und fragten auch Helene immer wieder, ob sie mitkommen wolle. Im Umkleideraum probierten sie kurze Hosen an, mit denen man sich am Wannseestrand zeigen wollte.
Etwa so, die junge Schwester, die von allen kess genannt wurde, stellte ihre Hüfte aus und streckte dabei unverdrossen ihren Po aus. Die Geste gefiel Helene, sie musste an Leontine denken, etwas an der kessen Schwester erinnerte sie an Leontine. Burschikos, wie sie mit ihrem kurzen Haar und kurzen Hosen da stand und den anderen Schwestern ihren Po zeigte, dabei schaute sie streng und schelmisch in die Runde. Dann durfte eine andere das knappe Höschen anprobieren. Ob Helene nicht auch mal wolle, überhaupt müsse sie einmal mitkommen ins Strandbad. Helene lehnte ab, sie behauptete, sie habe bereits etwas vor. Sie erfand eine Tante, die sie pflegen müsse, sie wollte ihre Ruhe haben. Das Kichern und leichte Lachen der Schwestern war angenehm, solange es sie in Ruhe ließ, Hintergrund der Stille blieb, sobald es sie einbeziehen wollte, sich an sie wendete, Antwort und Teilhabe verlangte, strengte es an. Sie könne auch nicht schwimmen, gab die kesse Schwester preis, vielleicht vermutete sie, dass Helene nicht schwimmen konnte und sich aus Scham oder Unbehagen den Schwestern nicht anschließen wollte.
Das macht nichts, die meisten Mädels lernen in diesem Sommer erst schwimmen, nicht wahr? Ja, riefen die Schwestern unbeschwert im Chor. Helene mochte die anderen Schwestern, ihr gefiel deren Fröhlichkeit. Helene wollte kein Mitleid, kein ratloses Schweigen, sie erzählte keiner der Schwestern von Carl und seinem Tod.
Im Herbst sagte eine ältere Kollegin, Helene sehe ausgemergelt aus. Dürr. Man habe schon länger einen Blick auf sie. Ob sie krank sei. Aus dem Fragezeichen hörte Helene das Wort Schwindsucht. Sachte Hoffnung glomm auf. Helene verneinte, wurde aber zum Arzt bestellt, man wollte kein Risiko auf der Infektionsstation.
Helene war nicht krank, nur ihr Puls ging etwas schnell, das Herz manchmal unregelmäßig. Der Arzt fragte sie, ob sie Schmerzen habe, ob ihr etwas an sich auffalle. Helene sagte, manchmal habe sie Angst, ganz plötzlich, aber sie wisse nicht, wovor. Ihr Herz schlug schnell, so schnell, dass es sich überschlug und keinen Platz in ihrer Brust zu haben schien. Der Arzt hörte ein zweites Mal ihre Brust ab, fast zärtlich setzte er das kalte Metall auf ihre Brust, die sich nirgends mehr sanft erhob, unter der man die Rippen spürte, er lauschte auf ihr Herz und schüttelte den Kopf. Ein kleines Geräusch, das haben manche. Nichts Schlimmes. Die Angst, nun ja, vielleicht gebe es doch Ursachen? Helene schüttelte den Kopf. Sie wollte nichts von Carl erzählen. Nichts davon, dass sie seither nicht mehr blutete. Vielleicht trank sie einfach zu wenig. Wen ging das etwas an? Sie hatte Leontine im Frühjahr in der Charité besucht und sie gebeten, sie zu untersuchen. Aber Leontine hatte ihr versichert, dass sie nicht schwanger sei. Nur kurz hatte Helene eine Enttäuschung gespürt. Wovon hätte sie ein Kind auch ernähren sollen? Es war bloß ihr Herz, das manchmal verrückt spielte. Der Brustkorb, der zu eng schien. Ihre größte Angst war die Angst vor der Angst.
Wenns weiter nichts ist, sagte der Arzt mit einem Augenzwinkern. Helene ahnte, dass er an die Wiener Fallstudien von Hysterie dachte. Als Helene sich wieder angezogen hatte, fragte der Arzt sie mit einem feinen Lächeln, ob er sie einmal zum Kaffee einladen dürfe.
Helene sagte nein, herzlichen Dank, nein. Nichts weiter. Sie ging zur Tür.
Einfach so nein? Der Arzt zögerte, er wollte ihr nicht seine Hand geben, ehe sie ja gesagt hätte. Helene trat aus der Tür, sie wünschte ihm einen schönen Tag.
Martha sollte bis zum Winterbeginn im Sanatorium bleiben und Leontine suchte eine Wohnung, damit sie bei Marthas Rückkehr nicht mehr in die Achenbachstraße ziehen mussten. So kam es, dass Helene ein unbeobachtetes Zusammentreffen mit Erich kaum verhindern konnte. Ihr fehlte die Kraft und der Wille zur ständigen Voraussicht, damit diese Begegnungen hätten vermieden werden können. Er presste seine Lippen auf ihre, er küsste sie, wo und wie es ihm gefiel. Sie wehrte sich, aber ohne Erfolg. Er zog sie in ein Zimmer, er steckte ihr seine Zunge in den Hals und neuerdings knetete eine seiner groben Hände dabei eine ihrer Brustspitzen. Es war ihm egal, wenn Cleo dabei zusah und ängstlich fiepte und eher flehend als fröhlich mit dem Schwanz wedelte.
Helene war froh, wenn sie in solchen Augenblicken Otta hörte, meist ließ Erich dann von ihr ab. Noch besser war es, wenn Fanny von ihrem kurzen Einkauf oder einer anderen Erledigung heimkehrte und Erich Helene ohne ein weiteres Wort losließ. Es gab Tage, an denen wich Helene instinktiv nicht von Ottas Seite, begleitete sie in die Küche und zum Einkaufen. Aber es gab andere Tage wie diesen, an dem sich Helene allein in der Wohnung glaubte, eine Zeitung nahm und sich in den Wintergarten setzte, zu dem Fanny die Veranda durch das Einsetzen von Glasfenstern hatte umbauen lassen. Aus der Stille näherten sich beschwingte Schritte. Erich kam, setzte sich ihr gegenüber an den niedrigen Tisch und legte einen Fuß auf sein Knie, das Bein im großen Winkel. Mhm. Er machte von Zeit zu Zeit unbestimmte Geräusche, mhm, so als sage sie etwas, mhm und mhm, stimme er ihr zu, mhmhm, mhmhm, vielleicht war es eher ein ablehnendes mhm, ein erwartungsvolles mhm, mhmhm, mhm, ganz, als leide er unter einem Reflex, mhm, wie ein Meerschweinchen, mhm, er sah zu, wie sie Zeitung las. Zehn wortlose Minuten genügten, Erich stand auf, nahm ihr die Zeitung weg und sagte: Ich weiß, was dir fehlt.
Helene zog die Augenbrauen hoch, sie wollte ihn nicht an sehen.
Erich fuhr mit der Hand von oben in ihre Bluse. Helene wehrte sich. Die Knöpfe ihrer Bluse sprangen ab, der feine Stoff darunter riss.
Pass doch auf, keuchte er und lachte und jedes zuvor noch unterdrückte Seufzen gedieh zum Schnaufen, zum Stimmhaften, Erich lachte und hielt jetzt Helenes Handgelenke fest, er ließ sich auf die Knie fallen und stürzte sich mit einem nassen, sabbernden Mund auf ihren nackten Oberkörper. Torso, ging es Helene durch den Kopf, und sie musste an die anatomischen Modelle denken, anhand deren ihnen in der Ausbildung der menschliche Körper gezeigt worden war, wo das Herz schlug ohne Kopf und Denken. Gliedmaßen hatten mit ihrer Funktion ihre Bedeutung verloren. Purpur und Violett war eine Farbe vor den Fenstern.
Helene versuchte seine Schultern von sich wegzudrücken, mit dem ganzen Körper, sie wollte sich losmachen, aber Erich war schwer wie ein Stein und lutschte besinnungslos an ihrer Haut. Er wollte sie aussaugen, jeden Flecken ihres Körpers benetzte er mit seinem tranig riechenden Speichel. Da er ihre Handgelenke umklammert hielt und sie in den Sessel drückte, versuchte Helene durch ein Aufbäumen des Körpers, ihn von sich zu drücken. Doch es war, als reize ihn jede ihrer Bewegungen nur zu größerer Wildheit. Ungestüm leckte er mit der Zunge über ihr Gesicht, ihren Hals entlang und über ihre Brust. Helene wurde starr. Hab ich dich, hab ich dich, stammelte Erich ohne Unterlass.
Ich wollte die Alpenveilchen gießen, sagte plötzlich eine Stimme über ihnen. Fannys Stimme war nicht gerade fest, sie war schrill und klar. Fanny hielt eine Gießkanne aus Messing, klein, mit langer Tülle in die Höhe. Im nächsten Augenblick schlug sie mit der Gießkanne auf Erichs Kopf. Erich sackte nicht zusammen, verhinderte aber mit seinem Aufspringen, dass der nächste Schlag Helene erwischte, die Gießkanne flog jetzt auf den Boden. Erich hatte ihre Handgelenke losgelassen.
Fanny schrie. Was sie genau schrie, konnte Helene nicht verstehen. Es hatte mit Krethi und Plethi zu tun, wir sind hier doch nicht bei Krethi und Plethi, vermutlich hatte sie das geschrien. Das Purpur gewann Konturen, aber die Alpenveilchen ließen keins ihrer Blätter hängen. Helene hielt sich mit beiden Händen ihre Bluse zu, stand auf und machte, dass sie in ihr Zimmer kam. Dort presste sie ihre kalten Hände auf die glühenden Wangen, etwas stieß ihr von innen an den Schädel, zu weich war das, zu fest die Stirn.
Sie hörte Fanny und Erich noch bis spät in die Nacht streiten, aber das war nichts Ungewöhnliches. Helene ging arbeiten, sie kam nach Hause und ging Fanny aus dem Weg.
Helene verfluchte ihr Dasein, sie schämte sich für ein Leben, das sie ohne großes Dazutun atmen, arbeiten, und mit der Zeit wieder Flüssigkeit zu sich nehmen und schlafen ließ. Sie schämte sich, weil sie etwas dafür konnte, sie wusste, wie der Tod herbeizuführen war, schnell und unauffällig. Was war da schon ein Schmerz, was kleine Übelkeiten, wo sie doch endlich sein würden. Helene wusste, dass sie nicht überraschend gefunden werden wollte, man sollte sich weder mit ihr noch mit ihrem Tod auseinandersetzen, sie wollte nicht, dass Martha und Leontine und jemand, den sie nicht kannte, der ihr nicht einfiel, irgendjemand, aus Anlass ihres Todes über Verantwortung und gar Schuld nachdenken musste. Das unbemerkte Verschwinden, das endgültige Davonkommen, das war schon etwas schwieriger. Letztlich durften Leben und Gedenken der anderen nicht mehr interessieren, auch davon musste Abschied genommen werden, jeder blieb sich selbst der alleinige Verantwortliche. Wie oft hielt Helene die Gifte in ihren Händen, verabreichte sie das eine in kleinen schmerzstillenden und das andere in schlafförderlichen Dosen. Die Schachtel Veronal, die sie für alle Fälle aus der Apotheke mitgenommen hatte, war aus ihrem kleinen, ochsenblutfarbenen Koffer verschwunden. Helene hatte weniger Otta im Verdacht, sie vermutete, dass Fanny während ihrer Abwesenheit in ihren Sachen schnüffelte und beim Anblick der Schachtel nicht hatte widerstehen können. Aber im Krankenhaus gab es genug. Nicht nur Morphine und Barbiturate, schon das Spritzen von ein wenig Luft konnte, so es gelang, tödlich wirken. Das Leben erschien Helene als sinnloses Weiterleben, ein unabsichtliches Überleben, ein Überleben von Carl. Wollte sie die Scham begrenzen, weil es ihr anmaßend und kokett erschien, im Besitz des Lebens sich für selbiges zu schämen, so sagte sie sich, dass ihre Erinnerung an Carl dessen vollkommenes Verschwinden ein wenig aufhalten, hinauszögern würde. Die Vorstellung gefiel ihr — solange sie lebte und in Liebe an Carl dachte, wie auch seine Familie, so lange gab es noch eine Spur seiner Existenz. In ihr und mit ihr und durch sie. Helene beschloss, sie lebte, um ihn zu ehren. Sie wollte eines Tages wieder fröhlich sein und lachen, einzig aus Liebe zu ihm. Wenn er auch nichts mehr davon hatte. Helene glaubte an kein Wiedersehen in einer anderen Welt; es mochte sie geben, diese andere Welt, wohl aber ohne die hiesige Bindung einer einzelnen Seele an einen einzelnen Körper mit ihren ständigen Bedürfnissen nach einer Vereinigung mit anderen, einer Auflösung und Aufweichung der Verdammnis in das einzelne, alleinige. Deshalb ihr Denken, deshalb ihr Sprechen, deshalb ihre Umarmungen. Helene befand sich im Zwiespalt und Widerspruch. Sie wollte kein Denken, kein Sprechen, keine Umarmung mehr mit einem anderen Menschen, mit niemandem mehr. Aber sie wollte Carl weiterleben, nicht ihn über leben, ihn weiterleben; denn was anderes blieb von ihm als ihre Erinnerung. Wie sollte ein Weiterleben möglich sein, ohne Denken und Sprechen und Umarmen? Was zählte, war, den Mechanismus des Lebens nicht zu unterbrechen, das hieß, das Nötigste schlafen, das Nötigste essen, und Helene war erleichtert, dass ihr die Anstellung im Krankenhaus jeden Tag in überschaubare und regelmäßige Einheiten einteilte, ähnlich wie das Pendel der Uhr die Zeit überschaubar erscheinen ließ, ließ die Arbeit im Krankenhaus Helene ihr Leben überschaubar erscheinen. Sie musste nicht darüber nachdenken, wann ihr Leben ein Ende finden würde, sie konnte sich getrost an die Zeiten von Dienstbeginn und Dienstschluss halten. Dazwischen maß Helene Temperaturen, sie zählte Pulsschläge und reinigte Operationsbestecke. Helene hielt die Hände von Sterbenden und Gebärenden und Einsamen, sie wechselte Verbände, Binden und Windeln, ihre Arbeit war nützlich.
Sie lebte vor sich hin, von einem Dienstplan zum nächsten.
Auf der Suche nach einer Wohnung kam Helene an der Apostel-Paulus-Kirche vorbei, die Tür stand offen und ihr fiel auf, dass sie schon seit Jahren nicht mehr in der Kirche gewesen war. Sie ging hinein. Der Duft nach Weihrauch hing im Gestühl. Sie war allein in der Kirche. Helene ging nach vorne und setzte sich auf die zweite Bank, sie faltete ihre Hände, sie suchte nach einem Gebetsanfang, aber so sehr sie sich anstrengte, keiner wollte ihr einfallen.
Lieber Gott, flüsterte sie, wenn du da bist, Helene stockte, warum wurde Gott eigentlich mit du angesprochen? Ein Zeichen könntest du mir schicken, flüsterte Helene, ein kleines Zeichen. Ihr liefen Tränen aus den Augen. Nimm mir das Selbstmitleid und den Schmerz, sagte sie, bitte, ergänzte sie. Die Tränen versiegten, der Schmerz in der Brust blieb, etwas, das die Bronchien verengte und sie nur schwer Luft holen ließ. Wie lange noch? Helene lauschte, aber von draußen war nur das Knattern eines Autobusses zu hören. Vielleicht wenigstens das: Wie lange noch muss ich hierbleiben? Niemand antwortete, Helene lauschte in die Weite des Kirchenschiffs.
Wenn du da bist, begann sie von neuem, dachte aber jetzt an Carl und wusste noch immer nicht weiter in ihrem Satz. Wo sollte er schon sein, Carl? In ihrem Rücken hörte sie Schritte. Sie drehte sich um. Eine Mutter war mit ihrem kleinen Kind eingetreten. Helene neigte den Kopf, sie legte die Stirn auf ihre gefalteten Hände. Lass mich verschwinden, flüsterte sie, da war kein Selbstmitleid mehr, Helene spürte nichts als den klaren Wunsch nach Erlösung.
Wo? Hörte sie die hohe Kinderstimme hinter sich.
Da, sagte die Mutter, da oben.
Wo, ich sehe ihn nicht. Das Kind wurde ungeduldig, es jammerte, wo denn, ich kann ihn nicht sehen.
Man kann ihn auch nicht sehen, sagte die Mutter, nicht mit den Augen, du musst mit dem Herzen sehen, mein Kind.
Das Kind war jetzt stumm. Ob es mit dem Herzen sah? Helene starrte auf die Kerben der hölzernen Bank, ihr graute; wie konnte sie Gott um etwas bitten, wo sie ihn doch so lange vergessen hatte. Verzeih, flüsterte sie. Carl war nicht gestorben, damit sie sich nach ihm verzehrte. Er war grundlos gestorben. Sie würde ein Leben so verbringen können, mit der Hoffnung auf eine Antwort, die es nicht gab. Helene stand auf und verließ die Kirche. Auf dem Weg hinaus ertappte sie sich, wie sie weiter nach Zeichen suchte, nach Zeichen seiner Existenz und ihrer Erlösung. Draußen schien die Sonne. Sollte das schon ein Zeichen sein? Helene dachte an ihre Mutter. Vielleicht galten ihr all die Dinge, die sie entdeckte, die Baumwurzeln und Flederwische, als Zeichen? Das sei kein Tinnef, hörte Helene die Stimme ihrer Mutter. Mehr als Gedächtnis und Zweifel des Menschen, das hatte die Mutter einmal gesagt, brauche ein Gott nicht.
Die Miete der Dachkammern und Zimmer, die sich Helene ansah, war zu teuer. Ihr fehlte das Geld, und stets wurde nach ihrem Mann und ihren Eltern gefragt, wenn sie sich einer Wirtin vorstellte. Um Fanny nicht zur Last zu fallen und Erich besser aus dem Weg gehen zu können, bat Helene um ein Zimmer im Schwesternheim.
Ihre Papiere fehlen, bemerkte die Oberschwester freundlich. Helene behauptete, aus Bautzen wäre die Nachricht gekommen, dass es einen Brand gegeben habe und alles vernichtet sei. Die Oberschwester zeigte Mitleid und gewährte Helene, ein Zimmer zu beziehen. Nur möge sie rasch die neuen Papiere beschaffen.
Martha kehrte aus dem Sanatorium zurück und bezog eine Wohnung mit Leontine. Sie arbeiteten so viel, dass Helene Martha und Leontine nur alle paar Wochen, manchmal erst nach Monaten traf.
Die Wirtschaftskrise erreichte ständig neue Höhepunkte. Niemand blieb verschont. Es war gekauft und verkauft worden, spekuliert und ergattert, jeder sprach davon, er wolle jetzt auf keinen Fall Verluste realisieren, doch noch war die List nicht gefunden, das Realisieren zu vermeiden. Fanny feierte Erichs Geburtstag. Sie feierte ihn groß. Sie feierte ihn am größten, größer als sich selbst, größer als jedes bisherige Fest sollte das ihm zu Ehren werden. Erich hatte sich in den Monaten zuvor häufig von Fanny getrennt und war dennoch immer wieder und nun auch zum Geburtstag erschienen. Fanny hatte weitläufig eingeladen, Freunde und Unbekannte, solche, die nur Erich kannte, und solche, die nicht einmal wussten, dass sie mehr als seine Tennispartnerin war.
Helene hatte nicht kommen wollen, war aber von Leontine und Martha genötigt worden. Vielleicht hatten die zwei ein schlechtes Gewissen, weil sie sich so lange nicht um Helene hatten kümmern können.
Fannys Einladung erschien Helene als Versuch einer Wiederbelebung, lebenserhaltende, lebensverlängernde Maßnahme, klägliches Zitat früherer Einladungen. Die Gäste waren noch prunkvoll gekleidet, da glitzerten die Glassteinchen, sie sprachen noch über Pferdewetten und die Kurse an der Börse, mehr als siebzigtausend Konkurse in diesem Jahr, und soeben wurde die Marke von sechs Millionen Arbeitslosen überschritten, es wurde eine Opium-Pfeife angesteckt, dem standen lediglich zwölf Millionen Beschäftigte gegenüber, kein Wunder, die Löhne mussten gekürzt werden, bis zu fünfundzwanzig Prozent, Ansichten und Meinungen zum Zusammenbruch der Pis cator-Bühne wurden ausgetauscht, Helene wollte nicht zuhö ren. Sollte es ihr unangenehm sein, dass sie eine Beschäftigung hatte? Ein Leben ohne das Metronom ihrer Tätigkeiten im Krankenhaus war undenkbar. Helene schaute auch nicht hin über zum Baron und seiner Pina, die noch im vorletzten Jahr geheiratet hatten und die sich seither in den Haaren lagen, nicht etwa über Brillanten und Federboas, sie stritten über ein Kleid, das Pina ohne sein Einverständnis vom nicht vorhandenen Geld erstanden hatte. Der Baron unterstellte ihr, sie beleihe seine Freunde und betrüge ihre Gütergemeinschaft. Sie stritt alles ab. Bald riss sie die Arme in die Luft und rief: Ich gestehe, ich habe gestohlen! Du wolltest es unbedingt wissen, hier ist die Wahrheit: Gestohlen. Eine Diebin bin ich. Im Kaufhaus des Westens. Was nun? Helene blickte zu den anderen Gästen, sie blickte auf ihre Schuhe und sie betrachtete ihre Hände. Einer der Nägel zeigte einen dunklen Schimmer. Helene erhob sich von der Chaiselongue, auf der sie bis eben allein und unbe lästigt gesessen hatte, sie krümmte ihre Finger so gut es ging, rollte sie ein, damit niemand den schwarzrandigen Nagel sehen konnte, und ging hinaus in den Korridor, wo sie kurz vor dem Badezimmer warten musste. Kaum öffnete sich die Tür und war das Bad frei, stürmte Helene hinein. Sie verriegelte die Tür. Der Badeofen war geheizt und Helene drehte den Hahn auf, das heiße Wasser kam weiß und dampfend heraus, Helene schrubbte mit der Nagelbürste unter fließendem Wasser ihre Nägel. Die Seife schäumte, Helene schrubbte, seifte, schrubbte, und seifte. Ihre Hände röteten sich, die Nägel wurden immer weißer. Sie wusch auch ihr Gesicht, und weil es die Wirbelsäule entlang juckte, musste Helene auch ihren Hals waschen, soweit sie konnte, ohne sich zu entkleiden. Jemand klopfte an die Tür. Helene wusste, dass sie den Wasserhahn zudrehen musste, ihre Hände wurden rot und warm und sauber, und röter und wärmer und sauberer, es fiel ihr nicht leicht. Unterhalb des Hahns war in der Wanne die bläulichgrüngelbe Maserung der Rückstände des Wassers zu sehen. Welche Salze das Wasser mit dem Kalk da wohl angeschwemmt und abgelagert hatte?
Zurück unter den Gästen hatte Helene gerade beschlossen, aufzubrechen, schließlich sollte man im Schwesternheim bis zehn Uhr nach Hause gekommen sein, die Nachtschicht erhielt erst morgens um sechs wieder Einlass, als ein junger Mann lächelnd vor ihr stand. Es sah aus, als würde er sie kennen, so unerschütterlich grinste er zu ihr herab.
Unser Wilhelm, sagte Erich, der hinter dem jungen Mann auftauchte.
Lass mich raten, sagte Wilhelm, lass mich raten, wie sie heißt.
Er rät heute Abend alle Namen, erklärte Erich und klopfte seinem Freund auf die Schulter. Erich lachte. Sein Name ist Hanussen.
Wilhelm schob Erichs Hand von seiner Schulter. Von wegen Hanussen.
Nur einmal lag er richtig, und das nicht mal bei einer Dame. Erich nagelte seinen Blick in Helene.
Wilhelm ließ sich von Erich nicht verunsichern, er sah Helene prüfend an. Keine Sorge, ist nur ein Spiel. Wilhelm neigte sich zur Seite, als stehe Helenes Name auf einem Schild an ihrer Schläfe. Jetzt nickte Wilhelm. Alice. Sie heißt Alice.
Erich lachte. Fanny, die sich zu ihrer Runde gesellt hatte, wischte sich Tränen aus ihren gereizten Augen und bat Erich, ihr einen Absinth einzuschenken. Erich reagierte nicht auf Fannys Begehren, seine Augen stachen in Helenes Gesicht, bohrten sich in ihre Augen, in ihre Wangen, in ihren Mund.
Und, ist sie nicht ein Frauenzimmer nach deinem Geschmack? Willy verehrt die blonden Mädel. Erich klopfte seinem Freund auf die Schulter, als müsse er ihn weich klopfen wie ein Schnitzel. Ist vielleicht nicht viel dran, an dem Ding, aber blond ist sie. Erich lachte, er glaubte, er habe einen Witz gerissen.
Schon Erichs Blick verriet, wie er Helene anpacken würde, wären sie allein. Wilhelm stand unschuldig mit dem Rücken zu seinem Freund und etwas wie Überraschung und bares Erstaunen lag in seinen Augen.
Zumindest sind Sie von einer berückenden Schönheit, mein Fräulein, stammelte Wilhelm. Alice. Sie verraten mir bestimmt Ihren Namen?
Helene bemühte sich um ein freundliches Lächeln, über Wilhelms Schulter hinweg sah sie die Uhr im Korridor, die weiße Standuhr zeigte halb zehn. Helene wollte aufbrechen.
Jetzt schon? Wilhelm konnte es nicht glauben. Das Fest hat doch gerade erst begonnen. Sie wollen mich doch nicht gleich verlassen?
Helene sagte mit dem freundlichen Lächeln: Ich muss.
Schwesternheim, Erich fuhr mit der Zunge über die Zähne, ließ dann in obszöner Geste die Zunge über die Lippen schnalzen. Sie wohnt im Schwesternheim.
Eine Nonne, Jungfrau Maria. Wilhelm glaubte es sofort.
Quatsch. Erich fiel ihm ins Wort. Keine Jungfrau, du Dussel, Krankenschwester ist sie.
Krankenschwester. Wilhelm sprach es ehrfürchtig aus, als bestehe kein nennenswerter Unterschied zwischen einer Nonne, der Jungfrau Maria und einer Krankenschwester. Ich begleite Sie.
Danke, das sollen Sie nicht. Helene setzte einen Schritt zur Seite und versuchte, an jenem großen jungen Mann namens Wilhelm vorbeizukommen. Er brachte sie zur Tür, half ihr in den Mantel und ließ sie mit Empfehlungen gehen.
Am nächsten Tag stand Wilhelm im Krankenhaus plötzlich vor ihr. Schwester, sagte er, Sie müssen mir helfen.
Helene war nicht nach gemeinsamem Lachen und Blicketauschen, sie wollte ihre Arbeit erledigen, die Betten im Zimmer Nummer zwanzig waren zu machen und der Patient in Zimmer einunddreißig, der nicht alleine die Toilette aufsuchen konnte, hatte schon vor zehn Minuten geklingelt.
Schwester Alice, hier auf dieser Bank werde ich Platz nehmen. Sie können von mir aus die Wache rufen oder den Oberarzt. Ich werde hier warten, bis Sie Feierabend haben. Das wird doch nicht mehr lange dauern?
Helene ließ ihn Platz nehmen. Sie ging ihrer Arbeit nach. Über zwei Stunden musste sie an ihm vorbeilaufen, die Frauen im Schwesternzimmer tuschelten. Der charmante Herr auf dem Flur sei wohl ein Verehrer. Was für ein stattlicher Mann, wie gut er aussehe mit seinem blonden Haar und den blauen Augen. Eine der Schwestern blieb bei Wilhelm stehen und begann ein Gespräch mit ihm. Später sagte sie im Vorübergehen zu Helene: Sag mir Bescheid, wenn du ihn nicht willst, dann nehm ich ihn.
Helene hätte ihr gerne gesagt, dass sie nehmen könne, was sie wolle. Aber eine Antwort auf die Tuschelei erschien Helene mühsam. Die Zunge lag ihr schlicht zu schwer im Mund. Schon während sie einem älteren Mann Geschlecht und Hintern wusch, musste sie ungeachtet des rohen Fleisches und des aufgebrochenen Furunkels, der vielen kleinen eitrigen Wunden, die sie mit Salbe und Puder versorgte, an Carl denken und daran, dass er nicht kommen und sie abholen würde. Niemals. Helenes Hals schmerzte, eng wurde er, fest schnürte er sich zusammen. Mit ihren Fingern voll Salbe und Puder konnte sich Helene nicht das Auge auswischen.
Ihre Hände, Schwester, die sind sanft und heilsam, dass ich immer nur nach Ihnen frage, ob Sie Dienst haben. Sie sind für diesen Beruf geboren, wissen Sie das, Schwester Helene? Der alte Mann, der mit dem Rücken zu Helene auf seinem Bett lag und vor Schmerzen schreien musste, wie Helene glaubte, wenn sie sein wundes Fleisch versorgte, verrenkte sich, um wenigstens in Helenes Richtung zu blicken. Er streckte seine Hand nach ihr aus, er zupfte an ihrem Ärmel. Dort, mit der Hand deutete er auf seinen Nachttisch. Schauen Sie, dort in der Schublade, Schwester Helene, da liegt etwas Geld, nehmen Sie es.
Helene schüttelte den Kopf, sie bedankte sich, sie wollte kein Geld. Wann immer ihr jemand etwas zusteckte, gab sie es zurück. Nur selten fand sie in ihren Kitteltaschen Münzen, die ihr jemand unbemerkt hineingesteckt hatte. Dieser alte Mann hier lag seit zwei Wochen auf der Station, sein Zustand verschlechterte sich. Er war enttäuscht, dass Helene sein Geld nicht wollte. Nehmen Sie es, forderte er sie auf. Wenn Sie es nicht nehmen, klaut es eine andere.
Soll sie. Helene verschloss die Puderdose, breitete die Decke über seinem Körper aus und brachte die Waschschüssel hin über zum Waschbecken, dort reinigte sie das Waschgeschirr und ihre Hände. In ihrem Rücken stöhnte ein anderer Patient, er könne nicht mehr warten. Sie ging zu dem Bett des Mannes. Er benötigte die Bettpfanne und bat Helene, bei ihm zu bleiben, weil er sich nicht allein helfen konnte. Im Nachbarbett jammerte ein Mann wegen Schmerzen, er jammerte mit gepresster, heiserer Stimme, dass Helene wusste, er riss sich zusammen, so sehr er konnte.
Als Helene zwei Stunden später ihren Kittel in den Spind gehängt und sich ihren Rock, den Pullover und die Jacke angezogen hatte, wartete Wilhelm noch immer geduldig auf der Bank des Flurs.
Ob sie einen Kaffee trinken wolle? Helene war das recht, keine Frage des Wollens, eher eine des geringsten Widerstandes. Vor der Tür wollte sie ihren Regenschirm öffnen, doch er klemmte. Unter Lachen und ohne den Regen geschweige denn ihre Mühe mit dem Schirm zu beachten, erzählte Wilhelm ihr etwas von einer Rückkopplung im Volksempfänger, einem Rundfunkgerät, das man in wenigen Monaten zur Großen Deutschen Funkausstellung der Öffentlichkeit vorstellen wer de. Von Verstärker zu Verstärker, breitete Wilhelm seine Arme weit auseinander, um ihr zu zeigen, wie wenig die neuen technologischen Entwicklungen zwischen seine Arme passten. Helene gefiel seine Begeisterung. Sie gingen zum Ufer am Spreekanal. Durch die Rückkopplung in der HF-Stufe gelinge es, die benötigte Empfindlichkeit zu erzeugen. Helene begriff nichts, blieb aber aus Höflichkeit mit ihm stehen, als Wilhelm mitten im Satz innehielt, um ihr mit Gesten verständlich zu machen, wie sie sich den Aufbau des Gerätes vorstellen müsse.
Helene wusste jetzt zwar, dass er Ingenieur war, aber es war nicht deutlich, ob er von seinen Entwicklungen oder denen anderer sprach. Helene verstand noch immer nicht, wovon er redete, sie mochte es, ihm dabei zuzuhören, zu sehen, wie er sich mit dem Taschentuch den Regen von der Stirn wischte, schließlich könne sie sich gewiss das Ausmaß der Erreichbarkeit und die Dimension der Informationsweitergabe noch gar nicht ganz vorstellen, schließlich würden dann alle Menschen zur selben Zeit dieselben Informationen erlangen, Ereignisse erfahren, die sie sonst oft nur mühsam und mit Tagen Verspätung aus der Zeitung erfahren haben — und aus welcher? Da gibt es ja inzwischen viel zu viele. Wilhelms wegwerfende Handbewegung war freundlich, aber bestimmt. Seine Freude hatte etwas Ansteckendes, Helene musste lächeln. Es war ihr gelungen, den Schirm zu öffnen. Ob er mit darunter wolle.
Selbstverständlich, sagte Wilhelm und nahm Helene den Schirm aus der Hand, damit sie ihren Arm nicht strecken musste. Süße Mädel brauchen süße Kuchen, wusste Wilhelm und steuerte geradewegs eine kleine Konditorei an. Es gab Apfelkuchen und Kaffee. Helene mochte weder das eine noch das andere, aber sie wollte sich nicht zieren, sie wollte keine unnötige Aufmerksamkeit erregen. Wilhelm sagte, und der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören, man werde schon in den nächsten Wochen in Serie gehen können, um dann zur Funkausstellung genügend Exemplare der neuen Entwicklung verkaufen zu können. Was sie von dem Namen Heilssender halte, fragte Wilhelm und lachte. Kleiner Scherz, sagte er, es gibt bessere Namen. Helene folgte seinem Witz nicht, aber es war ihr angenehm, ihn so selbstgenügsam sprechen zu hören.
Hinter ihrem Lächeln versteckte sie ihre Müdigkeit, die sich nach dem langen Tag im Krankenhaus jetzt bei Kaffee und Kuchen in ihr ausbreitete. Ihr schien, sie machte im Zusammentreffen mit Wilhelm alles richtig, wenn sie aufmerksam blickte, mal staunend die Augenbrauen hochzog und mal nickte. Die Worte Sender und Empfänger erhielten eine eigenartige Be deutung, wenn sie ihm so zuhörte. Ein Zeitungsverkäufer betrat die Konditorei. Hier waren nur wenige Menschen versammelt, aber er nahm seine Mütze ab und erhob die sonore Stimme. Die Schlagzeilen der Abendzeitungen spekulierten über die verantwortlichen Hintermänner des Brandes vom Reichstag.
In diesen Wochen wurde in der Straßenbahn und in der Untergrundbahn eine dumpfe Empörung laut. Überall, wo Menschen zusammentrafen, ihre Gesichter von der Kälte gerötet, ihre Mäntel nicht lang genug, weil vielleicht noch einem Kind eine Jacke hatte genäht werden müssen, wurde gemeckert, gemault und gestritten. Das wolle man sich nicht länger gefallen lassen. Nicht hinnehmen könne man das, nicht länger, nicht mit sich machen lassen wollte man das. Die Männer und Frauen waren aufgebracht.
Wilhelm holte Helene so oft er konnte vom Krankenhaus ab, ein Kommunist nach dem anderen wurde verhaftet, Wilhelm ging mit seiner blonden Alice spazieren und führte sie in die Konditorei. Er sagte, es gefalle ihm, wie sie den Kuchen verschlinge, es sehe immer so aus, als habe sie seit Tagen nichts Anständiges gegessen. Helene hielt erschrocken inne. Sie war sich nicht sicher, ob sie wissen wollte, was Wilhelm dachte, wenn er sie essen sah. Essen war für sie zur lästigen Angelegenheit geworden, sie vergaß es häufig bis zum Abend. Der Apfelkuchen schmeckte ihr nicht, sie hatte ihn nur so schnell wie möglich hinter sich bringen, ihn aus dem Weg schaffen wollen. Wilhelm fragte, ob er ihr noch ein Stück bestellen dürfe. Helene schüttelte den Kopf, sie bedankte sich. Ihre Grübchen seien herzallerliebst, sagte Wilhelm jetzt und sah beglückt in ihr Gesicht. Helene war ungern verlegen. Ob sie das Theater möge, das Kino? Helene nickte. Sie war lange nicht im Kino gewesen, ihr fehlte das Geld. Nur einmal hatte sie zugestimmt, als Leontine und Martha sie gefragt hatten, ob sie mitkommen wolle. Sie hatte während der Vorstellung weinen müssen, und es war ihr unangenehm gewesen. Früher hatte sie im Kino nicht geweint. Also schüttelte sie den Kopf.
Ja oder nein, fragte Wilhelm.
Nein, sagte Helene.
Wilhelm bat Helene, mit ihm tanzen zu gehen. Eines Tages war ihr der Widerstand zu mühsam, und sie willigte ein, und sie gingen zum Ball, und er nahm ihr Gesicht in seine Hände, und er küsste ihre Stirn und sagte ihr, er habe sich verliebt.
Helene war nicht froh, sie schloss ihre Augen, um nicht angesehen zu werden. Wilhelm verstand es als Anmut, als Einverständnis, als Ankündigung ihrer nahenden Hingabe. Es war nur gut, dass Wilhelm nicht wusste, mit welcher Leidenschaft Helene die Küsse von Carl erwidert und gelockt hatte. SA-Truppen stürmten den Roten Block in Wilmersdorf, Schriftsteller und Künstler wurden dort verhaftet, ein paar ihrer Bücher wurden verbrannt, und es wurde Frühling, und mehr Bücher wurden verbrannt. Über Martha hörte Helene, dass der Baron zu den Verhafteten gehörte, Pina wollte um jeden Preis etwas über die Gründe der Verhaftung in Erfahrung bringen und suchte jeden seiner Bekannten auf mit der Bitte, er möge ihr helfen. An einem Tag hieß es, er stehe im Kontakt mit der Kommunistischen Partei, am nächsten, er habe Flugblätter der Sozialdemokraten verteilt. Wilhelm wartete nicht, ob Helene seine Gefühle erwiderte, das eigene Begehren füllte ihn aus, das genügte ihm. Alice nannte er sie, obwohl er längst wusste, dass sie Helene hieß. Alice, das war sein Name für sie.
Im Frühling organisierte die neu gewählte Regierungspartei der Nationalsozialisten einen Boykott, es galt, unnütze Esser, gewisse Parasiten durch Aushungern darben zu lassen, niemand sollte beim jüdischen Händler kaufen und sich beim jüdischen Schuster seine Schuhe besohlen lassen, keiner einen jüdischen Arzt aufsuchen und niemand den Rat eines jüdischen Anwalts einholen. Es könne nicht sein, dass der deutsche Mann keine Arbeit finde und andere sich in Fettlebe rekelten, das erklärte der Oberarzt seinen Schwestern. Die Schwestern nickten, einigen fiel ein besonderes Beispiel für die ungerechte Verteilung ein. Die kesse Schwester, von der jeder wusste, dass sie jüdisch war, hatte letzte Woche überraschend ihre Kündigung erhalten. Niemand sah sich nach ihr um, keiner vermisste sie. War ihre Familie nicht wohlhabend genug, warum sollte sie noch arbeiten? Mit ihrem Verschwinden wurde nicht mehr von ihr gesprochen. Ihren Platz nahm jetzt eine andere Schwester ein. Überhaupt wurde viel von Platz gesprochen, vom Volk und seinem angemessenen Raum.
Wilhelm holte Helene vom Dienst ab, wie immer hatte sie zehn Stunden gearbeitet und war mit zwei Pausen elf Stunden lang im Krankenhaus gewesen, er führte sie am Arm in die Konditorei und obwohl es bereits sechs Uhr am Abend war, bestellte Wilhelm Kuchen und Kaffee. Er zog Helene über den Tisch zu sich heran, sie müsse ein Geheimnis wahren. Er sei nicht nur für den Bau der 4 a Berlin — Stettin verantwortlich, sie werde sehen, eines Tages werde man bis nach Königsberg kommen! Wilhelms Augen glitzerten. Seine Stimme wurde jetzt noch leiser: Das Geheimnis sei aber dieses, die Wahl sei ausgerechnet auf ihn gefallen. Er habe den Auftrag erhalten, das unter seiner Aufsicht entwickelte Funkgerät dem Stettiner Flugplatz zu übergeben und den Peilsender an dem außerordentlich hohen Mast anbringen zu lassen. Der Flughafen sollte für die Luftwaffe ausgebaut werden. Wilhelm strahlte, er sah nicht stolz aus, eher verwegen und kühn. Seine Augen erkannten und versprachen Abenteuer. Wie selbstverständlich nahm Wilhelm ihre Kuchengabel, stach ein Stück des Kuchens ab und führte es zu ihrem Mund. Seine Tätigkeit habe sich so stark in Richtung Pommern verlagert, dass man ihm nahegelegt habe, seinen Wohnsitz dorthin zu verlegen.
Helene nickte, sie beneidete Wilhelm nicht um seine Lebensfreude und die Begeisterung, den Glauben, etwas Wichtiges für das Volk, die Menschheit, insbesondere den technischen Fortschritt tun zu dürfen. Seine Freude gefiel ihr, die Leichtigkeit, mit der er lachte und sich auf die Schenkel klopfte, die war angenehm rücksichtslos, wie das Kichern der Schwestern.
Freust du dich? Das fragte Wilhelm Helene und ließ den Arm mit der Gabel sinken, als er bemerkte, dass sie keine Miene verzog und auch den Mund für den Kuchen nicht öffnete.
Bitte frag mich nicht. Helene blickte von der Tasse Kaffee auf und zum Fenster hinaus.
Doch, ich muss dich fragen, sagte Wilhelm. Ich will auf dich in Zukunft nicht mehr verzichten, sagte er und biss sich auf die Lippen, weil er sich ein solches Geständnis für den Zeitpunkt nach einer gewissen Frage hatte aufheben wollen. Doch Helene schien das Geständnis nicht gehört zu haben.
Als Wilhelm im kommenden Frühjahr einmal nach einem guten Monat Planungsarbeiten aus Pommern zurückkehrte, kaufte er beim Juwelier am Bahnhof zwei Ringe zur Verlobung und holte Helene vom Krankenhaus ab. Er hielt ihr den Ring unter die Nase und fragte Helene, ob sie seine Frau werden wolle.
Helene konnte ihn nicht ansehen.
Sie überlegte, was sie ihm antworten sollte, sie wusste, wie es ging, das Strahlen, das Lächeln, es war ganz einfach, man musste nur die Mundwinkel hochziehen und die Augen dabei aufreißen, vielleicht war es mit dieser Mimik gar möglich, einen Augenblick Freude zu empfinden?
Da staunst du, was?
So etwas wie mich dürfte es gar nicht geben, platzte sie heraus.
Was willst du damit sagen? Wilhelm verstand nicht, was sie meinte.
Ich will damit sagen, dass ich keine Papiere besitze, keinen Ahnenpass, nichts, Helene lachte jetzt, und wenn ich einen besäße, stünde unter Bekenntnis der Mutter das Wort mosaisch.
Wilhelm blickte Helene scharf an. Warum sagst du so etwas, Alice? Deine Mutter lebt irgendwo in der Lausitz. Hat deine Schwester nicht gesagt, sie wäre ein schwieriger Fall? Es klang, als wäre sie krank. Hängst du an ihr, bedeuten dir deren Feiertage etwas? Ungläubig schüttelte Wilhelm den Kopf, Mutwille und Zuversicht traten in sein Gesicht: Folg mir, werd meine Frau und lass uns ein Leben beginnen.
Helene schwieg. Ein Wilhelm kannte keine Gefahr und keine Hürde. Helene blickte ihn nicht an, sie empfand eine seltsame Steife im Nacken; würde sie den Kopf schütteln, konnte er sie feige nennen, mutlos. Sie würde zurückbleiben. Nur wo?
Willst du mir sagen, du misstraust mir, weil ich Deutscher bin, weil ich von einer deutschen Mutter und einem deutschen Vater und die wiederum von deutschen Müttern und Vätern geboren worden sind?
Ich misstraue dir nicht. Helene schüttelte den Kopf. Wie konnte Wilhelm ihr Zögern nur als Misstrauen verstehen? Sie wollte ihn ja nicht ärgern. Sie zweifelte ein wenig, was blieb ihr anderes übrig. Auch ihre Mutter war Deutsche, nur verstand Wilhelm jetzt offensichtlich Deutschsein als etwas anderes, als etwas, das sich nach moderner Meinung in rassischen Merkmalen ausdrücken und im richtigen Blut beweisen lassen musste.
Dein Name ist Alice, hörst du? Wenn ich das sage, dann ist das so. Wenn du keinen Ahnenpass hast, werde ich dir einen besorgen, glaub mir, einen einwandfreien, einen, der keinen Zweifel an deiner gesunden Herkunft lässt.
Du bist verrückt. Helene war erschrocken. War es möglich, dass Wilhelm auf die neuen Gesetze anspielte, denen zufolge sie im Krankenhaus jede Missbildung protokollieren und anzeigen mussten, weil um jeden Preis erbkranker Nachwuchs verhindert werden sollte? Und galten nicht bestimmte geistige und seelische Erkrankungen, wie solche, in deren Verdacht sich ihre Mutter in den Augen mancher Nachbarn befand, ebenfalls als erblich und unbedingt zu vermeiden? Strotzende Gesundheit war oberstes Gebot, und wer nicht gesunden und strotzen konnte, sollte möglichst schnell sterben, ehe das deutsche Volk Gefahr lief, angesteckt oder durch kranken Nachwuchs verunreinigt, beschmutzt zu werden.
Glaubst du mir nicht? Ich werde alles für dich tun, Alice, alles.
Was meinst du mit gesunder Herkunft? Helene wusste, dass sie von Wilhelm keine schlüssige Antwort erhalten würde.
Eine saubere Herkunft, meine Frau wird eine saubere Herkunft haben, das ist alles, was ich meine. Wilhelm strahlte. Schau nicht so grimmig, mein Schatz, wer hat wohl ein saubereres und reineres Herz als diese bezaubernde blonde Frau mir gegenüber?
Helene staunte über seine Ansicht. Womöglich rührte sie von ihrer körperlichen Verweigerung her?
Die Menschen brechen auf und verlassen Deutschland. Fannys Freundin Lucinde begleitet ihren Mann nach England, sagte Helene.
Wer an seinen Wäldern und seiner Mutter Erde nicht hängt, der soll nur seiner Heimat den Rücken kehren. Sollen sie gehen, von mir aus. Sollen sie alle abhauen. Wir haben hier etwas zu tun, Alice. Wir werden die deutsche Nation retten, unser Vaterland und unsere Muttersprache. Wilhelm krempelte seine Ärmel auf. Wir haben das Darben nicht verdient. Mit diesen Händen hier, siehst du? Kein Deutscher darf jetzt seine Hände in den Schoß legen. Verzagen und Klagen, das ist unsere Sache nicht. Du wirst meine Frau, und ich gebe dir meinen Namen.
Helene schüttelte den Kopf.
Du zögerst? Du willst dich doch nicht aufgeben, Alice, sag mir das nicht. Er sah sie streng und ungläubig an.
Wilhelm, ich verdiene deine Liebe nicht, ich habe ihr nichts zu erwidern.
Das kommt noch, Alice, da bin ich sicher. Wilhelm sagte es ganz frei und klar, als läge es nur an einer Abmachung, einer Entscheidung, die sie einigen würde, nichts an ihrer Aussage schien ihn zu kränken oder auch nur gering zu verunsichern. Sein Wille würde siegen, der Wille, Wille schlechthin. Ob sie gar keinen habe? Natürlich braucht ein Weib eine gewisse Zeit nach so einem Verlust, sagte er. Ihr wolltet heiraten, du und dieser Junge. Aber das ist jetzt Jahre her, du musst die Zeit der Trauer einmal beschließen, Alice.
Helene hörte Wilhelms Worte, die ihr sogleich dumm und dreist erschienen, mit denen er über sie hinwegredete. Seine Erhabenheit und der Befehl, der in seinen Worten lag, empörte sie. Es gab Worte, die musste man sich aufheben. Etwas an seinem Heldenmut erschien Helene verdächtig, etwas schien ihr daran von Grund auf falsch. Im nächsten Augenblick erschrak Helene über sich selbst. War sie missgünstig? Wilhelm war frohgemut, sie würde von ihm lernen können. Helene bereute ihren Ärger wie ihre Ablehnung. War es nicht nur ihre Trauer um Carl, eine weibische Trauer, wie Wilhelm sie freundlich nannte, die Helene seinen Glanz und seine Lebenslust so schwer ertragen ließ?
Woran denkst du, Alice? Die Zukunft liegt zu unseren Füßen, wir wollen nicht nur an uns denken, denken wir an das Gemeinwohl, Alice, an das Volk, an unser Deutschland.
Sie wollte nicht kleinmütig sein, bestimmt nicht bitter. Das Leben hatte sie nicht gekränkt, es gab keinen Gott, der sie büßen lassen wollte. Wilhelm meinte es gut mir ihr, er meinte es gut mit sich, und das konnte sie ihm nicht verübeln. Wie konnte sie nur so hochmütig sein? Schließlich stimmte, was er sagte, sie musste das Leben wieder aufnehmen, da half die Pflege und Sorge um die Kranken vielleicht wenig. Allein, ihr fehlte eine Vorstellung vom Leben, von dem, was es sein sollte und konnte. Sie würde sich für diesen Zweck einem Menschen zuwenden müssen. Und warum nicht einem, der es gut mit ihr meinte, der froh über ihr Ja wäre und sie retten wollte? Immerhin wusste Wilhelm offenbar, was er wollte, er zielte vor und war dem Glauben nicht nur nah, er glaubte. Das Wort Deutschland klang aus seinem Mund wie eine Losung. Wir. Wer waren wir? Wir waren wer. Nur wer? Bestimmt konnte sie das Küssen wieder lernen, vor allem einen Geruch wahrnehmen und mögen, ihre Zähne und ihre Lippen öffnen und die Bewegungen seiner Zunge in ihrem Mund spüren, vielleicht kam es darauf an.
Wilhelm umwarb Helene unermüdlich. Es wirkte, als würde jede Ablehnung ihrerseits ihm neue Kraft verleihen. Er fühlte sich zu großen Taten, am liebsten zum Retten geboren, und als Erstes lag ihm daran, dieses in seinen Augen schüchterne und anmutige Wesen für ein gemeinsames Leben zu gewinnen.
Ich habe zwei Karten für die Krolloper, die verdanken wir meinen guten Beziehungen. Du möchtest sie doch sehen, die ersten Fernsehbilder?
Helene ließ sich nicht überreden. Sie hatte in der Woche fast ausschließlich Nachtdienste, daran führte kein Weg vorbei.
Als Martha die Nachricht überbrachte, dass das Mariechen einen gewissen Vorfall nicht hatte verhindern können, und die Polizei auf dem Kornmarkt in Bautzen eine erst weinende und dann tobende Frau aufgelesen und mitgenommen hatte, wurde Helene unruhig. Leontine telefonierte nach Bautzen, erst mit dem Mariechen, dann mit dem Krankenhaus und schließlich mit der Gesundheitsbehörde. Sie erfuhr, dass Selma Würsich zum Schloss Sonnenstein nach Pirna gebracht worden war, wo man herausfinden wollte, welches Leiden sie quälte, und mittels neuer Untersuchungen klären wollte, ob dieses Leiden erblich war.
Helene packte ihre Sachen, und Wilhelm sah seine Stunde gekommen. Er würde sie nicht allein fahren lassen, sie brauchte ihn, das sollte sie wissen.
Im Zug setzte sich Wilhelm Helene gegenüber. Ihr fiel auf, wie zuversichtlich er sie ansah. Schöne Augen hatte er, was für schöne. Wie lang hatte sie ihre Mutter schon nicht gesehen, zehn Jahre, elf? Helene fürchtete sich, ob sie die Mutter erkennen würde, wie sie aussehen mochte und ob die Mutter sie erkannte. Wilhelm nahm ihre Hand. Sie neigte ihren Kopf und legte ihr Gesicht an seine Hand. Wie warm seine Hand war. Dass er bei ihr war, empfand sie als Geschenk. Sie küsste seine Hand.
Meine tapfere Alice, sagte er. Sie hörte die Zärtlichkeit aus seinen Worten und doch fühlte sie sich durch die süßen Worte nicht gemeint.
Tapfer? Das bin ich nicht. Sie schüttelte den Kopf. Ich habe wahnsinnige Angst.
Jetzt legte er beide Hände auf ihre Schultern und zog ihren Kopf an seine Brust, dass sie fast von ihrem Sitz rutschte. Mein süßes Mädchen, ich weiß, sagte er, und sie spürte seinen Mund an ihrer Stirn. Aber du musst nicht immer widersprechen. Du fährst hin, das ist tapfer.
Eine andere Tochter wäre schon vor Jahren gefahren, eine andere Tochter hätte ihre Mutter nicht erst im Stich gelassen.
Du konntest nichts für sie tun. Wilhelm streichelte Helene über das Haar. Wilhelm roch nicht unangenehm, fast vertraut. Helene ahnte, sie wusste wohl, dass seine Worte Trost sein wollten. Sie drängte sich an ihn. Was konnte sie an Wilhelm mögen? Dass jemand sie litt, vielleicht.
Nur durch eine Sondergenehmigung der Gesundheitsbehörde, die Leontine über Bautzen in Pirna veranlasst hatte, war es Helene gestattet worden, ihre Mutter zu besuchen.
Das Gelände war sehr weitläufig und wären da nicht die hohen Zäune gewesen, so konnte man sich beinahe vorstellen, wie hier Könige vor Jahrhunderten residiert hatten und sich am Ausblick erfreuten; wo die Wesenitz von Norden und die Gottleuba von Süden in die Elbe mündeten, erstreckte sich eine liebliche Landschaft zu ihren Füßen. Der strahlende Sonnenschein und das laute Vogelzwitschern hatten etwas Unwirkliches. Hier sollte sich die Mutter als Kranke in Gewahrsam befinden?
Ein Pfleger führte Helene und Wilhelm eine Treppe hinauf, einen langen Gang hinunter, Gittertüren wurden aufgeschlossen und wieder hinter ihnen verschlossen. Der Besuchsraum befand sich am Ende des Flügels.
Die Mutter saß in einem Krankenhemd auf der Kante der Bank. Ihr Haar war vollkommen silbern, sonst sah sie aus wie einst, keinen Tag älter. Als Helene eintrat, wandte sie den Kopf zu Helene und sagte: Das habe ich dir gesagt, nicht wahr, du wirst mich pflegen. Zuerst hier raus, die Hände zerwühlen mir meine Eingeweide. Dabei gibt es keine Ableger in mir, keine Birnen aus Äpfeln. Nichts wird da gemischt. Der Arzt sagt, ich habe Kinder. Das konnte ich ihm ausreden. Geschlüpft und entflohen. Solche Kinder hat man nicht. Die müssten einem aus dem Kopf wachsen, von hier nach da. Die Mutter haute sich mit der flachen Hand an die Stirn und gleich darauf gegen den Hinterkopf, wieder an die Stirn und an den Hinterkopf. Rausgeschüttelt, so einfach ist das.
Helene ging auf ihre Mutter zu. Sie nahm eine ihrer kühlen Hände. Haut und Knochen. Die alte Haut fühlte sich weich an, außen spröde und weich, innen weich und glatt.
Nicht anfassen. Der Pfleger, der an der Tür stand und den Besuch überwachte, drohte jetzt näher zu kommen.
Haben Sie keine Schwestern hier? Helene rief es, sie erschrak über die Lautstärke ihrer eigenen Stimme.
Doch, Schwestern gibt es auch. Aber für bestimmte Patientinnen benötigt man etwas mehr Kraft, wenn Sie verstehen?
Es könnte sein, es könnte sein, ich beiße, könnte sein, ich beiße, könnte sein, ich kratze, klein und fein. Die Mutter sang mit der Stimme eines jungen Mädchens.
Ich habe dir etwas mitgebracht. Helene öffnete ihre Tasche. Eine Bürste, einen Spiegel.
Wenn Sie erlauben, der Pfleger streckte seine Hand aus. Ich nehme die Sachen gerne an mich und verwahre sie. Aus Schutz und Sicherheit dürfen die Kranken keinen eigenen Besitz hier haben.
Doch hatte die Mutter schon die Bürste ergriffen und begann, sich ordentlich das Haar zu bürsten. Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal saßen einst zwei Hasen, fraßen ab das grüne, grüne Gras. Sie sang unbeirrt, trällerte mit der Stimme des jungen Mädchens, das sie einmal war.
Der Pfleger stampfte mit dem Fuß auf. Es reichte ihm.
Weiß Gott, woher sie all die Lieder kennt.
Der Pfleger griff nach der Bürste und riss sie der Mutter aus der Hand. Dabei rutschte der Spiegel von ihrem Schoß und zerbrach, als er auf den Boden schlug. Und den auch, rief der Pfleger, als er den Spiegel und die Scherben vom Boden aufhob. Kaum hatte der Pfleger der Mutter die Bürste entrissen und den Spiegel an sich genommen, ließ sich die Mutter von der Bank auf den Boden gleiten. Sie lachte. Schwarze Lücken klafften. Helene erschrak, als sie die Zahnlücken im Gebiss der Mutter sah. Die Mutter lachte, dass es gurgelte, und konnte sich nicht mehr beruhigen.
Es hat keinen Zweck, Fräulein, das sehen Sie!
Was meinen Sie mit Zweck? Helene fragte es, ohne sich zu dem Pfleger umzusehen, sie bückte sich und legte ihre Hand auf den Kopf ihrer Mutter, das graue Haar war trocken und struppig. Die Mutter wehrte sich nicht, sie lachte. Meine Mutter ist nicht verrückt, nicht so, wie Sie meinen. Sie gehört hier nicht her. Ich möchte sie mitnehmen.
Tut mir leid, wir haben hier unsere Anweisungen, und an die halten wir uns. Sie können diese Frau nicht einfach mitnehmen, selbst wenn es Ihre Tochter wäre, dürften Sie nicht.
Komm Mutter, Helene packte ihre Mutter unter den Armen und wollte sie hochziehen.
Der Pfleger sprang mit einem Satz auf sie zu und trennte Mutter und Tochter. Hören Sie nicht? Das sind Anweisungen.
Ich möchte den Professor sprechen. Wie war sein Name, Nitsche?
Der Professor befindet sich in einer wichtigen Besprechung.
So? Dann werde ich warten, bis die Besprechung vorüber ist.
Tut mir leid, Fräulein. Er wird Sie trotzdem nicht sprechen. Sie müssen ihn schriftlich um einen Termin bitten.
Schriftlich? Helene suchte in ihrer Tasche, sie fand das schwarze Notizheft, das Wilhelm ihr vor wenigen Tagen geschenkt hatte, und riss eine Seite heraus. Von ihren Händen strömte ihr der Geruch ihrer Mutter entgegen, ihr Lachen, ihre Furcht, der Talg ihres Haares und der Schweiß ihrer Achseln. Mit dem Bleistift schrieb sie: Sehr geehrter Herr Professor.
Fräulein, ich muss Sie bitten. Wollen Sie, dass wir Sie auch hierbehalten? Ich denke, der Professor hätte unter diesem Gesichtspunkt ein gewisses Interesse — schließlich untersucht er die Erblichkeit solcher Erkrankungen. Wie ist Ihr Name noch gleich?
Respekt, junger Mann, Wilhelms Augenblick war gekommen, er mischte sich ein. Sie werden das Fräulein jetzt gehen lassen. Die junge Frau ist meine Verlobte.
Der Pfleger öffnete die Tür. Wilhelm hielt Helene seinen Arm hin. Kommst du, Schätzchen?
Helene wusste, dass ihr keine andere Möglichkeit blieb. Sie nahm Wilhelms Arm und ging zur Tür hinaus. Am Ende des Flurs hörten sie hinter sich ein gellendes Schreien. Es war nicht deutlich, ob es das Schreien eines Tieres oder eines Menschen war. Auch konnte Helene nicht erkennen, wessen Schreien es war; es konnte das Schreien ihrer Mutter gewesen sein. Ein Pfleger schloss ihnen die Tür auf. Wilhelm und Helene gingen schweigend den folgenden Flur entlang. Die Stille an diesem Ort war unheimlich, sie hatte etwas Endliches.
Im Zug nach Berlin nahmen Wilhelm und Helene schweigend Platz. Der Zug fuhr durch einen Tunnel. Helene spürte, dass Wilhelm auf ihren Dank wartete.
Bitte, sagte sie, nenn mich nicht mehr Schätzchen.
Aber du bist doch mein Schätzchen. Wilhelms Augen hafteten an Helenes Gesicht. Morgen muss ich wieder für eine Woche nach Stettin. Ich will dich nicht länger in Berlin allein lassen.
Warum sollte ich allein sein? Meine Patienten warten auf mich, sie brauchen mich.
Glaubst du, es gibt in Stettin keine Patienten, die auf dich warten? Die findest du auf der ganzen Welt. Aber mich gibt es nur einmal. Alice, mein süßes Fräulein, deine Enthaltsamkeit ist edel, um die Wahrheit zu sagen, sie macht mich verrückt. Es muss auch mal Schluss damit sein. Ich brauche dich.
Helene nahm seine Hand. Du musst mich nicht überreden, sagte sie, sie küsste seine Hand. Es war gut zu hören, dass sie gebraucht wurde. Wie sollte sie darüber sprechen?
Mit welchen Urkunden kann ich dich heiraten? Sie flüsterte. Ich besitze keine, keine einzige.
Das lässt sich machen, behauptete Wilhelm leichthin. Hast du nicht einmal erzählt, dass du Druckpressen bedient hast?
Helene schüttelte den Kopf. Das Papier, die richtigen Lettern, Stempel und Siegel. Urkunden sind alles andere als einfach zu drucken.
Lass das meine Sorge sein, versprochen?
Helene nickte, es war gut, wenn er sich darum kümmern wollte. Wilhelm erwähnte einen Bruder in Gelbensande, der seit der Heirat einen Hof bewirtschafte, sich aber mit dem Herstellen von Papieren auskenne.
Im Krankenhaus drohte man Helene seit geraumer Zeit, sie möge endlich ihre Unterlagen beibringen, den Ausweis, wenigstens die Geburtsurkunde und die Geburtsurkunden ihrer Eltern, am liebsten ein Familienbuch ihrer Eltern, das wollte man sehen. Helene hatte behauptet, sie besitze keinen Ausweis, und immer wieder gab sie sich überrascht, sie habe ihre Unterlagen vergessen. Man hatte ihr eine Frist gesetzt. Bis zum Monatsende sollte sie die Unterlagen beibringen, andernfalls würde man sie entlassen.
Erst als Helene aus dem Korb einen schon leicht schrumpeligen Apfel holte, ihn an ihrem weißen Rock abrieb und ihn mit dem Messer teilte und entkernte, um Wilhelm ein Viertel zu reichen, und ihr Blick weit hinüber zum Odertal und zu den anliegenden Höhenzügen, den Hafenanlagen und bis zum Dammschen See reichte, dann etwas näher schweifte, über die Rabatten der Hakenterrasse bis hinunter zur Oder, wo gerade einer der weißen Bäderdampfer anlegte und Menschen mit Sonnenschirmen und Regenschirmen zum Ausflug einlud, denn jeder hatte sich an diesem frühen Maitag für ein anderes Wetter entschieden, fiel ihr auf, dass sie sich nie eine Hochzeit vorgestellt hatte. Das war sie. Helene zog sich den Mantel, der ihr lose über den nackten Schultern lag, vor der Brust zusammen. Frisch war es hier, man roch das Meer in der Luft, die Küs tennähe. Helene leckte sich über die Lippen, sie glaubte das Salz zu schmecken. Der Standesbeamte hatte am Morgen den Wind in seine Wünsche einbezogen, weil die Ehe der sichere Hafen sei vor solchen Winden, und die Frau dem Mann, der sie schütze, ein behagliches, sicheres Heim bereiten solle. Er hatte gelacht und ihnen zu einem Schnaps an diesem frühen Maientag geraten. Ein kühler Wind wehte zu ihnen herauf. Wilhelm kaute den Apfel, er kaute kräftig, und Helene hörte sein Malmen, den Saft zwischen seinen Zähnen, den Speichel, die Lust, er beugte sich vor, sah Helene prüfend an, strich ihr die wehende Haarsträhne aus dem Gesicht und küsste ihre Stirn. Jetzt hatte er ein Recht dazu und zu noch mehr. Eine Möwe lachte. Auf dem Weg etwas unterhalb schob eine junge Frau einen Kinderwagen, sie schob ihn mit der Hüfte vorwärts, Stoß um Stoß, das Kind hielt sie mit beiden Armen fest an sich gedrückt, es schrie, ein breites Tuch umflatterte sie, sie versuchte, das Tuch um das Kind zu stecken, doch das Tuch stand wieder waagerecht im Wind und das Kind schrie, als habe es Hunger und Schmerzen.
Unglaublich, nicht? Wilhelm schaute hinab.
Bestimmt hat es Bauchweh.
Den Verkehr hier meine ich. Das Apfelstück in der Hand, zeigte Wilhelm mit ausgestrecktem Arm auf ein langes Schiff. Bald kommen auf unserer Autobahn Tonnen Mecklenburgische Rüben hier an, werden verladen und ab in die Welt. In diesem Jahr brechen wir den Rekord von 1913, unser Güterum schlag wird seine Höchstmarke erreichen, achteinhalb Millionen Tonnen, das ist gigantisch. Nur richtig, dass wir die Internationalisierung unserer Wasserstraßen aufgehoben haben. Versailles kann uns nicht diktieren, was wir mit unseren Flüssen machen. Wilhelm stand auf und zeigte mit ausgestrecktem Arm nach Nordosten. Schau mal, der Klotz da vorne. Die stellen in den nächsten Wochen ihren zweiten Bauabschnitt fertig, der größte Getreidespeicher Europas. Wilhelm stand und staunte, er staunte stolz, die Fäuste auf die Hüften gestemmt, zweifellos gehörte der Speicher zu ihm und er zum Speicher. Wilhelm setzte sich wieder. Helene verzog den Mund und presste die Lippen aufeinander, nur mühsam unterdrückte sie ein Gähnen. Wenn Wilhelm in Fahrt kam, war es schwer, sein Frohlocken über neue technische Errungenschaften und Bauwerke zu unterbrechen. Siehst du den Mast, den das Schiff hat, da rechts? Das ist die Antenne, damit können wir Funkwellen, Radiosender empfangen und dort drüben, mit diesem Mast können wir senden.
Wozu?
Zur besseren Kommunikation, Alice. Da hinten kommt die Rügen, zwei Schornsteine, Mannomann, darunter macht es ein Gribel nicht. Wilhelm ließ seinen Arm sinken und stützte sich damit im Gras auf. Er sah jetzt Helene an. Sie spürte, wie sein Blick über sie glitt und an ihrem Gesicht hängen blieb.
Die Aussicht auf die bevorstehende Hochzeitsnacht machte Helene verlegen. Den ganzen Tag hatte sie seine frohen Blicke auf sich gespürt und war ihnen ausgewichen. Jetzt musste sie die Augen zusammenkneifen, weil es hier auf der Anhöhe hell war und windig. Sie blickte zurück.
Schenkst du mir ein Lächeln? Wilhelm hob mit seinem Finger ihr Kinn an.
Heute erschien Wilhelm ihr noch größer als sonst, wie er eben gestanden hatte und sie jetzt selbst im Sitzen überragte. Helene bemühte sich um das Lächeln.
Wilhelm hatte sich nicht beirren lassen. Als im September das Blutschutzgesetz verabschiedet worden war, hatte er es kein einziges Mal angesprochen. Seine Bemühungen um die Papiere für Helene hatten sich in die Länge gezogen, sie hatte aufhören müssen, im Bethanien zu arbeiten, und man hatte sie aufgefordert, das Schwesternheim zu verlassen. Zurück in Fannys Wohnung war Helene froh gewesen, dass Erich Fanny offenbar endgültig verlassen hatte. Wilhelm traf Helene, sooft er konnte. Er entschuldigte sich, dass es so lange dauerte, und manchmal gab er ihr etwas Geld, das sie, erleichtert, von Fanny unabhängiger zu sein, in ihr Portemonnaie steckte. Einmal erwähnte Wilhelm, dass sein Kollege die Scheidung eingereicht habe, er wollte sich nicht länger als Rassenschänder bezeichnen lassen. Helene fragte sich, ob er ihr das sagte, damit sie wusste, welches Risiko er für sie einging, oder ob es schlicht ein Ausdruck beginnender Ausblendung war. Schließlich sagte er es so, als läge es ihm gänzlich fern, sich selbst als Rassenschänder zu begreifen. Kurze Zeit später hatten sie sich am Lietzensee nahe dem Damm, über den die Straße führte, verabredet. Die Platanenblätter lagen gelb und glatt am Boden. Wenn schon, denn schon, sagte Wilhelm und gab Helene einen Umschlag. Helene setzte sich auf eine Bank neben den fleckigen Stamm. Wilhelm nahm neben ihr Platz. Er legte einen Arm um sie und küsste ihr Ohr. Sie öffnete den Umschlag, darin befand sich ein Schwesternzeugnis und ein bronzeschimmerndes Heft, ein Büchlein, ein Ahnenpass, etwas angestoßen, aber fast neu. Er roch noch. Sie blätterte. Ihr Name war Alice Schulze, ihr Vater war ein Bertram Otto Schulze aus Dresden, die Mutter eine Auguste Clementine Hedwig, geborene Schröder.
Wer sind diese Leute? Helenes Herz ging gleichmäßig, sie musste lächeln, weil ihr die Namen so neu, unbekannt und vielversprechend klangen, diese Namen sollten zu ihr gehören, ihre sein.
Frag nicht. Wilhelm legte ihr eine Hand auf den Mund.
Und wenn mich jemand fragt?
Die Schulzes waren unsere Nachbarn in Dresden. Einfache Leute.
Wilhelm wollte hier seine Erklärungen beenden, aber Helene ließ ihn nicht in Frieden. Sie kitzelte sein Kinn: Weiter, und lä chelte, weil sie wusste, dass Wilhelm ihr ungern etwas abschlug.
Wir waren neun Kinder, sie hatten nur eins, ein Mädchen. Alice spielte oft allein auf der Straße, bis in die Dunkelheit. Am liebsten kam Alice zu uns rüber und saß dann mit an unserem großen Tisch, sie wollte aber nichts essen, sie wollte nur mit an unserem Tisch sitzen. Eines Tages verbreiteten ihre Eltern die Nachricht, Alice sei weggelaufen. Wir Kinder halfen suchen, aber Alice blieb verschwunden. Du siehst ihr ein wenig ähnlich.
Ich bin verschwunden? Helene lachte auf, die Vorstellung, eine Verschwundene zu sein, beglückte sie.
Sie hatte ungefähr dein Alter. Jeder in unserer Straße glaubte, dass Alice von ihren Eltern umgebracht worden war. Wie konnten sie sonst sicher behaupten, sie wäre weggelaufen?
Von ihren Eltern?
Wilhelm lüpfte mit dem Zeigefinger Helenes Kinn, wie er es gerne machte, wenn sie ihm zu ernst war. Wir haben uns einfach gewundert, dass sie weiterlebten wie immer, man sah keine Anzeichen von Trauer. Nicht mal die Polizei haben sie verständigen wollen. Jeder von uns hat mit dem Gedanken gespielt, zur Wache zu gehen. Alice sollte erst im Sommer in die Schule gehen, also fiel es auch keinem Lehrer auf. Mein Gott, sind nicht von deinen Geschwistern auch einige gestorben? Wer starb nicht alles ohne Urkunde. Bald darauf ist die Frau von der Treppe gefallen und war tot. Der Mann lebte noch bis vor einem Jahr, er ist sehr alt geworden, er war schon immer alt.
Das sollen meine Eltern gewesen sein?
Du wolltest es wissen. Wilhelm rieb sich die Hände, vielleicht war ihm kalt. Da kann man nichts machen, jetzt weißt du es.
Und deren Vorfahren? Die Großeltern, die Urgroßeltern — hier sind lauter Namen vermerkt, die keiner kennt.
Es gibt sie, sagte Wilhelm. Mehr hatte er nicht gesagt, er hatte ihr den Ahnenpass aus der Hand genommen und ihn eingerollt in die Innentasche seines Mantels gesteckt. Er hatte nach ihrer Hand gegriffen und ihr vorgeschlagen, dass sie in Stettin heiraten sollten, wo er in der Elisabethstraße schon seit einigen Monaten eine Wohnung gemietet hatte und Dresdner Stempel und Siegel vielleicht noch weniger bekannt wären als in Berlin.
Helene hatte genickt, sie hatte schon immer einen richtigen, großen Hafen sehen wollen. Noch vor Weihnachten waren sie nach Stettin aufgebrochen. Der Abschied von Martha und Leontine war nicht leichtgefallen. Sie hatten sich am letzten Abend in Leontines Wohnung getroffen, die dicken Samtvorhänge waren zugezogen, Leontine bot einen irischen Whiskey und dunkle Zigaretten an, sie meinte, das wäre das Richtige für den Augenblick.
Wenn ich schreibe, hatte Martha gesagt, dann schreibe ich jetzt an Alice? Leontine hatte lachend eingeworfen, dass niemand einseitig eine Verwandtschaft aufkündigen könne. Jede Woche werde ich dir schreiben, das hatte Martha versprochen, als Elsa mit einer Bautzener Adresse.
In Stettin hatte Wilhelm sie beim Standesamt angemeldet, ihre Verlobung wurde beurkundet und das Aufgebot bestellt. Er ließ Helene in der Kammer neben der Küche schlafen, sie war froh über seine Rücksicht. Die Hochzeit sollte Anfang Mai sein. Helene sollte nicht arbeiten, Wilhelm gab ihr Geld, sie kaufte ein und legte ihm die Kassenzettel auf den Tisch, sie kochte, sie wusch und bügelte, sie heizte. Sie war dankbar. Wünschte sich Wilhelm zum Abendessen Rinderrouladen, konnte es sein, dass Helene den halben Vormittag von Fleischerei zu Fleischerei eilte, um das richtige Fleisch für die Rouladen zu finden. Wilhelm wollte nicht, dass sie vorne in der Bismarckstraße bei Wolff kaufte. Da konnte er noch so freundlich sein und Helene noch so günstige Preise machen. Solche Leute muss man nicht unterstützen, sagte Wilhelm und Helene wusste, was er mit solche meinte und fürchtete, er könne ihr nachgehen und beobachten, ob sie sich an seine Anweisungen hielt. Einmal hatten sie einander zufällig getroffen, Helene war gerade mit zwei Büchern unter dem Arm aus der Bücherei am Rosengarten getreten, als Wilhelm sie von der anderen Straßenseite her zu sich gerufen hatte. Er hatte einen flüchtigen Blick auf ihre Bücher geworfen. Buber, muss man das lesen? Die Stunde und die Erkenntnis, huh, da krieg ich Angst. Welche Erkenntnis versprichst du dir davon, fragte er lachend. Er hatte den Arm um ihre Schulter gelegt und ihr ins Ohr gesagt: Auf dich muss man ja aufpassen. Ich möchte nicht, dass du in diese Bücherei gehst. Die Volksbücherei ist doch gleich um die Ecke. Die paar Meter bis zur Grünen Schanze wirst du schon noch laufen können.
Legte Wilhelm ihr sein Hemd hin, wo ein Knopf abgerissen war, lief Helene von einem Kurzwarenhändler zum nächsten, bis sie nicht den einen richtigen Knopf, wohl aber, zurück im ersten Geschäft, ein ganzes Dutzend passender Knöpfe gefunden hatte, so dass sie die übrigen Knöpfe für den einen fehlenden komplett austauschte. Helene empfand eine Dankbarkeit, die sie fröhlich werden ließ.
Einmal sagte Wilhelm, dass man erst mit dem Eintreten in ihre Wohnung bemerken würde, wie schmutzig der Hausflur wäre. Er meinte es als Kompliment. Du bist wunderbar, Alice. Nur über eins muss ich mit dir sprechen, streng sah er sie an, unsere Nachbarin aus dem Erdgeschoss hat mir erzählt, sie hätte dich letzte Woche in der Schuhstraße zur Tür dieses Kurzwarenhändlers treten sehen. Bader heißt er? Helene spürte, wie sie rot wurde. Baden, Herbert Baden, ich kaufe seit Weihnachten bei ihm, er hat sehr feine Waren, solche Knöpfe gab es nirgends sonst. Wilhelm hatte Helene nicht angesehen, er hatte einen großen Schluck aus seinem Bierglas genommen und gesagt: Mein Gott, dann kaufst du eben andere Knöpfe, Alice. Bist du dir im Klaren, dass du uns gefährdest? Nicht nur dich, mich auch.
Am nächsten Morgen, kaum hatte Wilhelm die Wohnung verlassen, machte sich Helene an die Arbeit. Sie schrubbte und scheuerte die Treppe vom Dach bis hinunter zum Eingang. Zuletzt bohnerte sie, dass es glänzte und alles an ihr nach Wachs roch. Als Wilhelm am Abend der saubere Hausflur nicht aufgefallen war, sagte Helene nichts. Sie war froh, dass sie etwas zu tun hatte, sie gehorchte nicht einfach gut, sie gehorchte gern. Was gab es Besseres als die feste Aussicht auf Dinge, die erledigt werden mussten, Aufgaben, Erledigungen, vor deren Erfüllung die Zeit nur noch als Sorge erschien, dass sie nicht langen könnte. Auch wusste Helene, woran sie denken musste, an die braune Schuhwichse und an den durchwachsenen Speck für das Abendessen. Am liebsten erledigte sie die anstehenden Arbeiten, ehe Wilhelm etwas vermissen oder bemängeln musste. Wenn Wilhelm von seiner Arbeit kam, sagte er, er wäre schon glücklich, sie zu Hause zu wissen und sie um sich zu haben. Mein Heimchen, nannte er sie neuerdings. Eine Kleinigkeit fehle ihm, das hatte er lächelnd gesagt. Er hatte nur auf den Mai gewartet.
Der Wind drehte an der Hakenterrasse und fuhr ihnen jetzt von unten herauf unmittelbar ins Gesicht. Wilhelm wollte nicht, dass sie den zweiten Apfel schnitt und entkernte, er wollte richtig zubeißen. Sie reichte ihm den Apfel ganz.
Und der Dicke da, ist der nicht großartig? Wilhelm packte sein Fernglas aus. Er verfolgte den riesigen Frachter, er schwieg ungewöhnlich lang. Helene überlegte, ob sie ihm sagen konnte, dass sie fror; es würde ihm die Laune verderben, aber er verzog auch so den Mund. Der Name stört ein bisschen, Arthur Kunstmann. Du weißt, wer Kunstmann ist?
Helene schüttelte unbestimmt den Kopf. Wilhelm hob wieder sein Fernglas hoch. Größte Reederei Preußens. Na, das ändert sich schon.
Warum?
Fritzen & Sohn machen das bessere Geschäft. Plötzlich brüllte Wilhelm: Tempo, Jungs! Er schlug sich auf die Schenkel, als könne irgendein Ruderer dort unten ihn von hier oben hören. Die sind zu langsam, unsere Jungs. Wilhelm ließ sein Fernglas sinken. Interessiert dich nicht? Verwundert und mit ein wenig Mitleid sah er Helene an, die auf die Entfernung gerade so erkennen konnte, dass es sich unten am gegenüberliegenden Ufer um einen Achter handelte. Vielleicht würde er ihr sein Fernglas reichen, damit sie an seiner Freude teilhaben konnte? Aber Wilhelm war zu der Überzeugung gelangt, dass Helene sich nicht für das Rudern interessierte. Er klemmte sich das Fernglas vor die Augen und jubelte. Gummi Schäfer und Walter Volle, die werden für uns siegen. Tempo, Tempo! Einfach schade, dass ich hier die letzten Handschläge überwachen muss, im August wär ich zu gern in Berlin.
Unsere Jungs? Warum siegen, was bedeutet dir das? Helene versuchte nicht weiter auf das Schreien des Säuglings zu achten und folgte Wilhelms Blick hinunter zum Wasser.
Das verstehst du nicht, Kind. Wir sind die Besten. Das schöne Geschlecht hat keinen Sinn für Wettkämpfe, aber wenn der Gummi erstmal Gold geholt hat, dann wirst du schon sehen, was los ist.
Was ist dann los?
Alice, Schätzchen? Wilhelm ließ das Fernglas sinken, er sah Helene streng an. Er sagte es drohend, er drohte Helene gerne aus Spaß, wenn sie ihm zu viele Fragen stellte. Helene konnte nicht lächeln. Schon, wenn sie an die bevorstehende Nacht dachte, ihre erste gemeinsame Nacht als Mann und Frau, gelang ihr der einfachste Blick nicht mehr. Womöglich empfand er ihr Nachfragen als Zweifel an dem, was er sagte, auch als Zweifel an seiner Freude. Gewiss sollte seine Frau nicht an ihm zweifeln, sie sollte ihn achten und hin und wieder freudig für ihn schweigen können. Ein wenig Jubel wäre auch nicht schlecht, so ein ganz klein wenig, so leiser, munterer, weiblicher Jubel, das hätte Wilhelm gewiss sehr gefallen. Helene schien es, als sähe er zufrieden aus, wenn sie anerkennend nickte und schlicht hinnahm, was er sagte. Und konnte sie nicht tatsächlich einfach mal etwas hinnehmen? Am Vorabend hatte er sich ein wenig beklagt, vielleicht war er nur gereizt gewesen, weil es die Nacht vor der Hochzeit war. Er hatte mit Blick in die Zeitung gesagt, ihn beschleiche manchmal der Verdacht, seine Alice wäre eine freudlose Natur. Als Helene keine Antwort eingefallen war und sie schweigend weiter den Herd abgewischt hatte, hatte er hinzugefügt: Nicht nur Freudlosigkeit glaube er jetzt hin und wieder an ihr zu bemerken, sondern auch eine Spröde.
Jetzt sah Wilhelm durch sein Fernglas. Insgeheim schämte sich Helene. Wollte sie ihm etwa am Tag seiner Hochzeit den Blick auf das Schöne verübeln? Sie schwieg und fragte sich ernsthaft, was er meinte und was wohl los wäre, wenn die deutschen Ruderer in einigen Wochen bei den Olympischen Spielen siegen würden. Sie fragte sich auch, warum Martha auf ihre Briefe nicht mehr antwortete, und beschloss, Leontine zu schreiben. Leontine war zuverlässig, erst zu Fastnacht hatte sie Helene geschrieben, wie froh sie sei, ihr mitteilen zu können, dass sie vermutlich eine Entlassung der Mutter vom Sonnenstein bewirken könne. Zum Glück habe das greise Mariechen im Hause ausgeharrt und würde sich über die Rückkehr ihrer Dame gehörig freuen. Leontine hatte mit Leo unterzeichnet und Helene war erleichtert, immer wieder las sie den Brief und den Namen Leo und war glücklich.
Der Bäderdampfer unten an der Landungsbrücke legte ab, Möwen umkreisten das Schiff, wohl in der Hoffnung, die Ausflügler könnten Essbares über Bord werfen. Aus dem Schornstein dampfte es schwarz. Helene spürte einen Tropfen auf ihrer Hand. Wilhelm öffnete die Bierflasche. Ob sie ihre Limonade nicht trinken wolle? Helene schüttelte den Kopf. Helene wusste, dass sie sich ihm heute Nacht hingeben sollte, ganz, so, wie er sie noch nicht besessen hatte. Das machte ihn froh. Sie dachte langsam, in großen Sprüngen. Sie dachte, sie würde ihr gutes altes Unterhemd nicht tragen können an diesem Abend. Wären sie in Berlin geblieben, hätte es ein Hochzeitsfest geben können, geben sollen, aber wen hätten sie einladen dürfen? Martha und Leontine und Fanny wären keine geeignete Gesellschaft, es wäre bald bekannt geworden, dass mit ihren Papieren etwas nicht in Ordnung war, womöglich hätte Martha bei den Worten des Standesbeamten gekichert. Auch Erich hätte auftauchen und die Feierlichkeit stören können. Besser, man zog weit weg und umging ein solches Fest.
Helene nahm die Papiertüte aus dem Korb und griff hinein. Wenn sie Rosinen aß, war sie glücklich.
Sie würden noch eine kleine Hafenrundfahrt mit Hanni oder Hans machen, je nachdem, welches der beiden betagten Passagierschiffe, auf denen wahre Häuser thronten, sie heute aufnehmen konnte. Die gestreiften Schornsteine von Maris kannte jedes Kind in Stettin, Helene hatte sich schon länger gewünscht, einmal mit einem der beiden zu fahren.
Auf gehts. Helene packte Messer und Apfelgriebsch ein, stellte die leere Bierflasche zurück in den Korb und legte die kleine Decke obenauf. Sie machten sich auf den Weg hinunter zum Bollwerk. Wilhelm fasste sie bei der Hand und Helene ließ sich von ihm ziehen. In seinem Rücken schloss sie die Augen, er sollte sie wie eine Blinde führen. Was konnte schon geschehen? Sie spürte eine große Müdigkeit, eine überwältigende Schwä che, sie hätte auf der Stelle schlafen wollen, aber der Hochzeitstag war noch nicht zur Hälfte um. Wilhelm kaufte zwei Karten für die Hanni von der Gotzlow-Linie. Das Schiff schwankte, Helene hielt sich von Zeit zu Zeit die Hand vor den Mund, damit niemand ihr Gähnen sah.
Auf der Rundfahrt und bei zunehmendem Wind und Schaukeln des Bootes gab es kein Gespräch zwischen Wilhelm und ihr, ihre Verbindung war nicht einfach abgeflaut, sie war verschwunden, durchtrennt. Zwei Fremde saßen nebeneinander und schauten jeder in seine Richtung.
Erst als sich Wilhelm beim Kellner ein Würstchen mit Senf bestellte, richtete er wieder das Wort an sie: Hast du Hunger? Helene nickte. Sie saßen zwar unter Deck, die Schauer schlugen außen an die Scheiben und Wasserperlenfäden zogen herab, der Himmel erschien gebrochen, aber Helene war von dem Schaukeln übel geworden und sie hatte kalte Füße. Alles war so dre ckig auf diesem Schiff, die Griffe der Geländer klebten, selbst der Teller, auf dem Wilhelm sein Würstchen bekommen hatte, schien in Helenes Augen einen Schmutzrand vom Senfklecks des Vorgängers aufzuweisen. Mit Mühe hielt Helene sich zurück, Wilhelm darauf aufmerksam zu machen. Was nützte es? Ihm schmeckte die Wurst. Helene entschuldigte sich, sie wollte sich die Hände waschen. Das Schaukeln machte einen ganz krank, wenn man es nicht schon längst war. Helene hangelte sich von Geländer zu Geländer. Wie hatte sie nur ihre Handschuhe vergessen können? Ein Ausflug ohne Handschuhe war ein Abenteuer ganz besonderer Art. Womöglich hätte Wilhelm sich über sie lustig gemacht, warum sie im Mai Handschuhe trage, Handschuhe zur Hochzeit, wo sie schon auf das traditionelle Brautkleid verzichtet und ein in seinen Augen gewiss einfaches weißes Kostüm bevorzugt hatte, eigensinnig wie sie war. Doch die Tür zu der kleinen Kabine, hinter der Helene neben der Fallklappe einen Wasserbehälter zum Waschen der Hände erhofft hatte, trug das Schild defekt, so dass Helene unverrichteter Dinge zurückkehren musste. Auf dem Schiff wurden schon Vorkehrungen für das Anlegen getroffen, Taue wurden ausgeworfen, Männer riefen anderen Männern zu, der Dampfer wurde von zwei kräftigen Schiffsjungen an den Pier gezogen. Helene spürte ein Kratzen im Hals.
Meine Frau, fahren wir zum Essen und dann heim? Wilhelm ergriff beim Aussteigen ihre Hand. Seine Worte klangen wie die Einleitung zu einem Theaterstück, dazu verbeugte er sich vor ihr. Sie wusste warum. Er hatte sich vom Standesamt am Morgen über einen kleinen Ausflug in seinem neuen Automobil, mit dem er sie nach Braunsfelde gefahren hatte und ihr eine Baugrube in der Elsäßer Straße zeigte, die bald das Fundament ihres Hauses bergen sollte, bis zum Picknick am Mittag und nun die ganze Hafenrundfahrt hinweg ordentlich in Geduld geübt. Helene setzte sich in das Automobil, band das neue Kopftuch um, obgleich es ein überdachtes Automobil war, und hielt sich am Türgriff fest. Wilhelm zündete den Motor.
Du musst nicht immer den Türgriff festhalten.
Ich möchte aber.
Die Tür könnte sich öffnen, Schätzchen. Lass sie los.
Helene gehorchte, sie vermutete, dass weiterer Widerspruch ihn unnötig reizen würde.
Wilhelm hatte im Gasthof am Fuß des Schlosses einen Tisch bestellt, doch schon nach den ersten Bissen vom Eisbein sagte er, das reiche. Wenn sie nichts mehr wolle, wolle er die Rechnung verlangen. Er verlangte die Rechnung und fuhr seine Braut nach Hause.
Sie hatte am Morgen das Bett bezogen, das Ehebett, das er vor einer Woche hatte kommen lassen.
Wilhelm sagte, sie solle nur in ihre Kammer gehen und sich dort umziehen. Sie ging in ihre Kammer und zog sich um. Sie trug ein weißes Nachthemd, das sie in den letzten Wochen mit kleinen Röschen und schlanken Blattranken verziert hatte, Röschen und Blattranken in Stichen, die ihr das Mariechen einst beigebracht hatte. Als sie zurückkam, hatte er das Licht im Zimmer gelöscht. Ein starker Hauch kölnisch Wasser wehte ihr entgegen. Es war finster im Schlafzimmer. Helene tastete sich vorwärts.
Hier bin ich, sagte er und lachte. Seine Hand griff nach ihr. Du brauchst keine Angst haben, mein Schätzchen, sagte er und zog sie zu sich auf das Bett. Es tut nicht weh. Er knöpfte ihr Nachthemd auf, er wollte ihre Brüste fühlen, er tastete eine Weile, blind hoch, blind runter, blind seitlich, bis zum Rücken und wieder zurück, als würde er nicht fündig, dann nahm er seine Hände von ihrer Brust und umfasste ihren Hintern. Da ist ja was, sagte er. Er lachte über seinen Witz und sie spürte seine raue Hand zwischen ihren Beinen. Dann bemerkte sie ein gleichmäßiges Rütteln, ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, er atmete nur flach und fast ohne jedes Geräusch, das Rütteln wurde heftiger, offenbar bearbeitete er sein Geschlecht, vielleicht war es nicht steif genug oder er zog es vor, ohne Helene Erleichterung zu finden. Helene spürte, wie seine Hand wieder und wieder gegen ihren Schenkel stieß, sie streckte ihre Hand aus und berührte ihn.
Schön, sagte er, schön. Er sagte es ins Dunkel, noch immer atmete er fast geräuschlos, und Helene erschrak, meinte er sich oder sie? Helene suchte mit ihrer Hand seine, sie wollte ihm helfen, sein Geschlecht war hart, heiß das Gemächt. Ihre Nase an seiner Brust, das war kein Ort zum Verweilen, das kölnisch Wasser ätzte ihre Nasenschleimhäute, wie konnte man nur die Nase verschließen, durch den Mund atmen, durch den Mund, ihr Mund an seinem Bauch, die paar Haare im Mund sollten nicht stören, Helene neigte ihren Kopf, weiter unten konnte es nur besser werden, sie suchte ihn mit ihren Lippen. Er roch nach Urin und schmeckte salzig und sauer und schon ein wenig bitter, sie würgte, aber er sagte wieder schön und schön und das musst du nicht, mein Mädchen, aber sie saugte schon an seinem Geschlecht, dass es schmatzte, sie lutschte, sie gab ihm ihre Zunge, er zog sie an den Schultern zu sich hinauf, vielleicht war ihm ihr Saugen unangenehm. Alice? Ein Zweifel klang in ihrem Namen, als wäre er unsicher, wen er bei sich hatte. Sie suchte seinen Mund, sie kniete sich über ihn. Alice. Empörung schien ihn zu erfassen. Er packte ihre Schultern, warf sie unter sich und drückte mit zitternder Hand, jetzt so laut keuchend, als habe er die Beherrschung verloren, sein Geschlecht zwischen ihre Beine.
So geht das, behauptete er und fuhr in sie. Schön, sagte er noch, und wieder, schön.
Helene wollte sich aufrichten, aber er presste sie auf die Matratze, er kniete, wohl, um sich selbst zu sehen, wie er in sie fuhr, ein und aus, eine Hand auf ihre Schulter gestützt, fest, sie konnte sich nicht drehen, und plötzlich seufzte er hoch und ließ sich erschöpft auf sie sinken. Sein Körper war schwer.
Helene spürte das Glühen in ihrem Gesicht. Jetzt war sie froh, dass Wilhelm das Licht gelöscht hatte. Wilhelm fand es albern, wenn Menschen weinten. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig, Helene ertappte sich beim Zählen, sie zählte seine Atemzüge und um sich davon abzubringen zählte sie seinen Herzschlag, der auf ihrem lag.
Da staunst du. Er strich ihr das Haar aus der Stirn. Was sagst du jetzt?
Seine Stimme war sanft und stolz, er fragte sie, als erwarte er eine ganz bestimmte und ganz besondere Antwort.
Du gefällst mir, sagte Helene. Sie war überrascht, wie sie auf diese Worte gekommen war. Aber es stimmte, sie meinte es allgemein und trotz der letzten Stunde. Es gefiel ihr, wie unverdrossen er an sich glaubte. Dennoch konnte Helene nicht anders als an Carl denken, an seine Hände, die mit ihren zu einem gemeinsamen Körper geworden waren, manchmal einem mit zwei Köpfen, manchmal einem ohne jeden Kopf, seine sanften Lippen und das etwas kleinere, fast spitze Geschlecht, das ihrem Denken und ihren Bewegungen eingeschrieben war.
Und jetzt zeige ich dir, wie es noch geht. Wilhelm sagte es mit der Stimme eines Lehrers. Er wälzte sich auf den Rücken, griff Helene an den Hüften und zog sie auf sich. Hier, so. Er bewegte sie. Etwas schneller, genau.
Das viele Reden störte Helene. Es kostete Mühe, ihm immer wieder zuzuhören, zu hören, was er sagte, und es dann wieder zu vergessen, sich selbst zu vergessen, sich so zu vergessen, dass einem Hören und Sehen verging.
Dort. Pass auf. Jetzt nimm deine Hand, hier, halt mich fest.
Helene musste lächeln, erschöpft. Es war ein Glück, dass er sie nicht sah. Er stieß zu und redete dabei, kurze Worte, anleitende. Sie wollte ihm nicht widersprechen, ihn nicht herausfordern. Er kniff sie in die Hüften, er suchte Halt, um sie auf sich zu bewegen.
So ist es schön.
Helene ließ sich eine Zeitlang von ihm bewegen. Je weniger sie selbst wollte, desto besser schien es ihm zu gefallen. Eine Marionette, dachte Helene, es gefiel ihr nicht und sie wusste nicht, wie sie ihm die Fäden aus der Hand nehmen sollte. Plötzlich bäumte sie ihren Po auf, von ihm weg.
Pass auf, rief er, er seufzte. So kurz vorher, klagte er.
Helene nahm seine Hände und wollte sie festhalten, aber er machte sich los, warf sie von sich ab, unterwarf sie sich und machte sich erneut über sie her. Wie ein Hammer einen Nagel in die Wand trieb er sein Geschlecht Schlag um Schlag gleichförmig in sie. Kein weiteres Geräusch, nur sein Hammer, die Decke und die Matratze. Ein hohes Fiepen, dann rollte er ab. Helene starrte in die Dunkelheit.
Auf dem Rücken lag er und schmatzte wohlig. Das ist die Liebe, Alice, sagte er.
Sie wusste keine Antwort. Unvermittelt wandte er sich ihr zu, küsste sie auf die Nase und drehte ihr den Rücken zu. Du entschuldigst mich, sagte er, als er die Decke über sich zog, ich kann nicht schlafen, wenn ich den Atem einer Frau in meinem Gesicht habe.
Helene konnte lange nicht einschlafen, es interessierte sie nicht, welche Frauen ihm wann und wo ins Gesicht geatmet hatten, sein Samen lief als Bächlein aus ihr und klebte zwischen ihren Beinen, und dann war es, als hätte sie nur zwei Minuten geschlafen, als sie seine Hände erneut an ihren Hüften spürte.
So ist es gut, ja. Sagte er und drehte sie auf den Bauch. Er kniete hinter ihr, zog sie zu sich heran und stieß in sie.
Es brannte. Er stemmte ihr seine große Hand in den Rücken, dass es weh tat, er drückte sie vor sich auf die Matratze. Ja, beweg dich nur, du entkommst mir nicht.
Helene trat mit aller Kraft gegen seine Knie, dass er aufschrie.
Was soll das? Er nahm sie bei den Schultern, sie kamen zur Ruhe. Gefällt es dir nicht?
Soll ich dir zeigen, wie es mir gefällt? Sie fragte es aus Notwehr, ihr war keine Antwort eingefallen, sie hatte ihn nicht kränken wollen, aber er stimmte zu. Ja, zeig es mir. Sie näherte sich ihm, seinem großen Körper, er kniete auf der Matratze, saß auf den Fersen, das Geschlecht lag ihm schwer und schlaff auf den kräftigen Schenkeln. Soll ich mich etwa hinlegen? Da war ein gewisser Hohn in seiner Stimme, vielleicht war er nur un sicher.
Helene sagte ja, ja, leg dich hin. Sie beugte sich über ihn, sie schnupperte seinen Schweiß, jenseits von Brust und kölnisch Wasser, Schweiß, der etwas fremd roch. Sie nahm das Laken und trocknete seine Brust und seine Stirn, seine Schenkel, erst außen, dann innen. Er lag auf dem Rücken, der Körper steif, als fürchte er sich.
Mit der Zunge leckte sie seine Haut, bis er lachte.
Er bat sie, aufzuhören, es kitzele. So geht das nicht, sagte er.
Sie nahm seine Hände, legte sie auf ihre flache Brust, wo sie unschlüssig liegen blieben, nicht wussten, was sie tun sollten, Helene legte sich auf ihn und bewegte sich, sie presste ihren Körper an seinen, sie tastete mit ihren Lippen nach seiner Haut, ihre Zähne berührten ihn, weiche Fingerkuppen und Nägel, sie rieb ihre Scham und nutzte seine aufkommende Erregung, um sich auf ihn zu setzen. Sie ritt ihn, sie beugte sich vornüber, um ihm näher zu sein, sie lehnte sich nach hinten, um die Luft zu spüren, sie lauschte seinem Atem, seiner Lust und empfand selbst welche.
Was machst du nur mit mir? Wilhelms Frage klang erstaunt, fast misstrauisch. Er wartete nicht auf ihre Antwort. Ein Tier bist du, ein richtiges Tier. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste ihre Stirn. Meine Frau, sagte er. Er sagte es zu sich, bekräftigend und vergewissernd. Meine Frau.
Ob er ihren Mund nicht mochte? Helene fragte sich, warum er sie nicht küsste, er mied ihren Mund. Er stand auf und ging hinaus. Helene hörte das Wasser rauschen, offenbar wusch er sich.
Als er zurückkam und sich schwer und zaghaft neben sie auf die Matratze legte, fragte er heiser: Darf ich das Licht anzünden?
Natürlich. Helene fröstelte angenehm, sie hatte sich die Decke bis unter das Kinn gezogen. Im Licht sah er zerknittert aus, die Schatten zeigten Falten, die Helene noch nicht an ihm kannte. Vermutlich sah auch er an ihr jetzt Furchen, kleine Dellen, Gräben, Krater, die ihm bislang unbekannt gewesen waren.
Ich muss dich etwas fragen. Er hatte die andere Decke über sich gezogen. Ernst blickte er sie an. Forschten seine Augen, hatte er Angst?
Es gibt Methoden, sagte sie, keine Sorge.
Methoden?
Um eine Schwangerschaft zu vermeiden, ergänzte sie.
Das meine ich nicht. Wilhelm war sichtlich verwirrt. Warum sollte ich eine Schwangerschaft vermeiden wollen? Oder du? Nein, ich muss dich etwas anderes fragen.
Was?
Ich war eben draußen und habe mich gewaschen.
Ja?
Nun, wie soll ich es sagen. Normalerweise hätte ich da, wäre da, also hatte ich gedacht, da müsste. Wie um sich selbst zu ermutigen, lüpfte er mit seinem Zeigefinger ihr Kinn. Du hast gar nicht geblutet.
Helene blickte in sein ratlos gespanntes Gesicht. Hatte er erwartet, dass sie ihre Menstruation hatte oder dass sie aus anderen Gründen hätte bluten müssen? Sie zog jetzt ihrerseits fragend eine Augenbraue hoch. Und?
Du weißt selbst, was das bedeutet, er sah sie jetzt verärgert an. Du bist Krankenschwester, tu also bitte nicht so naiv.
Ich habe nicht geblutet, nein. Hätte ich geblutet, wäre ich verletzt.
Ich dachte, du wärst noch Jungfrau. Die Schärfe in Wilhelms Stimme überraschte Helene.
Warum?
Warum? Willst du dich über mich lustig machen? Ich lasse dich seit drei Jahren in Ruhe, besorge dir einen Ahnenpass, verlobe mich, verdammt, warum ich das gedacht habe? Hör mal, woher sollte ich wissen, dass… Wilhelm schrie. Er hatte sich aufgesetzt und schlug mit der Faust vor Helene auf die Matratze, Helene wich unwillkürlich zurück. Sie sah jetzt, dass er sich eine Unterhose angezogen hatte, eine kurze, weiße, er saß da in seiner Unterhose und schlug erneut auf die Matratze. Zwischen Beinsaum und Schenkel erkannte sie sein Geschlecht, das dort wie unbeteiligt auf seinem Schenkel ruhte und nur leicht gehüpft war, als er auf die Matratze geschlagen hatte. Warum ich das gedacht habe, fragst du? Ich frage mich, warum ich das gemacht habe. Was für eine scheinheilige Schmiere, das Ganze hier, was für eine idiotische. Wieder rammte seine Faust die Matratze, hüpfte sein schlaffes Geschlecht in der Unterhose. Was ist, warum schreckst du zurück? Hast du etwa Angst? Er schüttelte den Kopf, seine Stimme wurde leiser und abfälliger. Deine Tränen sind doch ein einziges Theater, Mädel. Bitter schüttelte Wilhelm den Kopf, bitter schnaubte er durch die Nase, ein trockenes Schnauben, eines, das nichts als Verachtung war, mit Verachtung sah er sie an. Wieder schüttelte er den Kopf. Ich Dummkopf, er schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn, Ochse ich. Er zischte durch die Zähne. Was für ein Theater. Er schüttelte den Kopf, schnaubte trocken, schüttelte den Kopf.
Helene wollte verstehen, was ihn so wütend machte. Sie musste mutig sein. Warum…?
Das ist ungeheuer, weißt du das? Wilhelm fiel Helene ins Wort, keinen Satz sollte sie beginnen, keine noch so zaghafte Stimme erheben. Was willst du eigentlich von mir, Helene? Er brüllte sie an, er bellte.
War es das erste Mal, dass er sie Helene nannte? Ihr Name klang wie ein Fremdwort aus seinem Mund. Das Befremden, mit dem er Helene jetzt ansah, machte Helene einsam. Sie lag in seinem Ehebett, die Decke bis unter das Kinn, ihre Finger hatten sich unter der Decke zu kalten Krallen gekrümmt, Klauen, die sie nicht mehr öffnen konnte, selbst wenn sie wollte, sie musste die Decke festhalten, die sie barg, ihren Körper vor ihm verbarg; das leichte Brennen der Schamlippen war nicht schlimm, in seinem Ehebett lag sie, das er sich für die Ehe mit einer Jungfrau gekauft hatte, in dem er einer Jungfrau die Liebe beibringen wollte. Was hatte er gedacht, wer sie war? Welches Missverständnis hatte sie miteinander in dieses Bett gebracht?
Wilhelm stand auf. Er nahm seine Decke, legte sie sich um die Schulter und verließ das Zimmer. Er schloss die Tür hinter sich; sie sollte bleiben, zurück. Helene suchte nach sinnvollen Gedanken. Die kamen ihr nicht gerade leicht. Frau Alice Sehmisch, sagte sie in die Dunkelheit und zu sich selbst. Ihre Füße waren so kalt wie ihre Krallen, Klauen und Krallen, kalt im Mai.
Als alles still war, schlich sich Helene in die Küche, sie wusch ihre Hände, setzte Wasser auf und mischte in der Emailleschüssel das heiße mit dem kalten, ein Schuss Essig, sie hockte sich über die Schüssel und wusch sich. Ein wenig Seife sollte nicht schaden, vielleicht etwas Jod? Mit der hohlen Hand schöpfte sie das Wasser und tastete nach ihren Lippen, ihrer Öffnung, den zarten und glatten Falten, spülte sich aus, spülte seins aus sich heraus. Weiches Wasser, hartes Wasser. Sie wusch sich lange, bis das Wasser kalt war, dann wusch sie am Ausguss ihre Hände.
Zurück im Bett blieben die Füße kalt. Sie konnte ohnehin nicht schlafen, sie stand gerne auf und bereitete das Frühstück vor. Sie hatte Eier gekauft, Wilhelm mochte Eier, sie durften nur nicht zu weich sein. Ob er mit ihr sprechen würde? Was würde er sagen?
Die erste halbe Stunde, in der Wilhelm aufgestanden war, sich gewaschen, rasiert und gekämmt hatte, sah es aus, als würde er nicht mehr mit ihr sprechen, vielleicht nie mehr. Helene überlegte, welche Zettel sie ihm in Zukunft schreiben würde und er ihr. Sie konnten die Gebärdensprache üben. Er würde ihr Zettel schreiben, auf denen stand, was sie für ihn erledigen sollte und welches Abendessen er sich wünschte. Sie würde ihm schreiben, warum sie keinen Aal bekommen hatte und dass die Fischfrau ihre Schollen heute im Angebot hatte. Helene konnte gut schweigen, er würde schon sehen.
Wilhelm hatte sich an den Tisch gesetzt und einen Schluck Kaffee probiert. Ist das Bohnenkaffee? Das sagte er plötzlich und sie nickte. Sie wusste, dass er kaum etwas so sehr wie Bohnenkaffee schätzte. Bohnenkaffee kam unmittelbar nach den Automobilen, gewiss noch vor den Funkmasten der Schiffe, nur mit dem Rang der Ruderer und Skispringer war sie sich etwas unsicher.
Zur Feier des Tages, dachte ich. Der erste Morgen in der Ehe.
Guter Gedanke, sagte er, nickte mit gespielter Anerkennung und musste lächeln. Er lächelte für sich, er hob den Blick nicht zu ihr.
Riecht es nach geröstetem Brot, oder täusche ich mich?
Du täuschst dich nicht, sagte Helene, setzte einen Schritt zur Seite, öffnete die Klappe des Rösters und reichte ihm das schwarzbraune Brot.
Vielleicht setzt du dich?
Helene gehorchte, sie zog ihren Stuhl zurück und setzte sich ihm gegenüber.
Da hab ich mir was eingefangen, stellte Wilhelm fest. Die Katze im Sack. Er schüttelte den Kopf. Keinen Begriff von Ehre. Und dafür habe ich mir die Hände schmutzig gemacht, Papiere gefälscht, dir eine verfluchte Identität besorgt. Wilhelm schüttelte den Kopf und biss in das geröstete Brot.
Helene ahnte jetzt, welche Schmach er empfinden musste.
Wir versuchen es trotzdem. Helene sagte den Satz, in der Hoffnung, dass ihm das Jungfräuliche bald lächerlich erschien.
Wilhelm nickte. Hörner aufsetzen lasse ich mir nicht, damit das klar ist. Er hielt ihr die Tasse entgegen, damit sie ihm Milch eingoss.
Wilhelm hatte ihr die Papiere besorgt, er hatte sich strafbar gemacht, sie konnten jetzt einander fürchten, jeder konnte den anderen auffliegen lassen. Zum ersten Mal begriff Helene, was sie beide grundsätzlich unterschied. Er gehörte zur Gesellschaft, er war wer, er hatte sich etwas aufgebaut. Wilhelm hatte etwas zu verlieren, sein Ansehen, seine Ehre, zu der gewiss die Ehrbarkeit seiner Frau zählte, seinen Glauben, seine Vereinbarungen mit einem Volk, einer deutschen Nation, zu der sein Blut gehörte und der er mit seinem Blut dienen wollte.
Wir könnten heute hinausfahren nach Swinemünde, Helene begann den Satz aus lauter Schreck, weil sie fürchtete, dass Wilhelm sonst erkennen könnte, welche Gedanken sich in ihr ausbreiteten, wie Entsetzen sie erfasste und Scham und nichts.
Tu mir einen Gefallen, Alice, schone mich heute. Ich weiß, du liebst das Meer, den Hafen. Sag bloß, die Rundfahrt gestern genügte nicht.
Die Nacht war nicht leicht, sagte Helene. Sie wollte Verständnis zeigen.
Vergessen. Die Nacht ist vergessen, hörst du? Wilhelm kämpfte um eine feste Stimme und Helene entdeckte Tränen in seinen Augen. Es tat ihr leid. Ich wusste nicht, dass…
Was? Was wusstest du nicht?
Helene konnte es ihm nicht sagen. Sie schämte sich für ihre Unbesonnenheit. Keinen Augenblick war ihr der Gedanke gekommen, dass seine Liebe auf ihre Unschuld bauen könnte.
Ich war schon mit Frauen zusammen. Aber die Ehe ist, Wilhelm schüttelte den Kopf ohne Helene anzusehen, ist etwas anderes. Wilhelm biss sich auf die Lippe, er ahnte wohl, dass sich darüber nachträglich kein Konsens mehr finden ließ. Es gab heute Nacht Augenblicke, da warst du wie ein Tier, eine wilde Katze.
Die Träne löste sich aus seinem Auge. Aus dem Auge eines Mannes, den Helene noch nie weinen gesehen hatte.
Sie hätte ihn umarmen wollen, aber welchen Trost hatte sie?
So warst du wohl schon mit vielen? Jetzt blickte Wilhelm sie abfällig an, sie konnte seinen Blick nur schwer ertragen, sein Blick wurde weicher, ein Flehen sprach aus seinen Augen, er wollte offensichtlich, dass sie ihm sagte, er sei einzigartig, was für ein großartiger Liebhaber, nicht einer, der, der einzige.
Helene streckte ihre Finger, krümmte sie, streckte sie, es knackte unhörbar. Sie wollte ihre Hände waschen. Was machte es schon aus, ein bisschen lügen? Sie sah ihn über den Tisch hinweg an, noch hatte sie Zeit. Es war einfach. Er würde es nicht merken. Sie schüttelte den Kopf und schlug die Augen nieder. Als sie die Augen vorsichtig öffnete, sah sie, dass er ihr glauben wollte.
Wilhelm stand auf, er trug das Hemd, das sie heute morgen frisch gebügelt hatte. Er sah aus, als müsse er zur Arbeit gehen. Er berührte ihre Schulter, dankbar und zugleich wütend. Tief atmete er ein und aus, dann klopfte er ihren Rücken. Mein Mädel. Er sah auf die Uhr. Ich muss nachher nochmal raus zur Baustelle, die Arbeiter machen am Wochenende alle schlapp. Es ist eine geheime Besprechung vorgesehen, wenn du im Wagen wartest, darfst du mit.
Helene nickte, Wilhelm griff ihr Handgelenk. Aber zuerst gehen wir ins Bett. Ein feiner Triumph stand in seinem Gesicht. War das der Kränkung entsprungene Willkür in seinen Augen, Trotz und Lust? Und hatte ein Mann nicht ein Recht auf seine Frau? Er schob sie vor sich her ins Schlafzimmer, zog die Vorhänge zu, öffnete mit einer Hand seine Hose und griff mit der anderen nach ihrem Rock. Heb den Rock hoch, sagte er.
Helene hob ihren Rock, was nicht einfach war. Sie hatte sich den Rock erst vor einigen Wochen nach einem Muster aus Mode und Wäsche genäht, er wurde nach unten hin schmaler und hatte nur einen kurzen Schlitz, sie hatte einen schönen Stoff gefunden, cremefarbene Baumwolle mit blauen Blüten bedruckt, es war ein gewagter Rock, der schlank zwischen Wade und Knöchel endete. Wilhelm wurde ungeduldig, er atmete tief durch. Gleich würde sie es geschafft haben und der Rock hoch genug sein. Sie musste daran denken, dass die Wäsche zu lange in der Lauge lag, dass sie für das Mittagessen noch den Fisch ausnehmen und bald die Suppe aufsetzen musste, wenn sie am Abend Bohneneintopf haben wollten, dass sie kein Bohnenkraut bekommen hatte. Wilhelm sagte ihr, sie solle sich auf das Bett knien.
Mit dem 27. September kam der große Tag. Es war der Tag, dem nicht nur Wilhelm entgegenfieberte wie keinem sonst, es war der Tag, auf den ganz Deutschland wartete.
Schon am Morgen, Helene hatte sich gerade angezogen, fiel Wilhelms Blick auf ihren Hintern. Er umfasste ihre Hüfte und fuhr mit der Zunge über ihren Mund. Du bist die erste Frau, die ich gerne küsse, weißt du das? Helene lächelte unsicher, sie griff nach ihrer Handtasche. Wilhelm mochte es von Tag zu Tag mehr, sie unsicher zu sehen. Da sie seine entstandene Vorliebe kannte, gab sie sich hin und wieder unsicher. Nichts leichter als das. Zeig mir deine Strumpfbänder, trägst du die mit den kleinen Ankern? Wilhelm tastete durch den festen Wollstoff nach ihrem Strumpfhalter.
Wir müssen los, Wilhelm.
Keine Sorge, ich habe die Uhr im Auge. Er sagte es sanft, er bewegte sich weich. Besonders vor einem Aufbruch und ganz besonders an einem großen Tag wie diesem wollte Wilhelm sein Heim nicht verlassen, ehe er sich ihrer nicht wenigstens kurz bemächtigt hätte. Er nahm ihren Rock, schob ihn nach oben, zog ihr Höschen soweit es ging hinunter; sie kam seinem Wunsch nicht nach, das Höschen über dem Strumpfband zu tragen. Helene spürte, wie er in sie eindrang, und während er mit kurzen schnellen Stößen in sie trieb, musste sie daran denken, dass Carl sie bis zuletzt entkleidet hatte. Er hatte ihre Brüste liebkost, ihre Arme, ihre Finger. Wilhelm genügte es nach der ersten Nacht, ihren Rock zu heben.
Wilhelm hatte keine Minute lang in sie gestoßen, da schob er Helene, die noch ihre Handtasche über dem Handgelenk trug, gegen den Tisch. Kurz hielt er inne, dann klopfte er ihr auf den Hintern. Offenbar war er fertig. Sie wusste nicht, ob er gekommen war oder ihn die Lust verlassen hatte.
Wir können, sagte Wilhelm. Er hatte seine zu Boden gerutschte Hose wieder nach oben gezogen und den Gürtel geschlossen. Wilhelm betrachtete sich im Spiegel. Er öffnete sein Hemd und verteilte großzügig kölnisch Wasser auf seiner Brust.
Helene wollte sich waschen, aber Wilhelm sagte, dafür sei jetzt leider keine Zeit. Ihr ständiges Waschen mache ihn verrückt. Er nahm seinen Mantel und zog ihn an. Im Spiegel prüfte er sein Aussehen mit Mantel. Aus der Innentasche holte er den kleinen Kamm und fuhr sich durch das Haar.
Meinst du, das geht?
Natürlich, sagte Helene, du siehst gut aus. Sie hatte sich ihren Mantel übergezogen und wartete.
Was ist das hier hinten? Wilhelm verrenkte den Hals, um sich besser von hinten sehen zu können.
Was bitte?
Na, das? Siehst du diese seltsame Falte? Und überhaupt, der Mantel ist voller Fusseln. Würdest du bitte?
Natürlich, sagte Helene, sie nahm die Bürste aus der Konsole und bürstete Wilhelms Mantel.
Hier an den Armen auch. Nicht so doll, Kind, das ist ein feiner Stoff.
Endlich konnten sie aufbrechen. Helenes Unterhose war nass, Wilhelm floss aus ihr, während er etwa drei Meter voraus zum Wagen lief. Vielleicht war es auch schon etwas Blut, seit drei Monaten blutete sie wieder, und es musste morgen soweit sein, vielleicht schon heute.
Die Eröffnung der Reichsautobahn war ein nicht enden wollender Festakt mit Reden und Belobigungen, Schwüren auf die Zukunft, Deutschland und seinen Führer. Heil. Helene glaubte, dass jeder um sie herum sich wundern müsste, wie stark sie nach Samen roch, nach Wilhelms Samen. Es gab Tage, da empfand sie den Geruch seines Samens wie eine Marke an sich. Offenbar nahm Wilhelm den Geruch nicht wahr. Er streckte den Arm und stand mit ausgebreitetem Kreuz stundenlang bewegungslos neben ihr. An diesem Tag wurde seine bislang größte Arbeit der Öffentlichkeit übergeben. Es wurde all den Arbeitern gedankt, auch denen, die ihr Leben riskiert, und denen, die es gelassen hatten. Wobei sie es gelassen hatten, wurde nicht gesagt. Vielleicht war mal einer von einer Brücke gefallen, ein anderer unter eine Walze gekommen. Helene malte sich die möglichen Todesarten aus. In jedem Fall war es ein Heldentod, wie der ganze Bau heldenhaft war. Ein Verweis auf die gesunkenen Arbeitslosenzahlen sollte der Behauptung Nachdruck verleihen, dass unter anderem durch den Bau dieser und folgender Autobahnen die Arbeitslosigkeit in Deutschland ruhmreich bekämpft werde. Als Wilhelm vortreten und ihm die Ehrung überreicht werden sollte, blickte er sich nicht mehr zu Helene um, vermutlich hinderten ihn die vielen Schulterschläge seiner Kollegen. Wilhelm schüttelte Hände, reckte den Arm gen Himmel und blickte mit einem gewissen Stolz in die Runde, seine Aufregung schien so groß, dass er das Lächeln vergaß. Vielleicht erschien ihm Ort und Gelegenheit auch zu heilig, um ein Lächeln zu wagen. Er dankte mit fester Stimme, er dankte jedem, vom deutschen Vaterland bis hin zur Sekretärin des ersten deutschen Automobilclubs für Damen. Heil, Heil, Heil, jedem sein Heil, ein Heil, das Heil. Im Gegensatz zu den sechs Herren, die vor ihm geehrt und ausgezeichnet worden waren, hatte Wilhelm nicht die winzige Lücke erspäht und genutzt, seiner Frau zu danken. Vielleicht lag es daran, dass sie keine Kinder hatten, schließlich konnten die Vorredner ihren Familien danken, für ihre besondere Unterstützung in der vergangenen Zeit.
Ehe die geladenen Ehrengäste nach dem gemeinsamen Mittagsbankett zur Rundfahrt im Konvoi aufbrachen, verabschiedete sich Helene, wie die meisten Gattinnen. Schließlich musste sie das Abendessen vorbereiten und die Wäsche waschen. Wilhelm sagte beim Abschied zu ihr, er käme hoffentlich vor sechs Uhr nach Hause, aber wenn er nicht rechtzeitig zum Abendessen da sei, möge sie nicht auf ihn warten. An einem solchen Tag könne es mal spät werden.
Helene wartete trotzdem. Sie hatte Graupensuppe mit Möhrchen und Speck, Wilhelms Leib- und Magenspeise, eigens für diesen Tag gekocht. Die Kartoffeln wurden kalt, frische Leber und Zwiebeln lagen bratfertig neben dem Herd. Da Helene Graupen und Leber hasste, sie schlechterdings weder essen noch hinunterwürgen konnte, erschien es ihr unsinnig, die Suppe später am Abend noch einmal aufzuwärmen. Helene schrieb zwei Briefe nach Berlin, einen an Martha alias Elsa und einen an Leontine, sie wollte wissen, warum Martha sich nicht meldete. Einen dritten Brief schrieb Helene nach Bautzen, der Brief würde den Stettiner Poststempel tragen, aber als Absender vermerkte sie lediglich ihren Vornamen: Helene, das schrieb sie in einer krakeligen Kinderschrift, damit der Postbeamte annehmen konnte, es handele sich um den herzigen Gruß eines kleinen Mädchens, und keinen Verdacht schöpfte. Sie hatte ihrer Mutter und dem Mariechen noch nicht mitgeteilt, dass sie einen neuen Namen angenommen und geheiratet hatte. Gemeinsam mit Martha und Leontine waren sie übereingekommen, dass eine solche Nachricht die Mutter nur unnötig beunruhigen konnte. Also schrieb Helene, dass es ihr gut gehe und sie aus beruflichen Gründen nach Stettin gefahren sei, um sich hier eine Anstellung zu suchen, die sie in Berlin derzeit nicht finden könne. Sie erkundigte sich nach dem Wohlergehen der Mutter und bat darum, die Antwortbriefe wie gehabt an Fannys Adresse zu senden. Helene öffnete Wilhelms Sekretär und nahm die Kassette mit dem Geld heraus. Sie wusste, dass Wilhelm es nicht gerne hatte, wenn sie allein an sein Geld ging. Aber nachdem sie ihn vor drei Monaten einmal um Geld für ihre Mutter gebeten und Wilhelm sie verständnislos angesehen hatte, schließlich kenne er diese Leute nicht und würde nicht davon ausgehen, dass Helene diese Leute noch als Verwandtschaft bezeichnen wolle, wusste sie, dass er ihr kein Geld für die Mutter geben würde. Es mochte mangelnde Verwaltung und mögliche Enteignung sein, die genauen Gründe kannte Helene nicht, weshalb zuletzt aus Breslau keine Mieten mehr nach Berlin gekommen waren. Zuletzt hatte Martha einmal gesagt, sie könne der Mutter nur noch alle drei Monate Geld schicken, es lange hinten und vorne nicht. Das Mariechen hatte in einem Brief nach Berlin um Naturalien gebeten, Kernseife bräuchte sie und Lebensmittel, auch getrocknete wären ihr lieb, Erbsen, Früchte, Hafer und Kaffee, von Stoffen für Kleider ganz zu schweigen. Helene nahm einen Zehner aus der Schachtel, sie zögerte, ein zweiter Zehner lag dort verlockend über einem dritten. Aber Wilhelm zählte sein Geld. Auch für diesen Zehner würde sie sich eine glaubhafte Geschichte einfallen lassen müssen. Die einfachste Lüge war, sie hätte das Geld für das Einkaufen, das er ihr am Vorabend abgezählt gegeben hatte, verloren. Aber Helene hatte schon einmal behauptet, sie habe Geld verloren. Sie nahm den Zehner, steckte ihn in das Kuvert nach Bautzen und klebte den Umschlag zu. Ob und wo genau das Geld ankommen würde, war eine andere Frage, Helene wusste nicht einmal etwas über den Verbleib ihres letzten Briefes.
Helene nähte, bügelte und steifte Wilhelms Kragen, ehe sie kurz vor Mitternacht zu Bett ging. Wilhelm kam nach vier Uhr morgens. Ohne das Licht anzuzünden ließ er sich in voller Montur auf das Bett neben Helene fallen und schnarchte friedlich. Helene unterschied sein Schnarchen, es gab das heisere, leichte Schnarchen des unbekümmerten Wilhelm, es gab das trotzige Schnarchen des schwerarbeitenden und noch nicht ganz auf seine Kosten gelangten Wilhelm, jedes Schnarchen war ein besonderes und verriet Helene, welcher Stimmung Wilhelm war. Helene ließ ihn schnarchen, sie dachte an ihre Schwester und sorgte sich ein wenig, schließlich konnte es sein, dass es Martha gesundheitlich nicht gut ging, vielleicht war Martha und Leontine etwas zugestoßen und niemand verständigte Helene darüber, weil man von öffentlicher Seite gar nicht wuss te, dass es eine Schwester gab, geschweige denn unter welchem Namen.
Nach einer Stunde wurde Wilhelms Schnarchen unruhig, plötzlich verstummte es und er stand auf, er trottete hinaus und ging auf die halbe Treppe. Als er zurückkam, lauschte Helene mit dem Rücken zu ihm auf das Einsetzen des Schnarchens. Doch das Schnarchen sollte nicht beginnen. Stattdessen spürte sie plötzlich Wilhelms Hand auf ihrer Hüfte. Helene drehte sich zu ihm um, ein Dunst von Bier und Schnaps und süßem Parfüm schlug ihr entgegen. Sie hatte ihn schon zuvor gerochen, aber nicht so stark.
Was für ein großer Tag für dich, du musst erleichtert sein. Helene legte ihre Hand in Wilhelms Nacken, das frisch rasierte Haar fühlte sich sonderbar an.
Pff, erleichtert. Jetzt geht es erst richtig los, Kindchen, jetzt fängts an. Wilhelm konnte die Worte nicht mehr deutlich artikulieren, er schob seine Hand zwischen Helenes Beine, drückte seine Finger in ihre Schamlippen. Komm, sagte er, als sie seine Hand wegschieben wollte. Komm, du kleines Tier, du süßes Fötzlein, komm. Er drückte Helenes Arme zur Seite und wendete ihren Körper. Sie sträubte sich, das reizte ihn, vielleicht glaubte er, sie sträubte sich für ihn, um ihn zu locken, wild zu machen. Was für ein Arsch, sagte er. Helene zuckte zusammen.
Jede gottverdammte Frau, hatte er einmal gesagt, glaube, in das Herz der Menschen schauen zu können, dabei könne er in ihre Scham sehen, er könne tief in ihr Geschlecht blicken, den wohl tiefsten Schlund ihres Körpers, den saftigsten, ein Schlund, der ihm allein gehöre, ein Schlund, wie sie selbst ihn wohl nie sehen könne — so unmittelbar, so geradewegs. Vorhin erst mochte Wilhelm mit den Kollegen bei einer Hure gewesen sein, Helene hatte das blumige Parfüm gerochen. Selbst ein Spiegel erlaubte den Blick nur über Bande. Eine Frau würde nie Herrin des Blickes sein können. Möge sie nur Herzen schauen, so viele sie wollte.
Zum Abschluss klopfte Wilhelm Helene auf das Hinterteil. Das war gut, seufzte er, sehr gut. Er ließ sich auf die Matratze sinken und rollte sich zur Seite, nachher fahren wir nach Braunsfelde, murmelte er.
Wir könnten auch ans Meer, schlug Helene vor.
Meer, Meer, Meer. Immer willst du ans Meer. Da blll, blll, Wilhelm musste lachen, bllläst ein kalter Wind.
Es ist doch noch fast Sommer, gestern waren bestimmt zwanzig Grad.
De, de, de, de, de. Wilhelm lag in der Mitte des Bettes, den Rücken Helene zugewandt, und schmatzte. Meine Frau, die Ilsebill. Ich sollte dich Ilsebill nennen. Du weißt alles besser, was? Aber das macht nichts. Wir fahren nach Braunsfelde.
Ist das Haus fertig?
Das Haus ist fertig, ja. Aber wir nehmen es nicht.
Helene sagte nichts, vielleicht war das einer der Späße, die sie nicht immer gleich verstand.
Da staunst du. Wir fahren nach Braunsfelde und treffen den Architekten und die Käufer. Wir unterzeichnen alles. Ich hab damit nichts mehr am Hut.
Du machst Scherze.
Vielleicht ist das doch ne Frage der Rasse, Kindchen, mit dem Scherzen. Wilhelm drehte sich jetzt zu ihr um. Wir verstehen uns nicht. Warum sollte ich hier ein Haus kaufen, wenn die neuen Aufträge noch nicht ausgehandelt sind?
Helene schluckte. Das Wort Rasse in Bezug auf sie und ihn, das hatte er noch nie so deutlich gesagt.
Für Pölitz sind bedeutende Neuerungen geplant, das wär schon was. Wilhelm schnarchte, unmittelbar nach dem letzten Wort setzte das Schnarchen ein. Helene war es ein Rätsel, wie ein Mensch mitten aus dem Satz heraus in den Schlaf fallen konnte.
Nach dem langen Winter litt Wilhelm unter seiner Haut. Sie hatten zu Abend gegessen, Helene hatte den Tisch abgeräumt und Wilhelm hatte sich mit dem Waschlappen gewaschen. Helene überlegte, wie sie das Gespräch beginnen könnte, ein Gespräch, das ihr wichtig war.
Ekelhaft, diese Unreinheiten, findest du nicht? Wilhelm stand vor dem Spiegel und blickte sich abwechselnd über die linke und die rechte Schulter. Es war nicht einfach für ihn, sich trotz diesem breiten Kreuz von hinten zu sehen. Mit der flachen Hand fuhr er über seine Haut, die Schultern, den Nacken. Hier hinten, eine richtige Beule, schau mal.
Helene schüttelte den Kopf, mir machen sie nichts. Sie stand am Ausguss und wusch in einer Schüssel das Geschirr.
Dir nicht, nein. Ein gequältes Lächeln entglitt Wilhelm. Dir ist es egal, wie ich aussehe. Wilhelm konnte den Blick von seinem Rücken nicht abwenden. Kann man das heilen?
Heilen? Du hast einen schönen, kräftigen Rücken, was willst du heilen? Helene schrubbte den Boden des Topfes, an dem schon seit Wochen die Soßen hakten und anbrannten. Pickel hat man oder hat sie nicht, sagte sie und spülte den Topf jetzt unter klarem Wasser ab.
Das sind ja schöne Aussichten. Wilhelm zog sich ein Unterhemd über, er neigte sich mit der Stirn dem Spiegel zu und betastete seine Haut.
Zink könnte helfen. Helene war unsicher, ob er ihren Ratschlag hören wollte. Sie musste an das andere denken, das, weshalb sie mit ihm sprechen wollte. Allein, wenn sie sich im Stillen den ersten Satz vorsagte, als Mitteilung, als Nachricht, als einfache Abfolge von Worten, spürte sie, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Die Pickel dagegen machten ihr tatsächlich nichts aus, sie hatten sie noch nie gestört. Ekel, das war etwas anderes. Als sie damals die Maden in der Wunde ihres Vaters gesehen hatte, war sie erstaunt. Wie sie sich im Fleisch krümmten und wanden. Vielleicht bildete sie sich die Erinnerung ein, ihr Gedächtnis war gut, nur keineswegs untrüglich. Aber Ekel? Helene dachte an das Erstaunen, das sie angesichts der Wunde ihres Vaters empfunden hatte. Die Versehrung eines Körpers. Die Juden als Gewürm, der Parasit bin ich, Helene dachte es nur, sie sagte es nicht. Körper und Volkskörper hielten keinem Vergleich stand. Vielleicht konnte sie Wilhelms Leid lindern.
Würdest du den Eiter ausdrücken? Wilhelm lächelte sie an, unsicher und vertraulich, wen konnte er sonst um diesen Gefallen bitten?
Natürlich, wenn du das möchtest. Helene zog die Augenbrauen hoch, sie reinigte die Pfanne. Aber das hilft nicht viel, die Haut wird verletzt, neue Pickel entstehen.
Wilhelm zog sich das Unterhemd wieder aus, stellte sich dicht vor sie und zeigte ihr seinen Rücken.
Helene hängte die Pfanne an ihren Haken, nahm ihre Schürze ab und wusch sich die Hände. Sie machte sich an die Arbeit.
Wilhelms Haut war dick, er hatte eine großporige, feste und sehr helle Haut.
Wilhelm zog die Luft zwischen den Zähnen ein, er musste Helene bitten, etwas vorsichtiger zu sein. Das reicht, sagte er plötzlich und drehte sich zu ihr um.
Helene sah zu, wie Wilhelm sich ein Kleidungsstück nach dem anderen anzog und schließlich seine Schuhe holte, mit genauem Blick prüfte er, ob sie gut geputzt waren, und zog sie an. Offenbar wollte er noch rausgehen. Es war schon spät.
Wir bekommen ein Kind.
Helene hatte sich fest vorgenommen, es Wilhelm an diesem Abend zu sagen. Etwas war schiefgegangen, ganz sicher hatte sie sich nicht verrechnet. Helene konnte sich erinnern. Es musste in der Nacht passiert sein, in der Wilhelm spät nach Hause gekommen war und sie aus dem Schlaf geholt hatte. Sie hatte gewusst, dass dieser Tag gefährlich war, sie hatte versucht, ihn von sich abzubringen, aber es war ihr nicht gelungen. Später hatte sie sich stundenlang gewaschen und eine Spülung mit Essig gemacht, aber offenbar hatte es nichts genutzt. Als ihre Periode ausblieb, hatte sie an einem Wochenende, als Wilhelm beruflich nach Berlin fuhr und sie unter keinen Umständen mitnehmen wollte, eine Flasche Rotwein gekauft und diese bis zum letzten Tropfen leer getrunken. Sie hatte ihre Stricknadeln genommen und gestochert. Irgendwann blutete sie und schlief ein. Aber es kam keine Periode mehr. Schon seit Wochen wusste sie es, sie hatte nach Auswegen gesucht. In Stettin kannte sie niemanden, aus Berlin kam seit Monaten kein Brief. Einmal wollte Helene bei Leontine anrufen. Es hatte niemand abgenommen. Als sie bei der Vermittlung Fannys Nummer verlangte, sagte ihr die Vermittlerin, dass diese Nummer nicht mehr vergeben sei. Vermutlich hatte Fanny ihre Rechnungen nicht bezahlen können. Es gab keinen Ausweg mehr, nur noch Gewissheit. Wilhelm schaute von seinen Schuhen auf.
Wir?
Helene nickte. Sie hatte damit gerechnet, zuerst gefürchtet, zuletzt vielleicht gehofft, dass Wilhelm sich auf die Brust klopfen würde, sie hatte geglaubt, er erwarte nichts sehnlicher als diesen Umstand.
Wilhelm stand auf, er nahm Helene bei den Schultern. Bist du dir sicher? Sein Mundwinkel zuckte, da war doch ein Stolz, da war der erste Anflug von Freude, ein Lächeln.
Ganz sicher.
Wilhelm strich Helene die Haare aus der Stirn. Er blickte dabei auf seine Armbanduhr. Womöglich war er verabredet und wartete jemand auf ihn. Das freut mich, sagte er. Aufrichtig. Wirklich sehr.
Wirklich sehr? Helene blickte zweifelnd zu Wilhelm hinauf, sie suchte seinen Blick. Wenn er vor ihr stand, musste sie den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen zu sehen, und auch dann war es nur möglich, wenn er bemerkte, dass sie ihn ansah und er zu ihr hinunterblickte. Er blickte nicht zu ihr hinunter.
Was soll die Frage? Passt dir etwas nicht?
Es klingt nicht so, als ob du dich freust.
Wilhelm warf einen zweiten Blick auf seine Armbanduhr. Deine Zweifel sind entsetzlich, Alice. Ständig erwartest du etwas anderes. Ich muss jetzt dringend zu einer Verabredung. Reden wir später weiter?
Später? Vielleicht war es eine der geheimen beruflichen Verabredungen, die Wilhelm in den letzten Wochen immer häufiger abends aus dem Haus befahlen.
Mein Gott, jetzt ist nicht der Augenblick. Wenn ich zu spät zu Hause bin, dann morgen.
Helene nickte, Wilhelm griff schon seinen Mantel und seinen Hut vom Haken.
Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, setzte sich Helene an den Tisch und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sie musste gähnen. Die vergangenen Monate hatten für sie aus Warten bestanden, sie hatte auf Post aus Berlin gewartet, sie hatte auf Wilhelm gewartet, dass er von seiner Arbeit zurückkam und sie Worte hören konnte, vielleicht nicht mit jemandem sprechen, aber immerhin Laute. Wenn sie ihn darum gebeten hatte, ihr die Bewerbung im Krankenhaus zu erlauben, hatte er jedes Mal abgelehnt. Die Worte, du bist meine Frau, die waren in seinen Augen Erklärung genug. Seine Frau musste nicht arbeiten, seine Frau sollte nicht arbeiten, er wollte nicht, dass seine Frau arbeitete. Schließlich hatte sie im Haus genug zu tun. Langweilst du dich etwa? Das hatte er manchmal zurückgefragt und ihr gesagt, dass sie auch die Fenster mal wieder putzen könne, schließlich wären die bestimmt schon Monate nicht geputzt worden. He lene putzte die Fenster, obwohl sie sie erst vor vier Wochen geputzt hatte. Sie rieb sie mit zusammengeknülltem Zeitungspapier ab, bis die Scheiben glänzten und ihre Hände trocken, rissig und grau von der Druckerschwärze waren. Die einzigen Menschen, mit denen sie tagsüber ein Wort wechselte, waren die Gemüsehändlerin, der Fleischer und manchmal die Fischhändlerin unten am Bollwerk. Der Krämer sprach mit Helene nicht, zumindest sagte er nicht mehr als den Preis. Ihre Begrüßung und ihr Abschied blieben unbeantwortet. Die meisten Tage vergingen, ohne dass Helene mehr als drei oder vier Sätze gesagt hatte. Wilhelm war am Abend nichts besonders gesprächig. War er zu Hause und ging nicht noch einmal hinaus, was in den letzten Wochen oft nur an ein, zwei Abenden in der Woche der Fall war, so antwortete er Helene einsilbig.
Helene saß am Tisch und rieb sich die Augen. Gewaltige Müdigkeit überkam sie. Sie musste noch die Hemden von Wilhelm waschen und die Bettwäsche mangeln. Im kühlen Vorratsschrank unter dem Fensterbrett lag der Suppenknochen. Eine kleine Luftblase in Helenes Bauch platzte. War es Luft? Sie hatte nichts Gärendes und Blähendes gegessen. Vielleicht war es das Kind. Sollte sich so eine Bewegung des Kindes anfühlen? Mein Kind, flüsterte Helene. Sie legte sich die Hand auf den Bauch. Mein Kind, sie musste lächeln. Es gab keinen Ausweg mehr, sie würde ein Kind bekommen. Vielleicht war es schön mit einem Kind? Helene dachte darüber nach, wie es aussehen würde. Sie sah ein Mädchen mit schwarzen Haaren, es sollte so dunkle Haare und glühende Augen haben wie Martha und ein so schwarzes Lachen wie Leontine. Helene stand auf, sie legte Wilhelms Hemden in den großen Wäschetopf und stellte ihn auf den Herd. Dann wusch sie die Möhren, schrappte sie und legte sie zusammen mit dem Knochen in einen Topf voll Wasser. Ein Lorbeerblatt und wenig Piment. Helene schälte die Zwiebel, steckte eine Nelke hinein und legte sie zu dem Knochen in den Topf. Sie bürstete den Sellerie, schnitt ihn entzwei und stopfte ihn zwischen Möhren und Knochen. Zuletzt wusch sie den Lauch und die Petersilienwurzel. Den Lauch durfte sie später nicht vergessen. Sie mochte es nicht, wenn der Lauch über Nacht weich in der Suppe wurde und am nächsten Tag zerfiel, sobald man ihn herausfischen wollte.
Wilhelm kam erst nach Hause, als Helene schon schlief. Am nächsten Morgen war Sonntag, und da Wilhelm von sich aus nicht auf das Kind zu sprechen kam, sagte Helene ungefragt: Es kommt Anfang November.
Was? Wilhelm schnitt sein Marmeladenbrot mit Messer und Gabel, eine Besonderheit, die Helene erst vor kurzem aufgefallen war. Erschien ihm das Brot, das sie ihm schnitt, nicht sauber aus ihren Händen?
Unser Kind.
Ach das, das meinst du. Wilhelm kaute, dass man den Speichel hören konnte. Er kaute lange. Er schluckte und legte das Besteck beiseite.
Noch eine Tasse Kaffee? Helene nahm schon die Kanne und wollte ihm nachschenken.
Wilhelm antwortete nicht, das vergaß er häufig, sie schenkte ihm Kaffee ein.
Weißt du, was ich denke…?
Hör zu, Alice. Du erwartest ein Kind, das ist richtig so. Wenn ich gestern gesagt habe, ich freue mich, dann freue ich mich, hörst du? Ich freue mich, dass du bald etwas Gesellschaft hast.
Aber?
Fall mir nicht ins Wort, Alice. Wirklich, das ist eine Unart von dir. Wir gehören nicht zusammen, das weißt du auch. Wilhelm nahm einen Schluck Kaffee, stellte seine Tasse ab und nahm sich eine zweite Scheibe Brot aus dem Korb.
Er meinte gewiss ihre Verbindung, die Ehe, sie als Frau und ihn als Mann. Etwas an dieser Nachkommenschaft störte ihn wohl. Nahm Helene an, dass er sich freute, so freute er sich offenbar nur für sie, für die Aussicht, dass sie Gesellschaft hätte und ihn nicht länger belästigte. Aber er freute sich nicht für sich selbst über ein Kind. Da war weder Freude noch Stolz in seinem Gesicht. Mochte er die Verbindung mit ihrer unreinen Rasse nicht? Helene wusste, dass er aufbrausen würde, wenn sie ihn darauf anspräche. Er wollte darüber nicht sprechen, vor allem nicht mit ihr.
Schau mich nicht so an, Alice. Du weißt, was ich meine. Du glaubst, du hast mich in der Hand? Aber du täuschst dich. Ich könnte dich hochgehen lassen. Ich lasse dich nicht hochgehen, weil du ein Kind erwartest.
Helene spürte, wie sich ihr Hals zusammenzog, sie wusste, dass sie nichts sagen sollte, aber sie musste. Weil ich ein Kind erwarte? Ich erwarte ein Kind von dir, es ist unser Kind.
Reg dich nicht so auf, hörst du, brüllte Wilhelm jetzt und schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Tassen auf ihren Untertassen klirrten.
Du hast das Kind gezeugt, Wilhelm.
Das behauptest du. Wilhelm schob Teller und Tassen beiseite, er sah sie nicht an, in seiner Stimme lag mehr Empörung und Rechtfertigung als Betroffenheit. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Spott trat in sein Gesicht. Wer sagt mir, dass du nicht noch mit anderen schläfst, du, du…? Wilhelm stand jetzt auf, ihm wollte das Wort nicht einfallen, mit dem er sie passend beschimpfen konnte. Hündin, fiel es ihm wirklich nicht ein? Seine Lippen waren fest und man konnte die Zähne sehen, die in geraden Reihen übereinander standen. Es machte ihn böse, einfach nur böse. Ich sage dir etwas, Alice: Es ist mein Recht, hörst du, mein gutes Recht, dir beizugehen. Du hast das auch genossen, gibs zu. Niemand hat dir gesagt, dass du dabei schwanger werden sollst.
Nein, sagte Helene leise, sie schüttelte den Kopf, das hat mir niemand gesagt.
Na also. Wilhelm faltete seine Hände auf dem Rücken, er ging auf und ab. Du solltest dir so langsam Gedanken machen, wovon du deine Brut ernähren möchtest. Ich bin nicht bereit, allein für dich und dein Kind aufzukommen.
Helene hörte das gar nicht ungern, wie oft hatte sie in den vergangenen Monaten um seine Erlaubnis gebeten, wie gerne wollte sie wieder in einem Krankenhaus arbeiten. Ihr fehlten die Kranken, die Gewissheit, dass das, was sie tat, einem Menschen half, dass sie nützlich war. Aber Helene fand jetzt keine Ruhe, darauf einzugehen. Sie musste etwas anderes sagen, er würde ihr an den Hals gehen, aber sie musste es ihm sagen. Helene blickte zu ihm auf. Ich weiß, warum du mich nicht hochgehen lässt. Weil du die Papiere gefälscht hast, weil du mich gar nicht hochgehen lassen kannst, ohne selbst dabei aufzufliegen.
Wilhelm sprang auf sie zu, sie hielt sich noch schützend die Hände über den Kopf, er packte ihre Arme, hielt sie an den Armen fest und zwang sie, vom Stuhl aufzustehen. Der Stuhl krachte unter ihr zu Boden. Wilhelm schob sie durch die Küche bis an die Wand. Er presste sie an die Wand, ließ sie mit einer Hand los, nur um mit der flachen Hand ihren Kopf gegen die Wand zu drücken, dass es weh tat. Niemals, hörst du, niemals sagst du das noch einmal. Schlange, du. Ich habe nichts gefälscht, gar nichts. Ich habe dich als Alice kennengelernt. Wo du die Papiere her hast, geht mich nichts an. Niemand wird dir glauben, damit das klar ist. Ich werde sagen, dass du mich angelogen hast, Helene Würsich.
Sehmisch, ich heiße Sehmisch, ich bin deine Frau. Helene konnte ihren Kopf nicht bewegen, sie drehte sich und wendete sich unter Wilhelms starken Pranken.
Er legte ihr seine Hand auf den Mund, seine Augen blitzten: Halt den Mund. Er wartete, sie konnte nichts sagen, weil er ihr die Hand auf den Mund presste. Du schweigst, damit das klar ist. Ich sage das kein zweites Mal.
An einem Abend im September hatte Wilhelm zwei Kollegen eingeladen, mit denen er an den großen Werken in Pölitz arbeitete. Helene sollte von den Umbauten und Planungen nichts wissen, nur beiläufig hatte sie das eine und andere aufgeschnappt, sie hütete sich, Wilhelm Fragen zu stellen. Mit diesen beiden Kollegen plante er wahrscheinlich die neue Gestaltung des Geländes. Arbeiter mussten untergebracht werden, ganze Kolonnen sollten in dem Lager auf dem Gelände Platz haben. Das Hydrierwerk benötigte einen Bauplan, der über die chemische Aufbereitungsanlage hinaus eine sinnvolle Verkehrs- und Versorgungslogistik verlangte. Wilhelm stellte den beiden Kollegen Helene als seine Frau vor. Sie hatte auf sein Geheiß hin einen Aal grün zubereitet und bediente jetzt die drei Männer, die um den Tisch saßen.
Bier, rief Wilhelm und hielt seine leere Flasche hoch, ohne sich nach Helene umzudrehen. Beinahe stieß er mit der Flasche gegen Helenes Bauch. Helene nahm ihm die Flasche ab. Die Herren?
Einer der beiden hatte noch, der andere nickte, nur zu, Bier könne nicht genug fließen.
Mensch, Wilhelm, kochen kann deine Frau.
Aal grün, das war die Spezialität meiner Mutter, schwärmte der andere.
Zu irgendwas ist jede gut, Wilhelm lachte und nahm einen ordentlichen Schluck aus seiner Flasche. Sein Blick streifte flüchtig Helenes Schürze. Da wächst ja was, lachte er und griff übermütig mit einer Hand an ihre Brust. Helene wich zurück. Hatten es seine Kollegen gesehen und gehört? Helene drehte sich um, niemand musste sehen, dass sie rot wurde.
Wann ist es denn so weit? Der junge Kollege blickte auf seinen Teller, als befrage er den Aal.
Alice, wann ist es so weit? Wilhelm war bester Laune, vergnügt blickte er sich nach Helene um, die die letzten dampfenden Kartoffeln in eine Schüssel füllte und sie auf den Tisch stellte.
In sechs Wochen, Helene wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und nahm den Löffel, um den Männern die Kartoffeln auf die Teller zu laden.
In sechs Wochen schon? Es war nicht klar, ob Wilhelm wirklich überrascht war oder nur so tat. Kinder, wie die Zeit vergeht.
Und da bewirbst du dich nach Berlin? Der ältere Kollege war erstaunt. Helene wusste nichts von einer Bewerbung Wilhelms nach Berlin.
In den jetzigen Zeiten wird man doch überall gebraucht, Königsberg, Berlin, Frankfurt, Wilhelm prostete seinen Kollegen zu. Pölitz ist bald durch, da muss man schon sehen, was als nächstes zu tun ist.
Richtig, sagte der jüngere Kollege und trank.
Helene gab zuletzt Wilhelm Kartoffeln auf den Teller. Sie dampften noch, vielleicht war es zu kalt in der Küche. Sie musste Kohlen nachlegen. Seit Helene das Kind erwartete, fror sie nicht mehr und merkte erst spät, wenn die Wohnung ausgekühlt war.
Lass man, Alice, das schaffen wir hier schon allein. Du kannst dich jetzt zurückziehen. Wilhelm rieb sich die Hände über dem dampfenden Teller.
Es stimmte, die Männer hatten ihr Essen und Wilhelm wuss te, wo das Bier stand, er konnte selbst aufstehen und für Nachschub sorgen. Als Helene aus der Küche ging, hörte sie ihn zu den Kollegen sagen: Kennt ihr Renate-Rosalinde mit dem Drahtverhau?
Die Kollegen grölten schon, ehe Wilhelm fortfahren konnte.
Fragt sie den Urlauber: Was sagst du zu meinem neuen Kleid? Fabelhaft, der Gefreite, man kann es geradezu mit einem Drahtverhau vergleichen.
Die Männer lachten tosend. Helene stellte im Schlafzimmer nebenan das Bügelbrett auf.
Drahtverhau, fragt die Schöne, wieso denn? Na, der Gefreite schmunzelt und lässt die Augen rollen, schützt die Front, ohne sie den Blicken zu entziehen.
Lachen. Helene hörte die Flaschen klirren und wie auf den Tisch geklopft wurde. Einer der Kollegen, vermutlich der ältere, sagte: Verdient ist verdient.
Wilhelms Lachen übertrumpfte das seiner Kollegen.
Helene nahm das Hemd, das Wilhelm am nächsten Tag anziehen würde, aus dem Korb und bügelte es. Wilhelm hatte ihr vor einigen Wochen zum Geburtstag ein elektrisches Bügeleisen geschenkt. Das Bügeleisen war seltsam leicht, Helene glitt damit so schnell über den Stoff hinweg, dass sie sich ermahnen musste, langsamer zu bügeln. Nebenan wurde laut gelacht, immer wieder hörte Helene, wie die Flaschen aneinanderklirrten. Das Kind in Helenes Leib strampelte, es stieß gegen ihre rechte Rippe, die Leber schmerzte, und Helene nahm eine Hand, um zu spüren, wie hart sich die Beule ihres Bauches anfühlte. Vermutlich war es der Steiß, den es nur noch mit Mühe von der linken Seite hinüber zur rechten wenden konnte, dabei drückte sich die Beule unter der Bauchdecke entlang. Das Köpfchen in ihr saß jetzt manchmal so schmerzhaft auf ihrer Blase, dass Helene ständig hinaus auf die halbe Treppe musste. Wilhelm störte es, wenn sie während der Nacht den Topf benutzte, sie sollte hinausgehen, wenn sie musste. Das lange Tröpfeln, zu dem sich ihr Strahl in den letzten Wochen verändert hatte, musste Wilhelm unerträglich sein, vielleicht ekelte er sich jetzt vor ihr. Seit jener Auseinandersetzung im Frühjahr hatte Wilhelm sie nicht mehr angerührt, kein einziges Mal mehr. Anfangs dachte Helene, er sei nur etwas ärgerlich, aber seine Lust würde sich schon wieder regen. Sie kannte ihn doch, sie wusste zu gut, wie häufig ihn das Verlangen, die unstillbare Gier überkam. Doch nach Tagen und Wochen wurde Helene bewusst, dass sein Verlangen nicht mehr an sie gerichtet war. Ob es daran lag, dass sie ein Kind erwartete und er mit keiner Frau schlafen wollte, die ein Kind erwartete, weil er das Kind in ihr nicht aufstören wollte und ihm ihr Leib zunehmend missfiel, oder ob er schlicht die Folge seiner Lust so erschreckend und schlimm fand, das Bewusstsein dafür, dass ein Kind gezeugt worden war, das fragte sich Helene nur selten. Einmal war sie gegen Morgen aufgewacht und hatte ihn in der Dunkelheit auf der anderen Seite des Bettes flach atmen hören. Seine Decke bewegte sich rhythmisch, bis irgendwann die Andeutung eines hohen Fiepens zu hören war, wie er die angestaute Luft hinausließ. Helene hatte so getan, als schliefe sie, und es sollte nicht das einzige Mal bleiben, dass sie ihn nachts so hörte. Er tat ihr nicht leid, sie war auch nicht enttäuscht. Eine angenehme Gleichgültigkeit erfasste Helene in Bezug auf ihren Ehemann. In anderen Nächten blieb er lange fort und roch sie die Süße eines Parfüms noch so eindeutig, wenn er morgens betrunken in ihr Zimmer stolperte und auf das Bett sackte, dass Helene wusste, er war bei einer anderen Frau gewesen. Auch in solchen Nächten gab sie sich schlafend. Es war nur gut, wenn sie einander in Ruhe ließen. Tags über, wenn Helene vom Einkaufen zurückkam, saubergemacht und die erste Wäsche eingeweicht und aufgesetzt hatte, las sie gern eine halbe Stunde. Jeder Mensch macht mal eine Pause, sagte sie sich. Sie las das Buch eines Jungen, der in Berlin eine Dienerschule besucht. Benjamenta heißt sein Institut. Gut denken, gut meinen. Die vollkommene Tilgung eines eigenen Willens, was für eine köstliche Idee. Öfter musste Helene schallend in sich hineinlachen, lautlos. Kaum jemals hatte sie sich von einem Buch so innig unterhalten gefühlt. Wenn sie lachte, wurde ihr Bauch ganz fest und hart, die Gebärmutter spannte sich, der große Muskel schützte das Kleine vor jeder heftigen Erregung. Sie hatte sich das Buch aus der verbotenen Bibliothek am Rosengarten ausgeliehen, weil es in der Volksbücherei keine Bücher mehr aus diesem Verlag gab. Helene dachte an das zauberhaft schwarze Lachen von Leontine, an die köstliche Zärtlichkeit von Carls Lippen, seine Augen, seinen Körper. Es war gar nicht so leicht, mit dem Arm an dem dicken Bauch vorbeizulangen, auch konnte sie nicht mehr, wie früher so gerne, sich ein Kissen zwischen die Schenkel drücken und auf dem Bauch liegend die Bewegungen suchen, der Bauch war zu dick, als dass sie auf ihm liegen konnte, jetzt streichelte Helene sich nur und dachte an gar nichts.
Es war mitten in der Nacht, als Helene von einem Ziehen im Leib aufwachte. Wilhelm war den November über in Königsberg, wo er wichtige Bauvorhaben besprechen und planen musste. Wieder zog es und der Bauch wurde hart. Helene zündete das Licht an, es war drei Uhr. Mit einem heißen Bad ließ sich noch so manche Geburt aufhalten oder vorantreiben. Helene kochte Wasser und füllte es in den großen Zuber aus Zink, in dem sonst nur Wilhelm hin und wieder ein Bad nahm. Helene stieg in den Zuber und wartete. Die Wehen kamen jetzt häufiger. Sie versuchte zu tasten, aber ihr Arm langte nicht weit genug um den Bauch und die Hand reichte nicht tief genug in die Öffnung, nur das weiche, offene Fleisch konnte sie spüren. Helene zählte die Pausen, alle acht Minuten, alle sieben Minuten, dann wieder alle acht Minuten. Sie goss heißes Wasser nach. Sieben Minuten, siebeneinhalb, sechs Minuten. Die Abstände wurden kürzer. Helene stieg aus dem Zuber und trocknete sich ab. Sie wusste, wo das Krankenhaus war. Oft war sie dort vorbeigegangen, eine falsche Erlaubnis in der Tasche, mit der sie versucht hatte, Wilhelms Schrift nachzuahmen, und hatte sich bewerben wollen. Obwohl Wilhelm ihr gesagt hatte, sie möge sich Gedanken um die Ernährung ihrer Brut machen, war er dagegen, dass sie sich schwanger eine feste Stelle suchte. Früher oder später hätte er es erfahren, womöglich hätte er sie an den Ohren aus dem Krankenhaus geschleift. Er hatte sie einmal am Ohr gezogen, als er wütend gewesen war, dass sie eine Falte in seinem Hemd übersehen hatte. Er hatte ihr Ohr zwischen seine Finger genommen und sie am Ohr aus der Küche ins Schlafzimmer geschleift. Wieder eine Wehe, das Ziehen war jetzt so schmerzhaft, dass Helene sich unmerklich über dem angespannten Bauch krümmte. Sie nahm Carls Unterhemd aus dem Schrank, das nur deshalb so lange von Wilhelm unbemerkt dort liegen konnte, weil Wilhelm es Helene überließ, ihm seine Sachen zum Anziehen rauszulegen. Sie zog Carls Unterhemd über, es spannte am Bauch und rutschte hoch. Atmen musste man, trotz der Wehe, tief atmen. Lange Unterhosen zog sie an, Wehe, den Strumpfhalter, der unter dem Bauch klemmte, Wehe, Strümpfe, Wehe, das Kleid dar über. Ihren Ahnenpass und das Familienbuch durfte sie nicht vergessen, beides nahm sie aus Wilhelms Sekretär. Auch etwas Geld nahm sie. In der Nacht fror es, die Gehwege waren vereist, Helene musste aufpassen, dass sie nicht rutschte, bloß nicht das Gleichgewicht verlieren. Auf der menschenleeren Straße musste Helene alle paar Meter stehen bleiben. Atmen, tief atmen. Was war schon dieser Schmerz, Helene lachte, der Schmerz war endlich, ihr Kind sollte geboren werden, heute, ihre Kleine, ihr kleines Mädchen. Helene ging weiter, blieb wieder stehen. Es schien ihr, als sitze der Kopf der Kleinen schon zwischen ihren Schenkeln, sie konnte kaum noch mit geschlossenen Beinen laufen. Tief atmen und weiter. Breitbeinig stapfte Helene über das Eis.
Im Krankenhaus half ihr eine Hebamme, sie tastete vorsichtig, erst am Bauch, der sofort fest wurde, steinhart, die Wehe dauerte. Und jetzt mit der Hand in die Vagina.
Da ist das Köpfchen.
Das Köpfchen, haben Sie Köpfchen gesagt? Helene musste lachen, sie lachte nervös und ungeduldig.
Die Hebamme nickte. Ja, ich kann schon die Haare spüren.
Die Haare? Helene atmete tief, tief, noch tiefer bis in den Bauch. Sie wusste, wie sie atmen musste, aber die Hebamme sagte es ihr jetzt.
Wollen Sie sich hinlegen, Frau Sehmisch?
Vielleicht. Atmen, atmen, atmen; frei atmen, tief atmen, Atem anhalten und ausatmen.
Wollen Sie Ihren Mann nicht anrufen, damit er sie wenigs tens abholt?
Ich habe doch gesagt, er ist in Königsberg. Tief atmen. Helene fragte sich, wie es wohl für einen Fötus sein mochte, wenn alles um ihn her so fest und steinig wurde. Vielleicht fühlte er noch gar nicht. Wie begann das Sein? War man, wenn man nicht fühlte? Tief geatmet. Ich habe keine Nummer dort. Er kommt Ende des Monats zurück.
Die Hebamme füllte ihre Karteikarte aus.
Verzeihen Sie, mir ist übel.
Es ist gut, wenn Sie noch einmal zur Toilette gehen. Die Hebamme zeigte Helene die Toilette. Helene wusste, dass die Übelkeit ein sicheres Zeichen war, jetzt konnte es nicht mehr lang dauern. Ein bestimmter Nerv wurde gereizt. Nervus Vagus. Sieben Zentimeter Öffnung waren noch drei zu wenig. Die Stimulation des Parasympathicus, was sonst.
Bei ihrer Rückkehr sollte sich Helene auf die Liege legen. Sie sollte es sich bequem machen, aber nichts war bequem. Der Arzt wollte, dass sie auf dem Rücken lag. Die Wehen kamen seltener, nur noch alle vier Minuten, alle fünf, dann wieder häufiger. Helene schwitzte, atmete und presste. Sie wollte sich auf die Seite drehen, sie wollte aufstehen, sie wollte hocken. Die Hebamme hielt sie fest.
Schön liegen bleiben.
Ihr Gefühl für Zeit ging verloren, es war Tag geworden, an die Stelle der Hebamme aus der Nacht war eine andere Hebamme getreten. Ein guter Schmerz, sagte sich Helene, ein guter Schmerz, sie biss die Zähne aufeinander, sie wollte nicht schreien, keinesfalls, ganz bestimmt nicht so laut wie die Frau in dem anderen Bett, die ihr Mädchen schon geboren hatte. Helene presste, es brannte, Tränen standen ihr in den Augen.
Sie müssen atmen, atmen, so atmen Sie doch. Die Stimme der Hebamme klang seltsam verzerrt. Sie atmete ja.
Sie schaffen das, los, los, Sie schaffen das. Jetzt schlug die Hebamme den Ton eines Offiziers an. Helene wünschte, sie wäre nicht in das Krankenhaus gegangen. Sie ertrug diese Schwester und ihren Marschton nicht. Los, los, noch einmal, und ein, halten, halten. Hören Sie nicht? Sie sollen halten, nicht pressen! Jetzt wurde sie auch noch wütend, die Offizierin. Helene kümmerte sich nicht um die Befehle, sie konnte gebären, wie sie wollte, die Offizierin hatte ihr gar nichts zu sagen. Atmen, tief atmen, das war bestimmt gut, und pressen, natürlich, pressen, pressen, pressen. Die Hebamme tastete mit ihren Händen an ihrer Vagina, sie tastete und es kratzte, als wühle sie ihre Nägel in das weiche Fleisch, das aufgeweichte, völlig unbestimmte, in jede Richtung dehnbare Fleisch. Was machte die Offizierin dort nur mit ihren Händen? Es drückte auf den Darm, es drückte so sehr, dass Helene sicher war, die Hebamme könne nichts als Exkremente auffangen, Blut und Fäkalien in die Hände der Offizierin. Keine Zeit für Scham, sie musste atmen.
Jetzt schlug ihr die Offizierin auf den Arm, packte sie. Aufhören, Sie sollen aufhören zu pressen, sonst reißen Sie noch ganz auf.
Helene hörte es und hörte doch nicht hin, sollte sie nur reißen, ihretwegen, ganz auf, ihretwegen, mochte reißen, was reißen musste, sollte reißen, was reißen wollte, es würde schon etwas übrig bleiben, das Kind schon herauskommen. Helene atmete, guter Schmerz, nur warum tat er so weh? Nein, das hätte sie sagen wollen, sie spürte die Zunge an ihrem Gaumen, nnn, sie würde es nicht sagen, nie, niemand sollte sich wundern, niemals.
Atmen Sie! Die Offizierin verlor offenbar die Nerven. Schreien Sie einfach, los, jetzt pressen, ja.
Das Ja war knapp, die Hände der Offizierin schnell, der Arzt rückte etwas zwischen Helenes Schenkeln zurecht, es knirschte. Der Arzt nickte. Da war der Kopf.
Der Kopf? Ist der Kopf draußen? Helene konnte es nicht fassen. Sie spürte etwas Dickes zwischen ihren Beinen, etwas, das nicht zu ihr gehörte, nicht mehr, sie spürte es zum ersten Mal, nicht mehr nur in ihr, der Körper ihres Kindes, an ihr. Der Arzt beachtete sie nicht. Helene tastete mit ihrer Hand nach unten. Sie wollte es anfassen, das Köpfchen. Waren das Haare, die Haare des Kindes?
Hände weg! Helenes Arm wurde fortgerissen, man packte sie am Handgelenk, fest am Handgelenk. Sie sollen atmen, hören Sie? Die Offizierin mischte sich ein. Und bei der nächsten Wehe pressen Sie. Tief Luft holen, holen Sie Luft, jetzt. Helene hätte auch ohne den Befehl der Offizierin Luft holen müssen.
Es glitt hinaus, mit einem Schwung. Die Hebamme fing es geschickt mit ihren Händen auf.
Das Kind war da. Wie sah es aus? War es grau, lebte es? Es wurde sofort weggebracht. Röchelte es nur, hatte es geschrien? Es schrie. Helene hörte ihr Kind schreien und wollte es an sich drücken. Helene wand sich, sie wollte einen Blick erhaschen. Die weißen und braunen Schürzen der Schwestern versperrten ihr die Sicht, lauter Rücken. Es wurde gewaschen, gewogen und angezogen.
Mein Kind, flüsterte Helene. Tränen rannen aus ihren Augen, sie sah die Kittel der Schwestern und der Hebamme. Meine Kleine. Helene war glücklich. Die Hebamme kam zurück und befahl, sie möge noch einmal pressen.
Noch einmal?
Ich denke, Sie sind Krankenschwester.
Aber warum noch einmal, ist da noch eins?
Die Plazenta, Frau Sehmisch. Und jetzt pressen Sie noch einmal richtig. Frau Sehmisch, Helene wusste, sie war gemeint. Helene tat wie ihr befohlen.
Sie musste eine Ewigkeit warten, ehe man ihr das Kind brachte. Dreitausendeinhundertundfünfzig, ein Prachtkerl. Die Säuglingsschwester reichte Helene das kleine Paket. Helene sah sich ihr Kind an, seine Augen waren faltige Schlitze, der Mund noch ganz klein, über der Nase hatte es eine Furche, eine tiefe Furche, und auf der Nase saßen lauter kleine Grießpünktchen. Es weinte. Helene drückte das Kind an sich. Meine Kleine, meine süße Kleine, sagte Helene. Was für schöne lange schwarze Haare sie hatte, wie seidig und wie glatt ihre Haare waren.
Sie müssen das Köpfchen so halten. Die Säuglingsschwester drückte Helenes Hand zurecht. Helene wusste, wie man ein Kind halten sollte, es machte ihr wenig aus, dass die Schwester sie berichtigte, gar nichts. Sollte sie nur ihre Hand kneten und drücken. Nichts und niemand konnte Helenes Glück etwas anhaben.
Wollen Sie ihn stillen?
Helene schaute erstaunt der Schwester ins Gesicht. Ihn?
Ja, Ihren Sohn, ob Sie Ihren Sohn stillen wollen, frage ich.
Es ist ein Sohn? Helene blickte in das kleine graue Gesicht. Ihr Kind öffnete jetzt seinen Mund und schrie. Er wurde dunkelrot. Damit hatte Helene nicht gerechnet. Sie hatte nie an einen Jungen gedacht, immer an ein Mädchen.
Entscheiden Sie sich jetzt, sonst geben wir ihm ein Fläschchen.
Ich stille es, natürlich. Helene öffnete ihr Nachthemd, sie wollte das Kind an ihre Brust legen, aber jetzt fuhr die Offizierin wieder dazwischen.
Hier, so müssen Sie das machen. Grob und mit zwei Fingern fasste die Offizierin Helenes Brust an und stopfte sie dem Kind in den Mund. So, sehen Sie? Sie müssen aufpassen, dass das Kind richtig anliegt. Und ob das mit Ihren Brüsten was wird, na, das werden wir noch sehen.
Helene ahnte sogleich, was die Offizierin meinte. Ihre Brüste waren in den vergangenen Monaten so groß und prall geworden, wie Helene es sich nie erträumt hatte, aber groß war eben nur relativ. Im Verhältnis zu den Brüsten anderer Wöchnerinnen waren sie klein, geradezu winzig, Helene wusste das.
Das Kind an ihrer Brust schluckte und atmete schwer durch die winzige Nase, es hatte sich festgesaugt, es saugte, dass es kribbelte, und saugte, dass es drückte, es saugte um sein Leben. Das Kind öffnete die Augen nicht, es saugte so stark, dass Helene überlegte, ob es wohl schon Zähne hatte.
Name? Jemand war an Helenes Bett getreten. Warum nur war die Offizierin so streng? Sicher, sie hatte viel Arbeit, gewiss gab es Gründe. Womöglich hatte Helene etwas falsch gemacht. Welche Demütigung, als Krankenschwester in einem Krankenhaus zu liegen.
Name?
Sehmisch. Alice Sehmisch.
Nicht Ihren Namen, den haben wir. Wie soll Ihr Sohn heißen?
Helene betrachtete ihr Kind, wie es durch die Nase atmete und an ihrer Brust sog, als wolle es sie aufsaugen, ganz und gar. Was für zarte, schmale Hände er hatte, zierliche Fingerchen, die vielen Falten, die dünne Haut, seine Hand umklammerte ihren Zeigefinger wie einen Ast, als müsse es sich um jeden Preis festhalten. Wie konnte sie ihm einen Namen geben, er gehörte ihr nicht. Welche Anmaßung, einen Namen für ein Kind. Wo sie doch selbst keinen Namen mehr hatte, zumindest nicht mehr den, der ihr für das Leben gegeben worden war. Er konnte sich umbenennen, später, wenn er wollte. Das beruhigte Helene. Und sie sagte: Peter.
Erst als die Schwester weggegangen war, flüsterte sie ihrem Kind zu: Ich bins, deine Mutter. Das Kind blinzelte, es musste niesen. Wie gerne hätte Helene es Martha und Leontine gezeigt. Sah es nicht aus wie ein Mädchen? Goldblatt, flüsterte Helene an seine Wange und streichelte ihm über das weiche, lange Haar.
Vor Weihnachten kam Wilhelm nach Hause. Sie hatten in der Zwischenzeit telegraphiert. Er war nicht überrascht, dass sie niedergekommen war. Ein Junge, Wilhelm nickte, er hatte nichts Geringeres erwartet. Peter? Warum nicht. Sie solle den Jungen mal ordentlich füttern, riet er ihr wenige Stunden nach seiner Ankunft. Das Kind habe Hunger, ob sie das nicht höre? Und warum es in der Wohnung so merkwürdig rieche, ob das die Windeln des Kindes seien, das wollte er wissen und sein Blick fiel auf die gelblich verfärbten Windeln, die zum Trocknen auf der Leine hingen. Was ist, kannst du nicht mehr waschen? Siehst du nicht, dass die Windeln noch dreckig sind?
Sie werden nicht sauberer, sagte Helene und dachte, wenn die Sonne schiene, hätte sie sie im Licht bleichen können. Aber draußen wurde es kaum hell, es schneite seit Wochen.
Als der kleine Junge nachts schrie und Helene aufstand, um ihren Peter zu sich ins Bett zu holen, sagte Wilhelm mit dem Rücken zu ihr: Ich glaube, dir gehts zu gut. Setz dich in die Küche, wenn es sein muss. Ein arbeitender Mann braucht seinen Schlaf.
Helene tat, was er befahl. Sie setzte sich mit ihrem Kind in die kalte Küche und stillte es dort, bis es schlief. Doch sobald sie es in sein Körbchen legen wollte, wachte es auf und weinte. Nach zwei Stunden schlich sie erschöpft in das Schlafzimmer. Aus dem Dunkel kam Wilhelms Stimme. Mach, dass das Kind still ist und nachts schläft, sonst reise ich morgen wieder ab.
Nicht alle Kinder schlafen durch.
Du weißt wohl alles besser, wie? Wilhelm drehte sich zu ihr um und schrie ihr entgegen: Hör mal, Alice, ich lass mir von dir nicht die Welt erklären.
Helene tupfte sich im Dunkel den Sprühnebel seiner Worte vom Gesicht. Hatte ihr jemals daran gelegen, ihm die Welt zu erklären?
Es wird Zeit, dass du arbeitest, sagte er ruhig, als er ihr wieder den Rücken zukehrte. Wir können uns keine Schmarotzer leisten.
Helene blickte zum Fenster, nur ein matter Lichtschein erhellte den Vorhang. Wilhelm begann zu schnarchen, abgehackt und fremd. Wer war dieser Mann in ihrem Bett? Helene sagte sich, dass er vermutlich recht hatte. Vielleicht war sie an das Schreien ihres Kindes schon zu sehr gewöhnt, um zu erkennen, dass es Hunger hatte. Ihm reichte die Milch nicht, es hungerte, gewiss. Gleich am nächsten Morgen musste sie Milch holen. Das arme Kind; wenn es nur schlief. Peterle, flüsterte Helene, die sonst Kosenamen nicht mochte, Peterle. Tonlos bewegte sie die Lippen. Ihre Lider waren schwer.
Als Helene aufwachte, schmerzte ihre linke Brust, die Brust war steinhart und ein roter Fleck breitete sich auf der Haut aus. Sie wusste, was die Symptome bedeuteten. Also ging sie hinüber zum Körbchen, nahm das Peterle heraus, trug es in die Küche und legte es an. Das Peterle schnappte zu, es war, als werde ihr ein Messer in die Brust gerammt, stochernd, bohrend, gleißend, der Schmerz ließ das Denken versiegen. Helene biss die Zähne aufeinander, ihr Gesicht glühte. Das Peterle wollte nicht trinken, immer wieder drehte es den Kopf weg, schnappte nach Luft lieber als nach Milch und spuckte und weinte, es ballte die Fäustchen und krümmte sich.
Was ist hier schon wieder los? Wilhelm stand in der Tür und schaute auf Helene und ihr Kind herab. Kannst du mir verraten, was das soll? Sein empörter Blick blieb an ihrer Brust hängen. Das Kind schreit, Alice, und du sitzt hier, womöglich schon seit Wochen, und lässt es hungern, ja?
Ich lass es nicht schreien. Sollte sie das sagen? Das Peterle brüllte jetzt, sein Kopf war rot und rund um das Näschen zeigte sich ein weißer Abdruck.
Bist du jetzt verstummt? Du wirst das Kind doch nicht verhungern lassen? Hier, Wilhelm reichte ihr einen Schein. Du ziehst dich jetzt auf der Stelle an, gehst Milch kaufen und fütterst es, verstanden?
Helene hatte verstanden. Ihre Brust pochte, der Schmerz war so ungeheuer, dass ihr übel wurde und sie kaum über Wilhelms Anordnung nachdenken konnte. Sie würde machen, was er sagte, natürlich, einfach folgen. Sie legte das Kind auf das Bett und zog sich an. Ohne Wilhelm anzusehen, wickelte Helene eine Decke um ihr Kind, sie nahm das Bündel auf den Arm und lief die Treppen hinunter.
Ihre Augen sind ganz glasig, sagte die Krämerin, haben Sie Fieber, Frau Sehmisch?
Helene bemühte sich um ein Lächeln. Nein, nein.
Sie nahm die Flasche Milch und das Töpfchen Quark und stieg mit dem brüllenden Kind die Treppen hinauf. Auf halber Treppe musste sie stehen bleiben. Ihr Wochenfluss war noch nicht versiegt, der Schmerz in der Brust setzte die Fähigkeit zur Entscheidung außer Gefecht. Sie stellte Milch und Quark ab und legte das Kind in seiner Decke auf die Stufen. Helene ging auf die Toilette. Als sie wieder herauskam, sah sie schon das fröhliche Gesicht der neuen Nachbarin, die ihre Tür geöffnet hatte und den Kopf heraussteckte. Kann ich Ihnen helfen?
Helene schüttelte den Kopf, nein. Sie nahm das Bündel auf den Arm und setzte den Weg die Treppe hinauf fort. Als sie an der Nachbarin vorbeiging, fiel ihr Blick auf das Namensschild. Kozinska. Es war jetzt am leichtesten, sich die nebensächlichen Dinge zu merken. Kozinska, so hieß die neue Nachbarin.
Oben angekommen, hatte Wilhelm schon seinen Mantel an. Er müsse hinaus nach Pölitz fahren, das Werk besichtigen. Sie solle nicht auf ihn warten. Helene legte das Kind in sein Körbchen und erwärmte auf dem Feuer die Milch. Sie füllte die Milch in ein Fläschchen, das bis zu diesem Morgen nur mit Tee gefüllt worden war, packte sich einen Umschlag aus Quark auf die Brust, der kühlte, und fütterte ihr Kind. Am Nachmittag war ihr Körper so schwer und heiß geworden, dass sie kaum noch aufstehen und hinunter auf die halbe Treppe gehen konnte. Das Kind brüllte. Man konnte die Blähungen des Kindes hören, Blähungen, die die Milch und das Schreien verursachten, geschluckte Luft, aber es würde bald satt sein, gewiss, bald würde es satt und zufrieden sein. Helene konnte auf keiner Seite ihres Körpers mehr liegen, die Haut juckte, sie war so dünn, dass Helene das Laken als Reiben und die Luft als unsägliches Kitzeln spürte, sie wollte raus aus ihrer Haut, Helene fror, sie schüttelte sich, Schweiß stand ihr auf der Stirn. Alle Stunde erhob sie sich und ging auf zitternden Beinen, sie machte sich einen neuen Umschlag, sie konnte kaum noch die Tücher und Windeln wringen, so schwach war sie. Das Fieber blieb über Nacht. Helene war froh, dass Wilhelm nicht kam. Sie wollte das Kind an ihre Brust legen, aber das Kind wand sich und schrie und biss auf die harte, heiße Brust. Es schrie empört.
Helene fütterte ihr Kind mit dem Fläschchen. Erst war es empört, spuckte vergorene Brocken Milch, verschluckte sich, die Milch im Fläschchen war noch zu heiß und schon zu kalt, Helene biss die Zähne zusammen. Es würde trinken, ganz sicher, verhungern würde es nicht. Die Entzündung ging zurück, die Brust schwoll ab, und eine Woche später war noch nicht alles gut, nicht völlig, aber ziemlich, mit der Entzündung war die Milch versiegt; Wilhelm glaubte, dass er für Recht und Ordnung gesorgt hatte. Nur die Frage mit ihrer Arbeit wollte er noch geklärt wissen, ehe er Anfang des Jahres nach Frankfurt aufbrechen musste. Wilhelm begleitete Helene zum Städtischen Krankenhaus in den Pommerensdorfer Anlagen.
Ganz bestimmt können wir Ihre Frau einstellen, sagte die Personaldienstleitende zu Wilhelm. Sie wissen, dass wir nicht halb so viele Schwestern motivieren können, wie wir benötigen. Dazu hatten wir gerade eine Entlassung. Eine polnische Schwester, auch noch Mischling zweiten Grades, die sollen ihres gleichen pflegen. Ihr Familienbuch, das Zeugnis, wie schön, dass Sie alles gleich mitgebracht haben. Ein Gesundheitszeugnis kann bei uns im Hause ausgestellt werden. Die Personaldienstleitende sichtete die Unterlagen.
Erst als die Personaldienstleitende Wilhelm und Helene zur Tür brachte, entdeckte sie den vor dem Gebäude an der Kellertreppe abgestellten Kinderwagen. Und das Kind, bleibt es bei der Großmutter?
Wilhelm und Helene sahen zum Kinderwagen. Wir finden eine Betreuung, sagte Wilhelm mit seinem strotzenden Lächeln. Die Personaldienstleitende nickte und schloss ihre Tür. Helene schob den Kinderwagen, Wilhelm lief mit langen Schritten neben ihr. Wie selbstverständlich schlug er nicht den Weg zurück zu seinem Wagen ein, sondern brachte Helene und das Kind zum Oberwiek. Die Oder war grau und schlug Wellen unter dem Wind. Wilhelm sah auf die Armbanduhr und verkündete mit Blick in die Richtung seines Wagens, dass er schon aufbrechen müsse, man erwarte ihn am Nachmittag in Berlin. Sicherlich werde die Straßenbahn bald kommen, sie werde es allein zurück schaffen, nicht wahr? Helene nickte.
In den ersten Monaten waren die feinen, glänzenden, dunklen Haare des Kindes ausgefallen, eins nach dem anderen, bis das Köpfchen schließlich kahl war und ein weißblonder Flaum wuchs, es wurden goldblonde Locken, goldblond wie Helene. Helene arbeitete laut Vertrag sechzig Stunden in der Woche im Schichtdienst, in Wirklichkeit waren es mehr als diese sechzig Stunden, alle zwei Wochen hatte sie einen Tag frei, sie holte ihr Kind von Frau Kozinska ab und hatte mit seinem dritten Geburtstag einen Platz im Kindergarten zugeteilt bekommen. Sie war froh darüber, weil sie manches Mal bei Frau Kozinska geklopft und niemand ihr geöffnet hatte. Dann hatte ihr Kind hinter der verschlossenen Tür geschrien, Mutter, hatte es geschrien, Mutter, manchmal hatte es auch nach der Tante geweint, wie es Frau Kozinska nannte. Helene hatte vor der verschlossenen Tür warten müssen, weil Frau Kozinska schnell hinuntergegangen war, um Besorgungen zu machen, und manches Mal erst nach einer Stunde zurückkehrte.
Wie heißt denn Ihre Kleine? Das hatte die Kindergärtnerin gefragt, als Helene ihr Kind zum ersten Mal brachte. Helene betrachtete seine goldenen Locken, die sich wie Korkenzieher weich über seine Schultern legten.
Peter. Sie hatte ihm noch kein einziges Mal die Haare geschnitten.
Wir kümmern uns um Ihren Jungen, sagte die Kindergärtnerin freundlich. So ein hübsches Kerlchen.
Helene würde ihm jetzt die Haare schneiden müssen. Die Kindergärtnerin strich Peter über den Kopf und nahm ihn bei der Hand.
Helene lief zwei, drei Schritte hinterher, sie hockte sich auf den Boden und küsste Peters Wange. Sie drückte ihn an sich. Er weinte und hielt sich mit seinen kleinen Armen fest.
Ich bin bald zurück, versprach Helene, nach dem Abendessen hole ich dich ab.
Peter schüttelte den Kopf, er glaubte ihr nicht, er wollte nicht hierbleiben, er schrie, er klammerte sich an sie, die Tränen spritzten ihm aus den Augen, er biss in ihren Arm, damit sie bleibe oder ihn mitnehme, und Helene musste schnell ein Lächeln zaubern und aufstehen, ihn von sich losmachen, ihm den Rücken zuwenden und hinauseilen. Sie durfte vor Peter nicht weinen. Das machte es noch schwieriger.
Wenn Helene ihn abholte, war sein Blick ein fremder. Er fragte sie: Wo warst du, Mutter?
Helene musste an die verwundete Pflegerin aus Warschau denken, deren beide Beine fehlten. Sie war ihnen erst vor wenigen Tagen gebracht worden, sie war die erste Kriegsverwundete, die Helene sah. Am ganzen Körper waren ihre Lymphknoten dick geschwollen und an mehreren Stellen des Körpers hatte sie die typischen kupferfarbenen Knötchen, die sich in den Hautfalten schon zu großflächigen Papeln entwickelt hatten. Helene musste bei der Versorgung der Geschwüre Handschuhe und Mundschutz tragen, weil die Papeln bereits nässten und Ansteckung drohte. Nur gut, dass die Patientin keinerlei Juckreiz verspürte. Dank der Antibiose heilten die Wunden der Beinstümpfe gut, aber ihr Herzmuskel hatte sich noch nicht an das lange Liegen und den langsamen Kreislauf gewöhnt, und sie litt unter Schlaflosigkeit. Es konnte sein, dass das Prontosil auch gegen die Syphilis helfen würde, vielleicht.
Wo warst du, Mutter? Hörte Helene ihren Peter fragen. Sie saßen in der Straßenbahn nebeneinander. Sollte sie ihm erzählen, sie wäre in der Sternwarte gewesen oder im Schmetterlingshaus, ihm eine schöne Geschichte erzählen, die es in seinen Augen noch unverständlicher machen musste, weshalb sie ihn für zwölf Stunden abgegeben hatte?
Mutter! Sag was. Warum sagst du immer nichts?
Arbeiten, sagte Helene.
Was arbeiten? Peter zupfte an ihrem Ärmel, er sollte aufhören, an ihrem Ärmel zu zupfen. Was arbeiten?
Konnte er keine Ruhe geben, musste er immer weiterfragen? Helene sagte zu Peter: Frag nicht.
Eine ältere Frau stand von der Bank vor Helene auf, sie wollte wohl an der nächsten Station aussteigen und hielt sich an der Stange fest. Die Frau strich Peter über das frischgeschnittene Haar: Was für ein schmucker Pimpf, sagte die Frau. Helene blickte aus dem Fenster. Es kamen noch nicht viele Verwundete bis nach Stettin, die meisten blieben in den Lazaretten, und dank der Tatsache, dass Helene ein Kind hatte, wurde ein ums andere Mal davon abgesehen, sie zu versetzen. Schwesternmangel, hieß es, man suchte händeringend Freiwillige für die Lazarette, die Ausbildungen wurden verkürzt, die ledigen Schwestern wurden in die Lazarette verpflichtet und man griff zunehmend auf verheiratete zurück, um die Städtischen Krankenhäuser noch bewirtschaften zu können. Eines Tages wurden zwei Schwestern nach Obrawalde verpflichtet, auch Helene wollte man schicken, schon hieß es, eine erfahrene Schwester wie sie benötige man dort. Aber sie hatte Glück, über einen Arzt wurde bekannt, dass man auch in der Stettiner Frauenklinik dringend erfahrene Kräfte brauchte, und die Leitung sah ein, dass es für Helene schwierig sein würde, ihr Kind mit nach Obrawalde zu nehmen. Regen schlug gegen die Fensterscheibe. Es war längst dunkel geworden. Die Lichter der Autos verschwammen.
Gott sei Dank bekommen Frauen wie Sie wieder Kinder. Muss man sagen. Die Frau nickte jetzt anerkennend.
Helene sah die Frau nur flüchtig an, sie wollte nicht nicken, sie wollte nichts sagen, aber die Frau ließ sich nicht aufhalten.
Nur kurz musste sie an das sechzehnjährige Mädchen von heute Mittag denken. Was für schöne rötliche Haare das junge Mädchen hatte. Mandelbraune Augen, unter rotgoldenen Wimpern. Ihre Brüste waren schon groß wie Äpfel. Sie hatte das Lachen der Morgensonne, sie ging gerade erst auf, sechzehn Jahre. In Gebärdensprache hatte das Mädchen vor der Narkose Zeichen gemacht, von denen Helene ahnte, was sie bedeuten mochten. Es waren fragende Zeichen, auch ängstliche. Sie hatten ihr eine Vollnarkose gegeben. Helene hatte den Wundhaken gehalten. Keine konnte so still halten wie Helene. Der Chirurg durchtrennte die Eileiter. Beim Nähen musste man auf die Tube achten. Der Chirurg hatte Helene gebeten, zu halten. Er musste niesen und sich die Nase schnauben. Auf sie könne man sich verlassen, hatte der Chirurg zu Helene gesagt, und sie gebeten, die Naht zu beenden.
Sie können stolz sein, die Frau wechselte jetzt die Hand und hielt sich mit der anderen an der Stange fest, weil die Straßenbahn in die Kurve fuhr, wirklich, stolz sein, die Frau nickte wohlwollend. Sie meinte Peter. Helene empfand keinen Stolz. Warum sollte sie stolz darauf sein, dass sie ein Kind hatte? Peter gehörte ihr nicht, sie hatte ihn geboren, aber er war nicht ihr Eigentum und nicht ihre Errungenschaft. Helene war froh, wenn sie Peter lachen sah, aber sie sah ihn nur selten, meistens schlief er, wenn sie bei ihm war, er schlief in ihrem Bett, er hatte häufig Angst und wollte nicht allein schlafen. Schließlich waren die Menschen Säugetiere, oder nicht? Warum sollte ein Menschenkind irgendwo allein schlafen, während alle anderen Säugetiere ihre Kleinen bei sich wärmten? Helene sah Peter selten wach und noch seltener lachen.
Wissen Sie, wir würden sonst aussterben.
Helene starrte jetzt durch die Scheibe auf die Straße. Wen meinte die Frau mit wir? Die nordische Rasse, die Menschheit? Das Mädchen, dessen Eileiter heute mittag durchtrennt worden waren, war ein gesundes fröhliches Mädchen. Nur hörbar sprechen konnte sie nicht. Es hieß, man wolle vermeiden, dass sie taubstumme Kinder bekäme. Warum nur war es so schlimm, wenn jemand statt mit dem Mund mit Gesten sprach? Warum sollten die Kinder dieses Mädchens unglücklichere Kinder werden als ihr Peter, der auch nicht auf jede seiner Fragen eine Antwort erhielt? Später, als das Mädchen aufgewacht war, war Helene zu ihr gegangen und hatte ihr eine Apfelsine gebracht. Sie hätte ihr keine Apfelsine bringen dürfen. Die Apfelsinen waren für andere Patientinnen gedacht. Helene hatte ihr die Apfelsine heimlich gebracht. Den Wundhaken hatte sie gehalten, die Naht geschlossen. Hätte der Chirurg zu Helene gesagt, schneiden Sie, so hätte sie womöglich auch den Eileiter durchtrennt. Helene spürte das kühle Glas der Scheibe an ihrer Stirn.
Mutter, hörst du gar nicht zu? Peter kniff ihr jetzt in die Hand. Er sah zweifelnd, fast böse aus. Offenbar wollte er seit geraumer Zeit ihre Aufmerksamkeit erringen.
Ich höre, sagte Helene. Peter erzählte ihr etwas, er erzählte ihr, dass die anderen Kinder Mumeln dewerfen hatten.
Geworfen, sagte Helene, Murmeln geworfen, und musste wieder an das junge Mädchen denken.
Geworfen, Peters Augen strahlten. Er konnte deutlich sprechen, wenn sie ihn ermahnte. Das Mädchen würde jetzt allein in seinem Bett im Saal mit den achtunddreißig anderen Patientinnen liegen. Ob man ihr gesagt hatte, welche Operation an ihr vollzogen worden war? Helene konnte es ihr sagen, am nächsten Morgen, sie musste es ihr sagen. Sie durfte sich später nicht wundern, sie sollte es wenigstens wissen. Vielleicht würde sie am nächsten Morgen gar nicht mehr da sein.
Hunger, jammerte Peter jetzt. Sie mussten aussteigen. Helene fiel ein, dass sie am frühen Morgen das Einkaufen nicht geschafft hatte. Welches Geschäft öffnete schon vor Dienstbeginn? Vielleicht konnte sie bei der Krämerin klingeln. Die hatte es nicht gern, wenn abends noch jemand klingelte, aber Helene blieb häufig nichts anderes übrig, wenn sie nicht zum Einkaufen kam, heute hatte sie nichts zu essen zu Hause.
Von der Krämerin bekam sie zwei Eier und einen viertel Liter Milch und ein ganzes Pfund Kartoffeln. Die Kartoffeln hatten schon kleine Triebe, aber immerhin, Helene war froh, dass sie Kartoffeln bekommen hatte.
Toffeln meckt nich, klagte Peter, als Helene ihm den Teller mit den Kartoffeln hinstellte. Sie wollte nicht ungeduldig sein, sie wollte ihn nicht anschreien, dass er froh sein müsse und essen solle. Lieber sagte sie nichts.
Meckt nich, sagte Peter wieder und ließ ein Kartoffelstück chen von seinem kleinen Löffel auf den Boden fallen.
Helene riss ihm den Löffel aus der Hand und hätte ihn am liebsten auf den Tisch geknallt, sie musste an ihre Mutter denken, das böse Funkeln in den Augen ihrer Mutter, die Unberechenbarkeit, Helene legte den Löffel auf den Tisch. Wenn du keinen Hunger hast, ihre Stimme erstickte, musst du nicht essen. Sie griff Peter am Handgelenk und zog ihn zum Waschbecken. Er weinte, sie wusch ihn.
Sine esse. Peter wimmerte. Sine esse, Peter zeigte mit der Hand hinauf zu dem Bild, das über der Kommode hing. Darauf leuchtete ein gefüllter Obstkorb. Meinte er die Apfelsine? Hätte sie ihm vielleicht die Apfelsine aus dem Krankenhaus mitbringen sollen? Das Mädchen brauchte die Apfelsine, Peter hatte Kartoffeln.
Sine! Peter schrie jetzt, dass es in Helenes Ohr klirrte. Helene biss sich auf die Lippen, sie biss sich auf die Zähne, niemals wollte sie ihre Geduld verlieren, ihre Geduld war alles, sie war Fassung und Form. Helene nahm Peter auf den Arm, drehte im Vorbei gehen das Bild an der Wand um und trug ihn zu ihrem Bett.
An einem anderen Tag, flüsterte sie ihm ins Ohr. An einem anderen Tag gibt es eine Apfelsine. Peter beruhigte sich, er ließ sich gerne streicheln. Helene streichelte seine Stirn und sie steckte die Decke über ihm fest.
Mutter, singe?
Helene wusste, dass sie nicht singen konnte, sie streichelte ihn und schüttelte den Kopf. Eine Frau im Krankenhaus hatte sie heute am Arm gepackt, mit einer alten und knochigen Hand, sie hatte zu Helene gesagt, sie möge sie sterben lassen. Bitte, einfach nur sterben. Schlaf, Peterle.
Singe, bitte, singe? Peter wollte seine Augen nicht schließen.
Vielleicht musste sie sich nur ein wenig anstrengen, Helene wollte singen, sie konnte nur nicht. Gab es ein Lied, das ihr einfiel? Maria durch ein Dornwald ging. Weihnachten war längst vorbei. Ihre Stimme kratzte, kein Ton wollte sich vom anderen abheben. Peter beobachtete sie, Helene schloss ihren Mund.
Singe.
Helene schüttelte den Kopf. Ihr Hals war fest und dick, zu schmal die Öffnung, ihre Kraft gering, die Stimmbänder starr und morsch. Ob es eine krankhaft frühzeitige Alterung der Stimmbänder gab, das Versiegen der Stimme?
Tante singe, verlangte Peter jetzt und wollte sich wieder aufrichten. Helene wusste, dass Frau Kozinska manchmal für Peter gesungen hatte. Sie sang auch, wenn Helene ihr auf der Straße oder im Treppenhaus begegnete. Manchmal hörte man ihr Singen bis in die Wohnung hinauf. Helene schüttelte den Kopf. Frau Kozinska sang gerne, eine ungebrochene Fröhlichkeit, eine beneidenswerte, aber sie hatte Peter zu oft allein gelassen, und wenn sie abends da war, trank sie gerne. Es war ein Segen, dass es jetzt den Kindergarten gab. Nur in den Wochen mit Nachtdiensten war es schwierig. Helene ließ Peter dann allein, er schlief ja die längste Zeit. Sie hatte ihm vor dem Bett gesagt, dass sie wiederkommen werde, und schloss die Tür ab. Wenn sie morgens nach Hause kam, holte sie zuerst die Kohlen aus dem Keller, sie schleppte meist ein gutes Dutzend auf einmal, sie trug sie auf dem Rücken in einer Kiepe und links und rechts noch einen Eimer voller Briketts und Holzscheite. Oben angekommen heizte sie den Ofen an, Peter schlief in ihrem Bett, sie streichelte ihm über das kurze blonde Haar, bis er sich streckte und auf ihren Arm wollte, sie wusch ihn, zog ihn an, gab ihm etwas zu essen und brachte ihn in den Kindergarten, wo er wieder auf ihren Arm wollte, sie ihn aber nicht hochnahm, weil sie sich sonst nicht voneinander trennen konnten. Zurück zu Hause wusch Helene die Wäsche, sie nähte den Riemen der Lederhose an, seit Baden sein Geschäft hatte aufgeben müssen, kam sie an keine guten und günstigen Kurzwaren mehr, Baden war verschwunden, er war im Februar mit den anderen weggebracht worden, nach Osten, hieß es, Helene nähte also den Riemen der Lederhose fest und ersetzte das verlorene Edelweiß gegen einen bunten Knopf und schlief selbst einige Stunden, sie legte ein, zwei Briketts nach und holte Peter vom Kindergarten ab und brachte ihn nach Hause, an den Abendbrottisch und ins Bett und löschte das Licht und schlich sich aus der Tür, sie musste sich beeilen, um rechtzeitig die Straßenbahn zur Nachtschicht im Krankenhaus zu bekommen.
Wenn Helene alle zwei Wochen einen Tag frei hatte, ging sie mit Peter an der Hand hinunter zum Hafen. Sie sahen den Schiffen zu, nur selten kam ein Kriegsschiff herein. Peter bestaunte die Kriegsschiffe, und sie zeigte ihm die Vogelschwärme.
Enten, sagte sie und deutete mit ihrer Hand zu der kleinen Gruppe fliegender Vögel. Sie flogen zu fünft im V. Peter aß gerne Ente, aber Helene besaß nicht das Geld, um eine zu kaufen. Ab und an schickte Wilhelm aus Frankfurt Geld. Sie wollte sein Geld nicht; es war Schweigegeld, sie brauchte sein Geld nicht zum Schweigen. Alle paar Monate schickte er einen Brief mit Geld darin und einem Zettel: Meine Alice, kauf dem Jungen Handschuh und Mütze, stand darauf. Helene hatte Peter längst Handschuh und Mütze gestrickt, sie nahm das Geld, steckte es in einen Umschlag und schrieb darauf: Frau Selma Würsich, Tuchmacherstraße 13, Bautzen in der Lausitz. Sie schickte die Briefe ohne Absender nach Bautzen, bis zuletzt, bis zu dem Tag, an dem sie ein schmales, langes Päckchen aus Berlin erhielt. In dem Päckchen befand sich der aus Horn geschnitzte Fisch. Die Kette darin fehlte. Vielleicht hatte jemand Geld benötigt und die Rubine verkaufen müssen, womöglich war das Päckchen auf der Post geöffnet worden und hatte jemand Gefallen an der Kette gefunden. Im Innern des Fisches steckte ein Brief. Der Brief roch betäubend, er roch nach Leontine. Es war Leontines Handschrift. Meine kleine Alice, in Berlin regnet es immerzu, aber der Frost ist endlich vorüber. Ob du noch unter dieser Adresse wohnst? Martha war in den letzten Jahren sehr krank. Du kennst sie ja, sie klagt nicht, sie wollte nicht, dass du davon erfährst. Wir wollten dich nicht damit belasten. Sie verbot mir, dir zu schreiben. Sie musste die Arbeit im Krankenhaus aufgeben. Man hat ihr eine Arbeit in einem der neuen Arbeitslager zugewiesen. Mir sind hier die Hände gebunden. Einen Ehemann bräuchte sie jetzt, einflussreiche Eltern, einen unmittelbaren Verwandten. Sobald ich sie einmal besuchen darf, muss ich ihr mitteilen, dass gestern ein Brief der gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege eingetroffen ist. Es heißt darin, ihre Mutter sei vor wenigen Wochen in Groß schweidnitz an einer akuten Lungenentzündung gestorben. Es tut mir sehr leid für sie. Obwohl ich weiß, dass manche es als Gnadentod bezeichnen.
Die Sirenen der großen Schiffe waren tief, sie ließen das Zwerchfell vibrieren. Selbst in ihren Fußsohlen konnte Helene das Brummen spüren. Peter wollte von seiner Mutter wissen, wo die Kanonen der Schiffe seien. In Leontines Handschrift stand unter dem Brief: Gehab dich wohl. Deine Schwester Elsa. Als Postskriptum hatte sie folgenden Satz vermerkt: Erinnerst du dich noch an die alte Nachbarin Fanny? Sie ist abgeholt worden. In ihrer Wohnung lebt jetzt die Familie eines Obergruppenführers, seine Frau mit drei netten Kindern. Helene wusste, was dieser Brief bedeutete. Leontine musste die Spuren verwischen, sie gefährdete sonst ihrer beider Leben. Sie hatte die einzig möglichen Worte gewählt, um das Ungeheuerliche zu schreiben. Leontine hatte getrocknete Rosenblätter in den Brief gerollt. Die Rosenblätter waren Helene entgegengefallen. He lene musste weinen, aber sie konnte nicht. Etwas hinderte sie, sie konnte nicht anerkennen, was sie verstanden hatte. Ein süßer Duft ging von ihnen aus, vielleicht war es auch nur der Duft von Leontines Parfüm. Ihr wahrer Name sollte in keinen gefährlichen Zusammenhang mit Martha, Helene und sonst jemandem geraten. Ob sie noch am Krankenhaus arbeitete? Musste sie Eierstöcke durchtrennen, wollte man auch sie in ein Lazarett schicken? Schließlich war Leontine in der Zwischenzeit geschieden worden, sie hatte keine Kinder, man konnte sie schicken, wohin man wollte. Sie konnte sich Namen nehmen, so viele sie wollte, Leo, Elsa und ihretwegen auch Abaelard, Helene würde ihre feste und flüchtige Handschrift immer erkennen, sie hatte sich in Helenes Inneres gebrannt. Eine unbändige Sehnsucht ergriff Helene, ihr wurde schwindelig, sie schwitzte.
Kanonen? Peter zog ungeduldig am Ärmel seiner Mutter. Wo sind die Kanonen? Helene wusste es nicht.
Bist du traurig? Peter blickte zu seiner Mutter hinauf.
Helene schüttelte den Kopf. Der Wind, sagte sie. Komm, wir gehen noch zum Bahnhof, wir sehen uns die Züge an. Helene musste daran denken, wie es wäre, wenn sie einfach eine Fahrkarte lösen und mit Peter nach Berlin fahren würde. Es sollte möglich sein, Leontine ausfindig zu machen. Es musste. Aber wer wusste, welche Gefahr darin lag?
Der Bahnhof lag unterhalb der Stadt an der Oder. Die Züge fuhren ein und aus. Der Wind fegte über den Bahnsteig und trieb ihnen viele Tränen aus den Augen. Sie hatten sich auf eine Bank gesetzt und hielten einander an der Hand. Im Krankenhaus gab es eine neue Schwester, Ida Fiebinger, sie kam aus Bautzen. Helene war seltsam zumute geworden, als sie Ida Fiebinger zum ersten Mal sprechen gehört hatte, die Melodie, die geschlossenen Vokale, das trichterförmige Schleppen der Sätze. Helene musste ständig Idas Nähe suchen. Eines Tages sagte Schwester Ida, als der Sturm einen Baum im Hof des Krankenhauses gefällt hatte: Weiß der Wind mal nicht wohin, weht er über Budissin. Schwester Ida hatte dabei gelacht und mit Blick aus dem Fenster zu dem gefallenen Baum zu den anderen Schwestern gesagt, sie müsse sich wohl um ihre Heimat keine Sorgen machen. Helene wäre bei dem Satz am liebsten im Erdboden versunken, nur mit Mühe hatte sie ein Lächeln unterdrückt. Wie lange hatte sie dieses Sprichwort nicht gehört?
Peter sagte, ihm sei kalt, er wollte nach Hause. Helene vertröstete ihn, noch einen Zug sollten sie abwarten. Einmal hatte sich Schwester Ida, als sie beim Mittagessen in der Schwestern küche mit ihren Tellern im Kreis standen, mitten im Satz zu Helene umgedreht und gesagt: Jetzt weiß ich, warum du mir die ganze Zeit so bekannt vorkommst. Du bist aus Bautzen. Helene hatte ganz ruhig ihre Gabel in den Teller gelegt, sie fühlte so plötzlich das Blut in ihrem Gesicht, dass sie einen Hustenanfall vortäuschen und sich entschuldigen musste. Bestimmt kennst du meinen Onkel, er war bis zur Pensionierung ein bekannter Richter in Bautzen, fügte Ida jetzt eifrig hinzu.
Helene schüttelte den Kopf. Nein, beeilte sie sich, aus Dresden komme ich, Bautzen habe ich nur einmal auf der Durchreise besucht. Gibt es dort nicht so einen schiefen Turm? Schwester Ida sah Helene enttäuscht an, etwas ungläubig, aber enttäuscht. Auf der Durchreise? Nach Breslau, behauptete Helene und hoffte inständig, dass keine der Schwestern aus Breslau kam und mit ihr über eine Stadt sprechen wollte, die sie tatsächlich nicht kannte. Seither fühlte Helene an manchen Tagen Schwester Idas prüfenden Blick auf sich. Der Wind jaulte und summte an den Telegrafenmasten. Helene schaute hinüber zur Lokomotive. Aus ihrem Schornstein dampfte es nur noch schwach. Es sah aus, als wollte sie sich heute nicht mehr aus dem Bahnhof fortbewegen. Niemand war gekommen und Helene würde keine Fahrkarte lösen. Helene stand auf, Peter hielt sich an ihrer Hand fest, sie gingen schweigend die Treppen hinauf in die Stadt zurück.
Dass Wilhelm sie noch einmal besuchen wollte und dafür just den Sommer nutzen würde, in dem Peter in die Schule kam, damit hatte Helene nicht gerechnet. Sie hatte die Wohnung hergerichtet, die Wand neben dem Küchenfenster neu gestrichen, weil es dort von oben reingeregnet hatte, sie hatte die Tapete im Schlafzimmer angeklebt und Nägel in den wackelnden Stuhl geschlagen, bis er fest und stabil am Küchentisch stand, und zuletzt hatte sie die Gardinen gewaschen, die Fenster geputzt und einen Strauß Cosmea gekauft. Alles sollte glänzen, wenn Wilhelm kam. Er sollte nicht den Kopf schütteln und glauben, sie schaffe das nicht allein mit dem Kind. Alles schaffte sie allein. Gemeinsam mit Peter trug sie das Sofa der alten Nachbarn von nebenan hinüber in ihre Küche. Sie erklärte Peter, dass er in der Woche wohl auf dem Sofa werde schlafen müssen. Aber dann zog Wilhelm es vor, selbst auf dem Sofa zu schlafen, und so konnte Peter in ihrem Bett bleiben. Wilhelm sagte, er habe Urlaub; er war im Anzug gekommen. So recht wusste Helene nicht, ob er überhaupt als Soldat diente. Er machte ein Geheimnis darum. Ein Drückeberger war er nicht, Helene schien es, als weise sein Stolz darauf hin, dass er für Höheres und Strategisches berufen sei. Auch kamen seine kurzen Briefe mit etwas Geld alle paar Monate stets aus Frankfurt oder Berlin. Neuerdings stopfte sie das Geld in einen einzelnen dicken Wollstrumpf, den sie zuunterst in ihrem Korb versteckt hatte. Einmal, als Peter sich das Knie aufgeschlagen hatte, weinte und gerne einen Verband haben wollte, und Helene ihm sagte, die Wunde trockne am besten an der Luft, fiel Wilhelm Helene ins Wort, während er dem Jungen mit der Hand in den Nacken schlug: Heul nicht, Peter. Und merk dir eins, der Mann ist zum Töten da, die Frau heilt seine Wunden. Peter hatte den Kopf in den Nacken gelegt und zu seinem Vater hinaufgesehen. Vielleicht gab es ein Lächeln? Aber nein, der Ernst des Vaters galt ihm.
Wilhelm sah gut aus, kräftig und fröhlich. Er strotzte. Nachts schnarchte er laut und zufrieden, Helene konnte kein Auge zutun. Seine Kragen waren sauber, die Hemden gebügelt, in der Brieftasche trug er die Fotografie einer lächelnden Frau. Helene hatte seine Hose zum Waschen genommen, dabei war ihr die Brieftasche in die Hände gefallen. Es ging sie nichts an; sie fragte ihn nicht, wie auch sie nicht gefragt werden wollte. Am vierten Morgen erklärte Wilhelm, er wolle vor seiner Rückkehr am Sonntag mit dem Jungen einen kleinen Ausflug nach Velten machen. Womöglich komme sein Bruder aus Gelbensande hinzu. Helene hatte Wilhelms Bruder nie kennengelernt, bis heute wusste sie nicht, ob der es gewesen war, der ihr den Pass und das Zeugnis angefertigt hatte. Peter umschlang die Hüfte seiner Mutter, er wollte nicht ohne seine Mutter fahren. Aber der Vater sagte, er solle kein Weichling sein, ein Junge müsse auch mal ohne seine Mutter eine Reise tun. Velten? Wilhelm glaubte, in Helenes Blick Misstrauen zu erkennen.
Keine Sorge, halb lachte er, halb wies er sie zurecht, ich bring dir den Jungen schon zurück. Selbst im Urlaub muss man mal einen Arbeitskollegen treffen. Da Wilhelm seinen Wagen in Frankfurt gelassen hatte, nahmen die beiden einen Zug. Für Peter war es ein großer Tag, es sollte seine erste Reise im Zug sein. Womöglich wollte Wilhelm die gemeinsame Zeit mit seiner Frau verkürzen, indem er die Hälfte der angekündigten Urlaubswoche mit Peter einen kleinen Ausflug machte. Vielleicht stand die Reise auch im Zusammenhang mit seiner Arbeit.
Helene arbeitete in dieser Zeit auf der Wöchnerinnenstation, die Frauen konnten nicht genug Fürsorge erfahren, beständig mussten Vorlagen gewechselt und Bettpfannen ausgetauscht werden, kalte Wickel gegen das Kindbettfieber und solche aus Quark bei aufkommender Mastitis mussten stündlich erneuert werden. Die Risse versorgt, die Nabel gepudert. Helene brachte den Frauen ihre Säuglinge aus dem Säuglingszimmer und legte sie ihnen an die Brüste. Rosa gesunde Kinder saugten süße Milch aus den gefüllten Brüsten ihrer Mütter, während ihre Väter fern im Osten und im Westen, zu Land, See und Luft an der Front kämpften und die Aushungerung Leningrads überwachten. Helene wollte nicht denken, es gab Anweisungen, Abläufe, Zurufe, sie musste handeln, sie musste laufen, sie drückte die Säuglinge an die Brüste ihrer Mütter, sie wickelte sie, wog und impfte und schrieb einen letzten Brief an die alte Adresse, die sie von Leontine besaß. Sie würde keinen weiteren mehr schicken; auf keinen einzigen ihrer Briefe war eine Antwort gekommen. Die Fernmeldevermittlung sagte ihr, die Telefonnummer sei nicht vergeben und es sei keine Frau Doktor unter besagtem Namen bekannt. Nur zum Schlafen ging Helene nach Hause.
Am Sonntag, nach der Heimkehr aus Velten, erzählte Peter, sie hätten eine Gießerei besichtigt und in einer Pension übernachtet. Der Onkel habe nicht kommen können, vermutlich habe er keinen Urlaub erhalten. Sie aßen Heringssalat mit Zwiebeln, Äpfeln und Roten Beeten. Nur Kapern hatte Helene keine bekommen können. Peter leckte seinen Teller ab, sein Mund war von den Roten Beeten rosarot. Wilhelm musste zurück nach Frankfurt.
Davon habe ich mehr, als ich ausgeben kann, sagte Wilhelm, als er Peter zum Abschied an der Tür einen Zehner in die Hand drückte. Peter solle sich Karamellen davon kaufen. Helene war froh, dass Wilhelm wieder weg war.
Als Helene sich abends neben Peter ins Bett legte, war Peter noch nicht eingeschlafen. Er drehte sich zu seiner Mutter um.
Vater sagt, wir werden siegen.
Helene schwieg. Vermutlich hatte Wilhelm dem Jungen von den Bomben erzählt. Wilhelm war der festen Überzeugung, dass erst der Dienst an der Waffe einen Mann zum Mann werden ließ. Helene streichelte ihrem Sohn über die Stirn. Was für ein schöner Mensch er war.
Vater sagt, dass ich groß und stark werden soll.
Helene musste lächeln. War er das nicht schon, groß und stark? Sie wusste, dass er oft ängstlich war, aber wer konnte mutig sein, wenn er keine Angst besaß? In den Tagen, als Wilhelm mit Peter fort war, hatte sie ein Klappmesser für Peter gekauft. Sie wollte es ihm im November zum sechsten Geburtstag schenken. Sie wusste, dass er sich nichts sehnlicher als ein Klappmesser wünschte. Er wollte sich eine Angel schnitzen, und er wollte sein Brot schneiden.
Vater sagt, dass du immer schweigst, weil du kalt bist.
Helene blickte ihrem Peter in die Augen, die Leute sagten, er habe ihre Augen, glasklar und blau; es war schwierig, im Liegen den Kopf zu schütteln. Sie streichelte jetzt seine Schultern, und Peter drückte seine Stirn gegen ihre Brust.
Aber das glaube ich nicht, sagte Peter an ihrer Brust. Ich hab dich lieb, Mutter. Helene streichelte ihrem Jungen den Rücken. Es war schwer, den Arm zu bewegen. Vielleicht hatte sie über den Tag zu viele Kranke gehoben. Sie fühlte sich schwach. Was konnte sie ihrem Peter sein? Und wie konnte er ihr Peter sein, wenn sie ihm nichts sein konnte, nicht sprechen, noch erzählen, einfach nichts sagen konnte? Eine andere Frau würde weinen, vermutete Helene. Vielleicht stimmte, was Wilhelm behauptete, vielleicht war ihr Herz ein Stein. Kalt, eisig, eisern. Sie weinte nicht, weil ihr nicht zum Weinen war; ihre Füße taten ihr weh, der Rücken schmerzte, sie war den ganzen Tag gelaufen, sie wusste, dass sie nur noch fünf Stunden zum Schlafen hatte, ehe sie aufstehen, die Wäsche bügeln, die Küche wischen, für Peter das Frühstück richten, ihn wecken und zur Schule schicken würde, ehe sie selbst ins Krankenhaus arbeiten ging. Ihr Arm, mit dem sie Peter gestreichelt hatte, der jetzt auf ihm lag, auf ihrem schlafenden Kind, schmerzte. Eine Sehnenentzündung konnte sie nicht gebrauchen. Eine Schwester wurde nicht krank. Wilhelm hatte am Sonntag zum Abschied zu ihr gesagt: Alice, du bist eisern und zäh. Du brauchst mich nicht. Es war ihr nicht möglich, seine Worte zu deuten. War er stolz, war er beleidigt, war er zufrieden, weil seine Abkehr hierdurch eine gewisse Berechtigung erfuhr? Vielleicht kränkte es ihn, dass sie ihn nicht brauchte. Ein Mann wollte gebraucht werden, keine Frage. Die Eisenfaust wollte ihr Ziel nicht verlieren, nicht abprallen vom Ziel, Eisen auf Eisen, und gewiss nicht ihrer Exis tenzberechtigung beraubt werden. Und verhielt es sich mit einer Frau anders? Lag ihr nicht auch alles daran, jeden Tag rechtzeitig im Krankenhaus zu sein? Das Eiserne, war das ein Kriterium, eine Eigenschaft, eine Eigenart? Die eiserne Disziplin. Wie oft machte sie Überstunden. Keine Schwester ging, wenn sie sah, dass sich die Bettpfannen auf dem Wagen stapelten, wenn eine Patientin sich auf das Hemd gebrochen hatte und eine andere im Sterben lag. Das eiserne Mitgefühl. Auch Peter hatte sie angewöhnt, nicht krank zu werden. Die eiserne Vernunft. Als er klein war, hatte er die Windpocken und die Masern gehabt, sie hatte die Kozinska bitten müssen, auf ihn aufzupassen, damit sie selbst rechtzeitig zur Arbeit kam. Die Kozinska hatte es über den Tag nicht einmal geschafft, ihren Peter zu waschen, sie hatte vergessen, ihm die kalten Wickel zu machen, auch getrunken hatte er am Abend zu wenig. Vermutlich war sie mit dem Singen beschäftigt gewesen.
Helene wurde am Morgen von Peter geweckt, es war schon hell, er drückte sich an seine Mutter, er schlang seine Arme um sie, er flüsterte: Ich hab dich so lieb, Mutter. Plötzlich lag er auf ihr und vergrub sein Gesicht an ihrem Hals. Sein seidiges Haar kitzelte sie. Er sollte nicht auf ihr liegen, wusste er das nicht? Und während sie ihn von sich schob, sagte er: Deine Haut ist so weich, Mutter, du riechst so gut, ich will immer bei dir bleiben, immer, und er versuchte, sich nicht von ihr runterschieben zu lassen, er hielt sie fest, seine Hand berührte ihre Brust, und sie spürte etwas Kleines, Hartes an ihrem Schenkel, das nur eine Erregung sein konnte, seine Erregung. Helene stieß ihn von sich und stand auf.
Mutter?
Beeil dich, Peter, du musst dich waschen und in die Schule gehen, sagte sie mit dem Rücken zu ihm. Mehr sagte sie nicht, sie wollte sich nicht zu ihm umdrehen, sein Gesicht nicht sehen.
Viele schickten ihre Kinder jetzt im Krieg auf das Land, aber wenn sie ihn auf das Land schicken würde, würde man sie nach Obrawalde schicken, in ein Lazarett oder nach Ravensbrück. Helene wollte nirgendwohin geschickt werden, also konnte sie auch Peter nicht aufs Land schicken.
Die Sonne geriet in die Schieflage, herbstliche Schieflage zur Erde. Der Wind blies, er wimmerte, er pfiff. Einmal hängte Helene die Wäsche im Hof auf, als sie die Kinder spielen und rufen hörte. Sie jagten einander, sie ärgerten sich. Deutlich konnte Helene die Stimme von Peter aus den Stimmen der anderen Kinder heraushören.
Jude Itzig Lebertran
hat geschissen Marzipan
Marzipan ist ungesund
Jude ist ein Schweinehund.
Das Laken hing ihr im Weg, der Wind schlug es ihr ins Gesicht, der Wind war frisch, sie konnte die Kinder nicht sehen, nur ein Mädchen aus dem Nachbarhaus stand unschlüssig in der Toreinfahrt. Helene heftete die letzte Wäscheklammer an das Laken und drehte sich um. Wo war er nur, der Lausebengel? Oft war sie froh, wenn er allein um die Häuser rannte und sie in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen konnte, er hatte Freunde, er wurde selbständig, er sollte sie eines Tages nicht mehr brauchen, aber jetzt wollte sie wissen, wo er war. Wie kam er nur auf diesen Reim? Marzipan ist ungesund. Wegen der Bittermandeln? Zyankali? Es gab seit fast drei Jahren keine Juden mehr in Stettin, keinen einzigen, sie waren alle weggebracht worden.
Hast du meinen Peter gesehen? Helene fragte das Mädchen in der Toreinfahrt. Sie schüttelte den Kopf, nein, sie wusste nicht, wo er hingelaufen war.
Helene wartete mit dem Abendessen auf ihn. Die Lebensmittel wurden rationiert, die Krämerin hatte ihr ein Ei gegeben und einen viertel Liter Milch und einen Salatkopf, von der Tochter der alten Fischfrau unten am Bollwerk hatte sie eine Makrele bekommen, die hatte sie mit dem letzten Stück Butter und einem getrockneten Salbeiblatt gestopft und im Ofen gebacken. Peter mochte gebackenen Fisch. Als er zur Tür hereinkam, waren seine Knie beide aufgeschürft, am Ellenbogen hatte er Schorf, der aufgesprungen war. Seine Hände waren schwarz, auf der Nase hatte er einen Strich aus Kohle. Seine Augen glitzerten, offenbar hatte er Spaß gehabt.
Du gehst dir jetzt bitte die Hände waschen, sagte Helene. Peter fiel es kaum ein, sich seiner Mutter zu widersetzen. Er wusch sich die Hände, schrubbte seine Fingernägel mit der Bürste und setzte sich an den Tisch.
Die Kohle im Gesicht, sagte Helene, wäschst du die bitte auch ab?
Schwarzer Peter, sagte Peter und lachte. Er liebte das Spielen, wenn sich die anderen über ihn lustig machten, lachte er mit ihnen.
Vorhin habe ich dich einen Spottreim rufen hören. Helene legte Peter die obere Hälfte der Makrele auf den Teller und schnitt den Kanten Brot entzwei.
Mich?
Weißt du eigentlich, was Juden sind?
Peter zuckte unsicher die Achseln. Er wollte seine Mutter nicht verärgern, nichts lag ihm ferner. Menschen?
Na also, warum machst du dann einen Spottreim auf sie?
Peter zuckte wieder mit den Schultern.
Ich möchte das nicht, Helene sagte es streng und nüchtern, ich möchte das nie wieder hören. Ist das klar?
Peter sah unter seinem Pony hervor, er musste lächeln, verschmitzt sah er aus, wenn er so lächelte, er mochte nicht glauben, dass seine Mutter wegen eines Spottreims so aufgebracht war.
Was sind Juden für Menschen? Peter lächelte noch immer. Er wollte es wirklich wissen, er fragte und würde sich damit abfinden müssen, dass Helene ihm nicht antwortete. Helene empfand ein Ungenügen, ein peinigendes Ungenügen. War sie feige? Wie sollte sie ihrem Sohn erklären, was die Juden für Menschen waren, wer sie war, warum sie nicht sprechen konnte? Niemand wusste, wohin so ein Kind sein Wissen trug, am nächsten Tag konnte es in der Schule mit dem Lehrer oder den anderen Kindern darüber sprechen. Das wollte Helene nicht. Sie wollte ihn in keiner Gefahr wissen. Er verstand schon, da war sich Helene sicher, Peter war ein kluges Kind. Menschen, das reichte doch als Erklärung, nicht wahr? Helene erwiderte sein Lächeln nicht, sie aßen schweigend den Fisch.
Mutter, sagte er, nachdem er den Teller abgeleckt hatte, danke für die Makrele, das war eine fabelhafte Makrele. Peter konnte die meisten Fische unterscheiden, er liebte die Unterschiede, ihre unterschiedlichen Namen und Geschmäcker. Helene mochte das Wort fabelhaft nicht. Alle benutzten es, dabei war es unklar, das Wort, vollkommen irreführend. Wenn sie ihm im November das Klappmesser schenken würde, würde es zum Angeln in Stadtnähe schon zu spät sein, die meisten Ufer waren dann gefroren, die Fische schwammen zu tief, er würde wohl kaum einen essbaren Fisch fangen können. Helene deutete ein Lächeln an. Woher nahm er nur die ausgesprochene Höflichkeit? Hatte sie ihm jemals gesagt, er müsse sich bedanken? Die Gräten würde die Katze unten im Hof bekommen. Niemand wusste, wem die Katze gehörte, es war eine schöne Katze, die aussah wie eine Siamkatze, weiß mit braunen Pfoten und strahlend hellen Augen. Peter sollte das Geschirr spülen, Helene dankte ihm dafür im Voraus. Das machte er gern, er half seiner Mutter, wo er konnte. Er konnte allein ins Bett gehen, Helene nahm ihren gebügelten Kittel und verabschiedete sich, sie hatte Nachtdienst.
Der Nebel lag schwer über dem Haff, die Schiffe tuteten, ihre Hörner fielen einander in den Nacken. Oben in der Stadt schien golden die Sonne und warf lange Schatten, der Tag brach erst an.
Wir gehen in die Pilze, erklärte Helene an diesem freien Sonntag, den man ihr nach wiederholtem Bitten aus Rücksicht auf das Kind zugestanden hatte, und packte ihren Korb. Es gab keine besseren Bedingungen, noch gestern hatte es geregnet, in der vergangenen Nacht war Vollmond gewesen. Die halbe Stadt konnte sonntags in den Wäldern sein, aber Helene kannte sich aus, sie würde sie finden, die einsamen Lichtungen. Ein Handtuch, zwei Messer, eine Zeitung, denn die Pilze sollten sich nicht stoßen und aneinander reiben, wenn sie übereinander lagen.
Sie fuhren mit der Bahn nach Messenthin, die strohgedeckten Fachwerkhäuschen hatten sie schnell hinter sich gelassen, Helene kannte ihren Weg in den Wald. Die Fichten standen dicht, dann drängten sich Buchen und Eichen vor. Die Luft war kühl. Es duftete nach frühem Herbst, nach Pilzen und Erde. Buchenblätter, glatt und manche schon bronzefarben, die trockenen kleinen Eichen. Helene ging voran, sie ging schnellen Schrittes, sie kannte ihren Wald und seine Lichtungen. Hunger verspürte sie, was nicht die beste Voraussetzung für das Finden war. Ihre Blicke streiften das Dickicht, das Unterholz, hier war es zu dunkel, zu trocken dort, sie mussten tiefer gelangen, dorthin, wo noch Bienen auf den Stämmen saßen und sich am Holz wärmten, langsam in ihren Bewegungen, die anbrechende Kälte lähmte sie.
Mutter warte, du gehst so schnell. Peter war bestimmt schon zwanzig, dreißig Schritte hinter ihr. Helene drehte sich zu ihm um, er war jung, er hatte flinke Beine, nicht träumen sollte er. Helene setzte ihren Weg fort, sie stieg über abgefallene Äste, die Zweige unter ihren Füßen brachen, Baumschwämme mochte sie nicht, sollten sie nur an ihren morschen Stümpfen wuchern, sie ging weiter, sie wollte Steinpilze finden, Steinpilze und Maronen. Das Licht brach durch die Bäume, weiter vorn sah sie Grün, das zarte, dürre Grün einer kleinen Lichtung, dort mochte es sein, dort musste es sein, sie würde einen finden, zwei, einen ganzen Kreis wollte sie plündern. Helene lief und hörte Peter kaum noch, der weit hinter ihr herstolperte und rief. Da war einer. Er hatte einen dicken alten Hut, braun, alles andere als das, was an so einem Morgen zu erwarten war. Hatte es nicht geregnet in der vergangenen Nacht und war nicht Vollmond gewesen? Der späte Tau hing noch an manchen Gräsern. Nur eins war möglich, dass jemand bereits vor ihnen hier gewesen war und gewildert hatte in ihrem Wald, an ihrem Saum, auf ihrer Lichtung. Helene blieb stehen, atemlos blickte sie sich um. Der Ast dort hinten, war der frisch gebrochen?
Warte, rief Peter, der die Lichtung noch nicht erreicht hatte, als sie sich umdrehen und ihren Weg ins Dickicht fortsetzen wollte. Sie wartete nicht, sie ging nur langsamer. Sie hörte das Bellen eines Hundes, es klang aus der Ferne, dann eine Trillerpfeife, eine zweite. Es würde doch kein Förster am Sonntag jagen? Kaninchen mit Pfifferlingen, Helene musste an das zarte Kaninchen denken, das sie einmal vor langer Zeit für Wilhelm geschmort hatte. Eine Flinte müsste man haben. Pfifferlinge, noch lieber Butterpilze, Steinpilze. Helenes Augen wanderten über den Boden, sie quollen über, ihre Augen wollten aus den Höhlen springen. Ein Fliegenpilz mit kräftigem Hut, jung und geschwollen wie für ein Bilderbuch. Helene lief weiter, Peter immer hinter ihr her. Sie kreuzten die Bahnlinie. Ein sinnesbetäubender Gestank wehte ihnen entgegen. Nach Aas stank es, nach Urin und Exkrementen. Auf der Strecke stand in einiger Entfernung ein Viehtransport. Die rostigen Waggons waren bis oben geschlossen. Helene ging an den Gleisen entlang, Peter folgte ihr, aus der Ferne erkannte sie einen Polizisten. Womöglich war die Lok ausgefallen, das Vieh darbte bei langdauernden Transporten. Ein Hund bellte und Helene sagte nur: Komm.
Sie schlug den Weg in den Wald zurück ein. Sie mussten den Zug umgehen, in großem Bogen umrunden, um seinem Gestank zu entrinnen und den Hunden nicht über den Weg zu laufen.
Warum rennst du, Mutter?
Roch Peter nicht den Gestank? Sie musste würgen, durch den Mund atmen, am besten gar nicht atmen, Helene lief, die Zweige brachen, schlugen ihr ins Gesicht, sie hielt sich schützend die Arme vor die Augen, unter ihren Füßen brach morsches Holz, es glitschte unter ihren Füßen, sie rutschte, da stand ein Pilz, womöglich nur ein Bitterling, sie wollte nicht stehenbleiben, sich nicht bücken, keinesfalls verweilen, nur weiter, dem Gestank entgegen. Wenn sie den Zug erst in nordwestlicher Richtung umrundet hätten, würde es besser werden, der Gestank trieb nach Südosten, mit dem Wind, der von der See kam. Wieder drang die Trillerpfeife an Helenes Ohr. Vielleicht war ihnen Vieh abhanden gekommen? Vielleicht jagten sie Kühe sonntags im Wald, kleine Ferkel. Helene verspürte Hunger, sie musste an Grüne Klöße mit Steinpilzen denken. Die Bucheckern sprangen unter ihren Sohlen davon. Nur nicht bücken, so hübsch sie auch waren, die borstigen Hütchen, die glatten dreifaltigen Kerne, Eckern, sie schmeckten nussig, wenn man sie röstete, sie wollte sie Peter zeigen, nur nicht jetzt.
Sie hatten es geschafft, offenbar hatten sie den Zug eingeholt, in großem Bogen umrundet, der Gestank war fort. Waldesstille, das Surren von Insekten. Ein Specht.
Mutter, ich seh ein Eichhörnchen.
Helene wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
In ihrem Weg lag der dicke und lange Stamm einer Buche, die Rinde schimmerte noch silbergrau. Zwischen den Astnarben tummelten sich die flachen, schwarzrotgefleckten Käfer, die sich paarweise verhakelt hatten; kleine Stoßmich-Ziehdichs. We nigstens das hätte sie ihrem Peter vorlesen können, wenn schon nicht das Kalte Herz, das gruselte ihn zu sehr, so die Geschichte von Doctor Doolittle, käme sie noch zum Lesen, er würde seine Freude haben, aber es war ja noch Zeit, gewiss, sie hatten noch Zeit, eines Tages, bloß musste sie einmal früher aus dem Krankenhaus kommen und es in die Bücherei schaffen und das Buch vorhanden sein und sie es ausleihen. So ein Stamm, der wollte überwunden werden. Helene stellte ihren Korb ab und stützte ihre Hände auf, bloß keinen der Käfer zerdrücken, der Stamm federte nicht ein bisschen.
Mutter, warte!
Helene tastete nach einer geeigneten glatten Fläche, stützte sich mit beiden Händen auf den Stamm und schwang ein Bein hinüber. Der Stamm war so breit und stand aufgrund seiner Krümmung so hoch, dass sie auf ihm sitzen musste. Nur wie jetzt hinunter? Es knackte. Der Stamm konnte nicht brechen. Es knackte ganz nah. Der Gestank, da war er wieder, Helenes Hals wurde eng, sie musste würgen, sie schluckte und wollte nicht mehr atmen, keinen einzigen Zug mehr. Ein Übel, der Geruch, nicht Aas, nur Jauche, elende Jauche. Wie konnte das sein, sie waren ihm schon entronnen, dem Viehtransport, er lag hinter ihnen, ganz sicher. Ein Niesen. Helene drehte sich um. Unterhalb des Stammes, in der Grube, die das in den Himmel ragende Wurzelwerk hinterlassen hatte, kauerte ein Mensch. Helene öffnete den Mund, sie konnte nicht schreien. Ihr Schreck saß so tief, dass kein Laut aus ihrer Kehle kam. Der Mensch hatte sich geduckt, Zweige lagen über dem Buckel, den er machte, sein Kopf war nicht zu sehen, er bohrte ihn in die Erde, wohl, weil er hoffte, zu verschwinden und hoffte, man sähe ihn nicht. Er zitterte so stark, dass die welken Blätter an den Ästen, die er über sich gehäuft hatte, wackelten. Wieder knackte es. Offenbar fiel es dem Menschen schwer, stillzuhalten, dass nichts ihn rührte und er nichts rührte.
Mutter? Peter war keine zehn Meter mehr entfernt. Sein verschmitztes Lächeln breitete sich über seinem Gesicht aus. Wolltest du dich verstecken? Er fragte es, er musste nicht mehr rufen, so nah war er. Helene ließ sich vom Stamm gleiten, sie rutschte und lief ihm entgegen, sie griff seine Hand und zog ihn fort.
Ich kann dir helfen, Mutter, wenn du nicht über den Baum kommst, ich helfe dir, ich kann das, du wirst sehen. Peter wollte zurück zum Baumstamm, er wollte keine andere Richtung einschlagen, er wollte balancieren und seiner Mutter zeigen, wie man über so einen Stamm kletterte. Aber seine Mutter setzte unbeirrbar einen Schritt vor den anderen und zog Peter hinter sich her.
Lass mich los, Mutter, du tust mir ja weh.
Helene ließ nicht los, sie rannte, sie stolperte, Spinnweben klebten ihr im Gesicht, sie lief und hielt dabei den Korb vor sich, als könne er die Spinnweben beseitigen, der Wald lichtete sich etwas, Farne und Gräser standen hoch, hier war es fast windstill, sie durften nicht rasten, sie mussten fort. Das Vieh war ein Mensch, womöglich waren es Menschen, die dort auf den Gleisen standen und faulten und stanken. Gefangene, wer sonst krümmte sich in so leichter Kleidung zitternd unter Ästen? Ein Entflohener. Womöglich war es einer der Transporte, die nach Pölitz gingen, dort für Nachschub sorgen sollten. Seit Kriegsbeginn konnte nicht genügend Treibstoff hergestellt werden, nicht genügend Arbeiter verpflichtet, Gefangene geknechtet, hin gekarrt werden. Selbst Frauen, so hieß es in Gerüchten, die Schwestern sich hinter vorgehaltener Hand erzählten, arbeiteten in den Fabriken, schufteten, bis sie nicht mehr arbeiten noch essen und trinken konnten und eines Tages nicht mehr atmen mussten. Hatte sie das Gesicht des Geflohenen gesehen, hatte er den Kopf gehoben und sie in seine Augen geblickt, ängstliche Augen, schwarze Augen? Es waren Marthas Augen, die Helene jetzt sah. Marthas ängstliche Augen. Helene sah Martha in dem Viehwaggon, sie sah, wie Marthas nackte Füße auf den Exkrementen ausrutschten, wie sie Halt suchte, das Stöhnen der Gepferchten, das Ächzen des Menschen, sein Zittern, sein Eichenlaub und das Niesen. Ein Schuss fiel.
Ein Jäger, rief Peter, er juchzte.
Hunde bellten in der Ferne, ein zweiter Schuss.
Warte, Mutter. Peter wollte stehen bleiben, sich umsehen, er wollte erkennen, aus welcher Richtung die Schüsse kamen. Aber Helene wartete nicht, seine Hand rutschte aus ihrer, sie hastete weiter, stolperte, fiel und stützte sich auf umgefallene Stämme, hielt sich an Ästen und Zweigen und hörte nicht auf, einen Schritt vor den anderen zu setzen, einen Schritt vor den anderen, sie konnte laufen. Kaninchen mit Pfifferlingen, etwas ganz Einfaches, Häschen in der Grube, zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal. Vor allem, im Tal. Vieh. Wie konnte sie nur einmal Kaninchen gegessen haben?
Sie liefen eine unbestimmte Zeit durch den Wald, bis Peter hinter ihr rief, er könne nicht mehr, und einfach stehen blieb. Helene ließ sich nicht aufhalten, sie setzte ihren Weg fort, rastlos.
Weißt du, wo wir sind? Peter rief hinter ihr.
Helene wusste es nicht, sie konnte ihm nicht antworten, sie hatte die ganze Zeit über darauf geachtet, dass die Sonne, sobald sie durch das Blätterdach fiel, ihre Schatten nach rechts warf. Warf die Sonne Schatten oder die Bäume? Helene fand keine Gewissheit. Eine einfache Frage, doch unlösbar. Womöglich war es der Hunger, der sie trieb, der ihr Herz jagen ließ, sie schwitzen machte. Ja, sie hatte Hunger. In ihrem Korb befand sich noch kein einziger Pilz, nur gerannt war sie und wusste nicht einmal, wohin. Sie hatte darauf achten wollen, dass sie nach Westen liefen und der Zug hinter ihnen blieb. Vielleicht war das gelungen. Sie mussten weiter, Helene sah, dass es dort hinten aufhellte, eine Lichtung, eine Rodung, eine Straße, was auch immer.
Eine Hand griff nach ihrer, Peter hatte sie eingeholt, seine Hand war fest und klein und dürr. Wie konnte ein kleiner Junge bloß so viel Kraft in seiner Hand haben? Helene wollte sich losmachen, aber Peter hielt sie fest, fest an der Hand.
Voran, ein Bein und zwei und drei, Helene ertappte sich dabei, wie sie ihre Schritte zählte, sie wollte entkommen, wegkommen, nur weg. Peter klammerte sich an sie, griff nach ihrem Mantel, sie schüttelte ihren Arm, sie schüttelte heftig, bis er loslassen musste. Sie ging voran, er hinterher. Sie lief schneller als er. Der sich lichtende Wald entpuppte sich als Fata Morgana, nichts lichtete sich, immer dichter wurde der Wald, das Unterholz, über den Kronen hatten sich Wolken gebildet. Die Wolken da oben trieben, sie jagten landeinwärts. Wie spät mochte es sein? Später Vormittag, Mittag, Mittag vorbei? Ihrem Hunger nach musste es spät sein, zwei, vielleicht schon drei, dem Stand der Sonne nach. Mutter! Pilze gebraten mit Thymian, einfach in Butter geschwenkt, mit Salz, mit Pfeffer, mit frischer Petersilie, ein paar Tropfen Zitrone, Pilze gedünstet, gebacken, gekocht. Roh, den ersten wollte sie roh verspeisen, gleich hier und jetzt. Helene lief das Wasser im Mund zusammen, sie stolperte voran, besinnungslos. Blätter und Zweige, Dornen von Beeren, Brombeeren vielleicht, und wo waren sie eigentlich, die Pilze? Mutter! Die Buchen blieben zurück, eine alte Schonung, nur Fichten noch und niedrige, immer niedrigere Fichten, die Äste hingen tief, die Nadeln knisterten, der Waldboden sank. Eine kleine Lichtung, weiche Mooshügel ragten aus den Nadeln. Ein Fliegenpilz und noch einer, die giftigen Wächter. Und da stand er vor ihr, den Schirm gebogen, dunkel und glänzend. Schon mussten sich Schnecken gelabt haben, ein, zwei kleine Mulden kündeten von früheren Fressern. Helene kniete, ihre Knie drückten sich in das Moos, sie neigte sich über den Schirm und roch. Das Laub, der Pilz, es roch nach Wald, nach Essen im Herbst. Helene legte ihren Kopf in das Moos, sie besah ihn von unten, die Röhren waren noch weiß und fest, ein prächtiger Pilz. Mutter! Es klang wie aus weiter Ferne. Helene drehte sich um. Da standen sie Spalier in der Senke, ein Pilz am anderen, Jünglinge der letzten Nacht, Helene kroch auf allen vieren unter die Äste, bahnte sich mit den Händen den Weg, hielt Zweige zur Seite und robbte und legte sich auf den Waldboden. Wie es duftete. Mutter! Helene griff nach einem Pilz, brach ihn und steckte ihn ganz in den Mund, das mürbe, feste Fleisch zerfiel fast auf der Zunge, was für ein Genuss. Wo bist du? Peters Stimme knickte, er fürchtete sich, er konnte sie nicht sehen und glaubte sich allein. Wo bist du! Seine Stimme überschlug sich. Helene hatte ihren Korb auf der Lichtung stehen lassen. Der zweite Pilz war noch kleiner, fester, frischer, sein heller Stamm war bald dicker als der braune Hut. Mutter! Peter kämpfte mit den Tränen, sie sah seine dünnen Jungenbeine durch die Zweige, wie er über die Lichtung stapfte und an ihrem Korb stehen blieb, sich bückte und wieder aufrichtete. Beide Hände formte er vor dem Mund zum Trichter: Mutter!
Es gab kein Echo, oben in den Wipfeln rauschte der Wind, er peitschte die obersten Äste, er wollte die Erde erreichen. Der Junge schrie es in jede Richtung. Mutter!
War es nicht einfach, stillzuhalten? Die einfachste Übung schlechthin, kein Zittern, kein Knacken, nur Stille.
Der Junge setzte sich auf den Hosenboden und weinte. Es war kein Spaß. Wenn sie jetzt wenige Meter neben ihm aus dem Gebüsch käme, würde er wissen, dass sie ihn beobachtet und sich absichtsvoll versteckt hatte. Mit welcher Absicht, warum? Helene schämte sich und hielt still, und der Junge weinte. Sie atmete flach, nichts einfacher als das. Kein Niesen, kein Verrat. Die Ameisen kitzelten sie, an der Hüfte brannte es schon, die winzigen Biester gelangten in ihre Kleider und bissen. Eine feingliedrige rote Spinne, nicht größer als ein Stecknadelkopf, krabbelte auf ihrer Hand. Der Junge stand auf, er blickte in jede Richtung, nahm ihren Korb und machte sich auf den Weg in südöstliche Richtung. Dumm war er nicht, es war die Richtung zurück zum Dorf und zur Stadt. Helene stopfte sich einen Pilz nach dem anderen in den Mund, wie süß war das Alleinsein, das Kauen, die Ruhe.
Als sie seine Schritte im Unterholz nicht mehr hörte, kroch sie aus ihrem Versteck. Nadeln und Borke klebten an ihrem kurzen Mantel. Sie klopfte sich den Rock ab. Es raschelte, ein Vogel flog auf. Helene lief zwischen den Fichten und den jungen Eichen in den Wald, in die Richtung, in der er verschwunden war. Sie rief, Peter, und er antwortete schon auf der zweiten Silbe seines Namens, mit hoher Stimme, erleichtert, glücklich, das Lachen voll Ungeduld, schrie er: Hier bin ich, Mutter, hier.
Eine feine Naht, die Haut über dem Auge so zart, das Auge des Verletzten, eines Vaters, des Krieges. Der Augapfel war unter dem geschwollenen Fleisch kaum erkennbar. Helene zupfte mit der Pinzette die Glassplitter aus dem Gesicht, aus der Stirn, aus der Schläfe, feinste Glassplitter aus der einen Wange, die noch erkennbar war, aus der anderen, die nur Fleisch und roh und blutig war. Der Verletzte rührte sich nicht, nach mehreren Anläufen war es dem Arzt trotz geringer Dosis gelungen, den Mann zu betäuben. Die Medikamente waren knapp, die meisten Menschen mussten ohne Narkosen behandelt werden. Sie lagen auf Pritschen, auf Bettgestellen, die andere aus den Häusern geschleppt hatten, manche kauerten auf dem Boden, weil es nicht gelang, genügend Liegestätten zu beschaffen, unter Zeltplanen und in den Remisen des Krankenhauses, das weitgehend zerstört war. Helene tupfte die rostrote Tinktur auf die Wunden, sie verlangte nach Gaze, aber keine der Schwestern hatte mehr welche. Das kleine Mädchen starrte sie stumm an, seit Tagen, sie hatte das Haar vorn etwas versengt, eine Beule, sonst nichts, und ihre Mutter verloren. Sie sprach kein Wort mehr. Man musste sie fortschaffen aus dem Krankenhaus, irgendwohin, aber wer fand schon Gelegenheit, sich Gedanken zu machen. Hier bekam sie Suppe, sobald es jemand schaffte, eine zu kochen, sobald das Gas wieder da war und wenn wieder Wasser aus dem Hahn kam.
Bald nach den letzten Angriffen war im März die Frauen klinik ins Seebad Lubmin bei Greifswald evakuiert worden. Helene hatte versprochen, dass sie nachkommen werde, sobald sie die Not der Verletzten in der Stadt gemildert hätten; von ihrem Jungen sprach sie nicht mehr.
Die Zange, Schwester Alice, die Pinzette. Helene lief, sie reichte die Instrumente, sie öffnete das Bauchfell, sie schnitt, weil es schnell gehen musste und der Arzt jetzt im anderen Zelt eine junge schwangere Frau versorgte, die bloß ihren Fuß verletzt, vielleicht verloren hatte. Helene schnitt und sie nähte, sie stillte mit Tamponaden, ein Mädchen hielt ihr die Instrumente, das Skalpell und die Schere, die Zange und Nadeln. Helene arbeitete Tag und Nacht, manchmal schlief sie ein, zwei Stunden in dem Schuppen, den sich die Schwestern als Küche hergerichtet hatten. Nur selten dachte Helene daran, dass sie einmal zu Hause nach dem Rechten schauen musste. Peter sollte zur Schule gehen. Er widersprach, die Schule gebe es nicht mehr, dann eben zum Unterricht, mein Gott, er sollte sich etwas zum Essen besorgen, er hatte zwei Beine, oder nicht, er musste schauen, wo er blieb. Hatte er nicht Glück gehabt? Bei keinem der Angriffe war ihm etwas zugestoßen. Einmal im Winter hatte er eine Hand mitgebracht und nichts über die Hand sagen wollen. Womöglich hatte er sie auf der Straße gefunden, die Hand, eine Kinderhand. Helene hatte ihre Mühe gehabt, ihm die Hand abzunehmen. Er wollte sie nicht loslassen. Der Junge musste fort, keine Frage, sie konnte ihn nicht gebrauchen, er sollte seine Hausaufgaben machen, den Ofen heizen, er sollte selbst schauen, wo er Kohlen oder Holz fand, es lag doch überall herum, sie musste ihn allein lassen, seit Wochen, seit Monaten. Wenn sie nach Hause kam, sah er sie aus großen Augen an, immerzu wollte er etwas wissen, er fragte, er wollte wissen, wo sie gewesen sei, und er wollte, dass sie bei ihm blieb. Mit seinen Händen griff er nach ihr, legte sie sich zu ihm ins gemeinsame Bett, umschlangen sie seine Arme wie ein Krake. Tentakeln, er saugte sich fest. Seine Arme nahmen ihr die letzte Luft. Aber sie konnte nicht bleiben, sie hatte zu tun. Mit niemandem sprach sie mehr. Mutti! Eine alte Sterbende rief von ihrem Lager her. Das war Helene nicht, Helene war niemandes Mutti, sie musste sich nicht umdrehen, sie konnte schweigen und tupfen, nähen und verbinden. Sobald es Wasser gab, wusch sie die Verletzten, notdürftig, die Kranken, kaum hielt sie noch Hände von Sterbenden, es starben zu viele, zu viele Hände, zu viele Stimmen, das Ächzen und Stöhnen, schließlich das Verstummen, die Laken mussten geschlossen, die Leichen auf die Wagen geschleppt werden. Zurück zur Operation, ein Mann musste zum vierten Mal operiert werden, am Schädel, der Arzt wollte, dass Helene ihm zur Seite stand, ob da noch etwas zu retten war, das wusste niemand, aber es wurde operiert. Der Brückenkopf war gesprengt, vor der Stadt lauerte die Rote Armee, die Wut der Ausgehungerten, als erstes drangen die Geschichten ein, wie sie Blut geleckt hatten, wie sie sich vorwärtsschlugen, dass man sich fürchten sollte, schon drang sie ein, die Rote Armee, eine Mullbinde fehlte, eine Kompresse, irgendein Wundverband. Wie lang war es her, dass sie zu Hause gewesen war, ein Tag oder zwei? Sie konnte es nicht mehr sagen. Zuletzt hatte sie in der vorigen Nacht wenige Stunden auf der Liege im Schuppen geschlafen, im Wechsel mit anderen Schwestern, nur einmal hatte sie in diesen Monaten etwas geträumt, sie hatte Menschen aneinandergenäht, einen Menschen an den anderen, ein großes Menschengeflecht entstand da, und sie wusste nicht, welcher Teil davon lebendig und welcher schon tot war, nur genäht hatte sie, einen an den anderen, alle sonstigen Nächte und Stunden des Schlafs blieben traumlos, angenehm schwarz, Helene eilte nach Hause, es war schon dunkel, sie schaute nicht auf, betrachtete keinen Schaden, keinen sachlichen, was war diesem Haus geschehen, was jenem, sie eilte voran, sie musste Peter sagen, dass er ein neues Schloss besorgen sollte. Helene hastete, schneller sollten die Füße sie tragen, sie kam nicht vorwärts, der Boden unter ihren Füßen gab nach, sie rutschte, Steine, Geröll, Sand, sie trat, trat die Erde, rutschte tiefer, langsam immer tiefer, ihre Füße bohrten sich mit dem Sand in den Boden, sie nahm die Hände zu Hilfe, auf allen vieren musste sie hinaufkommen und rutschte doch wieder zurück. Ein Bombentrichter konnte zur Falle werden, zur Zeitfalle, zur Nachtfalle. Ein Schritt hinein und keine tausend führten hinaus, man konnte sich anstrengen, so sehr man wollte. Helene rief nicht, es waren zwar noch einige Menschen unterwegs, aber jeder auf seinem Weg, keiner auf ihrem. Ihre Hände tasteten, sie nahm neuen Anlauf, sie tastete oben und tastete unten, bis sie etwas Festes spürte und etwas greifen konnte. Es war so dunkel, dass sie nicht erkennen konnte, was es war. Sie hangelte sich an dem Festen entlang, einem Kabel vielleicht, ein festes Kabel, ein Wasserrohr, gebogen, dann etwas Weiches, das Weiche ließ sie los, es konnte ein Mensch sein, ein Leichenteil, an dem Festen hangelte sie sich, an ihm zog sie sich und kletterte hinauf. Die Straße war schwarz, dunkel der Himmel, in keinem der Häuser brannte Licht, Stromausfall vielleicht. Das Pflaster war vom Nieselregen glatt. Diebe! Aus der Ferne drang die Stimme einer aufgebrachten Frau, die sich über Plünderungen beschwerte. Wer wollte sich in dieser Nacht mit ihr ereifern, in der nächsten, in der übernächsten? Aus einem der schwarzen Fenster lehnte ein junger Mann. Mit ausgebreiteten Armen rief er in die Nacht: Der Erlöser, der Erlöser! Nur selten sah man noch junge Männer, sie mussten schon vom Erlöser sprechen, womöglich glaubte er daran, an die Erlösung. Was weg war, war weg. Helene musste aufpassen, dass sie nicht ausglitt. Helene hörte Männer hinter sich. Anzügliche Worte, sie ging schneller, sie lief. Bloß nicht umdrehen. Eine Verkleidung wäre gut; die Erde duftete nach Frühling, staubige Nacht im Frühling.
Sie musste etwas entscheiden, sie ahnte es; nein, es war keine Entscheidung, nur noch den Entschluss, den musste sie fassen. Alle Deutschen waren aufgefordert, die Stadt zu verlassen, hier war nichts mehr, kein Unterricht, kein Fisch für Peter. Wohin ihn schicken? Er würde sich nicht trennen, niemals, nicht freiwillig. Sie hatte keine Zeit für ausgedehnte Reisen, bringen konnte sie ihn nicht, auch wusste sie nicht, wohin. Unter keinen Umständen würde Peter sich schicken lassen. Jeden Vorwand ahnte er, entdeckte jede noch so zarte Fadenscheinigkeit. Dabei hatte sie nichts mehr für ihn, die Worte waren schon lange aus, sie hatte weder Brot noch eine Stunde, ihr blieb gar nichts für das Kind. Helenes Zeit bedeutete Linderung, Linderung für die Kranken, ein bisschen länger leben, ein bisschen schmerzloser. Es pocht eine Sehnsucht an die Welt, an der wir sterben müssen. Warum ihr diese Else immer im Kopf spukte? Nicht sterben, Else, nur erlöschen. Und das war gut so. Helene gab sich den Verletzten und Kranken, die fragten sie nichts; bloß Hand anlegen, das sollte sie, sie konnte das.
Zu Hause fand sie Peter in ihrem Bett. Er schlief schon. Sie zündete eine Kerze an und legte die Sprotte, die sie in einer Zeitung eingewickelt in ihrer Kitteltasche mitgebracht hatte, auf den Tisch. Er würde sich freuen, eine Sprotte zum Frühstück. Sie nahm den kleinen ochsenblutfarbenen Koffer aus dem Schrank und öffnete ihn. Auf den Boden des Koffers legte sie den Wollstrumpf, gefüllt mit Wilhelms Geld. Darauf zwei Hemdchen, zwei Unterhosen, einen Pullover, den sie ihm erst im Herbst gestrickt hatte. Der Schlafanzug, den er trug, war ihm schon viel zu kurz. Warum musste Peter ausgerechnet jetzt wachsen? Sie würde sich noch in dieser Nacht an die Nähmaschine setzen, die sie nach dem Brand aus der Nachbarwohnung hinüber in ihre geschafft hatte. Sie würde ihm einen neuen Schlafanzug nähen, nichts Aufwendiges, einen ganz einfachen. Stoff dafür gab es. Wozu sonst hatte sie all die Jahre einen Schlafanzug von Wilhelm aufgehoben? Sie legte zwei Paar Strümpfe in den Koffer und sein Lieblingsbuch, in dem er seit Monaten die Geschichten wieder und wieder las, die Sagen des klassischen Altertums. Ohne langes Überlegen schrieb sie auf einen Zettel: Onkel Sehmisch, Gelbensande. Es würde ihn doch geben, jenen Bruder von Wilhelm? Zumindest eine Frau, die auf ihren Mann dort wartete, der bald aus dem Krieg heimkehren würde. Auf dem Land gab es noch etwas zu essen. Sie sollten für Peter sorgen, Wilhelms Geld konnte vielleicht helfen. Sie legte den Zettel mit der Adresse vom Onkel und Peters Geburtsurkunde unter den Geldstrumpf, ganz nach unten, er durfte nicht vorzeitig entdeckt werden. Auch den Fisch sollte Peter bekommen, er sollte ihn in dem Koffer mitnehmen, den aus Horn geschnitzten Fisch. Was sollte sie noch mit dem Fisch? Leontines Brief verbrannte sie in einem Topf auf dem Herd, alle Briefe verbrannte sie jetzt. Sobald sie Stettin verlassen musste, würde sie sich auf den Weg machen und Martha suchen, sie musste Martha finden. Sie spürte genau, dass Martha noch lebte, natürlich lebte sie. Vielleicht war das Arbeitslager ein sicherer Ort gewesen. Ein sicherer Ort zum Leben? Auch Martha war zäh, zäh genug. Wer wusste schon, wohin es sie verschlagen würde? Helene wollte über Greifswald fahren, über Lubmin, ihre Patientinnen brauchten sie. Helene nähte den Schlafanzug für Peter, das gleichmäßige Treten ließ sie ruhiger werden. Es sollte ihm an nichts mangeln, deshalb musste er fort, fort von ihr. Helene weinte nicht, sie war erleichtert. Die Aussicht, dass er es besser haben würde und jemand mit ihm sprechen würde, über dies und jenes und die Sonne am Abend, das machte sie froh. Helene nähte das Bündchen doppelt, und eine kleine Tasche nähte sie in das Oberteil. In die Tasche steckte sie ihren Ehering. Ein wenig Gold, das konnte nicht schaden. Die Tasche nähte sie zu. Sie legte den Schlafanzug zuoberst in den Koffer. Sie durfte ihm nicht sagen, dass es um den Abschied ging. Er würde sie nicht gehen lassen.