Früher wollte ich immer die Morgendämmerung sehen. Nein - nicht den Sonnenaufgang, da beginnt ja schon der Morgen. Sondern ich wollte genau den Moment abpassen, in dem die Nacht sich zurückzieht, in dem der dunkle Himmel fliederfarben und durchsichtig wird, mit einem Hauch Rosa im Osten. Aber es ist gar nicht so einfach, diesen Augenblick der Dämmerung zu erhaschen. Das ist fast so schwierig, wie den Moment, in dem man einschläft, bewusst zu erleben.
Eben noch herrscht tiefste, stockfinstere Nacht, als hätte sie noch einmal neue Kraft geschöpft in den Stunden vor Tagesanbruch. Doch dann verändert sich plötzlich etwas, unmerklich. Es vergeht noch die eine oder andere Minute, und auf einmal bemerkst du, wie Licht in die Finsternis sickert: Schwarze, unheimliche Silhouetten verwandeln sich in gewöhnliche Bäume, der Himmel wird klar und zartviolett. Das ist die Morgendämmerung! Wahrscheinlich kommt sie, wenn man die Nacht einfach nicht mehr ertragen kann. Dann ist noch nicht Morgen, es ist einfach das Ende der Dunkelheit. Das ist die Morgendämmerung!
Es geschah in einem fremden Stadtviertel. Ich balancierte eine schmale Bordsteinkante entlang und hielt dabei die Arme gespreizt, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Das war natürlich kindisch, aber ich hatte einfach schlechte Laune.
Der Sommer verlief trostlos. Dabei hatte er ganz gut angefangen: Die siebte Klasse hatte ich mit tadellosen Noten abgeschlossen und rückte gleich in die neunte Klasse vor. Das lag nicht daran, dass ich ein Wunderkind bin und den Stoff der achten Klasse in ein paar Wochen lernen kann. Es ergab sich durch eine alberne Reform, der zufolge die Schule in Zukunft im Alter von sechs Jahren beginnen sollte und die Gesamtschulzeit auf elf Jahre begrenzt wurde. Deshalb wurden wir alle von der siebten in die neunte Klasse versetzt, was uns natürlich nur recht war. Wenn man nach dem Alter gefragt wurde, konnte man nun sagen: »Ich gehe in die neunte Klasse.« Das klingt doch schon ganz anders, als wenn man sagt: »Ich bin vierzehn.« Ein feiner Unterschied, nicht wahr?
Doch dann ging alles schief. Als hätten meine Freunde sich untereinander abgesprochen, fuhren sie alle gleichzeitig in irgendwelche Sommerlager oder mit den Eltern in schicke Badeorte. Einer war sogar in einem internationalen Computercamp und hatte mir ein Foto geschickt, auf dem er Arm in Arm mit zwei Amerikanern posierte.
Ich sprang von der Bordsteinkante und stand an der Ecke einer kleinen Querstraße. Es gibt ja nichts Langweiligeres, als alleine durch Straßen zu laufen, die man von Kind auf kennt. Zumal unsere Stadt, wie die meisten Städte in der Umgebung, klein ist. Sie hat zwar einen Sonderstatus, weil es bei uns Fabriken gibt, in denen Satelliten und jede Menge Geheimtechnik gebaut werden. Aber das ist höchstens für ausländische Spione interessant.
Es blieb mir also nichts anderes übrig, als in der Stadt herumzuhängen und, so gut es ging, die Autorität unseres Viertels zu wahren, was hauptsächlich bedeutete, Prügeleien mit Jungs anderer Cliquen anzuzetteln.
Zwei Typen gingen an mir vorbei, vielleicht ein oder eineinhalb Jahre jünger als ich. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass einer von ihnen demonstrativ auf die Straße spuckte und mir verstohlen hinterhersah. Die beiden waren noch zu klein, um sich ernsthaft mit mir anzulegen, auch wenn ich der Fremde in ihrem Stadtviertel war. Immerhin fühlten sie sich mutig genug, in meiner Gegenwart verächtlich auszuspucken.
Ich blieb stehen und drehte mich zu den beiden um. »Wollt ihr eins auf die Schnauze?«, fragte ich mit gespielter Freundlichkeit.
Die beiden Jungen schwiegen betreten, denn sie wussten genau, dass ein falsches Wort ihnen eine handfeste
Mir selbst war auch nicht nach einer Rauferei zumute. Ich grinste überlegen und ging weiter. Die Jungs zischten mir irgendetwas hinterher, um sich einen Rest an Ehre zu bewahren, aber so leise, dass ich darauf verzichtete, mich abermals umzudrehen und die Unterhaltung fortzusetzen.
Ich wollte zum Park. Dort würde ich vielleicht Bekannte treffen, die sich schon am Morgen zum See aufgemacht hatten. Schlimmstenfalls würde ich eben alleine baden müssen.
In unserer Stadt gibt es einen wunderschönen Park mit riesigen, teilweise über hundert Jahre alten Bäumen. Als man die Stadt baute, blieb der Wald an dieser Stelle unberührt, man entfernte nur Buschwerk und alte, abgestorbene Bäume.
An dem kleinen See inmitten des Parks hatte man einen makellosen Sandstrand aufgeschüttet. Ich stellte mir vor, wie ich mich in Windeseile ausziehen, meine Klamotten auf eine Bank werfen und ins Wasser laufen würde. Meine Laune besserte sich augenblicklich. Was gibt es Schöneres in den Ferien als Sonne, Hitze und ein kühlendes Bad? Na, höchstens ein richtig spannendes Abenteuer.
Da hörte ich auf einmal eine laute Stimme hinter mir. »Hey, du!«
Ich drehte mich um und sah einen groß gewachsenen Mann, den ich nicht kannte, auf mich zulaufen. Um seinen Hals hing eine lederne Fototasche, und sein Gesicht
Was dieser Kerl wohl von mir wollte?, überlegte ich und nahm gleichzeitig den Verkehrslärm von der Straße und das endlose Geplapper alter Frauen auf einer Parkbank wahr. Hier konnte ja wohl kaum etwas Außergewöhnliches passieren, am Eingang des Parks, um die Mittagszeit an einem heißen Sommertag, vor allen Leuten. Das dachte ich damals.
Der Mann mit der Fototasche blieb keuchend vor mir stehen, strich sich die Haare aus dem Gesicht, lächelte zufrieden und fragte: »Junge, willst du dich für die Zeitung fotografieren lassen?«
Um ehrlich zu sein, auf so eine Frage gibt es nur eine Antwort. Der Mann wartete mein Einverständnis auch gar nicht erst ab. Hektisch hantierte er an seiner Kamera und redete ununterbrochen auf mich ein. Er sei Reporter der Stadtzeitung, es ginge um einen großen Artikel über die Jugend in unserer Stadt, und natürlich bräuchte man dazu ein paar anständige Fotos von jungen Leuten. Irgendetwas an mir hatte dem Journalisten anscheinend gefallen, und nun wollte er unbedingt ein Foto von mir für seinen Artikel.
Ich hatte noch nie im Leben einen richtigen Zeitungsreporter gesehen, aber auf jeden Fall hätte ich mir so jemanden anders vorgestellt, sicher nicht so verschwitzt und zerzaust. Wenn mich dieser Typ gefragt hätte, ob ich ihn zu einem anderen Platz begleiten würde, um das Foto zu machen, hätte ich das garantiert abgelehnt - es gibt ja solche und solche Leute. Der Reporter jedoch fand den belebten Park mit den neugierigen alten Frauen und einem
Allem Anschein nach bin ich wirklich ausgesprochen fotogen, das behauptete auch meine Klassenkameradin Inga, ein sehr nettes und kluges Mädchen übrigens. Allerdings weiß man bei ihr nie so recht, ob sie etwas ernst meint oder nur im Scherz sagt. Manchmal streite ich mich deswegen sogar mit ihr.
Der Reporter nahm mich mit seiner Kamera ins Visier. Um seinen Mund spielte ein eigenartiges Grinsen. Ich dachte, so sehe ich aus, wenn ich mich schuldig fühle, mich aber nicht traue, etwas zuzugeben. Mit einem Mal bekam ich Angst. Doch der Finger des Reporters senkte sich bereits auf den Auslöser.
Die Kamera klackte. Sie klackte außergewöhnlich laut, das Auslösergeräusch normaler Kameras ist viel leiser.
Und dann wurde es dunkel.
Die Dunkelheit schloss mich von allen Seiten ein. Ich wollte schreien, aber ich konnte nicht, versuchte, mich zu bewegen - vergeblich. Um mich herum waren nur Dunkelheit und Kälte, sonst nichts. Mich überkam ein völlig taubes Gefühl, als wäre ich selbst nicht mehr da.
Dann explodierte die Dunkelheit. Es war wirklich eine richtige Explosion mit einem lauten Knall, ich wurde herumgewirbelt und stellte erleichtert fest, dass ich meinen Körper wieder spüren konnte. Im selben Augenblick jedoch gewahrte ich mit Schrecken, dass ich keinen Boden unter den Füßen hatte.
Ich schwebte in der Luft, etwa zehn Meter über dem Boden des P... Nein, nicht des Parks. Der Park war nicht mehr da! Unter mir befand sich eine etwa zwei Kilometer breite, rosafarbene Insel mit einem kleinen, runden See in der Mitte. An ihren sandigen Ufern standen einige fremdartig anmutende Bäume mit kleinen, dunkelgrünen Blättern. Nichts regte sich. Rund um die Insel erstreckte sich bis zum Horizont tiefblau und erhaben das Meer, gischtweiße Wellenkämme hingen wie erstarrt in der Luft.
Auf einmal geriet alles in Bewegung: Die Wellen machten einen Ruck und rauschten über den Sand. Plötzlich war es auch nicht mehr kalt. Stattdessen umströmte mich selbst für den Sommer ungewöhnlich warme Luft, und salzige, ja fast etwas zu salzige Wasserspritzer klatschten mir ins Gesicht.
Ich befand mich im freien Fall. Im heißen Luftstrom drehte es mich zur Seite und in dieser seitlichen Lage, mit gerade noch rechtzeitig ausgestreckten Armen, schlug ich auf dem Ufer der Insel Nr. 36 auf.
Die Schmerzen waren so heftig, dass mir die Tränen kamen, noch bevor ich wieder völlig bei Bewusstsein war.
Dann berührte etwas Kühles meine Stirn, und ich hörte eine leise Stimme sagen: »Wenn er stirbt, ist es deine Schuld, Chris. Ich hatte gestern noch gesagt, dass der Landeplatz zu klein ist.«
Es war eine zarte, etwas ärgerlich klingende Mädchenstimme. Im ersten Moment verstand ich nicht, von wem sie sprach, doch dann wurde mir schlagartig klar, wen das Mädchen gemeint hatte: Ich sollte sterben? Schwachsinn! All meine Kraft zusammennehmend, öffnete ich die Augen.
Unter mir war Sand, weicher, heißer Sand. Über mir spannte sich ein azurblauer, wolkenloser Himmel, in dessen Wölbung wie gemalt eine gelbe Sonnenscheibe hing. In dieses Bild ragten die über mich gebeugten Körper von Jungen und Mädchen, die ich nicht kannte. Eines der Mädchen hielt seine feuchte Hand an meine Stirn, schaute mir in die Augen und strahlte über das ganze Gesicht.
»Es geht dir schon besser, nicht wahr?«, hauchte sie.
»Jaja«, erwiderte ich reflexartig.
Das alles war zu viel für mich. Zuerst so ein langweiliger Tag, der sich zäh wie Kaugummi hinzieht, dann fällst du plötzlich vom Himmel und schlägst auf irgendeiner Insel auf … Mich packte die blanke Angst: Wie um Himmels willen war ich hierhergekommen? Schließlich
Ich hätte wirklich allen Grund gehabt, in Panik auszubrechen. Doch als ich die Jungen und Mädchen um mich herum misstrauisch musterte, bemerkte ich, dass sie mich alle unverhohlen angrinsten. Nicht unbedingt höhnisch, aber trotzdem … Es war ein wissendes Grinsen! Sie wussten, was hier gespielt wird! Also würde ich es auch erfahren. Meine Angst war im Nu verflogen. Ich stand auf und sah mich um, ohne die anderen weiter zu beachten.
Die Insel war wirklich klein. Und dann noch der See in der Mitte! Das Ganze sah aus wie eine Art rosa Kringel. Ein höchstens achthundert Meter breiter Ring aus feinem Sand. An manchen Stellen ragten spitze Steine und knorrige Korallenbäumchen aus dem Sand. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ich auf einem dieser Gebilde gelandet wäre. Der Gedanke daran jagte mir einen Schauer über den Rücken - einen Schauer der angenehmen Art, wie er sich einstellt, wenn man knapp am Unglück vorbeigeschrammt ist.
An einem Ende der Insel erhob sich ein flacher Sandhügel, der mit ein paar kargen Büschen und welkem Gras bewachsen war. Ich drehte mich um, um den Rest zu inspizieren, und traute meinen Augen nicht: Etwa vierzig Meter von mir entfernt erhob sich eine Burg aus dem Sand. Eine kleine, hübsche Burg, die sich dicht ans Ufer schmiegte und über das Wasser ragte. Sie hatte alles, was zu einer richtigen Burg gehört: hohe Mauern aus rosa Marmor, einen zehn bis fünfzehn Meter hohen Wachturm, schmale Schießscharten und ein graues Eisentor.
»Was glotzt ihr mich so an?«, fuhr ich die umstehenden Jungen und Mädchen barsch an. »Bin ich hier im Zoo, oder was?«
Sie zeigten sich von meiner Grobheit ungerührt.
Der Älteste von ihnen, dem Äußeren nach zu schließen etwa siebzehn Jahre alt, also drei Jahre älter als ich, sagte: »Respekt, du hast ja überhaupt keine Angst«, und begrüßte mich mit Handschlag. »Ich heiße Chris.«
»Dima«, brummte ich.
Alle um mich herum waren sonnengegerbt und braun gebrannt, was angesichts ihrer spärlichen Bekleidung und der gnadenlos vom Himmel sengenden Sonne nicht weiter verwunderlich war. Die Jungen trugen einfach Badehosen oder unverkennbar selbst abgeschnittene kurze Hosen mit ausgefranstem Saum. Nur zwei von ihnen hatten noch schlabberige T-Shirts an. Die jüngeren Mädchen trugen auch Shorts und Hemdchen, nur die Älteste, deren Stimme ich als Erstes vernommen hatte,
Der Kleinste von allen, etwa elf Jahre alt, trug eine orangefarbene Badehose und ein lustiges weißes Sonnenkäppi.
»Unsere Burg ist die Burg des Scharlachroten Schildes! Es ist die beste Burg auf den Inseln!«, rief er vorlaut.
Dann wich er ein paar Schritte zurück, als hätte er Angst vor der eigenen Courage bekommen. Alle lachten. Ich musste auch ein wenig lachen, denn so viel war klar: Mir war nichts passiert, und die Jungen und Mädchen hier schienen ganz in Ordnung zu sein.
Die Burg war nicht groß, aber mit dem Nötigsten ausgestattet. Zu ebener Erde befanden sich der Thronsaal, ferner ein langer, schmaler Raum, der Turniersaal genannt wurde, die Küche, in der die Mädchen das Essen zubereiteten, sowie einige Lagerräume. Im oberen Stockwerk waren die Schlafräume untergebracht. Die Jungen wohnten in sechs kleinen Kammern, jeweils zu zweit in einer. In zwei weiteren großen Kammern wohnten die Mädchen, in der einen die jüngeren drei, Tanja, Lera und Olja, in der anderen das älteste Mädchen Rita. Insgesamt lebten, mich nicht mitgerechnet, sechzehn Jungen und Mädchen auf der Insel. Der Älteste war Chris, der Jüngste der kleine Junge mit dem Käppi. Alle behandelten ihn wie einen kleinen Bruder und nannten ihn etwas herablassend Maljok, was so viel bedeutet wie »der Kleine«.
Nach meiner unsanften Landung wurde ich vom »Empfangskommando« in den Thronsaal, den größten Raum der Burg, geführt. Einen Thron gab es hier nicht und auch nur wenige Stühle. Mitten im Saal stand ein riesiger runder Tisch, an dem sichtlich der Zahn der Zeit genagt hatte: Die stark nachgedunkelte, hölzerne Tischplatte war von tiefen Schrammen und Scharten übersät. Um den Tisch herum standen dicht an dicht etliche umgedrehte Holzfässer, auf denen sich nun alle niederließen. Eine derartige Einrichtung hätte man eher in der Kajüte eines alten Segelschiffs erwartet als im Thronsaal einer Ritterburg.
In zwei Wänden des Saals waren breite, verglaste und innen mit einem dicken Eisengitter gesicherte Fenster eingelassen, wodurch der Raum sehr hell wirkte. An einer der beiden fensterlosen Wände hing ein runder, scharlachroter Schild, der mindestens zwei Meter Durchmesser hatte. Man sah auf den ersten Blick, dass er nicht als Waffe, sondern nur als Emblem diente.
Mir wurde einer der wenigen richtigen Stühle zugewiesen. Kaum hatte ich Platz genommen, begannen die versammelten Bewohner der Insel Nr. 36, aufgeregt auf mich einzureden und mir tausend Sachen zu erklären. Da alle durcheinanderschrien und sich ständig gegenseitig unterbrachen, verstand ich kein Wort von dem, was sie mir zu sagen versuchten. Chris beendete das fruchtlose Chaos, indem er alle zum Schweigen brachte und selbst zu erzählen begann. Ich hörte ihm zu und wusste nicht, ob ich über seine Worte lachen oder weinen sollte. Letzteres wäre wohl eher angebracht gewesen.
Alle Jungen und Mädchen waren auf dieselbe Weise wie ich auf die Insel geraten. Ein Fremder hatte sie gebeten, sich fotografieren zu lassen, für eine Zeitung oder einfach so, sie hatten zugestimmt - und sich, ehe sie sich’s versahen, auf der Insel wiedergefunden.
Die Sache war eigentlich klar, aber ich fragte sicherheitshalber trotzdem nach: »Der Typ war also gar kein Journalist?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Chris. »Er benutzte nur ein Gerät, das als Fotokamera getarnt war.«
»Was war er denn dann?«, wollte ich wissen.
Chris und die anderen tauschten ein paar ratlose Blicke aus, als seien sie sich nicht ganz sicher, ob man mir alles erzählen sollte.
Endlich antwortete Chris: »Ein Außerirdischer. Der Typ, der dich fotografiert hat, war überhaupt kein Mensch. Und diese Insel hier befindet sich auch nicht auf der Erde, sondern irgendwo auf einem anderen Planeten.«
Mir stockte das Blut in den Adern. Ich war fassungslos, und zwar weniger über das, was Chris mir soeben offenbart hatte, als über die Seelenruhe, mit der er es ausgesprochen hatte. Ich konnte mich nicht beherrschen.
»Woher willst du denn das wissen?«, fragte ich herausfordernd.
»Sie haben es uns selbst gesagt.« Chris legte mir den Arm um die Schulter und fügte hinzu: »Sei nicht sauer, Dima, wir können auch nichts dafür. Ich lebe jetzt schon sieben Jahre auf dieser Insel.«
»Was?« Ich sprang auf. Sieben Jahre? Sollte das heißen, dass ich auch so lange hier bleiben musste? Und Mama und Papa, was sollten die denken? Sie würden mich doch suchen und sich ausmalen, dass ich ertrunken bin oder mir sonst was Schreckliches zugestoßen ist.
Weder Chris noch ich wussten zu jenem Zeitpunkt, dass uns zu Hause keineswegs jemand suchte und dass das, was mit uns passierte, wesentlich subtiler als eine gewöhnliche Entführung war.
»Komm mit!«, sagte Rita unvermittelt, fasste mich behutsam an der Hand und zog mich mit sich fort.
Willenlos folgte ich ihr. Auch Chris schloss sich uns an, während die anderen im Thronsaal blieben.
Die beiden sind wohl die Chefs hier, dachte ich. Da fiel mir plötzlich noch etwas anderes ein, das mir unter den Nägeln brannte.
»Chris, warum hast du so einen komischen Namen?«, fragte ich.
»Das ist kein komischer, sondern ein englischer Name«, erwiderte Chris etwas betreten. »Ich bin eben Engländer.«
Das gab mir den Rest. Jetzt war ich so weit, alles zu glauben, was mir hier erzählt wurde.
»Wir haben auch einen Janusch aus Polen hier«, erläuterte Rita mit ruhiger Stimme. »Alle anderen sind aus Russland wie wir. Und jeden Monat taucht irgendein Neuer auf. Nur normalerweise werden die Neuen nicht von so weit oben abgeworfen. Du bist ja aus fast zehn Metern Höhe auf den Sand geknallt. Ich habe schon befürchtet, dass du das nicht überlebst, aber anscheinend hältst du ganz schön was aus.«
Rita und Chris führten mich in eine kleine Kammer, in der zwei Betten standen. An einer Wand hingen zwei gekreuzte Schwerter. Zuerst dachte ich, sie wären echt und nur etwas ungewöhnlich gefärbt, doch dann erkannte ich, dass es sich um Spielzeugschwerter aus Holz handelte. Immerhin waren sie sehr kunstvoll gemacht. Kein Vergleich zu den stümperhaft zurechtgeschnitzten Stöcken, die meine Freunde und ich früher beim Ritterspielen als Schwerter benutzt hatten.
»Leg dich hin und schlaf dich aus«, sagte Chris fürsorglich. »Morgen erklären wir dir alles ganz genau, und du kannst die Burg besichtigen.«
Ich war tatsächlich müde, und zumindest für den Moment wollte ich nichts anderes, als alles um mich herum vergessen. Eine Sache musste ich aber unbedingt vorher noch klären.
»Chris, kann man von hier nicht mehr nach Hause zurück? Ist das … für immer?«, fragte ich, und Angstschweiß trat mir auf die Stirn.
Er zögerte einen Moment, der mir wie eine Ewigkeit vorkam. Dann sprach er zum Glück genau das aus, was ich hören wollte: »Man kann zurückkehren, Dima. Aber es ist sehr schwierig.«
Egal. Ich würde auf jeden Fall zurückkehren. Ganz sicher!
In der Kammer waren keine Bettdecken vorhanden. Sie wären auch vollkommen überflüssig gewesen bei so einer Hitze. Ich zog die dünne Tagesdecke von meinem Bett, legte mich auf das kalte, weiße Leintuch und schlief schon nach wenigen Minuten ein.
Als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete, wusste ich sofort wieder, wo ich war, und mir klangen noch Chris’ letzte Worte in den Ohren: Man kann zurückkehren! Auf dem Bett neben mir lag Maljok. Kaum hatte ich mich aufgesetzt, sprang auch er auf. Wahrscheinlich hatte er schon lange nicht mehr geschlafen und nur darauf gewartet, dass ich aufwachte. Etwas schüchtern lächelten wir uns zu. Er war wirklich noch sehr klein. Das eine oder andere würde ich aber sicher auch von ihm in Erfahrung bringen können.
»Maljok, wo sind die anderen alle?«
»Auf den Brücken«, antwortete er bereitwillig. »Und die Mädchen machen das Mittagessen.«
»Und du?«
»Ich sollte bei dir bleiben«, erwiderte er etwas verlegen, »dir alles zeigen und vom Großen Spiel erzählen.«
So hörte ich also zum ersten Mal vom Großen Spiel. Natürlich fragte ich ihn sofort, was es damit auf sich hat.
Maljok verzog fast ein wenig ärgerlich das Gesicht über meine Frage. »Ach, das Große Spiel«, begann er mit
So erfuhr ich also zum ersten Mal von den Regeln des Großen Spiels, wenn mir deren Sinn auch, gelinde gesagt, schleierhaft blieb.
Inzwischen hatte Maljok eines der Holzschwerter von der Wand genommen und drückte es mir in die Hand. Es sah unglaublich echt aus. Am ausgestreckten Arm hielt ich es vor mir und betrachtete es fasziniert.
»Es ist das Schwert von Timur«, sagte Maljok, »aber du bekommst ein genauso schönes. Chris hat versprochen eines für dich auszusuchen.« Unerwartet ernst fügte er hinzu: »Um ehrlich zu sein, mit Waffen sieht es bei uns eher mau aus.«
Nun hatte ich also zum ersten Mal eine Waffe des Großen Spiels in der Hand. Zärtlich ließ ich die Holzklinge des schönen Schwerts durch meine Hand gleiten.
Ich sah Maljok erwartungsvoll an: »Und jetzt erklärst du mir alles ganz genau, ja?«
Die Geschichte, die Maljok mir erzählte, war idiotisch, lächerlich und beängstigend zugleich. In einem Meer oder in einem Ozean, vielleicht sogar auf einem vollständig mit Wasser bedeckten Planeten, gab es vierzig kleine Inseln; auf jeder erhob sich eine Burg mit eigenem Emblem und eigenem Namen. Jede Insel, genauer gesagt jede Burg, war durch Brücken mit drei Nachbarinseln verbunden.
Unsere Nachbarinseln trugen die Nummern 12, 24 und 30, beim Namen genannt waren es die Inseln der Fröhlichen Brüder, des Heißen Wassers und der Schwarzen Sterne. Dem Eiland, auf das es mich verschlagen hatte, war die Nummer 36 zugedacht. Auf jeder Insel lebten etwa zehn bis zwanzig Jungen und Mädchen, die auf dieselbe Art und Weise wie wir dort gelandet waren. Alle zusammen spielten das Große Spiel. Was das für ein Spiel war? Na - so eine Art Ritterspiel. Man kämpfte mit Schwertern und Dolchen aus Holz und versuchte, die Nachbarinseln zu erobern.
»Wozu eigentlich?«, fragte ich spontan.
Geduldig setzte Maljok mich ins Bild: »Sieger ist diejenige Insel, deren Rittern es gelingt, alle vierzig Inseln zu erobern. Und alle Kinder, die auf dieser Siegerinsel leben, dürfen nach Hause zurück. Auf die Erde.«
»Und wie viele Inseln habt ihr schon erobert?«
Maljok zuckte mit den Achseln. »Noch keine. Die Insel
»Was für Sklaven denn?«
»Na, die Ritter von der Insel Nr. 12. Nachdem wir die Insel erobert hatten, wurden sie unsere Sklaven. Sie mussten für uns kämpfen. Auf die Erde hätten sie sowieso nicht zurückkehren dürfen.«
Schöner Mist! Da hätte ich auch einen Aufstand gemacht. Für jemand anders das Spiel gewinnen und dann auf den Inseln bleiben müssen, so weit kommt’s noch. Mir schossen so viele Gedanken durch den Kopf, dass ich völlig den Faden verlor und gar nicht wusste, wo ich zuerst nachhaken sollte. Aber Maljok wirkte ohnehin schon etwas genervt von meiner Fragerei.
»Komm, Dima«, sagte er ungeduldig, »gehen wir vor dem Frühstück noch ans Meer zum Baden.«
Ja, das Meer! Jetzt fiel mir wieder ein, wie verlockend es am gestrigen Abend in der untergehenden Sonne geglitzert hatte. Es mochte ja sein, dass diese Insel ein Gefängnis war. Aber das Meer war daran gewiss nicht schuld!
Entschlossen sprang ich aus meinem Bett. »Gehen wir, ich ziehe mir nur was an.«
»Du solltest deine Jeans abschneiden«, riet mir Maljok mit Oberlehrermiene. »Leih dir von den Mädchen eine Schere und mach dir eine kurze Hose draus. Bei der Hitze …«
Eigentlich war das kein schlechter Rat, trotzdem hatte ich keine Lust, ihm zu folgen. Irgendwie ging mir die Idee gegen den Strich, denn es hätte ja bedeutet, dass ich mich damit abfinde, für längere Zeit auf der Insel bleiben zu müssen. Unschlüssig hob ich die Schultern und zog den Gürtel meiner Jeans fest.
»Einen coolen Gürtel hast du da«, flötete Maljok mit Kennerblick.
Was an meinem Gürtel cool sein sollte, erschloss sich mir nicht. Es war ein normaler brauner Ledergürtel, der nicht einmal besonders gut zu meiner abgewetzten Jeans passte.
»Er hat eine schöne schwere Schnalle«, dozierte Maljok. »Wenn dir im Kampf mal das Schwert zerbricht, kannst du dich mit dem Gürtel verteidigen.«
Ich lachte laut auf. Die Schnalle war in der Tat ein Mordinstrument. Selbstverständlich konnte man damit wesentlich heftiger zuschlagen als mit einem dünnen Holzschwert.
Wir verließen unsere Kammer und folgten einem schmalen Gang, der wie die gesamte Burg aus rosa Marmor bestand. Maljok lief voraus, stieß sämtliche Seitentüren auf und kreischte irgendeinen Unsinn hinein. Das waren die Kammern der anderen Jungen, in denen sich jedoch niemand aufhielt.
»Was machen die anderen denn auf den Brücken?«, erkundigte ich mich.
»Sie halten Wache, damit uns keiner angreifen kann«, erwiderte Maljok, der jetzt bestens gelaunt war.
Wir stiegen eine Treppe hinunter, die zu den unteren Räumen führte. Nachdem wir den Thronsaal passiert hatten, gelangten wir am Ende des Gangs zur Küche, deren hölzerne Tür sperrangelweit offen stand.
Maljok steckte den Kopf hinein und trompetete los: »Huhu, Rita, der hungrige Stamm der Wasserindianer geht zum Meer!«
»Geht nur«, gab Rita gelassen zurück. An Maljoks schrilles Organ war sie offenbar schon gewöhnt. »Aber
Inzwischen hatte ich mich neben Maljok geschoben und lugte neugierig in den Raum. Rita stand an einem wuchtigen Holztisch und war damit beschäftigt, Brot aufzuschneiden. Sie sah von ihrer Arbeit auf und lächelte zu uns herüber.
»Guten Morgen, Dima!«, rief sie. »Gut geschlafen?«
»Ja danke, guten Morgen«, gab ich etwas schüchtern zurück.
»Macht, dass ihr an den Strand kommt.« Rita strahlte mich an. »Heute ist ja dein erster Tag, Dima, und am ersten Tag hat man traditionell frei.«
»Und ich bin heute als Dimas Begleiter eingeteilt und habe deshalb auch frei!«, verkündete Maljok.
Wir winkten Rita zum Abschied kurz zu und verließen die Burg durch das schwere Eisentor, das beim Öffnen und Schließen jämmerlich quietschte. Augenblicke später tobten wir bereits ausgelassen im warmen, salzigen Meer. Die Vormittagssonne schien kraftvoll vom Himmel und ließ ihr gleißendes Licht auf den Wellen tanzen. Wir blieben so lange im Meer, bis es uns selbst im warmen Wasser kalt wurde und ich mir ernsthaft Sorgen zu machen begann, wir könnten das Frühstück verpassen.
Maljok blickte prüfend zum Himmel. »Dem Sonnenstand nach zu schließen«, schlaumeierte er, »können wir uns locker noch ein halbes Stündchen in der Sonne wärmen.«
Unter der rosa Burgmauer legten wir uns rücklings in den Sand, und zwar so, dass unsere Gesichter im Schatten lagen, während unsere Körper in der Sonne bräunten.
»Wie heißt du eigentlich mit richtigem Namen, Maljok?«, fragte ich.
»Igor. Aber es gibt hier noch drei andere Igors außer mir, da ist der Spitzname ganz praktisch.«
Den Kopf etwas zur Seite gedreht, musterte ich den kleinen Jungen aus dem Augenwinkel. Plötzlich fiel mir auf, dass er genau so aussah, wie ich mir den kleinen Lillebror aus Astrid Lindgrens Karlsson-Büchern immer vorgestellt hatte.
»Hast du Karlsson auf dem Dach gelesen?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.
»Nö«, entgegnete er etwas betreten. »Als ich hier ankam, konnte ich noch nicht lesen. Und hier gibt es diese Bücher nicht. Aber Rita hat mir davon erzählt.«
»Maljok, erklär mir noch mal die Regeln des Großen Spiels«, bat ich.
Mein Begleiter seufzte tief auf, wie ein Lehrer, der es mit einem vollkommen begriffsstutzigen Schüler zu tun hat.
»Also gut. Ziel des Spiels ist es, die anderen Inseln zu erobern.« Maljok sprach etwas gestelzt, wie ein Erwachsener. »Als Waffen werden Schwerter und Dolche eingesetzt. Der Lange Igor hat auch eine Armbrust.«
»Mit Holzpfeilen?«
»Logisch. Man darf sich nicht mit den Rittern einer anderen Insel absprechen und sie absichtlich gewinnen lassen. Und nachts darf nicht gekämpft werden.«
»Warum?«, fragte der begriffsstutzige Schüler.
»Nachts öffnet sich ein Spalt in den Brücken. Verstehst du, die Brücken sind aus einem Stein gemacht, der sich bei Erwärmung ausdehnt. In der Mitte jeder Brücke ist ein Spalt. Wenn sich die Brücken am Morgen aufheizen,
»Und wenn man trotzdem drüberspringt?«, bohrte ich nach.
Maljok sah mich zornig an. »Das ist verboten! Dann wird man bestraft.«
»Von wem?«
Er blickte zum Himmel und sagte widerwillig: »Na, von diesen Außerirdischen eben. Wir hatten einen Jungen bei uns, er hieß Rostik, der hat einmal nach Sonnenuntergang, als der Spalt in der Brücke schon offen war, einen Pfeil abgeschossen. Am selben Abend ist er dann beim Baden im Meer ertrunken.«
Besorgt blickte ich zum Himmel, der sich blau und klar über das Meer wölbte. Es waren weder fliegende Untertassen noch geflügelte Monster zu sehen. Trotzdem hatte ich, wie Maljok wahrscheinlich auch, das Gefühl, dass wir von dort oben beobachtet wurden, von etwas Unsichtbarem und Bedrohlichem. Bis jetzt war ich noch guten Mutes gewesen, schließlich war es ja nur ein Spiel. Viel mehr als ein paar Beulen konnte man mit einem Holzschwert auch nicht anrichten. Aber dieser Rostik war ertrunken. Und weswegen? Wegen einer blödsinnigen Spielregel!
»Und warum darf man bei Sonnenuntergang nicht zum Himmel schauen?«, fragte ich, als mir diese noch viel blödsinnigere Regel wieder einfiel.
»Keine Ahnung«, gab Maljok zu, »aber wenn du es machst, wirst du auf der Stelle blind.«
Das Rauschen der Brandung und die wärmende Sonne waren mir jetzt gründlich verleidet. Wir waren nicht nur auf einer Insel gefangen, es drohte auch noch Unheil von oben. Der feine Sand, auf dem ich eben noch so wohlig gelegen hatte, fühlte sich auf einmal kratzig an und ekelhaft trocken wie schmutziger Straßenstaub. Ich stand auf.
»Los, gehen wir frühstücken«, schlug ich vor.
»Okay«, seufzte Maljok, dessen Laune nun auch etwas getrübt schien.
Auf dem Rückweg wateten wir noch ein Stück durchs seichte Wasser und ließen uns kleine Wellen um die Beine plätschern. Am Grund huschten kleine Fischchen umher.
»Zum Angeln ist es sehr praktisch, dass die Burg direkt am Meer steht«, sagte Maljok. »Wir können die Angelleinen von der Mauerbrüstung herunter ins Meer auswerfen. Die Mädchen kochen eine leckere Fischsuppe.«
Rosa glühte die Burg in der Sonne. In diesem Licht sah sie aus wie eine bemalte Spielzeugburg aus Holz.
Man müsste diese Außerirdischen vernichten und hier ein Feriencamp einrichten, dachte ich.
Das war natürlich ein absurder Gedanke. Wie sollten wir Außerirdische vernichten, die uns entführt und - mir nichts, dir nichts - auf einen anderen Planeten verfrachtet hatten? Sie waren uns Menschen gewiss technisch haushoch überlegen. Vermutlich konnte nicht einmal eine ganze Armee etwas gegen sie ausrichten. Nein, nein, dieses Spiel mussten wir nach ihren Regeln gewinnen.
Wir waren schon kurz vor dem Tor, als es sich plötzlich
»Maljok, Dima! Auf der Südbrücke...«, keuchte Rita, und mehr erfuhren wir nicht von ihr, denn vor lauter Schluchzen und Weinen konnte sie kein Wort herausbringen. Aber es war auch so klar, dass etwas passiert war. Ich folgte Maljok, der bereits durchs Tor gerannt war.
Die Brücke maß kaum mehr als zwei Meter in der Breite und war an ihren Rändern durch eine schmale, etwa einen Meter hohe Balustrade begrenzt, die aus demselben rosa Marmor bestand wie die Brücke selbst und unsere Burg. Der Marmor war höllisch glatt, man musste aufpassen, dass man nicht ausrutschte. Etwas mehr Halt fand ich näher am Rand, wo die Marmorplatten nicht ganz so blank poliert waren. Allerdings überkam mich so nahe an der Balustrade ein ziemlich mulmiges Gefühl, denn von dort sah man bereits in gähnender Tiefe die Meeresoberfläche glitzern.
Maljok und ich folgten schon seit geraumer Zeit dem ansteigenden Brückenbogen. Unsere Burg hatten wir weit hinter uns gelassen, und die besorgten Stimmen der Mädchen, die uns die besten Wünsche hinterherriefen und zur Vorsicht mahnten, waren längst in der Ferne verklungen. Das war auch gut so. Zwar hatten sie uns die Waffen gebracht, dann aber versucht, mich davon abzubringen, mit auf die Brücke zu gehen - mit der Begründung, am ersten Tag bräuchte ich ja nicht am Spiel teilzunehmen. Wofür hielten sie mich eigentlich, für einen Drückeberger?
Auf der Südbrücke, wo nur drei Jungen Wache hielten, war ein heftiger Kampf entbrannt. Tanja, die heute für den Wachturmdienst eingeteilt war, hatte es gesehen und Alarm geschlagen.
Es ging mir nicht aus dem Kopf, dass die Mädchen mich daran hindern wollten, den Jungen auf der Brücke zu helfen! Es spielte doch gar keine Rolle, ob man mit dem Schwert umgehen konnte oder nicht. Die anderen waren schließlich auch nur Spielzeugritter! Möchtegernmusketiere mit Holzschwertern, die sich im schlimmsten Fall gegenseitig ein paar blaue Flecken verpassen würden, pah! Guten Mutes rannte ich hinter Maljok her. An meinem Gürtel baumelte das Schwert, das er mir am Morgen gezeigt hatte.
Der Scheitelpunkt der Brücke, den wir nun fast erreicht hatten, wies die Form eines flach gewölbten Buckels auf. Der Anstieg führte zwar nicht allzu steil hinauf, trotzdem blieb uns das Kampfgeschehen bis zum letzten Moment verborgen. Der Wind blies immer stärker, was nicht weiter verwunderlich war, befanden wir uns inzwischen doch mindestens hundert Meter über dem Meer. Ich versuchte, nicht nach unten zu blicken, bemerkte aber mit Schaudern, dass die Brücke in den Windböen zu schwanken begann. Wie konnte man nur eine kilometerlange Brücke ohne einen einzigen Stützpfeiler bauen?
Mir blieb keine Zeit, länger darüber nachzusinnen, denn nun konnten wir den höchsten Punkt der Brücke sehen und begriffen sofort, was sich hier oben abspielte.
Unsere Gefährten hatten das Glück, dass auf der schmalen Brücke immer nur zwei Mann nebeneinander kämpfen konnten, sonst wären sie zahlenmäßig längst erdrückt worden. Denn von der feindlichen Insel stürmten mindestens zehn Kämpfer auf sie ein. Die Angreifer waren genauso braun gebrannt und spartanisch gekleidet wie wir. Einen wesentlichen Unterschied gab es aber
Mit eingefrorenem Blick starrte ich auf die scharf geschliffenen Klingen unserer Gegner, und mein Herz begann wild zu pochen. Was sollte das denn für ein Spiel sein? Das war doch der blanke Hohn! Die anderen kämpften mit echten, todbringenden Schwertern und wir mit Holzspielzeug. Am liebsten hätte ich meinen Frust über diese zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit herausgebrüllt, aber mir war klar, dass dies völlig sinnlos war. Im selben Moment ereignete sich etwas, das mir die Sprache verschlug: Einer der Angreifer holte aus, und sein Schwert zischte auf Chris herab, der sich in diesem Moment allein den Feinden in den Weg stellte. Seine Mitstreiter Janusch und Tolik standen aus irgendeinem Grund hinter ihm. Chris machte keinerlei Anstalten, dem Schlag auszuweichen, sondern hob seinerseits das Schwert, um ihn abzuwehren. Ich war mir sicher, dass die blitzende Stahlklinge das Holzschwert durchtrennen und Chris im Gesicht treffen würde.
Die beiden Schwerter, aus Stahl das eine, aus Holz das andere, rauschten klirrend ineinander. Funken flogen. Jetzt machte Chris einen Satz nach vorn und schlug seinerseits zu. Sein Schwert sauste auf den Gegner herab, drängte dessen Klinge zur Seite und traf ihn an der Schulter. Der Angreifer, ein Junge in meinem Alter, schrie plötzlich auf. Er brüllte wie am Spieß. So schreit man eigentlich nicht, wenn man von einem Holzstück getroffen wird. Selbst Chris wich einen Schritt zurück, und Maljok, der neben mir stand, saugte, die Zähne zusammengebissen, zischend Luft ein, als spürte er selbst den Schmerz. Langsam sank der getroffene Junge auf den
Chris zog sich zurück, und der Kampf hielt inne. Der blutüberströmte Junge kauerte auf dem Boden. Endlich stürzten seine Gefährten zu ihm und zogen ihn aus der Gefechtslinie.
Nun musterte ich Chris’ Kampfgefährten noch einmal aufmerksam, und da bemerkte ich, dass Janusch sein Schwert nicht zufällig in der linken Hand hielt. Seine rechte Hand war mit einem blutgetränkten Lappen umwickelt. Und Tolik hielt sich die Hand nicht zum Spaß an den Bauch, er tat es genau so, wie sich Soldaten in Kriegsfilmen eine Wunde zuhalten. Aber wir waren doch keine Soldaten!
Chris drehte sich um. Er sah sehr besorgt aus. Als er Maljok und mich bemerkte, hellten sich seine Züge auf, und er winkte uns erleichtert zu. Maljok lief zu ihm, während ich mich nicht von der Stelle rührte.
Wir waren doch keine Soldaten!
Die Ritter von der Insel Nr. 24 griffen erneut an. Chris und Maljok kämpften jetzt Seite an Seite. Es war äußerst beeindruckend, wie geschickt unser kleinster Kämpfer mit dem Schwert umgehen konnte. Natürlich fehlte ihm die Kraft, um den Schlag eines fast erwachsenen Kerls abzuwehren. Aber er versuchte das auch gar nicht, sondern wich einfach aus. Bereits zwei oder drei Mal war das gegnerische Schwert genau an der Stelle in den aufspritzenden Marmor gekracht, wo Maljok kurz zuvor noch gestanden hatte. Mit wieselflinken Bewegungen entwischte er den auf ihn niederzischenden Klingen im letzten Moment.
Janusch, das Schwert noch immer in der Linken, orientierte sich wieder nach vorn. Indessen ging ich zu Tolik hinüber, der mir gelassen zunickte. Er wunderte sich weder darüber, dass ich hier war, noch darüber, dass ich mich nicht gleich in den Kampf stürzte. Noch immer hielt er die Hand gegen den Bauch gepresst, und dunkelrotes Blut tropfte von seinen Fingern auf den Boden. Auf seiner ramponierten kurzen Jeans fraßen sich rote Flecken durch den Stoff, und an seinen Beinen erstarrten dünne Rinnsale trocknenden Bluts.
»Hat’s dich schlimm erwischt?«, fragte ich mit stockender Stimme, obwohl mir klar war, dass er kaum so seelenruhig dagestanden hätte, wenn die Wunde wirklich ernst gewesen wäre.
Tolik mochte etwa in meinem Alter sein. Gestern war er mir gleich aufgefallen, da er als einziger Junge auf der Insel weißblonde Haare hatte. Auch seine Augenbrauen waren fast völlig weiß. Sein Gesicht war von Schrammen übersät und trotz der Sonnenbräune kreidebleich.
»Sind nur ein paar Kratzer«, sagte er heiser und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Nur Durst habe ich. Habt ihr kein Wasser mitgebracht?«
»Nein.«
»Schade. Sieh nur, wie Maljok die Feinde aufmischt!«
Maljoks Kampfkunst war in der Tat eine Augenweide. Nicht nur er selbst war klein, auch sein Schwert wirkte im Vergleich zu den übrigen geradezu mickrig. Dennoch wich gerade ein riesiger Kerl vor ihm zurück, fuchtelte hilflos mit seinem furchterregenden Krummsäbel, während Maljok vor ihm hin und her flitzte und mit ansatzlosen Hieben auf seine Beine zielte.
»Jetzt schlagen wir sie zurück. Er ist wirklich Gold wert,
Ich schüttelte heftig den Kopf, denn erneut durchfuhr mich der lähmende Gedanke: Wir sind doch keine Soldaten!
Tolik nickte mir verständnisvoll zu. »Am Anfang ist es immer schwierig. Aber das wird schon, du gewöhnst dich dran.«
Mich an so etwas zu gewöhnen, lag mir allerdings völlig fern. Während ich den Jungen zusah, die da wenige Schritte von mir entfernt verbissen gegeneinander kämpften, ergriff eine bleischwere Hoffnungslosigkeit von mir Besitz.
»Tolik, was soll denn das Ganze?«, rief ich. »Wir haben doch nur Holzschwerter, und …«
»Das ist nur eine optische Täuschung, dass sie aus Holz sind«, unterbrach er mich. »Für die anderen von der Nr. 24 sieht es genau andersherum aus.«
»Was?« Ich würgte an einem gewaltigen Klumpen im Hals. »Dann tötet ihr also tatsächlich?«
Tolik schaute mich nur betreten an und sagte nichts. Es war auch so völlig klar.
Der Angriff der gegnerischen Insel hatte inzwischen deutlich an Schwung verloren. Die Verteidigung der Brücken schien mir gar nicht so schwierig zu sein. Man brauchte nur genug Leute, um erschöpfte oder verwundete Kämpfer schnell ablösen zu können, dann würde es nie im Leben jemand schaffen, unsere Insel zu erobern.
Andererseits würden auch wir es nicht schaffen, eine andere Insel zu erobern!
Chris kam zu uns herüber und klopfte mir mit vor Erschöpfung
»Klasse, dass du gekommen bist«, sagte er, noch heftig keuchend. »Willst du’s auch mal versuchen?«
»Keine Lust«, brummte ich mit finsterer Miene.
Knallgelb wie eine überreife Zitrone brannte die Sonne am Himmel. Irgendwo ganz weit unten glitzerten die Gischtkämme ein paar kleiner, harmloser Wellen. In der Ferne lagen andere Inseln wie bunte Flecken im Meer verstreut. Und wie schwerelose Spinnweben spannten sich die Brücken zwischen den Inseln und formten ein hübsches Muster.
»Chris, es bräuchte ein Wunder, um auch nur eine einzige Insel zu erobern. Niemand wird jemals alle vierzig Inseln erobern können«, sagte ich deprimiert.
Chris schaute mir in die Augen. »Zieh keine vorschnellen Schlüsse. Wir reden darüber, wenn wir zurück in der Burg sind«, sagte er mit sanfter Stimme, wobei sich sein englischer Akzent stärker als sonst bemerkbar machte.
Maljok und Janusch hielten die Feinde souverän in Schach. Ohnehin griffen diese nur noch halbherzig und mehr der Form halber an. Auf der engen Brücke konnten sie ihre zahlenmäßige Übermacht einfach nicht nutzen. Und auch für virtuose Zweikämpfe, die sie mit herausragender Technik hätten gewinnen können, fehlte schlichtweg der Platz. An dieser Stelle hätten zwei Kämpfer eine ganze Armee zum Stehen bringen können wie die Spartaner die Perser bei den Thermopylen. Januschs blonde Locken glänzten in der Sonne, er kämpfte bedächtig und konzentriert. Maljok dagegen fuhrwerkte wie ein Berserker. Beide strahlten große Selbstsicherheit
Einer der Angreifer fiel mir besonders auf. Es war ein großer, hagerer, etwa vierzehn Jahre alter Junge. Immer wieder versuchte er zwischen Maljok und Janusch hindurchzuschlüpfen, jedoch ohne Erfolg. Eigentlich hatte er keine Chance, sein Vorhaben jemals zu verwirklichen. Aber plötzlich stellte er seine Attacken ein, machte ein paar Schritte rückwärts, als wollte er sich zurückziehen, sprang dann unvermittelt auf die Brückenbalustrade und spurtete los. Noch ehe Janusch und Maljok sich’s versahen, tauchte er bereits in ihrem Rücken auf.
Ein wenig schwankend stand der Junge auf der schmalen Balustrade, die Arme zur Seite gestreckt, um das Gleichgewicht zu halten. Er wirkte irgendwie unschlüssig, und es war mir ein Rätsel, warum er nicht einfach wieder auf die Brücke zurücksprang. Zweifellos würde daraufhin ein wildes Gefecht entbrennen, in dessen Verlauf wir, von zwei Seiten in die Zange genommen, in echte Schwierigkeiten geraten konnten. Trotz der prekären Situation war ich nicht sonderlich besorgt und empfand für einen Moment sogar so etwas wie Bewunderung für diesen mutigen Jungen. Dass eine Niederlage hier oben den Tod bedeuten konnte, hatte ich noch nicht verinnerlicht, der auf der Balustrade taumelnde Junge dagegen wusste es sehr wohl. Vermutlich war ihm klar, dass er den Sieg für seine Insel um den Preis seines eigenen Lebens erringen würde, wenn er sich jetzt vom Geländer herab mitten zwischen die Feinde stürzte. Wahrscheinlich hatte er zuvor in der Hitze des Gefechts nicht darüber nachgedacht, aber jetzt packte ihn die Angst.
Ein verzerrtes, flehentliches Lächeln im Gesicht, riss er den Mund auf, um etwas zu sagen. Vielleicht wollte er um Gnade bitten. Doch Chris war bereits auf ihn zugesprungen und schwang sein Schwert, das in meinen Augen aus Holz, in den Augen des Jungen von der anderen Insel dagegen aus Stahl war.
Der tollkühne Angreifer hatte nun keine Chance mehr,
Ich stieß einen Schrei aus, hörte jedoch meine eigene Stimme nicht, denn auch alle anderen schrien auf. Der Junge verschwand so schnell von der Brücke, als hätte ihn eine unsichtbare, gierige Hand nach unten gezogen. Kurz darauf ließen die Kämpfer jede Vorsicht fahren und beugten sich über die Balustrade, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob Feind oder Freund neben ihnen stand.
Der Junge fiel quälend langsam, als würde er schweben. Sein Schwert hatte er losgelassen, kläglich durch die Luft wirbelnd, flog es ihm hinterher. Dabei konnte ich beobachten, wie es im Fallen allmählich seinen stählernen Glanz verlor und hölzern wurde. Erst in jenen Sekunden, als ich der endlos langen Abwärtsbewegung mit den Augen folgte, wurde mir bewusst, in welch gewaltiger Höhe sich die Brücke befand. Der Junge fiel und fiel. Vielleicht war es auch nur Einbildung, dass diese Augenblicke eine Ewigkeit dauerten. Die Zeit dehnt sich unendlich, wenn man panische Angst hat.
Der Junge hatte sich in einen winzigen Punkt über dem Wasser verwandelt. Gleich …, dachte ich mit stockendem Atem. Und in diesem Augenblick leuchtete unten ein gewaltiger, grellweißer Lichtball auf, ähnlich einem Magnesiumblitz. Für einen Blitz dieser Stärke hätte man mindestens ein Kilogramm Magnesium gebraucht. Geblendet kniff ich die Augen zusammen. Als ich sie wieder aufmachte und abermals nach unten sah, war dort nichts mehr zu sehen - außer dem gefräßigen Meer.
»Achtung!« Es war Toliks Stimme, die mich aus meiner Erstarrung riss.
Die Ritter der Insel Nr. 24 griffen erneut an und waren schon dicht an uns herangerückt. Maljok stand mit blutüberströmtem Gesicht neben mir. Das Messer, das ihn soeben getroffen haben musste, lag zu seinen Füßen am Boden.
Von einem Spiel konnte nun keine Rede mehr sein. Das hier war alles echt: die Freunde und das Meer, die Feinde und die Burgen. Und die Wahl war ganz einfach: wir oder die anderen! Ich sprang nach vorn und wehrte, ungelenk, aber verbissen kämpfend, zahlreiche Angreifer ab, deren Hiebe klirrend in meine gezückte Klinge rasselten. Als sich gleich drei auf einmal im Wechsel auf mich stürzten, alle älter und stärker als ich, sprang mir Tolik zur Seite. Mit vereinten Kräften wehrten wir den Ansturm ab und gingen unsererseits zum Angriff über.
Da zogen die Feinde sich zurück. Ich glaube nicht, dass das unbedingt mein Verdienst war. Es kam einfach alles zusammen: Das lange, vergebliche Anrennen, das plötzliche Auftauchen von Maljok und mir, der schreckliche Tod ihres Gefährten und am Ende vielleicht auch meine ungeschickten, jedoch von Angst und Verzweiflung befeuerten Schläge. Manchmal ergibt es sich eben so, dass derjenige, der zu spät zur Schlacht erscheint, die Lorbeeren einheimst.
Als wir den geflüchteten Feinden mehr der Form halber nachsetzten, überholte ich Tolik, Janusch und Chris und lief, von unserem Erfolg beflügelt, ein Stück vorneweg. Plötzlich erblickte ich von Weitem einen feindlichen Kämpfer, der zurückgeblieben war.
Als Erstes stach mir in die Augen, dass er sehr hellhäutig
Mit am Gürtel baumelndem Schwert, den Blick fest auf mich gerichtet, stand sie einfach nur da und machte keinerlei Anstalten, vor mir wegzulaufen. Ihre Kleidung fügte sich in das auf den Inseln übliche Bild: Die Jeans war kurz unterhalb der Knie abgeschnitten, die Bluse hatte sie über dem Bauch verknotet, und die Haare wurden mit einem breiten schwarzen Stirnband zurückgehalten. Dennoch kam sie mir irgendwie bekannt vor - bekannt aus meinem alten, irdischen Leben, dem ich ja erst gestern mit dem Klacken eines Fotoapparats so jäh entrissen worden war.
Das Mädchen verharrte reglos und blickte mir in die Augen. Jetzt erkannte ich sie.
»Inga«, hauchte ich mit versagender Stimme.
Das war noch unglaublicher als alles, was bis jetzt passiert war, noch viel verrückter als die Außerirdischen und das Große Spiel. Das konnte einfach nicht wahr sein! Erst vor zwei Tagen war ich Inga begegnet. Sicher, man kann sich in wenigen Tagen sehr verändern, kann ein wenig Farbe annehmen, wenn nötig auch seine Kleidung durchscheuern und irgendetwas an der Frisur verändern, sodass die Haare länger scheinen. Aber die Augen und der Gesichtsausdruck - die verändern sich nicht so schnell!
»Pst«, flüsterte Inga verschwörerisch. »Komm heute Nacht hierher auf die Brücke. Und erzähle niemandem etwas von mir.« Dann wandte sie sich um und rannte ihren Gefährten hinterher.
Maljoks Verwundung war nicht allzu tragisch. Er behauptete, keine Schmerzen zu haben, obwohl niemandem entgehen konnte, dass ihm die Tränen in den Augen standen. Chris und Janusch blieben auf der Brücke, während Tolik und ich Maljok zur Burg zurückbrachten.
Unterwegs erzählte mir Tolik von Janusch. Der polnische Junge war erst seit etwa einem Monat auf der Insel. Alle bemühten sich, ihm Russisch beizubringen, bislang jedoch mit eher bescheidenem Erfolg. Prustend vor Lachen, gab Tolik einige urkomische Wörter zum Besten, die Janusch beim Versuch, Russisch zu sprechen, völlig verunstaltet hatte. Ich fand Toliks Benehmen, vorsichtig ausgedrückt, unsensibel. Eben noch hatten wir mit angesehen, wie ein Junge von der Nachbarinsel umgekommen war, hatten einen Kampf auf Leben und Tod geführt, und er lachte schon wieder. Doch selbst Maljok kicherte, obwohl er dabei vor Schmerz zusammenzuckte. Mir gingen die Bilder von dem ins Meer stürzenden Jungen nicht aus dem Kopf, ebenso wenig wie das von Inga, wie sie so reglos vor mir stand.
An diesem Abend war die Rückkehr der Brückenwachen früher als üblich zu erwarten, denn am Himmel zogen düstere Regenwolken auf. Rasch wurde es dunkel, und ein kalter Wind pfiff um die Gemäuer unserer Burg.
Den ganzen Nachmittag lang war Tolik mit mir umhergestreift und hatte mir erklärt, was für den Alltag auf der Burg von Bedeutung war, und allmählich konnte ich mich einigermaßen orientieren: Oben befanden sich ausschließlich Schlafkammern, unten die Gemeinschaftsräume, der Thronsaal, die Küche, Lagerräume und der Turniersaal. Letzterer erinnerte mit seiner hohen Decke und seinen vergitterten Fenstern an eine Sporthalle. Darüber hinaus gab es noch eine Vielzahl schmaler Korridore, einen Keller und einige leer stehende Kammern im Wachturm. Von außen wirkte die Burg erheblich größer, vermutlich nahmen die dicken Steinmauern einen beträchtlichen Teil des Raumes ein.
Die Mädchen hatten Tolik einen dicken Verband verpasst und zuvor eine zähflüssige weiße Salbe auf seine Wunden aufgetragen. Maljok hatten sie der gleichen Prozedur unterzogen und ihn danach unverzüglich ins Bett abkommandiert. Keines der Mädchen unternahm auch nur einen Versuch, Tolik ebenfalls für eine solche Maßnahme zu gewinnen. Dieser behauptete, dass am nächsten Morgen nur noch ein paar kleine, blasse Narben von den Wunden übrig sein würden. Ohne seinem sich rasch rot verfärbenden Verband Beachtung zu schenken, hatte er mich durch die ganze Burg geschleppt, bis wir am Wehrgang wieder ins Freie gelangt waren.
»Soll ich dir beibringen, wie man eine Brücke abhört?«, fragte Tolik und ließ den Blick über die schmale Rampe schweifen, die sich direkt vor uns über das Meer erhob.
Ich nickte und legte die Stirn in Falten, da ich keinen blassen Schimmer hatte, was Tolik damit meinte. Der verzichtete auf weitere theoretische Erläuterungen, warf sich direkt am Fuß der Brücke der Länge nach hin und presste das Ohr gegen den Marmor.
»Leg dich hin und horche!«, befahl er.
Gehorsam tat ich es ihm gleich und hörte zunächst einmal gar nichts. Doch schon im nächsten Augenblick gewahrte ich, wie von ferne, ein dumpfes, grollendes Knarren. Das waren die auseinanderdriftenden Brückenhälften, die in der Dämmerung allmählich auskühlten. Meine Gedärme krampften sich zusammen.
Ein ähnlich beklemmendes Gefühl hatte ich erst einmal zuvor erlebt, und zwar bei einer Klassenfahrt, bei der wir eine Kohlengrube besichtigt hatten. Damals war ich dicht an einen mit einem Gitter abgedeckten Ventilatorenschacht herangetreten, durch den Luft aus einem halben Kilometer Tiefe nach oben gepumpt wurde. Da hörte ich das gruselige Heulen des Luftstroms, der sich durch verschlungene Gänge den Weg aus der Finsternis bahnte. Man spürte die blinde, gleichgültige Kraft und unsichtbare Kälte der mächtigen, stählernen Ventilatorenflügel, die die Luft an die Oberfläche saugten. Es war ein absolutes Gänsehautgefühl, damals, an der Grube.
Und so erging es mir auch in diesem Moment. Das Knarren des sich zusammenziehenden Steins offenbarte eine dumpfe, eiskalte Kraft. Auf dieselbe Weise würde sich die Brücke morgen bei Tagesanbruch wieder zusammenschieben. Als vereinten sich zwei steinerne Hände
»Beeindruckend, nicht?«, fragte Tolik stolz und stand auf.
Ich nickte und rappelte mich ebenfalls hoch. Als ich an der Stelle, wo Tolik eben noch gelegen hatte, eine Blutlache erblickte, bekam ich einen ordentlichen Schrecken.
Tolik bemerkte meinen verstörten Blick, setzte ein breites Grinsen auf und beruhigte mich: »Keine Sorge, Dimka, auf den Inseln stirbt man nicht an seinen Wunden, sondern nur im Kampf. Wenn du willst, mache ich den Verband auf, dann siehst du, dass die Wunde schon am Verheilen ist.«
»Ich glaub’s dir auch so«, erwiderte ich ehrlich. »Lass mal.«
Nach und nach kehrten die Wachen von den Brücken zurück. Von der Südbrücke kamen Chris und Janusch, von der Ostbrücke Timur, Sershan und noch zwei Jungen, an deren Namen ich mich nicht erinnerte. Timur sah besonders martialisch aus. Für die Brückenwache hatte er sich mit zwei Schwertern bewaffnet, die er in speziellen Scheiden gekreuzt am Rücken trug, sodass die Griffe über seine Schultern ragten. Ob er wirklich mit beiden Schwertern gleichzeitig focht, wusste ich nicht, jedenfalls sah er in dieser Montur ziemlich furchteinflößend aus. Auch war er mindestens ein Jahr älter als ich. Sershan dagegen war in meinem Alter, während ihre beiden Kampfgefährten etwas jünger waren. Aus ihren Gesprächen schnappte ich endlich die Namen der beiden auf: Es waren der Lange Igor und Romka.
Die meisten Jungen und Mädchen gerieten im Alter von zwölf bis dreizehn Jahren auf die Inseln. Maljok, der
Zuletzt kamen die Jungen zurück, die auf der Westbrücke Wache gehalten hatten: noch zwei Igors, Ilja und Kostja. Sie hatten gerade damit begonnen, weitschweifig von ihren Heldentaten im Kampf gegen die Ritter der Insel Nr. 12 zu erzählen, als ein strafender Blick von Chris sie traf und augenblicklich verstummen ließ.
Daraufhin ergriff unser Kommandeur das Wort. Mit knappen Sätzen berichtete er, dass Janusch und Tolik im Gefecht verwundet worden seien, den Kampf aber tapfer fortgesetzt hätten. Dann erzählte er noch von der brenzligen Szene, als Maljok in einem unaufmerksamen Moment - er war noch durch den tragischen Absturz des Jungen von der Insel Nr. 24 abgelenkt - ein gegnerisches Messer abbekommen hatte.
Als Chris schließlich auf mich zu sprechen kam, stellte er das Geschehene beinahe so dar, als hätte ich die Angreifer quasi im Alleingang auseinandergejagt, ihm, Chris, das Leben gerettet und obendrein noch beispiellosen Edelmut bewiesen, indem ich einen vor Angst erstarrten, hilflosen Gegner verschonte. Dass es sich dabei um ein Mädchen gehandelt hatte, erwähnte er nicht, obwohl er es sehr wohl mitbekommen hatte.
Dem mir in den Kopf steigenden Hitzegefühl nach zu schließen, lief ich gerade puterrot an. In meiner Verlegenheit wusste ich nichts Vernünftiges zu entgegnen. Im Gegenteil, als Chris den von mir verschonten feindlichen Kämpfer erwähnte, wäre mir beinahe herausgerutscht, dass ich mit diesem »Feind« schon seit Jahren befreundet
Mit einem Mal kamen mir Zweifel, ob ich auf der Brücke tatsächlich Inga getroffen hatte. Mir fiel ein, dass sie mich nicht beim Namen genannt hatte. Und den Vorschlag, sich nachts heimlich zu treffen, hätte ich vielleicht von einem Mädchen erwartet, das schon seit Jahren auf den Inseln lebte und davon beeindruckt war, im Kampf verschont zu werden - zu Inga hingegen passte dieses Verhalten überhaupt nicht. Sie hatte in solchen Dingen niemals die Initiative ergriffen.
Meine Überlegungen wurden von Ritas Erscheinen unterbrochen, die sich zu uns gesellte, Chris etwas ins Ohr flüsterte und sich dann an alle wandte:
»Kommt rein, das Abendessen ist fertig!«, rief sie.
Das brauchte sie uns nicht zweimal zu sagen. Wir gingen in den Thronsaal hinunter und machten uns hungrig über die aufgetischten Speisen her: Fleisch, Brot, Kartoffeln, Gurken, Tee mit Konfekt … Tee mit Konfekt? Was war das nun schon wieder für ein Hokuspokus? Es mochte ja sein, dass irgendwo auf der Insel Getreide und Kartoffeln gediehen. Aber in mattes Papier gewickelte, billige, pappsüße Karamellbonbons? Die wachsen schließlich nicht auf den Bäumen! Ungläubig strich ich das Einwickelpapier glatt und stellte fest, dass es keinerlei Beschriftung aufwies. Lediglich eine grüne Insel, umspült von blauen Wellen, war darauf zu sehen. Entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, beugte ich mich zu Tolik hinüber, der neben mir saß.
»Sag mal, woher kommt eigentlich das ganze Zeug?«, fragte ich flüsternd.
»Von den Hausherren«, antwortete er gelassen.
»Von wem?« Ich verstand nicht.
»Von’n Auferirdifn«, mampfte Tolik, an einem Stück Fleisch kauend.
Wahrscheinlich war in meinem Kopf irgendeine Sicherung durchgebrannt, denn ich hatte aufgehört, mich über irgendetwas zu wundern. Meine Kapazitäten für sprachloses Erstaunen waren für diesen Tag schon aufgebraucht, und so hörte ich emotionslos zu, als mir erzählt wurde, dass die Essensreste jeden Abend in Küchenschränke geräumt würden, in denen sich dann über Nacht an ihrer Stelle frische Lebensmittel, Seife, Wundheilsalbe und Kerzen einfänden. Manchmal sogar neue Schwerter!
Draußen war es inzwischen stockfinster geworden. Nach und nach leerte sich der Thronsaal, bis wir schließlich nur noch zu fünft waren. Meloman hatte seine Kopfhörer aufgesetzt und stand reglos am Fenster. Ich hätte mir gern seinen Disc-Man ausgeliehen, konnte mich aber nicht aufraffen, ihn darum zu bitten. Meloman war der verschlossenste und schweigsamste von den Jungen hier auf der Insel.
Überall in der Burg waren Kerzenlichter entfacht worden, die eine gespenstische Atmosphäre verbreiteten. Monströse Schatten flackerten auf den rosa Marmorwänden, die Decke über uns versank im Halbdunkel, und in den Fensterscheiben spiegelten sich züngelnd die orangegelben Flammen der Kerzen. Draußen heulte der Wind und rüttelte an den Fensterläden, die gequält ächzten und polternd auf- und zuflogen. Man hätte sich nicht wundern müssen, wenn im nächsten Moment ein Vampir zur Tür hereingekommen wäre.
Timur zog ein zerfleddertes Büchlein hervor, lehnte
Dann trat Chris von hinten an mich heran und legte mir den Arm auf die Schulter.
»Gefallen sie dir?«, fragte er.
»Die Schachfiguren? Ja, sehr«, erwiderte ich.
»Die habe ich mitgebracht«, sagte Chris sichtlich stolz. »Alle Sachen hier hatte irgendjemand bei sich, als er auf die Insel kam. Sollen wir eine Partie spielen?«
»Ich bin zu müde«, erwiderte ich beinahe ehrlich. Nur beinahe, da ich zwar tatsächlich müde war, aber durchaus nicht vorhatte zu schlafen.
»Na gut«, gab sich Chris überraschend schnell zufrieden, »ich begleite dich zu deiner Kammer.«
Wir verließen den Thronsaal und schritten durch den Gang, in den durch zahlreiche unverglaste Fensterluken der kalte Wind hereinblies.
»Was heißt ›Es ist sehr kalt‹ auf Englisch?«, fragte ich.
»It’s very cold«, antwortete Chris zerstreut.
Dann blieb er auf einmal stehen, fasste mich mit festem Griff am Handgelenk und musterte mich von oben bis unten mit seinen harten grauen Augen.
»Dimka«, begann er mit eindringlicher Stimme, »du bist ein kluger Junge. Aber sag das nie wieder, was du heute auf der Brücke zu mir gesagt hast. Nie wieder, verstanden!«
»Was habe ich denn gesagt?«, stammelte ich bestürzt.
»Du hast gesagt, dass es unmöglich ist, alle vierzig Inseln zu erobern.«
»Aber …«
»Du hast ja recht!«, unterbrach er mich. »Es ist unmöglich, alle vierzig Inseln zu erobern. Das ist allen klar, wenn es auch nicht alle so schnell begreifen wie du. Aber niemand spricht es laut aus. Man verliert sonst jeden Lebensmut. Verstehst du?«
Ich verstand durchaus. Und darüber hinaus stellte ich fest, dass es für Kummer und Angst offenbar keine Sicherung gibt, anders als für die Fähigkeit, über etwas zu staunen. Egal wie traurig man ist, es geht immer noch schlimmer. Nur ein einziger Lichtblick hinderte mich in diesem Augenblick daran, wie ein kleines Kind loszuheulen. Und dieser Lichtblick hieß Inga.
Ein Glück, dass Maljok schon schlief, als ich in die Kammer schlüpfte. Chris hatte entschieden, dass ich mit dem kleinen Jungen zusammenwohnen würde, während Timur, der bisher die Kammer mit ihm geteilt hatte, den Platz von Chris einnahm. Der wiederum war in eine der leer stehenden Kammern im Wachturm umgezogen. Der Kommandeur der Burg des Scharlachroten Schildes auf der Insel Nr. 36 schien ein selbstloser und sensibler Anführer zu sein.
Die Nacht war kühl, eine treu sorgende Seele hatte eine dicke Zudecke auf meinem Bett deponiert. Jedes Geräusch vermeidend, kletterte ich auf die Matratze und legte mich auf den Rücken. Die Decke schob ich vorsichtshalber zur Seite, um nur ja nicht einzuschlafen. Es ging mir durch den Kopf, was mich morgen in aller Frühe erwarten würde: Wache schieben auf irgendeiner Brücke, mit dem Schwert kämpfen und vielleicht sogar töten. Andernfalls würde ich selbst nicht überleben. Tolik hatte mir am Abend noch erzählt, dass einige Jungen, die auf die Insel gekommen waren, es nicht über sich brachten, ernsthaft zu kämpfen. Stattdessen hatten sie versucht, die Inseln zu befrieden - und waren dabei ums Leben gekommen.
»Chris ist schlau …«, murmelte Maljok, um sogleich noch etwas Unverständliches hinzuzufügen. Er redete offensichtlich im Schlaf. Kurz darauf wälzte er sich auf
»Nicht nötig«, begann Maljok von Neuem, »er kann trotzdem nichts ausrichten …«
Vorsichtig stand ich auf und beugte mich über ihn. Er war verstummt, atmete gleichmäßig und ruhig. Ich zog seine Decke zurecht und trat ans Fenster. Es befand sich nicht weit über dem Boden und ließ sich zum Glück leicht und geräuschlos öffnen. Ein Schwall kalter Luft schlug mir entgegen. Rasch zog ich mir noch ein herumliegendes Sweatshirt über, dann stieg ich auf den Wehrgang hinaus.
Der Himmel war bedeckt, nur in einer kleinen Wolkenlücke blinkte ein Sternbild, das ich nicht kannte. Es bestand aus einigen sehr hellen Sternen, die einen regelmäßigen Kreis bildeten. Ich weiß ja nicht, wie es auf der südlichen Hemisphäre aussieht, aber an unserem Himmel gibt es keine solchen Sternbilder. Am irdischen Himmel, meine ich natürlich.
»Ich nenne dich das Auge des Außerirdischen«, flüsterte ich und kicherte verkrampft. Um ehrlich zu sein, mir war nicht zum Lachen zumute. Mit tastenden Schritten machte ich mich zum zweiten Mal an diesem Tag auf den Weg zum Scheitelpunkt der Brücke.
Immer wenn ich mich umdrehte, sah ich die schummrige Silhouette der Burg, die mit der Finsternis verschmolz, nicht ein einziges Fenster war erleuchtet. Das Auge des Außerirdischen wurde immer wieder von den Wolken verschluckt, ja gelegentlich erschien es mir so, als ob die Wolken selbst ein schwaches Licht aussendeten. Sonst konnte man nicht die Hand vor Augen sehen. Da ich mich bereits der Mitte der Brücke näherte, musste ich aufpassen,
Einige Schritte später wurde mir klar, dass meine Anspannung überflüssig gewesen war. Inga hatte eine Laterne dabei.
Sie saß am Ende ihrer Brückenhälfte und ließ die Beine in den Abgrund baumeln. Der Spalt zwischen uns war etwa fünf Meter breit. Tief unten schäumte leise grummelnd das Meer. Neben Inga stand eine altertümliche Blechlaterne, in der eine rote Kerze brannte. Neben der Laterne lag ein aufgerolltes Seil.
»Bist du’s?«, flüsterte sie, hob die Laterne etwas an und spähte mit angestrengtem Blick zu mir herüber. Dann wickelte sie das Seil ab. Meine Zweifel waren unbegründet gewesen: Natürlich war das Inga.
»Fang!«, rief sie mir zu.
Das rutschige Nylonseil klatschte mir gegen die Beine und rutschte dann in den Abgrund. Erst beim dritten Versuch bekam ich es zu fassen und konnte es am Geländer der Balustrade festbinden. Inga zog das Seil an und vertäute das andere Ende auf ihrer Seite.
Nachdem sie es mit einem kräftigen Ruck auf seine Festigkeit geprüft hatte und mit dem Ergebnis offenbar
Erst jetzt verstand ich, was ich zu tun hatte. Natürlich ist es keine Heldentat, ein paar Meter weit an einem Seil entlangzuklettern, sofern dieses Seil zum Beispiel über einen stillen Bach oder über Schaumstoffmatten gespannt ist. Hier jedoch dräute in hundert Metern Tiefe der schwarze Rachen des nächtlichen Meeres, was dem Unterfangen einen nicht unerheblichen Nervenkitzel verlieh.
In die Leine greifend, sah ich noch einmal zu Inga hinüber, die reglos verharrte, dann begann ich mich über den Abgrund zu hangeln. Angst empfand ich eigentlich keine, was womöglich daran lag, dass ich in der Dunkelheit nicht sehen konnte, wie weit es hinunterging, und mir daher alles sehr unwirklich vorkam. Als ich jedoch schließlich auf der anderen Hälfte der Brücke angekommen war und wieder festen Boden unter den Füßen hatte, wollten meine Hände das Seil gar nicht mehr loslassen. Immer noch daran festgekrallt, blickte ich Inga schweigend an.
»War doch nicht schwierig, oder?«, fragte sie schnippisch.
»Kinderkram«, gab ich achselzuckend zurück. »Eine meiner leichtesten Übungen. Ist dir nicht kalt?«
Inga hatte eine dunkelblaue Windjacke an, die ihr zwei Nummern zu groß war.
»Nein«, entgegnete sie einsilbig.
Wir brachten beide kein Wort mehr heraus. Verlegen schob ich die Laterne, die ziemlich nahe am Rand der Brücke stand, mit dem Fuß ein Stückchen weiter nach innen und vermied es, Inga in die Augen zu schauen.
Unser Gespräch kam nur äußerst mühsam in Gang. Wäre an Ingas Stelle ein befreundeter Junge gewesen, hätten wir in dieser Situation sicher herumgefeixt und uns ausgelassen über unseren Coup gefreut. Selbst gegenüber einem anderen Mädchen aus meiner Klasse hätte ich mich ungezwungener verhalten. Begegnungen mit Inga hingegen begannen schon seit einem Jahr stets mit einem hochnotpeinlichen Gewürge, obwohl wir uns schon von Kind auf kannten.
»Erstaunlich, dass wir zusammen hier gelandet sind«, brach ich endlich das Schweigen.
»Erstaunlich, dass wir überhaupt hier sind«, verbesserte mich Inga.
Leichter Groll stieg in mir auf. Sie hätte wenigstens einen Ansatz von Freude darüber zeigen können, dass wir uns getroffen hatten. Stattdessen stand sie verstockt da und starrte in die Luft, als wäre ihr unerträglich langweilig. Ich sah sie herausfordernd an. Da bemerkte ich, dass sie keineswegs ruhig und gleichgültig war. Vielmehr wirkte sie angespannt und deprimiert.
»Was hast du denn, Inga?«, fragte ich irritiert.
Endlich sah sie mir in die Augen.
»Dima, wie steht es bei mir zu Hause? Machen meine Eltern sich große Sorgen?«
»Ich weiß nicht, ich war schon länger nicht mehr bei euch.«
»Seit einem ganzen Monat nicht mehr?«
»Wieso seit einem Monat?«
Mir kam der Gedanke, dass Ingas Eltern im Fall ihres Verschwindens mit Sicherheit bei meinen Eltern angerufen hätten. Außerdem hätten sie bestimmt auch mich gefragt, ob ich nicht wisse, wo sie steckt.
»Wieso seit einem Monat?«, wiederholte ich meine Frage. »Wir haben doch vor drei Tagen noch telefoniert. Und bei euch zu Hause war ich zuletzt vergangene Woche, als wir zusammen im Kino waren und ich dich abgeholt habe.«
»Ich war letzte Woche nicht im Kino«, sagte sie in einem Ton, als würde sie an meinem Verstand zweifeln. »Ich hatte Küchendienst in unserer Burg.«
»Und mit wem, bitte schön, war ich dann im Kino?«, fragte ich ironisch.
»Keine Ahnung«, fauchte Inga. »Tut mir leid für dich, wenn du das selbst nicht mehr weißt.«
Ratlos stützte ich mich aufs Geländer und starrte grübelnd in die Nacht.
»Bist du schon lange auf der Insel?«, fragte ich mit versöhnlichem Ton.
»Einen Monat«, erwiderte sie knapp.
Langsam dämmerte es mir.
»Inga«, sagte ich mit fester Stimme, »wir waren vor einer Woche definitiv im Kino. Danach haben wir noch mehrmals telefoniert. Ich bin vor zwei Tagen auf die Insel gekommen.«
Inga trat neben mich und berührte mit ihren zarten Fingern meine Hand. Ich zuckte zusammen.
»Dima, sagst du die Wahrheit? Oder willst du nur, dass ich mir keine Sorgen mache?«
»Wir wurden überhaupt nicht von der Erde entführt, Inga. Man hat uns kopiert!«
»Dann sind wir also unsere eigenen Doppelgänger?«
»Genau.«
Plötzlich setzte Inga ein sanftes Lächeln auf, zum ersten Mal, seitdem wir uns getroffen hatten. Mit einem
»Das nützt uns doch überhaupt nichts«, sagte ich wütend. »Was haben wir davon, dass unsere Doppelgänger zu Hause sind - wir sind ja trotzdem hier!«
Inga schaute mich mit großen Augen an.
»Was heißt hier ›Was haben wir davon‹? Und unsere Eltern? An die denkst du gar nicht, oder?«, fragte sie und durchbohrte mich buchstäblich mit ihrem Blick.
Ich spürte, wie ich rot wurde. Inga hatte natürlich recht. Wenn unsere Doppelgänger zu Hause geblieben waren, würden sich unsere Eltern keine Sorgen machen, denn sie wussten ja nicht, wo wir hingeraten waren. Trotzdem sträubte sich alles in mir bei dem Gedanken, dass ich nicht ich selbst, sondern nur eine Kopie von mir war. So elend und verloren hatte ich mich noch nie zuvor gefühlt. Obwohl - eigentlich war ich vor allem böse auf mich selbst.
Inga war nun wieder ganz die Alte: In ihr Lächeln mischten sich Übermut und eine Spur Durchtriebenheit.
»Dima, ich bin wirklich froh, dass du hier bist«, sagte sie feierlich.
»Vielen Dank«, entgegnete ich mit gespielter Förmlichkeit.
Wir mussten lachen. Inga schnippte mit dem Finger gegen das Seil, das gespannt war wie eine Gitarrensaite.
»Und jetzt lass uns darüber nachdenken, wie wir von hier wegkommen«, sagte sie.
»Und wie soll das gehen?«
»Im Prinzip gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder alle Inseln erobern …«
»Fällt aus«, fiel ich ihr ins Wort.
»… oder wir müssen diese Außerirdischen finden und ihnen eine Tracht Prügel verpassen.«
»Ach ja?« Ich hüstelte, um einen in mir hochsteigenden Lachanfall zu unterdrücken. »Inga, du bist ein Genie. Wir verpassen ihnen also einfach eine Tracht Prügel. Hast du schon mal versucht, in der Richtung was zu unternehmen?«
»Nö«, erwiderte sie, »ich wollte kein Risiko eingehen, schließlich wusste ich ja nicht, dass es zu Hause noch eine zweite Inga gibt.«
Sie sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, als sei unsere Situation nun völlig klar. Und offensichtlich interpretierte sie diese dahin gehend, dass uns als Kopien unserer selbst nun überhaupt nichts mehr passieren konnte.
»Aber wenn uns hier etwas geschieht, Inga, dann ist das doch völlig real. Wir sind doch andere Menschen als diejenigen, die auf der Erde geblieben sind. Hast du denn überhaupt keine Angst?«
»Wieso? Auf den Inseln gibt es niemanden, der älter als siebzehn Jahre alt ist. Wir haben hier drei oder vier Jahre, und dann …« Sie verstummte und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Ich bin nicht bereit, mich damit abzufinden«, setzte sie schließlich hinzu.
Erstaunt sah ich sie an. Was für ein mutiges Mädchen, dachte ich. Dabei war sie eigentlich ein eher zurückhaltender Typ und hatte nie eine Neigung zu riskanten Unternehmungen an den Tag gelegt. Der Monat auf der Insel war augenscheinlich nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Wie auch immer, sie hatte jedenfalls vollkommen recht.
»Wir versuchen es, Inga«, sagte ich entschlossen. »Entweder
Sie sah mich mit ernstem Blick an. »Dann muss unser Vorhaben aber völlig geheim bleiben«.
Das erstaunte mich.
»Völlig geheim?«, echote ich. »Vor wem, vor den Außerirdischen? Dann sollten wir das aber nicht hier draußen besprechen. Ich hätte zu euch in die Burg kommen sollen. Und mit den anderen Jungen und Mädchen müssen wir uns auch beratschlagen.«
Bei dieser letzten Bemerkung schien Inga hellhörig zu werden. Mit deutlicher Ironie in der Stimme sagte sie: »Bei euch hat heute ein kleiner Junge mitgekämpft, wirklich nur ein halbes Hemd, aber mit dem Schwert eine Furie wie der Teufel höchstpersönlich, als …«
»Das war Maljok«, fiel ich ihr ins Wort, »ich wohne mit ihm zusammen in einer Kammer.«
Inga fuhr zusammen. »Hat er geschlafen, als du losgegangen bist?«
»Ja.«
»Sicher?«
»Sicher!«
Sie wirkte ernstlich besorgt. »Dima, überleg doch mal«, sagte sie und tippte sich mit dem Finger an die Stirn, »wie kommt es, dass er so gut kämpfen kann? Wie alt ist er überhaupt?«
»Noch keine elf. Aber er ist schon lange auf der Insel, da hat er eben gelernt, mit dem Schwert umzugehen.«
»So ein Unsinn!«, entrüstete sich Inga. »Ums Fechten geht’s doch gar nicht. Der ist zehneinhalb, mit Käppi
»Von wem?«
»Von diesem Riesen, der mit zwei Schwertern gleichzeitig kämpft.«
»Timur?«
»Ja, so ein dunkler, ziemlich furchterregender Typ. Und hör zu, wie das passiert ist: Raul kämpfte wieder gegen diesen Maljok, als der plötzlich theatralisch hinfiel. Raul wollte zuschlagen, brachte es aber irgendwie nicht fertig, und ehe er sich’s versah, fiel eure ganze Meute über ihn her. Anscheinend mögen sie diesen Maljok alle sehr. So kam das.«
Es wollte mir nicht in den Kopf, dass Maljok irgendetwas Schlechtes anhaften sollte. Andererseits war Ingas Verdacht durchaus nachvollziehbar.
»Gibt’s bei euch auch solche Jungen, die völlig aus dem Rahmen fallen?«, fragte ich.
»Solche nicht«, erwiderte Inga, »aber wir haben einen Genka, der lebt schon zehn Jahre auf der Insel.«
»Bei uns sind Chris und Timur am längsten da, sieben Jahre.«
»Siehst du,das ist auch seltsam«,sagte sie nachdenklich. »Schließlich kann es einen hier jeden Tag erwischen.«
Ich schloss die Augen. Eine unendliche Leere breitete sich in mir aus, so unendlich wie das Weltall selbst. Wenn mir in jenem Moment einer dieser Außerirdischen unter die Finger gekommen wäre, hätte ich ihn, ohne zu zögern, die Brücke hinuntergestürzt.
»Gehst du regelmäßig auf Brückenwache?«, fragte ich besorgt.
»Nein, selten«, erwiderte sie. »Manchmal bitten unsere Jungen mich oder Lorka mitzukommen, sie sagen, unsere Anwesenheit würde sie anspornen.«
Etwas versetzte mir einen Stich. Inga und ich stritten zwar häufig, versöhnten uns aber immer schnell wieder, nur um bald einen neuen Grund zu finden, uns zu zanken - doch wir waren niemals Feinde gewesen. Auf dieser verwunschenen Inselwelt allerdings trennte uns erheblich mehr als ein Spalt in einer Brücke. Auf ihrer Insel hätte ich bestenfalls als Sklave oder Gefangener leben können, ohne jede Aussicht, jemals auf die Erde zurückzukehren. Die Insel Nr. 36 wiederum war für Inga tabu. Es war uns beiden klar, dass keiner von uns auf die Insel des anderen wechseln konnte. Deshalb verloren wir auch kein Wort darüber. Inga würde auch in Zukunft für die Insel Nr. 24 auf Wache gehen und für die Jungen kochen, die gegen mich und meine Gefährten kämpften.
»Warum hatten es denn eure Kämpfer heute so eilig wegzukommen?«, fragte ich spöttisch. »Haben sie dich zurückgelassen, damit du ihren Rückzug deckst?«
»Ich bin mit Absicht zurückgeblieben«, entgegnete Inga, »um mit dir sprechen zu können.«
Das Auge des Außerirdischen sah mit einem höhnischen Grinsen auf uns herab. Wenn schüttere Wolken darüberhuschten, sah es so aus, als würden die Sterne
»Wie bist du auf die Inseln gekommen?«, fragte ich.
»Wie alle«, antwortete sie knapp. Offenbar wollte sie nicht daran erinnert werden.
»Wie genau?«, insistierte ich. »Mich haben sie am Eingang des Parks abgepasst.«
»Mich auch im Park«, sagte sie seufzend. »Ich war gerade mit Laina spazieren.«
Laina war Ingas Hund, ein großer, schöner und gutmütiger Schottischer Schäferhund.
»Dann seid ihr also zusammen hier angekommen?«
»Nein«, entgegnete sie etwas wehmütig. »Irgend so ein Idiot hat mich angesprochen und gefragt, ob er den Hund fotografieren darf. Ich hab’s ihm erlaubt. Erst hat er ein bisschen herumgedruckst und an seiner Kamera hantiert, dann hat er mich gebeten, Laina festzuhalten, damit sie stillhält.«
Ingas Lippen begannen zu beben. Ich konnte ihre Wut gut verstehen, denn hinter unseren Entführungen steckte eine widerwärtige, kaltblütige Präzision.
»Dann ist es dunkel geworden«, fuhr sie fort, »und ich bin ins Wasser gefallen.«
»Ins Wasser?«, fragte ich überrascht.
»Ja. Bei uns wurde am Landeplatz extra ein Wasserloch ausgehoben, damit sich die Neuankömmlinge beim Aufschlagen nicht die Knochen brechen. Nachdem ich aus dem Wasser gestiegen war, ist Lorka aufgetaucht, die kannte ich damals natürlich noch nicht. Als sie mir erzählte, wo ich bin, habe ich gedacht, dass das alles nur ein Traum ist.«
»Gut. Lass uns darüber nachdenken, was nun zu tun
»Einverstanden.« Inga nahm meinen Vorschlag dankbar an.
Ich begann laut nachzudenken wie ein Krimikommissar: »Wir müssen mehr über die Inseln in Erfahrung bringen. Wie lange existieren sie schon? Wer wohnt auf welchen Inseln? Gibt es noch andere Waffen außer Schwertern und Armbrüsten? Haben schon einmal Ritter verschiedener Inseln versucht, sich abzusprechen, und wenn ja, was ist dabei herausgekommen? Eine Landkarte müsste man auch zeichnen.«
»Okay, Boss«, kommentierte Inga meinen Monolog ironisch.
»Gibt es auch Inseln, auf denen niemand wohnt?«, setzte ich unbeirrt fort. »Wie sehen die Außerirdischen aus, wer hat sie gesehen? Gibt es hier Vögel, wenn ja, wo kommen sie her? Funktioniert hier ein Kompass? Das überprüfe ich selbst. Welche nützlichen Dinge gibt es auf den Inseln? Bei uns hat zum Beispiel ein Junge einen Disc-Man.«
»Bei uns gibt es auch einen, aber die Batterien sind leer. Man …« Inga verstummte plötzlich, zupfte mich am Sweatshirt und zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf den Rand der Balustrade. »Wieso ist denn das Seil auf einmal so straff?«
Erstaunt betrachtete ich das über den Abgrund gespannte
»Wir sind schön doof«, murmelte ich und machte mich an dem Knoten zu schaffen, mit dem Inga das Seil am Geländer festgebunden hatte. »Die Brückenhälften driften immer noch auseinander und spannen das Seil immer stärker an. Wir müssen es lockern.«
Der Knoten ließ sich nicht lösen. Das zum Bersten gespannte Seil hatte seine Windungen zu einer konturlosen Kugel zusammengezogen, an der ich keinen Ansatzpunkt fand. Mit aller Kraft krallte ich meine Finger in den Knoten hinein, versuchte, ihn aufzuziehen. Vergebens. Nur meine Fingernägel brachen ab.
»Ich muss zurückklettern«, entschied ich.
Das Seil fühlte sich hart wie Stahl an.
»Dima, bleib hier!«, rief Inga, aber ich war bereits unterwegs.
Hastig hangelte ich mich voran, während über mir das Seil immer bedrohlicher zu knarzen begann.
»Du Idiot! Was du tust, ist nicht mutig, sondern dumm!«, keifte Inga hinter mir her, doch Sekunden später kam ich bereits auf der anderen Seite an und hatte wieder festen Boden unter den Füßen.
»Ach was«, gab ich munter zurück, »so leicht reißt ein Nylonseil auch wieder nicht. Außerdem, hätte ich denn bis zum Morgen warten sollen? Es ist doch alles gut gegangen.«
In diesem Augenblick gab es einen dumpfen Knall, und das Seil riss entzwei. Das Ende, das auf meiner Seite befestigt war, schnalzte mir gegen die Hand.
»Aua!«, zischte ich, mit der schmerzenden Hand in der Luft wedelnd.
»Tut’s weh?«, fragte Inga erschrocken.
»Nein, ist nicht schlimm.«
»Schade«, quittierte sie diesmal boshaft.
»Sei nicht sauer«, sagte ich. »Wir treffen uns übermorgen Nacht wieder hier, okay?«
Inga kniete sich hin und begann, das Seil auf ihrer Seite loszubinden.
»Aber bring selbst ein Seil mit!«, rief sie streng.
»Zu Befehl!«
»Und sieh zu, dass du nicht gerade auf dieser Brücke Wache schieben musst«, fügte sie hinzu. »Es könnte gut sein, dass ich wieder hier auftauche.«
»Stimmt, da hast du recht.«
Zu mir gewandt schien Inga noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders und schwieg. Eine abschätzige Grimasse schneidend, packte sie die Überreste des Seils und ihre Laterne und stapfte grußlos von dannen.
Mir war schleierhaft, warum sie beleidigt war. Schließlich hatte sie doch selbst gesagt, dass wir etwas riskieren müssten.
Maljok schien zu schlafen, als ich in meine Kammer zurückkam. Und kaum hatte ich mich auf meinem Bett ausgestreckt, sank ich ebenfalls in einen tiefen, jedoch viel zu kurzen Schlaf.
»Dimka, aufstehen!«, krähte mir jemand am nächsten Morgen ins Ohr und rüttelte mich an der Schulter.
Draußen schien die Sonne, und von der nächtlichen Kälte war nichts mehr zu spüren. Meine Decke, die ich
»Gehen wir frühstücken«, sagte er munter.
Ich setzte mich auf und rieb mir die vom Schlaf verklebten Augen. Zappelig malte Maljok mit dem nackten Fuß irgendwelche Figuren in die Luft.
»Warum hast du so rote Augen?«, fragte ich ihn.
»Ich habe Seife in die Augen gekriegt«, erwiderte er. »Letztes Mal haben sie uns eine besonders beißende Seife geschickt.«
»Schicken sie auf diese Weise nicht auch mal Bücher oder was Vernünftiges zum Anziehen?«
»Nein, nicht dass ich wüsste.«
»Schade.« Jetzt war ich richtig wach und stand auf. »Gehen wir.«
Es war ein ganz normales Frühstück, wie in einem Ausbildungslager der Armee. Nur dass wir anstelle von Maschinengewehrattrappen Holzschwerter mit uns herumschleppten und nicht von löchrigen Zeltplanen, sondern von den Marmorwänden des Thronsaals umgeben waren. Und schwarzen Kaviar gab es in einem Militärlager natürlich auch nicht. Feierlich, mit wichtigen Mienen kamen die Mädchen herein und stellten eine monströse Kristallschüssel auf den Tisch, in der sich ein riesiger Berg der kleinen, schwarzen Fischeier türmte.
»Seht nur, was sie uns heute geschickt haben!«, rief Lera begeistert.
Lebhaftes Getuschel erhob sich im Saal.
»Kaviar hatten wir zuletzt vor einem Monat«, nörgelte Timur. »Die sind ganz schön geizig, diese Fremdplanetarier.«
Während ich mir einen großen Löffel Kaviar auf den
Mein Tischnachbar Sershan lud sich ebenfalls eine gewaltige Portion Fischeier auf den Teller und wandte sich dann an Lera, die immer noch neben dem Tisch stand und zufrieden beobachtete, wie wir zulangten.
»Sag mal, Lera, hast du den Kaviar höchstpersönlich abgelaicht, weil du gar so stolz dreinschaust?«, fragte er und handelte sich damit einen mahnenden Klaps von Chris auf den Hinterkopf ein.
Die blonde, mollige Lera war zu Tode beleidigt und ignorierte demonstrativ Sershans kleinlaute Entschuldigung. Sershan war kein schlechter Kerl, aber sein loses Mundwerk produzierte wie am Fließband Sticheleien, die er den anderen Inselbewohnern bei jeder sich bietenden Gelegenheit an den Kopf warf. Chris war die einzige Autorität, die er respektierte.
An diesem Morgen bekam ich zum ersten Mal die Wachbesprechung mit, bei der entschieden wurde, wer auf welcher Brücke Posten bezieht. Zunächst verdonnerte Chris Kostja dazu, in der Burg zu bleiben und den Mädchen beim lange geplanten Großputz zu helfen. Kostja, ein kleiner, hagerer Junge, machte ein Gesicht, als sei er zu fünf Tagen Burgverlies verurteilt worden, wagte aber keinen Widerspruch.
Sershan, Maljok, Janusch und sich selbst teilte Chris für die Südbrücke ein. Offenbar befürchtete er dort einen neuen Angriff, weshalb er die besten Kämpfer für diesen Wachdienst aussuchte. Die allerbesten. Unwillkürlich blickte ich zu Maljok. Inga hatte recht. Selbst wenn er schon als Wiegenkind mit dem Schwertkampf begonnen
Mir wurde zusammen mit dem Langen Igor, dem »normalen« Igor und Romka die Bewachung der Ostbrücke aufgetragen. Tolik, Meloman, Ilja und Timur wurden zur Westbrücke abkommandiert.
Chris schritt unsere Reihen ab und inspizierte die Waffen. Für mich hatte man ein mittellanges Schwert mit breiter, gerader Klinge, Parierstange und einem Griff mit Handschutz ausgesucht. Timur war der Meinung, dass es für einen Anfänger am besten geeignet sei. Es fiel mir immer noch schwer, zu glauben, dass dieses hübsche Holzspielzeug sich im Kampf in eine richtige Waffe verwandeln würde.
»So weit alles in Ordnung«, sagte Chris und blickte prüfend zur Sonne. »Gehen wir, die Brücken werden sich bald schließen.«
»Ja, gehen wir«, wiederholte Sershan mit seltsamer Ironie. »Nur leider ist Maljok verschwunden.«
Chris verzog das Gesicht. »Muss das sein? Immer diese Disziplinlosigkeit«, brummte er.
Da kam Maljok angelaufen. »Ich musste nur noch schnell etwas trinken«, erklärte er geschäftig.
Chris nickte. »Gut, gehen wir endlich. Und Timur, tausch du bitte mit Dima den Platz. Die Ostbrücke ist zu gefährlich für ihn, er kämpft noch nicht gut genug.«
Timur hatte keine Einwände, und mir war es egal: Hauptsache, ich musste nicht zur Südbrücke, wo ich auf Inga hätte treffen können. Auf ihrer Insel schien es nicht allzu galant zuzugehen. Bei uns jedenfalls nahmen die Mädchen nicht an den Gefechten teil, obwohl sie durchaus mit dem Schwert umgehen konnten. Vor dem Frühstück
Chris klopfte Maljok, der unruhig von einem Fuß auf den anderen hüpfte, kräftig auf die Schulter: »Vorwärts, jetzt kannst du dich austoben!«
Noch unter dem Eindruck des gestrigen Kampfes hatte ich mich innerlich darauf eingestellt, dass mir heute etwas Ähnliches blühte. Allerdings lag ich damit völlig falsch! Ohne jede Eile schlenderten wir bis zur Mitte der Brücke. Dort hatten sich bereits drei Jungen von der Insel Nr. 12 eingefunden und es sich bequem gemacht. Ich traute meinen Augen kaum, als ich bemerkte, dass einer von ihnen ein Schwarzer war. Noch während ich ihn überrascht anstarrte, stellte sich heraus, dass er sogar ganz passabel Russisch sprach.
»Schau an, die Sechsunddreißiger sind da«, rief er uns zur Begrüßung zu. »Ihr lange schlafen, wir schon beschlossen, euch wecken gehen!«
»Uns braucht man nicht zu wecken, Salif, wir sind stets bereit«, rief Tolik zurück und winkte ihm freundschaftlich zu.
»Jaja. Unsere Pioniere - immer bereit«, lachte der Schwarze.
Etwa zehn Meter von den Jungen von der Nr. 12 entfernt blieben wir stehen.
Ilja gähnte ausgiebig und blickte zum Himmel. »Verdammt heiß heute«, murmelte er. Dann streckte er sich auf den warmen Marmorplatten aus.
Zwei Jungen auf der anderen Seite, die auf der Balustrade gesessen hatten, taten es ihm gleich. Nur der schwarzhäutige Salif blieb ans Geländer gelehnt stehen
Als Tolik meinen neugierigen Blick bemerkte, rief er: »Salif, wir haben einen Neuen dabei, zeig ihm doch mal deinen Jatagan. Du kriegst ihn auch wieder, Ehrenwort.«
Ich war mir sicher, dass Tolik nur einen albernen Scherz machte, doch Salif bückte sich und ließ seine Waffe mit einem kräftigen Schubs über den glatten Marmorboden sausen, wo sie unmittelbar vor meinen Fußspitzen liegen blieb. Als ich sie aufgehoben hatte und neugierig bestaunte, hätte ich sie vor Schreck beinahe wieder fallen lassen, denn vor meinen Augen begann sie sich zu verwandeln: Der Elfenbeingriff und die funkelnde Stahlklinge verblassten und zerflossen gleichsam zu stumpfem Holz. Ungläubig ließ ich die hölzerne Klinge durch meine Hand gleiten und zog mir prompt einen Schiefer ein. Tolik lachte schadenfroh. Verärgert über meine Ungeschicktheit, warf ich den Jatagan etwas zu schwungvoll in hohem Bogen zurück. Im letzten Moment, bevor er über die Balustrade hinaussegeln und ins Meer fallen konnte, fing Salif ihn geschickt auf und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Mir war das sehr peinlich.
»Woher hast du denn dieses coole Messer?«, fragte ich, um meine Verlegenheit zu überspielen.
»Das ist traditionelle Waffe meines Stammes«, antwortete er, über das ganze Gesicht grinsend.
»Seit wann ist ein Jatagan eine afrikanische Waffe?«, fragte ich zu Tolik gewandt, woraufhin Salif so laut zu wiehern anfing, dass man es wahrscheinlich auf allen vierzig Inseln hörte.
»Dachtest du etwa, er ist aus Afrika?«, prustete Tolik.
»Ja, nein, ähm …«, stammelte ich.
»Du hast es mit einem Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika zu tun«, setzte Tolik mich ins Bild. »Soweit ich weiß, heißt er George, und geboren wurde er in Tschi…«
»Tolik!«, unterbrach ihn Salif entrüstet. »Du bekommst Krieg mit mir! Du hast mein Militärgeheimnis verraten.«
»Schon gut, Salif. Ich bin schon still«, beschwichtigte Tolik. Dann wandte er sich zu mir und flüsterte: »Dimka, du musst dich daran gewöhnen, dass hier der eine oder andere vor Langeweile zu spinnen beginnt.«
»Das macht ja auch gar nichts. Nur wenn einer seinen Frust an den anderen auslässt, wird’s problematisch«, sagte plötzlich Meloman, der uns offenbar zugehört hatte, obwohl er sich wie immer die Kopfhörer in die Ohren gestöpselt hatte und mit halb geschlossenen Augen dastand. An seiner Brust baumelte der Disc-Man, der mit einem Solarmodul ausgestattet war.
»Jedenfalls haben hier alle Probleme mit der Langeweile«, fuhr Tolik fort. »Die einen schieben einfach nur Frust, andere werden aggressiv und stürzen sich blindlings in den Kampf. Und der schwarze Junge dort drüben spinnt eben ein bisschen herum und gibt sich als junger Krieger eines Menschenfresserstammes aus. Salif hätte dir noch weiß der Geier was alles erzählt, wenn ich ihn nicht gebremst hätte. Der Jatagan ist natürlich eine türkische Waffe. Ihre Insel, die Nr. 12, grenzt an die Insel Nr. 14, dort leben fast nur Türken. Es sieht so aus, als glaubten die Vierzehner wirklich, dass sie alle Inseln erobern können, jedenfalls haben Geo… ähm, Salif und seine Freunde ihre liebe Not mit ihren ständigen Attacken. Dagegen ist die
»Aber gestern haben die Jungs doch erzählt …«
»Ilja und Kostja?«, unterbrach mich Tolik. »Wenn du denen mehr glaubst, bitte.«
»Moment mal«, widersprach Ilja empört. »Gestern gab es wirklich ein heftiges Gefecht hier.«
Allmählich wurde ich träge und schläfrig. Der schwache Wind, der über die Brücke blies, war so heiß, dass er keinerlei Erfrischung spendete. Für eine Weile legte ich mich in die Sonne, dann schlenderte ich gelangweilt herum und sah aufs Meer hinunter. Immerhin wurde mir dabei nicht mehr schwindlig, offenbar gewöhnte man sich mit der Zeit an die Höhe.
Plötzlich zuckten von unserem Wachturm zwei Lichtblitze zu uns herüber.
»Die Mädchen werden uns gleich das Mittagessen bringen«, erläuterte Ilja. »Wir haben dort einen großen Spiegel aufgestellt, den man quasi als Lichttelegraf benutzen kann.«
Ich nickte anerkennend und musterte Iljas Brille, deren einer Bügel mit Draht notdürftig befestigt und deren Gläser beide gesprungen waren.
»Ilja, wie alt ist deine Brille schon?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.
»Die gehört gar nicht mir. Meine eigene ist, schon einen Monat nachdem ich hier ankam, kaputtgegangen. Diese hier ist ein Beutestück, Chris hat sie mir vor einem Jahr organisiert. Die Gläser sind zwar ein bisschen
Auf welche Weise Chris ihm die Brille »organisiert« hatte, wollte ich gar nicht so genau wissen, es war ohnehin klar, dass niemand sie freiwillig hergegeben hätte.
»Brillenträger haben es schwer hier«, warf Meloman ein. »Wenn ihre Brille kaputtgeht, sind sie eigentlich geliefert. Und Kranke haben es auch schwer, Herzkranke oder Diabetiker zum Beispiel. Es gibt ja keine Medikamente. Auf der Insel Nr. 30 ist so einer aufgetaucht, der ist nach einer Woche gestorben. Nicht im Kampf wohlgemerkt, sondern einfach so.«
»Ohne deinen Disc-Man würdest du auch krepieren«, konterte Ilja bissig. »Du wirst schon sehen, wenn der mal den Löffel abgibt, dann legst du dich ins Bett und bist nach einer Woche hinüber.«
»Lässt du mich mal reinhören?«, bat ich Meloman.
Bereitwillig reichte er mir sein kleines, rundes Abspielgerät, das aussah wie eine fliegende Untertasse im Miniaturformat. »Weißt du, ich habe nur drei CDs, die kann inzwischen außer mir sowieso schon keiner mehr hören«, sagte er lachend.
Als ich die Kopfhörer aufsetzte, erklang eine heisere Männerstimme, die kurze, schneidende Phrasen stakkatoartig aneinanderreihte:
In des Spiegels matter Trübe
sehn wir uns und lächeln mild,
doch das ist nur eine Lüge,
uns hat erhascht das Spiegelbild.
»Ist das Zeitspirale?«, fragte ich.
Er nickte schweigend und machte ein zufriedenes Gesicht. Aus den Kopfhörern hämmerte ein treibender, einnehmender Rhythmus, unter dessen Eindruck ich jede Muskelfaser anspannte, als stünde mir eine Schlägerei oder ein Sprung ins kalte Wasser bevor.
Allzu gern wärn wir entfleucht,
doch bleiben wir am Rahmen kleben,
aus der Scheibe tränenfeucht
lachen Fratzen uns entgegen.
Mit einem schnellen Ruck zur Seite
hab’n wir uns davongestohlen,
doch die flinke Spiegelmeute
hat’s geschafft, uns einzuholen.
Die CD war zu Ende. Gerade als ich sie wieder von vorne starten wollte, sah ich Tanja die Brücke entlangkommen, sie brachte einen riesigen Topf Essen. Auch unsere »Feinde« wurden verköstigt, bei ihnen fand sich ein kleiner Junge mit einer großen Tasche ein, die er kaum schleppen konnte.
In aller Ruhe aßen wir zu Mittag. Unser Brot teilten wir mit den Jungen von der Insel Nr. 12, die uns ihrerseits einige saftige Äpfel abgaben. Tanja leistete uns eine Zeit lang Gesellschaft und wäre wohl gern noch geblieben, wenn Tolik sie nicht unmissverständlich zur Burg zurückgeschickt hätte.
»Du bist noch zu klein«, erklärte er trocken. »Außerdem haben Mädchen auf der Brückenwache nichts verloren.«
»Haben sie wohl!«, giftete Tanja beleidigt. »Auf der Insel Nr. 2 zum Beispiel.«
»Pah, das glaubst du doch selbst nicht«, fertigte Tolik sie ab und erzählte mir kurz darauf, dass es Gerüchte gäbe, wonach auf der weit entfernt liegenden Insel Nr. 2 ausschließlich Mädchen das Sagen hätten und die Jungen von ihnen vertrieben oder sogar getötet würden.
Während Tanja davontrottete, wandten wir uns wieder dem Nichtstun zu. Die Sonne sank allmählich auf den Horizont hinab, während der Wind gleichzeitig zunahm, als würde sich die schwindende Kraft der Sonne auf ihn übertragen. Ich kauerte mich auf dem noch warmen Marmor zusammen, zum einen, weil es rasch kühler wurde, zum anderen, weil die Brücke im Wind zu schwanken begann, was in meinem Magen wie schon am ersten Tag ein höchst unangenehmes, flaues Gefühl auslöste.
»Das ist wie auf einem Schiff bei hohem Seegang«, sagte Ilja, dem das Geschaukel Spaß zu machen schien. »Bei Sturm ist es noch viel besser hier oben. Manchmal reichen die Wellen bis auf halbe Höhe zur Brücke herauf.«
»Wir sind aber doch hundert Meter über dem Meer hier«, gab ich verwundert zu bedenken.
»Du wirst ja sehen«, entgegnete er stur.
In diesem Augenblick blitzte auf unserem Wachturm ein Lichtschein auf, der mich regelrecht blendete.
»Mist …«, zischte Tolik, sprang auf und spähte zum Wachturm hinüber. Nach einer halben Minute wiederholte sich das Lichtzeichen.
Ilja legte die Stirn in Falten. Meloman nahm die Kopfhörer ab. Die Jungen von der Nr. 12 registrierten aufmerksam die Unruhe auf unserer Seite.
»Salif!« Tolik legte sein Schwert auf den Boden und
»Kehrt zur Burg zurück, Jungs, und seht mal nach, was sich auf der Nordbrücke tut. Ich halte hier allein Wache«, rief er seinen Gefährten zu.
Wortlos machten sich diese auf den Weg zu ihrer Burg. Tolik gab Salif kurz die Hand und kehrte zu uns zurück. Er sah außergewöhnlich besorgt aus.
»Kannst du hier allein Wache halten?«, fragte er Meloman.
Meloman nickte schweigend.
Tolik wandte sich mir und Ilja zu: »Vorwärts, im Laufschritt zurück zur Burg!«
Ich verzichtete darauf, überflüssige Fragen zu stellen. Das Lichtsignal hatte offensichtlich bedeutet, dass wir schnellstens zur Insel zurückkehren sollten.
Während wir zur Burg hinunterliefen, kam mir der Gedanke, dass man auf den Brücken entweder gemächlich dahinschlenderte oder im Höchsttempo rannte. Ein Mittelding schien es nicht zu geben.
Die Sonne hatte sich inzwischen in einen dunkelroten Ball verwandelt und war sanft ins Meer eingetaucht, während leuchtendes Abendrot in den Himmel strömte, als würde er von Blut getränkt.
Als Erste waren die Jungen von der Südbrücke auf die Insel zurückgekehrt. Von Weitem sahen wir, dass sich die Mädchen, Timur, Sershan und Janusch am Fuß der Ostbrücke versammelt hatten. Sie bildeten einen Kreis und starrten wortlos auf etwas, das zwischen ihnen auf dem Boden lag.
Meine Beine waren zittrig und schmerzten, die anderen beiden hatten ein höllisches Tempo vorgelegt. Im Schlepptau von Tolik, der sich ziemlich grob durch die anderen hindurchdrängelte, landete ich mitten in dem kleinen Pulk. Auf dem Boden lagen in einer Blutlache Romka und Igor. Der »normale« Igor. Romka hatte eine Stichwunde in der Brust, die von geronnenem Blut umsäumt war. Igor dagegen war von einer so entsetzlichen Kopfwunde entstellt, dass ich es nicht fertigbrachte, richtig hinzusehen. Mir wurde schlecht.
Unvermittelt packte Sershan Timur an den Schultern und schüttelte ihn: »Wo ist Ostap?«, zischte er, womit er den Langen Igor meinte, der mit Nachnamen Ostapenko hieß.
»Er ist von der Brücke gesprungen, verwundet...«, sagte Timur und versuchte vergeblich, sich aus Sershans Umklammerung zu lösen. Mit brechender Stimme fügte er hinzu: »Tödlich verwundet.«
»Wo ist Kostja?«, schrie Sershan, wobei er Timur mit irren Augen anstarrte.
»In der Burg«, antwortete ihm Rita. »Wahrscheinlich ist er auch … Ein Pfeil steckt in seiner Brust, wir haben uns nicht getraut, ihn herauszuziehen.«
»Und warum lebst du noch, Timur?«, fragte Sershan mit drohender Stimme. »Die Feinde sind bis zur Burg gekommen - wieso bist du getürmt?«
»Lass ihn!«, keifte Rita und schubste Sershan zur Seite. »Timur hat sich völlig richtig verhalten. Reg dich ab!«
»Streitet euch nicht«, sagte Ilja leise. »Das bringt jetzt auch nichts mehr.«
Hinter einem kleinen Waldstück am entfernten Ende der Insel begruben wir Romka und Igor. Chris und Maljok, die erst später eingetroffen waren, halfen Sershan und Janusch beim Ausheben der Gräber, die nicht sonderlich tief gerieten, da sich unter der dünnen Sandschicht harter Felsboden befand.
Während ich so dastand, wurde mir mit Schaudern bewusst, dass ich nur durch einen glücklichen Zufall nicht selbst in einem dieser Sandlöcher mein Ende gefunden hatte. Denn ursprünglich war ja ich für die Wache auf der Ostbrücke eingeteilt gewesen.
Die getöteten Jungen kannte ich kaum, weder Romka noch die beiden Igors. Wir hatten einfach zu wenig Zeit gehabt, um uns näher kennenzulernen. Dennoch war ich mir in dem traurigen Moment, da ich vor ihren Gräbern stand, sicher, dass wir Freundschaft geschlossen hätten. Der Lange Igor war in meinem Alter gewesen, die anderen beiden etwas jünger als ich. Alle drei waren sie lebensfrohe Gemüter, die noch am Morgen bester Laune ihre Scherze getrieben hatten.
Es wäre gelogen, wenn ich behauptete, dass ich in jenem Augenblick tiefen Kummer empfunden hätte. Wären Chris, Tolik oder Maljok umgekommen, hätte ich wahrscheinlich um sie getrauert und geweint. Jetzt hingegen fühlte ich eine Anteilnahme, als wäre in meiner Gegenwart jemand Fremdes von einem Auto überfahren
Nachdem die Gräber zugeschaufelt waren, blieben wir noch eine Weile vor ihnen stehen, als wäre es ein Verrat gewesen, die Jungen allein zurückzulassen. Janusch flüsterte stimmlos vor sich hin. Ich vermutete, dass er ein Gebet sprach, denn in Polen gibt es viele gläubige Menschen.
Dann, als wir in die Burg zurückgekehrt waren, erzählte Timur, wie sich alles zugetragen hatte. Die Wachen auf der Ostbrücke hatten von Anfang an das Gefühl gehabt, dass etwas im Busch war. Normalerweise beorderte die Insel Nr. 30 drei bis vier Mann auf die Brücke, an diesem Tag waren sie zu siebt gekommen. Dennoch hatten sie sich bis zum Abend ruhig verhalten und keine Angriffsversuche unternommen. Allem Anschein nach hatten sie das genau so geplant, um unsere Wachposten einzulullen, was ihnen auch gelang. Es war nur noch eine knappe Stunde bis zur Trennung der Brücke, als einer der Jungen von der Nr. 30 sich scheinbar auf den Rückweg zu seiner Burg machte.
Das war allerdings ein Täuschungsmanöver! Er ging nur einige Schritte weit, und unsere Wachen achteten
Fatalerweise hatten die Dreißiger noch einen weiteren Armbrustschützen, dessen Pfeil fast zeitgleich durch die Luft zischte und den anderen Igor in den Kopf traf. Er taumelte zu Boden und verlor das Bewusstsein. Einer der nachsetzenden Angreifer schlug mit dem Schwert auf ihn ein und bezahlte dies mit seinem Leben, denn inzwischen war Romka herbeigestürzt und stieß dem Jungen die Klinge in den Leib. Daraufhin wichen die anderen Angreifer zurück. Romka verfolgte sie, da er in der Hitze des Gefechts nicht mitbekam, dass er allein gegen fünf war. In dem sich anschließenden ungleichen Kampf wurde er in die Brust getroffen. Timur hatte noch versucht, ihm zu Hilfe zu eilen, konnte ihn aber nur noch schwer verletzt aus der Kampfzone zerren.
Die Lage war verzweifelt. Der Lange Igor war verwundet, der zweite Igor bewusstlos, während Romka das Blut in einer pulsierenden Fontäne aus der Wunde schoss. Obgleich Romka bei Bewusstsein war, wurde er doch mit jeder Sekunde schwächer. Nun nahm der Lange Igor sein Schwert in die linke Hand und bedeutete Timur, er solle die Verwundeten zur Burg hinunterbringen. Igor musste auf den Schultern getragen werden, Romka konnte zunächst noch selbst laufen. Doch als schließlich auch dieser zusammenbrach, blieb Timur nichts anderes übrig, als beide über den Marmor zu schleifen.
Dann, als er sich einmal kurz umdrehte, sah er, wie der
Timur war schon fast an der Burg angekommen, als er bemerkte, dass das Große Spiel für Romka unwiderruflich zu Ende war. Kostja kam ihm entgegengelaufen und half ihm dabei, die zwei Jungen in die Burg zu schleppen. Die Mädchen versuchten noch, den röchelnden Igor zu verbinden, aber sie konnten nichts mehr für ihn tun. Inzwischen kamen die Feinde, die die Verfolgung aufgenommen hatten, die Brücke heruntergerannt und griffen erneut an. Timur und Kostja gelang es, sie in Schach zu halten, obwohl sie zu zweit gegen vier kämpften. Als die Angreifer bemerkten, dass die Mädchen von einer anderen Brücke Verstärkung herbeigerufen hatten, flüchteten sie. Einen Pfeil schossen sie hastig noch ab, noch nicht einmal richtig gezielt.
Dennoch traf er Kostja.
Aufgewühlt durch Timurs Bericht, irrte ich planlos durch die Gänge der Burg. Draußen war es rasch dunkel geworden. Durch jede kleinste Mauerritze sickerte Kälte herein und kroch als kühler Luftzug die Wände entlang. Das Grollen der ans Ufer schlagenden Wellen wurde zunehmend lauter und polterte durch die finsteren Korridore.
Als ich an Kostjas Kammer vorbeikam, legte ich mein Ohr an die Tür und horchte. Ich konnte ihn atmen hören: Es war ein gurgelndes Geräusch, als schäumte etwas in seiner Kehle oder an seinen Lippen. Als ich die Tür öffnete,
Nach und nach versammelten sich die meisten von uns im Thronsaal. Dort war es immerhin hell und sogar einigermaßen warm. Das Kaminfeuer prasselte und vertrieb die schlimmste Kälte, wenn seine Kraft auch längst nicht ausreichte, um den riesigen Saal bis in den letzten Winkel aufzuwärmen. An jeder Wand brannte eine Fackel, in deren Licht wir lange Schatten warfen, die unruhig über den kalten Marmorboden geisterten. Wie die Spiegelbilder im Song von Melomans Lieblingsgruppe schienen diese schwarzen, verzerrten Gestalten ein Eigenleben zu entwickeln, als wollten sie sich nicht damit abfinden, nur ein lebloses Abbild zu sein.
Ich war an eines der Fenster getreten und beobachtete eine Weile, wie die Wellen direkt unter mir gegen die Mauer schlugen und die Gischt in tauenden Flocken an der Fensterscheibe herabrann. Der Himmel musste dicht mit Wolken verhangen sein, denn nur ganz selten einmal konnte ich einen Stern aufblitzen sehen. Ich war dankbar, dass ich nicht schon heute zum Treffen mit Inga gehen musste.
Als ein besonders heftiger Windstoß schneidend aufheulte, hörte man irgendwo oben eine Scheibe zu Bruch gehen. Das war nun keine Katastrophe, aber Tolik stieß trotzdem einen heftigen Fluch aus und trat mit voller Wucht gegen die Wand. Dieser Akt plumper Aggression konnte der Wand kaum etwas anhaben, während Tolik, vor Schmerz jaulend, zum Sofa hinüberhinkte. Meloman
»Wir müssen uns überlegen, was wir jetzt machen sollen«, rief Chris in unser Schweigen hinein. Er saß auf seinem »Kommandeurstuhl« am Kamin und hatte sein Schwert über die Armlehnen gelegt.
»Was wir machen sollen?«, blaffte Sershan. »Wir könnten Timur trösten, seht nur, wie traurig er ist, der Ärmste. Oder wir bedanken uns bei Tolik. Der hat letzte Woche auf der Ostbrücke Wache geschoben und die Dreißiger bis aufs Blut gereizt. Das hat er wirklich gut hingekriegt«, giftete er sarkastisch.
»Halt den Mund!«, zischte Tolik und ging, während er sein Schwert zog, auf Sershan zu.
Mit Entsetzen bemerkte ich, dass die Klinge seines Holzschwerts einen silbrigen Glanz bekam. Sershan wich mit einem Satz zur Wand zurück und zog nun seinerseits die Waffe. Im selben Moment tauchte plötzlich Timur zwischen den beiden auf. Nach ein paar Sekunden lagen Sershan und Tolik, sich vor Schmerzen windend, hilflos am Boden, während Timur in der Pose eines Karatekämpfers - eine Hand am Gürtel, die andere vor dem Gesicht - dastand, als warte er auf eine Fortsetzung des Kampfes.
»So, der Aufruhr ist beendet. Danke, Timur«, sagte Chris gelassen und fuhr mit eindringlicher Stimme fort: »Ich wiederhole es noch mal, extra für Sershan: Keiner von uns trägt die Schuld an dem, was geschehen ist. Im Kampf läuft eben nicht immer alles nach Plan. Im Übrigen … ach, lassen wir das. Am besten, du gehst morgen auf die Ostbrücke, Sershan, da kannst du deinen Frust ablassen.«
Sershan und Tolik verkrochen sich kleinlaut in entgegengesetzte
»Wir haben heute vier Kämpfer verloren«, konstatierte Chris.
»Drei!«, widersprach Tolik heftig. »Kostja ist doch noch am Leben - oder hast du ihn schon abgeschrieben?«
»Natürlich nicht, aber er steht uns als Kämpfer vorerst nicht mehr zur Verfügung. Wir haben drei Freunde und vier Kämpfer verloren. Die Lage ist äußerst bedenklich. Noch so ein Gemetzel, dann müssen wir uns in der Burg verbarrikadieren.«
»Kommt überhaupt nicht infrage«, entgegnete Timur entrüstet. »So weit dürfen wir es nicht kommen lassen!«
Ein Raunen ging durch den Saal. Sich in der Burg zu verbarrikadieren und den Feinden die Brücken und die Insel kampflos zu überlassen, galt unter den Teilnehmern des Großen Spiels als die schlimmste Schmach, die man sich einhandeln konnte. Selbst Meloman streifte aufgebracht seinen Kopfhörer ab und schaltete sich in die Diskussion ein. Die Frage war, wie wir die wenigen verbliebenen Kämpfer am besten auf die Brücken verteilen konnten. Schweigend lauschte ich dem Gespräch, ohne mich einzumischen.
»Der kritischste Punkt ist die Ostbrücke«, sagte Chris schließlich. »Es ist gut möglich, dass sie uns dort morgen erneut angreifen. Und selbst wenn sie das nicht tun, wir haben noch eine Rechnung mit denen offen. Morgen werden Timur, Tolik und ich dort Wache halten.«
»Das reicht nicht«, warf Meloman erhitzt ein.
»Weiß ich, aber wir haben keine andere Wahl«, entgegnete Chris. »Du bewachst mit Maljok und Janusch die Südbrücke.«
»Also gut«, beugte sich Meloman. »Auf Maljok kann man sich verlassen.«
»Ab sofort gibt’s hier keine kleinen Jungen mehr, alle sind erwachsen, verstanden, Maljok?«, sagte Chris zu unserem Jüngsten gewandt.
Maljok, der den ganzen Abend noch kein Wort gesagt hatte, nickte abwesend.
»Die Westbrücke übernehmen Dima und Sershan.« Chris teilte mich für die am wenigsten gefährliche Brücke ein.
»Und was wird aus mir?«, wisperte Ilja beleidigt. »Habt ihr mich vergessen?«
»Du hältst dich auf der Insel bereit und wirst dann auf die Brücke abberufen, auf der es am ärgsten brennt«, beschwichtigte ihn Chris.
Er war wirklich der geborene Kommandeur. Ilja hatte das Gefühl, mit der wichtigsten Aufgabe überhaupt betraut worden zu sein, dabei bestanden Sinn und Zweck dieser Maßnahme einzig darin, ihn nicht in Gefahr zu bringen.
Langsam ließ ich den Blick über die Gesichter der versammelten Jungen schweifen. Für einen Augenblick vergaß ich, dass ich hier mitten im Geschehen war, und betrachtete die Situation wie ein Unbeteiligter, gleichsam von außen: der riesige Saal aus rosa Marmor; die hohen, von Finsternis geschwärzten Fenster, auf denen Rinnsale des vom Sturm gepeitschten Meerwassers mäanderten; die züngelnden Fackeln an den Wänden; das knisternd lodernde Kaminfeuer; darüber der scharlachrote Schild,
Die Tür quietschte, und mit einem Schlag kehrte Stille ein. Rita stand in der Tür und war auf der Schwelle erstarrt, als hätte sie Angst einzutreten.
»Kostja ist gestorben«, sagte sie leise.
Niemand sprang auf, keiner sagte ein Wort. Wir hatten alle bereits den ganzen Abend damit gerechnet, dass dies geschehen würde. Das Schweigen war so beklemmend, dass ich es nicht länger ertrug. Wie von Sinnen rannte ich zur Tür, rempelte Rita zur Seite und stürzte in den Gang hinaus, nach links, die Treppe hinunter zur Tür, die ins Freie hinausführte: verschlossen. Planlos lief ich wieder zurück nach oben, schlüpfte in einen engen Durchgang, der in einen stockdunklen gewundenen Korridor führte, in dem keine zwei Leute aneinander vorbeigepasst hätten, und gelangte schließlich an eine steile Wendeltreppe, die ich hinaufstürmte, immer weiter hinauf, bis ich unvermittelt vor einer weiteren Tür stand.
Als ich sie aufstieß, schlug mir heulender Wind entgegen, und Regen peitschte mir ins Gesicht. Alles war in Dunkelheit gehüllt: das Meer, die Insel und weit unten die wuchtigen Gemäuer der Burg. Im Getöse des aufgewühlten
Gegen den Wind ankämpfend, tastete ich mich voran, stieß auf eine gemauerte Brüstung und machte mich gerade daran, darüber hinwegzuklettern, als ein Blitz vom Himmel zuckte und nicht weit von der Burg einen grellweißen Strahl ins Meer rammte. Im selben Moment tat es einen ohrenbetäubenden Knall, als sei der Himmel explodiert. Ein Bein hatte ich schon über die Brüstung geschwungen, und beinahe wäre ich vor Schreck in die Tiefe gestürzt, wo die Wellen schäumend gegen die Mauern schlugen.
Der Blitz verlosch, und mit einem Mal schien es noch viel finsterer zu sein als zuvor. Mit wild pochendem Herzen krampfte ich mich an der Brüstung fest und wusste einen Moment lang nicht, in welche Richtung ich zurückklettern musste. Da fasste mich jemand an den Schultern und zog mich auf die Plattform zurück.
»Lass das, Dima, beruhige dich«, flüsterte Toliks Stimme direkt an meinem Ohr.
Noch immer hielt er meine Schultern fest im Griff, als
»Lass mich los, Tolik!«, sagte ich etwas unwirsch.
»Einen Teufel werde ich tun, wer weiß, vielleicht willst du ja zum Verrückten Kapitän.«
»Ich will zu überhaupt niemandem.«
»Und warum bist du dann abgehauen, wenn ich fragen darf?«
Nun brach meine ganze Verwirrung heraus und mit ihr das schreckliche Gefühl der Verlassenheit, das meine Seele beherrschte. »Tolik, ich halte es nicht aus mit diesen Typen! Das sind doch keine Menschen, sondern Roboter. Sie zucken noch nicht einmal mit der Wimper, wenn einer nach dem anderen ins Gras beißt. Du bist der einzig Normale in dem ganzen Haufen.«
»Das ist nicht wahr, Dima. Wir sind alle normale Menschen, und ich bin keinen Deut besser als die anderen. Es ist schon richtig, dass sie versuchen, die Haltung zu bewahren, wenigstens voreinander. Du solltest dir hier ein dickes Fell zulegen, sonst kommst du nicht weit.« Tolik sprach mit ruhiger Stimme auf mich ein. »Es ist nun mal nicht zu ändern, dass wir hierher geraten sind, wir müssen einfach das Beste daraus machen. Es kommt ja auch nicht jeden Tag so schlimm wie heute. Manchmal vergehen Monate, ohne dass jemand getötet wird. Und die Neuen, die ankommen, bringen auch immer wieder frischen Wind rein. Wir hatten mal einen Geiger hier - Mann, konnte der spielen!«
Toliks Worte überzeugten mich nicht wirklich, denn was er sagte, stimmte nur vor dem Hintergrund der perversen Regeln, die auf den Inseln herrschten. Was war
Trotz allem reifte in mir die Erkenntnis, dass mein innerer Widerstand gegen diese Welt zwecklos war. Während ich so neben Tolik stand und mich unwillkürlich an ihn drängte, als wäre er älter als ich und könnte mich vor irgendetwas beschützen, begann ich langsam, mich ein wenig zu beruhigen.
Mir war noch nicht danach zumute, in die Wärme und ins Licht der Burg zurückzukehren. Ein paar Minuten brauchte ich noch, um wieder völlig zu mir zu kommen.
»Von welchem Verrückten Kapitän hast du vorhin gesprochen?«, fragte ich.
»Stimmt, du konntest ja gar nicht wissen, von wem ich rede«, sagte Tolik nachdenklich. »Ist dir nicht kalt?«
»Nein.«
»Dann warten wir noch den nächsten Blitz ab. Schau einfach aufs Meer hinaus und hör mir zu, ich erzähle dir was.«
Als Tolik mit seiner Geschichte begann, nahm seine Stimme einen beinahe ehrfürchtigen Ton an. »Der Verrückte Kapitän ist ein Junge wie du und ich. Genauer gesagt, das war er. Auch ihn verschlug es auf eine der Inseln, wo er viele Jahre lebte und zu einem ausgewachsenen Kerl heranwuchs. Er war ein mit allen Wassern gewaschener Schwertkämpfer, und man sagt, dass er durchaus eine Chance gehabt hätte, mit seinen Leuten alle vierzig Inseln zu erobern. Doch das wollte er nicht, denn er hatte sich in den Kopf gesetzt, alle Inselbewohner zu retten. Deshalb baute er zusammen mit den Jungen von seiner
Tolik verstummte. Der Wind, der für ein paar Augenblicke nachgelassen hatte, heulte markerschütternd auf und peitschte uns mit neuer Kraft den Regen ins Gesicht.
»Es geht da so ein Gerücht«, schrie Tolik mir ins Ohr. »Wenn man bei einem starken Sturm ins Wasser fällt, wird man vom Schiff des Verrückten Kapitäns aufgesammelt. Wenn man nur wüsste, ob das stimmt.«
Natürlich stimmte das nicht! Und Toliks Geschichte war nichts weiter als ein schönes Märchen, nämlich die Legende vom Fliegenden Holländer in etwas abgewandelter Form. Das wollte ich Tolik gerade sagen, kam aber nicht mehr dazu, da im selben Moment erneut ein vieladerig verzweigter Blitz über den Himmel loderte und ich in seinem toten Licht den sagenhaften, unmöglichen und dennoch gespenstisch echten Klipper des Verrückten Kapitäns erblickte. Irgendwo zwischen uns und der Insel Nr. 30 schoss er mit dick aufgeblasenen Segeln, vom Sturm fast in die Waagrechte gedrückt, über die sich aufbäumenden Wellen dahin.
Der Blitz verlosch. Das Meer, die Wellen und das Schiff des Kapitäns wurden von undurchdringlicher Finsternis verschluckt.
Eine Halluzination, dachte ich, wie bei einem Psychopathen. Aber war es ein Wunder, dass man auf dieser bescheuerten Insel zu spinnen begann?
»Glück gehabt«, sagte Tolik mit gedämpfter Stimme. »So nah habe ich ihn noch nie gesehen.«
Ich konnte nicht schlafen. Ein anderer hätte vielleicht einfach den Schalter umgelegt und sich in den Schlaf sinken lassen. Warum auch nicht, die Geschehnisse des Tages waren ohnehin nicht mehr rückgängig zu machen. Leider bin ich völlig anders gestrickt: Bevor ich einschlafen kann, muss ich immer erst meine Gedanken ordnen und einen gewissen Frieden mit mir selbst finden.
Damit scheiterte ich in dieser Nacht grandios. Irgendetwas wühlte mich auf, ich kam nur nicht dahinter, was es war. Vielleicht der Tod der Jungen - Igor, Kostja? Nein. Der Streit zwischen Sershan und Tolik? Nein. Der Verrückte Kapitän? Das war es auch nicht. Der morgige Tag? Nein.
Was war es nur, was mich so umtrieb? Es waren wohl doch die getöteten Jungen, und zwar weniger die Tatsache, dass sie im Kampf starben, als der Umstand, dass ich an ihrer Stelle hätte sein können. Das war es! Chris hatte mich im allerletzten Moment auf die andere Brücke geschickt, als ob er gewusst hätte, was passieren würde! Plötzlich kam mir der Gedanke, dass die Feinde vor allem auf Jungen in meinem Alter Jagd zu machen schienen. Sie hatten nicht einmal versucht, auf Timur zu schießen, obwohl es logischer gewesen wäre, den ältesten und erfahrensten Kämpfer des Gegners als Ersten auszuschalten. Das war natürlich ein dummer Gedanke, warum hätte jemand ausgerechnet auf mich Jagd
»Dimka«, hörte ich plötzlich Maljok flüstern. »Dimka, schläfst du?«
Mir war überhaupt nicht nach einer Unterhaltung mit Maljok, daher schwieg ich und tat so, als ob ich schliefe. Das Bett gegenüber quietschte, leise Schritte ertönten.
»Dimka«, flüsterte Maljok, jetzt offenbar über mich gebeugt.
Wollte er mich aufwecken, oder was? Warum flüsterte er dann? Ohne zu überlegen, warum, machte ich keinen Mucks und rührte mich nicht.
»Dimka«, hauchte Maljok noch einmal, dann hörte ich leise die Türklinke knarren.
Maljok war aus der Kammer geschlichen. Nachdem ich ein paar Sekunden gewartet hatte, kroch ich ebenfalls aus dem Bett. Sofort umfing mich elende Kälte, als wäre ich in ein Eisloch gesprungen. Bibbernd tapste ich zur Tür und schlüpfte in den dunklen Gang hinaus. Maljoks kaum hörbare Schritte verloren sich alsbald im gleichmäßigen Rauschen der Elemente. Der Sturm hatte zwar nachgelassen, doch der Wind pfiff noch immer geräuschvoll um die Burg. Bei meiner Verfolgung konnte ich mich weder auf mein Gehör noch auf meine Augen verlassen, sondern folgte einer Art sechstem Sinn.
Am Ende des Ganges angelangt, stieg ich die Wendeltreppe hinunter und schlich weiter Richtung Haupteingang. Dort konnte ich endlich schemenhaft Maljoks Silhouette ausmachen. Wo wollte er nur hin mitten in der Nacht bei dieser Saukälte? Jedenfalls nicht hinaus, denn Maljok wandte sich einem eisenbeschlagenen Holzgatter zu, das sich unmittelbar vor der Haupteingangstür in der
Als Maljok den Riegel zurückschob, ertönte ein gedämpftes Klonk. Beim Öffnen der Tür jedoch quietschten die Scharniere so jämmerlich, dass er zusammenzuckte und für einige Augenblicke verharrte. Ich stand etwa zehn Meter von ihm entfernt in seinem Rücken und spürte mein Herz bis zum Hals pochen. Jetzt machte sich Maljok an etwas zu schaffen; plötzlich erklang ein Zischen, und in seinen Händen glomm ein fahles Licht, das er in einer winzigen Petroleumlampe entzündet hatte. Erschrocken presste ich mich gegen die Wand, aber der Lichtschein war so schwach, dass er mich wohl kaum erfassen konnte. Maljok verschwand nach unten. Als ich ihm nach wenigen Sekunden folgte, sah ich, dass er eine lange Treppe hinunterstieg, an deren Ende sich erneut eine verriegelte Tür befand.
Hinter dieser Tür öffnete sich ein Kellerraum, den Maljok trotz der spärlichen Beleuchtung sicheren Schrittes durchmaß. Allem Anschein nach ging er diesen Weg nicht zum ersten Mal. Lautlos atmend schlich ich ihm durchs Halbdunkel des muffigen Kellers hinterher. Überall herumliegendes Gerümpel machte eine geräuschlose Fortbewegung nicht gerade einfach. Trotz aller Umsicht schrammte ich mit dem kleinen Zeh gegen die Kante einer Holztruhe und konnte mir nur mit Mühe einen Aufschrei verbeißen. Zum Glück hatte sich die schwere Truhe nicht bewegt, sonst hätte Maljok mich sicherlich bemerkt. In einem Winkel des Kellers lagen uralte, halb zerfallene Möbel, in einem anderen riesige Fässer und ein umgedrehtes Boot, überall türmten sich irgendwelche
Inzwischen hatte Maljok das Ende des Kellerraums erreicht. Er stellte seine Petroleumfunzel ab, die dabei fast ausgegangen wäre, und trat an die Wand heran, die nicht aus Marmor, sondern aus Steinblöcken bestand. Allerdings war in der Wand eine kleine, etwa buchgroße und tiefschwarze Marmortafel eingelassen, die blank poliert wie ein Spiegel glänzte und sich etwa eineinhalb Meter über dem Boden befand. Maljok legte langsam die Handflächen auf die Tafel und verharrte reglos.
Hinter einem Fass hervorlugend, beobachtete ich ihn.
Die Flamme der Petroleumlampe knisterte leise in der abgestandenen, modrigen Kellerluft. Es passierte nichts, absolut nichts. Meine Beine begannen zu frieren.
Mit einem Mal fiel der Groschen bei mir: Es musste sich um eine Art Grabmal oder Gedenktafel handeln. Warum war ich da nicht gleich draufgekommen? Wahrscheinlich lag hier irgendein Held begraben, unter dessen Führung seinerzeit eine Nachbarinsel erobert worden war. Maljok betete wohl für ihn, erhoffte sich seinen Beistand oder folgte sonst einem Ritual. Wer weiß, welch wunderliches Verhalten ich selbst nach ein paar Jahren auf der Insel an den Tag legen würde …
Gerade wollte ich mich auf den Rückweg machen, als ich plötzlich ein helles Knackgeräusch vernahm und kurz darauf Maljoks Stimme:
»Beobachter Nr. 36 erstattet Bericht.«
Ich erstarrte zur Salzsäule. Mit einem Gedenkritual hatte dies nun wirklich nichts gemein.
»Heute sind bei einem Gefecht auf der Ostbrücke folgende
Pause. Es schien, als unterhalte Maljok sich mit jemandem, obwohl ich keine zweite Stimme hören konnte.
»Ja. Der Lange Igor … Igor Ostapenko, Igor, Kostja, Romka …«
Pause.
»Ja, Kostja in der Burg … an einer Wunde. Die Salbe hat nichts mehr geholfen.«
Angespannt bis in die letzte Faser, lauschte ich, hörte aber keinen Laut außer Maljoks dünner Stimme.
»Nein, nein … Ja … Ein bisschen.«
Er sprach abgehackt und plötzlich mit bebender Stimme: »Nein, er hat gar nichts gedacht. Er schläft jetzt und ist nirgendwo hingegangen.«
Maljok redete eindeutig über mich!
»Nein, nein, ihr habt es doch gesehen, das war doch im Freien … Chris hat es sich im letzten Moment anderes überlegt, das konnte ich nicht mehr melden. Das war Zufall …«
Diesmal folgte eine lange Pause.
»Nein, ich glaube, dass er nirgendwohin gehen wird. Wahrscheinlich habe ich mich geirrt …« Seine Stimme wurde fast flehend. »Nein, sie hecken nichts aus. Vielleicht kannten sie sich von früher? … Die Gesichter konnte ich nicht sehen. Ich hatte Bedenken, dass sie mich bemerken könnten.«
Maljok war den Tränen nahe, und ich konnte fühlen, dass er in diesem Moment furchtbare Angst hatte.
»Nein!«, schrie er panisch.
Es folgte ein trockenes Knistern, und zwischen Maljoks Händen sprühten bläuliche elektrische Funken hervor.
Aus welchen Gründen auch immer die Außerirdischen uns auf diese Insel verschleppt hatten, sie hatten es auf jeden Fall nötig, uns zu beschatten. Sie brauchten einen Spion. Und schlechte Spione wurden bestraft.
Mit immer noch gleichsam an der Wand festgeklebten Händen war Maljok zusammengesackt und rappelte sich nur mühevoll wieder auf.
Endlich erklang seine Stimme wieder, leise und erstickt: »Ja, verstanden. Zehn Tage Beschattung … Und Chris auch, ja … Chris besonders, verstanden.«
Auf Zehenspitzen schlich ich zur Tür zurück. Obwohl mir Maljoks Petroleumfunzel beim Rückweg kaum mehr eine Hilfe war, schaffte ich es mit viel Glück, geräuschlos zwischen all den Kisten, Fässern und Brettern hindurchzugleiten.
Als ich die Treppe hinaufstürmte, schwirrten mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Ich hatte das Gefühl, dass ich sofort etwas unternehmen müsste. Zum Beispiel Chris aufwecken oder Tolik, und ihnen sagen, dass Maljok ein Verräter sei und uns hinterherspionierte. Denn im Inneren der Burg konnten uns die Außerirdischen nicht beobachten. Das wusste ich aus den Gesprächen mit den anderen. Während ich durch den unteren Gang eilte, überlegte ich es mir jedoch anders und beschloss, niemanden aufzuwecken, denn ich konnte mir lebhaft vorstellen, was dann passiert wäre.
Zurück in meiner Kammer, legte ich mich aufs Bett und versuchte, mich an alles zu erinnern, was ich je über
Draußen rauschte leise der Wind, es waren die letzten Seufzer des nachlassenden Sturms. Etwa fünf Meter von mir entfernt schliefen im Nachbarraum meine Freunde, während in das leere Bett neben mir jeden Moment der Feind zurückkehren würde. Ein Spion, wegen dem heute, besser gesagt gestern, die drei Jungen gestorben waren. Auf keinen Fall durfte ich verraten, was ich wusste, am besten war es wohl, erst einmal still zu halten und ihn genau zu beobachten.
»Bei euch hat heute ein kleiner Junge mitgekämpft …«, hatte Inga gesagt. Augenscheinlich hatte sie mit ihrem Verdacht den Nagel auf den Kopf getroffen. Sei mir nicht böse, Inga, aber heute Nacht kann ich nicht zu unserem Treffen kommen … Zehn Tage Beschattung: Also musste ich mich zehn Tage lang mucksmäuschenstill verhalten. Unsere einzige Chance war, die Feinde zu überlisten, andernfalls würden wir nie wieder nach Hause kommen.