Dritter Teil Die Zerstörung

1 DER DESERTEUR

Am nächsten Morgen wurde ich von Janusch geweckt.

»Dima, aufstehen!«, rief er und rüttelte mich leicht an der Schulter. Seine Stimme fädelte gleichsam die bunten Fetzen meiner Träume einen nach dem anderen wie auf einer Schnur auf und zog mich daran allmählich aus dem Schlaf. »Dima, aufstehen!«

Blinzelnd setzte ich mich auf und betrachtete den Raum. Die Gastgeber hatten uns Jungen eine große Schlafkammer zur Verfügung gestellt, in der wir alle vier Platz fanden. Sie hatten das vermutlich deswegen getan, damit wir uns sicher fühlten und ruhig schlafen konnten. Die Franzosen von der Insel Nr. 4 gefielen mir immer besser.

»Schlafen die anderen noch?«, fragte ich.

»Ja«, sagte Janusch grinsend, »wie die Murmeltiere.«

Timur kauerte, in seine Decke gewickelt, dicht an der Wand und schnarchte leise in sein Kissen. Tom lag fast quer im Bett, einer seiner dünnen Arme hing auf den Boden herab. Von Zeit zu Zeit zuckten seine Finger von dem kalten Boden zurück, um sich dann langsam wieder zu strecken und erneut den Stein zu berühren.

»Aufstehen, ihr Faulpelze!«, krähte ich und schälte mich mit viel Überwindung aus der Decke.

Unsere Kammertür sah äußerst originell aus: In zwei dicken Stahlösen, die ursprünglich sicherlich für einen Riegel gedacht waren, steckte eines von Timurs Schwertern.

Während Tom und Timur grummelnd und gähnend aus ihren Betten krochen, ging ich zum Fenster hinüber. Gemessen an unserer Insel mit ihrem dürren Buschwerk und verbranntem Gras, war die Insel der Franzosen der reinste Urwald. Der Raum, in dem man uns untergebracht hatte, befand sich im obersten Stockwerk eines der Burgtürme, dennoch war der Blick aus dem Fenster durch riesige Bäume verstellt. Als ich vorsichtig die Läden öffnete, sank ein biegsamer grüner Zweig auf das Fensterbrett herab. Durch seine Blätter hindurch schimmerte das Meer.

»Mann, was die hier für eine frische Luft haben«, hörte ich hinter mir Timur sagen. »Wir sollten sie fragen, ob sie uns nicht ein paar Kubikmeter davon abgeben.«

»Gute Idee«, pflichtete ich ihm bei. »Wir stecken sie in einen großen Sack und nehmen sie mit.«

Über eine Wendeltreppe, die sich wie ein Bohrer durch den gesamten Turm wand, stiegen wir zum Hauptgebäude hinunter. Die Treppe war so eng, dass wir geduckt und hintereinander gehen mussten. Und es fiel nur wenig Licht durch die schmalen Schießscharten. Timur, der sich vorneweg durchs Dunkel tastete, blieb mit seinen sperrigen Schwertern ständig an Mauervorsprüngen hängen und kommentierte diese belanglosen Pannen mit unsäglichen Flüchen.

Was wohl aus Timur geworden wäre, wenn … Oder besser gesagt, was würde wohl aus seinem Doppelgänger auf der Erde werden? Womit war er wohl gerade beschäftigt?

Und womit war ich selbst wohl gerade beschäftigt? Als ich mir diese Frage stellte, biss ich mir unwillkürlich auf die Lippe.

Am Ende der Treppe angekommen, gelangten wir in einen hellen Gang, der zum Speisesaal führte. Es war nicht besonders schwierig, sich in der fremden Burg zu orientieren, da sie zwar in vielen Details von der unseren abwich, aber im Wesentlichen doch sehr ähnlich aufgebaut war.

Wir kamen rechtzeitig zum Frühstück. Die Mädchen holten gerade die Lebensmittel aus einem Schrank hervor, und mir fiel auf, dass das Versorgungssystem genau dasselbe war wie bei uns. Selbst der Schrank, in den die Lebensmittel jede Nacht teleportiert wurden, war eine genaue Kopie desjenigen in unserer Burg.

Als Gast war Inga natürlich vom Tischdecken befreit, und es war ihr anzumerken, dass sie dieses Privileg genoss. Entspannt am Tisch sitzend, plauderte sie mit Sergej. Im Speiseraum waren noch drei weitere Jungen von der Gastgeberinsel, die uns ein bisschen misstrauisch beäugten, als wir zu viert zur Tür hereinkamen. Natürlich wäre es leichtsinnig gewesen, uns völlig unbeaufsichtigt in der Burg zurückzulassen.

Vier Jungen waren also in der Burg geblieben, während die Übrigen die Brücken bewachten. Die Übrigen? Das hätte ja bedeutet, dass sie zu sechst drei Brücken bewachen mussten. Zu zweit einen ganzen Tag lang eine Brücke zu halten war eine fast unmögliche Aufgabe!

Die Situation machte mich stutzig. Entweder die Franzosen hatten uns irgendetwas verheimlicht, oder uns war selbst etwas Wichtiges entgangen.

Sergej winkte mir freundlich zu, mechanisch winkte

Als ich einen fragenden Blick von Inga auffing, hielt ich es nicht mehr aus: »Sergej, haltet ihr zu zweit auf den Brücken Wache?«

Nachdem er meine Frage ins Französische übersetzt hatte, tauschte Sergej ratlose Blicke mit seinen Gefährten und zuckte mit den Achseln. Dann begriff er plötzlich, was mich stutzig gemacht hatte. »Nein, nein, wir haben nur zwei Brücken«, sagte er. »Die dritte wurde vor langer Zeit gesprengt.«


Die in der Mitte zerstörte Brücke bestand überhaupt nicht aus Marmor!

Als ich auf allen vieren bis zur Abbruchstelle vorgekrochen war, bot sich mir ein merkwürdiges Bild. Die Bruchkante verlief tief gezähnt, als hätte ein Monster davon abgebissen. Viel erstaunlicher jedoch war die Beschaffenheit der Bruchfläche: Unter der rosaroten Marmorfassade befand sich kein Steinmaterial, sondern ein Konglomerat aus winzigen grauen Kügelchen, die wie Styropor zusammengeklebt schienen. Das Geräusch, das entstand, als ich neugierig mit dem Schwert dagegen klopfte, klang allerdings nicht hohl, sondern ganz so, wie man es beim Klopfen auf Stein erwartet hätte.

»Angeblich ist das kurz nach dem Krieg passiert«, sagte Sergej. »Damals landete wohl einer auf der Insel, der auf einer Kiste Dynamit saß.«

»Und sie haben nie versucht, die Brücke zu reparieren?«, erkundigte ich mich.

»Die Außerirdischen? Nein.«

Ich blickte nach unten und glaubte, durch das tiefe Blau des Meeres hindurch rosa-graue Steinbrocken schimmern zu sehen.

Die Bewohner der Kleinen Bastion hatten es wahrlich nicht schlecht getroffen. Ihre Insel war ein kleines Schmuckstück, und sie mussten viel weniger kämpfen als wir. Die »feindliche« Hälfte der Brücke, die zur Insel Nr. 6 gehörte, war etwa zwanzig Meter entfernt und somit unerreichbar.

»Anscheinend gab es damals überhaupt viele Waffen auf den Inseln«, erläuterte Sergej. »Die Jungen, die aus Europa auf die Inseln kamen, vor allem die aus Frankreich, Deutschland und Russland, waren oft bewaffnet. An Einschusslöchern in der Burgmauer kann man noch genau sehen, dass hier mal ziemlich viele Kugeln durch die Gegend gepfiffen sein müssen.«

»Und die Außerirdischen haben nicht eingegriffen?«, fragte ich verwundert.

Sergej beugte sich über den abgesprengten Rand der Brücke und blickte nachdenklich hinab. »Soweit ich weiß, nicht. Die Sache hat sich wohl von selbst erledigt, als die Patronen zu Ende waren.«

»Wozu brauchen sie uns dann überhaupt, wenn ihnen völlig schnuppe ist, was wir so treiben?«, dachte ich laut nach.

Sergej wusste keine Antwort. Meine Weggefährten und einige der Franzosen standen ein paar Meter hinter uns. Es war nichts für schwache Nerven, hier oben herumzuturnen, denn auch die Brückenbalustrade war

»Weißt du, was«, sagte Sergej schließlich. »Manchmal habe ich den Eindruck, dass die uns einfach vergessen haben.«


Die Abreise von der Insel hatten wir für den Nachmittag geplant. Zusammen mit Timur und dem kleinen André, der sich als Exkursionsführer angeboten hatte, unternahm ich nach dem Frühstück einen Spaziergang im Wald.

Die Bäume, die hier wuchsen, waren nicht »irdisch«, jedenfalls hatte ich noch nie solche Bäume gesehen. An einigen von ihnen hingen winzige, kirschähnliche Früchte. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und stopfte mir ein paar davon in die Hosentasche. Es war zwar unwahrscheinlich, dass diese stattlichen Gewächse auf dem sandigen Boden unserer Insel gedeihen würden, aber wer weiß, dachte ich mir, ausprobieren kostet bekanntlich nichts. Wie André mir erklärte, waren die Früchte ungenießbar, dafür waren die Bäume mit wunderschönen rosa Blüten geschmückt. Ich wollte schon nach einem in Reichweite hängenden Ast greifen, um einen blühenden Zweig für Inga abzupflücken, doch dann war es mir irgendwie peinlich, und ich ließ es bleiben.

Timur hatte keinen Blick für die Naturschönheiten der Insel, oder besser gesagt: Er hatte einen ganz speziellen Blick dafür. Aus dichten Stauden schnitt er mit dem Schwert einige kräftige, biegsame Ruten heraus. »Ich werde mir einen Bogen bauen«, erklärte er begeistert.

Nachdem uns André eine halbe Stunde lang über gewundene Pfade durch die üppige Vegetation geführt

Nichts Böses ahnend, kehrten wir gegen Mittag zur Burg zurück. Der Wind stand günstig, und nur die Tatsache, dass wir alle schon wieder Hunger verspürten, hielt uns davon ab, sofort aufzubrechen.

Die Schwierigkeiten erwarteten uns am Ufer, das der Burg zu Füßen lag, und zwar ausgerechnet in Person von Janusch und Inga. Janusch schaute betreten drein, Inga irgendwie beleidigt und ein bisschen traurig. Etwa zehn Meter von ihnen entfernt stand Marek an einen Baum gelehnt. Als wir näher kamen, flüsterte Janusch Inga schnell etwas zu, woraufhin sie nickte, ihn jedoch nicht anblickte.

»Also … hört mal«, begann sie, noch bevor wir sie begrüßt hatten. »Wir haben eine hervorragende Idee, wie wir die Konföderation hier auf der Insel festigen könnten.« Ihre Stimme klang flach und nicht sehr überzeugend. »Wir sollten einen … ähm … Botschafter auf der Insel zurücklassen.«

Einen kurzen Moment dachte ich über Ingas Worte nach, dann nickte ich und sagte: »Soso, und dieser Botschafter ist natürlich Janusch, nicht wahr?«

Timur, der auch sofort begriffen hatte, worum es eigentlich ging, zog ein grimmiges Gesicht.

»Die Sache gefällt mir nicht, Janusch«, sagte er, einen Blick auf Marek werfend. »Das riecht gewaltig nach Fahnenflucht.«

»Hört zu … ähm …« stammelte der Botschafterkandidat.

»Ich höre dir zu«, unterbrach ihn Timur friedfertig, »aber denk dran, ich bin nicht Inga, auf die Mitleidstour brauchst du mir nicht zu kommen.«

Janusch brachte kein Wort mehr heraus. Stattdessen setzte er sich auf den Boden und stützte den Kopf auf die Knie. Dabei rutschte sein zigfach geflicktes T-Shirt aus der Jeans und entblößte sein braun gebranntes Kreuz, auf dem direkt über der Wirbelsäule eine lange Narbe verlief.

»Mit Gewalt werden wir dich nicht mitschleifen«, sagte ich ruhig, »davon hätte niemand etwas. Du musst dich selbst entscheiden.«

»Bitte, lasst mich hier bleiben«, presste Janusch hervor.

»Dass du mit deinem Landsmann zusammenbleiben willst, verstehe ich ja. Kann gut sein, dass es auf dem ganzen Archipel nur zwei Polen gibt«, sagte Timur. Dann deutete er mit einem Seitenblick auf Marek und fügte mit eisiger Stimme hinzu: »Aber warum kommt er nicht mit uns?«

»Er kann nicht«, erwiderte Janusch leise.

»Er kann nicht«, echote Inga. »Das seht ihr doch selbst, Timur, er kann wirklich nicht.«

Marek, der angespannt zu uns herüberblickte, war ein gut aussehender, kräftiger Junge und genauso alt wie Chris. Das war es also …

»Dann ernennen wir Janusch eben zum Botschafter«,

Der Hüne mit den zwei Schwertern warf uns einen verächtlichen Blick zu, drehte sich um und stapfte zum Boot davon.

Die Szene ließ mich ratlos zurück. Wieder einmal prallten hier zwei Wahrheiten aufeinander. Einerseits hatte Timur völlig recht: Der Verlust eines erfahrenen Kämpfers würde unsere Insel zweifellos schwächen. Andererseits konnte man aber auch Janusch verstehen, der sich endlich wieder in seiner Muttersprache unterhalten konnte.

Jemand tippte mir auf die Schulter, und ich drehte mich um. Sergej und Tom waren zu uns getreten. Unser Kapitän hielt die zu einem Rohr zusammengerollte Karte des Archipels in der Hand.

»Ich habe noch einige Ergänzungen vorgenommen«, verkündete Sergej strahlend. »Natürlich nur Dinge, die ich sicher weiß. Und zu jeder mir bekannten Insel habe ich euch so eine Art Steckbrief dazugeschrieben.«

»Danke, Sergej«, sagte ich, um dann mit sorgenvoller Miene hinzuzufügen: »Sergej, da ist noch eine Sache, die ich mit dir besprechen muss. Janusch möchte auf eurer Insel bleiben. Wärt ihr damit einverstanden?«

»Aber sicher doch«, erwiderte Sergej, der sich nicht besonders zu wundern schien. »Er ist uns willkommen. Es ist wegen Marek, oder?«

»Natürlich«, bestätigte ich und senkte unwillkürlich den Blick, denn in gewisser Weise empfand auch ich es als verletzend, dass Janusch uns verließ. »Gibt es viele Polen auf den Inseln?«

»Nein, nicht viele«, entgegnete Sergej. »Die Auswahlkriterien

Ein merkwürdiges System, dachte ich, und mir kam ein flüchtiger, nicht ganz ausgereifter Gedanke, den ich jedoch nicht weiter verfolgte.

»Komm, steh auf«, sagte ich aufmunternd zu Janusch. »Uns erwartet ein Festessen zu Ehren des ersten Botschafters auf den Vierzig Inseln.«


Die Wachhabenden der Insel Nr. 4 kehrten zum Mittagessen in die Burg zurück. So konnten wir uns von jedem Einzelnen in aller Form verabschieden. Die französischen Jungen küssten Inga einer nach dem anderen schmatzend die Hand. Dabei verbeugten sie sich so tief, dass ich mir nicht sicher war, ob sie diese Geste ernst meinten oder einen übermütigen Scherz mit ihr trieben. Inga jedenfalls schien diese Form der Verabschiedung als völlig angemessen zu empfinden, denn sie ließ die Zeremonie mit würdevoller Miene und stoisch-herablassendem Augenklimpern über sich ergehen.

Von Janusch verabschiedeten wir uns jeder auf seine Weise. Tom, der für seine Entscheidung, auf der Insel zu bleiben, vollstes Verständnis hatte, flüsterte ihm gut gelaunt etwas zu. Inga winkte ihm flüchtig mit der Hand und kletterte auf den Bug unseres Schiffs. Timur ging wortlos an ihm vorbei, als würde er gar nicht existieren.

Als die Reihe an mir war, drückte ich ihm die Hand. »Na gut, Jan«, sagte ich etwas verlegen und versuchte

Janusch nickte eifrig, und für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass er im nächsten Moment ins Boot springen würde. Mein Gefühl jedoch trog.

Die Franzosen halfen uns, die Aliens Nightmare aus dem Sand ins Wasser zu ziehen. Zuletzt kletterten Timur und ich, nass bis zum Gürtel, an Bord des in den Wellen schaukelnden Schiffs und setzten sofort das Segel. Da wir noch im Windschatten des Hochufers der Insel lagen, nahmen wir nur langsam Fahrt auf.

»Auf Wiedersehen«, rief Sergej uns hinterher. »Lasst euch nicht unterkriegen!«

Janusch schaute uns schweigend nach. Neben ihm stand Marek und hielt eines der dänischen Mädchen an der Hand. Es muss Helga gewesen sein.

»Ich will nach Hause«, seufzte Timur plötzlich laut auf. »Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie mir das alles hier zum Hals heraushängt.«

Inga hatte sich zu uns aufs Achterdeck gesellt, saß im Schneidersitz neben mir und Timur und sah uns traurig an.

»Bis nach Hause ist es noch ein weiter Weg, Tim«, sagte sie. »Wir müssen zuerst die Außerirdischen besiegen.«

Timur wandte sich ab und starrte mit bedrückter Miene aufs Meer hinaus. »Ich habe nicht das Zuhause auf der Erde gemeint, Inga, sondern unsere Insel.«

2 TOD AUF DER INSEL DER TAUSEND STEINE

Die Flaute ereilte uns etwa in der Mitte des Archipels, als bereits die Nacht hereinbrach und die Inseln in der Umgebung nur mehr schemenhaft zu erkennen waren. In den Fenstern einer Burg in der Ferne flackerten schummrige Lichter wie vom Himmel gefallene, verlöschende Sterne. Stille und Wärme umgaben unser Schiff, als plötzlich eine dünne Melodie über das Wasser tänzelte. Irgendwo auf einer Insel spielte jemand Gitarre.

»Wie lange würde es wohl dauern, bis zu unserer Insel zu rudern?«, fragte Inga und setzte geschäftig hinzu: »Natürlich würde ich auch mithelfen.«

»Bis zum Morgen könnten wir es schaffen«, sagte ich mit einem sorgenvollen Blick auf unsere selbst geschnitzten Ruder, die wie überdimensionale Kochlöffel aussahen. »Aber ich glaube, es ist vernünftiger, die Nacht in der Kajüte zu verbringen, so wie vorletzte Nacht. Vielleicht lebt der Wind morgen wieder auf.«

Mein Vorschlag fand einhellige Zustimmung, denn die Aussicht, eine ganze Nacht lang durch die Finsternis zu rudern, war auch für die anderen wenig verlockend. Nachdem unser Versuch, den Anker zu setzen, am zu kurzen Tau gescheitert war, krochen wir alle vier in die Kajüte. Das war nicht sonderlich bequem, aber halbwegs gemütlich. Tom kletterte in seine Hängematte, während wir anderen uns auf dem Boden niederließen. Mit flinken Handgriffen fabrizierte Inga aus unseren Vorräten

»Janusch ist ein Deserteur«, murmelte Timur plötzlich und zog ein grimmiges Gesicht. »Du hättest ihn nicht unterstützen dürfen, Inga.«

»Ich hatte eben Mitleid mit ihm«, beharrte Inga, »weil er sich bei uns nie richtig wohlgefühlt hat. Alle haben sich über ihn lustig gemacht.« Sie versetzte mir einen bissigen Blick. »Das gilt auch für dich, Dima.«

Widersprechen konnte ich nicht, denn Inga hatte recht: Janusch hatte sich ständig Sticheleien gefallen lassen müssen, und auch ich war an den Späßen auf seine Kosten nicht unbeteiligt gewesen. Außerdem hatten wir ihm oft vorgehalten, er sei nur deshalb so schweigsam, weil er zu faul sei, Russisch zu lernen. Und dass bei seinen sprachlichen Verrenkungen alle Umstehenden regelmäßig in Gelächter ausbrachen, war vielleicht nicht böse gemeint, aber vermutlich trotzdem kränkend für ihn.

Kaum merklich wiegte sich unser Boot auf dem Wasser. Die Kerze auf dem kleinen Kajütentischchen flackerte im Rhythmus der schaukelnden Bewegung und ließ die verzerrten Schatten unserer Köpfe gespenstisch an den Bretterwänden umhertanzen. Auf unsere Lider legte sich bleischwere Müdigkeit, und ein Besatzungsmitglied nach dem anderen verschwand in seine Schlafstatt.

Als Letzter kroch ich in meine Koje, streckte die Hand aus und drückte die Kerze zwischen meinen mit Spucke befeuchteten Fingern aus. Mit einem kurzen, dumpfen Zischen verlosch die Flamme. Für diese Nacht verzichteten wir auf einen Wachposten an Deck, ohne dass wir darüber gesprochen hatten.

»Gute Nacht«, flüsterte ich in die plötzliche Finsternis.

»Gute Nacht«, gab Inga zurück. »Ein bisschen Wind morgen früh könnte nicht schaden.«


Bis zum Mittag herrschte völlige Windstille. Wir schlugen die Zeit tot, indem wir in der Sonne dösten, uns mit Hechtsprüngen über Bord erfrischten, Tom ein paar neue russische Ausdrücke beibrachten und uns als Fischer versuchten. Hinterher konnte Tom den komplizierten Satz »Im Namen der Konföderation, werft die Waffen weg!« unfallfrei aussprechen, und Timur hatte ein sage und schreibe fünf Zentimeter langes Fischlein gefangen.

Als die Tatenlosigkeit uns ernstlich anfing, auf die Nerven zu gehen, erhob sich ein schwacher Wind. Zu unserer Überraschung machte Tom keinerlei Anstalten, das Segel zu setzen. Stattdessen erklärte er uns in seinem mit englischen Worten durchsetzten gebrochenen Russisch, dass der Wind aus der falschen Richtung wehe und er zwar auf einer Jacht gegen den Wind kreuzen könne, nicht aber auf einem »schwimmenden Waschzuber mit Leintuch«. Diese wenig schmeichelhafte Bezeichnung hatte sich Sershan für die Aliens Nightmare ausgedacht, als er nach sechsstündigen Schleifarbeiten wunde Finger hatte und nicht besonders gut auf das Boot zu sprechen war. Tom äußerte sich zum ersten Mal so abschätzig über sein »Baby«. Offensichtlich wurmte es ihn, dass sich der schwimmende Waschzuber nicht so steuern ließ wie das moderne Boot, das er von zu Hause gewohnt war.

Etwa seit einer halben Stunde trieb die Aliens Nightmare in den immer höher werdenden Wellen, ein Zustand, der für uns noch wesentlich frustrierender war

Von Osten her schob sich eine mächtige, violettgraue Wolkenwand heran und stülpte dem Archipel Insel für Insel ihren finsteren Schatten über. Auf der Oberseite der Wand schossen gewaltige, quellende Gewittertürme in die Höhe, während sich von der Unterseite bis zur Meeresoberfläche ein gelblicher Schleier spannte, wie man ihn nur vor schweren Gewittern beobachten kann. Die Ränder der heranstürmenden Wolkenberge glühten orangerot, als ob dahinter ein Feuer brennen würde. In das Gewittergelb mischten sich graue Regenschleier, während aus der schwarzen Wolkenmasse erste Blitze aufs Wasser herab zuckten. Sekunden später hörte man in der Ferne verhaltenes Grummeln.

»Sieht nach einem Sturm aus«, sagte ich überflüssigerweise.

Minutenlang standen Tom und ich nebeneinander vor der Kajüte und beobachteten das Spektakel am östlichen Himmel. Als ich mich gegen die Kajütenwand lehnte, bemerkte ich, dass sie bedrohlich nachgab. Wie konnte man sich nur auf einem derart notdürftig zusammengezimmerten Kahn aufs Meer hinauswagen? Was waren wir für Narren!

Der nächstliegende Schritt wäre nun gewesen, umzukehren und wieder die Insel Nr. 4 anzusteuern. Leider führte für uns kein Weg dorthin zurück, denn der Wind trieb unser Boot gnadenlos nach Westen auf eine kleine Insel zu, die mit niedrigem Buschwerk und einzelnen Baumgruppen bewachsen war. Das Eiland hatte die Form eines Halbmondes, und an seinem entfernten Ende erhob sich eine schwerfällig wirkende Burg, die an ihren

Tom zog unsere selbst gezeichnete Karte hervor und breitete sie aus. Der stärker und stärker werdende Wind zerrte wütend daran,während die ersten Wasserfontänen über die Bordwand spritzten. Leider mussten wir feststellen, dass uns über die Insel, auf die wir zutrieben, nichts bekannt war. Westlich davon folgten noch zwei weitere unbeschriebene Inseln und dann der offene Ozean.

Mit sorgenvoller Miene blickte Tom zum Himmel. »Sehr schlecht. Very bad

»Wir müssen wohl oder übel an dieser Insel anlegen«, sagte Timur achselzuckend. »Was denkt ihr?«

Es blieb keine Zeit, die Lage groß zu diskutieren. Als wir das Segel gesetzt hatten, tat die Aliens Nightmare einen gewaltigen Ruck und schoss sofort wie eine Rakete über das Wasser. Tom, inzwischen klatschnass, klammerte sich fest ans Steuerrad, um den Kurs zu halten. Das Anlanden auf der Insel Nr. 4 war noch ein Kinderspiel für ihn gewesen, aber dieser mit Macht einsetzende Sturm stellte seine Segelkunst auf eine harte Probe.

In atemberaubendem Tempo hielt unser Boot auf die fremde Insel zu, an deren Ufern immer noch niemand zu sehen war. Angestrengt beobachtete ich die Brückenbögen, die im Moment noch wie Regenbögen vor den dunklen Wolkenmassen leuchteten. Wenn auf diesen Brücken jemand Wache hielt, musste er uns längst bemerkt haben. Aber weit und breit war keine Menschenseele zu sehen.

Etwa hundert Meter vor der Insel holten Timur und ich auf Toms Anweisung das Segel ein. Die Aliens Nightmare war nun ein Spielball der aufs Ufer zurollenden Wellen,

Timur war gerade über Bord gesprungen, um das Boot weiter ans Ufer zu bugsieren, als der nächste gewaltige Brecher es erneut anhob und zehn Meter weiter zum Strand schleuderte, wo es etwas zur Seite geneigt liegen blieb. Fluchend watete Timur durch die schäumenden Fluten hinterher.

Nachdem ich mein am Gürtel baumelndes Schwert zurechtgerückt hatte, sprang ich über die Bordwand ans Ufer, drehte mich um und streckte Inga die Hand hin, um ihr herunterzuhelfen. Mich ignorierend, zog sie es jedoch vor, selbstständig auszusteigen und landete prompt in der nächsten Welle, die sie schmatzend in die Horizontale beförderte.

Beleidigt und schadenfroh wandte ich mich ab und sah mich am schmalen Strand um, der von feinem Kiesel bedeckt war. Etwa zehn Meter vom Wasser entfernt war die Insel dicht mit niedrigen, stacheligen Sträuchern bewachsen. In der Ferne ragten die breiten Türme und das Gemäuer der Burg empor, die alle paar Sekunden in den ständig über den Himmel zuckenden Blitzen grell aufleuchtete.

»Hilf uns gefälligst, Dima!«, schnauzte mich Inga von hinten an.

Zu viert zogen wir die Aliens Nightmare weiter ans Ufer, wobei die Bordwände jämmerlich knirschend über die spitzen Kiesel scheuerten. Danach befestigte Tom das Tau mit dem Anker geschickt an einem der wuchtigen

Es war ein trostloser Anblick: steiniger, ausgemergelter Boden, beinahe laubfreies, dorniges Buschwerk, vom Wind zerzauste, verkrüppelte Bäume und, wo man auch hinsah, Felsblöcke und gestaltlose graue Erdhügel.

»Es würde mich nicht wundern, wenn die Bewohner hier alle an Schwermut zugrunde gegangen wären«, sagte ich und sprang vom Felsen auf den harten Boden herunter.

Timur stand immer noch auf seinem Aussichtspunkt und spähte misstrauisch in die Umgebung. Die Schwerter in seiner Hand glänzten nicht nur metallisch, sondern flimmerten geradezu in einem blendenden hellblauweißlichen Licht. Die hinter uns auflodernden Blitze spiegelten sich in den Stahlklingen.

»Für gewöhnlich stirbt man aber nicht an Schwermut«, entgegnete er mit finsterer Miene. »Eher im Gegenteil.«

Plötzlich zog er seinen Dolch aus dem Gürtel, wiegte ihn ein paarmal in der Hand und schleuderte ihn dann blitzartig und ansatzlos mitten in die karge Prärie. Es war ein gezielter Wurf, Timur musste etwas bemerkt haben, was mir entgangen war.

Mit einem leisen, dumpfen Tschock bohrte sich die Klinge in einen der grauen Erdhügel. Eine Sekunde lang rührte sich nichts, dann ertönte ein kurzer, unterdrückter Schrei. Der Hügel ruckte, sah eine Sekunde wie zusammengestaucht aus und flog dann auseinander. Unter dem abgeworfenen Tarnumhang erhob sich ein hagerer,

»Jetzt sind wir angekommen«, flüsterte Timur und glitt von seinem Felsen herab.

Lautlos und flink sprangen nun weitere versteckte Kämpfer zwischen den Büschen hervor. Es waren sechs Jungen, alle nackt bis zum Gürtel, gelbhäutig und mit Schwertern bewaffnet. Drei von ihnen hielten wie Timur zwei Schwerter gleichzeitig in den Händen.

Rasch warf ich einen Blick zurück. Inga stand bei unserem Boot und verfolgte mit bangen Blicken das Geschehen. Tom steuerte, langsam rückwärtsgehend, auf die Aliens Nightmare zu, die wir weit ans Ufer gezogen hatten und deren Segel zusammengerollt und vertäut an Deck lag. Es würde mindestens fünf Minuten dauern, das Boot wieder flott zu machen. Nur Timur und ich konnten Inga und Tom diese fünf Minuten Zeit verschaffen.

»Ihr müsst fliehen!«, schrie ich, für einen Augenblick zu ihnen gewandt, während ich gleichzeitig meine Waffe aus dem Gürtel zog.

Wenn Zeit dazu gewesen wäre, hätte ich noch viel mehr zu sagen gehabt: dass wir keinerlei Chance gegen diese Übermacht hatten und uns ebenso gut gleich ins stürmische Meer stürzen konnten; dass Janusch uns mit seinem Absprung schmählich im Stich gelassen hatte; dass ich keine Lust hatte, im Kampf mit fremden Jungen

Selbst als ich mich wieder den Feinden zugewandt hatte, spürte ich Ingas Gegenwart in meinem Rücken. Vielleicht war das auch gut so, denn ich schwor mir, den Kampf nicht aufzugeben, ehe die Aliens Nightmare sich vom Ufer entfernen würde.

All diese Gedanken schossen mir in den wenigen Sekunden durch den Kopf, bevor sich die schlitzäugigen Jungen, die meiner Überzeugung nach Japaner waren, auf uns stürzten.

Als Ausgangsstellung wählte ich den »Pflug«, der sich im Kampf gegen mehrere Gegner gut eignet, da er die Feinde auf Distanz hält. Allerdings besteht bei dieser defensiven Kampftechnik die Gefahr, dass die Arme durch die ständigen Paraden bald ermüden. Fünf Minuten musste ich unbedingt durchhalten, nur fünf Minuten!

Die Angreifer teilten sich auf, drei gingen auf mich los, die drei übrigen kümmerten sich um Timur. Überraschenderweise machten sie nicht den Versuch, uns zu umgehen und zum Boot vorzustoßen. Ob sie dies für unfair erachteten?

Nachdem ich eine ganze Lawine von Hieben der Angreifer aufs Schwert bekommen hatte, begannen meine Unterarme unerträglich zu schmerzen. Deshalb änderte ich meine Taktik und wechselte zur Angriffstechnik »Windmühle« über, die Fechtmeister Timur höchstpersönlich entwickelt hatte. Dabei ging ich ein wenig in die Knie und zielte mit kreisendem Schwert auf die nackten Füße meiner Gegner. Die flinken Japaner sprangen reaktionsschnell hoch und entgingen so meiner Klinge.

Na wartet, dachte ich, man kann sich schließlich nicht ewig in der Luft halten. Blitzschnell vollzog ich eine Drehung auf den Fersen und wiederholte die »Windmühle«. Jetzt musste die Klinge ja wenigstens einen von ihnen erwischen. Leider täuschte ich mich. Die herabsausenden Körper der Jungen vollführten im letzten Moment eine Rolle vorwärts, und so entgingen ihre Beine erneut meinem Hieb. Zwar hätte mein Schwert ihnen dabei beinahe die Köpfe abgetrennt, aber »beinahe« zählte nicht bei diesem Spiel. Als ich die dritte »Windmühle« ansetzte, hatten die Jungen ihren Salto vorwärts schon in den Stand gebracht, und mein Schlag landete scheppernd auf ihren abwehrbereiten Schwertern.

Frustriert wechselte ich wieder in die Grundhut. Für einen Moment hatte ich einen Blick zurück zum Schiff gewagt, und was ich dort gesehen hatte, versetzte meinem Kampfgeist einen herben Dämpfer.

Tom hatte keineswegs die Ankerleine durchtrennt und war auch nicht damit beschäftigt, das Boot aus dem Kies aufs Wasser zu hieven. Stattdessen wühlte er in einem der auf dem Achterdeck liegenden Ausrüstungssäcke. Hatte er womöglich sein Schwert an Bord vergessen? Und Inga war dabei, uns zu Hilfe zu eilen.

»Macht, dass ihr hier wegkommt!«, schrie ich, während die Klingen der Japaner auf mich herabsausten. Es war zwecklos. Tom und Inga hätten uns nie im Stich gelassen, so wie ich das umgekehrt auch nicht getan hätte. Jetzt mussten wir eben bis zum Ende kämpfen. Drei Jungen und ein stures Mädchen gegen sechs durch den Tod ihres Gefährten bis aufs Blut gereizte Feinde.

Es war inzwischen sehr dunkel geworden, und die schwarze Wolkenwand hatte sich längst auch über die

Ein Blitz: Timur pariert mit dem einen Schwert einen Hieb, während er mit dem zweiten selbst zum Schlag ausholt. Es donnert, dann zuckt ein neuer Blitz: Timur wird noch immer von drei Angreifern bedrängt, aber von seiner hoch über dem Kopf geführten Klinge spritzen dicke, dunkle Tropfen. Wieder rollt ein Donner. Mein angreifender Gegner gibt sich eine Blöße, ich versuche, ihn mit einem Stich zu treffen - daneben. Nur mit Mühe kann ich mich selbst unter seiner todbringenden Klinge wegducken. Wieder blitzt es: Inga befindet sich bereits zwischen Timur und mir. Einer meiner Gegner lässt von mir ab und wendet sich ihr zu. Timurs Kontrahenten dagegen nehmen von Inga nicht die geringste Notiz. Sie haben schnell gemerkt, dass von Timur die größte Gefahr ausgeht.

Mehrere Blitze schlugen hintereinander in unmittelbarer Nähe des Kampfplatzes ein und tauchten das Geschehen in flutendes Licht. Als hätten sie nur auf diese prächtige Beleuchtung gewartet, überschlugen sich nun die Ereignisse.

Einen kräftigen Hieb, den ich weit ausholend mit einer Hand führte, stoppten meine zwei verbliebenen Gegner mit einer präzise koordinierten Bewegung, indem sie mir ihre Schwerter gleichzeitig entgegenstemmten. Hätte ich in diesem Augenblick ein zweites Schwert oder wenigstens einen Dolch in der freien Hand gehabt, wäre es für einen der beiden schlecht ausgegangen, mein Dolch aber steckte im Gürtel. Noch während ich mein Schwert wieder in eine Verteidigungsstellung zurückführte, schraubte

Ein dumpfer Schlag traf mich mit unfassbarer Wucht im Gesicht. Mir wurde schwarz vor Augen, meine Ohren fingen zu dröhnen an, aber ich fühlte keinen Schmerz und blieb bei Bewusstsein. Es gelang mir sogar, blind zurückzuschlagen, allerdings erzielte ich damit nicht die geringste Wirkung bei meinem Gegner, der erneut wie eine Feder in die Luft sprang und mir diesmal einen heftigen Fußtritt gegen die Brust versetzte.

Die Wucht des Stoßes warf mich rückwärts zu Boden, und ich schlug mit dem Hinterkopf gegen einen Stein. Rasender Schmerz schoss durch meinen gesamten Körper. Ich fühlte, wie mir Blut aus der Nase rann, und hörte mein Herz wild in der Brust hämmern. Das Schwert war mir aus der Hand gefallen und lag unerreichbar weit entfernt auf dem Boden. Halb bewusstlos nahm ich das Geschehen um mich herum wie durch einen dichten Schleier wahr. Ich sah Timur zu Boden gehen, wusste aber nicht, ob er gerade einem besonders heimtückischen Schlag auswich oder getroffen worden war. Ich sah, wie der Karatekämpfer, der mich zu Boden befördert hatte, sein Schwert über die Schulter schwang und auf mich zuging. Nur Inga konnte ich nirgends sehen, und das war das Schlimmste. Plötzlich kam mir der Gedanke, dass sie sie wohl nicht töten würden. Allerdings wusste ich nicht, ob das gut oder schlecht war.

Im blauen Licht eines Blitzes erstarrte das gezückte Schwert meines Gegners über meinem Gesicht. Da ich keine Kraft hatte, mich zu wehren, schloss ich einfach die

Ein gewaltiger Knall hämmerte gegen mein Trommelfell. Doch war dies kein Donner, sondern das kurze, peitschende Krachen eines Pistolenschusses. Dicke Tropfen spritzten auf mein Gesicht. Kein Regen, sondern heiße, salzige Tropfen.

Ich öffnete die Augen. Der japanische Junge hielt sich die Hände an die Brust und stürzte auf mich herab. Zwischen seinen zusammengekrampften Fingern sah ich für einen Moment das kleine Einschussloch, aus dem ein pulsierender Blutstrahl schoss.

Mit letzter Kraft rollte ich mich zur Seite, und neben mir schlug der leblose Körper des Jungen auf den Boden. Mühsam den Kopf hebend, sah ich mich um.

Tom stand nur ein paar Schritte von mir entfernt, die Beine gespreizt, die Arme nach vorn gestreckt. Mit der Linken stützte er die rechte Hand, in der er eine mattschwarze, kleine Pistole hielt. Aus dem Lauf quoll graublauer Rauch.

3 BESUCH BEIM VERRÜCKTEN KAPITÄN

Unter dem Eindruck von Toms Schuss entschlossen sich unsere Gegner zum schnellen, aber geordneten Rückzug. Dicht aneinandergedrängt, tauchten ihre schwarzen Silhouetten ins Gebüsch, dessen Zweige sich raschelnd hinter ihnen schlossen. Das Gewitter hatte sich zu einem lodernden, grollenden Inferno verstärkt, und der Wind schien aus allen Richtungen gleichzeitig über die Insel zu fegen.

Timur rappelte sich hoch und hielt sich mit der Linken den rechten Oberarm.

»Haben wohl Schiss bekommen, die Dreckskerle«, knurrte er und ging auf Tom zu, der immer noch wie angewurzelt dastand und seine Pistole anstarrte. »Wo hast du denn die her?«

Tom antwortete nicht. Mit versteinertem Gesicht ließ er seine Waffe sinken, die wie eine jener harmlosen Spielzeugkanonen aus Plastik aussah, mit denen als Cowboys verkleidete Buben in der Faschingszeit kleine Mädchen und Senioren terrorisieren. An der Echtheit dieser Pistole konnte jedoch kein Zweifel bestehen, denn wenige Meter von Tom entfernt lag der tote Junge auf dem Boden.

Timur nahm Tom die Waffe aus der Hand und inspizierte sie seelenruhig, als bemerkte er nicht, dass Blut in dickem Strom aus seinem Arm quoll. Dafür bemerkte es Inga, die zum Glück unversehrt aus dem Gefecht mit

Mich fröstelte ein wenig, und in meinem Kopf wummerte der Schmerz wie eine schwere, zwischen den Schädelknochen rotierende Bleikugel. In rascher Folge lohten Blitze über den schwarzen Himmel, und die einzelnen Donnerschläge verschmolzen zu einem gewaltigen, ununterbrochenen Grollen, während der heulende Wind mir die ersten schweren Regentropfen ins Gesicht peitschte. Gedankenfetzen spukten durch meinen Kopf, um sich alsbald in den hämmernden Schmerzen und im apokalyptischen Lärm der Elemente wieder aufzulösen.

Inga und Tom zogen mich hoch und stellten mich vorsichtig auf die Beine. Mein Blick traf auf Ingas riesige, glänzende Augen, die mich aus ihrem verschreckten, nassen Gesicht anstarrten. Weinte sie, oder kam das vom Regen?

»Dima … Dimotschka, was ist mit dir?«

»Nichts, alles in Ordnung«, presste ich hervor und versuchte, meinen jämmerlichen Zustand zu überspielen. Ich bückte mich sogar nach meinem am Boden liegenden Schwert, doch Tom kam mir zuvor und hob es für mich auf. Inga schaute mich prüfend an, ihr konnte man nicht so leicht etwas vormachen.

»Was stehen wir hier blöd rum?«, schrie Timur plötzlich wie aus heiterem Himmel. »Wollt ihr etwa warten, bis sie mit Verstärkung wiederkommen?«

»Bei dem Sturm können wir doch nicht weg«, entgegnete

Timurs Gesicht verzog sich zu einer zornigen Maske. »Sie sind nicht geflohen!«, donnerte er. »Ihr Ehrenkodex verbietet es ihnen, wegzulaufen. Sie haben sich zurückgezogen, ja, aber es wird nicht lange dauern, dann sind sie wieder zurück.«

»Was für ein Ehrenkodex denn? Wovon sprichst du, Tim?«, fragte Inga entgeistert.

»Stellt keine dummen Fragen, ich erklär’s euch später. Helft mir jetzt, den Kahn wieder flottzumachen!«, herrschte Timur uns an, rannte zum Ufer und stemmte sich mit brachialer Gewalt gegen die Bordwand unseres Schiffs. Der Effekt war gleich null, denn es war ja vertäut. Tom eilte ihm kopfschüttelnd zu Hilfe.

»Inga, halt die Augen auf und warne uns, wenn du jemanden siehst«, rief ich ihr zu, während ich mit einem Schnitt das straff gespannte Tau unseres selbst gebauten Ankers kappte, der ohnehin nur ein besserer Angelhaken war und uns bisher nicht viel genützt hatte. Mir war klar, dass jede Sekunde zählte, denn Timur war nicht der Typ, der grundlos in Panik verfiel.

Zu dritt schleppten wir die Aliens Nightmare in die brodelnde Suppe aus Wasser, Schaum und vom Grund aufgewirbeltem Sand. Kaum hatte das Boot die ersten Wellen unter dem Kiel, begann es heftig zu schwanken und drehte sich mit der Breitseite in den Wind. Bis über die Hüfte im Wasser watend, konnten wir nur mit vereinten Kräften verhindern, dass die Brandung uns das Boot aus den Händen riss und es wieder zurück an den Strand warf.

»Inga!«

Wie gebannt ins Gebüsch starrend, lief Inga langsam rückwärts ins Wasser. Als sie mit dem Rücken gegen meine Schulter stieß, sagte sie leise: »Dima, dort ist jemand. Ich hab’s genau gesehen.«

Das Boot lag in diesem Moment zwischen zwei Wellen einigermaßen ruhig, daher packte ich Inga unter den Knien und um die Schulter und hob sie über die Bordwand an Deck. Sie war so perplex, dass sie nicht einmal protestieren konnte.

Als ich selbst an Bord geklettert war, stand Tom bereits hinter dem Steuerrad, und Timur zog mit wirbelnden Händen an der Leine, um das Segel zu setzen.

»Tim, warte«, rief ich ihm zu und schob mich, gegen den Sturm ankämpfend, zu ihm hinüber. »Das bringt nichts, der Wind ist zu stark.«

Timur fuhr zu mir herum und durchbohrte mich mit weit aufgerissenen Augen.

»Hilf mir gefälligst!«, brüllte er mir ins Ohr. »Wir kommen sonst nicht lebend von hier weg. Mach schon!«

Stöhnend vor Anstrengung, befestigten wir das heftig schlagende Segel mit den Schoten.

Tom hatte keine Chance, das Steuerrad zu halten. Die Aliens Nightmare trieb führungslos am Ufer entlang und entfernte sich dabei nur quälend langsam von der Insel, während ein Brecher nach dem anderen über die Bordwand schwappte. Ohne die von Tom akribisch abgedichtete Deckbeplankung wäre das Schiff längst vollgelaufen und gesunken.

Nachdem das Segel fixiert war, krochen Timur und ich auf allen vieren zur Kajüte. Dort hatte sich Inga an die Bretterwand gekauert, um nicht von einer Welle über Bord gespült zu werden.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie, als wir völlig außer Atem bei ihr ankamen.

Timur machte eine wegwerfende Handbewegung, die allerdings nicht sehr überzeugend geriet, da sich gleichzeitig sein mit Blut und Wasser durchtränkter Verband löste und das Ende der Binde in der Luft wedelte.

»Wir müssen unbedingt deinen Verband wechseln«, rief Inga entsetzt.

»Wozu denn?«, erwiderte Timur stoisch.

Während die schäumenden Wellen pausenlos wie salzige Duschen über uns hereinbrachen, prasselte nun auch noch sintflutartiger Regen auf uns herab.

Inga saß, die Arme um die Beine geschlungen, zwischen mir und Timur. So war die Gefahr, dass sie von Bord gespült wurde, relativ gering. Zusätzlich war Timur die geniale Idee gekommen, sich lang auszustrecken, die Füße gegen den Mast zu stemmen und sich mit der Schulter an der Kajütenwand abzustützen. Ich tat es ihm gleich, denn in dieser Stellung waren wir ziemlich sicher vor den heimtückischen Wasserfontänen, und Inga konnte sich an uns festhalten.

Die Aliens Nightmare hatte sich etwa fünfzig Meter vom Ufer entfernt, aber im Licht der pausenlos aufflammenden Blitze konnten wir noch deutlich die Gemäuer der fremden Burg erkennen.

»Wie konnte ich das nur vergessen«, sagte Timur schuldbewusst. »Die Insel der Tausend Steine.«

»Woher kennst du sie denn?«, fragte ich neugierig.

Timur kam nicht dazu, mir zu antworten. Über der rechten Bordwand, die sich bis zur Wasseroberfläche abgesenkt hatte, erschien im Licht des nächsten Blitzes plötzlich ein menschliches Gesicht, aus dem uns eisige,

»Kopf runter!«, schrie Timur.

Während wir uns so tief wie möglich duckten, kippte das Boot auf die andere Seite, und etwas schoss knapp über unsere Köpfe hinweg und bohrte sich mit einem hämmernden Geräusch in die Bretter.

Vorsichtig drehte ich den Kopf nach oben. In der Kajütenwand steckten drei kleine Stahlscheiben, die bis zur Hälfte ins harte Holz eingedrungen waren. Sie maßen etwa fünf Zentimeter im Durchmesser, und ihre Kanten waren scharf wie Rasierklingen.

Den Dolch in der Hand robbte Timur zur Bordwand, wo er aber niemanden mehr entdeckte. Einen Moment lang verharrte er, dann fuhr er herum und schrie: »Tom! Vorsicht!«

Wie als Antwort auf seinen Zuruf fiel ein Schuss.

Und dann noch einer. Und noch einer.

Hinter der Kajüte konnten wir nicht sehen, was sich am Achterdeck tat, und sich bei diesem Sturm dort hinzuwagen wäre einem Selbstmord gleichgekommen. Sekunden später wurden alle weiteren Geräusche vom ohrenbetäubenden Dröhnen des Donners übertönt.

Als der Lärm endlich nachließ, in ein Grummeln überging und wir wieder das Prasseln des Regens und das Heulen des Windes vernahmen, schrie Inga verzweifelt: »Tom!«

»All right!«, antwortete endlich unser Kapitän.

Die nächste an Deck klatschende Welle nahmen wir überhaupt nicht wahr. An den Mast, an herumhängendes

»Guter Junge«, rief Timur erleichtert.


Wir hatten gut daran getan, uns nicht in die Kajüte zu verkriechen. Nachdem wir etwa zwei Stunden durch den Sturm getrieben waren, hielt sie den Böen nicht länger stand und stürzte ein.

Zuerst barsten die Bretter der Seitenwände, dann stürzte wenig später die ganze Kajüte wie ein Kartenhaus zusammen. Herumfliegende Splitter zerkratzten mir die Schulter.

Der Wind ließ nicht für einen Augenblick nach. In seiner apokalyptischen Monstrosität hätte dieser Sturm auf den Vierzig Inseln einem Gemälde von Iwan Aiwasowki alle Ehre gemacht. Im Sekundentakt flammten Blitze auf, und um unser Boot herum türmten sich gischtschäumende Wellenkämme empor. Es schien unausweichlich, dass uns früher oder später eines dieser wogenden Wassergebirge unter sich begraben würde. Die Zeit indes verrann, und unser Boot hielt sich verbissen über Wasser. Man hätte meinen können, auf der Aliens Nightmare liege ein geheimnisvoller Zauber. Wie über dem Schiff des Verrückten Kapitäns.

Bei diesem Gedanken suchte ich unwillkürlich den Horizont ab. Das Wetter war ideal für den Klipper des abtrünnigen Seemanns. Doch vorläufig waren wir allein auf dem Meer.

Wind und Strömung trieben uns in einer gigantischen Schleife um den gesamten Archipel herum. Dass wir auf diese Weise im Kreis fuhren, wurde mir klar, als ich bemerkte, dass die dunklen Schatten der Inseln immer auf

Wir hatten schon mehrere Inseln passiert, und wenn ich richtig orientiert war, mussten wir in Kürze an der Insel Nr. 4 vorbeikommen. Über den Bretterhaufen unserer ehemaligen Kajüte hinweg spähte ich aufs Achterdeck zu Tom hinüber. Unser Kapitän war schon längst nicht mehr Herr seines Schiffs. Er war nur dort geblieben, weil es reichlich riskant gewesen wäre, in den schweren Orkanböen zu uns nach vorn zu kommen. Das Steuerrad hatte er losgelassen. Wie von Geisterhand bewegt, drehte es sich knarrend hin und her. Als Tom meinen Blick auffing, schüttelte er resigniert den Kopf, wie um mir zu sagen, dass es unmöglich sei, eine der Inseln anzusteuern.

Wenigstens gingen wir nicht unter!

Unsere heroische Fahrt glich mehr und mehr einer Parodie. Um uns herum heulte schauerlich der Sturm und jagte ausgefranste Wolkenberge über den Himmel. Grelle Blitze züngelten aufs Meer herab. Die unentwegt heranrollenden Wellenbrecher waren von geradezu biblischem Ausmaß, sodass es kein Wunder gewesen wäre, hätten sie die Burgen mitsamt ihren Bewohnern einfach von den Inseln gespült.

Trotz des gewaltigen Infernos blieben wir nahezu ungeschoren, wenn man einmal darüber hinwegsah, dass wir im strömenden Regen und den ständig über Bord schwappenden Wellen langsam aufzuweichen begannen. Unter Deck plätscherte Wasser, das an der Stelle in den Schiffsbauch eindrang, wo unsere Kajüte zusammengebrochen war.

Wenn ich auch nicht viel Ahnung hatte von der Seefahrt, so war eines doch völlig klar: In einem so mörderischen

»Dima!«

Inga sah mich schweigend an. Die nassen, zerzausten Haare hingen ihr in Strähnen übers Gesicht.

»Was ist?«

»Gib mir deine Hand!«

Fest schloss Inga ihre Hand um meine Finger und wandte sich wieder ab. Für einen Augenblick verstand ich nicht, was geschah. In mein Bewusstsein sickerten nur lose Details: ihre schmalen Schultern, auf denen das durchnässte T-Shirt klebte; die Windjacke, die sie zusammengerollt und um den Bauch gebunden hatte; ihre angewinkelten Beine, die sie gegen das in die Deckplanken gerammte Schwert stemmte. Dann begriff ich.

»Hab keine Angst, Inga«, flüsterte ich und spürte, wie Melancholie und Zärtlichkeit sich in meine Stimme legten. »Hab keine Angst.«

Sie rückte näher an mich heran und legte den Kopf an meine Schulter. Noch fester hielt sie meine Hand.

»Dima, lass mich nicht allein...«

Angesichts der Lage, in der wir uns befanden, war diese Bitte gewissermaßen absurd, denn wie hätte ich sie mitten auf dem Meer verlassen sollen? Trotzdem erlaubte ich mir nicht einmal den Ansatz eines Lächelns.

»Natürlich nicht, Inga... Ingulja... Ich bin ja da.«

Meine Lippen waren nahe daran, etwas so Unvorstellbares und Verrücktes zu flüstern, wie man es nur in einem solchen Moment aussprechen konnte, da unser Schicksal an einem seidenen Faden hing und die Worte im Donnern der Wellen untergingen.

»Hab keine Angst... Du siehst ja, es passiert uns nichts.«

Sie reckte ein wenig den Kopf, und unsere Blicke trafen sich wie damals auf der Brücke, als wir einander erkannt hatten.

»Inga...«

Mein Herz hämmerte bis zum Hals, ich konnte nicht weitersprechen, und die Worte, die mir auf der Zunge lagen, gerannen zu einem wirren Gedankenstrom.

Ich bin froh, dass du bei mir bist. Es ist niederträchtig, aber ich bin froh, dass du auf die Insel geraten bist. Ich bin ein mieser Egoist, aber ich bin glücklich, dass du mit mir in diesem verwunschenen Nachen hockst. Du weißt, dass ich glücklich darüber bin, und wirst es mir verzeihen. Denn es geht dir genauso.

»Der Sturm wird vorbeigehen, und ich werde es wieder nicht gesagt haben...«, hauchte ich stimmlos.

»Ich verstehe nichts!«, flüsterte Inga und wiegte fragend den Kopf.

»Ich weiß«, sagte ich, ohne die Stimme zu heben. »Ingulja, dein Name ist wie ein Stück Eis, durchscheinend und schneidend kalt. Ich habe Angst, ihn wärmer zu machen, als ob er schmelzen könnte. Glaub mir, wir kommen hier raus, aber dann werde ich wieder verstummen. Nur deswegen rede ich jetzt, weil du nichts verstehst.«

»Ich verstehe dich«, flüsterte sie. »Aber sprich trotzdem weiter.«

Mein Körper begann zu zittern. Natürlich verstand sie mich, unsere Gesichter berührten sich ja fast. Oder das, was ich gesagt hatte, konnte von keinem noch so lauten Geräusch übertönt werden.

In meinem Augenwinkel erhob sich die schwarze Wand der nächsten Monsterwelle, die sich auf unser Boot zuwälzte. Doch anstatt im Schlund des Ungetüms zu verschwinden, machte die Aliens Nightmare einen Satz nach oben, und schon im nächsten Moment bäumte sich der schaumige Wasserrücken hinter dem Achterdeck, während wir sanft hinabglitten. Es war einfach unglaublich. Für einige Sekunden sah ich der davonrollenden Riesenwalze hinterher, deren Grollen noch über unserem Deck waberte.

Dann, als ich mich wieder nach vorn wandte, gefror mir das Blut in den Adern: Aus den Wellengebirgen erhob sich ganz langsam, die weißen Segel stolz gebläht, der Klipper des Verrückten Kapitäns.

Das Schiff war riesig, viel größer, als ich es von der Nacht auf dem Wachturm in Erinnerung hatte, und es sah so echt aus, dass mir augenblicklich klar war: Es konnte unmöglich auf den Inseln gebaut worden sein. Sollten sich die Außerirdischen tatsächlich die Mühe gemacht haben, es von der Erde hierher zu schaffen? Und wenn ja, wozu?

»Da ist er!«, rief Timur begeistert. »Jetzt sind wir gerettet!«

Wieso gerettet?

Ergriffen beobachtete ich, wie der scharfe, metallbeschlagene Bug des Schiffs die Wellen durchpflügte. War

Ich weiß es nicht. In den auf den Inseln kursierenden Legenden, Märchen und Träumen wurdest du stets Klipper genannt. Du hast auf deinen Sturm gewartet, auf deinen Orkan, der die grausame, ungerechte Welt auslöschen würde. Als Fata Morgana, als märchenhafte Erscheinung spuktest du in unseren Seelen, die in den steinernen Zellen der Burgen eingesperrt waren. So schlecht es uns auch erging, wir wussten immer: Du bist da. Und so ließen wir den Mut nicht sinken, verließen nicht die Brücken und legten die Waffen nicht nieder. Denn Feiglinge sind dir verhasst. Du nimmst nur die Mutigen bei dir auf. Also auch uns...

Der Klipper segelte auf Parallelkurs und holte uns langsam ein. Er sah genauso aus, wie er in den Legenden beschrieben wurde. In den Bordwänden befanden sich quadratische Luken für die Kanonen. In den Kajüten am Achterdeck brannte schwaches Licht. An Deck lagen mit Segeltuch abgedeckte Beiboote aufgereiht. Als ich bemerkte, dass eines der Beiboote in der Reihe fehlte, kroch mir ein kalter Schauer über den Rücken. Waren wir womöglich mit einem Beiboot dieses Klippers unterwegs?

Tom stieß Freudenschreie aus und rief mit begeisterter Stimme etwas auf Englisch, was wir nicht verstanden. Timur, Inga und ich verfolgten schweigend, wie der Klipper langsam näher kam.

Warum kannst du nicht an einer der Inseln festmachen, Verrückter Kapitän? Wenn die Außerirdischen so mächtig sind, dass sie dich vom Kurs abbringen können, warum versenken sie nicht einfach dein Schiff? Brauchen sie dich womöglich?

Solange in den grauen Wellen die Silhouette deines Klippers aufscheint, solange wir an dich glauben, wird sich das Leben auf den Inseln nicht ändern. Obwohl auf dir die Hoffnung gründet und der Traum von einem neuen Leben, bist du zur Verkörperung eines alten Lebens geworden, zu seinem Gesetz und seiner Religion. Wieso begreifst du diese bittere Wahrheit nicht, Kapitän? Deine Sturheit und dein Wille, dein Hass und deine Liebe - dies alles ist längst zu einem nützlichen Werkzeug der Außerirdischen geworden.

»Tom, versuch, näher ranzukommen!«, schrie Timur zum Achterdeck hinüber.

Kaum mehr als zwanzig Meter trennten uns noch. Ich hatte gehofft, dass uns der Rumpf des großen Schiffs gegen den Wind abschirmen würde, dies war jedoch nicht der Fall. Die Aliens Nightmare wurde herumgeworfen wie zuvor. Mir fiel auf, dass von der Bordwand des Klippers Strickleitern herabhingen, genauer gesagt waren das Sturmleitern, die aus dicken Seilen und Sprossen aus Holz bestanden. An Deck huschten im schummrigen Licht von Laternen einige Schatten umher. Der Verrückte Kapitän hatte seine Fahrt merklich verlangsamt und pflügte jetzt genau neben uns durchs Meer.

»Tom!«

Unser Boot schlingerte kaum merklich, während uns ein Wellenkamm seitlich erfasste und eine kalte Lawine über das Deck spülte. Langsam rückte die vor uns aufragende, gleichmäßig gebogene, mit gelblichgrauen Ablagerungen besetzte Bordwand des Klippers näher.

Wozu brauchen dich die Außerirdischen, Verrückter Kapitän?

Ich dachte nicht darüber nach, was ich tat. Bruchstücke

»Ich gehe ein paar Schritte...«

Ingas Finger legten sich fester um mein Handgelenk. Es nützte nichts. Mich losreißend, hob ich die Arme und streckte sie aus. Vor mir gab es nur Dunkelheit und schwache Lichtschimmer auf dem sich vor uns aufbauenden Schiffsrumpf. Und hinter mir zwei verwunderte Augenpaare, Tom nicht gerechnet, denn der kämpfte selbstvergessen mit dem Ruder.

»Tim, pass auf Inga auf.«

Kopfüber sprang ich ins Wasser, das mich mit eiskaltem Griff umfing und mir sofort in Nase und Ohren drang. Prustend tauchte ich auf. Durch die Wasserpfropfen in meinen Ohren hindurch, die meinen Kopf in einen dumpf dröhnenden Klangkörper verwandelten, drang Ingas Stimme. Es war zu spät, umzukehren. Ich wollte unbedingt als Erster an Bord des Klippers klettern und diesen Menschen sehen, der dort hinter dem Steuerrad stand.

Seltsam - die Wellen, die zuvor noch so furchterregend ausgesehen hatten, erwiesen sich als beherrschbar. Nach ein paar Schwimmzügen erreichte ich schon die Bordwand, an der das ausgefranste Ende der Sturmleiter wie angeklebt schien. Rhythmisch schlugen Wellen gegen den Rumpf und verschwanden wieder, ohne zu spritzen.

Kräftig mit den Beinen rudernd hob ich die Arme aus dem Wasser und versuchte, die raue Bretterwand zu fassen

Meine Hände glitten durch die Bordwand des Schiffs, ohne den geringsten Widerstand zu spüren. Wie durch eine Fata Morgana. Was er in Wirklichkeit ja auch war, der stolze Klipper des Verrückten Kapitäns.

4 DIE GROSSE TÄUSCHUNG

Es ist ein äußerst merkwürdiges Gefühl, wenn die Hände an der Stelle, wo die Augen unbeirrt einen realen, festen Körper sehen, ins Leere greifen. Für einen quälend langen Augenblick schien es mir, als hätte die mit spitzen Bruchstücken von Muschelschalen besetzte, unaufhaltsam auf mich zukommende Bordwand meine Hand einfach abgeschliffen und ausradiert wie Schmirgelpapier. Doch ich fühlte keinen Schmerz, und es floss auch kein Blut, obwohl meine Arme bereits bis zum Ellenbogen in der hölzernen Wand verschwunden waren.

Instinktiv riss ich den Kopf zurück, um mein Gesicht zu schützen, aber das Gespensterschiff glitt bereits durch mich hindurch. Als körperloser Schatten fiel das glitschig schimmernde, zerfurchte und verwitterte Holz auf meine Netzhaut. Die Augen zusammenkneifend und einen Schrei unterdrückend, bemerkte ich, dass ich ins kalte Wasser zurücksank, und begann, wild mit den Armen zu rudern. Durch meine geschlossenen Lider drang ein kaltes bläuliches Licht, wie das gleichförmige Flimmern eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal eingestellt war. Für Momente tauchte ich in eine atemlose Stille.

Als sich meine Augen wieder öffneten, war ich auf alles gefasst. Es hätte mich nicht gewundert, mich in einem dreckigen Laderaum wiederzufinden, in dem echte Wellen plätscherten und in blaue Flammen gehüllte Gespenster herumspukten, oder in einem silbergrauen,

Die Realität erwies sich als wesentlich einfacher. Sie war allerdings von jener Einfachheit, die heftiger schockiert als irgendeine fantastische Unglaublichkeit. So wie ein stumpfes Taschenmesser in der Hand eines betrunkenen Schlägers mitunter gefährlicher erscheint als ein großkalibriges Maschinengewehr.

Der Klipper leuchtete von selbst, besser gesagt, seine Hülle. Von innen sah sie aus wie ein dünner blauer Film, den man zu einem riesigen Spielzeugschiff aufgeblasen hatte. Über mir, an Deck, liefen ebenso illusorische, »aufgeblasene« Menschen umher. Lasurblau schimmernde Segel wölbten sich im Wind. Aus dem blauen Film geformte Laternen bargen amorphe Klumpen gelben Lichts.

Eine Attrappe! Der Klipper des Verrückten Kapitäns war nichts anderes als eine holografisch dargestellte Attrappe, ein Trugbild, eine elektronische Fata Morgana, ein in eine hübsche Form gegossener Betrug!

In der Mitte des aufgeblasenen Spielzeugs schwamm der Schöpfer des infamen Blendwerks, eine runde Plattform mit einem Durchmesser von fünf Metern, die etwa fünfzig Zentimeter aus dem Wasser herausragte und sich langsam drehte. Ein Hybride aus Spezialschiff und Projektor, ein als antiker Segler getarntes fremdplanetarisches Gerät.

Überwältigt von den Eindrücken, trieb ich in den Wellen dahin und beobachtete, wie die Plattform näher kam. Sie schwamm geradewegs auf mich zu, mechanisch und gleichgültig. Von einem obskuren Programm gesteuert, bewegte sie sich auf einer vorbestimmten Bahn, ja das

Mich trennten nur noch wenige Meter von der Plattform, als ich bemerkte, dass sich in einigem Abstand um sie herum kleine Wasserkämme kräuselten, so als zöge ein Schwarm kleiner Fischchen in einem fröhlichen Reigen darum herum. Muntere, unermüdliche Fischchen, die von Zeit zu Zeit mit den stählernen Schneiden ihrer Flossen das Wasser durchstießen …

In einer großen Welle kam die Plattform ins Schwanken und neigte sich ein wenig. Dabei tauchte etwa eine Armlänge von mir entfernt einer der Teilnehmer des Reigens auf: eine lange, gleichmäßig gebogene, in der Form an einen Elefantenstoßzahn erinnernde Metallstange, an deren Spitze ein Kranz kurzer, rotierender Messer abstand.

Das System war simpel: Ein herannahender Schwimmer wurde von einer der unter Wasser rotierenden Stangen erfasst und geriet dann unweigerlich in die messerscharfen Klingen.

Mir blieben nur Bruchteile von Sekunden, um instinktiv das Richtige zu tun: Blitzartig warf ich die Arme nach vorn, griff hinter die Messer und krallte mich an der vor mir aufragenden Stange fest. Mit einem heftigen Ruck zog sie mich um die Plattform herum durchs Wasser. Wenn ich jetzt losgelassen hätte, wäre es aus mit mir gewesen, denn in meinem Rücken rauschte schon der nächste mit gierig rotierenden Messern bestückte Stoßzahn heran. Gegen die Strömung ankämpfend, hangelte ich mich an der Stange entlang langsam zum Rand der Plattform vor. Aus meinen Armen und Händen schwand

Die Metallstange war im unter Wasser befindlichen Teil der Plattform auf einem runden Sockel verankert. Als ich das Ende der Stange erreicht hatte, wurde ich fast vollständig unter Wasser gedrückt und musste krampfhaft nach Luft schnappen, wenn der Wellengang meinen Kopf für einen Moment freigab. Es schien nahezu unmöglich, auf die rutschige Oberfläche der Plattform zu gelangen. Ich warf meine rechte Hand nach oben, um mich an dem schmalen Vorsprung festzuhalten, rutschte jedoch sofort wieder ab und konnte mich nur mit Mühe mit der Linken an der Stange festhalten. Es musste doch irgendwie zu schaffen sein, auf die verdammte Plattform zu klettern. Andererseits: Was würde mir das bringen?

Die nächste größere Welle wogte heran und hob mich sanft nach oben. Entschlossen stieß ich mich vom Sockel der Stange ab und versuchte, mich von der Welle hochziehen zu lassen. Einen zweiten Versuch würde ich nicht haben. Entweder - oder.

Eine aus der Plattform herausstehende Rippe drückte schmerzhaft gegen meinen Brustkorb. Ich lag auf der nassen, kalten Metallplatte, wo die Welle mich unsanft abgesetzt hatte. Meine Beine hingen ins Wasser, während sich meine Hände zitternd vor Anstrengung an einem Vorsprung festklammerten.

Glück gehabt! Aufatmend robbte ich zur Mitte der Plattform, die nicht ganz so glatt war, wie ich befürchtet hatte. Auf ihrer Oberfläche befanden sich ohne ersichtliche

Die Plattform lag viel ruhiger im Wasser als unser Boot. Es gelang mir sogar, mich aufzurichten. Triefend und in der eisigen Umarmung des Windes vor Kälte zitternd, stand ich vor einer zauberhaften Kulisse. Warum nur konnte eine so heimtückische und grausame Lüge von so berauschender Schönheit sein, viel schöner, als die Wirklichkeit hätte sein können?

Anstelle verfaulter Holzbalken und Deckpaneele umgab mich in bunten Farben schillerndes Segeltuch, und anstelle eines modrigen Lagerraumgeruchs umwehte mich der mit feinem Ozon und Meersalz getränkte Wind. Jede Bewegung der Segel und jedes Schwanken des Klippers gebaren neue türkisfarbene Lichtblitze und Salven violetter, blauer und grellweißer Funkenregen.

Vielleicht lag es daran, dass sich hinter jeder Lüge ein Traum verbirgt. Eine echte Lüge muss schön sein, sonst glaubt sie keiner. Nur die Wahrheit kann sich den Luxus leisten, hässlich zu sein.

»Dima! Dimka!«

Wie aus der Ferne drangen Stimmen durch den Lärm des Windes und der Wellen. Während ich noch die bizarre Kehrseite der Fata Morgana mit ihren mörderischen Messern betrachtete, hatte ich die Aliens Nightmare für einen Augenblick völlig vergessen - dabei näherte sie sich bereits der »Bordwand« des Klippers. Timur und Inga standen auf dem Achterdeck am Steuerrad, Tom hantierte an irgendwelchen Tauen am Mast.

Mit einem Schlag begriff ich, was nun passieren würde.Aliens Nightmare mit seiner nichts ahnenden Besatzung im Innern des Klippers wiederfinden. Schrecken und Begeisterung würden folgen, Momente der atemlosen Verzauberung, in der die fantastische Schönheit des Blendwerks alles überstrahlen würde. Und dann würde das Boot durch den blauen Nebel hindurch auf die Plattform zutreiben.

Die stählernen Rammsporne würden die dünnen Bretter unseres Boots in Stücke hacken. Dieser Höllenapparat war nichts anderes als eine rotierende Fräse. Meine Freunde würden entweder von den Wellen weggespült und ertrinken oder das Schicksal des Bootes teilen. Wer sich wie durch ein Wunder auf die Plattform würde retten können, wäre auch verloren. Denn der Klipper des Verrückten Kapitäns würde niemals an Land gehen.

Sollte ich nun schreien? Oder ins Wasser springen und versuchen, zum Boot zu schwimmen? Hilflos blickte ich mich um. Um die Plattform herum pflügten die tödlichen Stoßzähne durchs Wasser. Von oben konnte man sie ausgezeichnet sehen. Es mochten acht oder zehn dieser stählernen Rammsporne sein. An einem davon hingen Bruchstücke halb verfaulter Holzbalken, die mit rostigen Drahtseilen zusammengebunden waren, und Teile einer Beplankung, die der Rammsporn durchstoßen hatte.

Es waren die Überreste eines Floßes. Wir sind nicht deine ersten Opfer, Verrückter Kapitän!

An der Stelle, an der die Aliens Nightmare die durchsichtige Hülle des Klippers berührte, drifteten dunkle, konzentrische Kreise auseinander, wie bei einer Pfütze, in die ein Stein geworfen wurde.

Auf einmal spürte ich durch die Jeans hindurch den kalten Stahl meines Schwerts.

Es war das erste Mal, dass ich einen so heftigen und blindwütigen Hass empfand, dass das Spielzeugschwert sich ganz von selbst in eine scharfe Waffe verwandelte. Noch niemals zuvor, weder auf der Erde noch auf den Inseln, hatte mich eine solche Welle von Abscheu und Zorn erfasst. Es war die hilflose Wut eines betrogenen und gedemütigten kleinen Jungen.

Aber immerhin hatte dieser Junge noch sein Schwert!

Mit grimmiger Entschlossenheit streckte ich die Klinge vor mir aus: Sie strahlte ein reines, eisig blaues Licht aus - war das eine Spiegelung oder leuchtete sie von selbst?

Eines habt ihr mich gelehrt, ihr verfluchten Inseln: zu hassen. Zu hassen und zu töten. Selbst in meine Liebe mischt sich Hass hinein. Jetzt werdet ihr ihn zu spüren bekommen!

Mit beiden Händen fasste ich das Schwert und holte weit aus, indem ich es hinter meinen Rücken schwang. Dabei ging ich ein wenig in die Knie, um das Schwanken der Plattform auszubalancieren. Und dann hieb ich mit aller Kraft auf die nasse Metallplatte zu meinen Füßen ein.

Das schrille Kreischen splitternden Metalls zerschnitt die Luft, während zu beiden Seiten der sich in die Platte bohrenden Klinge Fontänen orangegelber Funken aufstiegen. Mein Schwert hatte die Verkleidung der Plattform aufgeschlitzt.

»Dima!«

Die leuchtende Hülle der Schiffsattrappe erzitterte und veränderte ihre Farbe, wie eine Seifenblase, die man

Unser Boot war nur noch zehn Meter von der Plattform entfernt und hatte den zerstörerischen Rammspornen ausgerechnet die Breitseite zugewandt.

»Na, wie gefällt dir das?«, zischte ich. »Damit hast du nicht gerechnet, was?«

Den zweiten Schlag führte ich gezielt im spitzen Winkel zum schon vorhandenen Riss. Die Hebelwirkung der langen Klinge nutzend, gelang es nun erstaunlich leicht, ein dreieckiges Stück der Verkleidung aufzubiegen. Darunter quoll eine eklige blassrosafarbene Masse hervor. Es zischte, und an der Oberfläche des zähflüssigen Breis traten Gasblasen hervor, schwollen an, zerplatzten.

Die Aliens Nightmare rückte immer näher.

»Pass auf!«, schrien meine Gefährten so laut, als wäre ich weit entfernt, und ohne die geringste Ahnung davon, in welch tödlicher Gefahr sie selbst schwebten.

Mit einem Ruck zog ich die Klinge aus der klebrigen Masse. Der Stahl meines Schwerts glühte und verkohlte den rosa Schleim, der an ihm haften geblieben war.

Plötzlich hoben sich die gebogenen Rammsporne der Plattform wie Spinnenbeine synchron aus dem Wasser und schwenkten nach innen. Die rotierenden Messer an ihren Spitzen zerschnitten wie Propeller die Luft und verursachten dabei ein helles, markerschütterndes Summen. An einem der in die Luft ragenden Stoßzähne hing als schmutzigweiße Girlande ein menschliches Skelett.

Ich hatte keine Zeit, mich darüber zu entsetzen. Mit verzweifelten Schlägen hieb ich auf die Sockel zweier

Mit einem Satz sprang ich an den äußersten Rand der Plattform, wo die Aliens Nightmare gerade in unmittelbarer Nähe vorbeiglitt.

»Spring!«, schrie Tom und streckte mir die Hand entgegen.

Sekunden später stand ich an Deck unseres Bootes und beobachtete mit aufgerissenen Augen, wie die heil gebliebenen Spinnenbeine sich ebenfalls auf die Plattform niedersenkten.

»Gut gemacht«, sagte Timur, der sich auf die andere Bordseite geworfen hatte, um die Wucht meines Sprunges auszubalancieren.

Mit unsicheren Schritten torkelte er zurück. Er wirkte ungewohnt schlaff, und seine sonst so gesunde Gesichtsfarbe war einem fahlen Grau gewichen.

»Ist dir schlecht?«, fragte ich.

Timur nickte. Erschrocken stellte ich fest, dass sein Gesicht mit einem Mal blau wurde. Ebenso bei Inga und Tom. Und auch die Planken unseres Bootes waren von einem bläulichen Schein überzogen.

Eine Welle grellen blauen Lichts ergoss sich über uns, und wie aus dem Nichts erhob sich ein warmer Wind. Für einen Augenblick sahen wir noch einmal den Klipper des Verrückten Kapitäns: Als lächerlich kleines, höchstens ein Meter großes Spielzeugmodell hing er über der von rosa-weißem Schaum überzogenen Plattform. Dann ertönte ein dumpfes Plopp, und auch der letzte Überrest

»Wir hatten gedacht, du bist unter das Schiff getaucht«, sagte Inga leise. Ich dachte, sie würde noch etwas sagen, aber sie schwieg.

Stattdessen rief Timur: »Schaut!«

Um uns herum hatte das Meer Feuer gefangen. Auf der Wasseroberfläche züngelten blassblaue Flammen. Es sah aus, als hätte jemand selbst gebrannten Wodka aufs Meer gegossen und ihn angezündet. Schaumflocken, die sich von den Wellenkämmen lösten, verwandelten sich in sprühende Funkenwolken, die nach wenigen Augenblicken verglühten.

Für kurze Zeit war es taghell geworden.

»Die Wunder gehen weiter«, stellte Inga ziemlich ungerührt fest. »Der Klipper hat sich in einen rostigen Metallhaufen verwandelt, und der Sturm...«

Der Sturm war einfach vorbei. Das blaue Licht und die Flammen auf dem Meer verloschen, die Wellen glätteten sich. Unser Boot segelte wieder durch die Dunkelheit wie zuvor, nur die monströsen Riesenwellen waren verschwunden. Ein feuchter, böiger Wind legte die Meeresoberfläche in sanfte Falten. Der ganze Spuk war mit einem Mal verpufft.

Lüge. Alles Lug und Betrug. Nachdenklich hielt ich die Hand über die Bordwand ins kalte Wasser und schöpfte mir eine Handvoll davon ins Gesicht. Ein schönes Märchen glaubt man leichter, wenn es schauerlich erzählt wird. Der Klipper des Verrückten Kapitäns, der im strahlenden Sonnenschein über ein spiegelglattes Meer segelte - das hätte doch kein Mensch geglaubt!

Alles Lug und Betrug!

»Setz das Segel, Tom«, rief ich und marschierte zum Steuerrad. »Wir sind gar nicht mehr weit von unserer Insel entfernt. Bei diesem Wind kannst du doch bestimmt auch einen Waschzuber mit Leintuch segeln, nicht wahr?«

Die stählerne Klinge meines Schwerts war wie eine eisige Kruste an meinem Oberschenkel festgefroren.

5 DIE REVOLTE DIE REVOLTE

Der Himmel wollte sich nicht aufhellen, obwohl wir das unerklärliche Gefühl hatten, dass die Nacht zu Ende ging. Vielleicht kam es daher, dass wir einfach nicht mehr schlafen konnten. Ein Hauch von Morgendämmerung lag über dem Meer.

Die Aliens Nightmare passierte noch die Küsten von zwei oder drei Inseln, dann konnten wir vage die wohlbekannten Formen der Festung auf der Insel Nr. 24 ausmachen. Das Ruder hart backbord gelegt, steuerte Tom das Boot unter einer der Brücken hindurch. Die uns umgebende Düsternis schien sich noch zu verdichten. Endlich hoben sich vor dem flackernden Hintergrund eines fernen Wetterleuchtens die eckigen Konturen unserer Burg ab.

In jenen Augenblicken, als wir uns der Insel näherten, beschlich mich eine Regung, die ich nicht zulassen wollte, nicht zulassen durfte: das Gefühl, heimzukommen. Während es sich mit seiner schmeichlerischen Wärme in mir ausbreitete, empfand ich es als kaum verzeihliche, beschämende Schwäche. Denn die Burg des Scharlachroten Schildes war mitnichten mein Zuhause, sondern mein Gefängnis!

In voller Fahrt rammte sich das Boot in den flachen Sandstrand. Wir hatten die Entfernung völlig falsch eingeschätzt. Die Wucht des Aufpralls schleuderte mich mitten in die Überreste unserer Kajüte, während Tom

Mit gezogenem Schwert stand er am Strand und blickte sich um.

»Tim, es ist alles in Ordnung, das ist doch unsere Insel«, sagte ich und legte ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter.

Er nickte und ließ zögerlich das Schwert sinken, während er weiter misstrauisch in die Dunkelheit spähte. Hinter uns mühten sich Tom und Inga damit ab, das Boot ans Ufer zu ziehen. Mir kam überhaupt nicht in den Sinn, ihnen zu helfen, denn ich war völlig auf Timur fixiert, der offenkundig nicht ganz bei sich war.

»Dima«, flüsterte er mit schwacher Stimme, »du denkst jetzt wahrscheinlich, ich spinne, weil ich auf unserer eigenen Insel mit gezogenem Schwert herumlaufe. Aber weißt du, für mich ist die Konföderation die einzige Chance.«

Am Horizont flimmerten die schmalen Lichtbänder des Wetterleuchtens, und über uns am Himmel zogen die phosphoreszierenden Schatten dicker Haufenwolken hinweg.

»Diese Insel ist für mich nicht die erste, verstehst du?«, fuhr Timur halblaut fort. »Selbst wenn sie nach den Regeln des Großen Spiels den Sieg erringen würde, brächte mir das überhaupt nichts. Denn ursprünglich

»Warum erzählst du es mir dann?«, flüsterte ich.

»Damit du mich verstehst. Ich werde bis zum Ende für die Konföderation kämpfen, weil ich keinen anderen Ausweg habe. Ich habe das Gefühl, dass ich besonders vorsichtig sein muss.«

Obwohl Timur meine Geste nicht sehen konnte, nickte ich. Inzwischen kam Inga zu uns gelaufen. Tom war noch auf dem Boot zugange und suchte nach Vorratssäcken, indem er die Kajütenbretter auseinanderzog. Das hätte er sich wohl sparen können - im Sturm war alles von Bord gespült worden.

Obwohl wir nicht allzu weit von der Burg an Land gegangen waren, brauchten wir unerwartet lange für den Weg. Mag der Orkan auch eine Illusion gewesen sein, der Regen hatte sich tatsächlich sintflutartig über die Inseln ergossen. Im kalten, nassen Sand sanken unsere Füße ein, und mehrfach mussten wir kleine Senken umgehen, die sich in morastige Sümpfe verwandelt hatten. Schon nach wenigen Minuten waren wir völlig entkräftet, und ich bereute es, dass ich nicht vorgeschlagen hatte, bis Tagesanbruch am Boot zu warten. Aber

Schließlich erreichten wir die Burgmauer. Im Halbdunkel der schwindenden Nacht wirkte das Mauerwerk blassgrau, als hätte der Regen die rosa Farbe einfach abgewaschen. Das Tor stand offen.

»Ganz schön leichtsinnig«, bemerkte Timur abschätzig. »Sollen wir ihnen einen ordentlichen Schrecken einjagen?«

Niemand reagierte auf diesen Vorschlag, und sicherlich war auch Timur weniger nach lauten Szenen zumute als nach einem warmen, weichen Bett. Wir alle wünschten uns in diesem Moment nichts sehnlicher, als uns so schnell wie möglich auf die erstbeste freie Pritsche fallen zu lassen.

Erstaunlicherweise war auch die Tür am Haupteingang der Burg nur angelehnt, und durch den Spalt drang gelbes, flackerndes Licht. Wie auf Kommando blieben wir alle gleichzeitig stehen. Inga öffnete die Lippen, schien etwas sagen zu wollen, doch dann schloss sie wortlos den Mund wieder.

»Dima«, flüsterte Timur, »gehst du mal nachsehen?«

Ich nickte. In der Erwartung, sie würde wieder zu funkeln beginnen, blickte ich auf die Klinge meines Schwerts, doch sie tat nichts dergleichen. Das war im Grund nicht weiter verwunderlich, denn ihre Beschaffenheit hing ja einzig und allein von meinem Gemütszustand ab, und ich fühlte weder Wut noch Angst noch Misstrauen, sondern lediglich bleischwere Müdigkeit, die jede andere Regung in mir überlagerte.

Vorsichtig, möglichst keine Geräusche verursachend, schlich ich zur Tür und lugte durch den offenen Spalt.

Mitten im Gang, direkt vor dem schmalen Gatter, das in den Keller führte, brannte ein Lagerfeuer, an dem Rücken an Rücken zwei Jungen saßen. Als ich die vertrauten Gesichter erkannte, überkam mich ein Anflug von Ärger, sei es über den misstrauischen Timur, sei es über mich selbst, weil mich schon jeder Schatten beunruhigte.

Mit dem Fuß stieß ich die Tür auf und trat ein. Die Jungen sprangen erschrocken auf, einer von ihnen so panisch, dass er mit einem Bein versehentlich im Feuer landete und einen spitzen Schrei ausstieß. Das war Maljok.

Der zweite Junge zog langsam sein Schwert. Das Licht, das von der Klinge reflektiert wurde, glitt in flimmernden Streifen über seine hervorstehenden Wangenknochen und eine lange, verkrustete Narbe auf seiner Stirn. Als wir unsere Reise auf der Aliens Nightmare antraten, hatte Achmet, der Kommandeur der Insel Nr. 24, diese martialische Kampfspur noch nicht über der Nasenwurzel getragen. Nun schöpfte ich erneut Verdacht.

»Hallo«, sagte ich zu Maljok gewandt. »Haben sie dich doch schon wieder rausgelassen! Bist du bekehrt?«

Auf Maljoks Gesicht erschien ein dünnes Lächeln.

Dann sprach ich Achmet an: »Wie geht’s? Ist alles in Ordnung? Warum hältst du bei uns Nachtwache? Du bist doch ein Gast. Ist Chris bei euch auf der Insel?«

Achmet erstarrte, nur seine Finger spielten nervös am Griff seines Schwerts. Maljok, der sich abgewandt und die Hände hinter dem Rücken verschränkt hatte, machte nicht einmal den Versuch, seine Waffe zu ziehen.

»Wir sind hundemüde, Achmet«, sagte ich mit einem gespielten Lächeln und ging auf ihn zu. »Jetzt wollen wir nur noch ins Bett. Morgen erzählen wir euch dann alles.«

Als ich nur noch zwei oder drei Schritte von ihm entfernt war, zog ich mein Schwert, sprang mit einem flinken Satz übers Feuer und drückte Achmet die Klinge an den Hals.

»Lass dein Schwert fallen«, zischte ich und blickte herausfordernd in seine vor Hass funkelnden Augen. »Na los, mach schon! Wirf es weg!«

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Maljok. Er blickte uns unsicher an, dann wich er zur Wand zurück und setzte sich scheinbar teilnahmslos auf den Boden.

»Ich zähle bis drei«, sagte ich kühl und hoffte wirklich, dass er sich kampflos fügen würde. »Eins... zwei...«

Mit einer behänden Bewegung riss Achmet den Kopf zurück, um meiner Klinge zu entgehen, sprang gleichzeitig einen Meter zurück und streckte sein Schwert mit beiden Händen vor sich aus. Mein Versuch, ihn mit einer bloßen Drohung zu entwaffnen, hatte sich als schwerer Fehler erwiesen. Es wäre besser gewesen, kurzen Prozess mit ihm zu machen. Jetzt schwang er seine Waffe zur Seite und kam auf mich zu.

Die Klinge schräg vor den Kopf haltend, erwartete ich seinen Angriff, als von der Tür her das leise schnalzende Geräusch einer sich entspannenden Feder erklang. Achmet würgte ein Röcheln hervor, ließ sein Schwert fallen und fasste sich mit beiden Händen an die Kehle. Seine dünnen Finger ertasteten das kurze, befiederte Ende eines Armbrustpfeils, der in seinem Hals steckte. Dann rollte er mit den Augen, verzerrte den Mund zu einem ungläubigen Lächeln und sank ganz langsam in sich zusammen.

In der Tür stand Tom und hielt die Armbrust in der Hand, mit der er soeben den Pfeil abgefeuert hatte. Er

»Wo sind unsere Freunde?« Meine Frage galt Maljok, obwohl ich immer noch kein Auge von Achmet ließ, der sich auf dem Boden zusammenkrümmte. Bei so einem konnte man nie wissen.

»Im Keller«, erwiderte Maljok fast gelangweilt. »Keine Sorge, sie haben sich selbst verbarrikadiert.«

Erst jetzt bemerkte ich, dass das eisenbeschlagene Gatter, das in den Keller führte, mit zwei dicken, kurzen Holzbalken verrammelt war.

»Und wie viele von diesen... anderen sind in der Burg?«

»Zwei von den Vierundzwanzigern und drei von den Dreißigern. Sie sind oben.«

Timur schlüpfte zur Tür herein. Als er Maljok erblickte, entfuhr ihm ein leiser Fluch.

»Du schon wieder!«, fauchte er ihn an.

»Was heißt schon wieder?«, erwiderte Maljok entrüstet.

»Hast dir schon wieder neue Herren gesucht, was?«

Man merkte Timur an, dass er innerlich kochte und Maljok am liebsten angeschrien und in der Luft zerrissen hätte. Doch er war zu geschwächt, und seine Stimme blieb kraftlos, was in der heiklen Situation nicht das Schlechteste war. Denn in einem offenen Kampf hätte er uns in seiner derzeitigen Verfassung nicht viel helfen können.

»Tom, hol deine Knarre raus«, wies ich unseren Australier trocken an, nicht ganz sicher, ob er mich verstehen würde.

Doch er verstand mich hervorragend und zog seine Pistole aus dem Gürtel. Maljok, dem schon beim Wort »Pistole« die Kinnlade heruntergefallen war, marschierte ungestüm auf Tom zu.

»Wow! Lass mal sehen!«, gurrte er mit leuchtenden Augen.

Timur und ich tauschten einen Blick aus.

»Du spinnst wohl, Kleiner, das ist kein Spielzeug für dich«, sagte Timur giftig.

Maljok hatte offenbar noch gar nicht registriert, dass sich Toms Pistole auch gegen ihn hätte richten können. Womöglich hielt er sich immer noch für einen Kämpfer der Insel Nr. 36?

»Wie kommt es, dass du mit denen zusammen bist?«, blaffte ich ihn an.

Er zuckte mit den Schultern. »Die Unseren haben sich im Keller versteckt, während Achmet mit seinen Leuten die Burg besetzt hat. Sie haben mich gefragt, warum ich im Kittchen sitze. Chris hat es ihnen offenbar nicht gesagt. Da habe ich ihnen eben irgendeine Geschichte erzählt. Sie haben sich kurz beraten und mir dann vorgeschlagen, auf ihre Seite zu wechseln. Na ja, und...«

»Jaja, ich habe schon verstanden«, polterte Timur. »Wenn Tolik oder Meloman so gehandelt hätten, wäre das in Ordnung gewesen. Aber du hättest die Bande auch allein erledigen können. Zumindest hättest du während der Nachtwache Achmet ins Jenseits befördern und die Unseren befreien können.«

Maljok schüttelte heftig den Kopf und grinste uns zufrieden und selbstsicher an.

»Hätte ich nicht! Ich habe das Kämpfen verlernt«, sagte er beinahe triumphierend.

Wenn Maljok uns nicht anlog, so hatte diese Veränderung bereits am zweiten oder dritten Tag nach seiner Enttarnung stattgefunden. Als er am Morgen in seinem Verlies aufwachte, hatte er eine merkwürdige Leere und ein beklemmendes Verlustgefühl in sich verspürt, so als ob er etwas sehr Wichtiges vergessen hätte. Was dahintersteckte, bemerkte er erst viel später, als er wieder ein Schwert zur Hand nahm und einige Hiebe simulierte. Er konnte sich zwar noch an die Bewegungsabläufe und Kampftechniken erinnern, aber die leichtfüßige Wendigkeit und Schnelligkeit, die ihn zu einem der besten Kämpfer auf den Inseln gemacht hatten, waren ihm abhandengekommen. Offensichtlich konnten die Außerirdischen Fähigkeiten, die sie einem verliehen hatten, auch wieder zurücknehmen.

Während Maljok uns dies alles erzählte, entfernten wir die Balken, mit denen das Kellergatter von außen verrammelt war. Dann stiegen wir die Treppe hinunter, hämmerten gegen die Kellertür und riefen nach unseren Freunden.

Endlich ertönte die gedämpfte Stimme von Chris: »Was wollt ihr?«

»Wir sind’s, macht auf!«, antwortete Timur lakonisch.

Rumpelnd wurden auf der anderen Seite die Barrikaden entfernt. Dann öffnete sich die Tür, in der mit misstrauischer Miene unser Kommandeur erschien. Er kniff die Augen zusammen, geblendet vom Licht unserer Fackel. Einen Augenblick lang musterte er Timur und mich, die Hand am Griff seines Schwerts. Dann lächelte er erleichtert und schloss uns beide gleichzeitig in die Arme. Timur stieß einen Schmerzensseufzer aus, da Chris direkt in seinen zerfetzten Arm gegriffen hatte.

»Ich wusste, dass ihr zurückkommt. Deswegen haben wir auch ausgeharrt.«

Wir traten in den Kellerraum, wo sich hinter Chris Tolik, Meloman, Ilja, Rita und Tanja drängten.

Iljas linker Arm war vollständig verbunden und hing in einer Schlinge, während Melomans rechte Hand bis zu den Fingerspitzen in einem dicken Verband steckte.

Als er meinen fragenden Blick auffing, sagte er seufzend: »Ich musste einen Schwerthieb abwehren - mit der Hand.« Völlig übergangslos fügte er empört hinzu: »Und seit einem Tag sind die Akkus von meinem Disc-Man leer. Wir haben zwar ein Feuer gemacht, aber damit funktioniert das Aufladen nicht.«

Lediglich Tolik trug keinerlei Verband. Als ich jedoch sein Gesicht sah, seine weißen, zerbissenen Lippen und seinen kalten, bösen Blick, war mir schlagartig klar, dass auch er eine Rechnung offen hatte. Die Rache wird fürchterlich, dachte ich.

»Wo ist denn Sershan, der alte Nörgler?«, fragte ich launig und hoffte, Tolik damit ein wenig aufmuntern zu können. Doch im selben Moment begriff ich, dass ich die falsche Frage gestellt hatte.

»Den haben sie als Ersten getötet.«

Toliks Stimme war genauso böse und kalt wie sein Blick. Meine Hände begannen zu zittern, und mit diesem Zittern stieg eine lähmende Verbitterung in mir auf. Sershan, der alte Streithahn und Schwarzseher, war mir kein so enger Freund gewesen wie Tolik oder Timur. Aber auf dem glatten Brückenmarmor hatten wir Seite an Seite ums Überleben gekämpft.

Die Rache wird fürchterlich.

»Und die anderen...?« Ich verstummte, denn Toliks

»Lera.«

Lera? Ich würgte an der von Rauch getränkten Kellerluft. Ein zehnjähriges Mädchen? Selbst wenn alle Jungen auf einer Insel umgebracht wurden, krümmte man den Mädchen in der Regel kein Haar.

»Aus Versehen? Mit einem Pfeil?«, fragte ich in der vagen Hoffnung, dass es kein feiger Mord gewesen war. Es ist schwer, sich die Schlechtigkeit ehemaliger Freunde einzugestehen. Händeringend suchen wir nach Rechtfertigungen für ihr schändliches Verhalten.

»Mit dem Schwert, als wir in den Keller flüchteten und Lera ein Stück zurückblieb.«

Die Rache wird fürchterlich.

»Und Olja?«

»Sie ist in Gefangenschaft, sitzt im Turm, wo ich vorher eingesperrt war«, antwortete Maljok, der uns in den Keller gefolgt war.

»Ist alles in Ordnung mit ihr?«, fragte Rita besorgt.

Maljok zuckte mit den Achseln. »Schon. Sie haben ihr was zu Essen gebracht und so... Nur hat sie immer geweint, wenn Achmet und Boris sie verhört haben.«

»Verhört?«, fragte Rita entsetzt und riss die Augen auf. »Verhört?«, schrie sie beinahe hysterisch.

Chris sprang zu Maljok, packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn heftig. »Bub... Du dummer Bub!«

Völlig verdutzt versuchte Maljok, sich loszureißen. Chris ließ ihn von selbst los, holte schon aus, ließ die Hand dann aber doch wieder sinken und wandte sich zornrot von ihm ab. Stattdessen baute ich mich vor Maljok auf.

»Was habt ihr denn? Was habe ich denn getan?«, wimmerte er.

Kommentarlos schlug ich ihm mit der flachen Hand hart ins Gesicht. Aber ich verstehe, dachte ich. Ja, ich verstehe vollkommen. Du kannst ja nichts dafür, Maljok, dass du als kleiner Junge auf die Insel gekommen bist. Und du kannst auch nichts dafür, dass die Insel des Scharlachroten Schildes von Chris mit englischer Strenge geführt wird, sodass Kinder nicht wissen, was sie nicht zu wissen brauchen. Es ist nicht deine Schuld. Aber...

Die Rache wird fürchterlich.

6 DIE BEFREIUNG

Gegen Abend kehrte ich von der Ostbrücke zurück. Den ganzen Nachmittag über hatte ich dort am höchsten Punkt nackt ausgezogen in der Sonne gelegen. Mein Holzschwert hatte ich mit meiner Kleidung umwickelt und mir als Kissen unter den Kopf geschoben. Es gibt sicher bequemere Orte für ein Sonnenbad, doch die Verrenkungen zwischen Kajüte und Mast der Aliens Nightmare hatten meine Ansprüche in dieser Hinsicht auf ein Minimum reduziert.

Sowohl unsere Burg als auch die Burg der Insel Nr. 30 hatte ich von hier oben bestens im Blick. Wenn jemand dort unten aufgetaucht wäre, hätte ich genug Zeit gehabt, mich in aller Ruhe anzuziehen und auf mögliche unangenehme Überraschungen vorzubereiten. Doch die Insel Nr. 30, die von der Konföderation ausgelöscht worden war, lag immer noch wie ausgestorben da. Ich stellte mir vor, in welch misslicher Lage sich der Junge wiederfinden würde, den es als Nächsten von der Erde dorthin verschlagen würde.

Auf den gefährlichen Brücken hielten die anderen Jungen Wache. Mir wurde eine Verschnaufpause gegönnt, obwohl ich schon den gestrigen Tag, den ersten nach unserer Rückkehr auf die Insel, vollständig verschlafen hatte.

Nur einmal, gegen Abend, war Mädchengeflüster durch den dicken Vorhang des Schlafes zu mir durchgedrungen.

»Gehen wir, lassen wir ihn schlafen«, flüsterte Rita schließlich.

Für einen Augenblick wollte ich lachen und ihnen sagen, dass ich überhaupt nicht schliefe, um schon im nächsten Augenblick wieder in eine tiefe Besinnungslosigkeit zu versinken, die bis zum nächsten Morgen andauern sollte.

Als ich erwachte, fühlte ich mich müde, und mein Kopf schmerzte. Das kommt vor, wenn man allzu lange schläft. Zum Glück hatte ich keine Gelegenheit dazu, in Selbstmitleid zu versinken, denn Timur fühlte sich noch viel schlechter als ich und fiel für den Wachdienst definitiv aus. Die restlichen Kämpfer waren gerade genug, um die Brücken zu bewachen.

Nachdem Chris meine zerknitterte Visage erblickt hatte, schickte er mich umstandslos auf die Ostbrücke, für die ohnehin nur der Form halber ein Wachposten vorgesehen war. Tom und Tolik entsandte er zur Westbrücke, was völlig ausreichend erschien, da sie mit der Pistole bewaffnet waren. Er selbst machte sich mit Ilja, Meloman und Maljok zur Südbrücke auf. Trotz aller Verluste waren wir immer noch einsatzfähig.

Bei Einbruch der Dämmerung zog ich mich an und machte mich, noch etwas dösig vom langen Sonnenbad, auf den Rückweg zur Insel. Vor allen anderen traf ich

In Timurs Kammer endlich erblickte ich die Mädchen. Sie hatten sich am Fenster zusammengedrängt, während Timur auf seinem Bett lag und schlief. Auch hier herrschte Stille im Raum, aber eine lebendige Stille, erfüllt vom Atem des Schlafenden, vom gedämpften Flüstern einer kaum vernehmbaren Unterhaltung und vom Rascheln lockerer Kleidung, die ein sanfter Luftzug in Bewegung versetzte. Als ich eintrat, drehten die Mädchen mit einem Ruck die Köpfe in meine Richtung, und ich bemerkte sofort den verängstigten, fast panischen Ausdruck in Oljas Gesicht. Nachdem ich mich um ein beruhigendes, sanftes Lächeln bemüht hatte, verließ ich den Raum wieder.

Diese Dreckskerle, dachte ich, diese verdammten Bestien!


Boris, Achmets Freund und Helfer, hatte ich selbst getötet. Dabei war mir gar nicht bewusst gewesen, dass dies mein erster Mord war. Es war das erste Mal, dass ich mit dem Schwert auf jemanden einschlug mit der festen Absicht, ihn ins Jenseits zu befördern. Er war der Erste, den ich nicht in einem Duell Mann gegen Mann getötet hatte.

Nachdem wir unsere Freunde befreit hatten, waren wir in die Kammer eingedrungen, in der die ganze Bande der Besatzer schlief. Selbst Timur, der sich kaum noch schleppen konnte, war mitgekommen, und auch Rita

Einer der fünf Jungen hatte nicht geschlafen, offenbar war er als Wache eingeteilt. Als er sein Schwert hob, schoss Tom sofort. Der Knall war so gewaltig in dem kleinen Raum, dass mir danach die Ohren dröhnten. Der Junge breitete die Arme aus und flog spektakulär rücklings gegen die Wand, wie im Film.

Eine Kugel ist eben ein ganz anderes Kaliber als ein Schwert oder ein Pfeil. Die Vorstellung von einem winzigen, unsichtbaren Bleigeschoss, das diskret ein Leben auslöscht, ist völlig falsch. Tatsächlich wirkt ein Schuss aus nächster Nähe wie der ungebremste Faustschlag eines Schwergewichtlers.

An allen anderen vorbei stürzte ich mich voller Hass zu dem Bett, aus dem uns Boris völlig entgeistert anstarrte. Früher hatte er auf mich den Eindruck eines schweigsamen, ja sogar schüchternen Jungen gemacht. Jetzt flüchtete er wie ein gehetztes Tier in den hintersten Winkel des Bettes, hielt schützend die Decke vor sich und fing an, mit erstickter Stimme etwas hervorzustammeln. Meine Ohren waren immer noch betäubt - wie durch dicke Watte drangen seine Worte zu mir durch.

»Gib mir ein Schwert, das ist nicht fair...«

»Nein.«

»Du wirst doch nicht auf einen Unbewaffneten...«

»Und ob!«

Kaltblütig stach ich ihn ab. Dann warf ich Chris, der hinter mir stand, einen fragenden Blick zu. Mit einem flüchtigen Kopfnicken billigte er meinen Mord. Das »ritterliche«

»Bringt sie alle auf eine Brücke«, befahl Chris knapp.

»Auf welche?«, fragte Tolik.

»Egal. Bringt sie auf eine der Brücken und werft sie ins Meer.«

Tolik sah mich fragend an, als sei ich auch Kommandeur und als erwarte er von mir einen Befehl.

»Wenn sie Widerstand leisten, tötet sie vorher«, sagte ich gleichgültig.

Möglicherweise würde ich diesen Spruch noch bereuen; nicht seinen Inhalt, sondern die Gleichgültigkeit, mir der ich ihn hingeworfen hatte. Bisweilen unterscheidet sich niederträchtige Grausamkeit von einer aufgenötigten Härte nur durch ein winziges Detail, durch einen bestimmten Tonfall oder einen Gesichtsausdruck. Leider kommt es auch vor, dass diese Unterschiede vollständig verschwimmen.


Nachdem ich Timurs Kammer verlassen hatte, verzog ich mich in meine eigene und ließ mich auf mein Bett fallen. Eine tiefe innere Leere und Schwermut legten sich auf mein Gemüt, ich hatte weder Lust zu schlafen noch zu essen noch irgendjemanden zu sehen.

Nach zehn Minuten kam Chris zu mir herein. Er setzte sich auf das zweite Bett und sah mich lange an. Vor einer halben Ewigkeit, an meinem ersten Morgen auf der Insel, hatte Maljok mich so angeschaut. Damals hatten wir das Lächeln noch nicht verlernt.

»Chris, erzähl mir, wie alles passiert ist«, bat ich ihn. »Ich habe noch gar nicht richtig kapiert, was geschehen ist.«

Der Kommandeur stützte das Kinn in die Hände, wiegte resigniert den Kopf und senkte den Blick auf den Boden.

»Wenn ich das so genau wüsste«, begann er. »Gestritten haben wir uns ja eigentlich immer mal wieder, schon bevor ihr in See gestochen seid. Und dieses Mal war eigentlich auch nichts Außergewöhnliches vorgefallen.«

Chris erzählte mir die ganze Geschichte. Achmet hatte eine der morgendlichen Besprechungen im Zorn verlassen, nachdem ein Streit über eine völlige Lappalie ausgebrochen war. Es hatte sich lediglich darum gedreht, auf welcher Brücke einer »unbeugsamen« Insel Achmets Kämpfer im Auftrag der Konföderation angreifen sollten. Untertags hatte dann Tolik von Bekannten erfahren, dass Achmet sich mit den Kommandeuren von zwei weiteren Inseln der Konföderation getroffen hatte, um etwas mit ihnen zu besprechen. Am Abend war Achmet zurückgekehrt, angeblich um sich mit Chris auszusöhnen. Dass er anderes im Schilde führte, hatte Sershan als Erster bemerkt, als er auf den Wehrgang hinaustrat und sah, dass von allen drei Brücken gleichzeitig Kämpfer von den Nachbarinseln anrückten.

Es war völlig aussichtslos gewesen, sich dieser Übermacht entgegenzustellen, die meisten hatten es gerade noch geschafft, sich in den Keller zu flüchten und sich dort zu verbarrikadieren.

Während ich Chris zuhörte, überkam mich das idiotische Gefühl, als wäre ich bei diesen Geschehnissen dabei

»Chris«, unterbrach ich die Erzählung des Kommandeurs, »eigentlich hätte das auch schon früher passieren können.«

Chris stand auf, streckte sich und warf sich aufs Bett. »Hätte passieren können, sagst du? Es musste früher oder später passieren. Zweifelsohne.«

»Wenn nicht Achmet, dann hätte eben ein anderer versucht, die Macht an sich zu reißen«, sagte ich und setzte mich halb auf.

»Zwei-fels-oh-ne«, erwiderte Chris gedehnt. »Die Außerirdischen haben sich keinen Kopf gemacht wegen der Konföderation, denn sie wussten, dass sie auseinanderfallen würde. Vierzig Inseln. Vierzig verschiedene Gewohnheiten und Regeln. Inseln, die wie Demokratien geführt werden, und solche, die wie Diktaturen funktionieren. Internationale Inseln und national einheitlich besetzte. Kleine Buben und Hünen wie ich. Wir wollen zwar alle wieder nach Hause, richtig. Aber wir wollen noch viel mehr. Und das nicht erst auf der Erde, sondern schon hier. Warten will keiner. Um keinen Preis.« Chris gähnte. Dann setzte er unvermeidlich hinzu: »Zwei-fels-oh-ne.«

»Was hast du denn immer mit deinem ›zweifelsohne‹?«, fragte ich leicht gereizt. »Fällt dir kein anderes Wort dazu ein?«

Chris lachte. »Siehst du, selbst so ein harmloser Tick wie die Angewohnheit, ein bestimmtes Wort zu wiederholen, kann uns zum Streiten bringen.«

»Nicht wirklich, Chris«, entgegnete ich.

Wir schwiegen für einige Augenblicke.

»Schade um Sershan«, sagte Chris dann unvermittelt. »Wir haben uns immer darüber lustig gemacht, dass er an allem zweifelt und mit allen streitet. Aber genau das hat uns gerettet. Tolik hatte Sershan noch Vorwürfe gemacht, weil er so misstrauisch war und nicht glauben konnte, dass Achmet sich wirklich mit uns aussöhnen will. Sershan war deshalb eingeschnappt, aber er beharrte darauf, dass etwas faul sei an der Sache. Wie recht er doch hatte.«

»Stimmt, er hat immer mit allen gestritten«, wiederholte ich nachdenklich.

»Wir sind zu wenige auf der Insel, als dass wir alle gleich sein könnten«, fuhr Chris kryptisch fort. »Jeder hat ein oder zwei Charakterzüge, die ihn letztlich zu einem bestimmten Typ machen. Sershan war ein Skeptiker. Timur ist ein Soldat und Trainer. Romka - den hast du ja gar nicht richtig kennengelernt - war ein Spaßvogel.«

»Ein Spitzbube«, präzisierte ich.

»Ja.«

»Und Tolik?«

»Tolik?« Chris dachte nach. »Der... hmm... wie soll ich sagen? Er ist ein Anpassungskünstler. Jedenfalls tut er so, als wäre er hier zu Hause, verstehst du? Als er die Regeln der Großen Spiels erfuhr, hat er sich schnell daran gewöhnt, hat schnell fechten gelernt, schneller als alle anderen. Und normalerweise lebt er am unbeschwertesten von allen, geht baden, angelt Fische, denkt sich irgendwelche Spiele aus. Wenn es unausweichlich ist, zu kämpfen, dann kämpft er, und das sehr tapfer. Wenn es ohne Kampf abgeht, umso besser. Und er streitet sich nie

»Vielleicht macht er es ja genau richtig?«, warf ich halblaut ein.

Chris sagte dazu nichts. Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: »Und dich, Dimka, kann ich am allerwenigsten einschätzen. Dabei ist es meine Aufgabe, zu verstehen, wie meine Leute ticken. Bei dir schaffe ich das aus irgendeinem Grund nicht.«

»Bei mir ist eben keine Eigenschaft besonders ausgeprägt, vielleicht bin ich in jeder Hinsicht eine graue Maus«, scherzte ich selbstironisch.

»Nein, an dir ist schon auch etwas Besonderes«, entgegnete Chris ernst. »Ich komme nur nicht dahinter, was.«

»Spielt das denn eine Rolle?«

»Weiß ich nicht. Die Fähigkeiten von Timur oder Tolik genauso wie meine Neigung, die Fäden in der Hand zu halten, sind für die Außerirdischen jedenfalls kein Problem, da wir uns innerhalb der Spielregeln bewegen. Man müsste irgendwo ein Schlupfloch finden und aus diesem Kreis ausbrechen. Es muss irgendwo eine Schwachstelle geben.«

»Zwei-fels-oh-ne«, murmelte ich.

Wir mussten lachen, und meine Stimmung hatte sich etwas aufgehellt.

Plötzlich öffnete sich die Tür, als hätte jemand das Ende unseres Gesprächs abgewartet. Tolik spähte herein und sah uns Hilfe suchend an.

»Was ist los?«, fragte Chris ungeduldig.

»Kommt mit und seht selbst«, schlug Tolik vor. »Ist ein ulkiger Anblick.«

Was Tolik als »ulkigen« Anblick bezeichnete, konnte

Als wir hinter Tolik her auf den Wachturm stiegen, hatten sich dort bereits alle außer Timur versammelt. Die gewaltige schwarze Rauchsäule, die kerzengerade in den Himmel stieg, war sicherlich auf dem ganzen Archipel weithin sichtbar, die Quelle des Qualms konnte man jedoch nur vom Wachturm aus erkennen: Es war die Burg der Insel Nr. 27.

»Von Bränden auf den Inseln habe ich noch nie etwas gehört«, sagte Chris erstaunt und bahnte sich einen Weg zum besten Aussichtsplatz auf der Plattform.

»Die Außerirdischen?«, mutmaßte Ilja vorsichtig.

Chris schüttelte den Kopf. »Nein, das waren Jungen von einer anderen Insel.« Er hatte sich ganz am Rand der Plattform aufs Geländer gestützt und starrte gebannt auf die gigantische Rauchwolke.

»Der Machtkampf geht weiter«, sagte er resigniert.

Noch nie hatten wir uns so hilflos und schuldig gefühlt wie im Angesicht der brennenden Burg. Schweigend blickten wir auf das Spektakel, das nicht zuletzt auch das Werk unserer Machenschaften war. Denn schließlich war die Konföderation unsere Idee gewesen. Ein schöner Traum, der jetzt diejenigen auffraß, die an ihn geglaubt hatten. Dass wir selbst darunter zu leiden hatten, war schon schlimm genug, dass es jetzt auch noch andere traf, erfüllte uns mit heftiger Bitterkeit.


Ich konnte nicht einschlafen. Nachdem wir in ziemlich getrübter Stimmung und ohne großen Appetit zu Abend gegessen hatten, gingen wir rasch auf unsere Zimmer.

Auf den Inseln stürzte man von einem Extrem ins andere: Einmal schlief man zwanzig Stunden wie ein Toter, dann wieder quälte einen die Schlaflosigkeit. Und als meine streunenden Gedanken endlich zerfaserten und in der Bewusstlosigkeit des Schlafes zu versinken begannen, hörte ich plötzlich einen Schrei.

Es war ein schwacher, kurzer, aber völlig realer Schrei. Schlagartig war ich wieder hellwach geworden, setzte mich langsam auf und horchte: erneut Stille. Ohne eine Kerze anzuzünden, tastete ich nach meinem Schwert und zog es aus der Scheide. Der Schrei war aus dem Nachbarraum gekommen, wo Tom schlief, dessen war ich mir absolut sicher.

Geräuschlos drückte ich die Klinke meiner Tür und schlüpfte in den Gang hinaus, wo es noch dunkler war als in meiner Kammer. Mit der Linken an der Wand entlang tastend, in der Rechten das Schwert, schlich ich zu Toms Schlafkammer, drückte die Klinke und ließ die Tür langsam aufschwingen.

Im Raum flackerte ein schwaches gelbliches Licht. Tom hatte die Kerze nicht ausgemacht. Normalerweise handelte man sich damit Ärger ein, aber in diesem Fall war ich dankbar für seine Sorglosigkeit. Der kleine Australier lag in Seitenlage auf seinem Bett, die Decke lag auf dem Boden. Er schien ganz friedlich zu schlafen, sein gleichmäßiger, tiefer Atem war gut zu hören.

»Tom, hast du was geträumt?«, flüsterte ich.

Er schwieg. Als ich näher herantrat, sah ich, dass seine Augen weit aufgerissen waren und sich seine Lippen geräuschlos bewegten. In seinen schwarzen, riesigen Pupillen spiegelte sich die im schwachen Luftzug züngelnde Flamme der Kerze.

»Tom?«

Ein Lächeln spielte um seinen Mund. In sich versunken, lächelte er über etwas, das mir verborgen blieb. Mit einem Mal wurde mir klar, dass man ihn in diesem Moment stoßen, zupfen oder schlagen hätte können, er wäre davon nicht aufgewacht. Der Schlaf, den er schlief, war kein gewöhnlicher.

Die Tasche, mit der Tom auf der Insel gelandet war, lag neben seiner Decke auf dem Boden. Sie enthielt nichts Interessantes mehr. Die Bücher, Hefte, Stifte und der primitive Taschenrechner waren längst ins Gemeinschaftseigentum übergegangen. Nur die Pistole hatte er bis zu unserer Schiffsreise erfolgreich versteckt. Eine vernünftige Erklärung dafür, wie er auf der Erde an die Pistole gekommen war, hatte er uns bis zuletzt vorenthalten.

Zerstreut hob ich die Tasche auf und wog sie in der Hand. Für eine dünne Stofftasche fand ich sie bemerkenswert schwer.

Es ging mich ja eigentlich nichts an, doch meine Neugier obsiegte. Schon beim ersten Ruck riss das hellblaue Innenfutter auf, und zwar genau an der Stelle, an der die starke Maschinennaht durch eine von Hand genähte Zickzacknaht ersetzt worden war. Aus dem Zwischenraum fielen kleine, durchsichtige Plastikbriefchen heraus, in die ein mehlfeines, weißes Pulver eingeschweißt war.

Kopfschüttelnd legte ich die Briefchen in die Tasche zurück. Das weiße Pulver knirschte, wenn man es in den Plastikbeutelchen zusammendrückte, es musste extrem trocken sein. Ich fragte mich, wozu es gedacht war, zum Einnehmen, Schnupfen oder Spritzen. Letzteres war eher unwahrscheinlich, denn Tom besaß keine Spritze. Ich hob die Decke vom Boden auf und deckte den in rauschhaften Träumen Versunkenen damit zu.

Dann ging ich zu Chris.


Am nächsten Morgen war Tom merklich nervös, nahm aber ansonsten wie immer an unserer Morgenroutine teil. Chris teilte mit ungerührter Miene die Brückenwachen ein. Als er an mir vorbeiging, zwinkerte er mir komplizenhaft zu. Der Australier schien hin- und hergerissen, ob er den Kommandeur von sich aus ansprechen sollte. Schließlich gab er sich einen Ruck und ging zu ihm.

Chris ließ ihn überhaupt nicht zu Wort kommen.

»Hast du öfter Drogen genommen?«, fragte er ihn auf Russisch.

Tom schüttelte den Kopf.

»Sehr gut, dann hast du ja sicher kein Problem damit, dass dein Vorrat jetzt im Meer schwimmt.«

Tom hatte verstanden. Seine Lippen bebten. Dann begann er auf Englisch zu reden, aber so schnell, dass ich kein Wort verstand. Chris antwortete ihm ebenso unverständlich in seiner Muttersprache.

»Auf der Erde war er ein Dealer«, sagte Chris schließlich zu mir, nachdem Tom sich entfernt hatte. »Genauer gesagt, er hat die Drogen an Pusher weitergegeben, also an Dealer in den Schulen. Jetzt hat er Angst, dass seine

»Und, hast du ihn beruhigt?«, fragte ich und blickte Tom hinterher, der mit Tolik die Südbrücke hinaufmarschierte.

»Natürlich«, erwiderte Chris. »Ich habe ihm gesagt, dass wir nie mehr auf die Erde zurückkehren werden.«

7 DIE KAPELLE AUF DER INSEL NR. 36

Wäre der Vorfall mit den Drogen früher passiert, hätte er auf unserer Insel wochenlang für Aufregung gesorgt. Doch vor dem Hintergrund des Zerfalls der Konföderation wurde er schlichtweg ignoriert, obwohl sich schnell bei allen herumsprach, was ich in Toms Kammer gefunden hatte. Die chaotischen Machtkämpfe auf dem Archipel überdeckten alle anderen Ereignisse.

Für kurze Zeit blieb es noch ruhig auf unseren Brücken. Die Inseln der Konföderation, die noch bis vor Kurzem Verbündete gewesen waren, bekriegten sich gegenseitig und schenkten der wiedererstandenen Insel des Scharlachroten Schildes zunächst keinerlei Beachtung. Erneut stiegen Rauchsäulen am Horizont auf, wir konnten aber nicht feststellen, auf welcher Insel es diesmal brannte. Wenige Tage später gerieten wir selbst wieder ins Visier feindlicher Kämpfer.

Gewöhnlich erfolgten die Angriffe über die Brücken der Inseln Nr. 24 und Nr. 12, seltener, gleichsam zur Abwechslung, über das Territorium der Insel Nr. 30, die nach wie vor unbewohnt und wie ausgestorben war.

Augenscheinlich sah man in uns die Hauptschuldigen an den katastrophalen Zuständen, die neuerdings auf den Inseln herrschten. Unsere einstigen Freunde auf den Nachbarinseln, Salif von der Nr. 12 und Lorka von der Nr. 24, waren wie vom Erdboden verschluckt. Möglicherweise waren sie gar nicht mehr am Leben.

Wir kämpften ununterbrochen von morgens bis abends. An Kampfpausen oder jene nur mit halber Kraft geführten Scharmützel, wie es sie früher einer stillschweigenden Vereinbarung folgend häufiger gegeben hatte, war überhaupt nicht mehr zu denken. Jeden Tag kehrte der eine oder andere von uns mit üblen Verwundungen von der Brücke zurück und schied für ein, zwei Tage aus dem Großen Spiel aus.

Auch ich kam nicht ungeschoren davon. Während eines völlig banalen Gefechts, in dem schwer auszumachen war, wer auf wen einschlägt, und das genauso schnell zu Ende ging, wie es angefangen hatte, wurde mein linker Arm durch Schwerthiebe zerschnitten, und in meinem rechten Bein landete ein verirrter Pfeil. Mit blutverschmiertem Arm und hinkend schleppte ich mich aus dem Getümmel. Ilja und Meloman stützten mich und zogen mich aus der Gefahrenzone.

Die Stirn in tiefe Falten gelegt, inspizierte Meloman meinen Unterschenkel und befahl mir wegzuschauen. Gehorsam wandte ich den Blick ab, denn es ist wahrlich kein Vergnügen, dabei zuzusehen, wie dir mit einem hölzernen Dolch ein Pfeil aus dem Bein herausgepult wird. Eine halbe Stunde später lag ich bereits in meiner Kammer auf dem Bett, und Rita und Inga wuselten um mich herum. Mit beinahe zärtlicher Behutsamkeit trug Rita die Heilsalbe auf meine Wunden auf. Inga, der der Schrecken über meine Verwundung noch ins Gesicht geschrieben stand, legte mir die Verbände an. Dabei überzog sie mich mit einer Litanei von Vorwürfen, dass ich im Kampf so unvorsichtig gewesen sei.

Einige Tage später ging ich wieder auf Wache. An meinem Unterschenkel blieb eine leicht geschwollene hellrosa

Keiner von uns sprach mehr über die gescheiterte Konföderation. In jener Zeit redeten wir generell wenig miteinander, weder über die Außerirdischen noch über den Verrückten Kapitän noch über unsere Schiffsreise auf dem Archipel. Die Aliens Nightmare lag immer noch genau so am Ufer, wie wir sie nach unserer Heimkehr zurückgelassen hatten. Weit vom Wasser entfernt, trocknete sie langsam aus, und in den Holzplanken zeigten sich erste Risse.

Unsere Insel fiel in eine Art Schlaf, in einen endlosen, monotonen Traum über einen sinnlosen Krieg, den wir, wie mir schien, zum Amüsement der Außerirdischen führten, die irgendwo dort oben über uns in ihrem Versteck ausharrten. Ich weiß nicht, ob das normal ist, aber ich persönlich war froh darüber, dass in jener Zeit keine Notwendigkeit bestand, irgendwelche Entscheidungen zu treffen oder komplizierte Pläne zu schmieden für einen Kampf gegen die Außerirdischen oder gegen die Bewohner der Nachbarinseln.

Mir war am ehesten danach, eine stumpfsinnige Arbeit zu tun, für die weder besondere physische Kräfte noch geistige Anstrengung erforderlich waren, sondern einzig und allein Geduld.

An den Abenden schloss ich mich nach dem Essen in meiner Kammer ein und zeichnete an einem Plan der Burg. Linie an Linie fügte sich auf einem Blatt Papier aus Toms Heft. Alle Räume der Burg waren längst ausgemessen worden, man musste nur die langen Zahlenreihen zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfügen: die Außenmaße der Burg, Länge und Breite; die Dicke der

Toms Taschenrechner, der im Übrigen ein weitgehend sinnfreies Dasein fristete, leistete mir wertvolle Hilfe bei meiner Arbeit. Immer wieder aufs Neue rechnete ich die Zahlenkolonnen durch. Indem ich die genaue Länge meines Schwerts ermittelte - dreiundneunzig Zentimeter - maß ich einige Räume nach.

Die Zahlen stimmten überein. Aber die Linien auf dem Plan nicht!


Eines Tages, es war schon spät am Abend, begriff ich, wo der Fehler lag. Ich beschloss, erst am Morgen zu Chris zu gehen, denn ich war hundemüde, und die bevorstehende Unterredung würde gewiss länger dauern. Von Natur aus bin ich wohl eher ein Frühaufsteher. Es fällt mir schwer, sehr lange aufzubleiben, dafür werde ich morgens früh munter.

Am nächsten Tag stand ich noch bei Dunkelheit auf, so gegen fünf Uhr.

Die Nacht ist die Zeit der überraschenden Entdeckungen. Davon konnte ich mich ein weiteres Mal überzeugen, als ich mich Chris’ Kammer näherte. An der Schwelle der angelehnten Tür empfing mich ein deutlich vernehmbares Flüstern. Als ich die Stimme erkannte, begann mein Herz heftig zu pochen.

Es war Rita.

Ich hätte wieder gehen können, ja sogar müssen, doch ich konnte mich nicht entschließen. Eine Hitzewelle stieg in mir auf, und meine Beine wurden weich. In meinem Kopf drehte sich nur ein einziger Gedanke: Was bin ich nur für ein dummer Junge, keinen Deut besser als Maljok!

»Chris, mein Lieber«, flüsterte Rita, deren Stimme völlig klar durch den Türspalt drang, »wir haben doch alles richtig gemacht, niemanden trifft eine Schuld. Ich weiß gar nicht, was du hast.«

»Ich hätte es ahnen können. Ich hätte es vorhersehen müssen.« Chris’ Stimme war fest wie immer, dennoch mischte sich ein Anflug von Zweifel in seinen Tonfall, so als wünschte er, dass man ihm widersprach, ihn eines Besseren belehrte.

»Es ist doch nichts Schlimmes passiert. Mit uns jedenfalls nicht«, beschwichtigte Rita.

»Aber Sershan... Und dann Lera und Olja.«

»Kannst du dich auch nur an einen einzigen Monat erinnern, in dem niemand starb? Was hat die Konföderation damit zu tun? Und Olja geht es schon viel besser.«

Für einen Moment kehrte Stille ein. Es wäre die Gelegenheit zum Rückzug gewesen, aber jetzt hatte ich Angst, dass sie mich hören könnten.

»Lassen wir das, Chris. Es wird bald hell werden. Und du bist müde.«

»Warte, Rita. Nur noch ein paar Minuten... Mach mich noch ein bisschen müder.«

Rita lachte ein eigenartiges Lachen, wie ich es von ihr noch nie gehört hatte.

»Zu Befehl, mein Kommandeur...«

»Ist es so gut?«

»Ja... Jaahh...«

»Meine Prinzessin!«

Es war höchste Zeit zu verschwinden. Langsam rückwärtsgehend, entfernte ich mich von den Stimmen, von dem kaum vernehmlichen Rascheln, von diesen beiden

»Ich brauche dich, Chris!«, hauchte Rita mit zitternder Stimme. »Du darfst nicht sterben, hörst du? Halt dich aus den Kämpfen heraus, bitte! Chris... Chris!«

Plötzlich hörte Rita auf zu sprechen und begann stattdessen leise und gedämpft zu stöhnen. Die physische Nähe der fremden Lust wirkte natürlicherweise faszinierend auf mich, dennoch beschleunigte ich meinen Rückzug, da es mir peinlich war, dabei zuzuhören - ich wollte schließlich kein Voyeur sein.

Das rhythmische Stöhnen und das Knarren des Bettgestells verhallten bereits in der Finsternis, als ich, immer noch rückwärtslaufend, plötzlich über mein verflixtes Schwert stolperte. Mit den Händen in der Luft rudernd, so als könnte ich mich darin festhalten, stürzte ich rücklings zu Boden. Krachend schlug die hölzerne Klinge des Schwerts auf dem Steinboden auf.

Zwei oder drei Sekunden später riss Chris die Tür auf. Mit den Händen abgestützt, saß ich konsterniert auf dem kalten Marmor. Chris Silhouette hob sich in der hellen Türöffnung ab, denn seine Kammer war nach Osten ausgerichtet und schon schwach erleuchtet. Einer seiner Arme erschien unnatürlich lang - es war das Schwert, das er in der Hand hielt.

»Ich bin’s, Chris, ich bin’s.«

»Was ist passiert, Dima?«

Als ich seine athletische, stramme Silhouette in der Tür anstarrte, bemerkte ich plötzlich, dass er nichts an hatte, rein gar nichts.

»Ähm, ich hätte etwas Wichtiges mit dir zu besprechen, Chris. Komm doch bitte mal zu mir.«

»Ist gut, ich komme. In ein paar Minuten, okay?«

»Ja, danke, ich erwarte dich.«

Gnädig verbarg die Dunkelheit mein knallrot angelaufenes Gesicht. Beim Versuch, mich aus der peinlichen Situation zu retten, waren meine Worte unnatürlich förmlich geraten. Chris musste das als lächerlich empfunden haben, ließ sich aber nichts anmerken.

Im Laufschritt erreichte ich meine Kammer, wo ich eine Kerze entzündete. Schwer atmend setzte ich mich aufs Bett und beobachtete die langsam anschwellende Flamme. Im Raum verbreitete sich der angenehme Duft geschmolzenen Stearins.


»Was ist passiert?«, fragte Chris, als er kurz darauf lautlos meine Kammer betrat.

Er sah aus wie immer: Jeans, T-Shirt, alte Turnschuhe und das Schwert am Gürtel.

»Sieh dir das mal an«, sagte ich und hielt ihm die Blätter hin. »Das ist ein Plan der Burg. Es sind alle Räume und Gänge eingezeichnet, die uns bekannt sind.«

Chris sah sich die Blätter gar nicht erst an, er hatte auch so verstanden. »Die uns bekannt sind?«

»Ja. Mitten in der Burg bleibt sozusagen ein weißer Fleck auf der Landkarte. Zwischen Thronsaal und Küche muss sich ein fünf mal fünf Meter großer Raum befinden, zu dem es keinen Eingang gibt.«

Es kam mir so vor, als ob unser Kommandeur eine halbe Ewigkeit schwieg. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er schon lange von dem »weißen Fleck« gewusst hätte. Aber dem war nicht so.

»Schlägst du vor, in diesen Raum einzudringen?«, fragte er.

»Ja, wir müssen die Wand durchbrechen.«

»Ob sie uns das gestatten?«

Irritiert sah ich ihm in die Augen. Seine einfache Frage hatte mir für den Moment die Sprache verschlagen. Chris war unser Kommandeur, der stärkste und mutigste Kämpfer auf der Insel. Hatte er womöglich vor den Außerirdischen kapituliert?

»Wir brauchen doch niemanden zu fragen«, entgegnete ich entschlossen.

»Dima, die Außerirdischen verbieten manchmal die harmlosesten Dinge. Sie haben zum Beispiel nichts gegen Sex auf den Inseln. Aber wenn sich ein Mädchen und ein Junge ineinander verlieben, passieren unschöne Sachen mit ihnen. Sie kommen auf den Brücken um, fallen versehentlich ins Meer oder verschwinden einfach über Nacht. Auf den Inseln ist es sehr schwierig, jemanden zu lieben. Ich glaube nicht, dass sie etwas gegen die Liebe an sich haben. Umso mehr, als man sich dieses Gefühl hervorragend zunutze machen kann. Liebende lassen sich viel leichter steuern als Menschen, die sich nur um sich selbst sorgen. Dennoch, ich weiß nicht wieso, aber bislang kam eine Liebesbeziehung hier immer einem Todesurteil gleich. Und wenn wir jetzt in diesen Raum eindringen, der offensichtlich nicht für uns bestimmt ist, würde das die Außerirdischen möglicherweise noch mehr herausfordern.«

So war das also.

»Dann entscheide selbst oder beratschlage dich mit Rita«, sagte ich leise und wandte mich ab.

Chris blickte mich für einen Moment schweigend an.

»Dummer Junge«, sagte er dann zärtlich und ein bisschen spöttisch. »Mir und Rita bleibt ohnehin nur noch

Was hat Inga damit zu tun?, dachte ich empört. Doch dann sagte ich, unerwartet für mich selbst: »Vielen Dank für die Anteilnahme, aber wir hatten eigentlich nicht vor, ohne Widerstand zu kapitulieren. Drei Jahre sind ein zu kurzes Leben, aber zu lange, um sie nur zu überstehen.«

»Dann weck die anderen auf«, schlug Chris vor und wirkte dabei auf seltsame Weise erleichtert.


Der Vorschlag, nach einer Tür zu dem ominösen Raum zu suchen, kam von Tolik. Und er war es auch, der sie schließlich fand. Ein Teil der Wand hob sich vom Hintergrund ab, sie wirkte etwas heller und hatte eine etwas andere Maserung.

Timur und Ilja gingen in den Keller, um Brecheisen zu holen, dort lagen zwei oder drei Stück herum. Seit einer Woche sperrten wir den Keller nicht mehr ab, denn selbst wenn unter uns noch ein Spion der Außerirdischen gewesen wäre, er hätte nichts zu berichten gehabt; die Verschwörung auf der Insel Nr. 36 war vorbei.

Dann machten wir uns daran, die Wand zu durchbrechen. Wir stießen auf mächtige Steine, die zum Glück mit einem minderwertigen Zementmörtel zusammengefügt worden waren. Dieser Mörtel war im Lauf der Jahre spröde und bröselig geworden.

Zunächst hatten wir noch versucht, die Steine zu zertrümmern, nach einiger Zeit jedoch kamen wir dahinter, dass es weitaus effektiver war, den Zement herauszuschlagen, die Brecheisen in den Zwischenräumen anzusetzen

Als durch die Fenster die ersten schüchternen Sonnenstrahlen hereinfielen, legte Chris die Stirn in Falten.

»Wir müssen uns beeilen, in einer halben Stunde schieben sich die Brücken zusammen«, sagte er besorgt.

»Machen wir heute gar kein Aufwärmtraining?«, fragte Timur heiser und holte zu einem neuen Schlag mit dem Brecheisen aus.

»Du wärmst dich doch schon seit einer Weile mit dem Brecheisen auf«, beschied Chris trocken.

»Verstanden«, brummte Timur und stemmte wild schnaubend und mit urwüchsiger Kraft einen gewaltigen Steinquader aus der Wand. Mit dumpfem Grollen fiel er auf der Innenseite des geheimnisvollen Raumes zu Boden und hinterließ ein gewaltiges Loch in der Wand. Wir hielten inne und starrten durch die finstere Öffnung.

Als Erster reagierte Chris. Er nahm Tolik das zweite Brecheisen aus der Hand und begann mit raschen Rammstößen, das Loch zu vergrößern. Die Steine ließen sich nun relativ leicht aus dem Mauerwerk schlagen. Die Stabilität jeder Mauer beruht auf ihrer geschlossenen Struktur, sobald man ihr ein Stück entrissen hat, ist auch der Rest dem Zerfall geweiht.

Stein um Stein fiel in die größer werdende Öffnung. Man hätte sich bereits hindurchzwängen können, doch nun hatte uns der Ehrgeiz gepackt: Unsere glühenden Brecheisen förderten in Windeseile die Umrisse der einstigen Tür zutage.

Als Chris keuchend sein Werkzeug sinken ließ, trat ich an die Öffnung heran, bückte mich und spähte hinein.

Zuerst sah ich überhaupt nichts, meine Augen mussten sich an die Dunkelheit gewöhnen. Aus dem schwarzen Loch strömte mir ein Schwall kalter Luft entgegen. Sie war weder stickig noch modrig, sondern einfach abgestanden. Jahrzehntelang hatte niemand diese Luft geatmet, und genau so fühlte sie sich an, als sei sie in ihrem steinernen Käfig abgestorben.

»Was ist da drin?«, fragte Meloman neugierig.

Ich schwieg. Aus der Dunkelheit starrten mich zwei Augen an, die zugleich tot und lebendig waren. Traurige, müde Augen.

»Hier ist ein Gemälde«, sagte ich schließlich. »An der gegenüberliegenden Wand steht ein großes Porträt. Gebt mir mal eine Fackel.«

Jemand reichte mir einen Holzstab, der mit wachsgetränktem Stoff umwickelt war und aus dem eine lodernde Flamme schlug. Die Fackel vor mich hin gestreckt, schlüpfte ich durch die Öffnung.

Der Raum war ziemlich groß. Es waren genau die fünf mal fünf Meter, die auf dem Plan gefehlt hatten. Die Wände waren nach oben hin abgeschrägt, sodass sich in etwa die Form eines vierkantigen, stumpfen Kegels ergab. Es waren keinerlei Fenster oder weitere Türen zu erkennen. Auf zwei Bretterkisten an der gegenüberliegenden Wand stand in einem hölzernen Rahmen das Gemälde, das einen bärtigen Mann mit Dornenkrone zeigte: Jesus Christus. An der Wand hingen noch einige Ikonen.

»Das ist eine Kirche, eine Kapelle«, sagte ich im Flüsterton zu Chris, der nach mir in den Raum gestiegen war.

Nach und nach leuchtete ich mit der Fackel alle Teile des Raumes aus: ein zersprungenes, umgestürztes Fass; noch einige Bretterkisten; leere Dosen, Konserven womöglich; und etwas Weißes, das auf dem Boden verstreut lag und mit halb verrotteten Kleidungsresten bedeckt war. Mir wurde schlecht.

Es waren drei oder vier, die in dem eingemauerten Raum gestorben waren. Zwei von ihnen lagen direkt neben mir, ihre Skelette waren ineinander verschlungen, als hätten sie sich im Sterben dicht aneinandergedrängt und umarmt. Und in der entfernten Ecke des Raums lagen weitere jämmerliche Häuflein aus Knochen und Stofffetzen.

»Grausam«, hauchte Chris stimmlos und fasste mich am Arm, als er die bleichen Gerippe erblickte. »Sie wurden bestialisch umgebracht, Dima.«

»Sie haben sich selbst umgebracht«, entgegnete ich schockiert, als mir klar wurde, was hier geschehen war.

An der Wand stand ein durchgerosteter Eimer, der versteinerte Mörtelreste enthielt. Daneben lagen einige Steinquader. Die Tür war von innen zugemauert worden, von außen hatte man sie lediglich verputzt.

Chris bückte sich und hob etwas vom Boden auf.

»Sieh mal, Dima, ein Schreibheft.«

Wir hatten Glück. Das Papier war gut erhalten. Der Umschlag war zwar vergilbt und die Seiten ein wenig zerfleddert, aber die Buchstaben konnte man selbst im schwachen Licht der Fackel einwandfrei erkennen.

Timur, der die Kapelle als Dritter betreten hatte, stieß einen gedehnten Pfiff aus, als er die Skelette erblickte. Viel interessanter schienen ihm jedoch die Bretterkisten zu sein, an denen er sich sogleich zu schaffen machte.

»Chris! Da sind Waffen drin!«, rief Timur begeistert.

Der Waffenfund ließ uns kalt. Als hätten wir uns abgesprochen, verließen Chris und ich den Raum. Kaum waren wir draußen, wurden wir von Tolik und Meloman abgelöst, die mit vor Neugier leuchtenden Augen in die Kapelle glitten. Chris ging zum Fenster und drückte mir das Schreibheft in die Hand.

»Da... Lies!«

Im Gang standen nur noch die Mädchen, die Jungen stöberten zwischen den Kisten herum. Das Krachen splitternden Holzes drang nach draußen und - »Wow!« - ein begeisterter Aufschrei von Ilja.

»Lies vor, Dima«, sagte schüchtern Maljok, der plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Vielleicht hatte er dasselbe Gefühl wie Chris und ich: dass das, was in dem Heft geschrieben stand, viel wichtiger war als alles, was sonst in der Kapelle zu finden war.

Die Zeilen waren mit einer schnörkeligen, sauberen Handschrift, also vermutlich von einem Mädchen geschrieben worden. Die Tinte war in den Jahren nicht verblichen, sondern eher noch dunkler geworden.

»Sechster Juli neunzehnhundertsiebenundvierzig«, las ich vor. »Vor zwanzig Tagen haben wir unsere Union gegründet...«

Ein Jubelschrei unterbrach mich, und Timur steckte den Kopf durch die Türöffnung. »Chris, hier sind zwei Maschinengewehre!«, verkündete er mit dem Stolz eines erfolgreichen Trophäenjägers.

Wir ignorierten Timurs Maschinengewehre.

Mit unsicherer Stimme las ich die ersten Zeilen vor: »Umgeben von den feindlichen Kräften der kapitalistischen Welt hat unsere Insel sich dazu entschlossen, nicht aufzugeben, sondern das Banner der proletarischen Revolution hochzuhalten …«

So seltsam rührig diese Worte Jahrzehnte später auch klingen mochten, lösten sie doch vor allem tiefe Traurigkeit in mir aus.

8 DAS TAGEBUCH DER KOMMUNARDEN

Die Mädchen und Jungen, die vor fünfundvierzig Jahren auf der Insel gelebt hatten, hielten die Außerirdischen für Marsmenschen. Außerdem wähnten sie sich auf der Erde, irgendwo im Pazifischen Ozean. Das waren auch schon die wesentlichen Unterschiede, ansonsten war bei ihnen fast alles genauso wie bei uns.

Sie hatten genau wie wir einen entschlossenen und mutigen Kommandeur, nur hieß er Mischa und nicht Chris. Wie wir hatten sie den Entschluss gefasst, die Inseln zu vereinigen, nicht zu einer Konföderation, sondern zu einer Union, was nur ein anderer Name für ein und dasselbe war. Sie hatten auch ein eigenes Schiff, das etwas größer als die Aliens Nightmare war. Auch in ihren Reihen fand sich ein Verräter, der im Keller »über Funk« Kontakt zu den Außerirdischen hielt. Und in ihrer Union hatte sich so wie bei unserer Konföderation eine Revolte ereignet, in deren Folge sie sich auf ihrer Insel verbarrikadieren mussten.

Die Kommunarden - so nannten sich diese Jungen und Mädchen - verfügten über Waffen, die während des Zweiten Weltkriegs auf die Insel gelangt waren. Vielleicht aus diesem Grund wurde zur damaligen Zeit viel mehr gestorben als zu unserer; alle zwei bis drei Tage kam »Ersatz« auf der Insel Nr. 36 an.

Unsere Wege verliefen vollständig parallel, wir verwendeten lediglich verschiedene Begriffe für dieselben

Die Geschichte der Inseln drehte sich im Kreis. Anscheinend waren auch diese Jungen und Mädchen nicht die Ersten gewesen, die den Versuch unternahmen, die Inseln zu vereinigen.

Allerdings wären wir wohl kaum dazu imstande gewesen, uns im finstersten Raum der Burg, der Kapelle, zwischen alten Ikonen lebendig einzumauern. Sie hatten es todesmutig getan, nachdem ihnen klar geworden war, dass sie keine Chance hatten, zu siegen. Ich weiß nicht, was sie dazu bewogen hat. Katja, das Mädchen, von dem die Aufzeichnungen stammten, erwähnte nichts davon. Als hätte der Satz »Wir beschlossen, uns in der Kapelle zu verbarrikadieren« schon alles erklärt. Bemerkenswerterweise hatten die Kommunarden darauf verzichtet, die religiösen Symbole, die eigentlich nicht in ihr Weltbild passten, aus der Kapelle zu entfernen.

Ich konnte mich nicht von der Lektüre losreißen; immer weiter blätterte ich die trockenen, brüchigen Seiten um und zuckte jedes Mal zusammen, wenn ich Episoden vorlas, die mir bekannt vorkamen.

»Edik und Vitja von der Insel Nr. 12 haben Dinka in ihre Kammer gezerrt und vergewaltigt. Da haben Mischa und Rinat sich mit Maschinengewehren bewaffnet und sind auf die Brücke gestürmt...«

»Als wir uns zurückzogen, schoss Willi einen Pfeil aus seinem Bogen ab und tötete Semjon. Wir waren überhaupt nicht auf der Hut gewesen, da wir wussten, dass sie keine Patronen mehr hatten. Außerdem hatten wir gedacht, dass Willi als Sohn eines Arbeiters zu uns halten würde. Jetzt wissen wir, dass er ein Faschist war. Die

»Wir werden jeden Tag angegriffen. Man wirft uns vor, wir seien schuld an dem ganzen Schlamassel. Dabei wollten wir nur das Beste...«

Seite für Seite las ich laut vor. Inzwischen hatten sich alle um mich herum versammelt, auch Timur, der ein Maschinengewehr vom Typ PPSch-41 in Händen hielt, und Ilja, der mit einem schweren gelben Klotz herumspielte, bis Meloman die Vermutung äußerte, dass es sich dabei um eine Dynamitstange handeln könnte. Auch die Mädchen hörten zu. Olja weinte leise und schmiegte sich an Inga. Ritas Miene hatte sich verfinstert, in ihren Augen lag Bitterkeit und Trauer.

»Nick hat gesagt, ich sei das letzte Mädchen auf der Insel und müsse sie deshalb alle ›inspirieren‹. Mischa hat gesagt, ich solle das selbst entscheiden. Ich habe zugestimmt, aber ich ekle mich davor und empfinde es überhaupt nicht als angenehm. Pak schaut mich gekränkt an und sagt, dass er keine Lust habe, dabei wäre ich ihm am wenigsten böse...«

»Heute ist uns das Wasser ausgegangen. Nick hat versucht, die Mauer aufzubrechen. Mischa hat nichts dazu gesagt, und Pak hat versucht, Nick zu helfen. Aber der Zement ist schon ausgehärtet, sie haben es nicht geschafft. Wahrscheinlich sind wir vom Hunger so geschwächt...«

»Pak hat sich gestern mit Mischas Pistole erschossen. Kommunarden machen so etwas nicht, aber es tut mir trotzdem leid um ihn. Ich weine schon den ganzen Tag...«

»Ein erbärmlicher Gestank erfüllt den Raum, und mein Kopf schmerzt. Mischa hat gesagt, dies sei die letzte Kerze,

Hier endeten die Aufzeichnungen. Bewegt ließ ich das Heft sinken und sah Chris erwartungsvoll an, als könnte er noch etwas hinzufügen. Doch der Kommandeur blickte nur nervös zur Uhr.

»Vorwärts, auf die Brücken!«, befahl er energisch. »Sonst werden wir noch in der Burg überrannt.«

Das Maschinengewehr umgehängt, eilte Timur die Treppe hinauf zum Wehrgang. Die anderen folgten ihm. Bevor ich die Burg ebenfalls verließ, legte ich das Tagebuch sorgsam auf den Tisch im Thronsaal.

Zwar wurden wir nicht in der Burg überrannt, aber einige feindliche Kämpfer befanden sich bereits auf unserer Seite der Brücke auf dem Vormarsch. Als sie jedoch unsere Maschinengewehre erspähten, machten sie auf dem Fuß kehrt und suchten das Weite. Toms Pistole hatte ihnen schon gehörigen Respekt vor Schusswaffen beigebracht. Timur klammerte sich an die PPSch-41 und sah ihnen kopfschüttelnd hinterher.

»Bedauerst du, dass es nicht zum Kampf gekommen ist?«, fragte ich.

»Keineswegs«, erwiderte Timur und streckte mir das Maschinengewehr hin. »Damit kann man nicht mal einen Hirsch aus zwei Metern Entfernung erschießen. Der Verschluss ist komplett durchgerostet.«

Nachdenklich beobachtete ich die flüchtenden Jungen. Die Sonne schien ihnen auf den Rücken, sie hätten hervorragende Zielscheiben abgegeben.

»In zwei oder drei Tagen werden sie dahinterkommen«, orakelte ich.

»Na und, dann müssen wir uns in diesen zwei, drei Tagen eben etwas Neues ausdenken«, entgegnete Timur gelassen.


Es war einer jener Tage, die sich quälend langsam ihrem Ende entgegenschleppten. Sehnsüchtig erwarteten wir den Einbruch der Dunkelheit und das Ende des mühseligen Wachdienstes. Die Sonne wollte einfach nicht untergehen, als würde sie in ihrer Bahn zum Horizont von unsichtbarer Hand gebremst.

Als es endlich Abend wurde und die Brücken begannen, sich knarrend auseinanderzuschieben, war mir danach, allein zu sein. Während Tolik und Meloman an den Strand gingen, um zu baden, und Chris sich mit Timur auf den Wehrgang begab, um neue Pläne zu schmieden, stieg ich auf den Wachturm hinauf.

Warum es wohl auf allen Burgen einen Wachturm gibt? Dient er wirklich ausschließlich zu Beobachtungszwecken? Mir scheint, der Wachturm einer Burg bildet auch eine Art ästhetisches Gegengewicht zur schwerfälligen, massiven Erscheinung des Hauptbaus. Eine Burg muss uneinnehmbar und furchteinflößend wirken, schließlich ist sie kein Ferienhaus, sondern in erster Linie eine mehr oder weniger komfortable Befestigungsanlage. Aber anscheinend bleibt in uns der Wunsch nach Schönheit auch dann noch lebendig, wenn wir umgeben sind von dicken Mauern und Tonnen von Stein und

Am Rand der Aussichtsplattform stützte ich mich auf das glatte Steingeländer, das von den Berührungen Tausender Hände vor mir ganz blank poliert war. Meine Gedanken kreisten um die Jungen und Mädchen, die vor einem halben Jahrhundert hier gelebt hatten. Sie hatten es wohl noch schwerer gehabt als wir. Von fremdplanetarischen Eroberern, die uns zumindest aus Filmen und Büchern ein Begriff waren, hatten sie noch nie etwas gehört, und auf die Idee, dass sie gar nicht mehr auf der Erde waren und ihre Kopien dort weiterlebten, wären sie im Traum nicht gekommen.

Was mochten sie empfunden haben, als es sie aus ihrer vom Krieg verwüsteten Heimat auf die Inseln verschlug? Vielleicht waren sie anfangs sogar begeistert von der grandiosen Märchenkulisse, die sie umgab? Das Meer, die Inseln, Burgen, kunstvoll gefertigte Waffen - es muss ein böses Erwachen gewesen sein, als sie begriffen, dass der Krieg sie erneut eingeholt hatte, dass sie dazu verurteilt waren, zu töten und zu sterben, wie zum Hohn unter einer strahlenden Sonne, über zärtlich wogenden Wellen, auf grazil geschwungenen, von einer warmen Brise umwehten Brückenbögen.

»Dima.«

Erschrocken fuhr ich herum. Inga war so leise näher

»Bist du traurig?«, fragte sie.

»Wie kommst du darauf?«

Der Versuch, meine bedrückte Stimmung mit dieser Gegenfrage zu kaschieren, scheiterte kläglich.

»Ich bin auch traurig.«

»Wegen des Tagebuchs, oder?«, fragte ich.

Inga nickte. »Die Außerirdischen haben alles genau durchdacht«, sagte sie leise und starrte aufs Meer hinaus. »Sie kennen jeden unserer Schritte, aber nicht deshalb, weil es Verräter unter uns gibt. Auf den Inseln wiederholt sich einfach alles. Sie haben unsere Reaktionen in den verschiedenen Situationen längst studiert. Sie wissen genau, was wir wann tun und lassen.«

»Vielleicht geht es ihnen ja eben darum.«

»Vielleicht, ja.«

Lange sah ich Inga in die Augen. Es ging mir durch den Kopf, dass ich um mich selbst fast keine Angst hatte. Auch um Chris oder Rita hatte ich keine Angst. Aber wenn Inga etwas zustieße, würde ich mich die Brücke hinabstürzen. Ich liebte sie beinahe und durfte doch gar nicht darüber nachdenken. Sonst würde das »beinahe« womöglich noch verschwinden, und ich war fest entschlossen, nicht das geringste Risiko einzugehen. Im Zusammenhang mit Inga würde ich gegen keine Regel des Großen Spiels verstoßen. Ich musste mich mit den drei oder vier Jahren abfinden, die wir auf den Inseln würden leben können. Die

»Dima, du musst dir etwas einfallen lassen! Du kannst das, ich weiß es. Wir dürfen nicht mit Maschinengewehren auf unsere Nachbarn schießen, das ist barbarisch. Und wir dürfen auch nicht versuchen, alle zu vereinigen, das ist dumm. Denk dir etwas anderes aus, Dima.«

Sie wandte sich ab und ging zur Treppe. Ich blieb sprachlos auf der Plattform zurück.

Erst als Inga schon nach unten verschwand, presste ich hilflos hervor: »Ich versuche es. Ich werde mir Mühe geben, ehrlich.«

Sie hatte recht. Nach den Regeln der Außerirdischen konnten wir nicht gewinnen, und ihre Regeln konnten wir nicht ändern. Wir mussten das ganze Regelwerk zerstören und aus diesem Kreislauf ausbrechen.

Wir mussten die Brücken sprengen!


Dynamit ist ein sehr eigenartiger Sprengstoff. Das mussten wir feststellen, als wir versuchten, ihn für unsere Zwecke zu nutzen. Zunächst schleppten wir eine fast volle Kiste der gelben Stangen auf die Westbrücke und verlegten eine Zündschnur, die wir aus pechgetränktem Hanfwerg gebastelt hatten. Unsere Gegner, die in zwanzig Meter Entfernung auf der anderen Seite der Brücke standen, verfolgten die Sprengvorbereitungen mit besorgten Mienen. Dann, als sich Chris daranmachte, die Lunte anzuzünden, nahmen sie schleunigst Reißaus.

Langsam brannte die Zündschnur ab und... nichts passierte. Eine Viertelstunde lang warteten wir auf eine Explosion, dann näherte sich Timur zögerlich dem Sprengsatz. Zunächst betrachtete er aus ein paar Schritten Entfernung misstrauisch die zu einem Haufen aufgeschichteten Klötzchen, dann trat er heran und begann die Dynamitstangen von der Brücke zu werfen. Nachdem fünf oder sechs der »Blindgänger« im Wasser versunken waren, winkte er uns herbei.

»Das ist kein Dynamit, sondern irgendein Müll«, moserte er enttäuscht. »Das Zeug denkt gar nicht daran, zu explodieren, obwohl es brannte.«

»Es brannte?«, fragte ich erstaunt.

»Ja, es brannte, aber wahrscheinlich ist es verfault, genau wie die Maschinengewehre. Das ist kein Sprengstoff, sondern Grießbrei.«

»Grießbrei brennt aber nicht«, entrüstete sich Ilja, den die Idee mit der Sprengung völlig faszinierte.

Während wir um den missglückten Sprengsatz herumstanden und noch über die Ursachen dafür diskutierten, erklärte Tom Chris etwas auf Englisch. Zuerst schien Chris ihn gar nicht zu beachten, dann plötzlich wurde er hellhörig.

»Hört zu, Tom hat etwas Interessantes gesagt. Nicht jeder Sprengstoff lässt sich einfach mit Feuer entzünden. Für bestimmte Sorten braucht man einen Detonator.«

Wieder einmal überraschte uns der Australier mit seinem Spezialwissen. Nach der Geschichte mit dem Rauschgift war er merklich darum bemüht, sich zu rehabilitieren.

»Und wo kriegen wir einen Detonator her?«, fragte Timur.

»Versuchen wir’s mit Schießpulver«, erwiderte Chris. »Die Maschinengewehre sind zwar im Eimer, aber die Patronen sind noch heil.«

Tatsächlich hatten wir in der Kapelle Unmengen von Patronen gefunden, aus denen sich mindestens ein Kilo Schießpulver gewinnen ließ.

Es gab keine Einwände. Selbst Timur, der bis zuletzt mit allen Mitteln versucht hatte, die Maschinengewehre wieder instand zu setzen, akzeptierte den Plan. Zusammen mit Chris machte er sich auf den Weg zur Burg, um den Detonator zu besorgen, wir anderen blieben auf der Brücke, um die Feinde in Schach zu halten, die zurückgekehrt waren und sich frech grinsend über unseren Misserfolg amüsierten. Auf der anderen Brücke hielten Meloman und Maljok die Stellung. Mit Toms Pistole bewaffnet, sollte das kein größeres Problem für sie sein.

Meine Idee, die Brücke zu sprengen, hatte rasch allgemeine Zustimmung gefunden. Das lag sicherlich auch daran, dass wir auf unserer Schiffsreise die französische Insel kennengelernt und mit eigenen Augen gesehen hatten, wie sehr die Jugendlichen dort davon profitierten, anstelle von drei nur zwei Brücken bewachen zu müssen. Ich selbst hatte keinerlei Zweifel an der Richtigkeit meines Plans gehegt.

Nun aber, da die Geschäftigkeit der Vorbereitungen hinter uns lag, kam ich ins Grübeln. Wir wussten schließlich nicht, was nach der Sprengung auf der Insel Nr. 4 tatsächlich passiert war. Vielleicht war es ja doch zu irgendeiner Art von Bestrafung gekommen. Zudem konnten wir sicher sein, dass die Außerirdischen unsere

Aber es war schon zu spät, um noch einmal zurückzurudern: Die Pulverkuriere kamen bereits zurück. Timur hatte eine kleine Blechdose in der Hand - es war eine der Wurstkonserven, von der sich die unseligen Kommunarden in der Kapelle ernährt hatten.

»Reicht das?«, fragte er und hielt mir die Blechdose unter die Nase.

Das Gefäß war zu drei Vierteln mit einem bräunlich grünen Pulver gefüllt.

»Das soll Schießpulver sein?«, fragte ich ungläubig, denn nach meiner Vorstellung hatte Schießpulver weiß wie Mehl oder Zucker zu sein.

Ich weiß nicht, was für eine Vorstellung von Schießpulver die anderen hatten, Timur jedenfalls ließen meine Zweifel völlig unbeeindruckt.

»Es ist Schießpulver. Wir haben eine Patrone ausgeleert und das Zeug angezündet. Schau!«, sagte er und streckte mir die Hand entgegen.

Seine Finger waren gerötet und an den Kuppen rußgeschwärzt.

»Ich habe die Hand nicht rechtzeitig weggezogen. Es war nur eine ganz kleine Menge.«

Beeindruckt beugte sich Tolik über die Dose und wäre dabei beinahe mit der Nase im Detonator gelandet. Timur stellte die Blechdose neben dem Dynamit auf den Boden, und Chris spähte triumphierend zu unseren Feinden hinüber, in deren zuvor noch schadenfrohe Mienen

Ilja klopfte mir von hinten auf die Schulter. »Dima, vielleicht sollten wir die Brücke lieber unten am Ansatz sprengen. Was meinst du, was das für ein Getöse gibt.«

Ich schüttelte den Kopf. Es war nicht unsere Aufgabe, ein größtmögliches Getöse zu veranstalten, sondern es ging nur darum, die Brücke unbenutzbar zu machen. Je geringer die Zerstörungen, die wir anrichteten, desto geringer würde auch der Zorn der Außerirdischen ausfallen. Davon hatten sich sicher auch die Franzosen leiten lassen, als sie ihre Brücke in der Mitte sprengten.

Timur schichtete die Dynamitstangen kunstvoll um die Blechdose, dann steckte er eine neue Zündschnur ins Schießpulver.

»Fertig.«

Alle schwiegen.Seltsam,beim vorhergehenden Sprengversuch hatten wir wohl eine Art Vorahnung gehabt, dass es nicht klappen würde. Diesmal jedoch sah unsere selbst gebastelte Sprengbombe schon fast professionell aus. In unseren Gesichtern stand Zuversicht. Die Jungen von der Nachbarinsel wirkten dagegen hektisch und besorgt. Sie hatten längst begriffen, dass sich ernsthaftes Unheil über der Brücke zusammenbraute, und traten abermals den Rückzug an.

»Macht euch vom Acker«, sagte schließlich Tolik. »Ich zünde die Lunte an.«

Alle waren erleichtert, dass Tolik, der mit Abstand schnellste Läufer unter uns, diese Aufgabe übernahm, denn die Zündschnur war diesmal beängstigend kurz geraten. Das Hanfwerg, aus dem Timur sie zusammengedreht hatte, war uns ausgegangen.

Wir gingen nicht ganz bis zur Burg hinunter, sondern blieben im unteren Bereich der Brücke stehen. Dass wir uns nicht ins Innere unserer Festung zurückzogen, war an sich bereits eine gewisse Provokation der Außerirdischen, aber wir wollten das Spektakel auf keinen Fall versäumen. Erst später wurde uns klar, wie unvorsichtig das von uns war.

Tolik, der gewartet hatte, bis wir unten angekommen waren, machte sich jetzt an der Lunte zu schaffen. Das Herz schlug mir bis zum Hals, denn plötzlich hatte ich das unerklärliche Gefühl, dass der Sprengsatz im nächsten Moment hochgehen würde. Ein Blitz, ein Knall, und Tolik würde für immer verschwinden.

Natürlich bildete ich mir das in der Aufregung nur ein. Alles lief glatt. Tolik steckte die Zündschnur in Brand und spurtete los. Schon nach kurzer Zeit standen wir alle beieinander und warteten, was passieren würde.

»Gleich knallt’s!«, hechelte Tolik.

Die Sekunden verrannen.

»Wenn sich wieder nichts rührt, gehe ich diesmal aber nicht dort hinauf«, nörgelte Timur grimmig. »Womöglich glimmt die Lunte nur langsam durch, und das Zeug geht erst in ein paar Minuten...«

Wumm!!!

Der Boden unter unseren Füßen erzitterte. Auf der Brücke oben entflammte ein riesiger Feuerball, aus dem in alle Richtungen Trümmerteile in die Luft schossen. Unter dem gewaltigen Donnerhall, der in Wellen über uns hinwegrollte, duckten wir uns zusammen, als würden die Marmorbrocken, die mit Getöse ins Meer fielen, direkt auf uns herabregnen.

Die Brücke geriet ins Schwingen, und zwar so heftig,

Wir hatten die Sprengkraft der unscheinbaren Dynamitstangen gewaltig unterschätzt. Die Hälfte davon hätte für die Sprengung leicht gereicht. Langsam pendelten die gegenläufig schwingenden Brückenhälften sich aus.

»Hilfe!«, schrie jemand verzweifelt.

Es war Iljas Stimme. Erschrocken blickte ich mich um. Offenbar war er übers Geländer gestolpert, als der Boden unter unseren Füßen zu beben begonnen hatte. Jetzt hing er über dem Wasser und hielt sich mit beiden Händen an einer Säule der Balustrade fest.

Auf den ersten Blick sah die Situation gar nicht so gefährlich aus, da die Brücke in diesem Bereich nur etwa fünf oder sechs Meter über das Meer ragte. Und welcher Junge wäre nicht schon einmal im Schwimmbad vom Fünfmeterturm gesprungen?

Leider befanden wir uns aber nicht im Schwimmbad, und wenn Ilja jetzt losließ, würde er nicht vom Fünfmeterturm, sondern von der Brücke stürzen. Und Stürze von der Brücke endeten auf den Inseln immer gleich, egal ob man aus hundert oder fünf Metern Höhe fiel.

Chris war als Erster bei Ilja. Er beugte sich über die Balustrade, packte ihn am Arm und zog ihn auf die Brücke zurück. Merkwürdigerweise sah Iljas Gesicht auf einmal verändert aus, irgendwie jünger.

Mit den Augen blinzelnd sah er sich verwirrt um. »Scheiße, meine Brille ist runtergefallen!«, fluchte er entsetzt. »Was soll ich denn jetzt machen?«

Chris zuckte mit den Achseln.

»Hauptsache, dir ist selbst nichts passiert«, beschwichtigte Tolik.

Ilja nickte und verzog das Gesicht. Er sah aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Stattdessen fragte er: »Was ist mit der Brücke? Ich sehe nichts.«

»Die ist hinüber«, sagte Timur und grinste zufrieden.

Die beiden Brückenhälften waren nun durch einen etwa zwanzig Meter breiten Zwischenraum getrennt, in dem noch einige dicke Rauchschwaden waberten. Auf dieser Brücke war das Große Spiel zu Ende.

»Und wie geht’s jetzt weiter?«, fragte Ilja.

Niemand antwortete.

9 WINTEREINBRUCH

Am nächsten Morgen weckte mich eine innere Rastlosigkeit. Das kam häufiger vor, auf der Insel wurde man in aller Regel aus dem Schlaf gerissen, bevor man richtig ausgeschlafen hatte. Am gestrigen Abend hatten wir noch lange zusammengesessen, innerlich aufgewühlt von unserer erfolgreichen Sabotageaktion. Erst gegen zwei Uhr nachts hatte Chris alle ins Bett geschickt.

Schlaftrunken hob ich den Kopf und spähte zum Fenster. Es war schon überraschend hell draußen, und die Brücken mussten sich längst zusammengeschoben haben. Warum hatte mich bloß keiner zur Wache gerufen?

Mit einem Satz sprang ich aus dem Bett und begann mich hastig anzuziehen. Womöglich hatte Chris beschlossen, mit weniger Kämpfern auszurücken, jetzt da die Westbrücke nicht mehr bewacht werden musste. Aber warum wurde die unerwartete Verschnaufpause ausgerechnet mir verordnet und nicht Ilja oder dem vor Kurzem verwundeten Meloman? Irgendwie kränkte mich das in meiner Ehre.

Während ich in die Schuhe schlüpfte und das Schwert hastig am Gürtel befestigte, beschloss ich, der Sache unverzüglich auf den Grund zu gehen.

Irgendetwas stimmte nicht.

Mich auf der Stelle drehend, sah ich mich in meiner wohlbekannten Kammer um. Dann trat ich zum Fenster:

Ein leichter Schauer durchfuhr mich, nicht vor Angst, sondern vor Kälte. Normalerweise wurde mir immer schnell warm, nachdem ich mich morgens angezogen hatte, selbst wenn es draußen noch dunkel war.

Das war es! Es herrschte eine ungewohnte Kälte in meiner Kammer, sicher nicht über zehn Grad. So kühl war es selten auf den Inseln, nicht einmal im Freien, bei Regen und heftigem Wind. Außerdem schien das Wetter draußen im Augenblick gar nicht so schlecht zu sein.

In der vagen Hoffnung, dass sich die Kälte nur in der Burg und in den steinernen Wänden meiner Kammer verschanzt hatte, öffnete ich das Fenster. Doch von draußen schlug mir noch viel kältere Luft entgegen; ich begann zu schlottern. Der Luftschwall, der von außen hereindrang, schien mit jedem Moment immer noch eisiger zu werden. Völlig konsterniert kletterte ich übers Fensterbrett auf den Wehrgang hinaus.

Nur wenige Meter entfernt stand Chris ans Geländer gelehnt und sah äußerst ungewohnt aus. Er steckte in einem kanariengelben Wollpullover, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte. Den Kopf in den Nacken gelegt, starrte er angestrengt in den Himmel.

Als ich zu ihm trat, sah er zwar aus dem Augenwinkel kurz in meine Richtung, verharrte aber in seiner beobachtenden Haltung und sagte nichts.

»Wo sind die anderen?«, fragte ich verstört.

»Ilja und Tom sind beim Fischen, der Rest schläft«, erwiderte er knapp.

»Und wer ist auf den Brücken?«, fragte ich beinahe vorwurfsvoll.

Chris grinste. »Niemand. Es ist zu kalt. Die Brücken haben sich nicht zusammengeschoben, keinen Zentimeter, soweit ich das von hier aus beurteilen kann.«

Natürlich. Ich hatte gar nicht daran gedacht, dass sich der Spalt zwischen den Brücken nur schloss, wenn diese von der Sonne aufgeheizt wurden.

»Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass es hier so kalt werden kann«, murmelte ich kleinlaut, wie um meinen etwas großspurigen Ton von vorhin zu entschuldigen.

»Hätte ich auch nicht für möglich gehalten«, sagte Chris nickend.

Die Kälte kam so überraschend, als hätte man uns über Nacht von unserer tropischen Insel in die sibirische Taiga verpflanzt. Mich fröstelte.

»War es früher nie so kalt?«, fragte ich.

»Nein. Aber früher haben wir auch keine Brücken in die Luft gejagt.«

Die Arme vor der Brust verschränkend, fasste ich mich mit den Händen an den Schultern. Eine dumme Pose, als ob einem davon wärmer würde. Tom hatte sich auf diese Weise zusammengekauert, als er auf der Insel gelandet war und sich plötzlich fremden Mädchen und Jungen gegenüber gesehen hatte.

»Chris, haben wir noch warme Sachen zum Anziehen?«

»Frag Rita, die findet schon irgendwas.«

Schlotternd strebte ich der nächsten Tür zu. An der

Chris schüttelte den Kopf, als hätte er meine ironische Frage ernst genommen.

»Die Sonne suche ich. Es sind kaum Wolken am Himmel, trotzdem sieht man nirgends die Sonne. Ist doch seltsam, oder?«


Nach dem Mittagessen begann es zu regnen. Zunächst war es nur ein feiner Niesel, der unsichtbar und lautlos vom Himmel kam. Wir hatten uns schon am Vormittag im Thronsaal versammelt, unterhielten uns, tranken Tee und versuchten, die in unsere Knochen kriechende Kälte, so gut es ging, zu ignorieren. Rita hatte alle Vorräte an warmer Kleidung, die sich in der Burg fanden, unter uns verteilt. Es waren Pullover, Jacken und Mäntel derjenigen Inselbewohner, die zur Winterszeit von der Erde entführt worden waren.

Mir hatte Rita eine hochwertige Allwetterjacke aus schwarzem und silbergrauem Stoff zugedacht, in die unzählige Taschen eingenäht waren. Das edle Stück sah aus wie ein Raumanzug. Meine Freunde auf der Erde wären vor Neid geplatzt, wenn sie mich darin hätten sehen können. Die Jacke war eine Nuance zu klein und stand mir dadurch, wie ich fand, besonders gut. Ein praktisches Detail bestand darin, dass man die Kapuze und die Ärmel mit einem Reißverschluss abtrennen konnte, so würde ich im Gefecht in meiner Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt sein. Dieser Gedanke war allerdings ein wenig abwegig, denn bei den herrschenden Temperaturen war an Kämpfe überhaupt nicht zu denken. Der

Als die Mädchen für einen Moment den Saal verlassen hatten, nutzte Meloman die Gelegenheit, um einen schmutzigen Witz zu erzählen. Wir brüllten vor Lachen, nur Tom blickte verständnislos in die Runde, weil er kein Wort verstanden hatte. Chris übersetzte den Witz ins Englische, und als Tom zu lachen anfing, prusteten auch wir anderen erneut los, bis uns die Tränen in den Augen standen. Dann, als wir nach dem unerwarteten Heiterkeitsausbruch alle erschöpft verstummten, erfüllte eine vollkommene Stille den Raum, vor deren Hintergrund sich das leise Rauschen des Nieselregens abhob.

Mit dem Auge kaum wahrnehmbare, feine Wassertropfen wurden vom Wind zerstäubt und schlugen sich als trüber Film auf den Fenstern nieder. Nach einigen Minuten hatten sich zu Füßen der Burg wie aus dem Nichts erste kleine Pfützen gebildet, deren Oberflächen sich durch den Niesel fein kräuselten und zu zittern schienen.

Tolik und ich standen nebeneinander am Fenster, pressten die Nasen an die kalte Scheibe und schauten eine Weile schweigend dem Regen zu. Dann schob Tolik plötzlich den Riegel zurück und zog am Griff. Das Fenster klemmte und ließ sich nur mit einem heftigen Ruck öffnen, als hätte sich der Holzrahmen in der Kälte bereits verzogen.

Durch das geöffnete Fenster ergoss sich ein Schwall eisiger, von herbstlicher Klammheit getränkter Luft in den Raum. Der Himmel war bis zum Horizont mit einem dichten, grauen Wolkenschleier verhangen. Tom begann

»Schweinekalt!«, kommentierte Chris mit finsterer Miene.

Keiner sagte mehr ein Wort, bis Tolik das Fenster so energisch wieder zustieß, dass die Scheiben bedrohlich schepperten.

»Vielleicht ist das ja der hiesige Winter«, mutmaßte Ilja und sah uns heftig zwinkernd einen nach dem anderen an. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass er ohne Brille Meloman nicht von Tolik und mich nicht von Timur unterscheiden konnte.

»Ja, es ist Winter«, pflichtete Timur bei. »Fünfzig Jahre lang war Sommer, und jetzt folgen eben fünfzig Jahre Winter.«

»Zwischen Sommer und Winter müsste aber normalerweise noch der Herbst kommen«, entgegnete Chris leise. »Ein so abrupter Wintereinbruch ist doch nicht normal.«

»Wir werden bestraft.«

Fast hatten wir schon vergessen, wie Maljoks Stimme klingt. Völlig unerwartet hatte er sich in die Diskussion eingeschaltet. Schon seit längerer Zeit war er bei Zusammenkünften und Unterhaltungen nur mehr als schweigender Zuhörer beteiligt gewesen. Meist saß er in irgendeiner Ecke und schrak zusammen, wenn man ihn ansprach.

»Was willst du damit sagen?«, fuhr Chris ihn an. »Weißt du etwas?«

»Ja«, erwiderte Maljok und fuhr leise, aber bestimmt fort: »Ich habe sie einmal gefragt, was sie mit denen machen, die sich nicht unterordnen wollen. Und sie haben

»Das hättest du wirklich mal früher sagen können«, zürnte Chris.

Maljok wurde noch ein wenig kleiner, als er ohnehin schon war. »Es ist mir eben erst wieder eingefallen. Außerdem haben sie es ja nicht im Zusammenhang mit den Brücken gesagt. Ich hätte gedacht, dass man dafür schon etwas Schlimmeres anstellen müsste.«

»Könntest du nicht mal nachfragen, Maljok?«, sagte Chris ätzend. Unser sonst so beherrschter Kommandeur blickte den Jüngeren mit einem bösen Grinsen an. »Du könntest doch in den Keller gehen und ein bisschen mit ihnen plaudern.«

Maljok wurde auf einen Schlag kreidebleich. »Alles, nur das nicht«, stammelte er panisch. »Die bringen mich um. Schließlich habe ich sie verraten, und das wissen sie auch. Sie können Stromstöße durch die Tafel jagen, die man berühren muss, um mit ihnen zu sprechen.«

Chris hatte sich bereits wieder im Griff und sah Maljok nachdenklich an. »Wie du meinst«, sagte er schließlich. »Trotzdem habe ich den geistigen Nährwert dieser Bestrafung noch nicht ganz verstanden. Wenn sie uns mit der Kälte umbringen wollten, müssten sie die ganzen Inseln in einen Gefrierschrank verwandeln. Dann würden auch diejenigen draufgehen, die ihnen gehorchen. Warum so kompliziert?«

»Sie könnten doch einfach aufhören, uns Lebensmittel zu schicken«, warf Tolik ein. »Dann würden wir ziemlich schnell verhungern. Das wäre doch viel einfacher und effektiver, als so ein Kältespektakel zu veranstalten.«

»Ganz recht«, pflichtete Chris bei. »Schade, dass du

Das sind ja schöne Aussichten, dachte ich bei mir. Besorgt wandte ich mich wieder zum Fenster und sah in den Regen hinaus. Da fiel mir auf, dass sich die Pfützen auf einmal nicht mehr kräuselten. An ihrer Oberfläche hatte sich eine dünne, gläserne Haut gebildet.

»Null Grad«, rief ich unwillkürlich aus. »Jetzt wird’s frostig, Freunde.«


Am nächsten Morgen wäre ich am liebsten im Bett geblieben. Mir war von vornherein klar, dass es ein böses Erwachen geben würde. Die warme Decke über den Kopf gezogen, klammerte ich mich an meine zerrieselnden Träume und versuchte krampfhaft weiterzuschlafen. In jenem Moment wäre es mir so viel lieber gewesen, in bizarren Traumwelten zu wandeln, als auf dem harten Boden der Wirklichkeit aufzuschlagen. Doch es half alles nichts, schon kroch die Kälte mit langen Krakenarmen gnadenlos unter meine Decke und versetzte meinem hilflosen Körper Millionen feinster Nadelstiche.

Ein verstohlener Blick zum Fenster bestätigte mir, was ich ohnehin geahnt hatte: Draußen schneite es. Angewidert streckte ich den Arm aus und tastete nach dem Kleiderstapel, der vor meinem Bett auf einem Stuhl lag. Tief in die Decke verkrochen, zog ich mich Schicht für Schicht an. Dann sprang ich mit einem Satz aus dem Bett und schlüpfte hastig in meine warme Jacke. Um mich aufzuwärmen, ruderte ich mit den Armen und versuchte, mir einzureden, dass es in Wirklichkeit gar nicht so furchtbar

Der Schnee fiel ebenso monoton und unspektakulär wie der Regen am Vortag. Wie in Zeitlupe sanken dichte Schleier feinster Flocken vom Himmel, als wollte es nie wieder aufhören, zu schneien. Wenn wirklich die Außerirdischen dahintersteckten, dann kannten sie sich in der menschlichen Psyche erstaunlich gut aus. Das allmähliche, aber unaufhaltsame Absinken der Temperatur war wesentlich beklemmender und zermürbender, als ein aus heiterem Himmel einsetzender Schneesturm es je hätte sein können.

Als ich durchs Fenster auf den Wehrgang hinaussprang, landete ich bis zu den Knöcheln im Schnee. Er rieselte sofort in meine Turnschuhe, wo er schmolz und meine Socken durchnässte. Da ich keinen Ersatz hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als das frostige Fußbad zu ignorieren und zu versuchen, durch Auf- und Abgehen warm zu werden.

Die Brücken sahen irgendwie verengt und erbärmlich aus. Entweder ich bildete mir das nur ein, oder sie waren in der Kälte tatsächlich geschrumpft. Unten am Strand schlenderte Chris umher. Eine Weile sah ich ihm dabei zu, dann beschloss ich, zu ihm hinunterzugehen.

Unser Kommandeur benahm sich eigenartig: Mit der Schuhspitze berührte er immer wieder die Wasseroberfläche, um das Bein dann wieder zurückzuziehen und einige Schritte weiter am Strand entlangzugehen, wobei das Profil seiner Turnschuhe hübsche, gerippte Abdrücke im Schnee hinterließ.

»Chris!«, rief ich ihm zu.

Er wandte sich um, nickte kurz und kam mir dann

»Was treibst du denn da?«, fragte ich. »Prüfst du, ob das Wasser zum Baden taugt?«

»Genau. Wenn das Eis ein bisschen dicker wird, gehen wir baden. Bei euch Russen ist das doch so üblich, oder?«

Ungläubig blickte ich aufs Meer. In Ufernähe hatten sich tatsächlich erste, noch ganz kleine Eisschollen auf dem Wasser gebildet. In Eislöchern zu baden ist natürlich eine feine Sache, ein russischer Volkssport gewissermaßen, wir machen den ganzen Winter nichts anderes, als bei Frost in der Sonne zu liegen. Aber wie zum Teufel war es möglich, dass hier das Meer zufror? Schließlich war das Wasser extrem salzig.

»Chris, das gibt’s doch nicht. Salzwasser kann nicht so schnell gefrieren!«, rief ich erstaunt.

»Du hast vollkommen recht«, sagte Chris.

Kopfschüttelnd trat ich ans Ufer, schöpfte eine Handvoll des schneidend kalten Wassers und führte es an die Lippen. Es schmeckte kaum salzig, selbst der Jodgeruch war nicht mehr wahrnehmbar. Man hätte meinen können, es sei Wasser aus dem kleinen See in unserer Stadt.

»Gehen wir zurück in die Burg«, schlug Chris vor. »Ich friere wie...«

Chris suchte nach dem richtigen Wort. In all den Jahren auf der Insel war er nie mit heftiger Kälte konfrontiert gewesen. Es war also kein Wunder, dass er keine russische Redewendung für diese Situation parat hatte.

»... wie ein Schneider«, ergänzte ich für ihn.

Durch den immer tiefer werdenden Schnee stapfend, machten wir uns auf den Rückweg zur Burg.

»Was soll der faule Zauber?«, fragte ich. »Was hat es für einen Sinn, ein ganzes Meer zu entsalzen?«

»Hast du das noch nicht kapiert?«

»Nein.«

»Ganz einfach: Wenn das Meer vollständig zugefroren ist, kann man auch ohne die Brücken von Insel zu Insel zu gelangen. Unsere Nachbarn wissen ganz genau, wer an der Kältewelle schuld ist. Sie werden uns alle abschlachten.« Chris öffnete das Burgtor. »Und dann wird es ganz schnell wieder wärmer.«


Vom Ufer her fror das Meer nach und nach zu. Die Eiskruste bildete einen dicken, sich ständig verbreiternden weißen Ring um die Insel. Von oben sah es aus wie ein Gürtel aus Gischt, der in der Bewegung erstarrt war.

Gleichzeitig entstanden im offenen Meer zwischen den Inseln bläulich schimmernde Eisschollen. Zwar waren es noch nicht besonders viele, aber man konnte dabei zusehen, wie es allmählich immer mehr wurden.

»Wir haben noch ein oder zwei Tage zu leben«, rief Meloman laut.

Vermutlich hatte er es nur leise vor sich hin flüstern wollen; es war eigentlich nicht seine Art, mit melodramatischen Phrasen um sich zu werfen. Sein Disc-Man lief jedoch mit voller Lautstärke, weshalb er nicht einschätzen konnte, wie laut er sprach.

Dafür konnte ich ein paar Fetzen des Liedes verstehen, das gerade lief:

Eiskalter Wind durchfegt die Stadt,


bittrer Frost klirrt unversöhnlich,


ein alter Schriftzug leuchtet matt:


Partei und Volk sind unzertrennlich.

Es war wieder ein Stück von Melomans Lieblingsgruppe Zeitspirale. Und wenn ich mich recht entsann, hieß das Album Liebe im Land des Frosts.

Niemand schenkte Melomans düsterer Prognose Beachtung. Im Thronsaal wurden allerlei Pläne zur Verteidigung der Insel diskutiert, und von allen Seiten hagelte es »geniale« Ideen. Timur regte an, das Eis mit dem restlichen Dynamit zu sprengen; Inga hielt es für sinnvoll, Skier und Schlittschuhe anzufertigen, um einen Geschwindigkeitsvorteil zu erlangen; Ilja verstieg sich zu dem abenteuerlichen Einfall, einen Überraschungsangriff auf die Nachbarinseln zu starten; Olja bevorzugte die defensivere Variante, sich übers Eis möglichst schnell und weit aus dem Staub zu machen. Als ich mir vorstellte, wie Timur und Inga auf Schlittschuhen, zwischen Eislöchern hindurchlavierend und mit den Holzschwertern fuchtelnd, übers gefrorene Meer sausen würden, musste ich laut auflachen.

»Was meinst du denn dazu, Dima?«, fragte Tolik.

Betreten zog ich die Schultern hoch. »Mir ist noch nichts eingefallen. Weit weg über das Eis flüchten können wir jedenfalls nicht. Sobald wir ein paar Kilometer von der Insel entfernt wären, würde das Eis garantiert tauen. Nicht wahr, Maljok?«

»Natürlich, es würde sofort wieder schmelzen«, bestätigte Maljok dienstfertig.

»Dieser Plan entfällt also. Das Eis zu sprengen wäre

»Aus den Dynamitstangen?«, fragte Timur.

»Ja, mit kurzer Zündschnur.«

»Wäre eine Möglichkeit.« Timur drehte sich um. »Wo ist eigentlich Chris? Rita, wo ist er hingegangen?«

»Er war noch gar nicht hier«, erwiderte Rita achselzuckend. »Wahrscheinlich ist er auf dem Wachturm, jedenfalls wüsste ich nicht, wo er sonst sein könnte.«

Auch mir war bisher nicht aufgefallen, dass Chris nicht bei uns war. Das war sehr ungewöhnlich, denn bei strategischen Besprechungen war der Kommandeur normalerweise immer dabei. Ich wusste nicht, was die anderen sich dachten, jedenfalls hatte ich den Eindruck, dass etwas nicht stimmte.

»Ich hole ihn«, sagte ich und sprang vom Stuhl auf. »Er wird sich noch erkälten dort oben.«

Rita sah mich an, und in ihrem Blick lag Besorgnis. In diesem Augenblick spannte sich ein unsichtbares Band zwischen uns, denn wir hatten beide das Gefühl, dass Chris nicht zufällig mit Abwesenheit glänzte.

»Ja, geh ihn suchen, Dima«, bat sie. »Es ist schon halb acht. Zeit zum Abendessen.«

Erwartungsvolle Blicke richteten sich auf Olja, Tanja und Rita. Die Aussicht auf eine Mahlzeit war eine willkommene Ablenkung und suggerierte wenigstens einen Hauch von Normalität in unserer prekären Lage.

»Ich bin gleich zurück«, sagte ich und verließ zusammen mit Olja den Raum, die als geräuschloser Schatten in Richtung Küche entschwand.

In den Gängen herrschte ein eigenartiges Licht. Einerseits war es düster, da es bereits Abend war und dichte Wolken den Himmel verhüllten, andererseits wurde das wenige vorhandene Licht ziemlich grell von der weißen Schneedecke reflektiert. So entstand eine Art Zwielicht, das die Wände um mich herum in ein gespenstisches Grau tauchte.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte ich die Wachturmtreppe empor. Ob Chris sich tatsächlich dort oben aufhielt? Was hatte er bei der lausigen Kälte dort verloren?

Auf der Aussichtsplattform lag eine dicke Schicht Schnee, der beim Darübergehen sanft knirschte und sich weich wie Pappelflaum anfühlte. Von Chris - keine Spur. Trotz Kälte und Schneetreibens blieb ich für kurze Zeit oben, denn die Aussicht auf die Insel in ihrem neuen Schneegewand war beeindruckend.

Von der weißen Pracht überzuckert, wirkte das Eiland noch mehr als zuvor wie ein Spielzeug, wie ein Untersetzer aus weißem Kunststoff, auf dem sich das Miniaturmodell einer mittelalterlichen Burg erhob. Der See inmitten der Insel war bereits völlig zugefroren. Unter der Last der Schneemassen bogen sich die Äste der wenigen Bäume; sie hatten keine Zeit mehr gehabt, die Blätter abzuwerfen. Der Landehügel ragte als sanft geschwungener weißer Rücken aus der Ebene heraus und schimmerte im diffusen Abendlicht. Für einen Neuankömmling wäre es ein interessanter Zeitpunkt für eine Landung gewesen: einerseits schön weich, aber andererseits...

Das Meer war inzwischen fast vollständig mit Eis bedeckt. An manchen Stellen schien es noch sehr dünn zu sein, man konnte deutlich das dunkle Wasser hindurchscheinen

Gedankenverloren stieg ich die Treppe hinab und hoffte, Chris in seiner Kammer anzutreffen. Die Tür war nicht abgesperrt, und drinnen war es stockfinster, da die Fensterläden geschlossen waren. Ich wollte schon wieder gehen und woanders weitersuchen, als ich plötzlich ein leises, unterdrücktes Seufzen vernahm.

»Chris?«

Keine Antwort. Auf dem Tisch tastete ich nach Kerze und Streichhölzern und machte Licht. Man musste sich daran gewöhnen, dass auf den Inseln alles Wichtige zu später Stunde oder nachts geschah. Die Tage vergingen einer wie der andere, nachts hingegen lösten sich die Zungen und eröffneten sich überraschende Geheimnisse.

Chris lag weinend auf seinem Bett. Betroffen setzte ich mich zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Chris, was ist los?«, fragte ich leise.

Zögerlich hob er den Kopf. »Ach, du bist’s, Dima, unser tapferer Freund.« Seine Augen glänzten feucht und blickten mich nervös rollend an, als könnte er sie nicht ruhig auf einen Punkt richten.

»Weine nicht«, sagte ich und schluckte an einem Kloß in meinem Hals. »Keiner hat bis jetzt die Hoffnung verloren, Chris, nicht einmal die Mädchen. Vielleicht wird es ja doch wieder wärmer, und das Eis...«

Chris unterbrach mich mit einem hysterischen Lachen.

Seine herablassende Art ärgerte mich.

»Ja, denke ich.«

»Ach Quatsch!« Nach kurzem Schweigen fuhr er mit dünner Stimme fort: »Es ist so merkwürdig. Als ich noch dort lebte... Ich ging in die Schule, und auf dem Weg dorthin musste ich eine Straße überqueren. Eine breite Straße, auf der viel Verkehr war. Und mein Vater - ich hatte einen sehr strengen Vater, der eher dazu neigte, mich zu bestrafen, als mich zu loben - begleitete mich und führte mich über die Straße. Ein ganzes halbes Jahr lang, bis er endlich kapiert hatte, dass ich schon längst imstande war, selbstständig jede noch so breite Straße zu überqueren. Damals konnte ich nicht verstehen, warum er sich solche Sorgen um mich machte... Jetzt verstehe ich es.«

»Chris, hör mal«, erwiderte ich äußerst befremdet, »wenn du der Meinung bist, wir seien alle deine Kinder... Vielen Dank, aber wir können auch schon selbst über die Straße gehen.«

»Manchmal bist du wirklich ein dummer Junge«, sagte Chris ruhig. »Mit so einem Bengel wie dir kann man graue Haare bekommen.« Plötzlich streckte er die Hand aus und löschte die Kerzenflamme zwischen Daumen und Zeigefinger. Das kleine Licht verlosch, und der verglimmende Docht begann zu qualmen. »Wir erwarten ein eigenes Kind, Dima. Rita und ich. Das heißt, wir werden Eltern. Aber so weit wird es nicht mehr kommen.«

»Schon bald?«, fragte ich dumm.

»Was spielt das für eine Rolle?«

»Dann... ähm... gratuliere ich dir.«

Stille trat ein. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass Chris im nächsten Augenblick aufspringen und mir eine Ohrfeige verpassen würde. Stattdessen brach er wieder in dieses unnatürliche hysterische Lachen aus, das ich überhaupt nicht von ihm kannte.

»Du bist schon in Ordnung, Dima. Als Sohn würde ich dich zwar lieber nicht haben wollen, aber als kleinen Bruder - gern.«

»Danke für die Blumen.«

Chris begann leise und dünn zu kichern. »Was sind wir doch für höfliche, gute Menschen. Aber diese Inselherren bringen uns einfach um. Zwingen uns, uns gegenseitig zu töten. Und wir können nichts dagegen machen, absolut nichts!«

»Chris, du wirkst, als ob du betrunken bist«, bemerkte ich vorsichtig.

»Ach ja?... Wenn du meinst... Kann schon sein. Zu Hause habe ich nie Alkohol getrunken. Nur ein einziges Mal habe ich Bier probiert, mit meinem Bruder zusammen.«

»Was hast du genommen, Chris?« Ich packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. »Dieses Zeug von Tom hast du doch weggeworfen, oder? Chris! Was hast du mit den Drogen gemacht?«

»Schrei nicht rum«, sagte Chris mit beinahe normaler Stimme. »Ich bin schon fast wieder in Ordnung. Die Wirkung geht vorbei.«

»Du hast es doch versprochen, und zu Tom hast du auch gesagt, dass du sie ins Meer geworfen hast!« Ich fühlte mich vor den Kopf gestoßen und konnte es mir nicht verkneifen, ihm Vorwürfe zu machen. »Warum hast du uns belogen?«

»Morgen werden wir sie gut brauchen können. Damit

»Weißt du überhaupt, was das für ein Zeug ist?«

»Nein, ich habe Tom nicht danach gefragt. Was weiß ich, Kokain oder Crack. Wenn man eine kleine Menge schnupft, bleibt man völlig bei Bewusstsein und kriegt auch keine Halluzinationen. Man fühlt sich einfach gut und hat keine Angst.« Chris schwieg für ein paar Sekunden, dann setzte er deprimiert hinzu: »Wir schlachten uns gegenseitig ab. Dabei müssten wir uns mal diese außerirdischen Herrschaften vorknöpfen und ein paar Takte mit ihnen plaudern. Leider bekommt man sie ja nie zu Gesicht, diese Feiglinge. Sie geben nur das Essen aus und holen die Abfälle ab, das war’s, das ist unser einziger Berührungspunkt mit ihnen.«

Es war finster, sonst hätte Chris sehen können, dass ich heftig mit dem Kopf nickte. Sich die Außerirdischen vorknöpfen? Hervorragender Gedanke! Schon vor langer Zeit hatte Inga davon gesprochen. Doch wie Chris sagte, war das Problem, dass sie sich nie zeigten - sie beseitigten nur die Abfälle, als sorgten sie sich um die Sauberkeit auf den Inseln.

Sie holen die Abfälle ab... Zu sich... Immer um Mitternacht. Wir sammeln den gesamten Müll und deponieren ihn auf den Regalen im Küchenschrank...

»Chris!«

Begeistert sprang ich auf. Es war eine verrückte Idee! Eine gewagte Idee! Wie wild schoss sie mir durch den Kopf und wollte hinaus. Wenn Chris mich nur verstehen würde! Wenn er mir nur glauben würde!

Wenn er das restliche Dynamit nur nicht für etwas anderes vorgesehen hatte!

10 SABOTAGE UM MITTERNACHT

Wir befanden uns zu dritt in der Küche: Chris, Timur und ich. Die Übrigen saßen im Thronsaal, Meloman und Tolik hielten vor der Tür Wache. Es war nicht ausgeschlossen, dass außer Maljok noch andere Spione unter uns waren. Wir durften kein Risiko eingehen, deshalb hatten wir es so organisiert, dass wir uns gegenseitig im Blick hatten.

»Die Fächer sind verdammt eng«, fluchte Timur, der den Schrank freiräumte. »Ob sie das absichtlich so gebaut haben? Sonst könnte ich reinkriechen und mich zu ihnen rüberbeamen lassen. Hmm … Oder wir reißen die Regalbretter heraus. Dann hätte ich genug Platz.«

»Und dann kommst du in sechs schmalen Stücken dort drüben an. Kommt nicht infrage, wir machen es mit dem Dynamit«, sagte Chris unnachgiebig.

Es war auch meine Meinung, dass zwanzig Kilo Dynamit mehr ausrichten würden, als Timur mit seinen zwei Schwertern, ich behielt sie jedoch für mich. Warum hätte ich unseren besten Kämpfer brüskieren sollen? Zum Teufel, aus mir würde noch ein richtiger Diplomat werden! Machte ich mir doch tatsächlich Gedanken darüber, wann ich etwas sagen konnte und wann ich mir lieber auf die Zunge biss.

»Los, Dima, gib mir eine!«, sagte Timur.

Behutsam, als handle es sich um ein rohes Ei, nahm ich eine der gelben Stangen aus der Kiste und reichte sie Timur, der sie vorsichtig in das untere Fach legte. Auf

»Es müsste für drei Fächer reichen«, mutmaßte Timur, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. »Aber ob das mit dem Zündmechanismus klappt?«

»Rita hat gesagt, dass die Schüsseln mit den Lebensmitteln fast immer umfallen und manchmal sogar zu Bruch gehen. Das heißt also, dass die Teleportation ganz schön ruppig abläuft. Es muss funktionieren.« Seinem Tonfall nach zu schließen, machte Chris sich ernsthafte Hoffnungen, dass unser Plan klappen würde. Sein Gesicht war allerdings im Dunkeln, denn die Kerzen standen in einem gehörigen Sicherheitsabstand von uns entfernt. Den Grund dafür hielt Chris in der Hand: Es war eine Konservendose, in die wir das restliche Schießpulver gefüllt hatten.

»Fertig«, sagte Timur und streckte, ohne sich umzusehen, die Hand nach hinten aus.

Chris drückte ihm die Blechdose in die Hand. Vorsichtig platzierte Timur sie zwischen den Dynamitstangen im oberen Schrankfach.

»Wie spät ist es?«, fragte er dann.

Chris blickte zunächst auf sein linkes, dann auf sein rechtes Handgelenk. Zur Sicherheit hatte er sich von Rita eine zweite Uhr ausgeliehen.

»Zehn vor zwölf.«

»Die Kerze«, forderte Timur knapp.

Nach kurzem Zögern huschte Chris zum Tisch und kam mit einer neuen, eben frisch angezündeten weißen Kerze zurück.

»Vielleicht sollte ich das machen?«, fragte er etwas verlegen. »Wenn du sie fallen lässt...«

»Die Kerze!«, wiederholte Timur unnachgiebig.

Chris schwieg und streckte Timur gehorsam den Wachskolben hin, dessen Flamme im Luftzug geräuschvoll flackerte. Mit angehaltenem Atem beobachteten wir Timurs bedächtige, flüssige Bewegungen.

Behutsam steckte er die Kerze ein Stück weit in den bräunlichen Pulverhaufen, der aus der Blechdose herausragte. Plötzlich begann die Flamme in seinem Atem zu flackern, züngelte nach unten und leckte nach den dunklen Körnchen. Timur erstarrte für einen Moment. Dann zog er die Kerze ein wenig höher.

Langsam richtete sich die Flamme wieder auf und begann, das obere Brett zu verrußen. Timur nahm vorsichtig die Finger von der Kerze, woraufhin sich diese sofort zur Seite neigte. Mit einem raschen Griff fing er sie ab und drückte sie wieder etwas tiefer ins Pulver.

Endlich konnte er loslassen. Die Kerze schien jetzt fest zu stecken. Durchsichtige, heiße Wachstropfen rannen an ihr herab, bildeten einen dünnen Wachsfilm auf dem Pulverhaufen.

»Eine halbe Stunde brennt die Kerze?«, fragte Timur mit stockendem Atem.

Chris nickte. »So wie sie jetzt drinsteckt, kann sie etwa fünfzehn Minuten brennen, ohne dass das Pulver hochgeht, das genügt.« Nach kurzem Schweigen fügte er gedämpft hinzu: »Wenn das mit der Telekinese nicht klappt, werde ich die Kerze jedenfalls nicht da rausholen, mir zittern jetzt schon die Hände wie einem Greis.« Erneut blickte er zur Uhr. »Noch fünf Minuten.«

Die Flamme brannte immer weiter herunter, und es sah bald so aus, als würde die Kerze im Pulver versinken. Das herablaufende und allmählich aushärtende Wachs

»Noch eine Minute«, hauchte Chris und sah mich Hilfe suchend an. »Vielleicht hätten wir besser draußen warten sollen?«

Unschlüssig zog ich die Schultern hoch. Falls die Teleportation nicht stattfand und der Sprengsatz in der Küche hochging, konnten wir das ohnehin nur außerhalb der Burg überleben. Doch es war keine Zeit mehr, um hinauszulaufen.

Zwölf Uhr. Mitternacht.

Die gelbe Flamme brannte nun ganz knapp über dem Pulver. Mir wurde plötzlich klar, dass es nun sogar zu spät war, die Hand zur Kerze auszustrecken, um sie mit den Fingern zu löschen. Durch den Luftzug hätte sie zu flackern begonnen und das Pulver sofort in Brand gesteckt. Wenn die Telekinese also scheiterte, würden wir noch schneller sterben, als die Außerirdischen das geplant hatten.

Das kleine Licht im Schrank verlosch. Im selben Moment sahen wir, dass die Dynamitstangen verschwunden waren. An ihrer Stelle lagen Brotlaibe, Eier, eine Packung Schokoriegel und eine Halbliterflasche, die eine gelbe, nach Speiseöl aussehende Flüssigkeit enthielt.

»Hurra!«, jubelte Timur erstaunt und triumphierend zugleich.

Chris trat an den Schrank heran, griff nach den Schokoriegeln und hielt sie uns hin.

»Langt zu. Die haben wir uns verdient, oder?«, rief er breit grinsend.

»Auf einer der fremdplanetarischen Müllkippen hat es jetzt ordentlich geknallt«, sagte Timur und wickelte seinen Riegel aus. »Opfer gibt es wohl keine, mal abgesehen von ein paar fremdplanetarischen Katzen.«

Ich kicherte. »Wir konnten ja schließlich nicht wissen, wo das Dynamit hochgeht.«

»Eben«, bestätigte Timur. »Du brauchst dich gar nicht zu rechtfertigen, deine Idee zu dieser kleinen Sabotageaktion war wirklich ausgezeichnet. Selbst wenn es nur ihre Katzen erwischt hat.«

Ein Schrei, der aus dem Thronsaal zu uns herüber drang, unterbrach unser Gespräch. Ich ließ den Schokoriegel, den ich noch nicht einmal angebissen hatte, fallen und rannte zur Tür, mit nur einem einzigen Gedanken im Sinn: Das Spiel ist aus.

In die mitternächtlich dunklen Fenster ergoss sich mit einem Mal gleißendes Licht.

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