Zweiter Teil Das BündniS

1 DIE FLUCHT

Ich stand auf dem Wehrgang am Fuß der Ostbrücke. Die Sonne war bereits im Zenit und brannte mir stechend auf die Schultern. Seit einer Woche war ich nun auf der Insel und hatte es in dieser Zeit geschafft, mir einen katastrophalen Sonnenbrand einzuhandeln, mich einmal vollständig zu häuten und erneut Farbe anzunehmen.

Das Meer war ungewohnt glatt. Die vergangene Woche über hatte ständig ein mehr oder weniger heftiger Wind geblasen. Mal trieben graue Wolken über den Himmel, mal sengte wieder die Sonne herab, der Wind jedoch legte sich für keine Minute und nervte bisweilen mit seinem monotonen Geheule. Mit der Pünktlichkeit eines Schweizer Uhrwerks setzte immer bei Einbruch der Dunkelheit Regen ein, und der Wind wuchs sich zu einem tobenden Sturm aus. Bei Anbruch des nächsten Tages waren Sturm und Regen wieder vorbei.

Heute jedoch hatte sich der Wind einen freien Tag genommen. Schlaff wie ein nasser Lappen hing die rot-weiße Inselflagge von ihrem Mast auf dem Wachturm herab. Die rosafarbenen Burggemäuer wirkten lange nicht so eckig und kantig wie sonst, ja es sah aus, als hätten sie in der Sonne begonnen zu schmelzen. Die Ringmauer, von der die Burg schützend umfasst wurde, erinnerte an eine gigantische Marmorkrone, die vor ewigen Zeiten einmal auf die Insel gefallen war. Unten am Strand sah ich Tanja sitzen, die gelangweilt mit einem Schneebesen

Prüfend sah ich zum Wachturm hinüber, wo sich nichts rührte. Hätte dort einer der Jungen Wache geschoben, wäre ich unverzüglich hinaufgestiegen, um nachzusehen, ob er nicht eingenickt war. Heute war jedoch Rita dort oben eingeteilt, da brauchte ich mir keine Sorgen zu machen.

In Lethargie versunken, trottete ich auf dem Wehrgang zur Südbrücke hinüber und dann weiter zur Westbrücke. Die marmornen Brückenbögen sahen zwar völlig gleich aus, tatsächlich aber war die Südbrücke etwas schmaler als die Westbrücke, während auf der Ostbrücke die Balustrade etwas niedriger war als bei den anderen beiden. Vor vielen Jahren hatte das jemand aus Langeweile ausgemessen und die Maße in die Mauern geritzt. Jeder suchte sich eben eine Beschäftigung auf den Inseln, um an den Abenden oder dienstfreien Tagen irgendwie die Zeit totzuschlagen.

Schon den dritten Tag in Folge war ich nicht mehr für den Wachdienst auf den Brücken eingeteilt worden. Chris hatte das so entschieden, ohne mir den Grund dafür zu erklären. Eigentlich hatte ich auch kein Problem damit, denn einerseits befürchtete ich, auf die Südbrücke beordert zu werden und dort womöglich auf Inga zu treffen, andererseits gab es zurzeit ohnehin keine ernsthaften Gefechte, nicht einmal mit den Dreißigern.

Als Timur, Tolik und Chris am Tag nach dem Tod unserer drei Gefährten den Scheitelpunkt der Ostbrücke erreichten, waren sie dort von einer halben Armee in Empfang

Mit zusammengekniffenen Augen blickte ich kurz zur Sonne hinauf. Früher war ich der Meinung gewesen, dass es kinderleicht sei, die Uhrzeit nach dem Sonnenstand zu bestimmen, und dass man dies nicht einmal lernen müsse: Ein kurzer Blick gen Himmel - und schon weiß man, wie spät es ist. Es hatte sich jedoch herausgestellt, dass man sich leicht um zwei oder drei Stunden verschätzen konnte, wenn man keine Übung darin hatte. Die Jungen, die schon lange hier lebten, konnten die Zeit mit traumwandlerischer Sicherheit am Sonnenstand ablesen. Die Einzigen auf der Insel, die eine funktionierende Uhr besaßen, waren Chris und Rita, man musste sich also, ob man wollte oder nicht, irgendwie behelfen. Auch Tolik war mit einer Uhr auf die Insel gekommen, sie war aber stehen geblieben, nachdem er sie einmal in der Küche bei einer scherzhaften Rangelei mit Lera versehentlich im Abspülwasser versenkt hatte. Bei Kostjas elektronischer

Wenn ich nicht völlig danebenlag, war es ungefähr elf Uhr, also noch ziemlich lange hin bis zum Mittagessen. Obwohl mein Tag nicht gerade anstrengend verlief, hatte ich Appetit auf eine Kleinigkeit bekommen, keinen richtigen Hunger, einfach nur Lust, auf etwas herumzukauen. So wie zu Hause, wenn man sich eine Handvoll Bonbons aus der Tüte krallt oder sich Kekse in die Taschen stopft, bevor man eilends das Haus verlässt. Nachdenklich sah ich zum Wachturm hinüber: Dort war Rita. Tanja war am Strand unten und schlug hoffentlich Sahne. Lera und Olja waren also allein in der Küche, wie ich messerscharf schlussfolgerte. Und von den beiden konnte man wirklich alles haben!

In aller Ruhe marschierte ich auf eine der Türen zu, die vom Wehrgang in die Burg hineinführten, als von der Mauer plötzlich ein violetter Lichtschein reflektiert wurde. Mich umwendend, hatte ich schon eine gewisse Vorahnung, um welche Art von Licht es sich dabei handeln musste, denn in den letzten Tagen war kein Abend vergangen, an dem nicht ausführlich darüber gesprochen worden wäre.

Drüben am Seeufer, wo sich das sauber aufgeschüttete Hügelchen aus weißem Sand befand, tat sich etwas. Ungefähr drei Meter über dem Boden waberte ein violetter Schein, der mal mehr und mal weniger stark leuchtete. Man konnte diese Erscheinung am ehesten mit einer lumineszierenden Wolke oder mit einem Nebelfetzen vergleichen, der von innen durch eine grelle Lampe ausgeleuchtet wurde. Und wenn man ganz genau hinsah,

Einen Freudenschrei ausstoßend, rannte ich durch die Tür in den oberen Gang, rutschte halsbrecherisch auf dem Geländer die Wendeltreppe hinunter und stürmte schließlich durch das offen stehende Burgtor hinaus. Dabei hätte ich fast Tanja umgerannt, die die leuchtende Wolke ebenfalls bemerkt und sich vom Strand her zum Seeufer aufgemacht hatte.

Als wir am Fuß des Landehügels ankamen, war der violette Schein bereits verloschen. An seiner Stelle hing nun völlig bewegungslos, wie in einen Glasblock gegossen, ein etwa zwölfjähriger Junge waagerecht in der Luft. Bekleidet war er mit einem grellorangen T-Shirt und einer beigen Hose, um seine Schulter hing eine Sporttasche. Dieser Anblick hätte mich nun nicht weiter verwundert, da ich durchaus mit einem ähnlichen Bild gerechnet hatte. Seine Pose wies jedoch einige Details auf, die mich aufs Äußerste erstaunten: Seine Haare standen in einem nicht vorhandenen Luftstrom steil nach oben ab, sein T-Shirt war am Rücken wie ein Luftkissen aufgebauscht, und seine Tasche schwebte am Riemen einen halben Meter über ihm, als flöge sie ihm hinterher. Das Ganze sah also so aus, als hätte man den Jungen im freien Fall fotografiert und das Foto dann drei Meter über dem Boden in die Luft gehängt.

Ein paar Sekunden später kam Bewegung in das bizarre Stillleben: Der Junge purzelte durch die Luft und fiel mit einem dumpfen Platsch auf den Sand. Tanja und ich hörten ihn kurz aufquieken und rannten dann den Sandhügel hinauf zum Landeplatz.

Als wir bei ihm ankamen, hatte der Junge sich schon

»Hallo«, begrüßte ich ihn lächelnd. »Du brauchst keine Angst zu haben!«

Der Neue sprang auf, griff nach seiner Tasche und begann hastig an deren widerspenstigem Reißverschluss zu zerren.

»Was ist los?«, fragte Tanja, die auf ihn zuging und ihn vorsichtig an der Schulter fasste.

Der Junge zuckte zusammen. Dann wisperte er kläglich und mit fragender Intonation: »Where am I?«

»Huch, du bist ja gar kein Russe«, sagte ich völlig perplex. Seine Frage hatte ich verstanden, war mir aber nicht sicher, ob ich auch auf Englisch antworten könnte.

»Who are you?«, fragte der Junge leise und sah mir dabei fest in die Augen.

Tanja fing zu kichern an. Ich versetzte ihr einen strengen Blick und sagte: »Klarer Fall, das ist ein Engländer. Da müssen wir auf Chris warten.«


Wenn ich gewusst hätte, womit Chris gerade beschäftigt war, hätte ich nicht im warmen Sand der Insel Nr. 36 auf seine Rückkehr gewartet, sondern wäre auf schnellstem Wege zu ihm geeilt. Erst am Abend jedoch erzählte mir Meloman, was während ihres Wachdienstes passiert war.

Auf der Südbrücke hatte schon seit dem frühen Morgen eine sehr angespannte Stimmung geherrscht. Chris und Meloman hatten sich dorthin zur Wache aufgemacht und auf einen ruhigen Tag ohne lästige Scharmützel oder gar ernsthafte Gefechte gehofft.

Dass es ungemütlich für sie werden könnte, erkannten sie gleich bei ihrer Ankunft, denn die Insel Nr. 24 hatte fünf Kämpfer auf die Brücke entsandt. Wenn diese auch ursprünglich keinen Angriff geplant hatten, so war ihr zahlenmäßiges Übergewicht doch eine große Versuchung. Zunächst hielt sie nur die Anwesenheit von Chris von einem Angriff ab, denn sie kannten ihn gut und waren nicht gerade erpicht darauf, sich mit ihm anzulegen.

Aber im Lauf der Zeit stachelten sich die fünf von der Nr. 24 mehr und mehr gegenseitig auf und rotteten sich schließlich bedrohlich nahe an der Brückengrenze zusammen. Chris blickte immer wieder zur Burg hinunter in der Hoffnung, dass Hilfe käme. Auf dem Wachturm war Rita eingeteilt, sie hätte eigentlich wissen müssen, dass ein Kräfteverhältnis von fünf gegen zwei eine ziemlich brenzlige Angelegenheit war. Die Brücke blieb jedoch verwaist.

Chris konnte nicht wissen, dass Rita zur selben Zeit zusammen mit mir und den jüngeren Mädchen um einen Neuankömmling herumstand, der sich an seine Sporttasche klammerte und immer wieder entgeistert die Burg anstarrte, obwohl wir ihm mit einigen mühsam aus dem Gedächtnis zusammengeklaubten Brocken Englisch und mit Händen und Füßen klarzumachen versuchten, dass er sich nicht zu fürchten brauchte.

Die Insel Nr. 24 wollte sich diese einmalige Chance nicht entgehen lassen. Ein hoch aufgeschossener, kräftiger

»Eins gegen eins?«, fragte er.

Der lange Kerl nickte. Chris wusste nur zu gut, dass seine Chancen schlecht standen. Seinen Gegner kannte er seit vielen Jahren. Der war schon ein erfahrener Schwertkämpfer gewesen, als Chris erst auf die Insel kam. Er tauchte nicht oft auf der Südbrücke auf, aber wenn, dann verhieß das nichts Gutes. Im Übrigen war er schlichtweg stärker als Chris.

Einen kurzen, kehligen Schrei ausstoßend, sprang der Lange nach vorn. Chris wich ihm aus und versuchte, ihn von der Seite zu treffen. Mühelos wehrte sein Kontrahent den Schlag ab und sprang zurück.

»Super, Genka!«, rief einer der Jungen hinter ihm.

Genka grinste und stürzte erneut nach vorn. Nach kurzer Zeit hatte Chris herausgefunden, mit welcher Taktik Genka kämpfte: Er setzte einen Hieb und zog sich dann blitzschnell zurück. Ein begnadeter Fechtkünstler war er zwar nicht, aber allein seine rohe Kraft machte jede seiner Attacken lebensgefährlich. Zudem verstand er es glänzend, gegnerischen Schlägen mit katzenhafter Geschmeidigkeit auszuweichen.

»Komm, ich lös dich mal ab«, rief Meloman nach einiger Zeit von hinten.

Chris gab ihm nicht einmal eine Antwort. Dies war sein Kampf. Meloman hätte ohnehin nicht die geringste Chance gehabt, die Hiebe des Langen zu parieren.

»Genka, Genka!«, brüllten seine vier Gefährten zur Anfeuerung … nein, es brüllten nur drei; aus dem Augenwinkel bemerkte Chris, dass einer von ihnen schwieg.

»Gib’s den Sechsunddreißigern! Mach sie nieder, die Rotschildler! Vorwärts, Genka, hau zu!«, schrien die Feinde immer fanatischer.

Allmählich verließen Chris die Kräfte. Seine Finger wurden taub und konnten den schweißnassen Schwertgriff nur noch mit Mühe halten.

»Genka! Genka! Genka!«, johlte das feindliche Publikum.

Chris stemmte sein Schwert gegen einen auf ihn herabzischenden Schlag von Genka, dessen Klinge Funken sprühend an seiner Schwertschneide entlangschrammte und ihn mit kaum gebremster Wucht in den Unterarm traf. Eine klebrige Wärme umfloss Chris’ Hand, während brennender Schmerz in ihm aufstieg und sein Schwert zu Boden fiel. Rasch hob er es mit der Linken auf und wich, praktisch kampfunfähig, zurück. Damit war sein Ende besiegelt.

Zu Chris’ Überraschung hielt Genka inne. Was sollte das bedeuten? Würde er ihn womöglich verschonen, so wie Dima das zurückgebliebene Mädchen von der Nr. 24 vor einiger Zeit verschont hatte?

»Hey, ihr Küken«, plärrte Genka, sich zu den Seinen umwendend. »Wer gibt ihm den Rest? Vielleicht du, Inga?«

Inga hatte sich noch nicht von der Stelle gerührt, doch Chris wusste sofort, dass sie das Mädchen von damals war. Das war auch der Grund dafür, dass sie Genka nicht angefeuert hatte. Langsam und unsicher ging das Mädchen auf Chris zu, der einfach ruhig stehen blieb.

»Ihr Schwert ist aus Holz!«, platzte Meloman im Rücken

Alle hatten es hören können, auch die Feinde, und natürlich auch Inga, die jetzt unvermittelt herumfuhr und sich Genka zuwandte.

»Verteidige dich!«, fauchte sie ihn an. Gegenüber dem muskulösen Genka sah das vierzehnjährige Mädchen mit den dunklen Haaren und großen Augen noch zerbrechlicher aus als zuvor. Ihr »Verteidige dich« klang eher flehentlich als drohend.

»Du Miststück!«, polterte Genka. »Dann stimmt es also …«

Er stieß einen unflätigen, garstigen Fluch aus, wie es Chris bei seinen Leuten niemals geduldet hätte, und holte zu einem gewaltigen Schlag aus, mit dem er auch einen Erwachsenen in der Mitte hätte durchhauen können.

Doch er war zu langsam. Inga hatte ihr Schwert zwar etwas ungelenk und mit beiden Händen, aber flink nach vorn gestoßen und es ihm in den Leib gerammt.

Mit beiden Händen umfasste Genka die in seinem Bauch steckende Klinge und sah das kleine Mädchen mit entgeistert rollenden Augen an. Inga wurde blass und machte einige Schritte rückwärts, wobei sie Genka das blutüberströmte Schwert aus dem Bauch zog und ihm die Hände zerschnitt.

»Verdammtes Luder! Bringt sie beide um!«, schnaubte Genka mit heiserer, brechender Stimme und sank auf die Knie.

Inga stieß rücklings gegen Chris und erstarrte. Noch immer hielt sie krampfhaft das nach vorn gestreckte Schwert in der Hand, starrte mit weit aufgerissenen Augen zu dem schwer getroffenen Hünen hinüber und zitterte

»Du weißt, dass ein Überläufer nicht mehr auf die Erde zurückkehren kann, auch wenn seine Insel den Sieg erringt?«, fragte Chris.

»Was? … Ja, weiß ich«, erwiderte Inga und sackte im gleichen Augenblick in sich zusammen. Kraftlos fiel sie in Chris’ Arm, aus dessen Wunde ein pulsierender, bohrender Schmerz schoss und seinen ganzen Körper durchfuhr.

»Kommt, ziehen wir uns zurück«, zischte Chris mit zusammengebissenen Zähnen und schleifte Inga zusammen mit Meloman, der ihm zu Hilfe geeilt war, davon.

Zurück blieb der auf dem Boden zusammengekrümmte Genka, dessen Gefährten so verdutzt waren, dass sie bis zuletzt unfähig waren, sich zu rühren, geschweige denn irgendetwas zu unternehmen. Erst jetzt kümmerten sie sich um ihren übel zugerichteten Anführer und schleppten ihn von dannen.

2 DIE ENTTARNUNG

Dass ich nach meiner Ankunft auf der Insel ein ebenso dummes Gesicht gemacht haben soll wie Tom, halte ich für ein böswilliges Gerücht. Den Namen unseres Neuankömmlings zu erfahren, erwies sich als äußerst zähes Unterfangen. Erst nachdem wir einige Dutzend Male gebetsmühlenhaft »What is your name?« wiederholt hatten und uns schon völlig albern vorkamen, verriet er uns schließlich, dass er Tom hieß.

Als wir ihn in die Burg führen wollten, blieb er bockig stehen und weigerte sich hineinzugehen. Wir konnten also nichts anderes tun, als Tom draußen vor der Burg mit unserem katastrophal schlechten Englisch zu malträtieren. Rita wusste zwar einige Wörter mehr als wir anderen, da sie viel Zeit mit Chris verbrachte, dennoch gelang es auch ihr nicht, Tom über seine Situation ins Bild zu setzen. Der schwieg entweder oder begann so hastig und verworren zu sprechen, dass wir nicht ein Wort verstanden. Außerdem kniff er sich ständig in den Arm und rieb sich immer wieder die Augen. Einerseits hatte ich ja ein wenig Mitleid mit ihm, denn ich erinnerte mich noch sehr genau, wie man sich in dieser Lage fühlte, andererseits war sein übertrieben misstrauisches und ungläubiges Verhalten zum Schreien komisch, und wenn er so weitermachte, würde er bis zum Abend mit knallroten Augen und von blauen Flecken übersät durch die Gegend laufen.

»Was ist denn hier los? Haben wir Verstärkung bekommen?«

Wie auf Kommando reckten wir alle gleichzeitig die Köpfe. Auf der Südbrücke stand, lässig aufs Geländer gestützt, Chris und sah grinsend zu uns herab. Er hatte sich bis zum Gürtel ausgezogen, und als ich das um seinen rechten Arm gewickelte, blutverquollene T-Shirt sah, wurde mir klar, dass er das nicht getan hatte, um knackig braun zu werden. Als Rita Chris’ Verwundung bemerkte, schüttelte sie vorwurfsvoll den Kopf, stieß einen gedehnten Seufzer aus und lief zum Burgtor. Eilig folgte ich ihr, denn wenn Meloman allein auf der Brücke zurückgeblieben war, musste ihm schleunigst jemand zu Hilfe kommen. Die Seelenruhe, mit der Chris über der Balustrade lehnte, ließ allerdings nicht vermuten, dass Meloman in großer Gefahr schwebte.

Rita machte sich sogleich daran, Chris’ Wunde zu verbinden. Wo sie auf einmal Verbandszeug und Wundsalbe hergezogen hatte, war mir ein Rätsel. Schleppte sie die Sachen etwa ständig in der Tasche ihres Kleides mit sich herum?

»Soll ich zur Südbrücke rauf?«, fragte ich, als ich bei den beiden ankam.

Chris zuckte mit den Achseln. »Wie du willst. Meloman schafft das aber auch allein, die Feinde haben sich schon verzogen«, erwiderte er betont lässig und warf mir einen eigenartigen Blick zu, der einerseits ein wenig spöttisch war, als amüsierte er sich über meinen Eifer, andererseits aber auch anerkennend, als hätte ich etwas für mein Alter Außergewöhnliches vollbracht.

»Wir haben einen Neuen«, sagte ich.

Chris nickte.

»Ein Engländer oder Amerikaner«, ergänzte ich.

Unser Anführer war bester Laune. »Gleich zwei an einem Tag? Nicht schlecht!«, sagte er munter. »Rita, beeil dich mit dem Verbinden.«

»Warum zwei?«, erkundigte sich Rita, während sie den Verband fixierte. »Zählen englischsprachige Kämpfer im Gefecht neuerdings doppelt?«

Chris lachte laut auf und zog seine Hand zurück. Mit der freien Linken und mit den Zähnen begann er den Verband fester zu ziehen. »Zu lasch gebunden, Rita. Der Verband muss völlig straff sitzen, dann zieht die Salbe schneller ein«, moserte er, bevor er auf Ritas Frage einging. »Im Gefecht sind alle gleich, sogar manche Mädchen können gut kämpfen. Wenn Sie die Güte hätten, sich mal dorthin umzusehen, Miss Spitze-Zunge«, sagte er ironisch und deutete mit dem Daumen hinter sich.

Rita und ich drehten synchron die Köpfe. Ich spürte, wie mein Gesicht sich unwillkürlich zu einem breiten, glücklichen Lächeln auseinanderzog; auf dem Sims eines der auf den Wehrgang hinausführenden Fenster hockte Inga und sah mich unverwandt an, während sie mit beiden Händen ihre zerzausten Haare in Ordnung brachte.

»Du?«, stammelte ich.

»Nein, mein Schatten.«

»Kennt ihr euch?«, fragte Rita erstaunt.

»Ähm … tja, also...«, druckste ich verlegen herum, denn wir hatten ja ausgemacht, unsere Bekanntschaft geheim zu halten.

Da schaltete sich Chris ein. »Ihre erste Frage war, ob dir etwas passiert sei, Dima.«

Inga lief feuerrot an.

Rita kümmerte sich nicht weiter darum. »Dann hast

Chris war inzwischen zur Treppe gegangen. Im Hinuntergehen rief er: »Rita, darüber, dass die beiden sich kennen, sprechen wir besser nicht, okay?«

Rita nickte schweigend und ging zu Inga hinüber.

»Bist du verletzt?«

Ingas hellgelbe Bluse war mit eingetrockneten rotbraunen Flecken durchwirkt.

»Nein, das ist nicht mein Blut.«

Ich kam mir etwas überflüssig vor, denn die beiden Mädchen ignorierten meine Anwesenheit vollständig. Wie zwei alte Freundinnen standen sie beieinander und steckten die Köpfe zusammen.

»Du wirst sehen, auf unserer Insel ist es sehr schön. Wir sind vier Mädchen, jetzt sogar fünf. Tanja ist zwölf, Lera zehn, und Olja ist noch ganz klein. Wart ihr drüben auch so viele Mädchen?«

»Nein, zu dritt. Lorka, Aina und ich.«

Rita nickte mitleidig. »Verstehe. Komm, wir gehen zu mir, dann kannst du dich umziehen, und deine Bluse waschen wir aus.«

»Gern, danke«, pflichtete Inga geschäftig bei.

Verdutzt starrte ich den davoneilenden Mädchen hinterher. Dass die sonst eher schweigsame Rita auf einmal gesprächig geworden war, war ja noch irgendwie verständlich. Aber wie die normalerweise eher spröde Inga hier das brave Mädchen spielte und gehorsam zu Rita aufsah wie eine Erstklässlerin zu ihrer Lehrerin, das war einfach unfassbar.

Als ich die Mädchen einholte, hatten sie bereits die

»Am Abend, Dima, am Abend«, fertigte mich Inga ab, und dann streckte sie mir noch blitzschnell die Zunge heraus, ehe sie mit Rita in der Burg verschwand.

Ich stöhnte genervt und beschloss verärgert, nicht länger hinter ihnen herzulaufen, sondern das Gebäude auf einem anderen Weg zu betreten.

Inga konnte mir zürnen, so viel sie wollte, es war mir einfach nicht möglich gewesen, zu dem Treffen mit ihr zu kommen.


Es stellte sich heraus, dass Tom Australier war. Als ich in den Thronsaal hinunterkam, war Chris gerade dabei, den auf einmal wieder erstaunlich schweigsamen Mädchen seine Geschichte zu übersetzen.

Tom war wohl der Einzige, der den Außerirdischen für seine Entführung dankbar sein musste. Er war nämlich »fotografiert« worden, als er gerade aus dem siebten Stock eines Hochhauses fiel. Wie er es geschafft hatte, aus dem Fenster zu fallen, erwähnte er nicht. Stattdessen schilderte er wortreich seine Gefühle in jenem Moment, als er unter sich anstelle des bedrohlichen Asphalts eine tropische Insel erblickte. Verlegen fügte er hinzu, dass sein erster Gedanke war, er müsse wohl im Paradies gelandet sein.

Nachdem Chris Toms Mutmaßung über das Paradies übersetzt hatte, fing er wiehernd zu lachen an, verzichtete jedoch darauf, Tom auseinanderzusetzen, wie herzlich wenig die »tropische Insel« mit dem Paradies gemein hatte. Man hatte es sich offenbar zur Regel gemacht, die Neuankömmlinge nicht sofort mit all den Schrecken zu

Währendich den jungen Australier so betrachtete, wie er allmählich auflebte und uns neugierig über die Insel und die »magischen« Brücken ausfragte, kam mir der bizarre Gedanke, dass sein Doppelgänger - oder besser gesagt: der richtige Tom - keineswegs auf Sand, sondern auf dem Asphalt gelandet war und keine Salbe seine Wunden würde heilen können. Wir anderen hatten ja wenigstens noch den zweifelhaften Trost, dass unser Doppelgänger auf der Erde weiterlebte. Tom dagegen gab es nur noch in einfacher Ausfertigung, und die war nun hier auf der Insel.

Bis zum Abend schleiften Chris und ich Tom durch die ganze Burg, zeigten ihm die Räumlichkeiten und eröffneten ihm scheibchenweise immer neue Details über das Große Spiel. Bei Einbruch der Dämmerung wusste er bereits über alles Bescheid. Zu meinem Erstaunen reagierte er ziemlich gelassen auf seine neue Lage, möglicherweise nahm er unsere Erzählungen einfach nicht ernst.

Während unserer Burgführung liefen wir einige Male Rita und Inga über den Weg. Mit gelangweilten Mienen stolzierten die beiden Mädchen jedes Mal an uns vorbei und fingen dann hinter unserem Rücken zu kichern an. Als ich Chris ansah, bemerkte ich, dass ihm ein Grinsen im Gesicht stand. Auch er amüsierte sich über die Situation, nur ich fand absolut nichts Komisches daran.

Am Wehrgang an die Mauerbrüstung gelehnt, warteten Chris, Tom und ich darauf, dass die anderen Jungen von der Wache zurückkehrten. Als Erster kam Meloman zurück. Überrascht musterte er Tom und versuchte, ihm etwas auf Englisch zu sagen. Als er keine Worte fand, lachte

Unvermittelt zog Meloman mich zur Seite. »Hast du die Neue schon gesehen?«, fragte er flüsternd.

»Ja, wieso?«, erwiderte ich etwas irritiert.

»Hübsch, nicht?«

Dazu fiel mir erst mal nichts ein, denn ich kannte Inga schon so lange, dass ich mir darüber keine Gedanken gemacht hatte.

»Ziemlich«, antwortete ich schließlich ausweichend.

»Ja, ziemlich, das habe ich mir auch gedacht«, sagte Meloman und stülpte sich den Kopfhörer auf den Schopf. »Mist, die Kiste leiert schon wieder. Auf diesen bescheuerten Inseln lädt sich der Disc-Man nicht richtig auf, als wäre das Licht elektrisch und nicht von der Sonne.«

Diese lapidare Feststellung machte mich stutzig. »Die Sonne hier ist vermutlich nicht dieselbe wie auf der Erde«, entgegnete ich, selbst nicht ganz überzeugt von meinem Argument.

»Weiß ich doch. Aber lästig ist es trotzdem«, schloss Meloman.

Von der Ostbrücke kamen Maljok und Janusch zurück. Janusch schaute zufrieden drein, Maljok dagegen gelangweilt, ein sicheres Zeichen dafür, dass ihre Wache ohne ernstliche Feindberührung verlaufen war.

Maljok sah mich kurz an, doch als ihn mein Blick traf, wandte er die Augen sofort wieder ab. Bisweilen überkam mich das peinigende Gefühl, dass er mich doch bemerkt haben könnte, als ich ihm damals nachts im Keller hinterhergeschlichen war.

»Wir haben Zuwachs bekommen«, teilte Chris den Rückkehrern mit.

Janusch setzte ein zögerliches Lächeln auf. »Von woher bis du ge-kom-men?«, fragte er, jede Silbe einzeln aussprechend. Meistens sagte er nicht viel, aber wenn, dann war er rührend darum bemüht, die für ihn fremden Worte absolut korrekt auszusprechen.

»Er ist Engländer«, warf Meloman ein.

»Australier«, verbesserte ich.

»Macht doch keinen Unterschied«, entgegnete Meloman mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Jedenfalls spricht er nur Englisch.«

»Komm du mal auf die Insel Nr. 18«, sagte Chris und sah Meloman mit listigen Augen an. »Dann würdest du auch Englisch sprechen, und über dich würde man sagen, dass du Türke bist.«

In diesem Augenblick erschienen auf der Westbrücke in der Ferne drei kleine Gestalten.

»Na endlich«, sagte Chris zufrieden. »Heute ist ein guter Tag.«

Am Abend stellte ich fest, dass Ingas Auftauchen wesentlich mehr Aufsehen erregte als die Ankunft von Tom. Das mochte damit zusammenhängen, dass Überläufer auf den Inseln viel seltener waren als gewöhnliche, »fotografierte« Zugänge. Vielleicht hatte es aber auch einen anderen Grund.

Nach dem Essen hatte es niemand eilig, den Thronsaal zu verlassen. Chris übersetzte uns die neuesten Nachrichten von der Erde, die Tom zu berichten wusste: Weltkrieg gab es keinen, die Vereinigten Staaten zogen ihre Truppen aus irgendeinem Land ab, aus welchem, hatte Tom vergessen. In Russland hatten irgendwelche Wahlen

Während Chris seine Unterhaltung mit Tom auf Englisch fortsetzte und Janusch, rücklings auf dem Sofa liegend, an die Decke starrte, hatten sich alle anderen nach und nach im Kreis um Inga geschart. Sie saß am Kamin, Timur hatte sich ihr gegenüber falsch herum auf einem Stuhl aufgepflanzt, die andern hockten auf umgedrehten Fässern.

Inga hatte ein komplizenhaftes Lächeln aufgesetzt und schien etwas sehr Spannendes zu erzählen, denn die Jungen lauschten wie gebannt, und ihre Augen hingen an Ingas Lippen.

Eine Weile blieb ich noch abseits stehen, dann hielt ich meiner Neugier nicht mehr stand und drängte mich auch in den Kreis der Zuhörer.

»… und Garik, das ist so ein Dürrer mit einer langen Nase, ein Kaukasier eben, der hat gesagt, es sei besser, allein gegen zwei zu kämpfen als gegen diesen Typen, der immer mit zwei Schwertern ficht …«

Timur senkte verlegen den Blick, und seine Ohren begannen zu glühen.

»… und der dicke Boris hat gesagt, wenn der mit den zwei Schwertern auftaucht, könne man nur noch seine Knochen nummerieren oder am besten gleich von der Brücke springen …«, plapperte Inga weiter.

»Inga!«, intervenierte ich spontan. »Jetzt labere doch den armen Timur nicht so zu. Bei mir ist das was anderes, ich kenne deine Geschichten ja schon, seit ich denken

Stille kehrte ein. Timur sah mich an, grinste und blickte dann ins Feuer. Inga wandte sich mir mit einem wütenden Blick zu. Meloman schüttelte den Kopf und stellte seinen Disc-Man auf volle Lautstärke, während Chris sich zu uns gesellte.

»Dann kennt ihr euch also?«, fragte Ilja begeistert. »Warum habt ihr das nicht gleich gesagt?«

Erschrocken biss ich mir auf die Zunge. Mit einem Seitenblick fahndete ich instinktiv nach Maljok und sah gerade noch, wie er durch die halb offene Tür entschwand.

»Chris!«, rief ich. »Maljok haut ab!«

Der Anführer zuckte kurz zusammen, einen Wimpernschlag später deutete er zur Tür und brüllte: »Timur! Tolik! Fangt Maljok ein!«

Alle gleichzeitig rannten wir los. Als Erster, noch vor Timur und mir, sprintete Tolik in den Gang hinaus.

3 DIE NACHT DER ENTDECKUNGEN UND DER MORGEN DER ENTSCHEIDUNGEN

Wir holten Maljok ein, als er gerade das Gatter entriegeln wollte, hinter dem sich die Kellertreppe befand. Tolik packte ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich herum.

»Hiergeblieben, Bürschchen!«, sagte er nahezu väterlich. »Wo rennst du denn hin?«

Die rötliche Flamme der am Ende des Ganges brennenden Fackel tauchte die beiden in ein flimmerndes Halbdunkel.

Maljok sah Tolik mit zu kleinen Schlitzen verengten, blitzenden Augen an und sagte leise: »Was willst du, kann ich nicht mehr hingehen, wohin ich will?«

»Kannst du wohl, aber warum läufst du davon? Und was hast du dort unten verloren?«

»Erkläre ich dir gleich«, sagte Maljok und rammte Tolik im selben Moment das Knie in die Magengrube.

Tolik krümmte sich vor Schmerz und wich einen Schritt zurück. »Du spinnst wohl!«, japste er.

Maljok hatte bereits das Gatter aufgestoßen und wollte gerade zur Treppe laufen, als er plötzlich der Länge nach auf den Boden schlug; Tolik hatte ihn mit einer sehenswerten Grätsche von hinten umgemäht.

»Du wolltest es so, Maljok. Wie kannst du nur …«, sagte Tolik fast schuldbewusst, das Gesicht immer noch schmerzverzerrt. Da traf ihn ein Fußtritt des kleinen Jungen, der sich wieselflink wieder aufgerappelt hatte, in die Rippen, und Tolik flog unsanft gegen die Wand.

Erneut spurtete Maljok in Richtung Kellertreppe, prallte jedoch an Timur ab, der sich inzwischen breitbeinig vor dem schmalen Treppengang aufgebaut hatte.

»Du hast doch gehört, dass du hier bleiben sollst«, sagte Timur mit gleichgültiger Stimme und sah den kleinen Jungen ungerührt an.

Panisch blickte Maljok sich um und sah Chris und mich hinzueilen. Der Rest stürmte auch schon den Gang entlang.

»Tim, lass mich durch!«, fiepte er verzweifelt.

»Vergiss es«, beschied ihn Timur trocken.

Da zog Maljok mit einer blitzschnellen Bewegung seinen Dolch aus dem Gürtel und stach auf Timur ein. Als wir bei den beiden ankamen, war der Kampf bereits vorbei. Maljok lag rücklings und mit ausgebreiteten Armen am Boden, als wäre er von einer Dampfwalze überrollt worden, und gab keinen Mucks mehr von sich. Timur stand, von Tolik gestützt, daneben und griff sich an die rechte Seite. An seinem zerrissenen T-Shirt trat ein kleiner roter Fleck hervor.

»Halt dich fest, Tim«, sagte Chris und fasste ihn unter der Achsel. Er und Tolik stützten den schwankenden Hünen jetzt von beiden Seiten. »Kannst du gehen?«

Die soeben herbeigeeilte Rita stieß einen gedämpften Schrei aus. Verwundungen an der Leber endeten oft tödlich, weil die Wundsalbe in diesen Fällen meistens nicht half.

»Alles in Ordnung«, presste Timur hervor und lächelte gequält. »Das ist nur ein Kratzer. Der Dolch ist zum Glück hölzern geblieben. Anscheinend wollte er mich nicht wirklich umbringen, obwohl er einen lebensgefährlichen Leberstich gesetzt hat.«

Skeptisch sah Chris sich die kleine Wunde an und schüttelte den Kopf. »Glück gehabt. Und was ist mit dem da?«, fragte er, auf den geplätteten Maljok deutend.

»Der kommt in einer Viertelstunde wieder zu sich.«

»Sehr gut.« Chris kniete sich neben Maljok hin und fesselte ihm mit einem Gürtel die Hände.

An Rita geklammert, fing Tanja leise zu weinen an. Ilja machte den Mund auf und wollte etwas sagen, ließ es dann aber doch bleiben.

»Bringt ihn in den Thronsaal«, befahl Chris, nachdem er die Fessel fest angezogen hatte, und klopfte sich angewidert die Hände ab. Tolik wuchtete Maljok über seine Schultern und trug ihn, gebückt unter der Last, schweigend davon.

»Was geht hier eigentlich vor?«, platzte Sershan auf einmal heraus und packte Chris am Handgelenk. »Wieso haben wir ihn verfolgt? Warum kam es zu diesem Kampf? Klär uns mal auf, Kommandeur. Du hattest doch angeordnet, ihn zu fassen.«

Chris sah sich nach mir um und nickte mir zu. »Erklär du es. Du weißt anscheinend mehr als ich.«

Alle starrten mich an und warteten darauf, was ich sagen würde. Meine ausgetrockneten Lippen mit der Zunge befeuchtend, setzte ich an: »Also, um es kurz zu machen: Er ist ein Spion.«

»Blödsinn!«, bellte Sershan entrüstet. »Für wen soll er denn spioniert haben? Für die Insel Nr. 24? Oder …«

»Für die Außerirdischen.«


Die jüngeren Mädchen wurden aus dem Thronsaal hinausexpediert und rigoros ins Bett geschickt. Lera und Olja machten beleidigte Gesichter, verzogen sich aber

»Inga«, unterbrach ich kurz meinen Bericht, »bist du zu unserem geplanten Treffen auf die Brücke gekommen?«

»Natürlich«, sagte sie nickend. »Viermal hintereinander«, ergänzte sie und sah mich strafend an.

Der auf dem Sofa liegende Maljok bewegte zaghaft Kopf und Arme. Er schien wieder zu sich zu kommen.

Den Blick auf ihn gerichtet, fuhr ich fort: »Na ja, und heute war’s dann so weit. Mein Treffen mit Inga auf der Brücke hatten sie sicher beobachtet, aber nicht mitbekommen, mit wem ich mich getroffen hatte. Deshalb haben sie Maljok damit beauftragt, das auszuspionieren. Vorhin hat er es herausbekommen, aber dann hat er den Fehler gemacht, sofort loszulaufen, um seinen Auftraggebern Bericht zu erstatten. Natürlich ahnte ich gleich, was er vorhat. Und Chris hat ihn auch durchschaut.«

»Ich hatte Maljok schon lange im Verdacht. Andernfalls wäre ich ein ziemlich schlechter Kommandeur«, sagte Chris und trat dicht ans Sofa heran. »Maljok, du bist schon längst wieder bei Bewusstsein. Du hast gehört, was man dir vorwirft. Was sagst du dazu?«

»Bindet meine Hände los«, bat Maljok kleinlaut.

»Kommt nicht infrage«, entgegnete Chris. »Du bist viel zu stark. Merkwürdig, nicht? Du trainierst am wenigsten,

»Ich bin eben begabt.«

»Das ist nicht der richtige Augenblick für dumme Scherze, Maljok. Ist das, was Dima erzählt hat, die Wahrheit?«

»Nein!« Maljok setzte sich auf. »Ich wollte ihn nur an der Nase herumführen, und er ist darauf reingefallen«, log er frech.

»Du Verräter!«, donnerte Chris. »Nur einen Tag nach seinem Treffen mit Inga kam es auf der Brücke, für die Dima eingeteilt war, zu dem verheerenden Angriff. Wenn ich nicht im letzten Moment umdisponiert hätte … Mir war die Geschichte mit Pawel wieder eingefallen, weißt du noch, vor zwei Jahren, als du diesen Streit mit ihm hattest? Damals warst du auch direkt nach der Wachbesprechung für eine Minute verschwunden. Und an dem Tag wurden Pawel und alle anderen, die mit ihm auf der Brücke waren, getötet. Wie viele von uns hast du ans Messer geliefert, Maljok? Kostja, Romka, Igor, Pawel …«

»Das ist nicht wahr!«, kreischte Maljok mit kalkbleichem, von Angst verzerrtem Gesicht und flüchtete sich in die hinterste Ecke des Sofas, wo er sich wie ein Igel zusammenrollte. »Chris, es war alles ganz anders! Das war nur ein blöder Zufall damals!« Auf einmal fing er erstickt zu heulen an wie ein Kleinkind und stützte den Kopf in seine gefesselten Hände.

Betreten sahen wir uns gegenseitig an, während Rita zögerlich zu ihm hinüberging.

»Das sind keine Beweise, Chris«, sagte Sershan kopfschüttelnd. »Es hätte wirklich genauso gut ein Zufall sein können.«

Chris blieb unbeeindruckt. Die Szene bot ein groteskes Bild: Auf dem Sofa lag greinend ein gefesselter Junge, über ihm loderten die Fackeln, und neben ihm stand ein hoch aufgeschossener, fast erwachsener Kerl mit kaltem, unbeirrbarem Gesichtsausdruck, verbundenem Arm und einem langen Holzschwert am Gürtel.

»Also gut, Maljok. Vielleicht irre ich mich tatsächlich. Dann schlage ich vor, dass wir jetzt alle zusammen in den Keller gehen und uns diese merkwürdige Tafel einmal genauer ansehen. Am besten, wir legen auch mal die Hände darauf und schauen, was passiert.«

»Fiesling!«, gluckste Maljok, ohne den Kopf zu heben. »Dummkopf! Dann geht doch und seht nach.«

»Kann schon sein, dass ich fies bin, Maljok. Aber ich lasse mich von dir nicht für dumm verkaufen!« Bei diesen letzten Worten hatte Chris drohend die Stimme gehoben. Im selben Moment riss er mit einer heftigen Bewegung Maljoks Kopf zurück und griff nach dem Gürtel, mit dem seine Hände gefesselt waren. »Jetzt schaut euch das an! Hat er doch glatt in zwei Minuten den halben Gürtel durchgebissen!«

»Du Schuft!«, krähte Maljok mit tränenerstickter Stimme. »Dabei habe ich dich verschont, ich habe denen nie erzählt, dass du …«

Klatschend schlug ihm Chris mit der flachen Hand ins Gesicht. »Und du wirst ihnen auch nichts erzählen! Damit ist es jetzt endgültig vorbei. Ich bin der Meinung, dass er sich verraten hat. Was meint ihr dazu?«

»Schlag ihn nicht, Chris!«, bat Timur.

»Ich fürchte, wir haben keine andere Wahl, Tim. Er muss uns erzählen, was er weiß, und ich habe nicht den Eindruck, dass er freiwillig den Mund aufmacht.«

»Ich sage überhaupt nichts, kein Wort!«,giftete Maljok.

»Wir bringen dich schon zum Sprechen«, drohte Chris. »Rita, Inga, ihr verlasst den Raum. Und nehmt Ilja mit.«

»Warum?«, empörte sich Ilja.

»Du bist noch zu jung, um so was mit anzusehen. Und für Mädchen ist das auch nichts.«

Chris wandte sich Tom zu, der die Geschehnisse mit verständnislosem Gesichtsausdruck verfolgt hatte, und sagte ihm etwas auf Englisch. Tom nickte und trottete hinter Ilja her aus dem Saal.

»Nimm Tom mit auf deine Kammer!«, rief Chris Ilja hinterher. »Ihr anderen könnt hierbleiben.«

»Sorry, Chris, aber ich werde mich auch besser verziehen«, sagte plötzlich Meloman, schaltete seinen Disc-Man aus und wickelte sorgfältig die Kabel seines Kopfhörers auf. »Er hat sich verraten, das stimmt. Aber ich fürchte, ich bin schon zu alt, um mit anzusehen, was hier gleich geschehen wird.«

Chris nickte etwas erstaunt und wandte sich dann wieder Maljok zu. »Also, was ist, redest du?«

Maljok schüttelte den Kopf und sah Chris angsterfüllt an.

»Wie du willst.«

»Das wirst du nicht wagen!«

»Werde ich doch«, erwiderte Chris und zog sein Schwert.

Maljok starrte die Klinge an und drehte sich entsetzt weg. Für ihn sah das Schwert wohl echt aus.

»Siehst du, ich mache ernst. Kann sein, dass ich mich hinterher selbst dafür hassen werde, aber jetzt denke ich mal ganz fest an meine toten Gefährten, an Kostja … an Igor …«

Die Klinge näherte sich Maljoks Gesicht. Unwillkürlich schloss ich die Augen, dann hörte ich Maljok vor Schmerz aufquieken.

»Hör auf, ich sag alles … alles«, winselte er.

Als ich die Augen wieder aufmachte, klaffte auf Maljoks Wange ein langer, aber harmloser Riss.

»Na also, ich verlass mich drauf«, sagte Chris und legte sein Schwert zur Seite. »Dann leg mal los.«


Entweder hatte Maljok nicht allzu viel mitbekommen, oder er erzählte einfach nicht alles, was er wusste.

Angeworben wurde er bereits einen Monat nach seiner Ankunft auf der Insel als Siebenjähriger, als er sich eines Nachts aus purer Langeweile und jugendlicher Abenteuerlust zu einem Ausflug in die nähere Umgebung der Burg aufmachte. Unterwegs verlor er plötzlich das Bewusstsein und kam in einem Raum mit »runden grauen Wänden« wieder zu sich.

Eine körperlose, nicht menschlich klingende Stimme fragte ihn, ob er bereit sei, über alle Vorgänge auf der Insel Bericht zu erstatten, und versprach ihm im Gegenzug, dass er wieder nach Hause zurückdürfe, wenn er seine Aufgabe »zur Zufriedenheit erledigen würde«. Natürlich konnte es nur eine Antwort darauf geben, und Maljok strengte sich an, alles richtig zu machen.

Der Junge hatte seine Auftraggeber nie zu Gesicht bekommen. Er kannte nur ihre immer gleich klingenden Stimmen, die zunächst aus den grauen Wänden des Raums ertönten, in dem er für mehrere Stunden festgehalten wurde, und später aus der »Steintafel«, die als Sprechanlage diente.

Mittels einer Spezialbehandlung, von der er selbst

Warum die Außerirdischen sich so brennend für mein nächtliches Treffen mit einem der Feinde interessierten, wusste Maljok nicht. Jedenfalls hatte er seinen Auftraggebern pflichtschuldig berichtet, für welche Brücke ich vorgesehen war.

Nachdem der darauffolgende Angriff nicht das gewünschte Ergebnis gebracht hatte, wurde Maljok mit einem Stromstoß bestraft, wie immer, wenn seine Auftraggeber mit seiner Arbeit nicht zufrieden waren. Dafür

Maljok begann erneut zu weinen. »Ich könnte längst zu Hause bei Mama und Papa sein«, schluchzte er.

»Oooh«, machte Chris und schüttelte mitleidig den Kopf. »Was sind wir nur für gemeine Scheusale? Haben wir verhindert, dass der kleine Maljok zu seiner Mama zurückkommt? Und was glaubst du, wäre mit Dima und Inga passiert, wenn wir dich nicht aufgehalten hätten?«

»Weiß ich doch nicht.«

»Du weißt es sehr wohl! Wie stellst du die Verbindung zu deinen Herren her?«

»Man presst einfach die Hände gegen die Marmortafel im Keller.«

»Wie können sie uns noch überwachen?«

»In der Burg überhaupt nicht. Sie wissen nur das, was ich ihnen berichte. Auf der Insel und auf den Brücken dagegen können sie selbst alles sehen, zumindest solange es hell ist.«

Es entstand eine kleine Pause. Tolik massierte sich das Kinn und sah Maljok misstrauisch an.

»Ich glaube, er lügt«, brummte Chris, in dessen Stirn sich zwei tiefe Furchen gegraben hatten.

»Nein, ich denke, es stimmt, was er sagt«, mischte ich mich ein. »Aus seinem Gespräch mit den Außerirdischen habe ich herausgehört, dass sie uns in der Burg nicht überwachen können.«

»Was machen wir mit ihm? Dima, Timur, Tolik«, sagte Chris und sah uns einen nach dem anderen eindringlich an.

Niemand sagte ein Wort.

Chris presste die Lippen zusammen. »Gut, dann werde ich entscheiden.«

Maljok sackte zusammen.

»Du wirst zum Tod verurteilt«, verkündete Chris. »Die Vollstreckung wird auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Timur!«

Timur stand auf und griff sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Wunde.

»Sperr ihn in dem Kerker unter dem Wachturm ein, in den mit der Eisentür und dem dicken Gitter im Fenster, du weißt schon. Danach kommst du sofort zurück.«

»Meinst du nicht, dass er türmt?«, fragte Sershan nachdenklich.

»Ausgeschlossen«, erwiderte Chris. »Ich hab dort selbst mal gesessen, vor fünf Jahren. Weißt du noch, Tim?«

»Klar«, entgegnete Timur mit breitem Grinsen und wandte sich Maljok zu. »Steh auf!«

Widerwillig erhob sich Maljok. Timur bugsierte ihn unsanft durch die Tür und ging mit ihm hinaus.

»Und jetzt«, sagte Chris mit einem Seufzer der Erleichterung, »überlegen wir uns, was zu tun ist.«

Erst gegen halb vier Uhr morgens gingen wir auseinander. Timur und Janusch löschten noch die Fackeln, während der Rest sich schnurstracks in die Kammern verzog. Angesichts der bevorstehenden Wache auf den Brücken schien es ratsam, wenigstens noch etwas zu schlafen.

Todmüde tastete ich mich im finsteren Gang an der Wand entlang, bis ich endlich die Tür zu meiner Kammer fand. Von nun an würde ich allein wohnen, was immer noch besser war, als die Nächte direkt neben einem

»Dima!«, rief jemand aus der Dunkelheit, als ich die Türklinke drückte.

Erschrocken fuhr ich herum, doch es war so finster im Gang, dass ich niemanden sehen konnte.

»Ihr habt euch so lange beratschlagt, dass ich hier fast im Stehen eingeschlafen wäre.«

»Warum bist du nicht in meine Kammer gegangen?«, fragte ich verwirrt.

Inga schwieg. Für einen Augenblick, der kein Ende zu nehmen schien, war nur das gleichmäßige Rauschen des Meeres vor den Burgmauern zu hören. Es war eine pechschwarze Nacht, selbst von den Fenstern am Ende des Gangs drang keinerlei Licht herein.

»Wir haben Maljok nicht gefoltert«, sagte ich endlich, um das Schweigen zu brechen. »Er hat sich vor Angst fast in die Hosen gemacht und alles freiwillig erzählt.«

»Rita und ich haben gesehen, wie Timur ihn eingesperrt hat.«

Inga musste in unmittelbarer Nähe stehen, denn ich spürte ihren Atem auf meiner Wange.

»Rita und ich haben uns lange unterhalten, wir hatten keine Lust, schlafen zu gehen«, flüsterte sie. »Dann ist mir eingefallen, dass ich dir noch etwas sagen wollte. Am Abend hab ich doch erzählt, was Garik über Timur gesagt hat, erinnerst du dich?«

»Ja klar«, erwiderte ich und hatte nicht die geringste Ahnung, worauf sie hinauswollte.

»Vor Kurzem hat Garik erzählt, dass noch ein Neuer aufgetaucht sei, auch so ein schlimmer Gegner, als ob uns der Samurai mit den zwei Schwertern nicht schon gereicht hätte, hat er gesagt. Damit hat er dich gemeint.«

»Tim ist kein Samurai. Er stammt aus Alma-Ata«, sagte ich und bemerkte, dass meine Ohren zu glühen begannen wie bei Timur am Abend zuvor. Gut, dass man das in der Dunkelheit nicht sehen kann, dachte ich.

»Ich muss jetzt gehen, Rita wartet auf mich.«

Wortlos blieb ich an meiner Tür stehen und lauschte, wie Ingas Schritte allmählich in der Nacht verhallten.

4 HOLZSCHWERTERDIPLOMATIE

Am Nordhügel war ich bisher nur selten gewesen. Zum einen lag er ziemlich weit entfernt von der Burg, und darüber hinaus schien er nichts Bemerkenswertes zu bieten zu haben. Jedenfalls auf den ersten Blick.

Es stellte sich jedoch heraus, dass das Steilufer des Nordhügels der einzige Ort auf der gesamten Insel war, an dem stets Wellengang herrschte; und das bei jedem Wetter, selbst bei völliger Windstille, zu jeder Tageszeit und vermutlich auch in der Nacht. Letzteres konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, denn nach der schauderhaften Erzählung von Maljok hatte ich beschlossen, nächtliche Ausflüge auf der Insel tunlichst zu unterlassen.

Die Wellen entstanden etwa zwanzig Meter vom Ufer entfernt in dem Bereich, wo das Flachwasser endete. Sobald eine der vom Hügel aus unsichtbaren Schwingungen des Meeresspiegels diese Linie erreichte, kräuselte sich das Wasser zu einem schaumigen Kamm empor. Die neu geborene Welle rollte nun, immer schneller werdend und sich immer höher aufbäumend, auf das Ufer zu, wo sie an der steilen Felswand aufprallte und ihr kurzes Leben aushauchte. Es blieb nur ein dumpf verhallendes Grollen von ihr übrig, das noch für einen Augenblick in der Luft hing, während bereits die nächste Welle ans Ufer geschoben wurde. Früher oder später würde die Brandung den Nordhügel schleifen und schließlich ganz wegspülen. Die Insel wäre dann platt wie eine Flunder,

Am höchsten Punkt des Hügels, etwa fünf Meter vom abbröckelnden Steilufer entfernt, hatte ich mich bäuchlings auf der Erde ausgestreckt. Das dürre, von der Sonne verbrannte Gras pikste mich in den nackten Bauch. Mein T-Shirt trug ich schon lange nicht mehr, jedenfalls nicht am Tag, da es in der Hitze ohnehin nur lästig am Körper geklebt hätte. Überhaupt begann ich mich an das Leben auf der Insel zu gewöhnen, obwohl noch keine drei Wochen seit meiner Ankunft vergangen waren. Jetzt hatte ich neue Freunde, neue Gewohnheiten, meine eigene Technik, mit dem Schwert zu kämpfen, einen festen Platz am runden Tisch des Burgrates und, nicht zu vergessen, auch meinen Lieblingsplatz auf der Insel.

Hier herrschte immer vollkommene Stille, abgesehen vom Rauschen des Meeres, das ich jedoch als beruhigend empfand und nicht als Lärm. Hier gab es nichts als jenen grasbewachsenen Hügel, den durchsichtigen, klaren Himmel und den gleichmäßigen Atem des Ozeans. Oder auch des Meeres, wer wusste das schon so genau. Es schien, als sei die Welt rings umher sanft entschlafen, und selbst die Sonne am Himmel war stehen geblieben. Solange ich hier lag und den ewig ans Ufer rollenden Wellen zuschaute, würden auf den Inseln kein Unglück und kein Unrecht geschehen. Die Schwerter würden hölzern bleiben und die Wachhabenden auf den Brücken schläfrig und unbehelligt in der Sonne liegen.

Ich hätte große Lust gehabt, das alles Inga zu erzählen, aber ich war mir nicht sicher, ob sie mich verstehen

Gegen die süße Schläfrigkeit ankämpfend, die mich an diesem Ort erfasste, gab ich mir einen inneren Ruck und sprang auf die Füße. Hurtig schritt ich den Hügel hinab in Richtung Burg und widerstand der Versuchung, mich noch einmal umzudrehen. Denn vom Nordufer hatte man den schönsten Blick auf den Ozean, vielleicht deshalb, weil es in dieser Richtung keine anderen Inseln gab. Dort erstreckte sich bis zum Horizont nur tiefes Blau. Dort lag - die Freiheit.


Die Mädchen waren noch in Ritas Kammer versammelt, nur Olja, die Jüngste, stapfte missgelaunt durch den Korridor. Ich schnitt ihr zum Spaß eine Grimasse, die sie mir mit einer giftigen Fratze heimzahlte.

Vorsichtig klopfte ich an der Tür. Zur Antwort schlugen mir kreischendes Gelächter und Ritas Stimme entgegen. »Dimotschka, gedulde dich noch fünf Minuten!«

Dimotschka … Hätte Inga mich so genannt, hätte ich mich sicherlich geschmeichelt gefühlt. Aus Ritas Mund dagegen klang es etwas gönnerhaft und herablassend. Ich drehte mich nach Olja um, ob sie es womöglich gehört hatte. Aber die stand mit finsterer Miene am Fenster, fuhr mit dem Finger über die Scheibe und achtete überhaupt nicht auf mich. Die Fensterscheibe war schmutzig, und Oljas Finger hinterließ schmierige Spuren.

»Malst du?«, fragte ich.

»Ja, einen Tannenbaum.«

Auf dem Fensterglas entstanden tatsächlich die Umrisse

»Ich möchte, dass Weihnachten ist«, erklärte sie trotzig, »und dass es schneit.«

Olja war ein drolliges Mädchen: klein, dürr und erstaunlich selbstständig. So betrübt sah ich sie zum ersten Mal, noch dazu wegen so einer Nichtigkeit.

»Was findest du denn so schön am Winter?«

»Weißt du, ich wurde geklaut, als ich gerade vor dem Weihnachtsbaum saß«, erklärte sie und malte eine Krippe neben den Baum. »Ich frage mich die ganze Zeit, was meine Eltern mir schenken wollten.«

Fast allen Jungen und Mädchen auf der Insel ging es gegen den Strich, sich als Kopie ihrer selbst zu begreifen. Nicht dass jemand bestritten hätte, was Inga und ich entdeckt hatten. Dennoch konnten sich die wenigsten mit der Tatsache abfinden, dass ihr Ebenbild auf der Erde geblieben war. So hielt es offenbar auch Olja. Denn zweifellos hatte die »eigentliche« Olja ihre Geschenke zu Weihnachten bekommen.

Inga steckte den Kopf aus der Kammer. »Bist du so weit, Dima?«

»Gerade fertig geworden«, erwiderte ich artig.

Es war nicht gerade viel, was für unsere Mission von Nutzen sein konnte. In die Hosentasche meiner Jeans hatte ich mit Wundsalbe getränktes Verbandszeug gestopft, und an meinem Gürtel hing in einer einfachen Schlaufe mein Schwert. Eine Schwertscheide war überflüssig, da die Klinge für mich ja aus Holz war.

Wir gingen die Südbrücke hinauf. Inga lief ein paar Schritte hinter mir, hielt sich dicht an der Balustrade und sah immer wieder nachdenklich aufs Wasser hinab. Ihr

»Dima, wenn wir nicht mehr nach Hause zurückkehren können, bleiben wir dann unser ganzes Leben lang auf der Insel?«, fragte sie so unvermittelt, als hätte sie laut nachgedacht.

»Ja. Aber wir kehren ganz bestimmt zurück!«

»Aber wenn nicht? Könnten wir dann nicht fliehen?«

»Wohin denn?«

»Egal wohin. Wir bauen ein Boot und segeln fort.«

»Im Keller ist ein Boot«, fiel mir ein. »Ich hab es selbst gesehen.«

»Dann bist du also einverstanden? Allein fürchte ich mich, mit dir zusammen hätte ich keine Angst. Wir fliehen also, ja?«

Ich blieb stehen und sah Inga erstaunt an. War das wirklich dasselbe Mädchen, mit dem ich mich im Kindergarten gebalgt hatte, mit der ich mir im Schulhof Schneeballschlachten geliefert hatte, auf deren Geburtstagsfesten ich regelmäßig zu Gast gewesen war und der ich kürzlich am Schulausflug über einen kalten, rauschenden Bach geholfen hatte? Sie hatte immer noch dasselbe hübsche Gesicht und die leise, ernsthafte Stimme. Ihre Figur indes war nicht mehr kindlich, wenn auch noch nicht so fraulich wie die von Rita.

Mit einem Mal wurde mir klar, dass ich tatsächlich bereit war, mit ihr zu fliehen, egal ob in einer kleinen Nussschale auf den offenen Ozean hinaus oder auf die nächste Insel in die Sklaverei. Ich erschrak regelrecht über diese Erkenntnis. In diesem Augenblick gewahrte ich, dass Inga, die mich ihrerseits fragend angesehen hatte, meinem verträumten Blick nicht länger standhalten

»Gefällt’s dir auf unserer Insel nicht?«, fragte ich in gekränktem Tonfall.

»Doch schon, es ist eine schöne Insel«, entgegnete Inga mit einer wegwerfenden Handbewegung und fügte dann sehr ernst hinzu: »Was mir nicht gefällt, sind die Inseln an sich. Die Tatsache, dass man sich hier gegenseitig umbringen muss - und nicht irgendwelche Monster, sondern völlig unschuldige Jungen und Mädchen.« Bei diesen Worten schluckte sie und unterdrückte mit Mühe ein Schluchzen. »Und diese Außerirdischen … Ich habe immer das Gefühl, dass sie uns beobachten, sogar in der Burg.«

»In der Burg können sie uns nicht überwachen«, widersprach ich.

»Das glaube ich nicht!«

»Inga, wir haben das doch besprochen. Und wir haben uns einen Plan ausgedacht, wie wir alle wieder zurückkehren können.«

Sie nickte. »Natürlich, Dima. Ich werde mir ja auch alle Mühe geben. Nur habe ich die Befürchtung, dass daraus nichts werden wird.«

»Dann fliehen wir eben. Das nützt zwar wahrscheinlich auch nichts - du kennst ja die Geschichte vom Verrückten Kapitän. Aber egal, wir fliehen trotzdem.«

Inga sah mich zufrieden an. »Lieber segeln wir mit ihm, als hier auf den Inseln zu bleiben«, sagte sie wild entschlossen. »Wenn uns die Außerirdischen auf dem Meer in die Mangel nehmen, heuern wir als Matrosen beim Verrückten Kapitän an.«

Als wir den Scheitel der Brücke erreichten, waren Chris und Timur mit der »Vorbereitung des Schlachtfeldes« bereits weit fortgeschritten. Ein Junge hing, mit weit aufgerissenen, aber leblosen Augen zum Himmel starrend, rücklings über der Balustrade. Schon nach einem flüchtigen Blick wusste ich, dass ihm nicht mehr zu helfen war, und wandte mich seufzend ab. Inga stieß einen markerschütternden Schrei aus und begann hemmungslos zu weinen. Offenbar kannte sie den Jungen ganz gut aus ihrer Zeit auf der Insel Nr. 24 und hatte ihn gemocht.

Zwei weitere Jungen der »feindlichen« Insel setzten den Kampf noch fort. Sie sahen ziemlich übel zugerichtet aus, sodass am Ausgang des Gefechts kaum ein Zweifel bestand. Einige Meter dahinter befand sich ein vierter Verteidiger der Insel Nr. 24. Er war auf die Knie gesunken und hielt sich mit der Hand die Schulter, aus der das Blut in Strömen floss. Er musste schnellstmöglich verbunden werden, denn selbst war er dazu nicht mehr in der Lage.

Chris und Timur schienen keinen Kratzer abbekommen zu haben. Neben ihnen stand, lässig auf sein Schwert gestützt, Tolik und verfolgte gelangweilt den ungleichen Kampf. Als Chris uns bemerkte, gab er Timur einen Klaps auf die Schulter und verließ die Kampfzone in unsere Richtung. Timur, der bislang wie alle anderen auch mit einem Schwert gefochten hatte, hielt einen Moment lang inne, zog sein zweites Schwert hinter dem Rücken hervor und wetzte die Schneiden beider Waffen aneinander. In der entstandenen Stille klang das Rasseln des Stahls besonders schauderhaft. Von der »gebrauchten« Klinge löste sich ein schwerer roter Tropfen und fiel klatschend auf den Marmorboden.

»Nein …«, wimmerte einer seiner Gegner schlotternd.

Timur machte einen Satz nach vorn und schwang gleichzeitig beide Schwerter, deren Konturen verschwammen, während sie wie Propellerflügel durch die Luft wirbelten. Es folgte ein kurzes Klirren und Scheppern, und die Waffen der beiden Vierundzwanziger segelten in hohem Bogen über die Brückenbalustrade. Mit einem dumpfen Schmatzen schluckte sie Sekunden später das Meer. Timur hatte sie ihnen mit wenigen kräftigen Hieben einfach aus der Hand geschlagen. Wehrlos standen ihm die Gegner nun gegenüber, starrten ihn mit kalkweißen Gesichtern an. Ihr schwer verwundeter Gefährte versuchte, die Zähne zusammenbeißend, aufzustehen, doch schon nach wenigen Sekunden knickten seine Beine ein, und er sank erneut auf die Knie. Er war etwas älter als die anderen beiden, etwa vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, und am ganzen Körper von Schnittwunden übersät. Tränen rannen über sein Gesicht, obwohl er krampfhaft versuchte, sie zurückzuhalten. Schließlich resignierte er und kippte vornüber auf den Boden.

Dies war der Moment für Ingas Auftritt, die völlig abwesend und von Zeit zu Zeit leise schluchzend neben mir stand. Nachdem ich ihr einen sanften Schubs in den Rücken versetzt hatte, kam sie wieder zu sich und schritt auf ihre ehemaligen Gefährten von der Nr. 24 zu.

»Hallo, Jungs!«, rief sie ihnen zu, als wenn nichts gewesen wäre.

Für mein Gefühl klang es, als ob sie sich über die beiden lustig machen wollte. Aber zu meiner Überraschung reagierten die Jungen keineswegs verärgert.

»Hallo, Inga«, erwiderte einer der beiden von Timur entwaffneten Jungen kraftlos, doch ohne jeden Gram.

»Was steht ihr hier dumm herum?«, herrschte Inga sie plötzlich an. »Verbindet gefälligst Mischka!«

Völlig verdutzt stürzten die beiden zu ihrem Gefährten. Doch Inga schubste sie gleich darauf rüde beiseite und kümmerte sich selbst um den Verwundeten, während ich zu dem über der Balustrade liegenden Jungen hinüberging. Als ich ihn vorsichtig an der Schulter fasste, rutschte sein lebloser Körper, als hätte er nur auf diese Berührung gewartet, wie in Zeitlupe auf der Innenseite die Balustrade hinab. Während sein Rumpf an deren Fuß zu liegen kam, klappte einer seiner Arme durch einen Geländerzwischenraum und begann makaber in Richtung Meer zu winken.

Mir wurde schlecht. War das wirklich nötig gewesen? Musste der Weg zum Frieden, zum Sieg für alle, unbedingt von Blut getränkt sein? Vom Blut dieses unglückseligen Jungen, dessen Unheil einzig darin bestand, dass er sich ganz genau an die Regeln des Großen Spiels gehalten hatte? Es musste doch auch einen anderen Weg geben. Oder waren wir einfach nicht willens, einen solchen Weg zu suchen? Hatten wir es verlernt, uns auf schmalen Pfaden zu bewegen? Die breiten, ausgetretenen Wege jedenfalls waren überall von Blut besudelt.

Timur hatte sich in der Zwischenzeit darangemacht, den »Streber« zu verbinden, während Chris sich um den dritten Jungen kümmerte.

»Nehmt ihr uns jetzt gefangen?«, fragte die Stupsnase mit piepsiger Stimme.

»Nein, wir lassen euch laufen«, erwiderte Chris großmütig und fügte, mit dem Kopf auf den Toten deutend, ernst hinzu: »Das wollte ich nicht. Aber ihr habt ja gesehen: Ich hatte keine Wahl. Nehmt ihn mit und begrabt ihn auf eurer Insel.«

Verblüfft zog der Junge den verbundenen Arm an seine Brust. »Ich fürchte nur, wir werden’s nicht schaffen, ihn runterzutragen«, sagte er und deutete auf seinen Verband. »Werft ihn bitte nicht die Brücke hinunter, wir holen ihn später ab.«

Chris warf mir einen auffordernden Blick zu. Kaum merklich nickte ich.

»Kein Problem«, sagte Chris mit einem freundlichen Lächeln zu dem Jungen. »Dima und Inga werden euch helfen.«


Es war das erste Mal, dass ich eine Brücke auf der feindlichen Seite hinunterging. Zugegeben, es war ein mulmiges Gefühl, denn jeder Schritt entfernte uns weiter von der Burg des Scharlachroten Schildes. Noch hätten wir die Möglichkeit gehabt, umzukehren. Ich hätte lediglich den auf meinen Schultern hängenden Körper ablegen, Inga an der Hand fassen und kehrtmachen müssen. Die drei Jungen von der Insel Nr. 24 hätten in ihrem jämmerlichen Zustand kaum versucht, uns daran zu hindern. Doch Inga und ich waren gleichermaßen entschlossen, unseren Plan durchzuziehen.

Aus dem im Rhythmus meiner Schritte baumelnden Körper des toten Jungen liefen mir warme Rinnsale den Rücken hinunter. Erstaunlicherweise empfand ich weder Grauen noch Ekel. Meine Welt war aus den Fugen geraten, alle Maßstäbe waren verschoben. Ich war definitiv

»Alik, was ist mit Genka?«, fragte Inga hinter meinem Rücken.

Ich hielt den Atem an.

»Er ist gestorben«, antwortete die Stupsnase ohne den geringsten Anflug von Bedauern in der Stimme.

Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Inga die Farbe aus dem Gesicht wich und ihre Lippen leicht zu zittern begannen.

»Mach dir keine Gedanken, Inga«, setzte Alik hinzu. »Es war nicht nur dein Schwertstich, er hat in der Burg noch ein paar Dolche abgekriegt. Die hatte er sich verdient.«

Ich war ziemlich geschockt. Der Kerl musste ja ein wahres Schreckensregiment auf seiner Insel geführt haben, wenn seine Leute ihn bei der ersten sich bietenden Möglichkeit um die Ecke gebracht hatten, obwohl er wehrlos und verwundet war.

Wir näherten uns der feindlichen Burg, und plötzlich kamen uns zwei Jungen entgegengelaufen, die kampfbereit die Schwerter gezückt hatten. Als sie Inga, mich und den humpelnden Mischka erkannten, gefroren ihre Gesichter, und sie blieben vor uns stehen.

»Ich muss mit dem Anführer eurer Insel sprechen«, sagte ich ruhig. »Wir sind Parlamentäre.«

Verdutzte Blicke tauschend, ließen die Jungen die Waffen sinken und sahen mich ungläubig an.

Einer der beiden war etwa dreizehn Jahre alt, er trat vor, schlitzte grimmig die Augen und hielt mir drohend

Inga stellte sich neben mich und sagte: »Achmet, das ist Dima. Wir sind gekommen, um …«

»Du hast hier auch nichts mehr verloren«, unterbrach sie Achmet schroff.

Der Kerl begann mir auf die Nerven zu gehen. Mit einem Ruck lud ich meine Last auf dem Boden ab und baute mich vor ihm auf. »Wir sind Parlamentäre. Inga hat nicht vor, auf eure Insel zurückzukehren, sie möchte nur bei den Verhandlungen helfen.«

»Was für Verhandlungen denn?«, fragte Achmet misstrauisch.

In der Zwischenzeit waren noch zwei Mädchen aus der Burg getreten, eine kleine, etwas pummelige Blonde, die verschreckt aussah, und eine große, ältere Brünette mit einer breitschulterigen, überhaupt nicht mädchenhaften Figur und einem strengen Gesicht, in dem die Augen wachsam blitzten.

»Unsere Insel bietet euch ein Kriegsbündnis. Wir möchten eine Inselkonföderation mit euch bilden«, sagte ich so laut, dass auch die herbeilaufenden Mädchen es hören konnten.

Nachdem Achmet einige Sekunden über meine Worte nachgedacht hatte, bildeten sich zwei tiefe Furchen auf seiner Stirn. »Macht, dass ihr von hier verschwindet, verstanden! Wir haben nicht vor, die Regeln des Spiels zu brechen.«

»Die Regeln werden nicht gebrochen«, entgegnete ich. »Die erste Regel, wonach man sich nicht freiwillig ergeben darf, wird eingehalten, denn wir werden mit voller Kraft kämpfen, nur eben zusammen. Die Bedingung für

»Das ist nicht in Ordnung, das ist … ähm …« Achmet suchte vergeblich nach einem passenden Wort. »Da gibt es keine Diskussion.«

»Die gibt es doch«, warf unvermittelt das groß gewachsene Mädchen ein, das von hinten an Achmet herangetreten war und ihn nun resolut zur Seite schob. »Lora«, stellte sie sich vor und gab mir die Hand.

Ich warf einen Seitenblick auf Inga und bemerkte, dass sich ein triumphierendes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Als wir gestern Abend die letzten Details besprochen hatten, hatte sie gesagt: »Wenn Genka noch nicht wieder auf den Beinen ist, ist sicher Achmet der Boss auf der Insel. Und der wird das tun, was Lora ihm sagt.«

5 FRIEDE UM DES KRIEGES WILLEN

Mitten in der Nacht wachte ich auf. Zum Fenster lugend, hoffte ich auf einen Hauch von Morgendämmerung, wurde jedoch enttäuscht. Draußen herrschte undurchdringliche Finsternis. Es schien eine ganz gewöhnliche, frostige Nacht zu sein: Der Wind blies heulend um die Burg, und durch das undichte Fenster sickerte feuchte Kälte herein. Die Vorstellung, jetzt aufzustehen und durch die kalten Gänge zu tapsen, war wenig einladend, aber dummerweise musste ich pinkeln. Noch einmal wälzte ich mich herum und versuchte, wieder einzuschlafen. Es war zwecklos.

Während ich in meine Jeans schlüpfte, überlegte ich, ob ich mich ins »offizielle« Pissoir im Erdgeschoss bemühen oder einfach ein Stück auf die Brücke hinausgehen sollte. Da Letzteres bequemer und vor allem nicht so weit war, entschied ich mich für die bei Jungen so beliebte archaische Lösung und kletterte zum Fenster hinaus.

Als ich nach wenigen Minuten von der Brücke zurückkam, war leider jeder Rest von Müdigkeit im kalten Wind verflogen. Da ich nicht die geringste Lust verspürte, mich wieder ins Bett zu legen, stieg ich die Treppe hinunter und begab mich zum Thronsaal, aus dessen halb geöffneter Tür leise Stimmen und das flackernde rötliche Licht des Kaminfeuers herausdrangen. Ich spähte in den Saal hinein und sah, dass Chris wie so oft in der letzten Woche

»Es ist ganz einfach. Wirklich total einfach!«, erklärte er mit vor Eifer glühenden Augen, in denen sich das lodernde Feuer zu spiegeln schien. Er sprach mit erregter Stimme und gestikulierte dabei heftig. »Die Regeln werden strikt eingehalten. Es kann natürlich sein, dass wir hier ein Schlupfloch ausnutzen, das ursprünglich so nicht vorgesehen war. Trotzdem hat niemand das Recht, uns dafür zu bestrafen.«

»Und wenn man uns doch bestraft?« Chris’ Gesprächspartner kannte ich nur flüchtig. Er war am vergangenen Abend über das Territorium der Insel Nr. 24 zu uns gekommen. Zwar war dieser hagere Kerl auf seiner Insel - wenn ich mich recht entsann, war es die Nr. 27 - nicht der Anführer, aber er war Russe, was ihn für die Verhandlungen mit uns prädestinierte. Denn die übrigen Bewohner seiner Insel waren allesamt Italiener und Schweden. Im Allgemeinen schienen die Außerirdischen bestrebt, die Inseln von der Nationalität her möglichst einheitlich zu besetzen; was sie in diesem Fall dazu veranlasst hatte, die temperamentvollen Bewohner der Apenninhalbinsel mit den kühlen Skandinaviern zusammenzupferchen, war mir völlig schleierhaft.

»Wenn sie uns bestrafen …« Chris hob missbilligend die Schultern. »… dann weiß ich auch nicht. Trotzdem müssen wir es riskieren. Zur Konföderation gehören jetzt schon drei Inseln, und bis jetzt hat uns niemand ein Haar gekrümmt. Eine Insel allein hat ohnehin keine Chance zu siegen.«

»Wie müssten wir uns in der Konföderation denn verhalten?«, fragte der Kämpfer.

»Nicht gegen die Inseln der Konföderation kämpfen«, erwiderte Chris lapidar.

»Und das ist alles?«

»Das ist alles. Natürlich können sich verbündete Inseln gegenseitig mit Kämpfern aushelfen und Informationen austauschen. Man kann einander besuchen.«

Unser Gast setzte plötzlich ein breites Lächeln auf, und seine Äuglein blitzten schelmisch.

»Das mit dem Besuchen finde ich schon mal sehr gut«, sagte er und deutete auf seinen leeren Teller. Lera hatte ihm bei seiner Ankunft strahlend vor Stolz eine riesige Portion russische Pelmeni vorgesetzt. Mit dem Hinweis, er habe sich seit Monaten ausschließlich von Spaghetti und Köttbullar ernähren müssen, hatte sich unser Gast gierig über die gefüllten Teigtaschen hergemacht.

Außer Chris und seinem Verhandlungspartner saßen noch Achmet und Timur im Thronsaal. Während der Kommandeur der Insel Nr. 24 dem Gespräch aufmerksam folgte, schien Timur etwas gelangweilt auf dem Sofa zu dösen. Am Tag war auch der Anführer der Insel Nr. 12 bei uns zu Besuch gewesen, jener gutmütige Salif, der sich während meiner ersten Brückenwache als Wilder ausgegeben hatte. Er hatte die Insel jedoch kurz vor Trennung der Brücken wieder verlassen, nachdem er mit Chris gemeinsame Operationen für den kommenden Tag abgesprochen hatte.

Nach Strategiegesprächen war mir nicht zumute, deshalb entfernte ich mich wieder von der Tür. Unschlüssig schlenderte ich durch den Gang und bemerkte, dass ich allmählich wieder schläfrig wurde. Überraschend für mich selbst schlug ich den Weg zum Wachturm ein. Obwohl sich der Turm vom Ufer aus gesehen direkt über den

In das Rauschen des Windes mischte sich plötzlich ein leises Wimmern, was in durchwachten Nächten auf der Insel gar nicht selten geschah. Jemand weinte, und es war nicht schwer zu erraten, wer. Die Kammer unter dem Wachturm diente wahlweise als Waffenlager oder, wie in den letzten Tagen, als Gefängnis.

Auf Zehenspitzen linste ich durch einen schmalen Schlitz, der sich in der Tür des mit einer schweren Eisenstange verriegelten Kerkers befand. Es war kaum etwas zu erkennen, da es draußen immer noch dunkel war und durch die dicken Gitterstäbe im Fenster nur wenig Licht drang. Das Wimmern kam aus der hintersten Ecke des Raumes, wo sich schemenhaft das Gestell einer niedrigen Pritsche abhob.

»Maljok!«,rief ich leise, um den kleinen Teufel nicht zu erschrecken.

Das Weinen hörte auf, die Pritsche ächzte, und Maljoks Silhouette setzte sich auf. In der ersten Nacht hatte er noch auf dem Boden geschlafen, am nächsten Tag hatten ihm Meloman und Ilja dann mit dem stillen Einverständnis der anderen eine Holzpritsche und Bettzeug gebracht.

»Dima, bist du’s?«, hauchte er mit bebender Stimme.

»Ja, hab keine Angst«, erwiderte ich mit einem Anflug von Mitleid.

»Ich habe überhaupt keine Angst«, sagte Maljok trotzig und schlappte zur Tür. Durch den Schlitz drang ein kaum spürbarer Lufthauch.

»Hasst du mich, Dima?«

»Ich weiß nicht«, entgegnete ich unschlüssig.

»Dann verachtest du mich?« In Maljoks Stimme schwang leise Hoffnung mit.

»Ja.« Diesmal war ich mir sicher.

Nach kurzem Schweigen raschelte etwas, und Maljoks Kopf näherte sich dem Türschlitz.

»Dima, wenn es dir nicht zuwider ist, nimm meine Hand.«

Irritiert legte ich meine Hand auf seine Finger, die er durch den Schlitz gesteckt hatte.

»Danke«, flüsterte er. »Hör zu, wenn jemand vorschlagen sollte, mich aus dem Turm zu befreien, oder wenn ich selbst darum bitten sollte, lass das auf keinen Fall zu.«

Anstatt zu antworten, nickte ich nur flüchtig und würgte an einem Kloß in meinem Hals.

»Denk nicht schlecht über mich. Ich wollte wirklich nur nach Hause. Das war nicht fair von mir, ich weiß. Aber mein Heimweh war stärker als alles andere. Zu Anfang haben diese Außerirdischen ja auch nichts Schlimmes von mir verlangt. Ich sollte ihnen nur berichten, was in der Burg vor sich ging.«

»Sie bekommen also rein gar nichts von dem mit, was wir hier drinnen tun oder reden?«

»Nein. Und da ist noch etwas: Sie können uns auch nicht unterscheiden. Sogar Mädchen und Jungen verwechseln sie dauernd. Nur an der Größe können sie sich halbwegs orientieren. Zum Beispiel könnten sie dich von Chris unterscheiden. Aber mit Meloman oder Tolik würden

Meine Eingeweide krampften sich zusammen, und eiskalter Schweiß trat mir auf die Stirn. Auf meinem Rücken fühlte ich einen schweren Blick lasten. Einen Krötenblick … oder einen Spinnenblick.

»Hast du denn wirklich keine Angst in diesem Loch?«, fragte ich.

Maljok dachte lange nach, dann hauchte er: »Doch. Vor allem nachts. Ich weiß, dass sie mir nie verzeihen werden.«

»Soll ich vielleicht mal mit den anderen reden?«

»Nein!«, erwiderte er scharf. »Hast du schon vergessen, worum ich dich gerade gebeten habe?«

Instinktiv tastete ich nach dem Eisenriegel des Schlosses und zog meine Hand von der Maljoks zurück.

»Gut. Ich habe verstanden«, sagte ich. »Du traust dir selbst nicht über den Weg.«

»So ist es.« Maljok zog ebenfalls seine Hand aus dem Spalt. »Und noch etwas, Dima«, fuhr er fort. »Darüber habe ich bis jetzt nicht gesprochen, weil ich dachte, dass es nicht wichtig ist. Die Außerirdischen waren immer sehr erpicht darauf, zu erfahren, wer mit wem befreundet ist, besonders wenn es sich um ein Mädchen und einen Jungen handelte. Das interessiert sie brennend, keine Ahnung, warum. Sie wollten unbedingt wissen, warum jemand für einen anderen ein Risiko eingeht. Zum Beispiel haben sie mich gefragt, warum die anderen Jungen im Kampf ihr Leben für mich riskieren. Weil wir Freunde sind, habe ich ihnen geantwortet. Daraufhin wollten sie, dass ich ihnen erkläre, was Freundschaft ist.«

»Und? Hast du’s ihnen erklärt?«

»Nein, ich konnte es nicht erklären.«

»Verstehe, du wolltest dir lieber keine Gedanken darüber machen.«

Maljok schwieg.

»Na gut. Schlaf jetzt«, sagte ich und entfernte mich von der Kerkertür.

»Ich versuch’s«, rief mir Maljok leise hinterher und fügte mit ernster Stimme hinzu: »Und richte Chris aus, er soll nicht vergessen, dass es auf allen Inseln Beobachter gibt. Auch auf denen, mit denen wir uns verbündet haben.«


Der Morgen auf der Insel Nr. 36 begann neuerdings immer mit einer Trainingseinheit. Noch bevor die Sonne über den Horizont lugte, jagte Chris die gesamte Mannschaft vor die Burg hinaus.

Im fahlen Dämmerlicht fanden sich am Sandstrand fast apathisch wirkende Gestalten ein, denen der Schlaf noch im Gesicht stand. Widerwillig stellten sie sich zu Trainingspärchen zusammen und begannen, leidenschaftslos und träge mit ihren Holzschwertern aufeinander einzuprügeln. Erst allmählich wurden ihre Bewegungen flinker, und das Klappern der aufeinanderschlagenden Holzwaffen wurde lauter. Hin und wieder kam es vor, dass sich ein stählernes Klirren in das dumpfe Gehämmer mischte. Die übereifrigen Duellanten brachen das Training dann sofort ab und pausierten, bis ihre überhitzten Gemüter sich wieder auf ein ungefährliches Maß abgekühlt hatten.

Bald blaute der Himmel, und erste Sonnenstrahlen vertrieben die nächtliche Kühle. Nach dem Training

Mein Trainingspartner war Meloman. Wir passten sehr gut zusammen, da wir annähernd gleich stark waren und unsere Einstellung zum Training gleichermaßen leger war: Nicht ein einziges Mal waren unsere Holzschwerter stählern geworden, was bei Hitzköpfen wie Timur und Chris an der Tagesordnung war.

Mechanisch Melomans Schwertschläge abwehrend, beobachtete ich aufmerksam Chris. Vor dem Training hatte ich ihm von meinem nächtlichen Gespräch mit Maljok erzählt und war nun sehr gespannt, wie er darauf reagieren würde. Bis jetzt war ihm nichts anzumerken.

Nachdem er mit einer eleganten Bewegung einen Schlag von Timur pariert hatte, ließ er plötzlich das Schwert sinken und verkündete unvermittelt: »Pause! Jungs, kommt mal zusammen.« Achselzuckend warf mir Meloman einen Blick zu und stapfte durch den Sand zu Chris hinüber. Zögerlich folgte ich ihm.

»Wer von euch kennt sich mit Technik aus?«, fragte Chris, während er noch Tom herbeiwinkte. Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte er sich dann schnurstracks in Richtung Burgtor und wies uns über die Schulter an: »Kommt, ich möchte mir mit euch zusammen was ansehen!« Artig dackelten wir hinter ihm her, obwohl wir nicht die geringste Ahnung hatten, was er nun schon wieder ausgeheckt hatte.

Zum wiederholten Mal kam mir der Gedanke, dass unser Anführer eigentlich nie um eine gute Idee verlegen

Wir gingen in den Keller hinunter. Das Öffnen der Kellertür war eine längere Prozedur, denn seit Maljoks Enttarnung war der Riegel mit einem dicken Stahldraht gesichert, den nicht einmal Chris allein aufbiegen konnte. Mindestens zwei Mann mussten alle Kraft aufbieten, um den Draht gerade zu biegen und aus der Öse im Riegel zu ziehen. Es war ein einfaches und höchst effektives Sicherheitssystem: Selbst wenn es auf der Insel noch einen weiteren »Beobachter« gegeben hätte, wäre er allein nicht imstande gewesen, zur Sprechanlage im Keller vorzudringen.

Nachdem wir uns im schummrigen Licht einer Petroleumlampe den Weg durch den vollgestellten Keller gebahnt hatten, versammelten wir uns ehrfürchtig um die »Marmortafel« herum. Natürlich hatten wir uns schon oft die Frage gestellt, wie die Kommunikation über diese mysteriöse Sprechanlage funktionierte, bislang hatten wir es aber nicht gewagt, uns daran zu schaffen zu machen.

»Zuerst habe ich gedacht«, begann Chris, »dass die Außerirdischen nicht erfahren würden, dass wir ihnen auf die Schliche gekommen sind. Da habe ich mich offenbar getäuscht. Es hat also keinen Sinn, weiterhin Versteck zu spielen. Jetzt versuchen wir einfach mal herauszufinden, was es mit dieser Sprechanlage auf sich hat.«

Zunächst tatschte er vorsichtig mit der flachen Hand dagegen, dann presste er für ein paar Sekunden die Hände fest auf die Tafel.

»Mist, funktioniert nicht«, brummte er.

Dann griff er sich ein am Boden herumliegendes Eisenstück, holte aus und schlug mit voller Wucht gegen die Tafel.

»Macht auch mit!«, rief er uns zu.

Etwa zehn Minuten lang malträtierten wir die Marmorplatte ergebnislos mit allem, was uns in die Hände kam. Dann brach sie plötzlich mit einem eigenartigen, dumpfen Geräusch aus der Wand und glitt ganz langsam, wie ein Stück Schaumstoff, hinab. Als sie mit einer Ecke am Boden auftraf, zerfiel sie in winzige Marmorkrümel. Verdutzt starrten wir auf die Bescherung.

Meloman kniete sich hin, nahm sich eine Handvoll der Steinchen und ließ sie langsam in seine andere Hand rieseln.

»Also, selbst wenn das ein Gerät ist … Ich glaube nicht, dass wir da durchsteigen«, sagte er enttäuscht. »Chris, was machst du denn?«

Chris hatte immer noch das kurze rostige Eisenrohr in der Hand und zeigte damit auf die Wand. An der Stelle, wo soeben die Marmortafel herausgefallen war, befand sich nun keineswegs ein Loch, sondern eine neue Sprechanlage, die genauso marmorn glänzte wie die alte.

»Sie haben sie ausgewechselt«, konstatierte Meloman völlig perplex. »Aber wie?«

»Und wie kommen die frischen Lebensmittel in die Küche?«,gab Chris zurück. »Das ist so eine Art Telekinese, wahrscheinlich. Tja, also der Reparaturservice klappt gut. Gehen wir … Wo ist Tom?«

Erschrocken blickte ich mich um. Die Außerirdischen hätten beim Auswechseln der Tafel auch Tom verschwinden lassen können. Das war ihnen zuzutrauen. Zur allgemeinen Erleichterung tauchte Tom jedoch alsbald aus

»Tom hat gerade das Boot inspiziert, das hier unten im Keller herumliegt. Vor sieben Jahren sind zwei Jungen in diesem Boot auf der Insel gelandet. Das war kurz nachdem ich auf die Insel gekommen bin. Wir haben damals versucht, mit dem Boot in See zu stechen, sind aber schon nach wenigen Metern gekentert. Tom hat mir eben erzählt, dass er mit seinem Vater oft beim Segeln war und mit so einem Boot umgehen kann. Er meint, man müsste nur einen neuen Kiel anfertigen und den Boden mit Ballast beschweren. Außerdem hat er gesagt, dass eine Konföderation ohne Flotte doch nur eine halbe Sache sei.«

6 KÄPTEN TOM

Von einem bestimmten Zeitpunkt an begannen mir die Ereignisse zu missfallen. Es muss der Tag gewesen sein, an dem wir die Insel Nr. 30 durch einen Zangenangriff eroberten.

Unser Vorgehen war weder heimtückisch, noch war es ein primitiver Racheakt. Mehrfach hatten wir den Dreißigern angeboten, in die Konföderation einzutreten, was sie jedoch starrsinnig ablehnten. Offensichtlich glaubten sie uns nicht, dass wir es ernst damit meinten. Nach dem endgültigen Scheitern der Verhandlungen hatte Chris mit den übrigen Kommandeuren der Konföderation verabredet, von zwei Seiten gleichzeitig einen Sturmangriff auf den störrischen Feind zu unternehmen.

Am vereinbarten Tag marschierte auf zwei Brücken der Insel Nr. 30 eine halbe Armee auf. Unter normalen Umständen hätten wir es uns nicht leisten können, zehn Kämpfer auf eine einzige Brücke zu entsenden, denn dann wären die übrigen zwei Brücken vollständig entblößt gewesen. Eine solche Einladung, einfach auf die andere Seite der Brücke zu spazieren und sich die Burg des Scharlachroten Schildes einzuverleiben, hätte sich keine der Nachbarinseln entgehen lassen. Dank der Konföderation hatten wir jedoch nichts dergleichen zu befürchten.

Zu zehnt, neun Jungen und Inga, standen wir vier Kämpfern der Nr. 30 gegenüber und fühlten uns unsagbar stark.

»Vielleicht überlegt ihr euch das Ganze noch mal?«, rief Tolik den Gegnern zu und tätschelte drohend sein Schwert.

Die Dreißiger waren nicht dafür bekannt, Feiglinge zu sein. »Wir gehen nicht in Gefangenschaft«, erwiderte einer von ihnen unerschrocken.

Von Gefangenschaft war eigentlich keine Rede gewesen, aber wir hatten jetzt keine Lust mehr, alles noch einmal von vorn zu erklären. Außerdem hatten wir die demütigende Niederlage, die uns die Insel Nr. 30 zugefügt hatte, noch nicht vergessen. Wenn man sich in der Übermacht wähnt, erinnert man sich gern an solche offenen Rechnungen.

Chris und Tolik eröffneten den Kampf. Ihre Gegner waren stark und leisteten heftigen Widerstand. Wir waren indes gar nicht auf einen schnellen Sieg aus, sondern hatten uns eine Zermürbungstaktik zurechtgelegt. Als zweites Kampfpaar stürzten Tolik und ich uns ins Gefecht, danach übernahmen Meloman und Sershan die Position an vorderster Front. Zwar wechselten sich auch die Dreißiger ab, sie hatten jedoch nur zwei Kampfpaare zur Verfügung, während wir immer neue Kämpfer nach vorn schickten: Janusch und Ilja, Tom und den inzwischen ausgeruhten Timur. Nur Inga hatten wir unmissverständlich angewiesen, sich aus den Gefechten herauszuhalten.

Der entscheidende Durchbruch gelang ausgerechnet Tom. So etwas nennt man Anfängerglück, ich selbst hatte ja auch schon davon profitiert.

Zu zweit auf Timur konzentriert, hatten die Feinde seinen Partner völlig aus den Augen verloren, was nicht weiter verwunderlich war, denn Tom hielt sein Schwert

Als der Gegner ihm den Rücken zukehrte, fackelte Tom nicht lange und setzte einen nahezu perfekt geführten »Zornhau« an. Diesen Hieb hatte ihm Chris gestern erst im Training gezeigt. Die Verteidiger waren nun einer weniger.

Um die momentane Konfusion beim Feind auszunutzen, stürmten nun auch Chris, Tolik und Janusch wieder nach vorn, wobei sie sich beinahe gegenseitig umgerannt hätten. Sekunden später sank der nächste Gegner zu Boden. Dem dritten, der uns vor dem Gefecht noch so tapfer die Stirn geboten hatte, schlug Timur mit einem gewaltigen Hieb das Schwert aus der Hand.

»Ich … ich ergebe mich!«, schrie er verzweifelt.

»Wir machen keine Gefangenen«, gab Timur eiskalt zurück.

Leise säuselnd zerschnitt Timurs Klinge die Luft, bevor sie mit einem grauenhaften Schmatzen ihr Ziel traf.

Taumelnd kehrte Tom aus der Kampfzone zurück. Sein Gesicht war kalkweiß, seine Lippen zitterten, und seine Augen stierten ins Leere. Aufmunternd gab ich ihm einen Klaps auf die Schulter, schließlich war doch alles gut gegangen. Tom schüttelte nur den Kopf und marschierte wie ferngesteuert die Brücke hinunter zurück zur Burg.

Langsam rückwärtsgehend, fasste der letzte Kämpfer der Nr. 30 das Schwert mit beiden Händen, während sein panischer Blick abwechselnd auf Chris und Timur fiel, die entschlossen auf ihn zugingen.

»Lasst mich … Ich … ich erledige das selbst … Ich will

Wir erstarrten, und bleierne Stille legte sich über die Brücke. Nur das sanfte Rauschen des Meeres untermalte die schauerliche Szenerie. Mit aus den Höhlen tretenden Augen starrte der Junge auf die Klinge in seinem Bauch.

Erst als er zu Boden sank, begriff ich, was geschehen war: Auf manchen Inseln herrschte der Glaube, dass derjenige Teilnehmer des Spiels, der sich in einer ausweglosen Situation selbst tötet, auf die Erde zurückkehrt.

»Warum hast du gesagt, dass wir keine Gefangenen machen?«, platzte Meloman in die Stille hinein. »Nur deswegen hat er das getan!«

»Das habe ich doch nicht zu dem hier gesagt«, verteidigte sich Timur, »sondern zu dem anderen. Und den habe ich erkannt: Es war das Schwein, das den Pfeil auf Kostja abgeschossen hat.«

Hinter mir hörte ich Inga leise weinen und ging zu ihr.

»Dima, warum habt ihr das getan? … Warum?«, fragte sie und sah mich vorwurfsvoll an.

Verärgert zuckte ich mit den Achseln. Immerhin hatte nicht ich die vier Jungen umgebracht, die sich im Übrigen ja selbst für den Kampf entschieden hatten. Außerdem hatte Inga ganz genau gewusst, dass es heute auf der Brücke kein Spaziergang werden würde, als sie uns am Morgen überredete, sie mitzunehmen.

So ist es immer mit den Mädchen, selbst mit den allerklügsten: Zuerst setzen sie mit allen Mitteln ihren Willen durch, und hinterher darf man sich dann noch Vorwürfe anhören. Offenbar stellen sie sich alles immer viel romantischer vor, als es in Wirklichkeit ist.

»Jetzt werft sie doch endlich ins Meer«, rief Tolik. »Was stehen wir hier herum?«

»Wirf sie doch selbst runter«, giftete Sershan.

»Mache ich auch!«, erwiderte Tolik zornig und machte sich ans Werk.

Inga schloss die Augen. Mit einem Mal verstand ich, dass sie recht hatte. Nicht dass wir Jungen im Unrecht gewesen wären, aber in diesem Moment trafen zwei Wahrheiten aufeinander - und eine jede hatte ihre Berechtigung. Es hätte keinen Sinn gehabt, deswegen mit Inga zu streiten.

»Inga, ich kann es doch auch nicht ändern«, sagte ich schuldbewusst. »Es bleibt uns doch nichts anderes übrig. Vielleicht ist es am besten, wenn du mit Tom zur Burg zurückgehst.«

Sie nickte, ohne die Augen zu öffnen, drehte sich um und ging zögerlich los. Von unten blendeten mich plötzlich Lichtblitze, die sogar das Sonnenlicht überstrahlten: einer … zwei, drei, vier Lichtblitze.

Mit zusammengekniffenen Lidern blickte ich Inga hinterher, die nun im Laufschritt zu Tom aufschloss. Vor meinen Augen schwammen immer noch bunte Kreise.

»Dima, wir müssen weiter!«, rief Tolik.

Als ich mich umwandte, sah ich, dass meine Gefährten auf der anderen Seite schon etwa hundert Meter hinuntergelaufen waren. Nur diese wenigen Meter trennten mich von ihnen - und einige rote Lachen auf dem rosa Marmor. Ohne auf den Boden zu sehen, lief ich ihnen nach.


Etwas in mir war zerbrochen.

Als wir den verbliebenen Verteidigern der Nr. 30, in

Doch obwohl ich mich also genauso verhielt wie alle anderen auch, klang es mir ständig in den Ohren: Wozu? Wozu?

Timur stieg durch ein Fenster in die Burg ein und öffnete das Tor von innen.

Wozu?

Um nach den restlichen Bewohnern der Insel zu suchen, schwärmten wir in der Burg aus. In einem großen Saal, der ein wenig an unseren Thronsaal erinnerte, stießen wir auf drei Mädchen und einen etwa dreizehnjährigen Jungen, dessen Arm verbunden war. Alle vier waren bewaffnet, und selbst die Schwerter der Mädchen blitzten stählern.

Wozu?

»Werft die Waffen weg!«, befahl Chris nachdrücklich. »Wir haben nicht die geringste Lust, euch zu töten.«

Klirrend landeten die Schwerter der Mädchen auf dem Boden. Nach kurzem Zögern warf der Junge seines dazu.

»Na also«, sagte Tolik. »Ihr geht fürs Erste auf verschiedenen Inseln in Gefangenschaft. Und dann sehen wir weiter.«

Wozu?

Nachdem Tom sich von dem Schock, auf der Brücke einen Kämpfer getötet zu haben, erholt hatte, machte er sich an die Reparatur des Bootes. Genauer gesagt: Er koordinierte die Reparatur des Bootes. Denn mit den eigentlichen Arbeiten waren hauptsächlich Sershan, Ilja und zwei handwerklich geschickte Jungen von der Insel Nr. 12 befasst. Tom dagegen hüpfte meist geschäftig um das Boot herum, das auf die Seite gedreht vor der Burgmauer im Sand lag, und gab in einem haarsträubenden englischrussischen Kauderwelsch seine Instruktionen. Einen Vorteil hatte dieses sprachliche Desaster immerhin: Indem Tom seine Anweisungen tapfer auf Russisch radebrechte, gelangen ihm so komische Wortschöpfungen, dass ihm niemand seinen zuweilen etwas wichtigtuerischen Ton übel nahm.

Nach einem erfrischenden Bad im Meer lag ich etwa zehn Meter vom Boot entfernt im Sand und genoss es, den anderen beim Arbeiten zuzusehen. Ein wenig fröstelte mich, denn die Sonne stand schon tief, und ein böiger Wind strich über meinen nassen Rücken.

Toms Handlanger waren gerade damit beschäftigt, einen behelfsmäßig aus Brettern zusammengezimmerten Kiel am Bauch des Bootes zu befestigen. Als sie fertig waren, begutachtete Tom kritisch das Ergebnis und nickte endlich zufrieden. Danach schlug er großmütig vor, eine Pause einzulegen, wurde jedoch umgehend von seinen Mitarbeitern überstimmt, die der Meinung waren, dass sie für heute genug geschuftet hätten.

Toms Proteste ignorierend, entschwanden die Jungen von der Nr. 12 und Sershan sogleich in Richtung Burgtor, während Ilja sich in meine Richtung verzog. Die Hände empört in die Hüften gestützt, blieb Tom neben seinem

Ilja ließ sich neben mir in den Sand plumpsen.

»Warum gehst du nicht ins Wasser?«, fragte ich.

»Ach … Keine Lust.«

Melancholisch stocherte er mit dem nackten Fuß im Sand, bis eine kleine Grube entstand. Während er weiter wühlte, sickerte plötzlich trübes Wasser in den Hohlraum. Allem Anschein nach war es recht kalt, denn er fluchte und zog mit einem Ruck den Fuß heraus. Dann nahm er seine Brille ab und begann, mit einem Zipfel seines T-Shirts die Gläser zu polieren. Dass der verschwitzte, sandige Fetzen dazu geeignet sein sollte, die Sicht durch die Gläser zu verbessern, schien höchst zweifelhaft, trotzdem fuhr er eifrig damit fort. Er schien mir ein wenig verlegen zu sein.

»Es wäre ein Risiko, jetzt zu baden«, erläuterte er beflissen, »denn es könnte passieren, dass man versehentlich zum Himmel schaut, und dann gute Nacht.«

Damit hatte er gar nicht einmal unrecht. Die dritte und zweifellos auch dümmste Hauptregel des Großen Spiels besagte, dass man bei Sonnenuntergang nicht zum Himmel blicken durfte. Und eben in diesen Minuten war die Sonne dabei, am Horizont ins Meer abzutauchen.

»Ilja, wie heißt das noch mal genau in den Regeln? Dass man nicht nach oben oder dass man nicht zum Himmel schauen darf.«

»Nicht nach oben.«

»Bist du sicher?«

»Ganz sicher.«

»Aber wozu nach oben schauen?«, fragte ich und deutete

»Richtig!«, fiel er mir begeistert ins Wort und sprang auf. Er hatte sofort verstanden, worauf ich hinauswollte, und für Unfug und Streiche jeder Art war er immer zu haben.

»Lauf zu Rita!«, rief ich. »Und leih dir ihren Schminkspiegel. Beeil dich, sonst ist es zu spät!«

Aufspritzender Sand flog mir ins Gesicht, als Ilja mit wirbelnden Beinen lossprintete. Schon nach wenigen Minuten kam er zurück, in seinem Schlepptau Sershan, dem er offenbar erzählt hatte, was wir vorhatten.

Den Trick mit dem Spiegel habe ich mir, ehrlich gesagt, nicht selbst ausgedacht. Ich habe in irgendeinem Märchen davon gelesen - leider fällt mir nicht mehr ein, in welchem. Auch da beobachtet der Held den Himmel mithilfe eines Spiegels, ohne nach oben zu sehen.

Ilja setzte sich neben mich in den Sand, legte Ritas Schminkspiegel vor sich hin und erklärte: »Ich werde hineinsehen.«

»Das würde dir so passen«, entgegnete Sershan entrüstet. »Wir wechseln uns ab.«

Da wir nicht genau wussten, welcher Moment während des Sonnenuntergangs der entscheidende war, mussten wir uns auf eine längere Wartezeit einstellen.

»Zwanzig, einundzwanzig …«, zählte Sershan monoton. Als er bei hundertzwanzig angekommen war, schubste er Ilja weg und hockte sich selbst vor den Spiegel. »Wir wechseln uns alle zwei Minuten ab.«

Schweigend harrten wir aus. Ich warf einen Blick zur Burg, um zu sehen, ob nicht Schaulustige im Anmarsch

»Siehst du fliegende Untertassen?«, spöttelte Ilja.

»Nein, aber eine Bratpfanne ist soeben vorbeigeflogen«, erwiderte Sershan kühl.

»Wechsel! Du hast Pause«, verkündete Ilja triumphierend.

Jetzt war ich an der Reihe. Die Sonne war beinahe vollständig hinterm Horizont verschwunden, gerade versank der letzte Rest des rot glühenden Balls in den grauen Wellen des Meeres. Der Himmel verdunkelte sich, sah aber ganz gewöhnlich aus, wie immer.

Was sollte es dort auch schon Großartiges zu sehen geben? Das Raumschiff der Außerirdischen, das über dem Planeten schwebt? Oder eine lausige fliegende Untertasse? Und selbst wenn dort irgendwo ein Fünkchen aufleuchten würde, das uns die »geheime« Position ihrer Überwachungseinrichtung verraten hätte - war es wirklich nötig, so eine strenge Regel aufzustellen, um das zu verhindern? Ein Raumschiff konnte man schwerlich mit einer Armbrust abschießen, und dass wir beobachtet wurden, wussten wir ohnehin.

»Wechsel!«, rief Ilja, während ich mir die seltsame Regel noch einmal durch den Kopf gehen ließ.

Nun blickte Ilja wieder hoch konzentriert in den Spiegel. Sershan und ich sahen uns enttäuscht an. Am Wachturm verloschen die letzten Sonnenstrahlen; es wurde Abend.

»Was ist das denn?«, murmelte Ilja plötzlich verdattert. »Das …«

Synchron stürzten Sershan und ich zu ihm und versuchten,

Mit einem Mal war es wieder taghell geworden. Der kleine runde Spiegel spuckte wie ein Projektor eine extrem grelle, blendende Lichtsäule aus, die wie ein Festkörper aussah. Die Erscheinung dauerte etwa eine Sekunde. Dann knirschte das Glas, und der Spiegel zersprang in Iljas Händen. Er stieß einen gedämpften Schrei aus, fuhr mit dem Oberkörper zurück und hielt sich die Hände vors Gesicht. Seine Brille landete neben den geschwärzten Scherben des Spiegels im Sand. Ätzender Dampf verbrannten Amalgams hing in der Luft.

»Ilja!«, schrie ich, als ich bemerkte, dass er rücklings umkippte. Ich packte ihn an den Schultern. »Was ist mit dir?«

»Meine Augen … sie tun so weh.« Er zitterte am ganzen Leib.

Unser Trick war in die Hose gegangen. Der durch den Spiegel etwas dilettantisch getarnte Blick nach oben hatte die Außerirdischen offenbar heftiger verärgert als die unverhohlene Absprache der konföderierten Inseln.

»Nimm die Hände weg, Ilja!«, rief ich besorgt.

Langsam zog er die Handflächen von seinem Gesicht. Seine Augen waren mit einem dichten roten Netz geplatzter Äderchen überzogen. Konsterniert sah er mich an.

»Überall schwimmen Sternchen vor meinen Augen«, sagte er verwirrt. »Aber ich kann dich sehen.«

Ilja genoss sichtlich seine Rolle als Held des Tages. Er lag auf dem Sofa im Thronsaal, während Rita und Inga um ihn herumscharwenzelten und darauf bestanden,

Der Spiegel hatte Ilja das Augenlicht gerettet. Dadurch, dass er heiß und trüb wurde, reflektierte er nur einen kleinen Teil des auf ihn gerichteten Energiestrahls, der so stark war, dass er das Glas zerspringen ließ, als hätte man einen Stein darauf geworfen.

Das einzig Dumme war nur, dass Ilja das sorgfältig gehütete Geheimnis nicht richtig hatte erkennen können. Wie er erzählte, hatte er etwas Graues, Flaches im Spiegel gesehen, das von oben schnell näher kam. Dann leuchtete in der Mitte dieses grauen, rundlichen, von oben herabfallenden Körpers ein weißer Lichtstrahl auf.

Seine Schilderung ließ Raum für vielfältige Interpretationen. Timur zum Beispiel behauptete steif und fest, dass es sich nur um eine fliegende Untertasse handeln konnte. Mir dagegen erschien dies zu naheliegend, und ich vermutete kompliziertere Zusammenhänge hinter der Erscheinung. Im Laufe der hitzigen Debatte mussten Raumschiffe, laserbewaffnete Flugzeuge, ja sogar krötenartige Monster und Licht speiende Drachen als Erklärung herhalten.

Da Tom kaum ein Wort verstand, wurde ihm schnell langweilig, und er war froh, als wir unsere wilden Spekulationen endlich einstellten und zu seinem Thema, nämlich der Instandsetzung des alten Kahnes, übergingen.

In der Zwischenzeit hatten die Nachwuchsbootsbauer aus der halb verfaulten Nussschale eine kleine Jacht gezaubert. Aus Brettern hatten sie ein Oberdeck gezimmert, zudem den Mast verstärkt und den Kiel befestigt.

Bald kam die Sprache auf den ersten Einsatz unseres Bootes. Es war bereits beschlossene Sache, dass der ganze Archipel durchsegelt, alle Inseln auf einer Karte eingezeichnet und unterwegs neue Mitglieder für die Konföderation geworben werden sollten. Dass Tom der Kapitän sein würde, stand ebenfalls außer Frage. Wer jedoch die übrigen Besatzungsmitglieder sein würden, stand keineswegs fest, und mitfahren wollten fast alle.

Ehe sich die Diskussion in einen handfesten Streit auswachsen konnte, beendete sie Chris mit einem Machtwort. Er verließ wortlos den Saal und kam kurz darauf mit einer Handvoll Streichhölzer wieder zurück.

»Wir werden Hölzchen ziehen«, erklärte er. »Es sind vier kurze dabei, das ist die Besatzung.«

Es waren insgesamt acht Streichhölzer. Als Ersten ließ er Ilja ziehen: ein langes; als Nächster war Sershan an der Reihe, der es ihm mit einer gekünstelt schwungvollen Bewegung aus der Faust zog: auch ein langes; das erste kurze Hölzchen erwischte Timur; das zweite zog ich heraus und freute mich nicht einmal sonderlich, da ich irgendwie damit gerechnet hatte; jetzt streckte Tom die Hand aus, um zu ziehen, doch Chris zog seine Faust mit einem entrüsteten Blick zurück.

»Du fährst auf jeden Fall mit, Tom, schließlich bist du der Kapitän«, sagte er feierlich. »Und ich brauche auch

»Wenn du nicht ziehst, ist aber ein Streichholz zu viel da«, bemerkte Sershan scharfsinnig.

»Von wegen«, intervenierte Inga. »Ich bin schließlich auch noch da!« Mit wild entschlossener Miene trat sie zu Chris und entwand seinen zusammengepressten Fingern ein kurzes Hölzchen.

»Frau an Bord ist Selbstmord«, fabulierte Sershan enttäuscht.

Das letzte kurze Streichholz zog Janusch.

7 FÜNF AUF DEM OZEAN

An einem kühlen Abend, als es bereits dämmerte und der böige Nordwind sich zu einer sanften Brise verflüchtigt hatte, stach unser kleines Schiff, dem wir auf Vorschlag unseres pfiffigen australischen Kapitäns den Namen Aliens Nightmare gegeben hatten, von der Küste der Insel Nr. 36 in See. Den ganzen Vormittag hatten Tom und seine Bootsbauer damit zugebracht, ihrem Werk den letzten Schliff zu geben. Daraufhin hatten wir Tom genötigt, sich vor der Abfahrt ein paar Stunden schlafen zu legen. Nun, da der Moment des Ablegens gekommen war, prüften Tom und Timur noch einmal Vorräte und Ausrüstung: Proviant, Trinkwasser, Ersatzsegel, Fernglas. Alle Besatzungsmitglieder waren mit winddichten Jacken ausgestattet, die extra auf allen Inseln der Konföderation zusammengesucht worden waren.

Zur Bewaffnung gehörten neben unseren Schwertern auch Armbrüste. Die größte von ihnen, ohnehin zu sperrig und zu schwer für eine wirksame Verwendung im Kampfgetümmel, war auf einer Art schwenkbarem Geschützturm vor der Kajüte montiert worden. Timur hatte hartnäckig versucht, die Armbrust so umzubauen, dass drei Pfeile gleichzeitig damit abgeschossen werden konnten. Irgendwo hatte er gelesen, dass es solche Armbrüste gibt. Aber seine Konstruktion schoss die Pfeile in alle möglichen Richtungen, nur gerade nicht dorthin, wohin man zielte. Schließlich blieb ihm nichts anderes

Unsere zu einem kleinen Kriegsschiff umfrisierte Schaluppe glitt erstaunlich ruhig durchs Meer. Möglicherweise spielte der neue Kiel dabei eine Rolle, vermutlich gab es aber auch noch einen viel einfacheren Grund: Die Aliens Nightmare war schlichtweg überladen. Das Wasser strich gefährlich nahe an der Bordkante unter uns dahin, und einige kleinere Wellen hatten schon eine ordentliche Lache im Boot hinterlassen.

Etwa zwanzig Minuten lang standen wir neben Tom aufgereiht an Deck, als warteten wir auf etwas Außergewöhnliches, doch unsere Fahrt verlief vollkommen ruhig. Bei Einbruch der Dunkelheit verschwammen die Konturen der Burg in der Ferne, nur das Leuchtfeuer auf dem Wachturm trotzte mit seinem weißlichen Lichtschein der Finsternis. Unsere Gefährten hatten versprochen, es nun jede Nacht anzuzünden, damit wir im Fall eines Falles die Möglichkeit hätten, uns daran zu orientieren.

Die Aliens Nightmare segelte auf Kurs Südsüdost und drang allmählich immer tiefer in den Raum zwischen den Inseln Nr. 24 und Nr. 30 ein. In etwa einer Stunde sollten wir die Insel Nr. 27 passiert haben und in Höhe der Nr. 23 aufkreuzen, der letzten Insel der Konföderation. Auch mit unseren Verbündeten auf dieser Insel war abgesprochen, dass sie auf der Plattform ihres Wachturms ein Feuer entzünden sollten, an dem wir uns orientieren konnten. In Sichtweite dieses Leuchtfeuers wollten wir das Boot für den Rest der Nacht treiben lassen, bevor wir unseren Weg bei Tageslicht fortsetzen würden.

Als Erste verzog sich Inga in die Kajüte. Leise wünschte »light watch« eine angenehme Wache, womit sie bei unserem Kapitän eine gewisse Verwirrung auslöste. Sie hatte sich wohl nicht ganz korrekt ausgedrückt, obwohl alle anderen, einschließlich Janusch, sofort verstanden hatten, was sie meinte.

Zehn Minuten später streckte sich Timur, gab mir und Janusch einen Klaps auf die Schulter und sagte gähnend: »Kommt, wir hauen uns auch aufs Ohr.«

»Ja, gehen wir«, pflichtete ich ihm bei, zog meine Windjacke aus und streckte sie Tom hin. Der nickte schweigend und zog sie sich über, zusätzlich zu seiner eigenen. Diese Maßnahme schien ratsam, denn die Nacht auf dem zugigen Deck versprach noch um einiges frostiger zu werden als die ohnehin schon lausig kalten Nächte in unserer Burg.

Vorsichtig zwängten wir uns zwischen der linken Bordwand und der Kajütenwand hindurch nach achtern, was die Aliens Nightmare mit einem heftigen Schaukeln quittierte. Timur hüstelte so nachdrücklich wie möglich, um uns anzukündigen, dann öffnete er vorsichtig die Kajütentür.

Inga lag schon in ihrer Hängematte. Auf dem Tischchen brannte eine winzige Kerze. Uns bückend, schlüpften wir hinter Timur in die Kajüte.

»Ich wollte immer schon mal oben auf der linken Seite schlafen«, flüsterte Timur. Janusch nickte ihm zu und kroch in die untere Koje, während ich die Kerze auslöschte und mich in die letzte freie Hängematte schwang. Nachdem sich alle in eine bequeme Schlafposition gewälzt hatten, trat völlige Stille ein, nur das sanfte Rauschen des Wassers an der Bordwand war zu hören. Dann

»Hey, Käpten, nicht einschlafen!«, trompetete Timur.

Draußen rumpelte es erneut, offenbar ging Tom nun zum Steuerrad zurück. Janusch kicherte.

Kurz bevor ich einschlief, vernahm ich noch Ingas schlaftrunkene, aber ernste Stimme: »Wenn irgendetwas passiert, müsst ihr mich unbedingt aufwecken.«


Ich erwachte, als mich jemand an der Schulter rüttelte und mir leise ins Ohr flüsterte: »Di-ma, Di-ma.«

Mein erster Versuch, aus meiner Schlafstatt zu klettern, scheiterte kläglich, da ich mich in den Maschen der verflixten Hängematte verheddert hatte und wie eine Mumie eingewickelt dalag. Nachdem ich mich schließlich befreit hatte, setzte ich mich mit einem eleganten Beinschwung auf, wobei mein Schädel polternd gegen die Decke rumste.

»Pst!«, zischte Tom. »Du bist very laut.«

»Mist!«, hauchte ich, biss die Zähne zusammen und glitt aus der Hängematte. Niemand war aufgewacht. Es war keinerlei Geräusch zu hören, nicht einmal spritzendes Wasser. Unser Boot trieb ganz ruhig im Meer. Tom murmelte irgendetwas auf Englisch vor sich hin, was ich nicht verstand, ich bekam nur mit, dass er etwas von seinem Vater und von einem schönen Schiff sagte. Vermutlich fand Tom es wesentlich gemütlicher, mit seinem Vater auf einer Jacht vor Australien zu segeln als mit unserem improvisierten Boot auf einem fremden Ozean.

Nachdem Tom mir die beiden Windjacken gegeben hatte, kletterte er in die Hängematte, während ich so leise wie möglich die Kajüte verließ und an Deck ging.

Draußen herrschte noch tiefe Nacht, obwohl ich im Osten einen Hauch von Dämmerung wahrzunehmen glaubte. Im Süden durchbrach das Leuchtfeuer der Insel Nr. 23 das Dunkel. Der mit fremden Sternen geschmückte Himmel über mir schaukelte im Rhythmus des Bootes einschläfernd hin und her. Blinzelnd suchte ich nach dem Auge des Außerirdischen, doch mein Blick verlor sich alsbald im Gewirr der funkelnden Muster. Ein kleiner Nachen mit ein paar Teenagern an Bord auf dem Ozean - was für eine Nichtigkeit angesichts der sich über mir dehnenden Unendlichkeit.

Schwer lag die Müdigkeit auf meinen Lidern, so schwer, dass sich aus meinem Unterbewusstsein ein verlockender, arglistiger Gedanke meldete: Warum nicht in die Kajüte gehen, Timur oder Janusch aufwecken und mich ablösen lassen? Schließlich konnten sie ja nicht wissen, wann Tom nach unten gekommen war und wie lange ich schon Wache gehalten hatte.

Entrüstet über diese niedere Anwandlung, lehnte ich mich über Bord und schöpfte mir einige Handvoll kühles Meerwasser ins Gesicht. Das salzige Nass brannte auf meinen Lippen, die völlig ausgetrocknet und aufgesprungen waren. Kühle und Schmerz vertrieben die Müdigkeit, der Gedanke, in die Kajüte zurückzugehen, löste sich in Luft auf.

Da das Boot keinerlei Anstalten machte, aus dem Lichtschein des Leuchtfeuers davonzutreiben, streckte ich mich auf der Holzbank am Achterdeck aus und legte mir eine mit Vorräten gefüllte Stofftasche unter den Kopf. Um nicht wieder müde zu werden, nahm ich mir vor, den Sternenhimmel des fremden Planeten zu studieren - und dann sah ich es, das Auge des Außerirdischen …

Als ich morgens erwachte, dümpelte die Aliens Nightmare nur etwa hundert Meter vor der Küste der Insel Nr. 23 im flachen Wasser. Schlaftrunken erhob ich mich von meinem unbequemen Lager und sah mich um. Über der Burg, die sich genau in der Mitte der von niedrigen Büschen bewachsenen Insel befand, hing eine aus zwei Fetzen zusammengenähte, rot-blaue Flagge schlaff von ihrem Mast herab. Knapp darunter war ein schmales weißes Band befestigt, das Zeichen der Konföderation.

Erst jetzt bemerkte ich, dass unser Boot ganz langsam auf die Küste zutrieb und auf Grund zu laufen drohte. Eilig schlüpfte ich in die Kajüte und weckte Tom. Zu zweit setzten wir das Segel, das sich im schwachen morgendlichen Wind sanft blähte. Während ich das Segel an den Schoten festhielt, kurbelte Tom stürmisch am Steuerrad. Mit ächzendem Ruder drehte die Aliens Nightmare bei und entfernte sich langsam vom Ufer. Wir hatten keine Zeit zu verlieren, denn wir hatten uns vorgenommen, innerhalb eines Tages den gesamten Archipel zu durchqueren und alle Inseln zu kartieren.

Etwas später quietschte die Kajütentür, und Timur erschien an Deck. Von der grellen Sonne geblendet, kniff er die Augen zusammen, beugte sich über die Bordwand und wusch sich prustend das Gesicht. Dann legte er die flache Hand über die Augen, um sich vor der noch tief stehenden Sonne zu schützen, und spähte aufs Meer hinaus.

Tom steuerte das Schiff nach Norden. Wir segelten unter der Brücke hindurch, die die Insel Nr. 23 mit ihrer Nachbarinsel Nr. 16 verband. Letztere hieß die Insel der Blauen Spiegel, und es schien ratsam, sie in sicherer Entfernung zu passieren, da ihre Bewohner der Idee der Konföderation

Bei der damaligen Sitzung des Konföderationsrats war ich dabei gewesen und konnte mich erinnern, dass das Votum einstimmig getroffen worden war. Auf Achmets Frage, was mit den Gefangenen passieren sollte, hatte Chris wie selbstverständlich geantwortet: »Alle Mädchen und die Jungen unter zehn Jahren werden auf andere Inseln verteilt.« Damals hatte ich mich sehr darüber gewundert, dass niemand die Frage stellte, was mit den älteren Jungen geschehen sollte.

Inzwischen war auch Janusch aus seiner Koje gekrochen. Er hatte sich neben mich aufs Kajütendach gesetzt und war damit beschäftigt, die Insel der Blauen Spiegel mit dem Fernglas zu inspizieren. Plötzlich stieß er mich mit dem Ellenbogen an, drückte mir schweigend das Fernglas in die Hand und deutete mit dem ausgestreckten Arm auf die Burg.

Auf dem flachen Dach eines Gebäudeteils, auf dem bei dieser Insel alle Brücken zusammenliefen, drängte sich eine Schar von etwa fünfzehn Mädchen und Jungen. Sie sahen unserem sich langsam entfernenden Schiff nach, schienen erregte Debatten zu führen und gestikulierten wild.

Obwohl wir schon etwas zu weit entfernt waren, als dass sie uns gut hätten sehen können, rief ich: »Timur, wir müssen die Flagge der Konföderation hissen. Vielleicht

Mit gehisster Konföderationsflagge setzte die Aliens Nightmare ihren Weg fort.


Schon seit Tagesanbruch verspürte ich ein ungutes Gefühl, eine innere Unruhe, für die es eigentlich keine vernünftige Erklärung gab. Doch allmählich wurde mir klar, was der Grund dafür war: Die Sache lief einfach zu glatt!

Ohne den geringsten Zwischenfall hatten wir die Inseln der Konföderation passiert, eine geruhsame Nacht in dem friedlich dahintreibenden Boot verbracht und am Vormittag bereits fünf fremde Inseln umschifft und sorgfältig in unserer Karte verzeichnet.

Zu Mittag hatte Inga zusammen mit ihrem Hilfskoch Janusch ein derart üppiges Gelage aufgetischt, dass sich die Besatzung der Aliens Nightmare für mehrere Stunden in einen Haufen zufriedener, schläfriger Faulpelze verwandelte. Timur und Janusch hatten sich das Kajütendach ausgeguckt, wo sie sich im Schatten des Segels zur Ruhe legten. Tom hatte das Steuerrad festgestellt und es sich auf dem Bug bequem gemacht. Inga war auf der Flucht vor der Sonne in die Kajüte verschwunden.

Getrieben von meiner inneren Unruhe, hatte ich als Einziger beschlossen, mich nicht der Sorglosigkeit hinzugeben, sondern mich mit der Karte in der Hand auf das Achterdeck gesetzt. Obwohl wir noch nicht allzu viel gesehen hatten, reichte es aus, um den Archipel der Vierzig Inseln grob zu skizzieren.

Unser riesiges Gefängnis im Ozean erstreckte sich von Nord nach Süd in Form eines ovalen Kleckses, in dem

Unwillkürlich sah ich mich nach allen Seiten um, es war jedoch weit und breit kein anderes Schiff zu sehen. Der Klipper des Verrückten Kapitäns, so es ihn denn überhaupt gab, kreuzte vermutlich irgendwo weit weg von den Inseln im Meer und wartete auf den nächsten Sturm. Für einen Wetterumschwung gab es allerdings nicht die geringsten Anzeichen.

Angetrieben von einem sanften, gleichmäßigen Wind, glitt die Aliens Nightmare behäbig durch den nahezu glatten Ozean, dessen Wasseroberfläche sich nur dezent kräuselte und smaragdgrün in der Sonne schimmerte. Das Wetter war perfekt - ein bisschen zu perfekt, wie eine innere Stimme mir sagte.

Gedankenverloren stand ich auf und betrachtete die Burg, an der wir gerade ziemlich dicht vorbeisegelten. Düster, eckig und grau ragte sie empor, fügte sich also nahtlos ins trübe Bild meiner besorgten Stimmung. Auch die Insel selbst, die nur aus Felsen zu bestehen schien und keine Spur von Pflanzenbewuchs aufwies, machte einen kalten, abweisenden Eindruck. Lediglich die rosafarbenen Brücken sahen einigermaßen hübsch aus. In den Fenstern der Burg war niemand zu sehen, und von der Brücke, unter der wir gleich hindurchsegeln würden, drang kein Laut herab.

»Sollen wir dort mal an Land gehen?« Ich deutete mit dem Arm auf das unwirtliche Eiland.

Tom zog unwillig die Schultern hoch und setzte ein gekünsteltes Lächeln auf. Er hatte offensichtlich nicht die geringste Lust, an dieser Küste an Land zu gehen.

»Our island - next«, schlug ich vor.

Tom nickte und streckte sich wieder aus. In diesem Augenblick hörte ich plötzlich ein Pfeifen, das allmählich lauter wurde und sich wie eine feine Nadel ins Ohr bohrte. Das Pfeifen erinnerte an das Geräusch einer herabfallenden Bombe, obwohl es viel leiser und dünner klang. Auch endete es nicht mit einer Explosion, sondern mit einem kurz aufeinanderfolgenden Ratsch … Ratsch … Tschock!

Nachdem es unser Segel aufgeschlitzt und eines der vielen Taue, deren Namen ich mir nicht merken konnte, durchtrennt hatte, bohrte sich ein langes, schmales Schwert in die Holzbohlen unseres Decks.

Wie von der Tarantel gestochen, sprangen Timur und Janusch vom Kajütendach herunter. Tom stürzte zum Mast und machte sich an den heil gebliebenen Tauen zu schaffen. Timur griff sich eine Armbrust, legte sie an der Schulter an und zielte auf die Brücke hinauf, unter der wir soeben hindurchgesegelt waren.

Auf der Brücke war niemand zu sehen. Die Übeltäter hatten sich offenbar flach auf den Brückenboden gelegt.

»Feige Schweine«, schrie ich, lief zu dem Schwert und zog es aus dem Holzboden. Noch immer funkelte es stählern und feindlich. Mit welchem Hass musste es wohl geschleudert worden sein, dass es sich den fremden Händen so lange widersetzte!

Das Segel war mit einem Ruck in zwei Hälften geschnitten worden und hing schlaff und wirkungslos von der Rahe. Die Aliens Nightmare dümpelte antriebslos in unmittelbarer Nähe der Brücke. Hektisch packte Tom das Ersatzsegel aus.

»Los! Speed!«, kommandierte er aufgeregt.

So schnell wir konnten, holten wir das kaputte Segel ein. Inga schleifte es auf das Achterdeck, während wir das Ersatzsegel, das Rita mühevoll aus diversen Fetzen zusammengenäht hatte, befestigten. Ohne seine Armbrust aus der Hand zu legen, zog Timur die Knoten an den Fallen fest.

Es erfolgte jedoch kein weiterer Angriff. Entweder hatten die Feinde keine Armbrüste und Bogen zur Verfügung, oder sie hatten Angst, selbst einen Pfeil abzubekommen. Auf uns herabfallende Schwerter brauchten wir nun nicht mehr zu befürchten, da uns die Strömung bereits ein Stück weit abgetrieben hatte.

Nachdenklich begutachtete ich die feindliche Klinge, die endlich ihren stählernen Glanz verloren hatte. Als unser Schiff wieder Fahrt aufgenommen hatte und sich in sicherer Entfernung von der Brücke befand, entspannte sich auch Timur, legte die Armbrust beiseite und kam zu mir herüber.

»Kein schlechtes Schwert«, brummte er anerkennend.

»Wohl wahr«, pflichtete ich ihm bei und fuhr mit dem Finger die fein geschliffene Schneide entlang. »Allerdings habe ich nicht die geringste Lust, mit seinem Besitzer Bekanntschaft zu schließen.«

Timur zwinkerte mir zu. »Der Archipel endet hier. Wenn wir an der nächsten Insel auch noch vorbeifahren, schippern wir ins offene Meer hinaus.«

»Wir sollten bei nächster Gelegenheit anlegen«, sagte ich, seine Gedanken erratend.

»Guter Plan«, erwiderte er und fügte, sich genüsslich streckend, hinzu: »Man kommt ja sonst auch ganz außer Form.«

Die Aliens Nightmare hielt direkt auf die nächste Insel zu, die zu den kleineren auf dem Archipel gehörte und auf den ersten Blick einen recht sympathischen Eindruck machte. Aus einem dichten Grüngürtel ragten die weißen Wände der Burg empor. Und an der Küste befand sich ein schmaler Sandstrand, auf dem sich eine kleine Schar Jungen versammelt hatte und uns entgegenstarrte.

Die warten schon auf uns, dachte ich.

8 SERGEJ VON DER INSEL NR. 4

Etwa dreißig Meter vor dem Strand der Insel wies Tom Janusch an, das Segel zu fieren, und kurbelte selbst am Steuerrad. Die Aliens Nightmare drehte sanft bei. So waren wir weit genug entfernt, um notfalls schnell wieder Fahrt aufzunehmen und zu flüchten, falls die Jungen sich ins Wasser stürzen und versuchen sollten, unser Schiff zu entern. Gleichzeitig waren wir nahe genug am Ufer, um uns mit den Bewohnern der Insel durch Zurufen verständigen zu können.

Tom machte den Anfang. Er stellte sich auf das Achterdeck und rief das unvermeidliche »Do you speak English?« zum Strand hinüber.

Nach einer kurzen Pause erfolgte die Antwort: »Je parle un peu anglais. Parlez-vous français?«

Eine Übersetzung erübrigte sich.

Tom wollte dem »ein wenig Englisch verstehenden« Franzosen gerade etwas zurufen, als Timur ihm zuvorkam: »Hey, kann denn keiner von euch ein bisschen Russisch?«

Ein dunkelhaariger, stämmiger Junge trat aus der Schar heraus nach vorn.

»Was heißt ein bisschen, ich bin Russe«, rief er.

»Der einzige?«, fragte Timur.

»Ja. Woher seid ihr?«

»Von der Insel Nr. 36.«

»Oho! Legt an.«

»Wir haben kein Anlegetau dabei«, log Timur grinsend. »Wir schlagen einen Austausch von Parlamentären vor. Einer von euch schwimmt zu uns rüber und einer von uns zu euch auf die Insel.«

Die Jungen am Strand berieten sich kurz.

»Einverstanden. Aber ohne Waffen.«

»Okay.«

Timur sah mich an. »Sollen wir Streichhölzer ziehen?«

»Was soll der Unsinn, Tim«, erwiderte ich. »Schließlich bist du uns hier mit Waffen viel nützlicher als ich.«

Inga, die hinter Timur stand, warf mir einen vernichtenden Blick zu, mischte sich aber nicht ein.

»Wo er recht hat, hat er recht«, sagte Janusch eifrig nickend.

Rasch zog ich mich bis auf die Badehose aus und sah zum Ufer hinüber. Dort hatten sie ebenfalls einen Unterhändler ausgewählt; es war der Junge, der Tom geantwortet hatte, dass er ein wenig Englisch verstünde.

Wir sprangen gleichzeitig ins Meer. Als ich unter Wasser die Augen öffnete, sah ich das schaukelnde Oval unseres Bootes, Stränge grünen Seetangs, die sich auf dem steinigen Grund in der Strömung schlängelten, und einen Schwarm winziger silbriger Fischchen. Die Sonne schien bis auf den Grund durchs klare Wasser. Vor mir konnte ich sogar das näher rückende Ufer sehen und Girlanden von Luftblasen an der Stelle, wo der französische Parlamentär ins Wasser gesprungen war.

Etwa auf halber Strecke zwischen unserem Boot und dem Strand tauchte ich auf, wenige Meter vor dem mir langsam entgegenschwimmenden Jungen. Auf gleicher Höhe angekommen, blieben wir, mit Armen und Beinen rudernd, für einen Moment im Wasser stehen. Der

Als ich am Ufer aus dem Wasser stieg, begrüßte mich der dunkelhaarige Junge mit Handschlag. »Sergej«, sagte er lächelnd. »Für die anderen Serge, aber das gilt natürlich nicht für dich.«

»Dima.«

Obwohl Sergej nur wenig älter war als ich, wirkte er der Sprache und dem Benehmen nach auf mich sehr erwachsen. Er strahlte eine gewisse zerstreute Sanftmut aus, wie man sie bei Jungen selten findet, höchstens bei notorischen Einserschülern. Anderseits sah Sergej aber überhaupt nicht wie der typische Klassenbeste aus, dazu war er viel zu durchtrainiert, etwa so wie Chris und Tolik.

»Keine Sorge, wir haben nicht vor, euch zu bekriegen«, sagte er. »Unsere Insel ist friedliebend.«

»Unsere auch«, entgegnete ich und ließ den Blick über die um mich herumstehenden Jungen schweifen. Sie waren allesamt bewaffnet, und die meisten ihrer Schwerter glänzten metallisch.

»Das sehe ich«, sagte Sergej mit einem Anflug von Ironie und schaute mit zu Schlitzen verengten Augen an mir vorbei zum Boot hinüber.

Als ich mich, seinem Blick folgend, umdrehte, sah ich den Jungen, der eben an mir vorbeigeschwommen war, an Deck der Aliens Nightmare stehen. Hinter seinem Rücken stand Janusch mit blitzendem Schwert, während Timur ungeniert die Badehose des Jungen abklopfte, um zu überprüfen, ob er auch wirklich unbewaffnet war.

»Ähm, weißt du, wir haben gerade eine üble Erfahrung gemacht, als wir bei euren Nachbarn vorbeisegelten«, sagte ich verlegen. »Man hat von einer Brücke herunter ein Schwert auf uns geworfen.«

Sergej rückte sofort näher zu mir und sah mich ernst an.

»Verstehe«, sagte er. »Das waren die von der Insel Nr. 6, denen ist so was immer zuzutrauen. Woher kommst du?«

»Von der Nr. 36. Die Insel des Scharlachroten …«

»Nein, woher aus Russland kommst du, nicht zufällig aus St. Petersburg?«

»Nein.«

»Schade. Darf ich vorstellen, André, Michel …«

»Alles Franzosen?«, fragte ich neugierig.

»Die meisten.«


Es war bereits dunkel, als unser Schiff am Ufer festmachte.

Nicht dass ich nun völlig beruhigt gewesen wäre. Nach wie vor schien es mir durchaus denkbar, dass die Inselbewohner uns angreifen würden, aber nachts in Ufernähe zu treiben und sich auf einen improvisierten Anker zu verlassen, wäre noch gefährlicher gewesen, als an Land zu gehen. Denn der Wind wurde stärker, und, was noch bedenklicher war, am Horizont zogen dunkle Regenwolken auf. Das Wetter auf den Inseln konnte blitzartig umschlagen.

Wir hatten ausgehandelt, dass wir unsere Waffen behalten durften. Nachdem der Bug der Aliens Nightmare sich mit einem sanften Knirschen in den Sand gebohrt hatte, reichte mir Timur mein Schwert und meine Kleider.

Als Erstes schnallte ich mir den Gürtel mit dem Schwert um, erst danach schlüpfte ich in Jeans und T-Shirt. Unsicher blickte ich mich um. Timur und Tom waren damit beschäftigt, das Boot noch ein Stück weiter ans Ufer zu ziehen, während Inga, Janusch und die Jungen von der Insel mich schweigend beobachteten. Sie lachten nicht, nein. Sie verstanden mich!

Krampfhaft und voller widersprüchlicher Gefühle umklammerte ich den Griff meines Schwerts und wusste selbst nicht, warum. Ganz allmählich wurde das raue Holz in meiner Hand zu glattem Stahl.

Mit einer gewissen Erleichterung blickte ich zu Sergej und seinen Freunden. Noch hatte ich mich nicht in eine gefühllose Kampfmaschine verwandelt. Noch hielt ich mich. Noch!


Die Insel Nr. 4 wurde von ihren Bewohnern Kleine Bastion genannt. Die Funktion, die bei uns der Thronsaal übernahm, wurde hier von einer Rundkapelle erfüllt, in der mir als einzige Besonderheit eine kleine Ikone auffiel. Sicherlich hatte sie ein früherer Bewohner mit auf die Insel gebracht. Fast den ganzen Abend saß ich dort mit Sergej zu zweit zusammen, nicht weil wir allein sein wollten, sondern weil die Übrigen anderweitig beschäftigt waren.

Timur, der sich erstaunlich schnell mit einigen französischen Jungen angefreundet hatte, verschwand mit ihnen im Trainingssaal, wo sie eifrig die Schwerter schwangen.

Tom und der zehnjährige André, der auf der Erde ebenfallsAliens Nightmare am Strand, tauschten sich über Jachten aus und spannen Seemannsgarn.

Janusch hatte auf der Insel einen Landsmann getroffen, worüber er verständlicherweise völlig aus dem Häuschen war. Der Junge hieß Marek und stammte aus Danzig. Schon seit mehreren Stunden saßen sie in Mareks Kammer und unterhielten sich auf Polnisch.

Inga befand sich natürlich in Gesellschaft der auf der Insel lebenden Mädchen. Wie sie es schaffte, mit einer Französin, zwei dänischen Zwillingsschwestern und einer fünfzehnjährigen Schwarzen aus Sambia - oder war sie aus Simbabwe? - eine gemeinsame Sprache zu finden, war mir ein Rätsel. Einmal mehr legte sie eine jener Fähigkeiten an den Tag, die nur Mädchen gegeben zu sein scheint und ebenso unbegreiflich ist wie das Talent, aus Buchweizengrieß, Haferschleim und sonstigem Ekelzeug leckere Torten zu backen.

Die Rundkapelle hatte auch eine ähnliche Ausstrahlung wie unser Thronsaal, eine Mischung aus Adelspalais und Räuberhöhle. Das Gegengewicht zu einem Dutzend selbst zusammengenagelter Holzhocker mit windschiefen Beinen bildeten zwei luxuriöse, mit edlem Samt bezogene Polstersessel, die mich hellauf begeisterten. Zwar war der früher vermutlich gelbe oder gar rote Bezug zu einem fahlen Hellgrau verblasst, und der Zahn der Zeit hatte deutliche Spuren an ihnen hinterlassen, dennoch waren sie unglaublich weich und bequem, worauf es bei einem Sitzmöbel schließlich ankommt. Wie ich es zu Hause im Fernsehsessel meiner Eltern gern tat, fläzte ich mich, das eine Bein über die Lehne geschwungen, genussvoll in einen davon hinein.

Sergej machte sich inzwischen an einem verglasten Schrank zu schaffen, aus dem er zwei kleine Tassen und ein Plastiksäckchen mit braunem Pulver hervorkramte.

»Trinkst du einen Kaffee?«, fragte er.

»Sehr gern«, erwiderte ich.

Sergej verließ kurz den Raum, um heißes Wasser aus der Küche zu holen, und bald darauf saßen wir uns Kaffee schlürfend gegenüber.

»Dima«, begann Sergej und sah mich unerwartet ernst an, »glaubt ihr denn bei euch auf der Insel wirklich daran, dass ihr mit eurer Konföderation Erfolg haben werdet und eines Tages nach Hause zurückkehren könnt?«

Das war eine schwere Frage, denn die Erfolgschancen der Konföderation waren bei uns eigentlich nie ein Gesprächsthema gewesen. Bei den Verhandlungen am Strand hatte ich Sergej erzählt, aus welchem Grund wir zu den nördlichen Inseln aufgebrochen waren.

»Ich weiß nicht recht«, antwortete ich zögerlich. »Natürlich glauben wir, dass wir eine Chance haben. Sonst könnten wir es ja gleich bleiben lassen.«

»Was du nicht sagst«, erwiderte Sergej grinsend. »Ich denke, man könnte auch gewissermaßen Konföderation ›spielen‹, mehr so aus Langeweile, weil einem das bisherige Spiel schon zum Hals heraushängt. Oder auch weil man in der Konföderation sicherer ist. Das heißt noch lange nicht, dass man auch an einen letztendlichen Erfolg glaubt.«

»Philosoph!«, sagte ich ironisch. Das war vielleicht etwas unklug von mir, denn Sergej war hier der Herr im Haus und ich nur ein Gast, noch dazu ein ungebetener.

Zum Glück reagierte Sergej nicht beleidigt.

»Tja, was bleibt einem hier schon anderes übrig, als zum Philosophen zu werden«, sagte er seufzend. »Auf unserer Insel ist es ziemlich ruhig. Und dem Präsidenten ist es laut Verfassung untersagt, sich an den Kämpfen zu beteiligen.«

»Du bist Präsident?«, fragte ich und starrte ihn mit offenem Mund an.

»Ja. Vor zwei Monaten wurde ich für eine weitere dreijährige Amtszeit wiedergewählt. Was wundert dich daran?«

»Ach … nichts.«

»Siehst du, das ist das kleine Geheimnis der Inseln«, sagte Sergej und setzte abermals ein breites Grinsen auf. »Warum sind auf den meisten Inseln Fremde an der Macht?«

»Was für Fremde denn?«

»Na, die Insel Nr. 36 ist doch russisch. Euer Kommandeur aber ist Chris, ein Amerikaner.«

»Engländer!«, verbesserte ich.

»Spielt doch keine Rolle … Und auf unserer Insel, wo fast alle Franzosen sind, wurde ich als Russe zum Präsidenten gewählt.«

»Und wieso?«

»Keine Ahnung. Deshalb sage ich ja: das kleine Geheimnis der Inseln.«

»Und worin besteht dann, bitte schön, das große Geheimnis?«

Sergej machte sich nicht lustig über mich. Es war einfach seine Art, sich zu unterhalten, dass er immer nur scheibchenweise mit dem herausrückte, was er sagen wollte, wie ein Lehrer in der Schulstunde, der seine Schüler auf diese Weise zum Mitdenken anregen möchte.

»Das große Geheimnis?« Sergej gab sich erstaunt über meine Frage. »Wozu sind sie da, die vierzig Inseln?«

Irgendwo in der Burg, hinter verschlungenen Korridoren und dicken Türen, in irgendwelchen Kammern, vielleicht in einem anderen Stockwerk, hörte man immer wieder leises Gelächter. Aus dem Trainingssaal drang kaum hörbar das dumpfe Klappern der Holzwaffen, wahrscheinlich demonstrierte Timur unseren Gastgebern gerade die Vorzüge des Kampfes mit zwei Schwertern gleichzeitig. Niemand in der Burg stellte sich irgendwelche dummen Fragen: wozu die Inseln gut waren, wie viele Sterne am Himmel stehen, oder wie viele Tage jeder von uns noch zu leben hatte. Nur ich musste mir mit dem phlegmatischen Präsidenten der Insel Nr. 4 den Kopf darüber zerbrechen. Was heißt musste? Theoretisch hätte ich auch zu Timur oder Tom oder sogar zu Inga gehen können.

»Sergej, wie denkst du darüber? Hältst du es für möglich, dass diese Außerirdischen uns erforschen?«, fragte ich.

»Natürlich nicht«, erwiderte er kopfschüttelnd. »Die Inseln existieren seit mindestens achtzig Jahren. Was sollte man so lange erforschen. Noch dazu unter vollkommen idiotischen Bedingungen.«

Sergej griff zum Wasserkocher und goss sich noch eine Tasse des löslichen Kaffees auf. Dabei machte er ein so zufriedenes Gesicht, als säße er, die Mathematikstunde schwänzend, mit seinem besten Schulfreund in einem Eiscafé.

»Um die menschliche Psychologie zu erforschen, müsste man eine ganze Gesellschaft erschaffen, und zwar eine sehr komplexe. Mindestens eine Stadt, besser

»Warum ist es unerwünscht?«, fragte ich, und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Noch drei Jahre, und das sollte es dann schon gewesen sein?

»Weißt du«, sagte Sergej mit leuchtenden Augen, »ich glaube, es geht um die Liebe.«

Zum ersten Mal schwang Unsicherheit in Sergejs Stimme mit, und er sah mich irgendwie Rat suchend an.

»Das musst du doch bemerkt haben, Dima. Sobald sich ein Junge und ein Mädchen verlieben, stürzen sich sofort die Knochenbrecher von sämtlichen Nachbarinseln auf sie. Entweder haben diese Trottel von Außerirdischen Angst vor der Liebe, oder sie wissen nicht, was das ist.«

Mir fiel ein, was Maljok gesagt hatte, als ich mitten in der Nacht vor der Tür seines Kerkers stand.

»Sie wissen auch nicht, was Freundschaft ist«, sagte ich.

»Gut möglich. Unter den Bedingungen hier kann man nur einfachste menschliche Regungen untersuchen. Gut und Böse, Mut und Feigheit, Niedertracht und Edelmut, Egoismus und Selbstaufopferung. Andererseits ist das doch fundamental! Das lässt sich genauso gut an hundert, oder wenn es sein muss, sogar an nur zwei Jungen und

»Aber wozu?«

»Ich weiß es nicht, Dima.« Sergej stand auf und ging zum Fenster. »Ich habe das Gefühl, falls irgendjemand dahinterkommen würde, worum es in Wirklichkeit geht, dann hätten wir eine Chance zu siegen.«

»Und der Konföderation gibst du diese Chance nicht?«, fragte ich.

Sergej schwieg.

»Nun sag schon!«

Er wusste nicht viel über die Konföderation, nur das wenige, das ich ihm erzählt hatte. Sergej war auch nur ein ganz gewöhnlicher Junge, nicht besser als wir. Dennoch hatte ich plötzlich das Gefühl, dass seine Antwort die Wahrheit sein würde. Die einzige Wahrheit der Vierzig Inseln, eine Offenbarung, eine Prophezeiung.

»Das weiß ich nicht«, sagte Sergej betreten. »Wenn du wissen möchtest, ob unsere Insel sich der Konföderation anschließt - ja. Es ist wirklich eine Chance. Wir könnten versuchen, die Reihen der Konföderation von zwei Seiten her zu schließen.«

Auf einmal zog Sergej sein Schwert aus der Scheide, fasste es an der Klinge und streckte es mir hin.

»Siehst du«, sagte er leise, »es ist schon ein Spielzeugschwert geworden, reines Holz. Du bist für mich kein Feind mehr.«

Nachdenklich nahm ich das warme, blank gehobelte Holzschwert, ließ es durch meine Hand gleiten und gab es ihm wieder zurück.

»Wenn du aber wissen willst, ob ich an den Erfolg der Konföderation glaube …«, fuhr Sergej fort und schüttelte

Unvermittelt schmetterte Sergej sein Schwert mit voller Wucht gegen die Wand, von wo es krachend zu Boden fiel.

»Du hasst diese Burg«, sagte ich erschrocken, »und deine Insel.«

»Ja! Ja, Dima. Denn all das hat der Feind erschaffen. Und wir können, ja wir dürfen diese Außerirdischen nicht mit außerirdischen Waffen besiegen. Sie können besser damit umgehen als wir.«

In diesem Moment wirkte Sergej hilflos und schwach. Seltsam, je klüger ein Mensch ist, desto schwerer fällt es ihm, eine Entscheidung zu fällen. Einfach gestrickte Geister handeln dagegen intuitiv und ohne die geringsten Selbstzweifel.

»Was könnte man denn sonst tun?«, fragte ich.

Sergej schwieg. In der Burg war es still geworden. Timur und die anderen hatten sich offenbar schon ausgetobt, Tom war noch nicht vom Strand zurückgekehrt, und Inga und Janusch waren ohnehin von der stilleren Sorte.

»Dima, müsst ihr in der Konföderation häufig töten?«

»Ja.«

Plötzlich hatte ich den Jungen vor Augen, der sich selbst das Schwert in den Bauch gerammt hatte.

»Bemüht euch, mit friedlichen Mitteln ans Ziel zu kommen. Sonst würden wir ja versuchen, mit Gewalt etwas Gutes zu erreichen, und das kann nicht funktionieren.«

»Wir?«, fragte ich erstaunt.

»Ja, wir. Ich gebe dir mein Wort, den anderen wird eure Idee gefallen.«

Sergej streckte mir die offene Handfläche hin, und ich klatschte sie ab.

»Sehr gut!«, rief ich.

In meiner Seele dagegen sah es lange nicht so heiter aus, wie es von außen scheinen mochte.

Загрузка...