Vierter Teil Die Ritter und die Außerirdischen

1 DIE MASKE FÄLLT

Den Schrei hatte Rita ausgestoßen. Mit den Händen auf das Sims gestützt, stand sie am Fenster und starrte durch die milchige, vereiste Scheibe. Noch keiner der Jungen hatte sich vom Fleck gerührt, nur Tolik hatte sein Schwert gezogen.

Mit einem Satz stürzte ich zum nächstgelegenen Fenster. Durch die zugefrorenen, trüben Scheiben flutete mitten in der Nacht grelles Sonnenlicht in den Thronsaal. Da sich der Riegel nicht öffnen ließ, schlug ich mit dem Ellenbogen gegen das Fensterglas, das, zusammengehalten durch eine dicke Eiskruste, in wenige große Stücke zersprang. Ein zweiter Schlag mit dem Schwertgriff zerbrach den silbrig schimmernden Panzer. Klirrend flogen die Scherben aus dem Rahmen nach draußen, wo sie beinahe lautlos im Schnee landeten.

Im Westen ging die Sonne auf.

Chris’ Finger krallten sich in meine Schulter. Timur stieß pausenlos wüste Flüche aus, und ich hatte den Eindruck, dass ihm bereits etwas klar geworden war, was wir noch nicht einmal ahnten.

Mit atemberaubender Geschwindigkeit stieg die Sonnenscheibe am westlichen Horizont aus dem Meer. In einem schmalen Streifen rasten niedrige schwarze Regenwolken über den Himmel. Mit ebenso irrwitzigem Tempo folgten ihnen wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel flaumige weiße Wölkchen. Dann legte sich, wie aus

Wie auf Kommando stürmten wir alle aus dem Raum und die Treppe hinauf zum Wehrgang, wo wir, einer neben dem anderen über die Brüstung gebeugt, das Schauspiel verfolgten. An meiner linken Seite spürte ich den warmen Körper von Inga, die ganz nah bei mir stand und sich an meine Schulter drängte.

Die Sonnenscheibe am Himmel schien zu schwanken und veränderte dabei ihre Farbe. Wahrscheinlich war dies der schönste Anblick, der sich uns jemals auf den Inseln geboten hatte. Über der schneebedeckten Ebene und den in Schneewehen versunkenen Burgen, über uns in dicke Kleidung gepackte Jungen und Mädchen erstrahlte eine riesige pulsierende Sonne, wie man sie noch nie gesehen hatte und auch nie für möglich gehalten hätte. Sie blähte sich zu einem unwirklichen Ball auf, der den halben Himmel ausfüllte, und nahm die dunkle glutrote Farbe eines niederbrennenden Kaminfeuers an. Kurz darauf schrumpfte der Ball wieder zusammen, wurde flirrend hell und schleuderte wie ein Flammenwerfer blendende Lichtstrahlen auf die Inseln herab, sodass die Schneedecke augenblicklich zu tauen begann und sich in glitzernden, porösen Firn verwandelte.

Die apokalyptischen Lichtspiele am Himmel waren mindestens ebenso furchteinflößend wie bezaubernd. Dennoch empfand ich keinerlei Angst, sondern musste daran denken, dass ich ein ähnliches Spektakel schon einmal gesehen hatte. In jener Nacht, als wir auf dem vom Sturm aufgewühlten Meer unterwegs gewesen

Die Sonne nahm nun wieder ihr gewöhnliches Aussehen an. Dafür veränderte sich der Himmel: Er wurde so tiefblau, rein und durchsichtig, wie man es nur aus dem Hochgebirge kennt. Ein paar letzte, versprengte Wolken verschwanden spurlos in diesem intensiven Blau, als würden sie von unsichtbarer Hand ausradiert. Danach wurden mit behändem Pinselstrich zwei sich kreuzende Regenbögen in den wolkenlosen Himmel gemalt. In ihrem Schnittpunkt hing die Sonne, wie im Visierkreuz eines überdimensionalen Zielfernrohrs.

Jetzt musste eigentlich etwas völlig Unerwartetes passieren! Das war mir ebenso klar wie die Tatsache, dass der Effekt unseres Sprengstoffanschlags die kühnsten Erwartungen übertroffen hatte.

Der Himmel wurde immer heller, bis er schließlich fast weiß erschien. Die Sonne verblasste und verlor sich im Farbenspiel der Regenbogen. Ja, ich hatte den Eindruck, dass die Luft selbst zu leuchten begann, denn auf den Schnee fielen bläuliche Lichtreflexe, die mir ebenfalls bekannt vorkamen. Aber ich hatte mich getäuscht. Das bläuliche Licht ging von unserer Burg aus, von jener dünnen Schicht aus Eis und gepresstem Schnee, die ihre Mauern überzog und das flirrende Licht reflektierte.

Und dann legte die Burg ihre Maske ab.

Die rosa Farbe wurde abgewaschen.

Die Marmorverkleidung der Mauern verschwand.

Die Burg des Scharlachroten Schildes auf der Insel Nr. 36 zeigte ihr wahres Gesicht. Die Mauern bestanden aus quadratischen Blöcken eines grauen, körnigen Materials, das an Styropor erinnerte. Die Burg sah nicht mehr

Vor diesen schmutzigen, von nassem Schnee bedeckten Mauern standen wir nun, wir Ritter der Vierzig Inseln, wir Jungen und Mädchen von der Erde.

Teils hoffend, teils bangend, betrachtete ich mein Schwert, ob es sich nicht auch verändern würde. Vorläufig jedoch blieb es das, was es war, ein entzückendes Holzspielzeug aus einem Kindermärchen. Aber unter dem Holz konnte ich bereits den Stahl fühlen.

»Wo seid ihr denn nun, ihr Mistkerle?«, zischte Timur. »Zeigt euch gefälligst!«

Die Kälte spürten wir nicht mehr. Wir standen in echtem Schnee unter einem künstlichen Himmel und warteten, was passieren würde.

Die Sonne verschwand. Die Regenbogen verloschen. Der blassblaue Himmel wirkte leer und kalt, wie im Halbdunkel einer Polarnacht. Alles Leben schien aus ihm gewichen, als hätte man ein frisch gemaltes Aquarell mit einem Schlauch abgespritzt.

»Schaut, da fliegen sie!«, platzte Timur plötzlich heraus.

Am Himmel zeigte sich ein silbriger Punkt, der allmählich größer wurde, sich zu einer Scheibe auswuchs. Eine solche Erscheinung hatte vermutlich auch Ilja gesehen, als wir versucht hatten, mithilfe des Spiegels eine Regel des Großen Spiels zu umgehen. War das womöglich eine fliegende Untertasse im Landeanflug?

Mit einem Mal fühlte ich Erleichterung in mir aufsteigen. War nun alles vorbei? Sei’s drum! Eure Gesetze, Inseln und Burgen bin ich leid, dachte ich. Mein einziger Wunsch war, dass nun alles zu Ende ginge, egal was das

Der silbrige Fleck über unseren Köpfen wuchs und wuchs. Es sah so aus, als würde diese Untertasse geradewegs auf uns herabstürzen. Aber nein, sie bewegte sich nicht genau auf uns zu, sondern ein Stück seitlich, man hätte meinen können, dass sie inmitten der Inseln landet.

Der metallische Kreis am Himmel wurde so riesig, dass ich unwillkürlich den Kopf einzog. Plötzlich begriff ich, dass die Silberscheibe zwar ständig im Durchmesser wuchs, dabei jedoch nicht näher kam. Sie vergrößerte sich auch nicht vor dem Hintergrund des Himmels, sondern verdrängte diesen gleichsam vom Zenit her in Richtung des Horizonts. Es handelte sich auch keineswegs um eine Scheibe, sondern um eine Kuppel, die uns überspannte. Die blaue Hülle, die zuvor der Himmel gewesen war, glitt von der Kuppel herab nach unten.

Dieses Gewölbe, das wir bislang für den Himmel gehalten hatten, wies keinerlei Ähnlichkeit mit dem endlosen Raum des Weltalls auf, sondern bestand, soweit wir das aus der Entfernung erkennen konnten, aus quadratischen und rautenförmigen Gitterplatten, die zwischen Stahlträgern aufgespannt waren. Dazwischen waren in unregelmäßigen Abständen orangefarbene Scheinwerfer angebracht.

Die Inseln waren in etwa zwei bis drei Kilometern Höhe von einem Himmel aus Stahl überspannt, der sich an den Randbereichen des Archipels schroff herabwölbte und schließlich ins Meer tauchte.

Für einen kurzen Moment leuchtete der bläuliche Saum noch einmal auf, bevor er am Horizont verschwand.

Es waren vielleicht zwei Kilometer bis zum Rand der Kuppel. Dort ragten dicke Säulen aus dem Meer, zwischen denen die silbergrauen Platten aus Stahlgitter montiert waren. Unser neuer »Himmel« war von kleinen und großen Luken übersät. Entweder hatten die Platten nicht gereicht, um die Verkleidung komplett zu schließen, oder es verbargen sich irgendwelche Geräte hinter diesen Löchern. Eher Letzteres, denn in einigen der Öffnungen verschwanden nun Fetzen der blauen Hülle, die einmal unser Himmel gewesen war.

»Eine Kuppel«, flüsterte Chris und sah sich mit weit aufgerissenen Augen um. »Die ganze Zeit über haben wir unter einer Käseglocke gelebt! Der ganze Archipel liegt unter einer riesigen Käseglocke!«

Olja hatte sich in den Schnee sinken lassen und verhüllte mit den Händen ihr Gesicht. Sie konnte den Anblick dieses perfiden Betrugs nicht ertragen. Maljok zupfte Timur am Arm und bestürmte ihn mit Fragen, doch Timur, der versteinert auf das Stahlgewölbe starrte, nahm ihn überhaupt nicht wahr. Tom drehte sich auf der Stelle im Kreis herum, um alles genau zu betrachten, in seinem Gesicht stand eher Erstaunen als Furcht.

Die Scheinwerfer, die ohne erkennbare Ordnung im grauen Gewölbe verteilt waren, begannen nun zu leuchten und tauchten die Inseln in ein mildes, orangefarbenes Licht, das vom nassen Firn funkelnd reflektiert wurde. Jegliche Schatten verschwanden, denn das Licht flutete von allen Seiten auf den Archipel herab.

Langsam ließ ich den Blick über die Gesichter meiner

Chris brach als Erster das Schweigen.

»Der Rand der Kuppel ist ganz nah. Wenn man läuft, erreicht man ihn in fünfzehn Minuten«, sagte er und blickte zum »Horizont«, auf das Geflecht von Stahlträgern und Luken, in die einzudringen uns von hier aus so leicht erschien. »Eine halbe Stunde. Wenn wir eine halbe Stunde Zeit hätten...«

»Es gibt dort bestimmt irgendwelche Schutzmechanismen, die ungebetene Gäste zurückwerfen«, wandte Timur ein. »Andernfalls hätten wir mit der Aliens Nightmare mindestens fünfmal das Ende der Welt gerammt.«

»Das bestreite ich gar nicht«, entgegnete Chris. »Aber im Moment funktioniert ihre Technik nicht richtig, und vielleicht versagen auch diese Schutzvorrichtungen.«

»Wir müssen es riskieren!«, warf Meloman ohne jeden Zweifel in der Stimme ein. Vorsichtig nahm er seinen Disc-Man vom Gürtel und legte ihn in den Schnee. »Und ich habe mich schon die ganze Zeit darüber gewundert, warum er sich nicht richtig auflädt in der Sonne, als wäre sie eine elektrische Lampe«, fügte er kopfschüttelnd hinzu. »Am Ende habe ich sogar geglaubt, dass der Akku den Geist aufgibt.«

»Sind alle einverstanden?«, fragte Chris schroff.

»Dumme Frage, nichts wie hin!«, rief Timur energisch und rückte mit geübtem Griff die Schwerter hinter seinem Rücken zurecht.

»Es kann nicht schaden, kurz mal darüber nachzudenken. Das heißt natürlich nur, wenn man dazu in der Lage

»Wir kommen mit euch!« Inga explodierte förmlich. Rita, die den Arm um die immer noch völlig verstörte Olja gelegt hatte, sagte nichts dazu, sah Chris jedoch ziemlich vorwurfsvoll an.

»Wenn ihr mit uns kommt, haben wir keine Chance«, erläuterte Chris nüchtern. »Wir brauchen die Hilfe unserer Nachbarn. Die Kämpfer der anderen Inseln müssen mitmachen, sonst schaffen wir es nicht. Und es wird eure Aufgabe sein, sie zu mobilisieren.«

»Aber es sind doch unsere Feinde, sie würden uns niemals helfen«, widersprach Rita wütend.

»Beruhige dich«, sagte Chris, ging zu Rita und fasste sie an den Schultern. »Ihr müsst es ihnen erklären. Schließlich sind sie ja nicht blind. Der Feind sitzt hinter dieser Kuppel, entweder hinterm Horizont oder über dem Himmel!« Chris suchte Blickkontakt zu Inga und nickte ihr zu. »Ihr müsst sie überzeugen und zu Hilfe holen.«

Die Mädchen schwiegen, und Chris, der den Disput damit für beendet hielt, wandte sich wieder uns Jungen zu.

»Habt ihr alle eure Schwerter dabei?«

2 STURM AUF DAS ENDE DER WELT

Wider Erwarten war der Schnee auf unserem Weg zum Horizont das geringste Hindernis. Der steife Wind hatte ihn auf der weiten zugefrorenen Fläche des offenen »Meeres« bis auf eine dünne Schicht weggeblasen. Als unerwartet schwierig erwies es sich hingegen, zwischen den Bergen von Packeis hindurchzulavieren, die sich an den Bruchstellen in der Eisdecke meterhoch auftürmten. Diese zahlreichen Verwerfungen in der gefrorenen Oberfläche nötigten uns ein ums andere Mal zu halsbrecherischen Rutschpartien. Spektakuläre Stürze blieben nicht aus, endeten aber glimpflich. Unbeirrbar kämpfte sich unser kleines Grüppchen voran.

Als wir die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, erhob sich die stählerne Wölbung nur noch etwa zweihundert Meter hoch über unseren Köpfen. Nun konnte man auch die gigantischen Scheinwerfer genauer betrachten: Es waren an Metallgestängen aufgehängte kugelförmige Leuchten, die in einer Art Gitter aus breiten Zellen angeordnet waren. Einige Zellen waren dunkel und hohl, aus anderen strömte das orangefarbene Licht, und aus den übrigen ragten skurrile Antennen und fühlerartige Gebilde heraus.

Im Laufschritt strebten wir dem Rand der Kuppel entgegen. Inzwischen war ich schon zum fünften oder sechsten Mal hingefallen, und jedes Mal aufs Neue stolperte einer der anderen über mich hinweg. Instinktiv die Nähe

Durch sämtliche Ritzen meiner Kleidung war inzwischen Schnee eingedrungen, in die Schuhe, in die Jeans, unter die Jacke. Zu eisigen Rinnsalen schmelzend, durchnässte er mich bis auf die Haut, was nicht weiter tragisch war, da die körperliche Anstrengung mich warm hielt.

Um uns herum spritzten orangefarbene Funkenwolken auf - der von uns aufgewirbelte Pulverschnee, auf den das Licht der Scheinwerfer fiel.

Jetzt waren es noch fünfzig Meter bis zu der Wand, die sich senkrecht vor uns aus dem Eis erhob, ehe sie in einiger Höhe allmählich in eine Wölbung überging. Am äußersten Rand der Kuppel türmten sich meterhohe Schneewehen, die wir noch überwinden mussten, bevor wir endlich unser Ziel erreichen würden.

Der flinke Läufer Tolik erklomm als Erster den Rücken des Schneehügels und stürmte dann in vollem Lauf bergab auf die Wand zu, die aus einem Stahlgitter bestand. Kurz bevor er sie erreichte, schossen mir einige unangenehme Gedanken durch den Kopf: dass auch diese Wand sich als Fata Morgana erweisen könnte, durch die Tolik nun einfach hindurchlaufen, hinter der sich die schneebedeckte Ebene fortsetzen würde; oder dass die zentimeterdicken Stahlstäbe, aus denen das Wandgitter geflochten war, unter Strom stehen könnten und Tolik mit einem todbringenden Funkenwirbel in Empfang nehmen würden.

Nichts dergleichen geschah. Zwar versuchte Tolik, seinen Lauf abzubremsen, doch er hatte zu viel Schwung, rutschte aus und konnte gerade noch die Arme hochreißen,

Völlig außer Atem und mit zittrigen Beinen erreichte ich ihn. In seinem von Platzwunden übersäten, blutverschmierten Gesicht stand ein glückliches Grinsen.

»Geschafft!«, triumphierte er. »Dabei heißt es doch immer, der Horizont sei unerreichbar. Von wegen!«

Die Wand wirkte nicht wie von Menschenhand gemacht, sondern strahlte die Erhabenheit einer gewaltigen Naturerscheinung aus, wie ein Gletscherabbruch im Polarmeer oder ein steil aufragender Tafelberg. Ihre gigantischen Ausmaße waren erdrückend, und wir wandten unwillkürlich den Blick ab.

Chris sah uns mit besorgter Miene an. Obwohl er ein vernunftgesteuerter Mensch war, der sich jeden Schritt, den er unternahm, genau überlegte, war ihm klar, dass wir in unserer jetzigen Lage keine Sekunde mit Nachdenken verlieren durften. Wir mussten handeln, solange in uns noch Reste jenes Wagemuts vorhanden waren, mit dem wir unseren tollkühnen Angriff begonnen hatten, handeln, ehe uns dieses kolossale Bauwerk endgültig demoralisierte.

»Wir teilen uns in drei Gruppen auf«, ordnete Chris an. »Timur, Tolik und Ilja, ihr zieht zusammen los, ebenso Meloman, Maljok und Dima und schließlich Tom und ich. In einer Stunde treffen wir uns wieder hier. Tim, die nimmst du.« Er reichte Timur Ritas Uhr.

»Was sollen wir denn überhaupt machen?«, erkundigte sich Meloman etwas verzagt.

Chris hob den Arm und deutete auf die lukenartigen Einstiege, die sich etwa fünf Meter über uns befanden und in finstere Tunnels zu führen schienen.

»Wir werden diese einladenden Gänge mal genauer inspizieren und mit den Wesen Bekanntschaft schließen, die darin wohnen.«

Meine Eingeweide krampften sich zusammen. Beim Anblick der schwarzen Löcher in der Gitterwand musste ich an einen gigantischen Ameisenhaufen denken. Es hätte mich nicht gewundert, wenn im nächsten Moment monströse Insekten daraus hervorgekrabbelt wären.

»Vorwärts!«, befahl Chris knapp und begann an der Wand emporzuklettern.

Bevor ich ebenfalls in das stählerne Gitter stieg, trennte ich noch die Ärmel meiner Jacke ab und warf sie in den Schnee. Wenn sich dort oben tatsächlich jemand verbarg, würde es sicherlich einen Kampf geben.

Die Gitterwand war wie eine überdimensionale Leiter und ließ sich mühelos erklimmen. Schon wenige Augenblicke später stand ich mit Meloman und Maljok im Eingang zu einem engen Tunnel. Wie die gesamte Kuppel bestand der Tunnel aus einem Gittergeflecht, dessen Maschen jedoch viel enger gewoben waren als jene an der Wand. Man konnte problemlos darüberlaufen, ohne mit den Füßen hindurchzurutschen. Das orangefarbene Licht drang nur wenige Meter von außen in den Tunnel ein und verlor sich bald im Dunkel des Ganges.

»Ich gehe voraus«, verkündete überraschend Maljok.

Eine Weile verlief der Tunnel horizontal und entfernte sich so immer weiter von der Innenwand der Kuppel. Dann bog er fast rechtwinklig ab und führte nach oben.

Kalte Finsternis umhüllte uns. Durch die Gitterwände drang kein Laut. Ab und zu passierten wir leise brummende Apparate, die in der Dunkelheit kaum auszumachen waren. Mehrmals vernahm ich ein Geräusch, das an

»Zwanzig Minuten sind schon vorbei«, flüsterte Meloman, der vor mir ging.

»Woher weißt du denn das so genau?«, fragte ich verwundert.

»Na ja... ähm, ich singe im Stillen vor mich hin«, sagte er verlegen.

»Was? Du singst vor dich hin?«

»Ja. Das mache ich immer, wenn ich Musik höre. Jetzt bin ich mit dem vierten Lied fertig. Und jedes Lied dauert etwa fünf Minuten.«

»Kannst du auch laut singen?«

»Um Himmels willen, nein!«, erwiderte Meloman entrüstet. »Ich singe völlig falsch. Und wir wollen hier doch kein Aufsehen erregen, oder?«

Ich unterdrückte ein Lachen, obwohl das im Grunde nicht nötig war. Unsere Schritte auf dem Metallgitter konnte man bestimmt aus zweihundert Metern Entfernung hören.

»Was meinst du, wozu dienen diese Gänge?«, fragte ich.

Meloman überlegte ein paar Sekunden, bevor er antwortete. »Zur Instandsetzung. Hier sind überall Vorrichtungen und Geräte. Vermutlich dienen sie dazu, den Himmel über den Inseln zu erzeugen. Und diese Anlagen müssen hin und wieder gewartet und repariert werden.«

»Ja, kann sein … Mich würde interessieren, wo unser Sprengsatz wohl gelandet ist, dass hier gleich sämtliche Anlagen ausgefallen sind.«

»Das würde ich auch gern wissen.«

Das Stahlgitter ächzte unter unseren Sohlen. In einer lang gezogenen Biegung führte der Gang nun wieder zurück.

Plötzlich fluchte Meloman und blieb abrupt stehen, sodass ich gegen seine Schulter rempelte.

»Da vorn ist Licht«, flüsterte Maljok kaum hörbar.

Auf das Gitter der Tunneldecke fiel ein orangefarbener Lichtschein.

»Sieht so aus, als seien wir wieder an der Innenwand der Kuppel herausgekommen«, hauchte Meloman genauso leise. »Nur an einem Punkt, an dem ein Scheinwerfer steht.«

Das war einleuchtend. Mir fiel auf, dass der orangefarbene Lichtschein mal heller und mal dunkler wurde, so als würde sich zwischen dem Scheinwerfer und uns etwas bewegen, das Schatten warf. Ein riesiges Wesen mit sechs Beinen und Chitinpanzer …

»Lasst mich vorbei«, sagte ich und zog mein Schwert aus dem Gürtel. »Jetzt gehe ich voran.«

Meloman erhob keinen Widerspruch. Ich hatte den Eindruck, dass auch ihm das seltsame Flackern des Scheinwerferlichts aufgefallen war.

Auf Zehenspitzen folgte ich der Biegung des Tunnels, in dem es nun immer heller wurde. Die Gesichter von Meloman und Maljok konnte ich schon wieder klar erkennen, als ich mich kurz nach ihnen umwandte. Vor mir erblickte ich jetzt eine kleine Plattform, an deren Rand der Scheinwerfer stand.

Auf der Plattform befanden sich zwei Gestalten.

Während ich noch einige Schritte weiter ging, fühlte ich, wie der Griff meines Schwerts plötzlich eiskalt wurde.

Sie waren nicht besonders groß, kaum über einen Meter fünfzig. Ihre Statur war breitschultrig, man hätte fast sagen können schwerfällig, wenn sie nicht mit so tänzerischer Leichtigkeit über die Plattform geglitten wären. Ihre Bewegungen glichen den hüpfenden Schritten eines Astronauten auf dem Mond. Ihre Beine waren dünn, der Brustkorb vorgewölbt wie ein Fass, der Rücken war durch einen Buckel oder auch durch eine Art Rucksack ausgebeult. Sie waren vollständig in Umhänge aus einem glänzenden dunkelbraunen Material gehüllt. Ihre Köpfe steckten in breiten, ins Gesicht gezogenen Kapuzen.

»Nur dass du es weißt«, flüsterte Meloman. »Wenn mir jetzt schlecht wird, liegt das nicht daran, dass ich etwas Verdorbenes gegessen habe.«

Die Figuren auf der Plattform setzten ihren hüpfenden Tanz fort. Neben dem kugelförmigen Scheinwerfer, der fast einen Meter Durchmesser hatte, lag eine formlose, unbewegliche Masse. Es schien so, als machten sich die beiden Wesen eben an dieser Masse zu schaffen. Aus den dunklen Umhängen fuhr in regelmäßigen Abständen ein langer, dünner Arm heraus, berührte den gestaltlosen Haufen und zog sich wieder zurück.

»Reparieren die da etwas?«, fragte Meloman.

»So repariert man doch nichts«, entgegnete ich.

Wir hatten zu laut gesprochen.

Die beiden Gestalten erstarrten in ihrer Bewegung und wandten sich dann allmählich in unsere Richtung. Wahrscheinlich konnten sie uns nicht sehen, denn wir befanden uns im Dunkeln, während sie im Scheinwerferlicht

»Gehen wir uns vorstellen«, knurrte ich entschlossen und preschte zur Plattform vor.

3 DER ÜBERLÄUFER

An der Plattform endeten mehrere Gänge, doch wir standen so günstig, dass wir den kleinen Hüpfmonstern alle Fluchtwege abschnitten. Das war ihnen offenbar klar - sie versuchten gar nicht erst zu fliehen, sondern wichen zum Rand der Plattform zurück. Als das Scheinwerferlicht auf ihre Gesichter fiel, sah man unter den Kapuzen ihre Augen leuchten. Wie wir besaßen sie deren zwei.

»Hallo«, sagte Meloman mit gespielter Freundlichkeit. »Ihr seid diejenigen, die uns entführt haben, nicht wahr? Uns ist langweilig geworden auf den Inseln, deshalb haben wir beschlossen, euch einen Besuch abzustatten.«

»Lasst uns sofort nach Hause zurück!«, schrie plötzlich Maljok. »Verstanden!«

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich unseren Jüngsten. Er zitterte, und auf seine Stirn traten Schweißtropfen. Selbst im orangefarbenen Scheinwerferlicht sah seine Haut blass aus. Mit halb drohender, halb verzweifelt klingender Stimme sprach er weiter auf die beiden ein: »Denkt ihr, ich hätte Angst vor euch? Da täuscht ihr euch. Nur weil ich für euch spioniert habe, bin ich noch lange kein Angsthase. Ihr seid die Feiglinge!«

Langsam ging er auf die Fremdplanetarier zu. Eine der beiden Gestalten wackelte mit dem unter der Kapuze verborgenen Kopf und stieß einen dünnen, zischenden Laut aus. Maljok schrak zusammen, blieb jedoch nicht

»Sei vorsichtig!«, rief ich ihm zu.

»Sie sind die Feiglinge, sie haben Angst vor uns«, presste Maljok hervor. Dann zeigte er herausfordernd mit dem Finger auf die Gestalt, die ihm am nächsten stand. »Du da, nimm deinen Umhang ab! Versteck dich nicht!«

In der anderen Hand hielt Maljok sein Schwert. Der Fremdplanetarier schien keinerlei Waffen zu tragen. Dafür hatte er Krakenarme, deren Biegsamkeit nichts Menschliches an sich hatte. Mit einer blitzartigen Bewegung schoss sein Greifwerkzeug aus dem Umhang hervor, wischte über Maljoks Gesicht und fuhr ebenso schnell wieder zurück. Die gebogenen Krallen an den Fingern hatte ich dennoch bemerkt.

Maljok sackte zusammen.

Wütend stürzte ich mich auf den Außerirdischen.

Mit einem gewaltigen Sprung, zu dem ein Mensch nie imstande gewesen wäre, schraubte er sich in die Luft und entging so meinem Schlag. Allerdings landete er genau in der Klinge von Meloman. Im Kampf verstanden wir uns blind, agierten mit eingespielter Routine, die wir uns in vielen Gefechten auf den Inseln hart erarbeitet hatten. Die Absicherung des Partners war uns dabei zur eisernen Kampfesregel geworden.

Beim vergeblichen Versuch, das Schwert aus dem zu Boden gestürzten massigen Körper seines Gegners zu ziehen, rutschte Meloman aus, rappelte sich aber sofort wieder auf, zog seinen Dolch und sprang mir erneut zur Seite.

Dem zweiten Fremdplanetarier hielt ich nun die Schwertspitze unter den Saum der Kapuze, aus der sein

»Stich zu, Dima«, schnaubte Meloman, dessen Stimme vor Hass bebte. »Töte ihn!«

»Was ist mit Maljok?«, fragte ich mit zusammengebissenen Zähnen.

»Blutet wie ein Schwein. Er hat ihm die Kopfschlagader aufgerissen.«

Ich holte aus. Meinem Gegner kam zwar seine übermenschliche Wendigkeit zugute, doch die lange Klinge in meinen Händen verschaffte mir mindestens gleichwertige Chancen.

Die Kapuze wedelte hektisch hin und her, und plötzlich drang eine dünne, piepsige Stimme daraus hervor: »Ich ersuche euch, diesen Schritt zu überdenken. Eure Entscheidung ist inkorrekt.«

Mein Schwert wurde bleischwer.

»Ihr... ähm... du kannst sprechen?«, stammelte ich verdutzt.

»Ich bin Chefexperte für Sprachen. Euren Gefährten habe nicht ich getötet«, roboterte mein Gegner monoton. Dabei schob sich wie ein Greifarm aus den Falten des Umhangs seine spindeldürre, mit runzeliger Haut umspannte Pfote hervor, und mit einem langen, krallenbewehrten Finger deutete er auf den von Meloman getöteten Außerirdischen.

»Er ist Mechaniker«, setzte er hinzu. »Nicht fähig zur Verhaltensänderung. Tot. Niedrigster Anpassungsgrad.«

»Ach ja, und du willst etwas Besseres sein?«, fauchte Meloman zornig, trat zu dem getöteten Mechaniker und

Ohne das Schwert zu senken, ging ich einige Schritte zurück und beugte mich über Maljok.

In seinem Gesicht klaffte eine tiefe Risswunde. Außerdem war sein Hals links und rechts aufgeschlitzt, als hätte man ihn mit einem Messer traktiert. Es war mir ein Rätsel, wie der inzwischen tote Außerirdische es mit einer so flüchtigen Bewegung seiner grässlichen Klaue geschafft hatte, Maljok mit beinahe chirurgischer Präzision das Leben auszuhauchen. Nur noch wenig Blut floss aus den Wunden, sickerte durch das Stahlgitter.

»Nimm endlich den Umhang ab, du Missgeburt!«, brüllte ich, als ich mir Maljoks letzte Worte ins Gedächtnis rief.

»Erregt euch nicht«, erwiderte die Kreatur völlig emotionslos. »Ich werde ihn abnehmen.«

Der Umhang raschelte wie Papier, als das Wesen ihn mit seinen Krakenarmen abstreifte.

Mit einem Menschen hatte der Fremdplanetarier nur entfernt Ähnlichkeit. Seine Beine waren klapperdürr und mit knorrigen Sehnen durchzogen. Die Knie bogen sich nach hinten durch. Der Körper war mit einem eigenartig flaumig flockigen Fell bedeckt. Dieselben Zotteln überwucherten auch den gesamten Kopf, der halslos auf dem Rumpf saß. Und mit einem Mal fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Das war überhaupt kein Fell.

Es waren Federn!

Seine kugelrunden Äuglein, die mit schwabbeligen, gallertartigen Häutchen überzogen waren, folgten meinen Bewegungen. Unterhalb der Augen ragte ein kurzes schnabelartiges Gebilde aus dem Gefieder. Es bestand

»Ich habe eurem Wunsch entsprochen. Kann ich den Umhang wieder anlegen? Es ist kalt«, fiepte er.

Abwesend nickte ich. Der schauderhafte Anblick des hässlichen Vogelmenschen hatte mir die letzten Kräfte geraubt. Ein Glück, dass er das nicht bemerkte, der Fremdplanetarier … Der Vogelmensch … Ein Vogel?

»Kannst du fliegen?«, fragte ich misstrauisch.

»Nein. Eine verloren gegangene Fähigkeit.«

»Meloman«, sagte ich, ohne den Außerirdischen aus den Augen zu lassen, »ruf die anderen, sie müssten eigentlich schon unten am Treffpunkt sein.«

Meloman ging zum Rand des Tunnels, der sich zum gefrorenen Meer hin öffnete, hielt sich mit der Rechten am Gestänge des Scheinwerfers fest und beugte sich hinab.

»Hey, Jungs, kommt hierher!«, schrie er, heftig mit der Linken wedelnd.

»Sind sie weit weg?«, erkundigte ich mich.

»Nein, direkt unter uns, vielleicht zwanzig Meter entfernt. Sie haben mich schon gesehen und klettern gleich zu uns herauf.«

Nach wie vor beobachtete ich jede Bewegung des Vogelmenschen, der sich wieder in seinen Umhang gehüllt hatte, mit eiserner Wachsamkeit, denn vor den messerscharfen Krallen, die Maljok zum Verhängnis geworden waren, musste man sich in Acht nehmen.

Offensichtlich konnte er meinen feindseligen Blick genau einordnen, denn sein verkrüppeltes Pfeifwerkzeug

»Auf dem Schiff?«, fragte ich erstaunt.

»Ja. Ihr habt das Versuchsgelände erobert und das Energiezentrum zerstört. Die Techniker sind aber in der Lage, Reserveenergiequellen zu aktivieren. Nicht für lange, aber es würde reichen, um euch zu vernichten.«

»Das ist das Versuchsgelände?«, fragte ich und zeigte mit der Hand durch die Tunnelöffnung, wo sich die Inseln aus der verschneiten Eiswüste erhoben.

»Ja.«

»Und das Schiff?«

»Das hier ist das Schiff«, antwortete der Fremdplanetarier und ließ den Krakenarm über seinem Kopf kreisen. »Auf dem Schiff sind sechzehn Vernunftbegabte. Ich präzisiere: Es waren sechzehn. Jetzt sind es noch vierzehn, mich nicht gerechnet. Ohne mich werdet ihr sie nicht finden. Ich schlage euch eine Abmachung vor.«

Während der Vogelmensch versuchte zu schachern, ertönten vom Tunnelrand scheppernde Geräusche. Chris steckte den Kopf über die Kante; vom Scheinwerferlicht geblendet, kniff er die Augen zusammen. Als er auf die Plattform geklettert war und den Außerirdischen neben mir erblickte, fasste seine Hand instinktiv an den Schwertgriff.

»Darf ich vorstellen, Chris«, begann ich leise, »das ist einer von den sechzehn Bastarden, die uns auf den Inseln festgehalten haben. Jetzt möchte er die Seiten wechseln und sich als Verräter verdingen. Er bietet sich uns als Führer an.«

Die Kapuze schwenkte in meine Richtung. »Verrat ist eine Erfindung des menschlichen Verstandes«, dozierte der Außerirdische mit seiner piepsigen Vogelstimme. »Wir ändern nur unser Verhalten. Es ist eine der merkwürdigen Eigenschaften des menschlichen Verstandes, dass er Verhaltensänderungen nicht akzeptiert.«

Chris antwortete nicht darauf, denn er hatte Maljok entdeckt und schritt nun auf ihn zu, ganz langsam, als wollte er ihm Zeit geben, damit aufzuhören, sich zu verstellen.

»Es ist ein Jammer, Chris«, sagte ich, »aber es sieht so aus, als könnten wir es uns tatsächlich nicht leisten, diese Bestie zu töten.«

Die Kapuze nickte eifrig. »Sehr vernünftig. Seid Ihr der Anführer der Menschen?«

Chris, der neben Maljok auf die Knie gesunken war, drehte sich zu dem Außerirdischen um.

»Ja, er ist unser Kommandeur«, sagte er nach kurzem Schweigen.


Als auch die anderen Jungen zu uns heraufgeklettert waren, wurde es eng auf der Plattform. Um die beiden Außerirdischen herum, den toten wie den lebendigen, bildete sich ein freier Raum. Während Meloman erzählte, was passiert war, entfernte ich mich zum Rand der Plattform. Der lebende Vogelmensch sah mir mit sorgenvollem Blick hinterher; es war ihm augenscheinlich unangenehm, von einem Haufen aufgekratzter, hasserfüllter Kämpfer umringt zurückzubleiben. Er hoffte darauf, dass ich, der Kommandeur der Menschen, ihn schützen würde. Ich, der Kommandeur der Menschen …

Chris hatte nicht gescherzt, das hatte ich an seinem

Für Augenblicke fühlte ich mich so einsam wie noch nie zuvor auf den Inseln. Der Anführer ist immer einsamer als seine Untergebenen. Das mag daran liegen, dass er niemanden über sich spürt. Offenbar ist es äußerst wichtig, nicht nur neben und unter sich, sondern auch über sich jemanden zu wissen. Jetzt wurde mir bewusst, wie angenehm es ist, wenn dir jemand die Last deiner eigenen Zweifel abnimmt.

Nun war ich ein Kommandeur auf den Inseln.

Diese Realität hatte ich noch nicht verinnerlicht. Ich befand mich in einer Art Schockzustand, wie gelähmt von der Größe der Aufgabe, und war noch nicht in der Lage, meine neue Rolle auch wertzuschätzen.

Die Gestalten, die unten auf der ins orangefarbene Licht der Scheinwerfer getauchten Eisfläche langsam näher kamen, spürte ich eher, als dass ich sie sah. Es waren viele, mindestens zwei Dutzend, und langsam begriff ich, dass von mindestens zwei Inseln Unterstützung unterwegs war. Rita, Inga, Tanja und Olja hatten es also geschafft, unsere ehemaligen Feinde zu überzeugen.

Freudig kletterte ich hinunter in den Schnee, um den Nachschub zu begrüßen. Und während ich Seite an Seite mit Inga wieder zur Plattform hinaufstieg, wiederholte ich unentwegt ein und dasselbe: »Wir werden siegen. Wir werden ganz bestimmt siegen.«

Chris und Timur fesselten dem Außerirdischen die Klauen. Als sie den Knoten brutal festzogen, quiekte er wie ein Schwein.

»Dafür besteht keine Notwendigkeit«, jammerte er entrüstet.

Ungerührt stand ich daneben und mischte mich nicht ein.

»Sind deine Gefährten bewaffnet?«, fragte ich dann.

In seiner jetzigen Lage, mit den am Rücken gefesselten Armen, hatte das bizarre Geschöpf überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit einem Menschen.

»Alle verfügen über Waffen«, begann er mit ruhiger, mechanischer Stimme. »Aber der Reaktor ist zerstört, die Strahlenpistolen können nicht geladen werden.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Der Kapitän des Schiffs verfügt als Einziger über eine einsatzbereite Strahlenpistole, deren Ladung aber nur für zehn Schuss reicht. Ihr könntet die am wenigsten nützlichen Individuen vorausschicken, die Munition reicht nur für ihre Vernichtung...«

Der Rest des Satzes wurde abgewürgt, denn eine krachende Rechte von Timur traf den Fremdplanetarier mitten im fratzenhaften Gesicht.

»Dafür besteht keine Notwendigkeit«, wimmerte er heftig taumelnd.

»Lass ihn, Tim«, befahl ich knapp. »Weißt du, auf welche Weise der Reaktor zerstört wurde?«, fragte ich mit einem Blick auf die verwirrten Gesichter der Jungen von den anderen Inseln.

»Ja. Es gab eine Explosion in der Abfallrecyclinganlage. Der erste und zweite Wärmeträgerkreislauf wurden unterbrochen. Notabschaltung des Reaktors. Beendigung der Synthese im Hauptblock sowie der Spaltung im Nebenblock. Disbalance des Chronogenerators. Nach Zuschaltung der Schutzmechanismen war die Gruppe

Kampfeisen? Stirnrunzelnd betrachtete ich mein Schwert. So wurden sie also von ihren Erfindern genannt. Genauso eine Attrappe wie alles Übrige. Klingen, die auf die Emotionen ihrer Besitzer reagierten und mal zur Waffe, mal zum Spielzeug wurden. Nun gut, heute würden sich die Kampfeisen noch einmal nach Herzenslust austoben können.

»Führe uns«, befahl ich dem Außerirdischen. »Und vergiss nicht: Wenn du versuchst, uns zu täuschen, stirbst du als Erster.«

4 DAS SCHIFF

Der Fremdplanetarier machte keinerlei Anstalten, uns zu täuschen. In seiner Logik existierten die Begriffe »Verrat« und »Betrug« überhaupt nicht, sein Verstand kannte nur den etwas gestelzten Ausdruck »Verhaltensänderung«. Infolge einer nüchternen Abwägung von Für und Wider hatte er sein Verhalten geändert, indem er auf die Seite der Stärkeren übergelaufen war. Und in dieser Situation waren die Stärkeren seiner Einschätzung nach wir Menschen.

Zunächst verließen wir das Labyrinth der verschlungenen Gittertunnel, das die Kuppel des Versuchsgeländes durchzog. Der dunkle, stählerne Korridor mündete in einen kunststoffverkleideten Gang, der vom pulsierenden Licht orangeroter Alarmlampen schwach erleuchtet wurde.

In einem runden Saal, dessen Decke aus einem riesigen Spiegel bestand, stießen wir auf drei Fremdplanetarier. Sie trugen keine Umhänge, und an ihren Gürteln hingen undefinierbare Gegenstände aus Metall.

»Das sind Waffen. Nicht geladen«, erklärte unser Führer stoisch.

Die drei Figuren wuselten um durchsichtige Behälter herum, in denen eine rosafarbene gallertartige Masse brodelte. Mit ihren Gummiklauen hantierten sie an einem Gewirr aus Hähnen und Schläuchen, mit denen die Tanks vernetzt waren.

Für einige Augenblicke beobachteten wir das emsige Treiben. Die tänzerischen Bewegungen der Außerirdischen waren von bizarrer Eleganz. Unwillkürlich empfand ich einen gewissen Respekt vor den fremdartigen Wesen. Doch als die Tänzer uns bemerkten und an ihren Klauen die messerscharfen Krallen ausfuhren, war es mit der Bewunderung rasch vorbei.

»Mörder!«, knurrte Meloman.

Es war wie ein Kommando zum Angriff. Mit Gebrüll stürzte sich die ganze Meute, einschließlich der Mädchen, in den Kampf. Im letzten Moment gelang es mir, Inga an den Schultern zu packen und sie zurückzuhalten.

»Bleib hier«, flüsterte ich ihr zu. »Das hast du nicht nötig.«

»Wieso, ich bin auch nicht schlechter als die anderen«, entgegnete sie stur und versetzte mir einen empörten Blick.

»Du bist besser als die anderen. Wage es nicht zu töten, Inga!«

»Warum denn nicht?«

»Darum... Ich... du bist ein Mädchen. Du darfst nicht töten.«

Sie sah mich an, als hätte sie eine andere Begründung von mir erwartet. Dann entwand sie sich meinem Griff und verschränkte trotzig die Arme.

»Also gut«, sagte sie spöttisch. »Ich halte mich zurück, solange alles gut geht.«

Wir schwiegen beide einen Augenblick lang, ehe sie weitersprach: »Aber wehe, wenn sie dir etwas antun, das würde ich dir nie verzeihen!« Diese letzten Worte hatte sie regelrecht herausgeschrien und mich dabei zornig angesehen. Ich wusste nicht, was ich sagen, ja

»Diese Art von Reaktion konnten wir bis zuletzt nicht verstehen«, sagte er. »Eine seltsame Eigenschaft des menschlichen Verstandes. Die Übertragung des Selbsterhaltungsbestrebens auf offensichtlich bedeutungslose Individuen. Wenn man versuchte, diese Reaktion aus der Sicht des Reproduktionsgedankens...«

»Halt den Mund!«, bellte ich ihn an.

Mit einem glucksenden Laut verschluckte er den Rest des Satzes. Als ich mich dem Schlachtfeld zuwandte, war der Kampf bereits vorüber. In drei Gruppen standen unsere Leute um die drei getöteten Außerirdischen herum. Ein Junge von einer der anderen Inseln, den ich nicht kannte, saß verletzt auf dem Boden. Rita verband ihm den Arm.

»Jetzt sind es noch elf«, resümierte ich. »Hey, Führer, was haben die drei hier eigentlich gemacht?«

»Sie haben versucht, die Simulationseinrichtungen wieder in Gang zu setzen. Unvernünftig. Eine Arbeit für zwei volle Zeitzyklen. Nicht zu schaffen.«

»Führe uns weiter!«, befahl ich.


Die Gänge, die wir nun passierten, waren derart abenteuerlich verwinkelt, dass selbst die Avantgarde der irdischen Architekten darüber nur den Kopf geschüttelt hätte. In Nischen und kleinen Räumen entlang unseres Weges standen skurrile Maschinen, riesige Kessel, in denen farbige Flüssigkeiten brodelten, und eine seltsame Metallkonstruktion, die aussah wie ein achtlos aufgetürmter

Am meisten erstaunte mich das Benehmen unseres Führers. In seinen Umhang gehüllt, dackelte er devot hinter unserer Vorhut her und wies uns von Zeit zu Zeit den Weg. Er legte nicht die geringste Spur von Unsicherheit oder Zweifel an den Tag. Selbst die Liquidation von seinesgleichen beobachtete er völlig ungerührt. Sein Verhalten ließ ihn wesentlich fremdartiger erscheinen als seine falsch herum durchgebogenen Knie.

Ein längerer Aufenthalt ergab sich nur in einem Raum, den unser Gefangener das Kontrollzentrum nannte. Der ovale Eingang war durch eine massive Trennwand verschlossen, die aus zahlreichen Metallplatten bestand und an die Irisblende eines Kameraobjektivs erinnerte. Die ungewöhnliche Tür ließ sich nicht öffnen, und so versuchten wir, sie mit Gewalt aufzubrechen, indem wir uns dagegen warfen.

Vermutlich hätte unser ungestümes Anrennen nichts eingebracht außer einer Menge blauer Flecken. Doch unter dem Lärm unserer dumpfen Rammstöße verlor der Kapitän des Raumschiffs hinter der Trennwand die Nerven und schoss.

Tolik und Roman, ein groß gewachsener Junge von der Nachbarinsel, waren gerade dabei, mit den Füßen gegen die dicht schließenden Metalllamellen zu treten, als diese durch einen gewaltigen Stoß von innen aufgebrochen wurden und aus dem Rahmen flogen.

Zum Ausweichen blieb keine Zeit. Tolik und Roman wurden von den herausfliegenden Trümmern regelrecht umgemäht. Einige Jungen, die in der Nähe der Tür standen, warfen sich mit einem Hechtsprung zur Seite. Ich

Tolik lag eingeklemmt unter einem Haufen verbeulter Metallplatten, von denen einige auf der Innenseite flammend rot waren und schwach glänzten. Erst beim zweiten Hinsehen wurde mir klar, dass die gewaltige Energie des Schusses sie zum Glühen gebracht hatte. Roman schälte sich hastig aus dem Schrotthaufen heraus und robbte unbeholfen von der Tür weg.

Durch das nun offene Oval feuerte der Kapitän einen weiteren Schuss auf uns ab. Durch den Gang schoss eine Kugel aus blendend weißem Licht wie von einer Explosion, schlug in der Wand hinter uns ein und hinterließ dort ein etwa metergroßes Loch, dessen Ränder angeschmolzen waren und kirschrot leuchteten. In der Schussbahn funkelte die Luft noch mehrere Sekunden lang.

Nachdem das Krachen des Schusses verhallt war, legte sich völlige Stille in den Gang. Auf allen vieren, um keine Zielscheibe abzugeben, kroch Chris zu Tolik hinüber, um ihn aus seiner misslichen Lage zu befreien. Direkt neben der Tür stand an die Wand gepresst Meloman und lud lautlos seine Armbrust durch.

Mit seinen gallertartigen Schweinsaugen spähte der Kapitän durch das Oval. Er wirkte nicht allzu beunruhigt, seine Bewaffnung verlieh ihm offensichtlich äußerste Selbstsicherheit. Er war etwas größer als unser Gefangener, und sein schmutzig weißes Gefieder wirkte ziemlich schütter. In den Klauen hielt er eine Art Kristallkugel, die an einem kurzen Pistolengriff befestigt war. Unsere selbstgebauten Armbrüste hatte er vermutlich gar nicht auf der Rechnung - im Gegensatz zu den Schwertern, die wir von den Außerirdischen bekommen hatten.

Der von Meloman abgeschossene Pfeil bohrte sich in seinen Kopf. Der Kapitän starb so schnell, dass er nicht einmal mehr Zeit hatte, seine Sorglosigkeit zu bereuen.

Danach stürmten wir das Kontrollzentrum. Wir fanden dort noch drei weitere Außerirdische, mit denen wir kurzen Prozess machten. Fast hatten wir nun schon ein wenig Übung im Kampf gegen die Vogelmenschen.

Der kreisrunde Raum war mit elektronischen Bedienpulten vollgestellt, und an seinen Wänden hingen meterbreite Bildschirme. An den Pulten hätte man das Blinken bunter Leuchtdioden, untermalt von einem Konzert summender und pfeifender Signaltöne, erwartet, doch sie waren wie tot. Auch die Bildschirme waren schwarz. Allem Anschein nach waren sie wegen der zusammengebrochenen Energieversorgung auf dem Schiff ausgefallen. Während die anderen Jungen die Gerätschaften inspizierten, kümmerte ich mich mit Rita und Inga um Tolik.

Es hatte ihn nicht allzu schlimm erwischt. Trotz der Wucht der auf ihn einstürzenden Metallplatten war er mit einigen Quetschungen davongekommen. Bei Roman sah es schlimmer aus. Der Junge von der Nachbarinsel, der sich um ihn kümmerte, flüsterte mir etwas von einer gebrochenen Wirbelsäule zu.

Teilnahmslos beobachtete unser Gefangener das hektische Treiben.

»Wie viele von deiner Sorte sind jetzt noch übrig?«, fragte ich, nachdem ich die Ergebnisse der Kampfhandlungen kurz überschlagen hatte.

»Fünf«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen.

»Und wo sind sie?«

»Ihr müsst suchen. Das Schiff ist zwar groß, man kann sich aber nirgends gut verstecken.«

Alle Blicke waren auf mich gerichtet. Nun war eine Entscheidung des Kommandeurs gefragt. Chris nickte mir aufmunternd zu.

Die Arme in die Hüften gestützt, atmete ich kurz durch und richtete mich zu voller Größe auf.

»Folgender Plan«, begann ich mit fester Stimme. »Wir teilen uns in Dreiergruppen auf.«

Über Chris’ Gesicht huschte ein breites Grinsen.

»Jeder Winkel des Schiffs wird durchsucht. Außerirdische sind zu liquidieren. In zwei Stunden, falls erforderlich auch früher, treffen wir uns alle wieder in diesem Raum. Eine Dreiergruppe bleibt mit den Mädchen und den Verwundeten hier. Gibt es Einwände?«

Es gab keine Einwände. Die Kommandeure der Nachbarinseln teilten die Jungen in Dreiergruppen auf.

Mit einem Blick auf Inga, die mich, wie nicht anders zu erwarten war, zornig ansah, setzte ich hinzu: »Ich bleibe mit Chris und Timur hier. Das Kontrollzentrum und unseren gesprächigen Freund dürfen wir auf keinen Fall aus der Hand geben.«

Nach wenigen Minuten hatten sich die Jungen aus dem Kontrollzentrum verflüchtigt. Von Weitem waren noch die Geräusche sich entfernender Schritte zu hören, der Trümmerhaufen der gesprengten Trennwand an der Eingangstür verströmte Brandgeruch, und Roman stöhnte leise.

Es war ein Augenblick des Innehaltens im Lauf der sich überschlagenden Ereignisse. Wie automatisch richteten wir alle in dieser unvorhergesehenen Pause unsere Aufmerksamkeit auf den Gefangenen. Die Federn in seinem Gesicht sträubten sich, und seine wabbeligen Augen verschmälerten sich zu Schlitzen. Seine gefesselten Arme

»Hör zu«, sagte ich ruhig zu ihm. »Du bist uns noch ein paar Erklärungen schuldig. Wer seid ihr überhaupt? Wozu habt ihr uns entführt? Und wo sind wir hier? Aber fasse dich kurz.«

»Und wie kommen wir auf die Erde zurück?«, ergänzte Inga.

Der Überläufer sah sich um und hüpfte behände in einen in der Nähe stehenden Lehnstuhl, der völlig irdisch aussah. Ich folgte seinem Beispiel. Rita und Inga nahmen den dritten Stuhl in Beschlag, Chris setzte sich auf die Lehne von meinem, Timur blieb stehen.

»Selbstverständlich kann ich euch alles erzählen. In aller Kürze.«

Der Außerirdische sprach fast ohne Unterbrechung und mit einer singenden, melodiösen Stimme, als rezitiere er ein auswendig gelerntes Poem.

»Durchs Weltall irrend...«

Noch heute höre ich seine Stimme, wenn ich die Augen schließe und mir seine in den Sessel gekauerte Vogelfigur vorstelle: die zurückgebildeten Flügel, aus denen doch keine richtigen Arme geworden waren, gefesselt; die in den Knien falsch herum durchgebogenen Beine nach vorn gestreckt und überkreuzt; der verkrüppelte Schnabel in seinem Eulengesicht auf und ab klappend und dabei menschliche Worte hervorsprudelnd.

5 DIE GESCHICHTE DES VOGELMENSCHEN

Durchs Weltall irrend, brauchte das Expeditionsschiff vom Planeten Lotan - wo sich die heimatliche Zivilisation der Außerirdischen befand - allmählich seine Energievorräte auf. Auch die Verbindung zum Heimatplaneten wurde unterbrochen, und schließlich verwirkten die Fremdplanetarier sogar ihr Recht auf Rückkehr, denn es war nicht gestattet, dreimal hintereinander zu einem interstellaren Flug aufzubrechen, ohne neue Kenntnisse über besiedelbare Planeten oder andere Zivilisationen gewonnen zu haben.

Es vergingen Zyklus um Zyklus, Periode um Periode. Immer tiefer stieß das Schiff in die Weiten des Kosmos vor. Einem Sprung in den Hyperraum folgte ein Erkundungsflug, dann wieder ein neuer Sprung in den Hyperraum. Immer weiter und weiter, auf der Suche nach anderen Lebensformen, bis die Verbindung zum Lotan abriss. Immer weiter und weiter, obwohl kaum mehr genug Energie für die Rückkehr vorhanden war.

Denn eine Rückkehr ohne das Recht zur Rückkehr bedeutete den Tod.

Beim letzten Sprung in den Hyperraum, als schon keine Hoffnung mehr bestand und die Energievorräte fast aufgebraucht waren, hatte das Expeditionsschiff Glück.

Nahe einem gewöhnlichen gelben Stern existierte auf einem warmen Planeten mit Sauerstoffatmosphäre eine Zivilisation unbekannten Typs.

Diese aus einer Sackgasse der Evolution hervorgegangene Zivilisation, die eine merkwürdige, unlogische Ethik entwickelt hatte und hoch technisiert war, entsprach auf den ersten Blick allen Anforderungen an eine zukünftige Kolonie.

Jetzt musste nur noch die Verbindung zum Lotan hergestellt werden. Das Expeditionsschiff konnte eine rückständige Zivilisation zwar vernichten, aber nicht unterwerfen.

Signal um Signal wurde abgesetzt: vergeblich. Es kam keine Antwort. Doch die Wesen, die im milden, orangefarbenen Licht des Lotan zu Vernunftbegabten geworden waren, konnten warten.

Unter Einsatz der letzten Tropfen Treibstoff fand das Schiff einen geeigneten Ort für den Aufbau einer Forschungsbasis und verband diese durch einen Hypertunnel mit jenem Planeten, der als zukünftige Kolonie ausersehen war. Der Unterhalt des Hypertunnels fraß trotz der geringen Entfernung zum Planeten beinahe die gesamte Energie der Reaktoren. Dafür hatte die Schiffsbesatzung, die sich nun in völliger Sicherheit befand, jederzeit die Möglichkeit, sich auf den Planeten zu begeben. Die Bewohner nannten ihren Planeten Erde, sich selbst nannten sie Menschen. Wollte man sie unterwerfen, war es unabdingbar, ihr Verhalten zu verstehen.

Direkt am Raumschiff errichtete die Besatzung ein Versuchsgelände. Es war eine gewöhnliche Konstruktion aus Stahlgitterplatten und Kunststoffkeramik, die für die Durchführung von Langzeitstudien ausgelegt war. Die Errichtung der Kuppel dauerte mehrere Jahre nach irdischer Zeitrechnung und verschlang Zigtausende Tonnen Stahl, der direkt von der Erde beschafft wurde. Simulationsvorrichtungen

Doch die Vernunftbegabten vom Planeten Lotan meisterten ihre Aufgabe mit Bravour.

Spezialanzüge ermöglichten es ihnen, sich als Menschen getarnt auf der Erde zu bewegen. Und mithilfe von Bioreplikatoren gelang es ihnen, Menschen zu entführen, ohne Aufsehen zu erregen.

Die Erforschung der Erdenbürger begann mit einfachen Tests zu Standardreaktionen wie Selbsterhaltung, Angst, Hass. Wie konnte man Erdlinge dazu bringen, sich zu unterwerfen? Was rief ihren Widerstand hervor?

Schon die ersten Ergebnisse waren überraschend.

Die Menschen verfügten über ein ganzes Arsenal eigenartiger, abnormaler Verhaltensmuster: Liebe, Freundschaft, Mitleid. Die Menschen hatten diese Begriffe erfunden und sich unverständliche Erklärungen dafür zurechtgelegt. Doch die Vernunftbegabten des Planeten Lotan erkannten das Wesentliche, das sich hinter dem Gewirr aus Worten verbarg.

Etwas veranlasste die Menschen dazu, ihre eigenen Reaktionsmuster auf andere zu übertragen: sich um das Leben Bekannter zu sorgen; Verwandten Erfolg zu wünschen; diejenigen zu hassen, die anderen Menschen, ja selbst Fremden Schaden zufügten.

Es wurden diverse Hypothesen aufgestellt, um dieses Verhalten zu erklären. Man konnte es aus der Sicht des Reproduktionsinstinkts betrachten oder als Identifikationsphänomen. Die Quintessenz blieb immer dieselbe: Die Menschen passten nicht in vorgefertigte Kategorien.

Der Plan der Kolonisierung musste also neu überdacht werden.

Die Vernunftbegabten vom Planeten Lotan stellten sich dieser Aufgabe. Sie, die nicht einmal wussten, was Freundschaft bedeutet, unternahmen den Versuch, die Liebe zu verstehen.

Die Jahre verrannen. Beständig wurden Signale abgesetzt, die sich jedoch in den Weiten des Alls verloren und auf dem orangefarbenen Lotan nie ankamen. In der Zwischenzeit wurden die Reaktionsweisen der entführten Erdlinge in den Bordcomputern abgespeichert und analysiert.

Die Besatzung des Expeditionsschiffes kam zu der Erkenntnis, dass ihr Plan zu scheitern drohte. Für die Erdlinge gab es keine einheitlichen Verhaltensmuster. Ein Mensch konnte sein Leben opfern, um ein fremdes Kind zu retten, ein anderer dagegen nahm mit Leichtigkeit den Tod des eigenen Kindes in Kauf, was nicht nur der ungewöhnlichen Ethik seines Planeten, sondern auch dem Reproduktionsgedanken an sich widersprach, der allem Leben zugrunde lag. Es war unmöglich, vorherzusagen, wie der eine oder andere Mensch sich im Fall einer Invasion der Erde verhalten würde. Man konnte nicht mit Sicherheit feststellen, wie man einen Menschen mehr beeindrucken konnte, indem man zum Beispiel seine Liebste entführte oder indem man ihm einen hohen Posten auf dem versklavten Planeten versprach. Die Kolonisierung würde zu einer Lotterie geraten, zu einem Spiel ohne Regeln.

Doch die Vernunftbegabten des Lotan bevorzugten klare Regeln. Sie begannen zu suchen, und sie wurden fündig.

Auf der Erde gab es Menschen, deren Verhalten über das Schicksal des gesamten Planeten entscheiden konnte: Staatsoberhäupter, Parteiführer, Religionswächter, Wissenschaftler, Journalisten, Schriftsteller.

Diejenigen eben, denen die Bewohner des merkwürdigen Planeten vertrauten, für die sie Respekt empfanden.

Die Invasionsschiffe vom Lotan würden dreißig Erdenjahre nach Herstellung der Verbindung eintreffen. Die Besatzung des Expeditionsschiffes musste also für jenen Zeitpunkt Informationen über die Psychologie der zukünftigen Führer der Erde beschaffen. Also von denjenigen Menschen, die in dreißig oder vierzig Jahren an der Macht wären. Von Kindern, denen die Hauptrollen in einem Stück zufallen würden, das noch gar nicht geschrieben war.

Es erwies sich als nicht allzu schwierig, geeignete Kandidaten herauszupicken. Die Geschichte wird nicht von Dummköpfen gemacht. Speziell für den Einsatz auf der Erde hatte die Besatzung des Expeditionsschiffes Geräte entwickelt, mit denen die Intensität des intellektuellen Feldes eines Menschen gemessen werden konnte.

Freilich gelangt nicht jedes Genie zu Ruhm. Doch die Außerirdischen begriffen den Intellekt als die Summe geistiger Fähigkeiten, die es ihrem Träger erlauben würden, eine gehobene Stellung in der Gesellschaft einzunehmen. Der auf diese Weise gemessene Intellekt bot eine ausreichende Garantie für die zukünftige Karriere eines Menschen.

Natürlich war es unmöglich, alle Faktoren zu berücksichtigen. Immer wieder kam es vor, dass Heranwachsende mit fantastischen intellektuellen Werten bei Unfällen

Zur Sicherheit trafen die Außerirdischen eine großzügige Vorauswahl. Fast tausend Heranwachsende pro Jahr wurden auf die Inseln geschleust. Man schuf Bedingungen für sie, in denen alle Aspekte ihrer Persönlichkeit zum Tragen kamen: Angst und Wagemut genauso wie Liebe und Hass. Die einen sperrten sich gegen jede Art von Zusammenarbeit, andere wurden bereitwillig zu Spionen. Der eine errichtete auf seiner Insel eine gewalttätige Diktatur, ein anderer führte sie demokratisch, zurückhaltend und im Bestreben, die Interessen aller zu berücksichtigen.

Auf den Inseln wurde ein »Großes Spiel« inszeniert, dessen Ziel für die Beteiligten verführerisch und begehrenswert war. Es wurden Regeln aufgestellt, die zum Teil unerlässlich waren, um das Spiel in Duelle zwischen Verstand und Willen zu kanalisieren und es nicht auf den Kampf gestählter Muskeln zu reduzieren. Das Verbot, bei Sonnenuntergang nach oben zu blicken, hatte eine doppelte Erklärung: Einerseits wurde zum Zeitpunkt der Umstellung der Simulatoren von Tag- auf Nachtbetrieb die nackte Kuppel des Versuchsgeländes für einen kurzen Augenblick sichtbar, andererseits sagt der Versuch, ein Verbot zu unterlaufen, eine Menge über einen Menschen aus. Zu allen Zeiten und auf allen Planeten waren die Unruhestifter immer diejenigen, die keine Angst hatten, Regeln zu brechen.

Die physischen Grundvoraussetzungen der Spieler wurden durch die speziellen Schwertimitate ausgeglichen, die nur durch die Willensleistung ihres Besitzers zu einer scharfen Waffe wurden. Mit einem solchen

Es verrannen die Jahre, vergingen die Jahrzehnte. Immer noch bestand keine Verbindung zum Lotan.

Doch das Große Spiel lief immer weiter, und immer mehr junge Menschen starben auf den Inseln …

6 DIE RÜCKKEHR

Wir schwiegen. Unser Gefangener war verstummt und rührte sich nicht. Den Vogelkopf in den Nacken gelegt, saß er in seinem Sessel und wirkte erschöpft.

»Dann sind wir also alle zukünftige Berühmtheiten?«, fragte Timur.

Inga sah ihn ein wenig mitleidig an. »Der große Feldherr Timur«, sagte sie nachdenklich.

»Der große Künstler!«, verbesserte Timur. »Meine Leidenschaft war immer das Zeichnen.«

»Ihr verfluchten Bestien!«, platzte Tolik heraus, der neben meinem Stuhl auf dem Boden saß. »Na gut, ihr wollt uns erobern... idiotisch, stumpfsinnig... Kriege und Eroberungen hat es immer schon gegeben auf der Erde. Aber Kinder zu nötigen, sich gegenseitig umzubringen...«

Toliks Wortwahl überraschte mich. Wir hatten uns nie selbst als Kinder bezeichnet, war es doch unser großer Wunsch, erwachsen zu sein. Ein Mensch wird aber erst in dem Moment erwachsen, in dem er aufhört, es sich zu wünschen.

»Auch das hat es schon immer gegeben«, entgegnete der Fremdplanetarier gelassen. »Immer schon, zu allen Zeiten. Kinder haben sich gegenseitig bekämpft und auch getötet, nicht immer physisch, aber häufig seelisch. Das Leben gab ihnen dazu die Waffen in die Hand, die jeweilige Zeit legte die Regeln fest und lehrte sie auch, diese zu brechen. Wir haben nur die Rolle des Lebens

»Aber auf der Erde haben wir nicht getötet!«, rief Tolik aufgebracht. »Wir hatten keine Schwerter!«

»Hattet ihr doch. Und zwar sowohl echte als auch solche mit Klingen aus Worten und Taten. Auch solche Klingen können töten.«

»Du bist gar nicht so dumm, wie du dich stellst«, sagte ich zu unserem Gefangenen und erhob mich von meinem Stuhl.

Auch der Außerirdische stand nun auf, wobei seine knorrigen Gelenke ächzten.

»Du auch nicht, Kommandeur der Menschen. Du verstehst es, zu lieben und zu hassen, darin liegt deine Stärke. Ich bin nur ein Experte für Sprache und Menschen. Und ich verstehe mich darauf, mein Verhalten zu ändern.«

»Wo ist der Hypertunnel zur Erde, du Gnom?«, fragte ich zornig.

»Der Hypertunnel verschwindet, wenn die Energiezufuhr aussetzt«, erwiderte er zögernd.

Der Hass machte mich klüger.

»Wie lange dauert es, bis er verschwindet?«

»Einen halben Zyklus.«

Mein Schwert zuckte gegen den Hals des Außerirdischen, dass die Federn nur so staubten.

»Übersetze das gefälligst in unsere Zeitrechnung«, knurrte ich.

»Sechs bis sieben Stunden.«

»Zum letzten Mal: Wo ist er, dieser Hypertunnel?«

»Hinter dieser Wand«, antwortete er, und einen Moment lang hatte ich den Eindruck, dass er mich auf den Arm nehmen wollte. »Die Wand wird per Knopfdruck hydraulisch hochgefahren. Allerdings hat das Bedienpult keinen Strom mehr.«

Rat suchend sah ich mich nach den anderen um. Timur hielt die Strahlenpistole des getöteten Raumschiffkapitäns in der Hand.

»Dynamit haben wir hier keines«, brummte er und fummelte an der Waffe herum. »Dann probieren wir’s doch mal damit. Das hier müsste doch der Abzug sein...«

Die Wand wurde noch um einiges effektvoller hinweggepustet als zuvor die Lamellentür am Eingang. Möglicherweise hatte Timur unwissentlich eine zu starke Strahlung eingestellt.

Hinter den zerfetzten Metallplatten befand sich ein winziger Raum. Auf Regalbrettern an den Wänden lagen Kleidung, Koffer, Bücherstapel und tragbare Aufnahmegeräte ohne erkennbare Ordnung herum, außerdem einige Kameras in ledernen Fototaschen.

Inmitten des Raums befand sich ein blaugrün schimmernder, runder, etwa einen Meter breiter Spiegel, der in der Luft zu schweben schien.

Über die qualmenden Trümmer hinweg betrat ich den Raum und inspizierte die leuchtende Scheibe.

Es war kein Spiegel, sondern ein zitterndes Häutchen, flirrende Luft, eine Wolke aus farbigem Staub in einem Stahlrahmen; ein flackernder Ring, hinter dem sich dunkelgrüne Kiefernzweige im Wind wiegten und herbstliches Laub durch die Luft flog; eine unsichtbare Membran, hinter der sich eine Böschung befand, die zu einer

»Ist er das?«, flüsterte ich.

Unser Gefangener stand neben mir. Chris und Timur hatten ihn in den Raum geschleift.

»Ja, das ist er«, bestätigte er.

»Und wie benutzt man ihn?«

»Einfach hineingehen.«

Hineingehen! Einfach hineingehen! Und auf die Erde zurückkehren! Mein Herz schlug bis zum Hals. Als ich mit dem Finger die flimmernde Membran berührte, spürte ich den kühlen irdischen Wind. Es war ein frischer Herbstwind, der zum Greifen nah direkt hinter der Membran des Hypertunnels sanft blies. Er hatte keine Lust, durch die stickigen Kabinen des Raumschiffs zu pfeifen, er wartete auf uns. Und wir würden kommen.

»Die Schleuse wird enger, Dima«, drängte Chris und rüttelte mich an der Schulter. Ich erschrak. Chris hatte recht. Der Ring war bereits um einige Zentimeter kleiner geworden. Noch eine halbe Stunde, dann würde er ganz verschwinden. Wir hatten noch zehn Minuten Zeit, danach würde ein Mensch nicht mehr hindurchpassen.

»Wie kann man das Schrumpfen der Schleuse stoppen? Rede!« Verzweifelt krallte ich meine Hände in den federflaumigen Nacken des Außerirdischen und schüttelte ihn.

»Der Reaktor ist zerstört, der Hypertunnel verschwindet«, sagte er gleichgültig.

Den Vogelmenschen grob zur Seite stoßend, wandte ich mich an die anderen. Ich suchte Blickkontakt zu Inga und nickte ihr energisch zu.

»Später, Dima. Lass erst mal die anderen...«, sagte sie und senkte den Blick.

»Wir haben keine Zeit zu diskutieren!«, brüllte ich sie an. »Mach, dass du da hindurchkommst, aber plötzlich!«

Timur packte Inga am Gürtel und hob sie mit spielender Leichtigkeit an die flimmernde Membran, die in dem enger werdenden Stahlring etwa einen halben Meter über dem Boden schwebte. Chris kam ihm zu Hilfe.

»Vielleicht wäre es besser mit den Füßen voran, nicht dass du auf den Kopf fällst?«, flüsterte er.

»Mit den Füßen voran?« Timur zog die Stirn kraus. »Blödsinn!«

»Ist es richtig so?«, fragte ich und sah den Fremdplanetarier drohend an. »Ich warne dich, wenn ihr etwas passiert, geht’s dir an den Kragen.«

»Alles in Ordnung so«, antwortete er beschwichtigend. »Ich verstehe eure Bedenken.«

Inga stieß einen Schrei aus, als ihre Beine durch die schimmernde Membran stießen. Chris und Timur erstarrten.

»Lasst sie los!«, befahl ich.

Inga verschwand.

»Los, jetzt du«, sagte ich zu Rita gewandt.

Rita machte keine Anstalten, stattdessen sah sie Chris fragend an. »Gehst du?«

Chris schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn wir gehen, wer erklärt dann den anderen, was los ist? Und wer passt dann auf dieses Federvieh auf? Ich bleibe.«

Ein Lächeln huschte über Ritas Gesicht. »Ich bleibe bei dir, mein Kommandeur. Wir bleiben bei dir.«

Ratlos sah ich die beiden an.

»Chris!«, flüsterte ich eindringlich und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Schleuse.

Kopfschüttelnd und mit einem milden Lächeln im Gesicht parierte der Engländer meine Aufforderung. »Ich kann doch die anderen nicht allein lassen, Dima. Schließlich bin ich doch ihr Kommandeur, wenn du gehst.«

»Ich?«

»Ja, du.«

»Und du, Timur?«

Seufzend breitete Timur die Arme aus. »Zwei Timure wären zu viel für eine Erde. Ich muss noch lernen, mit diesem Teil hier umzugehen«, sagte er grinsend und wedelte mit der Strahlenkanone. »Außerdem finde ich das Raumschiff spannend. Nimm das als Andenken mit.«

Er nahm den Tragegurt mit seinem Samuraischwert von der Schulter und überreichte es mir.

Zu Tränen gerührt, bekam ich kein Wort heraus. Stattdessen griff ich nach meinem Schwert und streckte es Timur hin.

Plötzlich fasste mich Tolik am Arm. »Ihr Idioten, beeilt euch, der Durchlass wird immer enger!«

Der Ring hatte noch vierzig Zentimeter Durchmesser, vielleicht sogar etwas weniger. Ein leuchtender Fleck in seinem Stahlkäfig.

Zu dritt hievten Chris, Timur und Tolik mich durch die enge Schleuse.

Zuerst fühlte ich den Wind, der mir ins Gesicht blies. Dann erblickte ich die grasbewachsene Böschung, und mir wurde schwindlig. Jetzt spürte ich die Schwerkraft der Erde. Eine unsichtbare starke Hand hatte mich der Inselwelt entrissen und auf meinen Heimatplaneten zurückbefördert.

Mich überschlagend und ohne die geringste Chance zu bremsen, kullerte ich den steilen Hang hinab. Mein Aufenthalt auf den Vierzig Inseln endete genauso, wie er begonnen hatte: mit einem heftigen Absturz.

Meine rasante Talfahrt endete abrupt an einem Baum. Dumm nur, dass ich ausgerechnet mit dem Kopf dagegenkrachte!

Als ich das Bewusstsein wiedererlangt hatte, taten mir sämtliche Knochen weh. Wie nach einem Wachdienst auf der Ostbrücke. Eine leichte, kühle Hand streichelte mir übers Gesicht.

»Inga«, flüsterte ich, ohne die Augen zu öffnen. »Entschuldige, dass ich dich angeschrien habe.«

»Das verstehe ich schon«, entgegnete sie ruhig.

Wir befanden uns auf halber Höhe des Hangs, zwischen dem höchsten Punkt des Hügels und einer einsamen, menschenleeren Straße. Inga saß mit dem Rücken an ebenjene Kiefer gelehnt, an der ich zur Begrüßung auf der Erde k. o. gegangen war. Mein Kopf ruhte auf ihren Knien.

Ich spähte zum Himmel und suchte ihn nach einer Spur des Hypertunnels ab. Vergeblich. Womöglich konnte man ihn nur vom Schiff aus sehen.

»Was ist mit den anderen?«, fragte Inga.

»Sie haben sich geweigert zu gehen. Chris, Timur und Tolik haben mich gepackt und durch die Schleuse geschoben. Ich bin ihnen so unendlich dankbar. Was meinst du, ob es ihnen gelingt, den Tunnel wieder zu aktivieren?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte sie achselzuckend. »Aber es ist doch nicht unsere Schuld, oder?«

»Was ist nicht unsere Schuld?«

»Dass sie zurückgeblieben sind.«

Nachdenklich blickte ich zur Straße hinab. »Nein. Sie waren wohl schon zu sehr an die Inseln gewöhnt. Die Inseln waren ganz ihre Welt geworden.«

»Aber auch unsere Welt.«

»Ein bisschen, ja.«

»Aber wir sind jetzt wieder auf der Erde und...«

Inga sprach nicht zu Ende. Über dem Hügel tauchte plötzlich wie aus dem Nichts ein Holzschwert auf, wirbelte durch die Luft und fiel wenige Meter oberhalb von uns ins Gras.

»Ja, wir sind auf der Erde«, wiederholte ich, rappelte mich auf und ging das Schwert holen.

7 ZU HAUSE

Gegen Abend erreichten wir eine Stadt.

Wir waren der Straße gefolgt, die sich unterhalb unseres »Landehügels« befand. In sanften Windungen schlängelte sie sich talwärts und war von südlich anmutenden Gärten gesäumt. Alte Apfelbäume bogen sich darin unter der Last ihrer riesigen, rotbackigen Früchte. Ich konnte der Versuchung, einige davon zu pflücken, einfach nicht widerstehen, schon beim ersten Baum griff ich zu.

Schmatzend biss ich in die saftigen, unbeschreiblich süßen Äpfel, während wir über den von der Sonne aufgeheizten Asphalt trotteten. Immer wieder brachen wir grundlos in Gelächter aus. Aber was heißt da grundlos? Wir befanden uns auf der Erde! Zwar nicht in unserer Heimatstadt, aber immerhin auf der Erde. Wir waren nach Hause zurückgekehrt! Das Wiedersehen mit unseren Eltern - und mit unseren Doppelgängern - stand uns noch bevor. Früher oder später.

Schon von ferne konnten wir den Stadtrand sehen: ein Neubauviertel aus neun- und zwölfstöckigen Häusern, deren Fenster die Abendsonne reflektierten. Noch hatte ich keinerlei Plan, was zu tun war: an die Tür der erstbesten Wohnung klopfen, eine Milizstation suchen oder Wissenschaftlern von unseren Abenteuern erzählen. In jenen Momenten war es mir aber völlig gleichgültig.

Wir waren zu Hause, nur das zählte!

Als wir die ersten Gebäude erreichten, entdeckte ich in einem kleinen Hinterhof ein gepflegtes Blumenbeet. Inga lief ein Stück vor mir her und achtete gerade nicht auf mich.

Diesmal traute ich mich. Eilig pflückte ich einige der Blumen. Obwohl es nur blasse Chrysanthemen waren, die der Herbstwind schon ein wenig zerzaust hatte, waren es für mich die schönsten Blumen der Welt.

Ich holte Inga ein und fasste sie an der Hand.

»Auf den Inseln gab es ja keine Blumen«, sagte ich und reichte ihr den kleinen Strauß. »Die hier... ähm... sind für dich.«

Hand in Hand standen wir nun da und waren ziemlich verlegen. Uns trennte nur der Blumenstrauß, den ich fest umklammert hielt, als Inga danach griff und ich ihre schmalen warmen Finger spürte.

»Ich habe noch nie jemandem Blumen geschenkt«, sagte ich, während mein Gesicht zu glühen begann.

Wir sahen uns in die Augen. Selbst im Dämmerlicht konnte ich mein Spiegelbild in ihren Pupillen sehen, so nah waren sich unsere Gesichter.

»Ich habe noch nie jemanden geküsst«, flüsterte Inga.

Die Berührung ihrer Lippen spürte ich kaum. Umnebelt versank ich in einem bodenlosen Abgrund, mir wurde schwindlig, und ein heftiger Schauer fuhr durch meinen Körper. Der Duft ihrer Haare, der Duft der Äpfel, die schwerelose süße Berührung ihrer Lippen, alles verschmolz zu einem wilden Taumel und brachte mein Blut zum Kochen.

Mit einem Ruck lösten wir uns voneinander, so wie ein Verdurstender die Feldflasche absetzt, da er Gefahr läuft, sich vor Gier zu verschlucken.

Verlegen wandte Inga sich ab und wies mit einer Kopfbewegung auf eine Holzbank, die unweit eines Hauseingangs stand.

»Setzen wir uns?«, fragte sie.

Wir suchten keinen Ort, um uns weiter zu küssen. Unsere Bank lag mitten im Schein der inzwischen eingeschalteten Straßenbeleuchtung und wäre dafür kaum ein geeigneter Ort gewesen. Außerdem waren wir beide noch vom ersten Kuss völlig aus den Fugen.

Um uns herum herrschte Stille, allmählich brach die Nacht herein. Nur ab und zu hörte man auf der Straße ein Auto vorbeifahren, leise und gedämpft, so als wollten auch sie uns nicht stören in diesem Augenblick. Schweigend sahen wir uns an, als sähen wir uns zum ersten Mal. Oder zum letzten Mal.

Schritte und ein erregtes, von johlendem Gelächter unterbrochenes Geschwätz näherten sich vom Bürgersteig her unserer Bank. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass eine Gruppe junger Burschen auf den Hauseingang zuging. Sie mochten zwischen dreizehn und fünfzehn Jahre alt sein, ein fröhlich lärmender Haufen Halbstarke. Ich beobachtete die Gruppe mit einer beinahe mitleidigen Milde. Ich fühlte mich um fünf, um zehn, ja um vierzig Jahre älter als diese Jungen. Um vierzig Inseln älter!

Als die Jungen uns auf der Bank sitzen sahen, verstummte ihr Gespräch. Neugierig und ein wenig geringschätzig sahen sie uns an. Kein Wunder, so wie wir aussahen. Mich streckend, rückte ich das doch eher peinliche Holzschwert so zurecht, dass es hinter der Lehne der Bank verborgen war.

Auf unserer Höhe angekommen, blieb einer der Jungen

»Hast du mal Feuer?«, fragte er mich.

»Tut mir leid, ich rauche nicht«, erwiderte ich und musste unwillkürlich grinsen.

Als sei er zutiefst erstaunt, verzog der Junge das Gesicht. »Was hat er gesagt?«, fragte er einen seiner Kumpel.

»Er hat gesagt, dass er nicht raucht, Waljok«, wiederholte jener dienstfertig.

Der Junge, der Waljok hieß, tat noch überraschter. »Und wozu brauchst du dann so ein Kälbchen, wenn du nicht rauchst?«

Alle brüllten vor Lachen. Ich würgte an einem dicken Kloß im Hals. Musste das jetzt wirklich sein?

»Pfoten weg!«, fauchte Inga.

Ich fuhr herum und spürte, wie sich jemand von hinten in meinen Nacken krallte.

»Pfoten weg!«, wiederholte Inga.

Der Junge neben ihr grinste nur frech und ließ seine Hand ungerührt auf ihrem Knie liegen. Wenige Augenblicke später beförderte ihn Inga mit einem kräftigen Ellenbogencheck von der Bank. Völlig verwundert fand er sich auf dem Boden wieder.

»Die Kleine ist wohl nichts für dich«, stellte Waljok zufrieden fest. »Hau ab, jetzt werden wir uns mal um sie kümmern.«

»Ihr solltet lieber selber abhauen, ihr Milchbubis«, entgegnete ich.

Die Umstehenden schienen einigermaßen überrascht von meinem Konter. Selbst die beiden, die mich von hinten festhielten, lockerten für einen Moment ihren Griff.

»Wie hast du uns genannt?«, fragte Waljok jedes Wort einzeln betonend und hielt sich die Hand ans Ohr, als hätte er mich nicht verstanden. Diesmal wiederholte keiner meine Worte. Alle glotzten mich nur an.

»Ich hab deinen Joke wirklich nicht verstanden«, sagte Waljok und kam auf mich zu. »Könnte sein, dass dir das noch leidtut.«

»Dem ist alles egal«, stichelte einer der beiden hinter meinem Rücken. »Er hält sich für einen Ninja, schleppt ein Schwert mit sich herum. Dummerweise ist es aus Holz, er hat wohl Angst vor den Bullen.«

Jemand zerrte an meinem Schwert. Ein dumpfes Pochen ertönte, als die Jungen hinter mir mit dem Fingerknöchel daraufklopften. Waljok kramte unterdessen in seiner Hosentasche. Als er seine Hand wieder hervorzog, war sie mit einer Eisenkette umwickelt.

»Jetzt musst du dich leider entschuldigen, du armer Irrer«, sagte er mit gespielter Freundlichkeit. »Aber vielleicht gehst du ja von selbst auf die Knie?«

»Verzieht euch«, sagte ich trocken, »Lasst uns in Ruhe.«

Zwei von ihnen hatten sich jetzt von vorn Inga genähert. Mehrere standen in unserem Rücken, ihr Anführer direkt vor mir.

»Dann wollen wir mal«, sagte Waljok und wickelte genüsslich einen halben Meter seiner Kette ab.

»Inga, hinter dir!«, rief ich, während ich aufsprang und

Waljok blieb unbeeindruckt, er fletschte nur die Zähne und schwang seine monströse Kette, die direkt vor meinem Kopf im Kreis wirbelte. Als er zuschlug, duckte ich mich im letzten Moment weg, und die Kettenglieder sausten zischend ins Leere.

»Dima, drei von hinten!«

Für einen Augenblick wandte ich mich um. Inga hatte den ersten bereits in die Flucht geschlagen und nahm sich gerade den zweiten vor. Mit einem Faustschlag erledigte ich den dritten.

»Habt ihr genug?«, fragte ich, nachdem ich mich wieder Waljok zugewandt hatte.

Er spuckte aus, fluchte und stürzte sich auf mich.

Plötzlich spukten wieder Phrasen aus der Welt der Vierzig Inseln durch meinen Kopf.

Auf der Südbrücke!

Kostja in der Burg... an einer Wunde.

Werft die Waffen weg!

Ich erledige das selbst, ich will nach Hause.

Die Kette sauste auf mich herab, einmal, zweimal. Nur mit Mühe konnte ich den Schlägen ausweichen. Dreimal, viermal.

Wir hätten euch beide kaltmachen sollen.

Wir nehmen keine Gefangenen.

Immer. Zu allen Zeiten.

Als ich die Hand um den Schwertgriff legte, spürte ich den kalten Stahl auf meiner schwitzenden Haut. Mit einem Ruck riss ich das Schwert aus der Lederschlaufe.

Die funkelnde Klinge durchschlug die Eisenkette wie

Mit der gewohnten Bewegung, die mir auf den Inseln in Fleisch und Blut übergegangen war, holte ich mit dem Schwert aus. Waljok ging in die Hocke, um dem Schlag auszuweichen, und bekam schon im nächsten Moment mein Knie ins Gesicht. Hingestreckt auf den Asphalt, versuchte er, seinen Körper mit den Armen zu schützen.

Das Schwert mit beiden Händen fassend und über den Kopf schwingend, stand ich über ihn gebeugt und holte zum letzten Schlag aus.

Waljok quiekte hysterisch, doch sein Gewinsel wurde von Ingas Schrei übertönt.

»Nicht, Dima!«

Das blaue Licht der Laternen tanzte über die Klinge. Vor mir rappelte sich ein zusammengekrümmter Schatten auf und machte sich davon.

»Scheißding«, presste ich stimmlos hervor und starrte auf den blitzblank polierten Stahl. »Hier also auch... Scheißding!«

Mit der Rechten den Griff, mit der Linken die Klinge umfassend, wuchtete ich das Schwert in blinder Wut und Verzweiflung solange gegen mein Knie, bis es zersplitterte. Den Schmerz in meiner Hand spürte ich nicht.

»Willst du mich für immer verfolgen, du Drecksteil?«

Ich schmetterte die Bruchstücke auf den Boden und trampelte sinnlos darauf herum, bevor ich sie schließlich mit den Füßen ins nächste Gebüsch beförderte. Vor Tränen blind, taumelte ich zur Seite, stieß gegen die Bank, auf der wir zuvor gesessen hatten, und sank kraftlos darauf

»Weine nicht, Dima. Du bist doch stark. Du hast doch nicht einmal auf den Inseln geweint.«

Mit einem leisen Schluchzen hatte Inga den Arm um mich gelegt und sich dicht an mich geschmiegt.

»Es geht alles vorbei, Dima, glaub mir. Beruhige dich.«

Langsam richtete ich mich auf und vergrub den Kopf in Ingas Haaren. Dann plötzlich begann ich dünn und krampfhaft zu lachen.

»Es ist so lächerlich, Inga... Ich kann dich nicht umarmen. Meine Hände sind zerschnitten.«

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