Erster Teil

1

Ein Morgen war wie der andere. Um sechs Uhr früh klingelte Beatrices Wecker. Sie gönnte sich fünf Minuten, in denen sie still liegen blieb, die Wärme des Bettes und die Ruhe um sich herum genoß. Eine Ruhe, die unterbrochen wurde von einigen vertrauten Geräuschen ringsum: Vogelgezwitscher aus dem Garten, manchmal, wenn der Wind günstig stand, ein leises Meeresrauschen. Irgendwo im Haus knackten ein paar Holzdielen, kratzte sich einer der Hunde, tickte eine Uhr. Dann schob sich Beatrices Schlafzimmertür einen Spalt weit auf, und Misty streckte ihre Nase hinein. Mistys Fell hatte die bleigraue Farbe des Nebels, der im Herbst über Petit Bôt Bay lag, und daher war der Name Beatrice sofort durch den Kopf geschossen, als sie den Hund als Welpen zum erstenmal im Arm gehalten hatte. Damals bestand Misty nur aus großen, tapsigen Pfoten, aus weichem, buschigem Fell und aus lebhaften, kohlschwarzen Knopfaugen. Heute hatte sie die Größe eines Kalbes.

Misty nahm Anlauf und sprang aufs Bett, das unter ihrem Gewicht schwankte und ächzte. Sie kuschelte sich in die Decken, wälzte sich auf den Rücken, streckte alle viere in die Luft und schleckte Beatrice kurz mit der Zunge über das Gesicht — ein triefend nasser, von Herzen kommender Liebesbeweis.

«Misty, runter vom Bett«, befahl Beatrice halbherzig, und Misty, die wußte, daß sie auf den Protest der Hausherrin nichts geben mußte, blieb, wo sie war.

Für Beatrice waren die fünf Minuten der Beschaulichkeit vorbei. Sie stand schwungvoll auf und ignorierte, so gut sie konnte, die leichte Steifheit ihrer Gelenke, die ihr verriet, daß sie nicht mehr so jung war, wie sie sich manchmal fühlte. Sie wollte keineswegs so werden wie Mae, die sich von morgens bis abends mit ihrem Körper beschäftigte, ständig in ihn hineinlauschte und jeden dritten Tag beim Arzt saß, weil sie meinte, daß irgend etwas in ihrem Inneren nicht stimmte. Nach Beatrices Ansicht zog sie sich damit die Unpäßlichkeiten überhaupt erst heran. Aber darüber hatten sie schon oft gesprochen, ohne daß eine von ihnen ihre Meinung geändert hätte. Ihre Freundschaft bestand ohnehin im wesentlichen darin, sich gegenseitig mit kopfschüttelnder Verwunderung zu betrachten.

Während sie im Bad unter der Dusche stand, überlegte Beatrice, was sie am heutigen Tag tun würde. Sie konnte sich derlei Überlegungen inzwischen leisten, denn aus dem eigentlichen Berufsleben, das früher ihren Tagesablauf bestimmt hatte, hatte sie sich zurückgezogen. Ihren Rosengarten versorgte sie nur noch zu ihrem privaten Vergnügen, wobei das Wort» Vergnügen «den Sachverhalt nicht wirklich wiedergab. Aber die Rosen waren nun einmal da, also kümmerte sie sich auch um sie. Ab und zu, wenn jemand vorbeikam, der Rosen kaufen wollte, Touristen vor allem, gab sie noch welche ab. Aber sie inserierte nicht mehr in den einschlägigen Zeitschriften und hatte den Versand völlig eingestellt. Sie versuchte auch nicht mehr, neue Sorten heranzuzüchten. Das überließ sie anderen, und überhaupt: Es hatte ihr nie übermäßig Spaß bereitet. Wenn sie aus dem Bad kam, waren ihr meist an die hundert Dinge eingefallen, die erledigt werden mußten, und in ihren Bewegungen lagen bereits die Schnelligkeit und Ungeduld, die typisch für sie waren. Alles, was sie tat, schien sie stets in Eile zu tun, was die meisten Menschen in ihrer Umgebung als äußerst anstrengend empfanden.

Von halb sieben bis halb acht ging Beatrice mit ihren Hunden spazieren. Außer Misty gab es noch zwei weitere Mischlinge, beide groß, undefinierbar in der Zusammensetzung ihrer Rassen und wild. Beatrice liebte Hunde ausnahmslos, umgab sich jedoch am liebsten mit solchen, die die Statur von Ponys oder Kälbern hatten. Die Hunde tobten sofort los, kaum daß Beatrice ihnen die Haustür geöffnet hatte. Das Haus lag oberhalb des Dorfes Le Variouf, und man konnte von hier aus bis zum Meer blicken. Die Landschaft ringsum bestand aus weiten Wiesen, die gelegentlich von Baumgruppen durchsetzt waren. Bäche plätscherten in Richtung Meer, und an ihren Ufern standen hier und da baufällig gewordene Mühlen, die in früheren Zeiten mit Wasserkraft betrieben worden waren. Steinerne Mauern umgrenzten weitläufige Weiden, auf denen Rinder und Pferde grasten. Die Luft roch nach Salz und Wasser, nach Algen und Sand. Je näher man dem Meer kam, desto frischer wurde der Wind, desto klarer die Luft. Bald hatte Beatrice den Klippenpfad erreicht und konnte das Wasser sehen. Nur noch wenige Bäume standen hier, windzerzaust und flach. Der Weg wurde gesäumt von wilden Hecken, Stechginster-, aber auch Brombeerhecken, an denen dicke, reife Früchte hingen. Die Hunde, animiert vom Schreien der Seevögel und vom Wind in ihren Nasen, jagten laut bellend davon. Beatrice wußte, daß sie jeden Fußbreit Boden genau kannten, und machte sich wegen ihrer halsbrecherischen Sprünge keine Gedanken. Sie blieb auf der Anhöhe über dem Wasser stehen und atmete tief durch.

Obwohl es noch früh am Tag war, hatte sich die Sonne schon ein Stück über den östlichen Horizont hinaufgeschoben und warf rotgefärbte Strahlen über die Wellen. Der Septembertag war klar und würde wieder fast hochsommerlich heiß werden. Schon die ganze letzte Woche über war es ungewöhnlich warm gewesen für die Jahreszeit. Das Heidekraut an den oberen Klippen leuchtete rötlich, unten in den Buchten glänzte hell der Sand. Kormorane und Seeschwalben machten sich auf zu den ersten Beutezügen des Tages.

Beatrice setzte ihren Weg auf dem Pfad fort. Ab und zu pflückte sie im Vorbeigehen eine Brombeere, schob sie genießerisch in den Mund. In gewisser Weise war dies ein Ablenkungsmanöver. Diese Minuten des Tages, dieser Spaziergang hoch über dem Meer, gehörten zu den gefährlichsten Momenten ihres Alltags. Mit der Petit Bôt Bay, zu der dieser Weg führte, verbanden sich zu viele Erinnerungen, gute und schlechte, aber das machte fast keinen Unterschied. In den schlechten Erinnerungen lebten alte Schrecken wieder auf, und zum Teil hatten sie bis zum heutigen Tag nichts von ihrer Macht verloren. Und den guten Erinnerungen haftete die Erkenntnis der Unwiederbringlichkeit an, die Trauer darüber, daß Momente des Glücks das Leben streifen, sich aber nicht in ihm verankern können. Beatrice hatte sich jede Regung von Selbstmitleid schon vor langer Zeit verboten, aber manchmal konnte sie sich des bitteren Gedankens nicht erwehren, daß ihr das Leben nicht allzuviel Glück gebracht hatte. Wenn sie daran dachte, mit welcher Leichtigkeit und Zufriedenheit Mae immer gelebt hatte zumindest dann, wenn sie sich nicht gerade mit eingebildeten Krankheiten oder mit düsteren Prognosen, die Zukunft der Welt betreffend, herumschlug. Mae hatte nie eine echte Tragödie durchleiden müssen; das bisher schmerzlichste Ereignis war der Tod ihres Vaters fünf Jahre zuvor gewesen: Er war, zweiundneunzigjährig, in einem schönen Altersheim bei London einem Herzschlag erlegen, und Beatrice fand, daß er einen besseren Lebensabend und einen leichteren Tod gehabt hatte als viele andere Menschen. Mae hatte den Anschein erweckt, ein Drama durchstehen zu müssen, während ihre alte Mutter, die allein in dem Heim zurückblieb, den Schicksalsschlag mit großer Würde hingenommen hatte.

Mae war von ihrem Mann auf Händen getragen worden, ihre Kinder hatten sie nie enttäuscht, und auch ihre Enkel entwickelten sich zu Prachtexemplaren. Außer Maja vielleicht, vor der kein Mann auf der Insel sicher war, aber sie mochte zu einem durchaus gefestigten Menschen werden, wenn ihre Sturm-und-Drang-Zeit erst hinter ihr lag. Nein, Mae war nie wirklich böse behandelt worden vom Leben.

Und ich? fragte sich Beatrice. Bin ich böse behandelt worden vom Leben?

Es war die Frage, die ihr fast jedesmal hier oben auf dem Klippenpfad durch den Kopf schoß, und sie war der Grund, weshalb Beatrice manchmal dachte, es sei besser, die Bay und ihre Umgebung zu meiden. Doch bisher war es ihr noch immer geglückt, die Frage unbeantwortet zu lassen und wieder zu verdrängen, und mit einer Art wütendem Trotz schlug sie jeden Morgen denselben Weg ein, den sie nun schon seit Jahrzehnten nahm und von dem sie sich ein paar quälender Gedankengänge wegen nicht vertreiben lassen wollte.

Sie schob die Frage nach den Widrigkeiten in ihrem Leben auch an diesem Morgen zur Seite und rief nach den Hunden — Zeit, den Rückweg anzutreten. Helene saß sicher schon aufrecht im Bett und erwartete ihren Morgentee. Beatrice wußte, wie ungeduldig sie ihrer Rückkehr vom Spaziergang entgegensah. Nicht, weil sie etwa hungrig oder durstig gewesen wäre. Aber nach einer langen Nacht gierte Helene nach einem Menschen, bei dem sie jammern und klagen konnte. Helene weinte gern und viel, und ähnlich wie Mae beschäftigte auch sie sich allzuviel mit zahlreichen Wehwehchen. Aber während Mae auch ihre sehr fröhlichen, kumpelhaften Seiten hatte, bestand Helene oft nur aus Unzufriedenheit und Genörgel.

«Kommt, Jungs!«sagte Beatrice zu den Hunden — Misty als einziges Weibchen bezog sie einfach in diesen Sammelbegriff mit ein —,»wir müssen heim und uns um Helene kümmern!«

Die Hunde schossen herbei und trabten nun im Rudel vor Beatrice her in Richtung Heimat. Hatte sie zuvor die Aussicht auf ein wildes Toben am Meer gereizt, so lockte nun die Erwartung eines üppigen Frühstücks daheim.

Sie sind immer zufrieden, dachte Beatrice, weil die ganz einfachen Dinge im Leben wichtig für sie sind. Sie stellen nichts in Frage. Sie leben einfach.

Auf dem Rückweg lief sie noch flotter als auf dem Hinweg, und als sie zu Hause ankam, hatte sie alle quälenden Gedanken abgeschüttelt.

Das Haus, gemauert aus dem bräunlichen Granit der Insel, umgeben von Rosen, Rhododendren und riesigen blauen Hortensien, lag wie ein kleines, friedvolles Paradies im Licht des Morgens. Die grünen Fensterläden standen weit offen, nur die vor Helenes Fenster im ersten Stock waren geschlossen. Es war genau halb acht. Jeder auf der Insel Guernsey hätte nach Beatrice die Uhr stellen können.

Um zehn vor acht betrat Beatrice Helenes Zimmer. Sie trug ein Tablett, auf dem eine Tasse Tee und ein Teller mit zwei Scheiben Toastbrot standen. Helene behauptete zwar stets, morgens überhaupt nichts essen zu können, aber auf geheimnisvolle Weise waren die Brote später immer verschwunden. Beatrice hatte einmal danach gefragt, und Helene hatte geantwortet, sie habe die Vögel damit gefüttert, aber Beatrice hatte das nur halb geglaubt. Helene war zart und schlank, doch sie sah keineswegs abgemagert aus, und es war klar, daß sie heimlich mehr aß, als sie zugab. Sie hatte die Nachttischlampe eingeschaltet und saß aufrecht in ihren Kissen. Sie mußte bereits im Bad gewesen sein, denn ihre Haare waren gekämmt, und auf ihren Lippen lag ein Schimmer von hellrosafarbenem Lippenstift. Gereizt fragte sich Beatrice, warum sie, wenn sie schon aufstand, nicht auch in der Lage war, Fenster und Fensterläden zu öffnen. Ihr Zimmer, dunkel, warm und stickig, erinnerte an eine Gruft, und vermutlich war dies auch genau der Eindruck, den Helene erwecken wollte. Sie war achtzig Jahre alt und konnte manchmal etwas vergeßlich und konfus sein, aber sie bewies immer noch einen erstaunlichen Scharfsinn, wenn es darum ging, das Mitleid ihrer Umwelt zu erregen.

Helene wollte von morgens bis abends bedauert werden. Beatrice wußte, daß sie nicht immer so gewesen war, aber sie hatte stets den Hang gehabt, sich in ein Gefühl der Schutzlosigkeit hineinzusteigern und die Menschen um sich herum zu zwingen, ihr Mitleid und Anteilnahme entgegenzubringen und ihr hilfreich zur Seite zu stehen. Mit den Jahren hatte sich diese Neigung verfestigt, und inzwischen gab es nur noch wenige, die ihre ständige Larmoyanz ertrugen.

«Guten Morgen, Helene«, sagte Beatrice und stellte das Tablett auf einen Tisch neben das Bett.»Hast du gut geschlafen?«

Sie kannte die Antwort, und sie kam prompt.»Ich habe fast kein Auge zugetan, ehrlich gesagt. Die ganze Nacht habe ich mich herumgewälzt, ein paarmal habe ich das Licht angemacht und zu lesen versucht, aber abgespannt, wie ich zur Zeit bin, konnte ich mich einfach nicht konzentrieren, und…«

«Es ist einfach zu heiß hier drinnen«, unterbrach sie Beatrice. Schon nach einer halben Minute in der dumpfschwülen Luft des Zimmers hatte sie das Gefühl, kaum noch atmen zu können.»Warum du im Sommer bei geschlossenem Fenster schläfst, werde ich nie begreifen!«

«Es ist nicht mehr Sommer! Heute ist der 1. September!«

«Aber es ist heiß wie im Sommer!«

«Ich habe Angst, daß jemand einsteigen könnte«, sagte Helene verzagt.

Beatrice gab einen verächtlichen Laut von sich.»Also, Helene, wirklich, wie sollte das denn gehen? Da ist doch nichts, woran jemand heraufklettern könnte!«

«Die Mauer ist nicht ganz glatt. Ein geschickter Fassadenkletterer könnte…«

Beatrice öffnete das Fenster und stieß die Läden weit auf. Samtigfrische Morgenluft strömte ins Zimmer.»Solange ich denken kann, schlafe ich bei offenem Fenster, Helene. Und noch nie ist irgend jemand bei mir eingestiegen. Nicht einmal in den Jahren, in denen ich jung war und es vielleicht ganz gerne gehabt hätte«, setzte sie hinzu, bemüht, durch einen Scherz den Ärger abzumildern, der wahrscheinlich in ihrer Stimme gelegen hatte.

Helene lächelte nicht. Sie kniff die Augen in der plötzlichen Helligkeit zusammen, griff nach ihrer Teetasse, nippte daran.

«Was hast du heute vor?«fragte sie.

«Ich wollte mich heute vormittag um den Garten kümmern. Nachmittags bin ich mit Mae verabredet. In St. Peter Port.«

«Ja?«

Helenes Stimme klang hoffnungsvoll. Sie wurde von Beatrice und Mae manchmal mitgenommen, wenn diese sich irgendwo auf der Insel zum Spazierengehen oder zum Einkaufen trafen, und Helene liebte es, mit Mae zusammenzusein. Mae behandelte sie stets sehr fürsorglich, war liebevoller und warmherziger zu ihr als Beatrice. Sie erkundigte sich ausführlich nach Helenes Befinden, hörte sich geduldig alle Klagen an. Nie fuhr sie ihr gereizt über den Mund, wie Beatrice das oft tat, nie gab sie ihr das Gefühl, eine lästige alte Person zu sein, die allen nur auf die Nerven fiel. Mae war immer reizend und nett. Leider hatte selten sie zu bestimmen, was passierte; den Ton gab meist Beatrice an, und die war kaum je erpicht darauf, Helene irgendwohin mitzunehmen.

Auch jetzt erwiderte sie nichts auf das fragende» Ja?«, sondern machte sich im Zimmer zu schaffen, räumte Helenes Wäsche vom Vortag weg, suchte frische aus einer Kommode hervor und legte sie auf einem Sessel zurecht.

«Was wollt ihr denn machen in St. Peter Port?«hakte Helene nach.»Kaffee trinken?«

«Ich fahre nie irgendwohin, um einfach nur Kaffee zu trinken, Helene, das weißt du doch!«sagte Beatrice ungeduldig.»Nein, wir haben einfach verschiedene Dinge zu erledigen. Maja wird dabei sein, sie soll sich ein Geburtstagsgeschenk aussuchen, das Mae ihr kaufen will, und von mir soll sie auch irgendeine Kleinigkeit bekommen.«

«Maja hat doch erst nächsten Monat Geburtstag«, nörgelte Helene. Sie stand Maes Enkelin mit gemischten Gefühlen gegenüber, versuchte sich jedoch neutral zu verhalten.»Wie alt wird sie denn?«

«Zweiundzwanzig. Sie will eine Party veranstalten und möchte dafür etwas zum Anziehen haben, das so sexy ist, daß es die Männer anlockt wie Honig die Bienen — so hat sie es jedenfalls ausgedrückt.«

Helene seufzte. Für Majas promiskuitiven Lebenswandel konnte eine anständige Frau nur Verachtung übrig haben, aber manchmal entdeckte sie zu ihrer großen Verblüffung auch einen Hauch von Neid zwischen all den Schichten von Ablehnung und Entrüstung und moralischer Genugtuung darüber, daß Maja wenigstens gelegentlich die Quittung für ihre ungehemmten Ausschweifungen bekam — in Form eines blauen Auges etwa, das ihr ein gekränkter Liebhaber verpaßte, oder in der eines schmerzhaften Eingriffes, mit dem sie die unerwünschten Folgen einer Liebesnacht beseitigen lassen mußte. Maja hatte schon zweimal abgetrieben — jedenfalls wußte Helene von zwei Abbrüchen, es mochten aber tatsächlich auch mehr gewesen sein. Mae hatte Helene anvertraut, daß Maja Weltmeisterin darin war, die Einnahme der Pille zu vergessen. Helene sagte sich, daß auf ganz Guernsey — sowie auf den Nachbarinseln — vermutlich kein Mann zu finden war, der jemals bereit wäre, Maja zu heiraten, eine Frau, die es mit beinahe jedem Mann getrieben hatte, der ihren Weg kreuzte. Also wahrlich kein Grund, neidisch zu sein! Dennoch nagte da manchmal etwas; sie konnte sich nicht recht erklären, woher das Gefühl kam, und vielleicht wollte sie es sich auch gar nicht erklären, weil Erkenntnisse in diesen Fragen nur Schmerz bedeutet hätten. Auch wenn sie die Tatsache mit einbezog, daß sie in einer anderen Zeit jung gewesen war als Maja und daß das Leben damals nach anderen Wertvorstellungen geordnet gewesen war, so konnte sie doch dann und wann nicht anders, als Vergleiche zwischen der jungen Helene und der jungen Maja anzustellen. Und jedesmal löste dies einen eigenartig heftigen Schmerz in ihr aus.

Du hättest mehr vom Leben haben können, wenn du dir mehr genommen hättest, hatte eine barsch klingende Stimme in ihrem Innern einmal zu ihr gesagt, und seither war diese Stimme nie mehr ganz verstummt.

«Ich würde Maja auch gerne etwas schenken«, sagte sie nun rasch,»ich komme mit euch, und sie könnte sich etwas aussuchen.«

Beatrice seufzte; sie hatte gewußt, daß Helene es wieder einmal versuchen würde.

«Helene, du willst Maja doch gar nichts schenken, und das erwartet auch kein Mensch von dir«, sagte sie.»Du magst Maja nicht besonders, was dein gutes Recht ist, und du brauchst nicht an ihrem Geburtstag so zu tun, als ob das anders wäre.«

«Aber…«

«Du willst einfach mit, weil du wieder einmal nicht weißt, was du sonst mit dir anfangen sollst. Das ist wirklich keine gute Idee. Du weißt, wie Maja ist, wenn man ein Geschenk für sie kauft — sie jagt kreuz und quer durch alle Geschäfte, und schon Mae und ich kommen kaum hinterher. Mit dir im Schlepptau wären wir völlig unbeweglich, denke nur an die vielen steilen Straßen und Treppen in St. Peter Port und an dein Rheuma!«

Helene war zusammengezuckt, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.»Du kannst wirklich sehr kalt sein, Beatrice. Warum sagst du nicht gleich, daß ich euch lästig bin?«

«Dann würdest du mich ja noch kälter finden«, entgegnete Beatrice und wandte sich zur Tür. Sie hatte alles im Zimmer einigermaßen geordnet und aufgeräumt, und es befiel sie schon wieder das Gefühl, jeden Augenblick zu ersticken, wenn sie noch länger Helenes quengeliger Stimme lauschte und in ihr blasses Gesicht blickte.

«Es wird ein sehr schöner Tag werden. Du kannst dich in den Garten setzen und lesen und dich freuen, daß du nicht in der Gegend herumlaufen mußt.«

Helene kniff die Lippen zusammen. Andere Menschen sahen unsympathisch aus, wenn sie einen schmalen Mund bekamen, nicht aber Helene. Sie wirkte noch immer mitleiderregend.

«Wenn du dich schon so für Majas Geburtstag engagierst«, stieß sie hervor,»denkst du dann gelegentlich wohl auch daran, daß ich bald Geburtstag habe?«

«Das kann ich ja nun beim besten Willen nicht vergessen«, entgegnete Beatrice barsch.

Wie sollte sie auch? Sie und Helene hatten am selben Tag Geburtstag — am 5. September. Allerdings war Helene zehn Jahre früher geboren. Und überdies nicht auf Guernsey, so wie Beatrice.

Sondern in Deutschland.

Sie hatte Rindermist kommen lassen von einem Bauern aus Le Variouf. Damit wollte sie die Rosen düngen, zum letztenmal in diesem Jahr. Rindermist eignete sich am besten, viel besser als jeder andere Dünger, den man in Geschäften kaufen konnte. Sam, der Bauer, war gleich nach dem Frühstück erschienen und hatte eine Fuhre abgeliefert. Das Zeug stank jetzt im Schuppen vor sich hin, und Beatrice hatte irgendwie keine Lust, mit der Arbeit anzufangen. Vielleicht war es einfach zu heiß. Auch Sam hatte gemeint, es werde fast unerträglich warm werden — auf jeden Fall viel zu warm für die Jahreszeit.

«Das habe ich schon beim Aufstehen gemerkt«, hatte er gesagt, den Hut aus der Stirn geschoben und sich mit einem Taschentuch den Schweiß abgewischt.»Wird verdammt heiß heute, hab ich gedacht. Und da war wenigstens noch eine Brise in der Luft. Jetzt regt sich nichts mehr, merken Sie das? Kein Windhauch, nichts! Wird hart heute mit der Arbeit!«

«Ausgerechnet heute muß ich in die Stadt«, hatte Beatrice gesagt,»aber da kann man nichts machen. Ich werde es schon überleben.«

«Klar. Sie überleben alles, Mrs. Shaye!«

Er hatte gelacht und trotz der Hitze den Schnaps angenommen, den sie ihm anbot. Sam trank gerne einen kräftigen Schluck zwischendurch, aber er mußte es heimlich tun, weil seine Frau schimpfte, wenn sie etwas davon mitbekam.

Beatrice mußte an seine Worte denken, während sie durch den Garten wanderte, einen großen Hut zum Schutz vor der Sonne auf dem Kopf, einen Strohkorb am Arm und eine Gartenschere in der Hand, mit der sie Verblühtes abschnitt und Wildtriebe an den Rosen kappte. Eine ruhige, angenehme Beschäftigung, der Wetterlage angemessen.

Sie überleben alles, Mrs. Shaye!

Sie wußte, daß sie den Ruf hatte, unverwüstlich zu sein und sich von nichts und niemandem unterkriegen zu lassen, und manchmal wunderte sie sich über die Hartnäckigkeit, mit der ihre Umgebung an dieser Überzeugung festhielt. Sie selbst fühlte sich nicht einmal halb so stark, wie das die Menschen ringsum offensichtlich von ihr dachten. Eher hatte sie den Eindruck, daß es ihr geglückt war, einen recht stabilen Panzer um sich herum zu errichten, der allem standhielt, was von außen herandrängte, und der vor allem ihr Innenleben vor neugierigen Blicken schützte. Dort gab es, so meinte sie von Zeit zu Zeit zu spüren, noch eine Reihe Wunden, die bis heute nicht aufgehört hatten zu bluten. Das Gute war, daß offenbar wirklich niemand sie zu entdecken vermochte.

Sie schnippelte rasch und geübt an ihren Rosen herum, allerdings ohne ein einziges Wort an sie zu richten. Ihr Vater hatte immer mit den Rosen gesprochen und behauptet, dies sei außerordentlich wichtig.

«Sie sind Lebewesen. Sie brauchen Zuwendung und das Gefühl, ernst genommen und gemocht zu werden. Sie spüren genau, wenn man es gut mit ihnen meint, ihren Charakter, ihre Wesenszüge und Eigenarten respektiert. Und genauso merken sie es, wenn du sie herablassend und gleichgültig behandelst.«

Als kleines Mädchen hatte Beatrice diesen Worten andächtig gelauscht und keine Sekunde lang an ihrer Richtigkeit gezweifelt. Aber Andrew Stewart, ihr Vater, war für sie sowieso gleich nach dem lieben Gott gekommen, und es gab schlechthin nichts auf der Welt, was sie ihm nicht gläubig abgenommen hätte. In gewisser Weise war sie auch heute noch der Ansicht, daß er recht gehabt hatte, aber sie hatte seine Worte nie umsetzen können. Irgendwann, in den harten Jahren des Krieges und in den schweren Zeiten danach, war ihr die Fähigkeit abhanden gekommen, seine gemütvolle, sanfte und von einer echten Liebe zur Schöpfung durchdrungene Art zu leben für sich selbst zu übernehmen. Andrew war zu verletzbar gewesen, und das konnte und wollte sie sich nicht leisten. Und irgendwie wurde sie die Vorstellung nicht los, daß ein Mensch, der mit den Rosen sprach, dem Leben die Breitseite zum Angriff bot. Es mochte eine fixe Idee sein, ein Vorurteil, nicht zu belegen, aber es bewirkte, daß sie nicht in der Lage war, auch nur ein einziges Wort an ihre Rosen zu richten. Sie hatte es seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr nicht mehr fertiggebracht. Eine Ahnung sagte ihr, es werde einem Dammbruch gleichkommen, wenn sie es tat.

Als Helene vom Haus her rief, Beatrice möge ans Telefon kommen, war sie dankbar für die Gelegenheit, ein paar Minuten lang der immer drückender werdenden Hitze zu entkommen.

«Wer ist es denn?«fragte sie, als sie in den Flur trat. Helene, inzwischen mit einem rosafarbenen seidenen Morgenmantel bekleidet, stand vor dem Spiegel und hielt den Telefonhörer in der Hand.

«Es ist Kevin«, sagte sie,»er möchte dich etwas fragen.«

Kevin züchtete ebenfalls Rosen, stand aber im Unterschied zu Beatrice noch mitten im Geschäftsleben. Er war achtunddreißig Jahre alt und schwul, und er hing mit einer rührenden Zuneigung an den beiden alten Damen aus Le Variouf. Seine Gärtnerei lag zwanzig Autominuten entfernt an der Südwestspitze der Insel.

Kevin rief oft an; er fühlte sich häufig einsam und hatte es zu einer wirklich intakten, stabilen Partnerschaft noch nicht gebracht. Seine langjährige Beziehung zu einem jungen Mann namens Steve war gerade zerbrochen, sein gleichzeitig verlaufendes Verhältnis zu einem etwas zwielichtigen Franzosen bestand ebenfalls nicht mehr. Im Augenblick schien es niemanden für ihn zu geben. Guernsey bot wenig Möglichkeiten für Homosexuelle. Kevin träumte davon, eines Tages nach London zu ziehen und dort den» Mann fürs Leben «zu finden — wobei jeder, der ihn kannte, wußte, daß Kevin seine Insel nie verlassen würde. Und für das rauhe Leben in einer Großstadt war er schon gar nicht geschaffen.

Beatrice nahm Helene den Hörer aus der Hand.»Kevin? Was gibt's? Findest du nicht auch, daß es heute viel zu heiß ist zum Arbeiten?«

«Ich kann es mir leider nicht leisten, auch nur einen Tag blauzumachen, das weißt du ja«, sagte Kevin. Er hatte eine ungewöhnlich tiefe Stimme, mit der er Frauen am Telefon halb verrückt machen konnte.»Hör zu, Beatrice, ich brauche deine Hilfe. Es ist mir wirklich peinlich, aber… könntest du mir ein wenig Geld leihen?«

«Ich?«fragte Beatrice überrascht. Kevin pumpte sich häufig Geld, vor allem im vergangenen halben Jahr, aber er wandte sich mit diesem Problem fast immer an Helene. Sie hatte einen Narren an ihm gefressen, und er konnte sicher sein, nie mit leeren Händen davongehen zu müssen.

«Es ist mir unangenehm, schon wieder bei Helene vorstellig zu werden«, sagte Kevin unbehaglich,»sie hat mir ja gerade erst mit einer größeren Summe ausgeholfen. Ich meine, wenn du…«

«Wieviel brauchst du denn?«

Er zögerte.»Eintausend Pfund«, sagte er schließlich.

Beatrice zuckte zusammen.»Das ist ziemlich viel.«

«Ich weiß. Ich zahle es auch bestimmt zurück. Du mußt dir keine Gedanken machen.«

Natürlich mußte man sich bei ihm Gedanken machen. Beatrice wußte, daß Kevin Helene noch kaum je einen Penny zurückgezahlt hatte. Er hatte das Geld einfach nicht. Er hatte nie Geld.

«Du kannst die Summe haben, Kevin«, sagte sie,»und mit dem Zurückzahlen laß dir einfach Zeit. Aber ich verstehe nicht so recht, warum du immer wieder so große Summen brauchst. Laufen deine Geschäfte so schlecht?«

«Wessen Geschäfte laufen schon gut zur Zeit«, meinte Kevin vage.»Die Konkurrenz ist groß, und die allgemeine wirtschaftliche Lage ist nicht allzu rosig. Außerdem habe ich zwei weitere Gewächshäuser gekauft, und bis sich die Ausgabe amortisiert, wird es eine ganze Weile dauern. Dann jedoch werde ich…«

«Schon gut. Komm morgen vorbei und hole dir einen Scheck ab.«

Beatrice mochte nicht seine unhaltbaren Versprechungen hören, und sie mochte ihm auch keine Vorhaltungen machen. Ihrer Ansicht nach lebte Kevin einfach auf zu großem Fuß. Die feinen Seidenkrawatten, die Cashmerepullover, der Champagner… All dies hatte seinen Preis.

Er wird nie auf einen grünen Zweig kommen, dachte sie.

«Du bist ein Schatz«, sagte Kevin nun voller Erleichterung.»Ich werde mich bei nächster Gelegenheit revanchieren.«

«Gern«, sagte Beatrice. Kevin revanchierte sich auf die immer gleiche Weise. Er konnte kochen wie ein Gott und eine herrliche Dinner-Atmosphäre schaffen — mit Blumen, Kerzen, Kristall und Kaminfeuer. Er liebte es, einen Gast zu umsorgen, zu verwöhnen. Häufig lud er Helene ein, aber das geschah aus einer gewissen Berechnung heraus. Zu Beatrice hingegen sagte er manchmal, sie sei die einzige Frau, in die er sich je verliebt habe.

Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, blieb Beatrice noch einen Moment lang nachdenklich im Flur stehen. Sie fand, daß Kevin gehetzt geklungen hatte. Es schien eine Menge für ihn vom Erhalt des Geldes abzuhängen.

Hoffentlich sitzt er nicht tiefer im Schlamassel, als er zugibt, überlegte Beatrice.

«Was wollte Kevin denn?«fragte Helene. Sie hatte sich während des Gesprächs diskret in die Küche verzogen, tauchte nun aber wieder auf und versuchte beiläufig zu erscheinen — was nicht der Wahrheit entsprach. Helene war nie beiläufig. Sie befand sich stets in einer innerlichen Hab-achtStellung, war immer wachsam, immer angestrengt, alles mitzubekommen, was im Haus vor sich ging — vor allem, was Beatrice betraf: mit wem sie sprach und worüber, mit wem sie sich traf, was sie vorhatte und warum.

«Du bist neurotisch kontrollsüchtig!«hatte Beatrice ihr einmal entnervt entgegengeschrien, und Helene war in Tränen ausgebrochen, aber es hatte nichts geändert.

«Kevin braucht Geld«, erklärte Beatrice. Ihr war klar, daß Helene ohnehin gelauscht hatte und daß sie daher mit offenen Karten spielen konnte.»Und ich soll es ihm geben.«

«Wieviel?«

«Eintausend Pfund.«

«Eintausend Pfund?«

Helene schien wirklich verblüfft.»Schon wieder?«

«Warum? Brauchte er kürzlich erst soviel?«

«Letzte Woche. Ich habe ihm letzte Woche eintausend Pfund gegeben. Wieso kommt er nicht zu mir?«

«Wahrscheinlich genau deshalb.«

Beatrice versuchte, nicht allzu gereizt zu klingen, aber selbst

das kurze Gespräch mit Helene entnervte sie schon.»Er will nicht schon wieder bei dir antanzen und die Hand aufhalten.«

«Wozu braucht er denn ständig soviel Geld?«

«Ich weiß es nicht. Mir ist das nicht geheuer. Ich vermute, er hat einen neuen Liebhaber, der ziemlich teuer ist. Das wäre typisch Kevin.«

«Aber warum…«

«Lieber Himmel, Helene, hör bitte auf, mir Löcher in den Bauch zu fragen! Ich weiß auch nicht, was bei Kevin los ist. Wenn du es unbedingt herausfinden willst, dann geh zu ihm und frage ihn!«

«Du redest schon wieder so gereizt mit mir!«

«Weil du immer alles wissen mußt. Soll ich dir demnächst noch meine Träume aufschreiben und die Zeiten, zu denen ich auf die Toilette gehe?«

Helenes Augen füllten sich mit Tränen.»Immer bist du so häßlich zu mir! Auf Schritt und Tritt zeigst du mir, daß ich dir auf die Nerven gehe. Den ganzen Tag sitze ich da, und niemand kümmert sich um mich, und für niemanden bin ich auch nur im geringsten wichtig. Und wenn ich dann wenigstens ein bißchen an deinem Leben teilhaben will, dann…«

Wenn Helene anfing, ihre Lebensumstände zu beklagen, konnte das endlos dauern, und es würde in einem Meer von Tränen enden. Beatrice hatte nicht den Eindruck, dies jetzt ertragen zu können.

«Helene, vielleicht sollten wir ein anderes Mal deine bedauernswerte Situation besprechen. Ich würde jetzt gerne im Garten mit den Rosen weitermachen und dann losfahren, um Mae zu treffen. Meinst du, das wäre möglich?«

Sie hatte mit jener gefährlichen Höflichkeit in Stimme und Tonfall gesprochen, von der sie wußte, daß Helene sie fürchtete. Tatsächlich biß die alte Frau sich auf die Lippen und wandte sich ab. Sie würde sich jetzt in ihr Zimmer zurückziehen und ihren Tränen dort freien Lauf lassen.

Beatrice sah ihr nach, wie sie langsam die Treppe hinaufstieg, und fragte sich, warum sie unfähig war, Mitleid für die arme, neurotische Person zu empfinden. Helene war eine tief unglückliche Frau, war es immer gewesen. Sie fand einfach keinen Frieden, nicht einmal im Alter.

Und mir gelingt es nicht, sie zu bedauern, dachte Beatrice. Und sie erschrak fast selbst, als sie unwillkürlich in Gedanken hinzufügte: Es gelingt mir nicht, weil ich sie mit jedem Tag mehr hasse.

2

Franca hatte schon im Flugzeug gewußt, daß auf dieser Reise alles schieflaufen würde. Sie hatte sich in der Maschine zunächst auf den falschen Platz gesetzt und war von dem Mann, dem der Sitz zugeteilt worden war, in einer Art angefahren worden, als habe sie sich auf völlig unverzeihliche Weise an fremdem Eigentum vergriffen. Danach war sie in der Maschine umhergeirrt, bis sich eine Stewardeß ihrer erbarmt, ihre Bordkarte angesehen und sie zu ihrem Platz geleitet hatte. Einer Panikattacke nahe, war Franca in die Polster gesunken und hatte mit zitternden Fingern in ihrer Handtasche nach Tabletten gesucht, hatte die flache Schachtel schließlich gefunden und dann voller Entsetzen festgestellt, daß sie fast leer war. Das hatte es noch nie gegeben, nie war ihr so etwas passiert. Wenn sie tatsächlich einmal das Haus verließ, was selten genug vorkam, dann vergewisserte sie sich vorher ein dutzendmal, daß sie genügend Beruhigungsmittel eingesteckt hatte. Diesmal, zu Beginn einer längeren Reise, hatte sie das natürlich auch getan, aber sie hatte geglaubt, die zwei Blisterstreifen in der Schachtel seien voll bestückt.

Wie konnte das nur passieren? fragte sie sich verzweifelt. Bis auf eine einzige Pille waren beide Streifen leer!

Ihr erster Impuls war, aufzuspringen und aus dem Flugzeug zu hasten. Die Maschine mußte ohne sie starten, sie konnte nicht mitfliegen. Auf Guernsey, also im Ausland, würde sie die Medikamente, die sie brauchte, nicht bekommen, ganz abgesehen davon, daß sie auch kein Rezept dabeihatte. Aber da schob sich das Flugzeug schon langsam aus seiner Parkposition heraus, und Franca begriff, daß sie keine Chance mehr hatte. Sie würde nach Guernsey fliegen, und sie würde mit einer einzigen Tablette auskommen müssen.

Sie wußte inzwischen nur zu gut, daß ihre Panikattacken meist unvermittelt kamen, sie überfluteten wie eine riesenhohe Welle und sie für qualvolle, lange andauernde Minuten in einem Zustand des Entsetzens und der Verzweiflung verharren ließen. Die Panik, die sie nun im Flugzeug überfiel, hatte sie vorausgeahnt: Sie war ausgelöst worden, als der Mann, auf dessen Platz sie gelandet war, sie angeschnauzt hatte, und sie erhielt ihren entscheidenden Schub mit der Entdeckung, daß die Tablettenschachtel fast leer war. Doch obwohl Franca genau gewußt hatte, daß sie jeden Moment mit unerbittlicher Gewalt zuschlagen würde, schnappte sie fassungslos nach Luft unter der Wucht des Angriffs. In Sekundenschnelle war ihr leichter Baumwollpullover von Schweiß durchtränkt, verwandelten sich ihre Beine in Pudding, begannen Herz und Puls zu rasen, als habe sie einen Marathonlauf hinter sich. Sie fing heftig an zu frieren, wußte aber, daß das Frieren von innen kam, daß nichts auf der Welt sie würde wärmen können. Ihre Zähne schlugen kaum hörbar aufeinander. Sie wußte um ihre aschfahle Gesichtsfarbe in solchen Momenten. Sie mußte aussehen wie ein Gespenst.

Neben den körperlichen Symptomen, dem Zittern, Schwitzen und gleichzeitigen Frieren, breitete sich die Angst in ihrem Innern aus, mit der Geschwindigkeit eines Feuers in einem ausgedörrten Wald. Fast meinte sie Michael zu hören, seine genervte, ärgerliche Stimme.

«Was denn für eine Angst, Herrgott noch mal?«

Das fragte er immer wieder, und offensichtlich gelang es ihr nie, ihm eine zufriedenstellende Antwort zu geben.

«Es ist nicht einfach Angst. Das Wort ist zu schwach. Es ist Panik! Aber eine unbestimmbare Panik. Ein Gefühl von Entsetzen. Von Qual. Von Ausweglosigkeit. Eine namenlose Angst, der man nichts entgegensetzen kann, weil man nicht weiß, woher sie kommt.«

«Es gibt keine namenlose Angst. Keine unbestimmbare Panik! Man muß doch wissen, wovor man Angst und Panik hat!«

«Vor allem. Vor dem Leben. Vor den Menschen. Vor der Zukunft. Alles erscheint dunkel, bedrohlich. Es ist…«

Jedesmal waren ihre Schilderungen in Hilflosigkeit erstorben.»Michael, ich weiß es einfach nicht. Es ist schrecklich. Und ich bin völlig wehrlos.«

«Unsinn. Man ist nie völlig wehrlos. Das ist nur eine Frage des Willens. Aber du hast dich ja schon vor sehr langer Zeit auf den bequemen Standpunkt zurückgezogen, eben keinen Willen zu haben. Damit kannst du getrost die Arme hängenlassen und von einer Panik zur nächsten taumeln.«

Sie hörte seine Stimme gnadenlos auf sich einhämmern, während das Flugzeug zur Startbahn rollte und sie vergeblich versuchte, ihr Zittern und die innere Qual auf irgendeine Weise unter Kontrolle zu bringen.

Die Tablette… Sie wußte, innerhalb einer knappen Minute würde sie sich beruhigen, wenn sie sie schluckte. Aber dann war sie weg. Ihre Wirkung hielt fünf bis sechs Stunden an, höchstens. Und sie konnte Guernsey erst übermorgen wieder verlassen.

«Geht es Ihnen nicht gut?«

Sie vernahm die Stimme ihrer Nachbarin wie durch einen Nebel. Verschwommen sah sie das freundliche Gesicht einer alten Dame. Weiße Haare, gütige Augen.

«Sie haben graue Lippen und zittern wie Espenlaub. Soll ich die Stewardeß rufen?«

«Nein, vielen Dank.«

Jetzt nur kein Aufsehen erregen. Sie wußte aus Erfahrung, daß dies die Situation verschärfen würde.»Ich habe hier eine Tablette… Wenn ich die schlucke, geht es mir sofort besser.«

«Haben Sie Flugangst?«

«Nein… ich bin… ich habe eine verschleppte Erkältung…«

Das klang sicherlich völlig unglaubhaft, aber ihr fiel in diesem Moment nichts anderes ein. Sie brauchte drei Anläufe, um die Tablette aus dem Zellophan zu drücken. Ihre Finger bebten, als sie sie in den Mund steckte. Sie bekam sie leicht ohne Wasser hinunter, das hatte sie in den vergangenen Jahren, in denen sie die Tabletten in den unmöglichsten Momenten hatte schlucken müssen, nur zu gut gelernt.

«Ich hatte schreckliche Flugangst früher«, sagte die alte Dame, die Erklärung mit der verschleppten Erkältung ignorierend.»Zeitweise bin ich in keine Maschine mehr gestiegen. Aber dann habe ich mir gesagt, daß ich es irgendwie bekämpfen muß. Meine Tochter ist auf Guernsey verheiratet. Und schließlich will ich sie und die Enkel ab und zu sehen. Mit dem Auto ist das eine sehr weite Strecke, und mit der Bahn… ach, du lieber Gott!«

Sie winkte ab.»Da habe ich mir das Fliegen richtig antrainiert. Und inzwischen macht es mir überhaupt keine Probleme mehr.«

Sie lächelte.»Sie werden das auch in den Griff bekommen.«

Franca schloß die Augen. Die Tablette begann bereits zu wirken. Das Zittern verebbte. Sie hörte auf zu frieren. Der Schweiß trocknete auf ihrer Haut. Die Panik versickerte langsam. Sie atmete tief durch.

«Sie bekommen wieder etwas Farbe auf den Wangen«, stellte ihre Nachbarin fest.»Diese Tabletten scheinen phantastisch zu wirken. Was ist das eigentlich?«

«Ein Baldrianpräparat.«

Franca ließ die Schachtel eilig in ihrer Handtasche verschwinden. Ihr Körper entspannte sich. Sie lehnte den Kopf an die Lehne.

Sechs Stunden. Sechs Stunden, wenn sie optimistisch dachte, und Optimismus fiel ihr in dieser Phase, kurz nach der Einnahme, nicht schwer. Sechs Stunden, in denen sie Ruhe hatte.

Und dann?

Wie mache ich das morgen in der Bank, überlegte sie, wie schaffe ich es, aus dem Hotelzimmer zu kommen?

Das Abendessen und das Frühstück konnte sie ausfallen lassen und einfach im Zimmer bleiben. Wenn sie Glück hatte, gelang es ihr noch, auf dem Flughafen in St. Martin ein Sandwich zu kaufen, dann mußte sie nicht allzusehr hungern. Aber zur Bank mußte sie morgen, und es war ihr ein Rätsel, wie sie diesen Gang bewältigen sollte.

Ich muß morgen darüber nachdenken, beschloß sie, vielleicht habe ich gar keine Attacke, und damit gibt es überhaupt kein Problem.

Irgendwo in einem Winkel ihres Gehirns wußte sie, daß eine Attacke kommen würde, denn es kam immer eine, aber gedämpft durch das Medikament konnte sich dieser Gedanke keinen Raum verschaffen. Ein sanfter Schleier hatte sich über ihr Empfinden gebreitet. Sie würde die Dinge einfach auf sich zukommen lassen.

Reza Karim fuchtelte aufgeregt mit den Händen und gab einen Wortschwall in seiner pakistanischen Muttersprache von sich, ehe er sich besann und in sein hartes, etwas abgehacktes Englisch zurückfiel.

«Ich weiß es nicht! Ich weiß wirklich nicht, wie das passiert sein kann. Ich habe hier keine Buchung! Mrs. Palmer, ich bin untröstlich. Kann es sein, daß Sie vergessen haben, mich zu verständigen?«

Franca hielt sich mit beiden Händen am Tresen der Rezeption fest und starrte Reza Karim hypnotisch an.»Mr. Karim, mein Mann hat das Zimmer gebucht. Vielmehr, seine Sekretärin hat es getan. Und das hat doch immer funktioniert.«

«Ja, aber ich habe diesmal keine Buchung!«

Hektisch blätterte Karim in seinem Reservierungsbuch vorwärts und rückwärts.»Hier ist nichts! Hier wird alles eingetragen. Hier ist nichts!«

«Ich brauche ein Zimmer, Mr. Karim.«

Sie begann zu schwitzen, aber das mochte an der Hitze liegen, die über der Insel brütete. Noch hielt die Wirkung des Tranquilizers an. Aber was, um Himmels willen, sollte sie tun, wenn sie kein Hotelzimmer bekam?

Sie war jedesmal im St. George Inn abgestiegen, wenn sie auf Guernsey gewesen war. Eine preiswerte Absteige, und manchmal hatte sie gedacht, daß Michael ihr ruhig ein etwas feudaleres Quartier hätte spendieren können als dieses zwischen anderen Häusern eingezwängt stehende Gebäude, in dem stets abgestandener Essensgeruch zwischen den Wänden hing, der dicke, weinrote Teppichboden vor Schmutz starrte, die schmale Treppe sich halsbrecherisch steil nach oben schraubte und die Badezimmer jede Andeutung von Komfort vermissen ließen — ganz abgesehen davon, daß man sich in den winzigen Zellen kaum einmal um sich selber drehen konnte und beim Haarefönen ständig mit den Ellbogen an die Wände stieß. Aber irgendwann hatte sich Franca an die stickigen Räume und an Mr. Karim gewöhnt, und Michaels Rechnung war aufgegangen: Letztlich hielt Franca an allem fest, was ihr einmal vertraut war. Selbst wenn sie sich nicht wirklich wohl fühlte in dem Hotel, so erschien es ihr doch weitaus erträglicher, einen vertrauten schrecklichen Zustand aufrechtzuerhalten, als etwas Neues zu probieren und möglicherweise an einen ungewohnten schrecklichen Umstand zu geraten.

«Natürlich brauchen Sie ein Zimmer, natürlich«, sagte Karim nun,»aber unglücklicherweise bin ich vollständig ausgebucht. Sie wissen ja, über Gästemangel konnte ich mich noch nie beklagen!«

Er lachte. Franca hatte das bisher nicht gewußt, konnte es sich auch nicht vorstellen, aber sie nahm an, daß er die Wahrheit sagte, was seine augenblickliche Situation anging. Hätte er auch nur das kleinste Kellerloch noch frei gehabt, er hätte sie hineingequetscht.

«Kann ich telefonieren?«fragte Franca.

«Selbstverständlich!«

Er schob ihr den Apparat hin, ein altmodisches schwarzes Monstrum, wie es Franca nur aus nostalgischen Fernsehfilmen kannte. Sie wählte die Nummer des Labors, die Durchwahl von Michaels Büro.

Er war sogleich selbst am Telefon.»Ja?«

«Michael, ich bin es, Franca. Ich stehe hier im St. George, und stell dir vor, irgend etwas muß schiefgelaufen sein. Für mich ist kein Zimmer gebucht.«

«Das kann nicht sein.«

«Es ist so. Mr. Karim hat keinen Eintrag vorliegen.«

«Dann soll er dir eben so ein Zimmer geben.«

«Er ist ausgebucht. Es ist absolut nichts frei.«

Michael seufzte.»Das kann nicht sein!«

Sein Tonfall, seine Stimme klangen, als würde er sagen:»Was hast du denn jetzt schon wieder versiebt? Gibt es denn nichts, einfach gar nichts, was du jemals richtig machst?«

Irgendwo in ihrem Körper begann ein Nerv zu vibrieren. Es war wie eine eigentümliche Art von Schmerz, jedoch nicht lokalisierbar und nicht beschreibbar. Es war, als sei dort eine Stelle über Jahre hinweg wundgerieben worden und sende nun bei der geringsten Berührung quälende Strahlen aus.

«Ich weiß nicht, ob es sein kann«, sagte sie,»aber es ist jedenfalls so. Hier ist kein Zimmer für mich gebucht.«

«Dann muß es ein Versehen sein«, meinte Michael,»ich hatte Sonia jedenfalls Bescheid gesagt.«

Sonia war seine Sekretärin, und im allgemeinen erledigte sie jeden Auftrag mit größter Gewissenhaftigkeit.

«Was soll ich denn jetzt machen?«fragte Franca verzagt.

Michael seufzte erneut.»Du wirst doch wohl in der Lage sein, dir ein anderes Hotel zu suchen und dort ein Zimmer zu mieten! Lieber Gott, was soll ich denn von hier aus für dich tun?«

«Michael, ich habe Angst. Ich würde am liebsten wieder zurückfliegen. Ich…«

Sie zögerte, ihr Mißgeschick einzugestehen, brachte die Worte dann aber doch über die Lippen:»Ich habe keine Tabletten. Ich hatte nur noch eine, und die habe ich im Flugzeug nehmen müssen. Nun weiß ich nicht…«

«Das darf doch wohl nicht wahr sein!«

Wer Michael hörte, hätte meinen können, er habe es mit einer Schwachsinnigen zu tun, die ihn mehr und mehr entnervte.»Ich schicke dich nach Guernsey. Ich bezahle den Flug. Ich bitte dich einmal um etwas. Und…«

«Ich bin schon oft für dich hier gewesen.«

«Es ist aber tatsächlich auch das einzige, was von dir verlangt wird. Es gibt sonst weiß Gott nichts, worum ich dich bitte. Die minimalsten Erwartungen und Ansprüche, die ein Mann haben kann, habe ich ja schon zurückgeschraubt. Nur um diesen einen Gefallen bitte ich dich noch — zweimal im Jahr! Und das ist jetzt auch schon zuviel? Das empfindest du jetzt auch schon als Zumutung? Dafür bist du jetzt auch schon zu fein, zu zart, zu sensibel?«

«Das habe ich doch gar nicht gesagt.«

Der leise Vibrationsschmerz wurde stärker. Noch hielt die Wirkung des Medikaments an, aber Franca wußte, wenn sie das Gespräch nicht bald beendete, würde es nicht sechs Stunden dauern, bis der Zustand der Ruhe in sich zusammenbrach.

«Du wirst den Aufenthalt auf Guernsey jetzt nicht beenden! Hörst du? Du wirst morgen zur Bank gehen und erst danach zurückkommen. Wenn du nicht bis Samstag warten willst, dann versuche, einen Flug für morgen abend zu bekommen. Aber du gehst zur Bank! Haben wir uns verstanden?«

«Ja«, hauchte sie. Sie hatte wie immer das Gefühl, unter seiner Stimme buchstäblich kleiner zu werden. So, als verliere sie tatsächlich an Zentimetern, schrumpfe in sich zusammen. Irgendwann würde sie so klein sein, daß niemand mehr sie sah. Oder sich einfach auflösen.

Michael klang nun ein wenig freundlicher. Er schien sich zu erinnern, daß ihre Paniken heftig sein konnten, und womöglich kam es ihm in den Sinn, daß es besser sein könnte, Franca ein wenig zu stabilisieren, anstatt ihr den letzten Rest Selbstvertrauen zu rauben.

«Du wirst das schon hinkriegen. Du gehst jetzt los und suchst dir eine Übernachtungsmöglichkeit. Vielleicht kann Mr. Karim dir behilflich sein. Ruf mich heute abend an und sage mir Bescheid, ob alles geklappt hat!«

Damit beendete er das Gespräch, und Franca, die noch etwas hatte sagen wollen, verschluckte ihre Worte und legte ebenfalls auf.

«Können Sie mir helfen, ein Zimmer zu finden?«wandte sie sich an Karim.

Der kratzte sich am Kopf.»Das wird schwierig. Verdammt schwierig. Die Insel dürfte weitgehend ausgebucht sein.«

Alan Shaye kam sich völlig lächerlich vor, wie er hier gegenüber dem Haus parkte, in dem Maja wohnte, und Tür und Fenster anstarrte, als erwarte er dort jeden Moment etwas Besonderes zu sehen.

Ein mieser, kleiner Schnüffler, sagte er sich. Wenn Maja mich entdeckt, lacht sie sich tot!

Hin und wieder kamen Autos vorbei, die es auf der steilen, engen Straße schwerhatten, ihn ohne Probleme zu passieren. Manche tippten sich an die Stirn oder schüttelten

demonstrativ den Kopf über ihn. Er ignorierte sie. Er schaute hinauf zum zweiten Stock und fragte sich, was dort wohl gerade passierte.

Obwohl er es im Grunde ganz genau wußte. Er kannte Maja gut genug, vielleicht besser als sich selbst. Sie verschwand nicht mit einem Mann in ihrer Wohnung, um mit ihm Tee zu trinken und zu plaudern. Maja hatte eine sehr konkrete Vorstellung davon, wie Genuß aussehen sollte. Sie betrachtete Männer unter simplen Gesichtspunkten: Konnten sie ihr sexuelle Befriedigung im höchsten Maß beschaffen? Hatten sie Geld und waren bereit, es großzügig für sie auszugeben? Stellten sie möglichst keinerlei Besitzansprüche, gaben sich zufrieden mit dem, was sie bekamen, und fingen nicht an, eifersüchtig herumzutoben, wenn sie feststellten, daß sie sich Majas Bett mit einem Dutzend weiterer Liebhaber teilten? Denn Maja konnte sich nicht mit einem einzigen Mann zufriedengeben.

«Das wäre, als würde ich nur ein Buch lesen«, hatte sie einmal erklärt, als er ihr Vorhaltungen wegen ihres Lebenswandels gemacht hatte.»Oder als würde ich nur ein Land auf der Welt kennen. Immer Spaghetti essen und nichts anderes. Immer den gleichen Wein trinken. Meine Vorstellung von den Dingen wäre total beschränkt!«

«Das kannst du doch nicht vergleichen! Du kannst Essen, Trinken, Reisen und Lesen nicht mit Männern über einen Kamm scheren. Du kannst Männer nicht ausprobieren wie Weinsorten oder verschiedene Reiseveranstalter!«

Sie hatte gelacht.»Und warum nicht? Nenne mir einen einzigen Grund, warum es da einen Unterschied geben sollte! Warum soll ich nicht schauen, was sich mir alles bietet, bevor ich mich entscheide?«

«Kein Mensch hat gesagt, du sollst am ersten besten Mann in deinem Leben hängenbleiben.«

Sie hatte erneut gelacht.»Weil das nicht du warst. Sonst würdest du auch das von mir verlangen!«

«Maja, was du tust, geht über Ausprobieren und Anschauen wirklich weit hinaus. Du konsumierst doch wahllos. Du bist überhaupt nicht lange und intensiv genug mit einem Mann zusammen, um irgend etwas über ihn sagen zu können. Es ist wie ein Sport für dich. Du willst dich zudem überhaupt nicht entscheiden. Nach meiner Ansicht hast du vor, es dein ganzes Leben lang auf diese Weise zu treiben.«

Sie hatte die Arme um ihn geschlungen und gelächelt. Sie war bildschön, und sie konnte sehr charmant sein.»Oh, Alan! Du klingst wie eine Gouvernante! Und du blickst so ernst und so streng drein. Schau mal, auf meine Art bin ich doch durchaus treu! Mit dir bin ich jetzt schon seit fast vier Jahren zusammen. Egal, was ich tue, ich verlasse dich nie wirklich!«

Er hatte sich aus ihren Armen gelöst. Es war zu lächerlich, zu demütigend, was sie da sagte.»Wir sind nicht seit fast vier Jahren zusammen! Seit vier Jahren reihst du mich nur hin und wieder in die Sammlung deiner Liebhaber ein. Du findest es ganz nett, ab und zu mit mir zusammen zu sein. Aber du bist nicht bereit, eine Beziehung mit mir aufzubauen.«

«Wir haben doch eine Beziehung!«

«Entschuldige, aber möglicherweise definiert jeder von uns den Begriff ein wenig anders. Für mich heißt Beziehung, sich wirklich aufeinander einzulassen. Verstehst du? Und dies wiederum schließt Dritte aus. Ich gehe ja auch nicht noch mit anderen Frauen ins Bett, wenn ich mit dir zusammen bin.«

«Könntest du aber.«

«Wenn du das ernsthaft sagst, liebst du nicht!«

«Ach!«

Sie hatte sich abgewandt, gereizt und gelangweilt.»Liebe? Ich bin einundzwanzig, Alan! Was willst du von mir? Ein Versprechen für die Ewigkeit? Ein Treuegelöbnis? Die Erklärung: du und kein anderer? Das mag in deinem Alter so üblich sein, aber ich fühle mich einfach zu jung!«

Natürlich hatte sie damit den Nagel auf den Kopf getroffen. An dieser Stelle lag das Problem. Er dachte es wieder, als er nun hier an diesem heißen Nachmittag im September vor ihrem Haus parkte und langsam verging zwischen Blech und Ledersitzen. Der Altersunterschied war zu groß. Er war jetzt zweiundvierzig Jahre alt. Maja würde in Kürze ihren zweiundzwanzigsten Geburtstag feiern. Er war einfach zwanzig Jahre älter. Er fühlte sich keineswegs alt, aber im Vergleich zu ihr war er es. Er hatte andere Vorstellungen, weil er sich in einer anderen Lebensphase befand als sie. Obwohl er sich nicht erinnern konnte, mit Anfang Zwanzig einen derart exzessiven Lebenswandel geführt zu haben wie sie. Er kannte überhaupt niemanden, der das tat oder je getan hatte.

Vergiß sie, dachte er müde, laß verdammt noch mal die Finger von ihr!

Er hatte vorgehabt, sie während dieses Aufenthalts auf Guernsey nicht zu besuchen. Nach ihrem letzten Treffen im Sommer, irgendwann Anfang Juni war es gewesen, hatte er ihr gesagt, ihrer beider Beziehung sei von seiner Seite aus beendet. Sie hatte mit den Schultern gezuckt.»Wir haben einander ja sowieso kaum gesehen«, hatte sie gesagt.»Du in London, ich hier… die paar Mal im Jahr, die du da bist… aber du wolltest es ja nicht anders!«

«Ich wollte dich in London haben!«

«Ja, aber zu deinen Bedingungen. Du wolltest, daß ich eine Ausbildung mache, daß ich arbeite, daß ich…«

«Daß du vor allem erst einmal einen Schulabschluß machst, ja. Wir hätten aber unterdessen zusammenleben können. Ich hätte für dich gesorgt. Das weißt du.«

«Du bist ein richtiger kleiner Moralapostel, Alan. Ich muß erst das angemessene Wohlverhalten an den Tag legen, dann werde ich von dir belohnt. Aber du kannst mich nicht wie ein kleines Mädchen behandeln. Ich bin eine erwachsene Frau.«

«Dann verhalte dich auch so. Bring irgendeine Struktur in dein Leben. So, wie du es dir vorstellst, funktioniert es nicht. Du lebst in den Tag hinein, verschläfst den halben Vormittag, verbummelst die Nachmittage und tanzt und trinkst in den Nächten. Du läßt dich von deiner Großmutter finanzieren und scheinst zu meinen, daß das irgendwie immer so weitergehen wird!«

«Es wird so weitergehen. Warum soll ich mir jetzt Gedanken machen, was in zehn Jahren ist? Es wird sich etwas finden!«

«Mae wird nicht ewig leben.«

«Dann wird jemand anderer da sein.«

«Du meinst — ein Mann?«

«Ja. Irgendein Mann wird immer da sein.«

Er hatte sie nachdenklich betrachtet, ihren sorglos lachenden Mund, ihre funkelnden Augen.»Du wirst nicht immer zwanzig sein, Maja. Du wirst nicht immer so attraktiv sein wie jetzt. Verstehst du? Es werden sich nicht dein Leben lang die Männer darum reißen, dich auszuhalten.«

«Immer mußt du unken, Alan. Immer schwarzmalen! Du kannst so schrecklich fade und langweilig sein! Man wird ganz trübsinnig in deiner Gegenwart.«

Sie hatte dabei gelacht, war weit von jeder Art Trübsinn entfernt gewesen.

Als er an diesem Tag am Flughafen von St. Martin aus der Londoner Maschine gestiegen war, hatte er daran gedacht, daß er es kaum würde vermeiden können, Maja zu begegnen. Zum Geburtstag seiner Mutter am Sonntag würde sie wahrscheinlich auch kommen. Er ärgerte sich, daß er überhaupt einen Gedanken daran verschwendete, aber er hatte Angst vor der Begegnung. Angst, sein Gesicht könnte die Gefühle verraten, die er für sie hegte und die er seit Jahren ebenso erbittert wie erfolglos bekämpfte. Er fragte sich, warum es ihm nicht gelang, sich Maja ein für allemal aus dem Herzen zu reißen. Weshalb war sie stets präsent? In seiner Londoner Wohnung, in seinem Büro. Wenn er sich mit Freunden traf und sogar, wenn er mit anderen Frauen zusammen war. Er wurde Maja nicht los.

Welch ein Armutszeugnis, dachte er manchmal.

Er hatte am Flughafen einen Wagen gemietet, und anstatt gleich zu seiner Mutter nach Le Variouf zu fahren — wozu er ohnehin keine Lust hatte und was noch früh genug geschehen würde —, hatte er den Weg nach St. Peter Port genommen und war die Straße hinaufgefahren, in der Majas Haus stand. Sie bewohnte dort eine sehr hübsche Zwei-Zimmer-Wohnung, die ihre Großmutter Mae bezahlte. Von den rückwärtigen Fenstern hatte sie einen herrlichen Blick auf das Meer und auf Castle Cornet, der Festung im Hafen der Stadt.

Er hatte gerade aus dem Auto steigen wollen, da hatte er Maja plötzlich entdeckt. Sie kam die steile Straße herauf, sehr langsam, der Hitze des Tages angemessen. Sie trug einen kurzen, engen Rock und ein weißes T-Shirt, das knapp oberhalb der Taille endete und ihren Bauchnabel freiließ. Ihre langen Beine waren braungebrannt. Sie hatte Turnschuhe an und wirkte wie immer sehr unbekümmert.

Den Mann, der sie begleitete, fand Alan mehr als suspekt. Ein südländischer Typ mit einer Menge Gel im schwarzen Haar und einer verspiegelten Sonnenbrille vor den Augen. Er war mager, aber sehnig und sicher kräftig. Er sah schlichtweg aus wie ein Vorstadt-Zuhälter.

Und vielleicht, dachte Alan, ist er das auch.

Natürlich blieb er sitzen und hoffte, daß Maja ihn nicht entdeckte. Das Auto konnte sie nicht identifizieren, und ansonsten würde sie wohl nicht so genau hinsehen. Sie strahlte den Kerl neben sich an, aber der erwiderte ihr Lächeln nicht. Er folgte ihr ins Haus, und die Tür fiel hinter ihnen zu. Alan sagte sich, daß es das beste wäre, jetzt Gas zu geben und davonzufahren. Alles andere war purer Masochismus, und warum sollte er sich die Qual antun, hier zu sitzen und zu warten, bis die beiden da drinnen in der Wohnung ihr Treiben beendet hatten? Aber irgend etwas hielt ihn zurück, ließ ihn verharren, zwang ihn, die Tortur auf sich zu nehmen und unter den Fenstern sitzen zu bleiben, hinter denen sie sich vergnügte. Irgendwann, dachte er, wird es vorbei sein. Er meinte nicht ihre sexuellen Spiele mit dem schmierigen Typen. Er meinte seine Besessenheit. Eines Morgens würde er aufwachen und feststellen, daß er Maja Ashworth nicht mehr liebte. Daß sie der Vergangenheit angehörte und er seine Freiheit zurückgewonnen hatte. Daß er andere Frauen lieben und das Leben wieder genießen konnte.

Gegen sechs Uhr hielt er es nicht mehr aus. Schon die ganze Zeit über hatte er Durst gehabt, was kein Wunder war bei dem Wetter. Aber zunehmend kristallisierte sich das Bedürfnis nach einer bestimmten Art des Durstlöschens heraus. Er hatte nicht einfach Durst nach Wasser oder Orangensaft. Er brauchte etwas Härteres. Wie immer. Wie an fast jedem Tag.

Dicht unterhalb von Majas Haus lag ein Pub, das um sechs Uhr öffnete. Als Alan hineinging, war außer den vier jungen Leuten hinter dem Tresen noch niemand da. Ein großes Plakat kündigte Live-Musik für den Abend an. Alan orderte einen Whisky und setzte sich damit vor den großen, gemauerten Kamin gegenüber der Bar. Eine riesige Kneipe, über zwei Stockwerke gebaut, mit wuchtigen Deckenbalken und vielen hölzernen Tischen und Stühlen. In den späteren Abendstunden, das wußte Alan noch, war es hier brechend voll. Jetzt blieb er fast eine Dreiviertelstunde völlig allein, ehe zwei Männer kamen, Fischer offensichtlich, die sich über eine Bootsfahrt mit Touristen nach Sark unterhielten. Er trank in der Zeit zwei weitere Whisky und ging dreimal auf die Toilette. Er wollte sich einen vierten Whisky bestellen, aber er dachte daran, daß er noch Autofahren mußte und daß seine Mutter wieder lamentieren würde, wenn er nach Alkohol roch. Die ganze Zeit über hatte er zur Tür gestarrt, hatte halb und halb erwartet, Maja mit dem Typen hereinkommen zu sehen. Er wußte, daß sie die Kneipe manchmal aufsuchte. Aber heute zog sie es offensichtlich vor, im Bett zu bleiben, oder sie war mit dem Mann woanders hingegangen. Er erhob sich schwerfällig, ging zur Bar und zahlte. Dann trat er hinaus auf die Straße.

Der Herbst machte sich bemerkbar. Die Sonne war hinter den Häusern verschwunden, und die Schatten waren schon kühl. Wer jetzt draußen blieb, mußte einen warmen Pullover anziehen.

Bald, dachte er, sind die Tage sehr grau. Besonders in London. Die Abende sind lang und dunkel und einsam. Man braucht eine Menge Whisky, um sie zu überstehen.

Hinter Majas Fenstern brannte kein Licht, aber das mußte nicht bedeuten, daß sie fortgegangen war. Vielleicht waren sie eingeschlafen. Der Whisky machte den Gedanken ein wenig leichter.

Ist alles nicht meine Sache, dachte er, geht mich nichts an.

Er sah die Frau, als er gerade sein Auto aufschließen wollte. Sie stand auf der anderen Seite des Wagens auf dem Bürgersteig. Im ersten Moment meinte er, daß sie zwischen Auto und Hauswand nicht hindurchkonnte, denn er hatte so verwegen geparkt, daß er tatsächlich fast den ganzen Gehweg blockierte. Doch dann fiel ihm auf, daß sie sich mit beiden Händen am Wagendach festhielt. Sie war aschfahl im Gesicht, grau bis in die Lippen. Ihre Haut glänzte unnatürlich feucht.

«Ist Ihnen nicht gut?«

Er konnte schlecht losfahren, solange sie sich am Dach seines Autos festkrallte.»Brauchen Sie Hilfe?«

Sie hatte ihn offensichtlich zuvor nicht bemerkt, denn sie zuckte zusammen und starrte ihn überrascht an. In ihren Augen las er eine Verzweiflung, die ihn verblüffte. Er hatte das Gefühl, mit einem Schlag nüchtern zu werden.

«Vielleicht sind Sie den Berg zu schnell hinaufgelaufen«, mutmaßte er,»bei der Hitze kann das böse Folgen haben. Wenn Sie sich einen Moment setzen wollen…? Warten Sie, ich schließe das Auto auf.«

Der Wagen hatte keine Zentralverriegelung. Er kam auf ihre Seite, schloß die Beifahrertür auf.»Hier. Setzen Sie sich. Sie sehen aus, als fielen Sie gleich in Ohnmacht.«

Sie bewegte fast tonlos ihre grauen Lippen. Er versuchte zu verstehen, was sie sagen wollte.

«Sie müssen lauter sprechen. Was ist los?«

Sie sank auf den Sitz. In einer unendlich müden Bewegung lehnte sie den Kopf zurück, schloß die Augen. Er trat an den Kofferraum, kramte in seiner Tasche, fand ein Stück Traubenzucker und kehrte damit zu der Frau zurück. Er wickelte den Zucker für sie aus dem Zellophan.»Essen Sie das. Es wird Ihnen guttun.«

Sie reagierte nicht, und so schob er ihr den Zucker einfach vorsichtig zwischen die Zähne. Einen Moment lang stemmte sie ihre Zunge dagegen, aber dann ließ sie es geschehen.

«Nicht kauen«, mahnte er besorgt.»Lassen Sie ihn langsam im Mund zergehen.«

Sie öffnete die Augen.»Es… geht… schon«, murmelte sie.

«Sie sehen aber noch immer sehr schlecht aus. Soll ich Sie vielleicht zu einem Arzt bringen?«

Sie schüttelte den Kopf.»Ich… habe kein Zimmer«, sagte sie mühsam.

Jetzt begriff er, was ihn schon die ganze Zeit irritiert hatte: Ihr Englisch, obwohl flüssig, war das einer Ausländerin. Auf keinen Fall stammte sie von der Insel, und sie war auch keine Engländerin. Eine Touristin offenbar. Ohne Zimmer? Aber wie eine Landstreicherin sah sie nicht aus. Sie hatte die Augen wieder geschlossen und gab ihm dadurch Gelegenheit, sie ausgiebig zu mustern.

Er hätte nicht sagen können, ob er sie hübsch fand oder nicht. Für seinen Geschmack war sie ziemlich farblos. Sehr dünn, blaß, ungeschminkt. Die blonden Haare hatte sie mit einem schmucklosen Gummi zurückgebunden. Sie trug Jeans und einen hellen Baumwollpullover, der zerknittert und verschwitzt aussah. Vielleicht hätte sie etwas aus sich machen können, aber offensichtlich interessierte es sie nicht, wie sie aussah.

«Sie haben kein Zimmer?«fragte er.»Wann sind Sie denn angekommen?«

Sie hob erneut die Lider. Sie hat schöne Augen, dachte Alan. Sie waren von einer interessanten blaugrünen Farbe und überschattet von auffallend langen Wimpern.

«Ich bin heute gelandet«, sagte sie.»Aus Deutschland.«

«Und Sie haben kein Zimmer?«

«Es hat… etwas mit der Buchung nicht geklappt…«

Ihr Blick wurde langsam klarer. Sie setzte sich aufrechter hin.»Es geht mir besser. Wirklich, es wird besser.«

Er sah, daß ihre Wangen tatsächlich wieder eine Spur Farbe bekamen.»Sie sehen auch schon besser aus. Aber bleiben Sie bloß sitzen!«fügte er eilig hinzu, als er sah, daß sie Anstalten machte, aufzustehen.»So fit sind Sie nun auch wieder nicht!«

«Die Sekretärin meines Mannes wollte ein Zimmer buchen«, erklärte sie,»aber irgend etwas hat nicht geklappt.«

«Wo sollten Sie denn bleiben?«

«Im St. George Inn. Dort wohne ich immer. Ich habe mein Gepäck jetzt dort abgestellt. Mr. Karim — ihm gehört das Hotel — hat herumtelefoniert, aber er hat auch kein freies Zimmer mehr auftreiben können. Ich wollte zum Touristikbüro gehen, unten am Hafen, und zwischendurch war ich im…«, sie legte die Stirn in Falten,»wie heißt es? So ein Selbstbedienungsrestaurant gleich neben der Kirche. Ein wenig exotisch…«

Er kannte es.»The Terrace. Dort werden Sie wohl gewesen sein.«

«Ja. Ich stand in der Schlange am Tresen. Ich hatte schon Essen und Getränke auf dem Tablett und war kurz vor der Kasse, da…«

Sie stockte.

Er musterte sie aufmerksam.»Ja?«

«Ich bekam Panik«, fuhr sie leise fort,»und der Raum drehte sich vor meinen Augen. Die vielen Menschen… Ich war in Sekundenschnelle völlig aufgelöst. Ich mußte raus, etwas anderes konnte ich gar nicht mehr denken… Ich ließ alles fallen, das Tablett meine ich, mit dem, was darauf stand…«

«Und dann stürzten Sie davon?«

«Ja. Ich rannte einfach weg. Ich wollte zum Hotel, zu meinen Sachen… Ich lief die Straße hinauf, und plötzlich konnte ich nicht mehr weiter. Meine Beine waren ganz weich… und ich hielt mich an Ihrem Auto fest…«

Sie versuchte erneut, aufzustehen, aber Alan drückte sie sanft zurück.»Einen Moment noch. Sie sind immer noch ziemlich blaß um die Nase.«

«Aber ich halte Sie auf…«

«Sie halten mich nicht auf. Wissen Sie was? Wir gehen jetzt dort hinüber in The Cock and Bull«, er wies auf das Pub schräg gegenüber,»und trinken einen Schnaps. Das wird Ihnen guttun.«

«Ich muß mich um eine Unterkunft kümmern.«

«Da hätte ich eine Idee. Meine Mutter vermietet ab und zu ein Zimmer in ihrem Haus. Ich könnte sie anrufen, und wenn der Raum frei ist, könnten Sie ihn haben. Le Variouf liegt zwar sehr einsam, ganz im Süden der Insel, aber das ist Ihnen gleich, oder?«

«Das ist mir ganz egal. Wenn ich nur weiß, wo ich schlafen kann heute nacht.«

Sie zog sich langsam an der offenen Wagentür hoch. Sie schien noch ein wenig wackelig auf den Beinen zu sein, aber es ging ihr eindeutig besser.

«Ich muß noch zu The Terrace«, sagte sie,»und das Geschirr bezahlen, das ich zerdeppert habe.«

«Ich fürchte, die haben jetzt schon zu. Sie können morgen hingehen. Das eilt nicht so sehr.«

Er überlegte, ob er ihren Arm nehmen sollte, unterließ es dann aber. Er würde neben ihr gehen und konnte immer noch zugreifen, wenn er merkte, daß ihr wieder schlecht wurde. Aber mit jedem Schritt wurde ihr Gang ein wenig sicherer.

Warum tat er das? Die Frau gefiel ihm nicht besonders, und nun hatte er sie in gewisser Weise am Hals. Ging mit ihr etwas trinken und hatte sich auch das Problem ihrer Übernachtungsmöglichkeit aufgeladen. Wenn seine Mutter das Zimmer nicht frei hatte oder gerade keinen Gast haben wollte — was vorkam, und wenn sie zickte, dann zickte sie —, dann konnte er dieses zittrige Nervenbündel nicht an irgendeinem Wegrand abladen. Dann mußte er etwas für sie organisieren.

Ich glaube, dachte er in gnadenloser Ehrlichkeit, ich mache das nur, weil es mir ermöglicht, noch einmal in die Kneipe zu gehen und etwas zu trinken.

Im The Cock and Bull hatte sich inzwischen schon eine ganze Reihe von Gästen eingefunden. Die meisten lehnten an der Bar, eine Gruppe hatte sich um den Kamin versammelt. Die Musiker der Live-Band waren gerade eingetroffen und packten ihre Instrumente aus. Ein Künstler stimmte sein Cello.

Die Frau blieb in der Tür stehen und sah plötzlich aus, als wollte sie umkehren und davonlaufen.»So viele Menschen…«

«Das sind nicht viele. In dem großen Raum verteilt sich das doch.«

Er hoffte, sie würde keinen Rückzieher machen, denn nun konnte er den Alkohol schon riechen, und die Gier fiel ihn unvermittelt an.»Setzen Sie sich in die Nähe der Tür. Dann haben Sie das Gefühl, jederzeit hinausgehen zu können.«

Er redete mit Engelszungen auf sie ein. Schließlich hatte er sie soweit, daß sie zögernd in Türnähe Platz nahm — auf der äußersten Stuhlkante schwebend, ständig sprungbereit, mit einem Gesichtsausdruck, als sei sie von schrecklichen Gefahren förmlich umzingelt. Er ging zum Tresen und fragte, ob er telefonieren könne, und kippte dabei schon den ersten Schnaps. Die Fremde ging ihm auf die Nerven, aber der Alkohol hatte ihn stabilisiert. Genug jedenfalls, um die Vorwürfe seiner Mutter ertragen zu können, von denen er wußte, daß sie kommen würden.

Natürlich hatte sie sich Sorgen gemacht. Sie wußte, wann sein Flugzeug gelandet war, und hatte sich gefragt, wo er blieb.

«Hättest du nicht wenigstens anrufen können? Wo bist du denn jetzt? In einer Kneipe?«

Angesichts der eindeutigen Hintergrundgeräusche konnte er es kaum abstreiten.»Ja, mit einer Bekannten.«

Er wußte nicht einmal den Namen der Frau, aber das mußte er seiner Mutter nicht sofort auf die Nase binden.»Hör zu, Mummie, ist dein Fremdenzimmer zufällig frei? Hättest du Lust auf einen Gast?«

Wie er geahnt hatte, zierte sie sich.»Eigentlich nicht. Am Sonntag haben wir das große Fest, es ist viel vorzubereiten, und…«

«Diese Frau ist vollkommen pflegeleicht.«

Sie erschien ihm hochgradig neurotisch, aber auch das behielt er vorsichtshalber für sich.»Ich bringe sie nachher mit. Sie hat keine andere Übernachtungsmöglichkeit. Es wäre schön, wenn du helfen würdest.«

Sie seufzte.»Hauptsache, du läßt dich endlich einmal blicken. Du warst so lange nicht mehr auf Guernsey, und kaum kommst du einmal, vertust du einen ganzen Nachmittag in einer Bar. Ich mache mir Sorgen, Alan. Du weißt, daß es gefährlich bei dir ist, wenn du einmal mit dem Trinken anfängst. Du…«

Er konnte es nicht mehr hören.»Bis nachher, Mummie. Es wird nicht allzu spät!«

Er legte den Hörer auf, ließ sich zwei Whisky einschenken und ging damit an den Tisch zurück. Die Fremde saß inzwischen so weit vorne auf der Stuhlkante, daß er fürchtete, sie werde jeden Moment hinunterfallen.

«Hier!«

Er stellte das Glas vor sie hin.»Trinken Sie das. Übrigens, ich heiße Alan Shaye.«

«Franca Palmer. Aus Berlin.«

Sie nippte an ihrem Whisky. Ihre Augen schweiften gehetzt durch den Raum, saugten sich dann an Alan fest.»Was hat Ihre Mutter gesagt?«

«Es klappt. Das Zimmer ist frei, Sie können es haben.«

Er setzte sich neben sie. Der Geruch des Malt im Glas machte ihn ganz schwach. Er wußte, er hätte nicht ein zweites Mal hierherkommen dürfen. Jetzt würde er möglicherweise mit dem Trinken nicht mehr aufhören können, und er kannte das Ende: Alan Shaye, das lallende Häufchen Elend, am Boden kriechend.

Er sah, daß Franca offenbar anfing, sich zu entspannen. Die Aussicht, ein Zimmer für die Nacht zu haben, gab ihr ein wenig Kraft zurück.

«Mein Gott«, sagte sie,»was für ein Tag!«

«Wahrscheinlich war alles ein wenig zuviel für Sie«, meinte Alan,»und da hat dann Ihr Kreislauf schlappgemacht. Morgen geht es Ihnen sicher wieder viel besser.«

Ihre Augen begannen schon wieder zu zucken. Es machte ihn rasend zu sehen, daß sie ihren Whisky kaum mit den Lippen berührte. Er hatte sein Glas schon fast wieder leer. Am liebsten hätte er nach ihrem gegriffen und davon getrunken.

«Morgen«, sagte sie,»muß ich zur Bank.«

«Das wird kein Problem sein. Von Le Variouf aus können Sie mit dem Bus fahren. Aber wahrscheinlich kann Sie auch jemand mitnehmen. Ganz sicher fährt meine Mutter morgen nach St. Peter Port, und ich wahrscheinlich auch. Also machen Sie sich keine Gedanken.«

Sie seufzte tief, drehte ihr Glas hin und her.

Wovor, fragte er sich, hat sie so schreckliche Angst? Sie sieht aus wie ein Kaninchen, das vor einem Gewehrlauf sitzt.

«Ich werde bis Montag auf Guernsey bleiben«, erzählte er. Im Grunde hatte er kein Interesse, der Fremden irgend etwas über sein Leben mitzuteilen, aber er wollte eine Unterhaltung in Gang bringen — in erster Linie deshalb, um sich von den quälenden Gedanken an das nächste Glas Whisky abzulenken.

«Ich lebe in London. Aber ich bin auf der Insel aufgewachsen. Die Familie meiner Mutter lebt seit Generationen hier.«

«Was machen Sie in London?«erkundigte sie sich höflich.

«Ich meine, beruflich?«

«Ich bin Rechtsanwalt.«

«Ein interessanter Beruf.«

«Ich mag ihn. Ich wollte Anwalt werden, solange ich denken kann.«

Er überlegte kurz.»Und London gefällt mir auch sehr gut. Ich möchte in keiner anderen Stadt leben. Sind Sie je in London gewesen?«

«Nein. Ich bin als Kind manchmal gereist, aber in London war ich nie.«

«Und heute reisen Sie überhaupt nicht mehr?«

Sie schüttelte den Kopf.»Seit fast zehn Jahren nicht.«

«Und warum?«

Er merkte, daß er sie mit der Frage in Verlegenheit brachte.»Wenn ich zu indiskret bin…«

«Nein, nein.«

Sie überlegte.»Ich weiß nur nicht genau, wie ich Ihnen antworten soll. Es ist eine lange Geschichte.«

Er hatte eigentlich keine Lust auf ihre Lebensbeichte, zumal er den Verdacht hatte, daß sie höchst langweilig war. Aber er wollte nicht nach Hause. Er wußte, daß er inzwischen zumindest angetrunken war, und er konnte das Lamento seiner Mutter einfach nicht ertragen. Er wollte auch nicht ins Bett. Wahrscheinlich würde er dann anfangen, über Maja nachzudenken und schließlich über sich, und irgendwann würde das wieder in einer quälenden Selbstanalyse enden.

«Erzählen Sie mir doch Ihre Geschichte«, ermunterte er sie,»nachdem Sie nun schon beinahe bewußtlos neben meinem Auto zusammengebrochen sind…«

Sie lächelte, aber es war ein gequältes Lächeln.»Wo soll ich anfangen? Ich…«

Dann unterbrach sie sich plötzlich, und ihr Gesicht trug auf einmal einen sachlichen Ausdruck, den Alan als sehr anziehend empfand und der ihr, wie er dachte, viel besser stand als die Leidensmiene, die sie zuvor getragen hatte.»Ach, eigentlich läßt es sich auch in ein paar wenigen Worten sagen. Ich war Lehrerin. Ich bin in meinem Beruf gescheitert. Irgendwie komme ich seitdem seelisch nicht mehr richtig auf die Beine. Und seit einigen Jahren lebe ich mit starken Beruhigungsmitteln. Ich kann ohne die Tabletten praktisch gar nicht auf die Straße gehen.«

«Oh…«, sagte Alan überrascht. Er hätte diese langweilige Person nicht für eine Medikamentenabhängige gehalten. Aber, fragte er sich sofort, was denkst du, wie Medikamentenabhängige aussehen? Irgendwie dramatisch? Es waren wohl völlig normal wirkende Menschen, denen so etwas passiert.

«Dann war das heute…«, deutete er eine Vermutung an.

Franca nickte.»Es war nicht die Hitze. Nicht der Kreislauf. Ich habe meine Tabletten vergessen. Daheim in Deutschland. Eine einzige hatte ich noch. Mit der habe ich den Flug geschafft. Aber dann ließ die Wirkung nach — in der Warteschlange von The Terrace. Na ja«, sie zuckte mit den Schultern,»und den Rest kennen Sie.«

«Ja. Den Rest kenne ich.«

Er stand auf.»Entschuldigen Sie, ich hole mir nur noch einen Whisky.«

Es fiel ihm ein wenig schwer, den Kurs auf die Bar zu halten. Ihm war schwindlig, und er hoffte nur, daß er den Heimweg mit dem Auto schaffen würde. Ich dürfte eigentlich nicht mehr…, dachte er, aber zugleich wußte er, daß er nicht würde verzichten können. Sein ganzer Körper verlangte nach noch mehr Alkohol. Und seine Seele. Mit jedem Schluck wurde ihm Maja gleichgültiger, aber noch war sie ihm nicht gleichgültig genug. Er brauchte noch ein, zwei Gläser, und dann würde er gelassen zusehen können, wie sie mit jedem Mann der Insel vögelte.

Ziemlich wacklig kehrte er mit dem Glas in der Hand zum Tisch zurück, wo die blasse Frau aus Deutschland immer noch auf der äußersten Stuhlkante balancierte, ihr volles Glas umklammert hielt und jeden Neuankömmling aus schreckgeweiteten Augen ansah.

Wie schwach sie ist, dachte er mit einem Anflug von Aggression, aber gleich darauf hätte er fast gelacht: Wer war er, so zu denken? Er hielt sich am Alkohol genauso fest wie sie sich an ihren Tabletten. Seine Ängste, seine quälenden Gedanken, seine Phobien mochten anderer Natur sein als ihre, aber das spielte im Grunde gar keine Rolle. Es gelang ihm nicht, das Leben ohne Whisky zu ertragen, und sie mußte Tranquilizer schlucken, um überhaupt auf die Straße gehen zu können.

Da haben sich wirklich zwei gefunden, die in einem Boot sitzen, dachte er, und angesichts ihres zerquälten Gesichts empfand er diese Vorstellung als äußerst unangenehm. Er hatte doch wohl keinesfalls eine ähnlich labile Ausstrahlung wie sie? Oder vielleicht war das bereits der Fall, und er merkte es nur nicht?

«Ab und zu scheinen Sie aber doch zu reisen«, stellte er fest,»denn sonst wären Sie ja nicht hier, oder?«

«Zweimal im Jahr«, sagte sie.»Zweimal im Jahr fliege ich für zwei oder drei Tage nach Guernsey. Das ist aber auch alles.«

«Und das schaffen Sie?«

Sie hob entschuldigend die Schultern.»Mit Hilfe der Tabletten, ja.«

«Und warum bleiben Sie immer nur so kurz? Da lohnt sich der Flug doch kaum. Und Sie können die Insel gar nicht kennenlernen.«

Sie druckste ein wenig herum.»Ich bin geschäftlich hier. Für meinen Mann.«

«Verstehe.«

Er verstand tatsächlich. Vermutlich handelte es sich um eine Steuergeschichte. Er nahm an, daß Franca Gelder abhob, die ihr Mann an der deutschen Steuer vorbei nach Guernsey gebracht hatte. Geschäfte dieser Art hatten sie hier ständig. Ihn ging es nichts an. Auch wenn illegale Machenschaften dahintersteckten, er brauchte sich darum nicht zu kümmern.

«Sie sollten sich mal länger auf der Insel aufhalten«, meinte er,»diesmal zum Beispiel. Das Wetter ist herrlich. Und es soll die ganze nächste Woche so schön bleiben. Sie könnten wandern und schwimmen und sich ein wenig erholen.«

Sie lächelte sehr müde.»Das geht nicht. Ich muß so schnell wie möglich nach Hause. Ich brauche meine Tabletten und das Rezept meines Arztes. Sie verstehen nicht…«

Sie runzelte die Stirn, schien angestrengt zu überlegen, wie sie ihm den komplizierten Sachverhalt klarmachen könnte.»Es geht mir sehr schlecht ohne die Medikamente. Ich kann dann nicht für mich garantieren. Ich habe entsetzliche Panikanfälle, von denen ich nicht weiß, wie ich sie durchstehen soll.«

«Aber diesen haben Sie durchgestanden.«

Sie sah ihn erstaunt an.»Was meinen Sie?«

«Na ja, Sie haben doch vor ungefähr zwei Stunden in The Terrace einen solchen Panikanfall bekommen. Und Sie konnten dabei nicht auf Ihre Tabletten zurückgreifen. Sie haben ihn durchgestanden.«

«Nun, ich…«

«Nein. Sie haben ihn durchgestanden. Es war schlimm, es war fürchterlich, aber Sie sind nicht daran gestorben.«

«Ich dachte, ich sterbe. Ich wußte nicht mehr…«

Diesmal zögerte er nicht, sie anzufassen. Er legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. Er konnte das leise Zittern in ihrem Körper spüren.»Sie dachten, Sie sterben. Sicher, das kann ich verstehen. Sie dachten, Sie stehen es nicht durch. Aber was war dann?«

«Sie kamen vorbei und kümmerten sich um mich.«

Er schüttelte den Kopf.»Ich habe Ihnen einen Sitzplatz in meinem Auto angeboten. Aber das war nicht entscheidend. So oder so, die Panik wäre verebbt. Das ist einfach so.«

«Woher wollen Sie das wissen?«

«Ich denke, so ist das Prinzip. Und der Vorgang mit Ihnen hat das bestätigt. Ich denke, Sie haben seit sehr langer Zeit zum erstenmal wieder die Panik bis zu ihrem Höhepunkt kommen lassen. Zwangsläufig, weil Sie sie diesmal nicht vorher mit Ihren Pillen abfangen konnten. Aber nichts, gar nichts kann höher steigen als bis zu seinem eigenen Höhepunkt. Danach beginnt es wieder zu fallen. Das ist wie mit den Wellen des Meeres. Sie steigen und steigen, türmen sich auf, hoch, bedrohlich. Sie schwellen immer mehr an. Doch dann ist der Scheitelpunkt erreicht. Sie kippen und stürzen in sich zusammen. Und dann rollen sie ganz flach und schäumend über den Sand.«

Sie schob ihr Glas von sich.»Ich bin entsetzlich müde. Glauben Sie, wir könnten jetzt fahren?«

Sein Glas war wieder leer. Normalerweise hätte er nun weitergetrunken bis zur Besinnungslosigkeit, er befand sich genau auf der richtigen Schiene. Aber vielleicht sollte er ihrer Bitte nachkommen und es als Fügung betrachten. Jetzt mit ihr nach Hause zu gehen, würde ihn vor einem fürchterlichen Absturz bewahren — und vor einem äußerst schmerzhaften Kater am nächsten Morgen.

«Okay«, gab er nach,»wir gehen.«

Er stand auf. Es machte ihn fast verrückt, die goldfarbene Flüssigkeit in ihrem Glas zu betrachten — den Whisky, den sie nicht mehr trinken würde und den er… Nein, er würde es nicht tun. Sogar die labile Person hatte es ohne Droge geschafft; es war das mindeste, es ihr jetzt gleichzutun.

«Sie sollten an diesen Tag immer denken«, sagte er, als sie nebeneinander hinaus in die Dunkelheit traten. Die frische, salzhaltige Luft tat ihnen gut.»Sie sollten sich erinnern, wie es war, als die Panik kam und Sie ihr nichts entgegenzusetzen hatten. Wie es sich anfühlte, als sie anstieg und anstieg und Ihnen den Atem nahm und Sie dachten, Sie müßten sterben. Und wie sie dann in sich zusammenfiel. Wie Sie wieder atmen konnten, ruhig und gleichmäßig. Wie das Zittern aufhörte. Wie die Gedanken wieder klar wurden und Sie feststellten, daß Sie am Leben bleiben würden. Und so wird es immer sein.«

«Wie wird es sein?«fragte sie verwirrt.

«Sie werden nie daran sterben. Sie werden Ihre Panik jedesmal überleben. Das bedeutet, Sie müssen nicht halb soviel Angst haben, wie Sie jetzt empfinden.«

Sehr leise sagte sie:»Ich habe aber Angst. Und ich glaube, ich werde nicht aufhören können, mich zu fürchten.«

«Vielleicht doch. Wenn Sie an diesen Tag denken.«

Er schloß die Autotür auf.»Es war bestimmt das erste Mal seit sehr langer Zeit, daß Sie eine Panik durchgestanden haben, oder?«

«Ja.«

«Sie sollten stolz darauf sein. Und sich als Siegerin fühlen. Was Sie einmal geschafft haben, das schaffen Sie immer wieder.«

Sie schloß für einen Moment die Augen.»Bitte, fahren Sie jetzt.«

«Wir holen noch Ihr Gepäck bei Reza Karim«, schlug er vor,»okay?«

Sie antwortete nicht. Sie lehnte den Kopf zurück, vertrauensvoll wie ein kleines Kind.

Dieser Tag konnte ja nicht anders enden, dachte er resigniert, ich hätte einfach nicht herkommen sollen.

Er warf einen letzten kurzen Blick zu Majas Fenstern hinauf.

In der Wohnung war es noch immer dunkel.

3

Dieser schreckliche Doppelgeburtstag, der jedes Jahr mit soviel Brimborium gefeiert werden muß, dachte Beatrice gereizt.

Ihr selbst hätte es überhaupt nichts ausgemacht, den 5. September stillschweigend zu übergehen. Sie fand, daß es nicht unbedingt Grund für eine fröhliche Festlichkeit gab, wenn man schon wieder ein Jahr älter wurde, und schon gar nicht, wenn man erst mal über siebzig war. Sehr viel Gutes würde das Leben kaum noch bringen, und sie haßte es, wenn die Gratulanten in ihrem Bemühen, die bittere Pille zu versüßen, genau das immer behaupteten.

«Du wirst sehen, Beatrice, das Leben hält noch Turbulenzen bereit«, hatte Mae gesagt, sie an sich gedrückt und ihr ein Hermes-Tuch überreicht. Beatrice würde das Tuch nie tragen, und Mae wußte das, aber sie war fest entschlossen, in ihrem Bemühen, Beatrice zur feinen Dame umzustylen, nicht nachzulassen.

«Steter Tropfen höhlt den Stein«, sagte Mae oft, aber Beatrice hatte nicht den Eindruck, daß dies in ihrem Fall zutreffen würde.

«Aber, Mae, auf Turbulenzen habe ich gar keine Lust«, hatte sie gesagt, und Mae hatte erwidert, nach Lust oder Unlust werde man im Leben nie gefragt, grundsätzlich nicht. Mae liebte philosophisch angehauchtes Geplänkel — hirnlose Amateurpsychologie nannte Beatrice das im geheimen.

Sie hielt sich abseits an diesem Tag, überließ es Helene,

Mittelpunkt und gefeiertes Geburtstagskind zu sein. Helene wollte das Fest, Jahr für Jahr, und nie brachte es Beatrice fertig, ihr diesen Wunsch abzuschlagen. Obwohl sie sich gräßlich fühlte, versöhnte sie zumindest Helenes glücklicher Gesichtsausdruck mit dem Gewaltakt, den sie sich antun mußte. Helene sah oft unfroh und frustriert aus, aber an diesem Tag lächelte sie, und in ihren Augen lag ein Glanz, der sich niemals sonst zeigte. Sie trug ein geblümtes Sommerkleid, für das sie eigentlich zu alt war, aber Helene besaß überhaupt nur Kleider, die sich für Frauen geeignet hätten, die mindestens dreißig Jahre jünger waren als sie. Sie hatte überdies ziemlich viel Rouge und Lippenstift aufgelegt und eine künstliche Rose an ihrem aufgesteckten Haar befestigt. Sie hielt ein Champagnerglas in der Hand, plauderte mit den Gästen und wirkte gelöst und entspannt.

Beatrice beobachtete Kevin, der am Büffet stand und die angebotenen Speisen mißtrauisch musterte. Als exzellenter Hobbykoch stellte er hohe Ansprüche an kulinarische Genüsse, und selten fand etwas Gnade vor seinem verwöhnten Gaumen. Beatrice stellte amüsiert fest, daß er offenbar schon wieder Mängel entdeckte. Das Büffet war von einem sehr guten Partyservice in St. Peter Port geliefert worden, aber Kevin würde eine Reihe von Haaren in der Suppe finden, würde am nächsten Tag dort anrufen und sich mit spitzer Stimme beschweren.

«Hallo, Beatrice«, sagte eine rauhe Frauenstimme,»du siehst aus, als wünschtest du dich ans Ende der Welt.«

Beatrice wandte sich um. Maja war an sie herangetreten und sah sie aus spöttischen Augen an. Sie trug ein Fähnchen von einem Kleid, eine Art schwarzes Nichts, das allzuviel von ihrem makellos gebräunten Körper sehen ließ. Die langen Haare fielen offen bis zur Taille herab. Finger- und Fußnägel hatte sie schwarz lackiert, und an ihrem rechten Handgelenk klimperten mehrere dünne, silberne Armreifen.

«Hallo, Maja«, erwiderte Beatrice. Wie immer, wenn sie Maja auch nur einen Tag lang nicht gesehen hatte, fühlte sie sich für einen Moment überwältigt von der Attraktivität der jungen Frau. Maja hatte eine Ausstrahlung von Jugend und Erotik, die anderen Menschen manchmal die Sprache verschlug. Ihr Körper schien sich stets in einer Haltung von Erwartung und Provokation zu befinden, ihre kleinen, festen Brüste waren wie eine einzige Herausforderung.

«Dieses Mädchen muß lediglich eine Bewegung machen, einen Satz sagen oder auch einfach dastehen«, hatte Mae einmal gesagt,»und immer scheint sie dabei eine Aufforderung zum Beischlaf auszusprechen. Ich frage mich, was das ist! Wahrscheinlich kann sie gar nichts dafür.«

Aber sie weiß es ganz genau, dachte Beatrice nun, sie ist sich ihrer Wirkung in jedem Moment bewußt, und sie setzt sie höchst kalkuliert ein.

«Ich sollte dir jetzt zum Geburtstag gratulieren«, sagte Maja,»aber da ich annehme, du kannst keine Glückwünsche mehr hören, lasse ich es lieber. Soll ich dir statt dessen irgend etwas holen?«

«Danke, nein. Ich frage mich, wie ihr alle soviel Champagner trinken könnt. Mir ist es dafür viel zu heiß.«

«Ach, ich kann Champagner eigentlich immer trinken.«

Maja ließ ihren Blick schweifen und blieb an Kevin hängen, der sich, inzwischen schon fast angewidert wirkend, vorsichtig einige Essensproben auf einen kleinen Teller lud.»Sieht Kevin nicht wieder einmal großartig aus?«fragte sie.»Ich habe noch nie einen Mann mit einem solchen Körper erlebt. Er weiß auch genau, wie er sich anziehen muß. Diese Jeans sind einfach toll.«

Für Beatrice war eine Jeans wie die andere; es gelang ihr nie, herauszufinden, nach welchen Kriterien die jungen Leute diese Art von Kleidungsstücken als entweder völlig unmöglich oder als den letzten Schrei einstuften. Aber in jedem Fall hatte Maja recht: Kevin sah phantastisch aus. Neben ihr war er der schönste Mensch im Raum.

«Ihr beide würdet ein optisches Traumpaar abgeben«, meinte Beatrice,»aber leider kann daraus ja nichts werden.«

«Es würde wirklich allein bei der Optik bleiben«, sagte Maja,»und das wäre auf die Dauer zu wenig.«

Beatrice lachte.»Vor allem für dich. Du würdest durch eine Art Sinnkrise gehen.«

Maja stimmte in ihr Lachen ein.»Da hast du vermutlich recht. O Gott, ich fürchte, ich werde Helene gratulieren müssen. Sie wird mich wieder mit diesem Blick mustern, der mir das Gefühl gibt, ein Flittchen zu sein, und es wird mir bewußt werden, daß mein Kleid etwas offenherzig ist. Komisch, nicht? Helene ist der einzige Mensch, der mich irgendwie einschüchtern kann. Ob es daran liegt, daß sie Deutsche ist? Man sagt ja, daß die Deutschen…«

«Vorsicht«, warnte Beatrice,»sag so etwas bloß nicht zu ihr! Das könnte einen hysterischen Ausbruch heraufbeschwören. Mit ihrer Herkunft kommt sie überhaupt nicht zurecht.«

«Sie verkompliziert da etwas, was gar nicht kompliziert ist. Sie ist Deutsche, na und? Die alten Feindschaften existieren doch schon lange nicht mehr.«

«Nicht für dich und deine Generation, und das ist gut so. Aber auf Guernsey leben viele Menschen, die den Krieg noch sehr bewußt mitbekommen haben. Helene kam als Frau eines Besatzungsoffiziers hierher. Das kann sie nicht vergessen, und eine ganze Reihe von Leuten vergißt es auch nicht.«

«Sie ist inzwischen eine von hier. Niemand wirft ihr irgend etwas vor.«

Beatrice sah zu Helene hinüber, die gerade mit einem kleinen Mädchen sprach, das ihr einen Blumenstrauß überreicht hatte.

«Die Zeit damals«, sagte sie,»hat uns alle auf eine gewisse Weise traumatisiert. Jeder geht anders damit um, aber da ist manches, was nie vergessen sein wird.«

Majas Blick verriet, daß ihre Gedanken abschweiften. Beatrice kannte das schon. Die jungen Leute mochten nichts hören vom Krieg, von der Zeit der deutschen Besatzung auf den Kanalinseln. Das war lange her und hatte mit ihnen nichts mehr zu tun. Es interessierte sie nicht, was damals geschehen war, und Maja, mit ihrer Leidenschaft für Nachtclubs, Männer und Affären, interessierte es schon gar nicht.

«Ich bringe das mit Helene jetzt hinter mich«, sagte sie.»Wir sehen uns noch, Beatrice, bis nachher!«

Sie trat auf Helene zu, und deren Miene verdüsterte sich sofort.

Sie und Maja werden nie zueinanderfinden, dachte Beatrice.

Sie hatte inzwischen größte Lust, ihre eigene Geburtstagsparty unauffällig zu verlassen, da sah sie, daß Alan den Raum betrat. Den ganzen Morgen über hatte er sich noch nicht blicken lassen. Sie seufzte tief. Sie konnte nicht in dem Moment verschwinden, da ihr einziger Sohn zum Gratulieren kam.

Alan sah seinem Vater immer ähnlicher, je älter er wurde. Er hatte dunkle Haare und dunkle Augen und wirkte manchmal wie ein südfranzösischer Lebemann. Er war attraktiv, doch von den Spuren seines exzessiven Alkoholgenusses deutlich gezeichnet. Seine Haut neigte bereits zur Schlaffheit, obwohl er erst zweiundvierzig Jahre alt war, und er hatte auffallend starke Tränensäcke unter den Augen. Er war längst Alkoholiker, da machte sich Beatrice nichts vor, auch wenn sein Leben nach außen hin noch funktionierte, er seinem Beruf erfolgreich nachging und seine Sucht noch immer recht gut vertuschen konnte. Beatrice wußte, daß er einige Jahre zuvor eine Affäre mit Maja gehabt hatte — zumindest hatte sie geglaubt, es habe sich nur um eine Affäre gehandelt. Aber irgendwann war ihr klargeworden, daß Alan sich in die Geschichte mit dem jungen Mädchen viel tiefer verstrickt hatte, als er jemals zugeben würde. Er war wie besessen von dieser Frau. Beatrice konnte nicht verstehen, wie ein interessanter und gebildeter Mann sich so stark zu einer so oberflächlichen Person hingezogen fühlen konnte, denn so hübsch Maja war, kein Mann von Verstand würde ernsthaft eine längerfristige Verbindung mit ihr anstreben wollen. Maja würde sich nie zu einer treuen Ehefrau wandeln können. Sie würde dem Mann an ihrer Seite ohne Unterlaß Hörner aufsetzen — und Beatrice hoffte, daß Alan dies irgendwann erkennen und sich davon angewidert zeigen würde.

«Hallo, Alan«, sagte sie, als er vor ihr stand,»es ist Sonntag, es ist elf Uhr am Vormittag, und du bist schon wach. Soll ich das als besonderes Zeichen deiner Zuneigung zu mir werten?«

Alan hauchte ihr einen Kuß auf die Wange. Sein Atem roch stark nach Pfefferminz, aber die Bonbons, die er ganz offensichtlich aus Tarnungsgründen gelutscht hatte, konnten die darunter schwingende Whiskyfahne nicht verbergen.

«Meinen Glückwunsch zum Geburtstag, Mummie. Du siehst gut aus für dein Alter, wirklich!«

«Das ist wahrscheinlich als Kompliment gemeint. Danke, Alan.«

Sie sah, daß sein Blick suchend im Raum umherschweifte.»Maja steht dort drüben bei Helene, falls du herausfinden möchtest, ob sie da ist«, sagte sie.»Du wirst Gelegenheit haben, sie zu begrüßen.«

Alan lächelte, aber er sah dabei ein wenig gequält aus.»Ich habe gar nicht nach Maja geschaut, Mummie. Ich habe mich nur umgesehen, wer überhaupt so da ist. Jede Menge alter Damen, so scheint es. Hast du so viele Freundinnen? Oder eher Helene?«

«Es sind Bekannte. Keine von den alten Schachteln steht mir besonders nahe, aber wenn es irgendwo gratis etwas zu essen und zu trinken gibt, strömen sie in Scharen herbei. Ehrlich gesagt, könnte ich auf jede einzelne von ihnen verzichten, aber Helene braucht das Gefühl, daß ihr Geburtstag ein ganz besonderes Fest ist, und so spiele ich eben mit.«

«Hm.«

Alans Blick hatte sich für einen Moment an Maja geheftet, die noch immer mit Helene sprach. Er sah rasch zur Seite, als er bemerkte, daß seine Mutter ihn aufmerksam musterte.

«Und, Mum, wie geht es sonst so?«fragte er leichthin.»Was machen die Rosen? Ist dir eine neue, tolle Kreuzung geglückt?«

«Ich habe es schon lange nicht mehr versucht. Nein, von den Geschäften habe ich mich völlig zurückgezogen. Ich lebe in den Tag hinein und tue nur, was mir Spaß macht.«

Sie verzog das Gesicht, halb spöttisch, halb traurig.»Wenn man alt ist, wird das Leben langweilig, weißt du.«

«Aber dein Leben doch nicht, Mum!«

Alan nahm sich ein Champagnerglas von einem Tablett, das vorübergetragen wurde. Durstig trank er es sogleich in einem Zug zur Hälfte leer.»Du hast doch immer etwas vor und bist ständig beschäftigt. Ich glaube, ich habe dich kaum je untätig erlebt.«

«Das ändert nichts daran, daß die Dinge, die ich tue, langweilig sind. Aber laß uns von etwas anderem sprechen. Beruflich ist alles in Ordnung bei dir?«

«Klar.«

Sein Glas war leer, aber er hatte Glück: Das Tablett wurde zum zweitenmal an ihm vorbeigetragen, er konnte sofort Nachschub beschaffen.»Weißt du, Kontakte sind einfach wichtig in meinem Job, und damit hatte ich noch nie Probleme. Ich kenne einige recht einflußreiche Leute in London, und das erleichtert mir meine Arbeit immer wieder.«

«Wie schön. Ich freue mich, wenn alles gut läuft«, sagte Beatrice. Das leise Zittern seiner Hand, mit der er das Glas hielt, weckte Besorgnis in ihr. Er hatte am Tag seiner Ankunft auf Guernsey getrunken, an jenem Abend, als er irgendwann aus der Kneipe in St. Peter Port aufgetaucht war, eine junge Frau im Schlepptau, die er auf der Straße aufgesammelt hatte. Es hatte sie geärgert, daß ihn sein erster Weg auf Guernsey in ein Wirtshaus geführt hatte, aber wenigstens war es Abend gewesen. Freitag und Samstag war er daheim geblieben, hatte zwar abends zum Essen Wein getrunken, aber nicht auffallend viel. Jetzt war es früher Vormittag, und er hatte bereits dem Whisky zugesprochen. Vielleicht, dachte sie, hat er das in den letzten Tagen genauso gemacht, und ich habe es nur nicht gemerkt.

Dieser Gedanke deprimierte sie tief. Sein Verfall war weiter vorangeschritten, als sie geahnt hatte.

«Und… privat?«fragte sie vorsichtig.»Irgend etwas Neues?«

«Privat geht es mir wirklich gut«, erwiderte Alan sofort, beinahe etwas zu rasch und zu fröhlich, um glaubhaft zu wirken.»Mal die eine Geschichte, mal die andere. Ohne daß es jemals zu eng wird. Eine normale, bürgerliche Beziehung paßt wohl gar nicht zu mir.«

Beatrice wußte, daß er sich nach einer normalen, bürgerlichen Beziehung sehnte, aber es war klar, daß er es niemals zugeben würde.»Man sollte durchaus eine feste Bezugsperson haben im Leben«, sagte sie,»es geht dann einfach alles besser. Die sogenannte Freiheit hat nur einen trügerischen Reiz. Irgendwann besteht sie nur noch aus Leere und Überdruß.«

«Mummie…«, sagte Alan ungeduldig, aber sie unterbrach ihn sofort:»Es ist dein Leben, ich weiß. Ich habe kein Recht, mich einzumischen. Aber ich frage mich eben, ob es dir privat wirklich so gut geht, wie du behauptest. Die Tatsache, daß du bereits am Morgen schon nicht mehr ohne Alkohol auskommen kannst, deutet darauf hin, daß du vielleicht ein paar ziemlich gewichtige Probleme hast.«

«Was heißt, ich komme schon am Morgen nicht mehr ohne Alkohol aus?«fragte Alan erregt.»Ist das hier eine Party oder nicht? Schau dich mal um, außer dir trinkt jeder Champagner! Ich meine, weshalb läßt du Alkohol anbieten, wenn du dann herummeckerst, daß man ihn tatsächlich trinkt?«

«Ich meine nicht den Champagner, Alan«, sagte Beatrice sanft.»Du hattest schon etwas getrunken, als du herkamst. Ich habe es ziemlich deutlich gerochen, es kann nicht nur eine Kleinigkeit gewesen sein.«

«Mein Gott, zwei oder drei Schluck Whisky nach dem Frühstück! Ist das ernsthaft eine Katastrophe in deinen Augen?«

Beatrice schüttelte den Kopf.»Nein. Aber es kann eine werden. Du betäubst dich, Alan. Ich glaube, die Leere, von der ich sprach, hat dich bereits ergriffen, und du versuchst sie zu füllen. Aber Whisky ist ein ziemlich oberflächlicher Tröster. Er gaukelt dir vor, daß alles leichter wird, aber in Wahrheit macht er alles nur schlimmer.«

Alan kippte mit aggressivem Schwung den zweiten Champagner hinunter.»Weißt du, Mummie, ich hätte eine gute Idee, wie du dir die Langeweile des Alters vertreiben könntest«, sagte er böse.»Werde doch Prediger bei den Anonymen Alkoholikern. Du hast echtes Talent für den Job. Du wirst eine Menge gefallener Schäfchen auf den rechten Weg zurückbringen. Und…«

«Alan, du solltest…«

«Ich hätte ein geeignetes Objekt für deine Ambitionen. Es geht zwar nicht um Alkohol, aber um etwas Ähnliches.«

Er schaute sich um, wies schließlich in eine Ecke, wo Franca Palmer auf einem Stuhl kauerte und sich aus angstvollen Augen umsah. Ein Mann, der ein paar Sätze mit ihr gewechselt und sich offensichtlich um eine Unterhaltung bemüht hatte, ging gerade entnervt davon. Es war äußerst schwierig, mit Franca in ein Gespräch zu kommen.

«Franca Palmer ist tablettenabhängig, Mummie. Sie nimmt starke Beruhigungsmittel. Sie hat Angstzustände und Panikattacken. Du könntest sie wundervoll therapieren.«

Beatrice schaute zu Franca hinüber.»Wie du gerade sie aufgabeln konntest, ist mir ein Rätsel. Sie hat überhaupt nichts mit den Frauen gemeinsam, die du sonst anbringst.«

«Ich sagte dir doch, es war Zufall. Sie ist mehr oder weniger in mein Auto gefallen. Kümmere dich um sie! Vielleicht nimmt sie deine Bemühungen dankbarer an als ich.«

Er drehte sich um und ging davon, griff sich demonstrativ ein weiteres Glas mit Champagner. Er blieb bei Helene und Maja stehen und begann einen von etwas fahrigen Gesten begleiteten Monolog zu halten.

«Dummer Kerl«, sagte Beatrice inbrünstig. Es reichte ihr endgültig. Sie hatte keine Lust, noch länger auf einem Fest zu bleiben, auf dem sie sich nur ärgerte. Vielleicht sollte sie die arme Spitzmaus Franca Palmer aus ihrer Ecke ziehen und zu einem kleinen Spaziergang im Garten überreden. Es interessierte sie, mehr über die Frau zu erfahren, die Alan aufgelesen und mit nach Hause gebracht hatte. Auch wenn er sie nur zufällig kennengelernt hatte, so mußte doch irgend etwas an ihr ihn genug gefesselt haben, daß er ihr seine Hilfe angeboten hatte. Vielleicht ließe sich da etwas ausbauen. Beatrice hätte eine Menge dafür gegeben, ihren Sohn von der unmöglichen Maja Ashworth loszueisen, und sie dachte, daß es nicht schaden konnte, die junge Deutsche ein wenig unter die Lupe zu nehmen.

Außerdem wollte sie ohnehin gern nach draußen. Es herrschte herrliches heißes Sommerwetter, aber es war typisch für Helene, daß sie im Haus blieb und dadurch die Gäste zwang, ebenfalls auf die Sonne zu verzichten. Helene jammerte einfach immer über das Wetter. Es war ihr entweder zu kalt oder zu heiß, zu naß oder zu trocken. Beatrice hatte noch nie erlebt, daß sie ein einziges Mal zufrieden gewesen wäre.

Sie griff sich zwei Gläser Champagner und ging damit auf Franca zu. Sie hatte keine Lust, noch länger zuzusehen, wie Helene sich feiern ließ und Alan Maja anhimmelte. Und sich dabei betrank. In spätestens zwei Stunden würde er nicht einmal mehr wissen, wie er hieß.

4

«Ich habe heute ein interessantes Buch gelesen«, sagte Franca.»Die Geschichte eines Mannes, der die deutsche Besatzungszeit auf den englischen Kanalinseln erlebt hat.«

«So?«gab Michael zurück, müde und lustlos. Es war spät am Abend, er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Er wollte längst im Bett sein, aber er war zu erschöpft, sich aufzuraffen, die Treppe hinaufzugehen, sich auszuziehen und die Zähne zu putzen. So kauerte er am Küchentisch und hielt sich an einem Glas Rotwein fest. Franca saß ihm gegenüber, wacher und weniger frustriert als sonst. Durch das geöffnete Fenster strich die noch immer samtene Wärme der Septembernacht herein, und eine eigentümliche Stille lag über dem Haus — eigentümlich, weil sie ein wenig geheimnisvoll war und weil sie ein unbestimmtes Versprechen zu bergen schien, die Verheißung einer Veränderung.

Eine Nacht, die etwas verspricht, dachte Franca, ein dummes Gefühl von mir wahrscheinlich nur… jede Wette, daß Michael nichts dergleichen empfindet.

Es schien eine Ewigkeit her zu sein, daß sie zuletzt so beieinandergesessen hatten: müde, Wein trinkend, ohne Erwartungen aneinander. Ab und zu sprachen sie, dann schwiegen sie wieder, aber dieses Schweigen war frei von jenem lähmenden Unbehagen, das sich Francas für gewöhnlich bemächtigte. Vielleicht lag es daran, daß Michael so sichtlich müde war, daß sie keine Angriffe von ihm befürchten mußte. Seine Scharfzüngigkeit ließ nach, wenn er hart gearbeitet hatte und dann noch Alkohol trank. Die Situation erinnerte Franca an die allererste Zeit ihrer Beziehung, als die Dinge zwischen ihnen noch besser funktioniert hatten. Sie hatten manchmal abends so beieinandergesessen, damals in ihrer heruntergekommenen Studentenbude in Kreuzberg, und hatten billigen Wein getrunken, der Kopfschmerzen verursachte und eigentlich nicht schmeckte, den sie aber dennoch geliebt hatten.

Die Entfremdung zwischen ihnen war schleichend eingetreten, hatte sich genährt von Francas beruflichen Mißerfolgen, ihren daraus erwachsenden Selbstzweifeln und Depressionen. Und von Michaels Karriere, von seinem Streben nach immer mehr Geld, von der Gier, mit der er seine Ziele verfolgt und erreicht hatte. Die Schere zwischen ihnen war immer weiter aufgegangen. Irgendwann hatten sie jeder für sich auf einem Berg gestanden, ohne Verbindung zueinander, eine Schlucht zwischen sich, über die nirgendwo eine Brücke führte. Es hatte kaum noch eine Verständigung stattfinden können.

«Ich habe dir doch von der Frau erzählt, bei der ich auf Guernsey gewohnt habe«, fuhr Franca fort. Sie redete etwas zu schnell, aber sie war bemüht, den Moment einer gewissen Vertrautheit und Ruhe zu nutzen.»Beatrice Shaye. Sie lebt dort zusammen mit einer anderen alten Dame, einer Deutschen. Helene Feldmann, Beatrice spricht deshalb auch perfekt deutsch.«

«Gut für dich. Dann mußtest du dein Englisch nicht strapazieren«, meinte Michael ziemlich desinteressiert. Er gähnte.»O Gott, bin ich müde! Ich müßte längst im Bett liegen.«

«Während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg war Deutsch Pflichtfach an allen Schulen auf den Kanalinseln«, sagte Franca.»Wußtest du das?«

«Nein.«

«Helene Feldmann kam damals als Frau eines Besatzungsoffiziers nach Guernsey. Sie okkupierten das Haus, in dem Beatrice lebte. Ihre Eltern waren geflohen. Sie wuchs bei den Feldmanns auf.«

«Ich verstehe wirklich nicht, was dich an diesen Menschen so sehr interessiert«, meinte Michael.»Es sind ganz normale Leute, mit denen du nichts zu tun hast. Du wirst sie nie wiedersehen.«

«Ich werde doch wieder für dich nach Guernsey fahren.«

«Ja, aber dann wohnst du natürlich im Hotel! Dieses Zimmer in — wie heißt es gleich? Le Variouf oder so ähnlich — war eine Notlösung. Du wirst dich doch in Zukunft nicht in diese Einöde setzen!«

«In dem Buch, das ich über den Krieg auf den Kanalinseln lese«, kehrte Franca beharrlich zum Ausgangspunkt ihres Gespräches zurück,»wird Erich Feldmann auch erwähnt. Er war zunächst Major, wurde im Laufe des Krieges zum Oberstleutnant befördert. Er war zuständig für den Transport von Baumaterial auf die Insel — weißt du, alles, was gebraucht wurde, um die Befestigungsanlagen und die vielen unterirdischen Bunker zu bauen. Dabei hatte er natürlich auch mit den Zwangsarbeitern zu tun. Der Autor des Buches schildert ihn als eine völlig unberechenbare Persönlichkeit. Er konnte von guter Laune förmlich überwältigt werden und Sonder-Essensrationen an die Arbeiter ausgeben lassen, und er konnte auch von einem Moment zum anderen Menschenschinder werden, der drakonische Strafen verhängte und zur Willkür neigte, wenn seine Wut ein Ventil brauchte.«

«Von diesen Typen hat es damals doch gewimmelt«, sagte Michael.»Das Dritte Reich hat diese verkappten Sadisten aus ihren unauffälligen Schlupflöchern geholt und nach oben geschwemmt. Die konnten ihre Neigungen endlich ungehindert ausleben und bekamen noch Orden dafür verliehen. Dieser Erich Feldmann ist einer unter Tausenden.«

«Auf sein Konto gehen Erschießungen und Mißhandlungen. Eine Menge Scheußlichkeiten.«

«Ich nehme an, er lebt nicht mehr?«

«Er kam Anfang Mai 1945 ums Leben. Kurz vor der Kapitulation der Inselbesatzer. Die Umstände scheinen ein wenig unklar, aber in dem allgemeinen Chaos damals ging wohl sowieso alles unter.«

«Vermutlich haben ihn die befreiten Zwangsarbeiter gelyncht«, meinte Michael,»jedenfalls hoffe ich, daß sie das getan haben. Aber wieso machst du dir überhaupt Gedanken um so einen miesen Typen?«

«Ich habe seine Witwe kennengelernt. Ich habe die Frau getroffen, die als junges Mädchen mit ihm unter einem Dach lebte. Ich würde gern mehr über sie alle herausfinden.«

«Geh in Pressearchive. Durchstöbere Unterlagen der entsprechenden Zeit. Nicht daß diese Tätigkeit irgendeinen Sinn hätte, aber du bist beschäftigt und grübelst nicht von morgens bis abends über deine Neurosen nach. Ich habe früher immer gesagt, du solltest Journalistin werden, zumindest irgend etwas in dieser Richtung anstreben. Aber du wolltest ja…«

«Ich weiß. Ich wollte unbedingt meine eigene Entscheidung treffen, und die war falsch, und damit muß ich nun leben. Wir haben oft darüber gesprochen.«

«Man muß mit gar nichts leben. Man kann alles ändern.«

«Ich bin vierunddreißig. Ich…«

«Ich sage doch: Man kann alles ändern. Mit vierundsechzig, mit vierundachtzig — man muß es nur wollen. Verstehst du, eine Spur von Willen ist natürlich die Voraussetzung. Und Wille ist erlernbar. Kraft ist erlernbar!«

Er sah sie an, geballte Entschlossenheit in den Augen.

Diese erschlagende Stärke, dachte sie, diese gnadenlose Energie. Immer wenn er mich so ansieht, verliere ich auch noch den letzten Rest meines kläglichen Selbstvertrauens.

Auf einmal sehr erschöpft, sagte sie leise:»Darüber wollte ich gar nicht reden. Ich wollte dir eigentlich erzählen…«

«Wir sollten aber darüber reden.«

«Nein.«

«Warum nicht?«

«Darum«, sagte sie störrisch.

Michael schüttelte den Kopf. Er hatte seinen toten Punkt überwunden, war jetzt wach und klar — und damit wieder gefährlich.»Du redest manchmal wie ein kleines Kind. Nur ein Kind sagt einfach ›darum‹, wenn ihm kein Argument mehr einfällt. Herrgott noch mal, kannst du nicht einfach einmal erwachsen werden?«

«Ich…«

«Im übertragenen Sinne, Franca, bist du ein Mensch, der nur noch mit hängenden Armen dasteht. Du hast dich aufgegeben, und du tust dir entsetzlich leid. Dir ist etwas schiefgegangen, und nun hast du nicht den Mumm aufzustehen und einen neuen Anfang zu wagen. Du legst dich auf die Analytikercouch und jammerst und dröhnst dich im übrigen mit Tabletten zu, die dir vorgaukeln, die Dinge seien halbwegs in Ordnung. Du wirst darüber immer schwächer…«

«Auf Guernsey«, sagte Franca mit nun schon recht kraftloser, verzagter Stimme,»bin ich drei volle Tage ohne die Tabletten ausgekommen.«

Er wischte den Einwurf mit einer unwirschen Handbewegung vom Tisch.»Und das siehst du nun als großen Sieg an? Dir blieb nichts anderes übrig, also hast du es irgendwie durchgestanden. Mehr schlecht als recht übrigens, nach allem, was du erzählt hast. Mußtest du nicht — von meinem Geld — eine Menge zerschlagenes Geschirr in einem Restaurant bezahlen, nachdem du dort einen hysterischen Anfall bekommen hattest? Ich finde, das hört sich nicht gerade so an, als hättest du deine Abhängigkeit plötzlich in den Griff bekommen!«

«Ich hatte keinen hysterischen Anfall. Ich hatte eine Panikattacke. Das kannst du nicht…«

«Das ist doch Haarspalterei! Hysterie, Panik… Tatsache ist, daß es Tausende von Frauen gibt, die in ein Restaurant gehen und sich ganz normal benehmen können, oder? Die nicht wieder hinausgehen und die halbe Einrichtung zertrümmert hinter sich zurücklassen!«

Irgendwo hinter ihren Augen begann es zu brennen. Das erste Anzeichen dafür, daß die Tränen aufzusteigen begannen. Er übertrieb maßlos, und er war gemein in seinen Übertreibungen. Und es war nicht nur, was er sagte. Auch wie er es sagte verstärkte die bösartige Wirkung seiner Worte. Giftpfeile, mit besonderer Härte und Präzision abgeschossen.

«Ich habe nicht die ganze Einrichtung«, begann sie, brach den Satz dann aber ab. Es hatte keinen Sinn, er würde ihr nicht zuhören. Ihre Therapeutin hatte gemeint, sie lasse sich viel zu schnell in die Defensive treiben.»Verteidigen Sie sich nicht immer! Ein Kind stellt sich hin und rechtfertigt sich. Oder ein Beschuldigter vor Gericht. Beides sind Sie nicht. Sie sind eine erwachsene Frau, die nicht ständig nach allen Seiten hin Erklärungen für ihr Verhalten abgeben muß.«

Sie kennt Michael nicht, dachte sie, sie kennt seine Vorwürfe und Angriffe und Attacken nicht. Sie kennt nicht das Gefühl, an die Wand gedrückt zu werden und hilflos mit Armen und Beinen zu rudern.

«Und was deine Nachforschungen über diesen Erich Feldmann angeht«, fuhr Michael fort, und sein Ton ließ keinen Zweifel offen, wie überflüssig und sinnlos er ihr Interesse an einem toten Nazi-Offizier fand,»so werden auch sie völlig im Sande verlaufen. Es ist ohnehin Zeitverschwendung, sich damit zu beschäftigen, aber wie ich schon sagte, es hätte dich davon abgehalten, vierundzwanzig Stunden am Tag um dich selbst zu kreisen. Und wenn du tatsächlich ein Archiv oder eine Bibliothek aufsuchen würdest, dann wäre das einfach einmal etwas anderes, als immer nur im Haus zu sitzen und dich in deine Phobien gegenüber anderen Menschen und der gesamten Außenwelt hineinzusteigern. Aber soll ich dir etwas sagen? Du wirst es nicht tun! Du wirst keinen Fuß vor die Tür setzen, geschweige denn, dich bis in irgendeinen öffentlichen Ort hineinbewegen. Du kannst mich ja schon nicht einmal mehr im Labor besuchen. Du kannst manchmal nicht in den Supermarkt gehen. Du überschätzt dich maßlos in dieser Geschichte. Aber vielleicht fühlst du dich wohl dabei, Tagträume zu kreieren, die sich nie erfüllen werden.«

Er hatte sich in Wut geredet, seine Stimme war sehr laut und heftig geworden. Franca erkannte den Zorn, der in ihm schwelte, den ganzen Ärger, der sich in den vergangenen Jahren in ihm aufgestaut hatte. Natürlich hing ihm die Situation zum Hals heraus. Ein gutaussehender, erfolgreicher Mann, Besitzer eines großen zahntechnischen Labors, kulturell und gesellschaftlich interessiert — gefesselt an eine Frau, die wegen ihrer Ängste und Zwangsvorstellungen kaum noch das Haus verlassen, niemanden empfangen, ihn nirgendwohin begleiten konnte. Eine Frau, die zunehmend in Farblosigkeit versank, in immer den gleichen formlosen Klamotten herumlief, sich nicht einmal traute, ihre Haarfarbe aufzuhellen oder einen Rock zu tragen, der nicht bis zu ihren Knöcheln hinunterreichte. Er sehnte sich, das wußte sie, nach einer anderen Partnerin. Nach einer Frau, mit der er sein Leben wirklich hätte teilen können.

«Immerhin«, sagte sie leise,»bin ich wieder einmal allein nach Guernsey geflogen.«

Michael hob in einer übertriebenen Dankesgeste beide Hände zum Himmel.»Du bist nach Guernsey geflogen! Wieder einmal! Dem lieben Gott sei Dank, daß er seine Flügel schützend über dich gebreitet hat während dieser gefährlichen Exkursion. Was waren das Dramen, bis ich dich im Flugzeug hatte! Tagelang vorher Tränenausbrüche. Ausflüchte. Panik. Und dann das Fiasko, als du feststelltest, ohne Tabletten gereist zu sein. Und kein Zimmer zu haben. Jesus, ich dachte, die Welt geht unter! Dabei warst du nur nach Guernsey geflogen. Um mir einen kleinen Gefallen zu tun. Und dir«, fügte er etwas ruhiger, aber zugleich noch kälter hinzu,»im übrigen auch. Von dem Geld lebst du nicht schlecht.«

«Ich habe vier Tage ohne Tabletten gelebt. In einem anderen Land. Unter fremden Menschen. Ich habe eine schwere Panikattacke ohne Medikamente überstanden. Zählt das überhaupt nicht für dich?«

Er trank den letzten Schluck aus seinem Glas, stand dann auf. Er hatte sich unter Kontrolle, würde keine scharfen Angriffe mehr starten an diesem Abend. Doch deswegen würde er noch lange nicht freundlich und versöhnlich sein.

«Bitte verlange jetzt keine Anerkennung dafür, daß du einmal nicht so auffallend agiert hast wie sonst«, sagte er müde.»Ich kann sie dir nicht geben. Ich will dich nicht belügen, dir nichts vorheucheln, was nicht stimmt. Ich kann dich mit deinen Problemen nicht mehr verstehen. Ich kann deine Erklärungen dazu nicht mehr hören, deine Rechtfertigungen und Ausflüchte und deine winzigen Erfolgserlebnisse, die nie zu einem großen Erfolg führen, sondern Lichtblitze in einem schwarzen Tunnel bleiben. Ich kann dir nicht geben, was du erwartest. Ich kann dir nicht über die Haare streichen und sagen: ›Gut gemacht, Franca! Welch ein Fortschritt! Ich bin so stolz auf dich!‹ Ich bin nicht stolz auf dich. Auf nichts mehr, was du sagst oder tust. Ich habe Schwäche immer verachtet. Vielleicht ist das kein guter Charakterzug an mir, aber ich bin so, wie ich bin. Weshalb sollte ich so tun, als sei ich ein anderer?«

Er drehte sich um und verließ die Küche. Seine Schritte klangen auf den Steinfliesen im Flur, dann knarrte die Treppe, als er nach oben ging.

Sie starrte auf die weißlackierte Tür, die er hinter sich zugezogen hatte. Er hatte sie nicht krachend ins Schloß fallen lassen, er war jetzt zum Schluß nicht mehr zornig gewesen. Erschöpft eher und resigniert. Vielleicht hätte sie seine Wut leichter ertragen. Die Ruhe, mit der er ihr seine Verachtung erklärt hatte, schmerzte unsagbar. Er hatte nicht im Affekt geredet, hatte ihr nicht Dinge an den Kopf geworfen, die ohne allzu große Bedeutung waren, die er loswerden mußte, um ein Ventil für seine Aggression zu haben, von denen er aber später sagen — und denken — würde, er habe sie so nicht gemeint. Was er eben gesagt hatte, hatte er gemeint. Jetzt und noch Tage und Wochen später würden seine Worte stimmig sein.

Das ist der Tiefpunkt, dachte sie. Ihr war kalt, und sie empfand eine eigentümliche Ruhe. Das ist der Tiefpunkt. Schlimmer wird er mir nicht weh tun können. Schlimmer wird mir niemand mehr weh tun können.

Sie lauschte in die Stille, beherrscht plötzlich von der unsinnigen Vorstellung, an der Nacht müßte sich etwas verändert haben, nachdem soviel Unsagbares gesagt worden war. Aber es hatte sich nichts verändert. Die Uhr über dem Kühlschrank tickte. Der Kühlschrank selbst brummte leise. Irgendwo in der Ferne, es mußte einige Straßen weiter sein, startete ein Auto. Gleich darauf begann ein Hund zu bellen, verstummte aber sofort wieder. Es war eine ruhige, warme Nacht.

Vielleicht werde ich gar nicht mehr lange leben, dachte Franca. Es war ein schöner, tröstlicher Gedanke.

5

15. September 1999

Liebe Beatrice,

ich hoffe, ich falle Ihnen nicht lästig mit meinem Brief. Aber es war so schön für mich, drei Tage lang in Ihrem Haus zu wohnen — in der Stille eines bezaubernden Dorfes, in der Schönheit einer wilden, romantischen Landschaft. Ich wollte mich bei Ihrem Sohn bedanken, daß er mir an jenem für mich so schrecklichen Tag in St. Peter Port geholfen und mich mit zu Ihnen genommen hat. Ich wäre nicht mehr in der Lage gewesen, selbst etwas für mich zu organisieren. Leider kenne ich seine Londoner Adresse nicht. Würden Sie ihm meinen Dank übermitteln? Das wäre sehr nett von Ihnen.

Es war wunderbar, bei Ihrem Geburtstag dabeisein zu dürfen. Es hat mir gefallen, mit Ihnen in Ihrem großen Garten spazierenzugehen und etwas über Ihre und Helene Feldmanns Vergangenheit zu erfahren. Sie müssen eine Menge erlebt haben, wenn Sie während der ganzen Besatzungszeit auf Guernsey gewesen sind. Ich habe mich inzwischen ein wenig über die Umstände damals informiert — meine Kenntnis der Dinge beschränkte sich auf reines Schulwissen, und das war schon ziemlich verschüttet. Man weiß — wenn man sich überhaupt dafür interessiert — recht gut Bescheid darüber, was im besetzten Frankreich passiert ist, in Holland und Polen und Wo-sonst-auch-immer, aber über die Kanalinseln weiß man fast nichts. Vergessenes Land. Buchstäblich übrigens, nicht? Ich habe gelesen, daß die Alliierten sie bei ihrer Landung in der Normandie hinter sich liegen ließen, und während sie Stück um Stück von Europa befreiten, ruhten die Inseln, besetzt wie sie waren, im Meer, und niemand schien an sie und ihr Schicksal zu denken.

In einem Buch, einem Tatsachenbericht über die Zeit damals auf Guernsey, wird auch Erich Feldmann erwähnt, Helenes Mann. Er kommt in den Schilderungen nicht besonders gut weg. Es würde mich interessieren zu erfahren, wie er im Alltag war — daheim, privat im Umgang mit Helene und Ihnen.

Wenn Sie mich und mein Interesse als zudringlich empfinden, dann beantworten Sie diesen Brief einfach nicht. Mit herzlichen Grüßen, Ihre Franca Palmer.

6

22. September 1999

Liebe Franca,

ich empfinde Sie überhaupt nicht als zudringlich! Ich finde es nur eigenartig, daß Sie sich für diese Dinge interessieren. Sie sind eine junge Frau, ich schätze Sie auf Anfang bis Mitte Dreißig. Wenn ich mit jüngeren Menschen über die Zeit damals sprechen will, fangen sie an zu gähnen und blicken ganz verzweifelt drein, weil sie hoffen, ich höre möglichst rasch wieder mit den alten Geschichten auf. Bestenfalls heucheln sie höflicherweise ein Interesse, das in Wahrheit gar nicht existiert. Ich bin alt genug, um sehr genau zu merken, wann mir jemand nur etwas vorspielt.

Mit Deutschen ist das vielleicht etwas anderes; Deutsche müssen aufgrund ihrer Geschichte immer ein offenes Ohr haben für alles, was mit jener Zeit zu tun hat. Das gehört zur Sühne, die euch für Generationen auferlegt ist. Ihr könnt nicht einfach sagen: Ist mir egal, interessiert mich nicht!

Oder tun das die jungen Leute in Deutschland auch? Ich bin nie dort gewesen, habe auch keinen Kontakt zu deutschen Touristen auf Guernsey. Ich habe also keine Ahnung von derartigen Tendenzen.

Erich Feldmann wird in einem Buch erwähnt? Gut, daß seine Untaten — hoffentlich! — dokumentiert sind. Ja, ich hatte das Vergnügen, fünf Jahre im Haus eines psychisch kranken Mannes zu leben, der seine kaputte Seele nur allzu oft in unberechenbarem Sadismus auslebte.

Das heißt, eigentlich war es umgekehrt. Er lebte in meinem Haus. Er hatte es okkupiert. Er machte sich darin breit wie ein großes, wucherndes Gewächs, das allen anderen Pflanzen ringsum langsam den Lebensraum und die Luft zum Atmen nimmt. Es ging nur um seine Bedürfnisse. Immer und ausschließlich. In einer anderen Zeit wäre er vielleicht ein mittelmäßiger Beamter gewesen, der allein seine Familie und ein paar untergeordnete Kollegen tyrannisiert. Das nationalsozialistische Regime gab ihm leider eine sehr viel weiter reichende Machtfülle und eine Reihe gefährlicher Instrumente in die Hand. Es gab Menschen, für die war er Herr über Leben oder Tod. Zum Guten wie zum Schlechten nutzte er diese Position aus. Befriedigung gewann er aus beidem: daraus, den Daumen nach oben zu halten; daraus, ihn zu senken.

Ich bekam davon allerdings gar nicht viel mit. Ich erlebte ihn zu Hause, und da ich ein Kind war und das Zuhause meine Welt, schaute ich nicht sehr weit über die Begrenzungen hinaus. Dennoch gewann ich wohl im Laufe der Jahre ein recht stimmiges Bild von ihm.

Ich hätte in dieser Zeit nie genau sagen können, welche Gefühle er in mir weckte. Haß, Zuneigung, Dankbarkeit, Angst… Seine Stimmungen wechselten schneller als die Wolkenbilder über dem Meer bei stürmischem Wind. Heute glaube ich, daß Haß das vorherrschende Gefühl bei mir war. Haß auf einen Mann, der sich mir zeitweise in väterlicher Zuneigung aufdrängte, mich jedoch unweigerlich enttäuschte, wenn ich seine Sympathiebekundungen ernst nahm und mich innerlich zaghaft darauf einzustellen begann. Ja, es war schließlich wohl nur noch Haß…

Guernsey, Juni 1940

Dabei war er ihr im ersten Moment wie ein rettender Engel erschienen. Sie hatte solche Angst gehabt, war so allein gewesen und so hungrig. Zwei Tage lang waren Flugzeuge über der Insel gekreist, und ihre dröhnenden Motoren hatten Beatrice in Panik versetzt. Sie kauerte die ganze Zeit zwischen dem geblümten Sofa und dem Schaukelstuhl im Wohnzimmer, unfähig, sich zu bewegen. Selbst als Hunger und Durst fast unerträglich wurden, brachte sie nicht die Kraft auf, in die Küche zu gehen und sich etwas zu essen oder zu trinken zu holen. Ihre Beine waren wie gelähmt. Sie war den ganzen Weg von St. Peter Port bis nach Hause gelaufen, Stunde um Stunde, war lange Strecken gerannt, dann wieder langsam gegangen, keuchend, nach Luft ringend. Den Berg schließlich hatte sie auf allen vieren zurückgelegt. Sie hatte sich im Wohnzimmer verkrochen und dann haltlos zu zittern begonnen.

Die ersten Tage — wie viele waren es? Ein paar, eine Woche? war sie noch ab und zu in die Küche gekrochen, hatte sich einen Apfel oder einen Kanten Brot geholt und ein paar Schlucke Wasser getrunken, war dann sofort wieder in ihre Höhle im Wohnzimmer zurückgekehrt und hatte sich zusammengekauert wie ein kleines, verängstigtes Tier. Seitdem die Flugzeuge geflogen waren, hatte sie ihre Ecke überhaupt nicht mehr verlassen. Sie wußte, daß etwas Furchtbares passieren würde und daß niemand da war, ihr zu helfen. Sie wartete und dachte, daß sie wohl sterben würde.

Als der fremde Mann plötzlich vor ihr auftauchte, vermochte sie dies nicht einmal mehr in Schrecken zu versetzen. Fast teilnahmslos starrte sie ihn an. Er trug eine graue Uniform und

hohe, schwarze Lederstiefel. Seine Mütze hatte er abgenommen und hielt sie in der Hand. Er war sehr groß und sah eigentlich nicht gefährlich aus.

«Wen haben wir denn da?«fragte er. Er sprach englisch, aber seine Aussprache klang komisch. Bestimmt war er kein Engländer.»Wie heißt du denn, Kleine?«

Sie war nicht sicher, ob sie einen Laut hervorbringen würde. Sie war nicht einmal sicher, ob ihre Muskeln ihr so weit gehorchten, daß es ihr gelang, Zunge und Lippen zu bewegen. Aber dann vermochte sie tatsächlich zu sprechen.

«Beatrice.«

Es klang, als piepse ein kleiner Vogel.»Beatrice Stewart.«

«Aha. Beatrice. Möchtest du nicht aus deiner Ecke da herauskommen? Es ist so schwierig für mich, mit dir zu reden, wenn du halb unter einem Sessel liegst und ich kaum dein Gesicht sehen kann.«

Sie nickte und versuchte aufzustehen, aber sofort begannen ihre Beine wieder zu zittern, und sie fiel in sich zusammen. Kurzentschlossen beugte sich der Fremde zu ihr herunter. Sie fühlte sich von kräftigen Armen gepackt und in die Höhe gehoben, roch einen herben Duft, der ihr gefiel; es war wohl ein Rasierwasser, aber ein besseres, als ihr Vater immer benutzte. Der Fremde setzte sie auf das geblümte Sofa, dann verschwand er für einen Moment, und als er wiederkam, brachte er ein Glas Wasser mit.

«Trink das«, sagte er.»Ich weiß ja nicht, wie lange du schon da unten sitzt, aber du scheinst mir ziemlich entkräftet. Gibt es hier etwas zu essen im Haus?«

Sie trank das Wasser in kleinen Schlucken. Essen würde unmöglich sein, das spürte sie.

«Ich… habe keinen Hunger«, murmelte sie.

Er setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl.»Wie alt bist du denn?«fragte er.

«Elf.«

«Soso. Und wo sind deine Eltern?«

«Fort.«

«Fort? Wohin sind sie gegangen?«

Sie hatte das Glas leer getrunken. Ein paar schwache, erste Lebensgeister kehrten zurück; ihre Beine fühlten sich nicht mehr ganz so puddingweich an, und sie vermutete, daß sie demnächst wieder auf ihnen würde stehen können.

«Mit dem Schiff«, sagte sie,»mit dem Schiff sind sie weg.«

«Evakuiert. Ja, sie haben mehr als 20000 Menschen von den Inseln evakuiert«, sagte der Mann. Verwundert fügte er hinzu:»Und dich haben deine Eltern zurückgelassen?«

Beatrice hatte die ganze Zeit über nicht geweint. Sie war wie erstarrt gewesen, hatte keine Regung in sich gefühlt. Aber nun auf einmal schnürte irgend etwas ihr den Hals zu, es schien ihr, als lauere ein Strom von Tränen darauf, aus ihr herauszubrechen.

Natürlich hatten Deborah und Andrew, ihre Eltern, sie nicht zurückgelassen. Nie wäre ihnen so etwas eingefallen. Es war ein Unglück gewesen.

«Sie sind auf ein Schiff gekommen«, sagte sie,»ich nicht.«

Der Mann nickte, verständnisvoll und bekümmert.»Ihr seid in der Menge auseinandergerissen worden«, vermutete er.

Sie nickte. Nie würde sie die unüberschaubare Menge an Schiffen vergessen, nie den Hafen von St. Peter Port, der schwarz gewesen war von Menschen. Beatrice hatte gar nicht genau begriffen, weshalb sie an diesem klaren, warmen Junitag ihren schönen Garten verlassen und ein überfülltes Schiff besteigen sollte. Deborah hatte versucht, es ihr zu erklären.»Es kann sein, daß die Deutschen unsere Inseln zu besetzen versuchen. Es heißt, sie könnten schon bald hier sein. Wer nur irgend kann, soll die Inseln verlassen. Wir werden nach England gebracht.«

Beatrice hatte sich immer gewünscht, England kennenzulernen, vor allem London, denn von dieser Stadt hatte Deborah, die dort aufgewachsen war, stets geschwärmt. Aber aus irgendeinem Grund vermochte sie sich über diese unerwartete Reise nicht zu freuen. Alles war so schnell gegangen, und schon vorher hatte eine eigenartige Stimmung in der Luft gelegen. Von morgens bis abends hatte jeder Radio gehört, alle hatten ernste, besorgte Gesichter gemacht, wo immer sie zusammenkamen, blieben die Menschen stehen und redeten, redeten, redeten…

Beatrice bekam mit, daß Frankreich von den Deutschen überrollt wurde, und das machte ihr Angst, denn offenbar machte es den Erwachsenen auch Angst. Die bretonische Küste war nah allzu nah. Die Deutschen mußten gefährlich sein, soviel wurde ihr klar. Der Name Hitler geisterte wie ein böses Gespenst herum, und Beatrice fing an, sich darunter eine Art Dämon vorzustellen, eine unheilvolle Macht.

Dann hieß es, Paris sei gefallen, die französische Regierung habe kapituliert. Immer öfter schnappte Beatrice das Wort Evakuierung auf.

«Was ist Evakuierung?«fragte sie ihre Mutter.

«Es bedeutet, daß wir fortgebracht werden von hier«, erklärte Deborah,»nach England, wo wir in Sicherheit sind. Wir werden nicht mehr da sein, wenn die Deutschen kommen.«

«Was wird aus Dads Rosen?«

Deborah zuckte mit den Schultern.»Wir müssen sie zurücklassen.«

«Aber… unser Haus! Unsere Möbel! Unser Geschirr! Meine Spielsachen!«

«Wir können nur wenige Dinge mitnehmen. Aber vielleicht wird unseren Sachen gar nichts passieren während unserer Abwesenheit.«

Leise hatte Beatrice gefragt:»Werden wir zurückkommen?«

Ihre Mutter hatte Tränen in den Augen gehabt.»Natürlich kommen wir zurück. Die englischen Soldaten werden die Deutschen verjagen, und dann gehen wir in unser Haus und leben genauso wie vorher. Sieh es als eine Ferienreise, ja? Als eine schöne, lange Ferienreise.«

«Wo werden wir wohnen?«

«Bei Tante Natalie in London. Es wird dir dort gefallen.«

Tante Natalie war Deborahs Schwester, und Beatrice mochte sie nicht. Aber niemand schien daran interessiert, welche Meinung sie zu den Evakuierungsplänen hatte. Die Koffer wurden in Windeseile gepackt, und Panik sprang über die Inseln wie ein ansteckendes Virus. Beatrice mußte sich entscheiden, welches Spielzeug sie mitnehmen wollte, und sie suchte sich den Clown aus, der über ihrem Bett hing und dem ein Bein und ein Auge fehlte. Andrew düngte und wässerte die Rosen und sah dabei aus, als würde ihm jeden Moment das Herz brechen. Deborah verschloß sorgfältig das Haus, verriegelte alle Fensterläden; sie hatte ein erstarrtes Gesicht und heiße, trockene Augen.

«Mae und ihre Eltern kommen doch auch mit«,

vergewisserte sich Beatrice noch einmal.

«Jaja«, sagte Deborah, aber Beatrice war nicht ganz sicher, ob das die Wahrheit war. Es schien ihr undenkbar, nach England zu gehen, wenn ihre beste Freundin auf Guernsey bliebe. Nur mit Mae ließe sich der erzwungene Aufenthalt im fernen London vielleicht ertragen.

In St. Peter Port hatten sich, so schien es, sämtliche Bewohner der Insel versammelt. Autos und Busse parkten weit oberhalb vom Hafen, denn in den Straßen und Gassen wimmelte es von Menschen, und es war kein Durchkommen möglich.

Am dichtesten war das Gedränge vor den Schaltern der provisorisch errichteten Auskunftsbüros. Jeder wollte im letzten Moment klären, ob eine Abreise wirklich notwendig war.

«Wir dürfen einander nicht verlieren«, mahnte Andrew, nachdem sie aus dem Bus gestiegen waren, der sie von Le Variouf in die Hauptstadt gebracht hatte,»ihr beide bleibt direkt hinter mir. Beatrice, du hältst Mummies Hand ganz fest!«

Beatrice umklammerte Deborahs Hand mit aller Kraft. Ihr war ganz schwindlig von dem Gewimmel um sie herum. Nie hätte sie gedacht, daß so viele Leute auf Guernsey wohnten! Sie wurde gestoßen und geschoben, bekam Ellbogen, Taschen oder Koffer in die Rippen, und über ihren Kopf hinweg schrien, riefen, fluchten die Menschen. Deborah lief viel zu schnell, Beatrice hatte Mühe, mitzukommen. Sie hielt Ausschau nach Mae, konnte sie aber nirgends entdecken. Es wäre ein außerordentlicher Zufall gewesen, in diesem Gewühl einen bestimmten Menschen zu treffen. Irgendwie trieben sie vorwärts auf die Schiffe zu, die im Hafen vor Anker lagen,

bewacht von dem wuchtigen, dunklen Castle Cornet, das wie eine Schutzburg der Insel vorgelagert stand und doch keinen Schutz bedeutete. Viele der Schiffe sahen ziemlich ramponiert aus, teilweise waren die Segel zerrissen und nur notdürftig geflickt, und manche Reling zeigte rußgeschwärzte Einschußlöcher. Beatrice hörte, wie ein Mann einen anderen darüber befragte und zur Antwort bekam, bei den Schiffen handle es sich teilweise um solche, die gerade in Dünkirchen für die Evakuierung der von deutschen Truppen eingeschlossenen britischen Soldaten eingesetzt worden seien.»Sie haben unter heftigstem deutschen Beschuß operiert«, sagte er. Beatrice fand, das alles hörte sich zunehmend bedrohlich an. Nicht im geringsten nach einer Ferienreise. Sondern nach einem wirklich gefährlichen Abenteuer.

Sie wußte nie genau zu sagen, wie es geschehen war, daß sie die Hand ihrer Mutter verloren hatte. Sie passierten bereits die Gangway zu einem der Schiffe. Das Gedränge war nun noch dichter, völlig unüberschaubar. Die Menschen wurden rücksichtsloser; es ging darum, gute Plätze zu ergattern und auf jeden Fall mitzukommen. Ein großer, dicker Mann stieß Beatrice zur Seite, sie stolperte und wurde von Deborahs Hand gerissen. Sie schrie sofort los.»Mummie! Mummie!«

Sie hörte auch Deborah schreien, verzweifelt und schrill wie eine Katzenmutter, die ihr Junges sucht. Irgendeine Hand packte die ihre, und ein Mann rief:»Ich hab sie! Alles in Ordnung! Ich hab sie!«

Es war ein fremder Mann. Später gelangte Beatrice zu dem Schluß, daß Deborah, zu der sie sofort den Sichtkontakt verloren hatte, möglicherweise geglaubt hatte, es sei Andrew gewesen, der Beatrice festgehalten habe. In dem tosenden Lärm ringsum mochte man eine Stimme leicht verwechseln.

Jedenfalls hatte sie nicht länger gerufen, oder Beatrice hatte sie nicht gehört. Es dauerte nur wenige Augenblicke, und sie hatte die Hand des Fremden ebenfalls verloren. Sie begann zu brüllen, aber niemand antwortete, niemand beachtete sie. Von den vorwärtsdrängenden Menschen in der Menge wurde sie immer weiter zurückgestoßen, bis sie wieder am Fuß der Gangway angelangt war. Wenn sie nur versucht hätte, erneut auf das Schiff zu kommen…

Es mußte eine Art von Panikreaktion gewesen sein, die sie sich durch die Menschen am Hafen kämpfen ließ. Sie wurde von einem einzigen Gedanken beherrscht: nach Hause. Weg von all dem Lärm und Gedränge. Raus aus der Masse, von der sie fürchtete, erstickt oder zu Tode getrampelt zu werden. Dies gefühlt zu haben glaubte sie sich wenigstens Jahre später zu erinnern. Vielleicht hatte sie aber auch gar nichts gefühlt, gar nichts gedacht. Sie hatte unter Schock gestanden, hatte sich bewegt wie eine Aufziehpuppe, ohne Vernunft, ohne Verstand. Irgendwann war sie, zu Tode erschöpft, daheim angekommen, hatte mit bebenden Fingern den Ersatzschlüssel unter einem Stein im Blumenbeet hervorgeholt, die Haustür aufgeschlossen und sich verkrochen wie ein Fuchs vor der Meute aus Hunden und Jägern.

Der fremde Mann lächelte ihr aufmunternd zu.»Das ist alles kein Drama, Kleines«, meinte er,»du bist ja nun nicht mehr allein.«

«Können Sie mich zu meinen Eltern bringen?«fragte Beatrice.

Er schüttelte den Kopf.»Das geht nicht. Vorläufig kann niemand mehr von hier nach England, und umgekehrt kann niemand von England zurück.«

«Aber wann…«

«Wenn wir ganz England besetzt haben«, sagte er,»dann wird das kein Problem mehr sein.«

Eigentlich realisierte sie erst in diesem Moment, daß es ein Deutscher sein mußte, der ihr da gegenübersaß. Deshalb sprach er die englischen Worte so eigenartig aus, deshalb trug er eine Uniform. Er schien nicht das Ungeheuer zu sein, das sie sich unter einem Deutschen vorgestellt hatte. Er hatte ihr Wasser gegeben, anstatt sie sofort zu erschießen, und er schien auch nicht vorzuhaben, ihr irgend etwas zu tun. Aber eine abgrundtiefe Trostlosigkeit kam über sie; nun, da ihre Erstarrung sich löste, wurde ihr bewußt, daß Deborah und Andrew weit fort waren und daß es für eine lange Zeit keine Möglichkeit geben würde, sie wiederzusehen.

«Was soll ich nur tun?«flüsterte sie.

«Wir sind keine Unmenschen«, sagte der Mann,»dir wird nichts geschehen.«

«Aber ich will zu meiner Mummie!«

Sie hörte sich an wie ein kleines Kind, das wußte sie, und schon klangen Tränen in ihrer Stimme.

«Du mußt jetzt eine tapfere, junge Dame sein«, sagte der Mann, und zum erstenmal war ihm ein Hauch von Ungeduld anzumerken.»Es nützt nichts, wenn du weinst und klagst. Du wirst deine Eltern wiedersehen eines Tages, und bis dahin wirst du dich so verhalten, daß sie stolz sein können auf dich.«

Sie würgte die Tränen hinunter und nickte. Es war ihm vielleicht nicht bewußt gewesen, aber er hatte den entscheidenden Satz gesagt, der ihr helfen würde, die Jahre zu überstehen, die vor ihr lagen.

Sie würde sich so verhalten, daß Deborah und Andrew stolz sein konnten auf sie.

7

«Und wieso führst du einen Briefwechsel mit dieser Frau?«fragte Kevin erstaunt.»Du kennst sie doch kaum!«

«Ich weiß«, sagte Beatrice,»aber sie stellte so interessante Fragen. Sie schien wirklich etwas über mich und Helene und unser Leben wissen zu wollen. Und warum sollte ich es ihr nicht erzählen?«

Sie saß in Kevins Küche am Tisch und sah ihm beim Kochen zu. Er hatte sie zum Abendessen eingeladen, zum Dank für den Scheck, den sie ihm ausgestellt hatte, hatte ihr aber vorgeschlagen, ruhig etwas früher zu kommen und ihm bei den Vorbereitungen Gesellschaft zu leisten. Er wußte, daß sie das liebte. Sie saß gern in seiner gemütlichen, kleinen Küche mit den weißlackierten Möbeln, trank ein Glas Wein, rauchte eine Zigarette und plauderte mit ihm. Sie sagte oft, es gebe beinahe nichts, was sie so entspannend und beruhigend finde wie diese Zusammenkünfte — vor allem, wenn sie ohne Helene stattfanden.

«Diese… wie heißt sie noch? Franca? Diese Franca lebt in Deutschland und interessiert sich für die Lebensgeschichten zweier wildfremder Frauen auf einer Kanalinsel? Ich finde das höchst eigenartig. Hoffentlich hat sie nicht irgendwelche unseriösen Absichten.«

Beatrice lachte. Sie zündete sich eine Zigarette an, qualmte genießerisch.»Welcher Art sollten denn ihre unseriösen Absichten sein?«

Kevin überlegte.»Vielleicht will sie irgendwie an Geld kommen.«

«Wie sollte sie das denn? Abgesehen davon, ist bei Helene und mir wirklich nicht viel zu holen.«

Kevin schüttelte bedenklich den Kopf.»Du bist viel zu vertrauensselig. Und ein wenig naiv. Ich würde einfach einem fremden Menschen nicht zuviel über mich selbst erzählen.«

«Sie ist harmlos. Eine junge Frau, die offensichtlich ein paar schwere Probleme hat. Irgendwie erschien sie mir sehr einsam.«

«Ist sie verheiratet?«

«Ja.«

«Dann ist sie doch nicht einsam!«

«Die Tatsache, daß man verheiratet ist, besagt noch nicht, daß man nicht unter Einsamkeit leidet! Man kann in einer Ehe sehr allein sein.«

Sie runzelte die Stirn.»Wie lange willst du denn noch an diesen Tomaten herumreiben? Es wird bald nichts mehr übrig sein.«

Kevin hörte auf, die Tomaten zu bearbeiten.»Man kann mit Gemüse nicht vorsichtig genug sein«, meinte er,»du willst schließlich nicht, daß ich dich vergifte, oder?«

«Ich denke, das ist dein eigenes Gemüse, aus biologischem Anbau.«

«Schon. Aber es geht ja nicht nur um Pestizide. Sondern auch um Bakterien, die alle um uns herumfliegen.«

«Wenn man so alt ist wie ich, dann hat man so viele Bakterien überlebt, daß sie einem ziemlich egal sind«, sagte Beatrice. Sie lehnte sich zurück und betrachtete Kevin besorgt.»Du bist so unruhig in der letzten Zeit. Oft abwesend. Irgend etwas bedrückt dich.«

«Ich habe ein paar finanzielle Sorgen, das weißt du ja.«

«Immer noch?«

«Dein Scheck hat mir sehr geholfen. Ich kann dir nicht genug danken«, sagte Kevin, aber das Lächeln, das seine Worte begleitete, wirkte aufgesetzt.»Es ist alles in Ordnung.«

«Sicher?«

«Ja. Sicher. Bitte, Beatrice, schau mich nicht so eindringlich an! Und laß uns von etwas anderem reden. Wir wollen einen schönen Abend verleben. Nicht über Unerfreuliches sprechen.«

Sie akzeptierte seine Bitte.»Na gut«, sagte sie leichthin,»lassen wir das. Es ist schön bei dir, Kevin. Ich kenne niemanden, der eine so wunderbare, so blitzsaubere Küche hat wie du. Wenn ich daran denke, wie es in der von Alan in London aussieht — ich meine, sauber ist es dort auch, aber ziemlich ungemütlich und kalt.«

«Trotzdem bist du sicher froh, daß nicht ich dein Sohn bin, sondern Alan. Die wenigsten Mütter können sich damit anfreunden, wenn ihre Söhne schwul sind.«

Beatrice überlegte.»Ich glaube, sie können sich schlecht damit anfreunden, wenn ihre Söhne unglücklich sind. Und die Art und Qualität der Beziehungen, die wir eingehen, sind nun einmal ziemlich entscheidend dafür, ob wir glücklich werden oder nicht. Homosexualität bringt eine ganze Reihe von Problemen mit sich, das weißt du am besten. Nur — wie Alan lebt, das macht mir, weiß Gott, auch die größten Sorgen. Er ist nirgendwo zu Hause. Ich glaube, er hat viele wechselnde, kurze Affären, aber nichts, was einmal länger hält.«

«Vielleicht ist es genau das Leben, das er führen möchte«, mutmaßte Kevin. Er war dabei, den Kopfsalat mit der gleichen

Inbrunst zu säubern wie zuvor die Tomaten.»Und ich meine, es ist immer noch besser für ihn, ständig seine Bettgenossinnen zu wechseln, als an diesem Flittchen Maja hängenzubleiben!«

Beatrice schüttelte den Kopf.»Ich fürchte, an Maja ist er hängengeblieben. Das genau ist sein Problem. Er ist besessen von ihr. Er kann sich eine andere Frau als sie gar nicht mehr vorstellen. Das blockiert ihn für jede andere ernsthafte Beziehung. Manchmal habe ich entsetzliche Angst um ihn.«

«Ist er noch auf der Insel?«

«Er ist schon am Tag nach meinem Geburtstag nach London geflogen. Wahrscheinlich sehe ich ihn erst Weihnachten wieder.«

Kevin hielt plötzlich inne. Sein Gesicht hatte einen angespannten Ausdruck angenommen.»Hast du das gehört?«

Beatrice starrte ihn an.»Nein. Was denn?«

«Ich meine, da wäre jemand an der Haustür gewesen.«

«Schau doch nach! Im übrigen würde jeder, der dich besuchen will, einfach hereinkommen.«

«Nein«, sagte Kevin,»ich habe abgeschlossen. Bist du sicher, daß du nichts gehört hast?«

Beatrice stand auf.»Ich sehe jetzt nach.«

Sie trat in den schmalen Hausflur hinaus. Kevin hatte die Tür tatsächlich verschlossen und sogar noch die Sicherheitskette vorgelegt. Beatrice öffnete, spähte hinaus. Niemand war zu sehen; nur eine Katze rekelte sich auf der Hofmauer in der warmen Septembersonne. Unweit des Hauses ragte der runde Kirchturm von St. Philippe de Torteval in den klaren, blauen Abendhimmel. Schon lag ein rötlicher Glanz über den wilden Blumen und Büschen, die das Grundstück umwucherten. Beatrice atmete tief. Wie herrlich es hier ist, dachte sie. Sie mochte das Dörfchen Torteval im Südwesten der Insel noch lieber als Le Variouf, ihre Heimat. Von Torteval aus konnte man zu Fuß zum Pleinmont Point gehen, und die wilden Felsen dort, die schäumende Brandung, das karge, flache Gras, das der Wind auf den Klippen niederdrückte, gefiel ihr besser als die lieblichere Landschaft des Südens. Pleinmont war ihr Lieblingsort. Wann immer sie wirklich nachdenken, allein sein, mit sich selbst einig werden wollte, zog sie sich dorthin zurück.

Sie ging wieder in die Küche.»Niemand da«, sagte sie,»nur eine Katze.«

«Dann habe ich mich wohl getäuscht. Hast du wieder abgeschlossen?«

«Seit wann schließt du ab? Nein, ich habe offengelassen.«

«Man sollte heutzutage nicht allzu leichtsinnig sein. Der Diebstahl nimmt überall zu.«

Sie lachte.»Aber doch nicht auf Guernsey!«

Sie beobachtete, wie er den Salat, der offensichtlich endlich zu seiner Zufriedenheit gesäubert war, in der Schüssel anrichtete. Er schien ihr zunehmend ein wenig eigentümlich zu werden. Seine Reinlichkeitsphobie, seine Angst vor Einbrechern… Wahrscheinlich lebte er schon zu lange allein. Nach ihrer Erfahrung entwickelten die Menschen dann häufig eigenartige Marotten. Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, kreisten von morgens bis abends nur um sich. Das machte wunderlich.

Armer Kevin, dachte sie zärtlich.

Sensibel wie er war, bemerkte er, daß sie gerade über ihn nachdachte, und schon war er bestrebt, von sich abzulenken.

«Du willst dieser Frau in Deutschland wieder schreiben?«fragte er.

«Warum nicht? Im Alter wird man geschwätzig, und wenn ich jemanden habe, der mir interessiert zuhört — warum sollte ich das nicht ausnutzen?«

«Weil es vielleicht manches aufwühlt, was sich gerade erst gesetzt hat.«

Sie starrte nachdenklich dem Qualm ihrer Zigarette hinterher.

«Ich weiß nicht, ob sich irgend etwas gesetzt hat«, meinte sie dann.»Ich glaube, nicht wirklich. Es gibt Dinge, mit denen wird man nie fertig. Man verdrängt sie, aber das ist nicht dasselbe, wie damit fertigzuwerden.«

«Die Leute sagen immer, es sei schlecht, etwas zu verdrängen, aber nach meiner Ansicht ist das Unsinn«, meinte Kevin,»modisches Psychogequatsche. Warum soll man nicht manches Unangenehme verdrängen, wenn man damit besser lebt? Und ich glaube, du lebst auf jeden Fall ruhiger, wenn du den Horror von damals nicht wieder aufwärmst. Wozu auch? Du hast dein schönes, relativ sorgloses Dasein. Vergiß die Dinge, die dir irgendwann einmal das Herz schwergemacht haben.«

«Vergessen kann ich sie sowieso nicht. Es gibt Erinnerungen, die sind haltbar wie Sekundenkleber. Du wirst sie nicht los, so oder so.

Und manchmal ist es leichter, über sie zu reden, als ständig dagegen anzukämpfen, daß sie sich in den Vordergrund schieben.«

«Du mußt wissen, was du tust«, meinte Kevin nur.

Die feuerroten Strahlen der untergehenden Sonne hatten das

Fenster erreicht, flammten in die Küche. Kevin klapperte leise mit Tellern und Bestecken. Ein paar Minuten noch, dann würde die Sonne untergehen. Das sanfte, dämmrige Licht des Spätsommerabends würde sich ausbreiten.

Beatrices Gedanken schweiften ab. Sie hatte den Nachmittag damit zugebracht, an Franca einen Brief zu schreiben, aber sie hatte ihn noch nicht abgeschickt, und sie war auch nicht sicher, ob sie es überhaupt tun würde. Kevin hatte ihr Verhalten höchst befremdlich gefunden, das hatte sie gemerkt, und vielleicht hatte er recht. Sie kannte die Frau praktisch nicht, vor der sie ihre Lebensgeschichte so bereitwillig ausbreitete.

Andererseits, dachte sie, breite ich im Grunde doch gar nicht meine Lebensgeschichte vor ihr aus. Sie ist Deutsche, sie ist ein paarmal hiergewesen, sie interessiert sich für das, was vor über fünfzig Jahren auf den Kanalinseln passiert ist. Ich schildere ihr ein paar Fakten. Das ist alles.

Es stimmte nicht ganz, das wußte sie. Sie hatte ihr ziemlich genau die Gefühle und Empfindungen des verlassenen kleinen Mädchens beschrieben, das im Wohnzimmer seines Elternhauses kauerte und schreckensstarr auf das Dröhnen der Flugzeuge lauschte, die die Besatzer auf die Insel brachten. Sie hatte sie Einblick nehmen lassen in ihre Seele, diese Fremde, hatte ihr mehr von sich offenbart als ihrem eigenen Sohn. Wobei Alan wohl mit einem Gähnen auf die» verstaubten Geschichten von vor hundert Jahren«, wie er sie immer nannte, reagiert hätte.

Vielleicht sollte ich diesen Briefwechsel beenden, überlegte sie. Franca Palmer ist eine höfliche, vorsichtige Frau. Wenn ich nur die geringste Andeutung mache, daß ich genug habe, zieht sie sich sofort zurück. Ich kann jederzeit aufhören.

Vor allem sollte sie nicht soviel über die Angelegenheit nachdenken. Sie versuchte sich auf Kevin zu konzentrieren, der über die zunehmende Kriminalität in aller Welt lamentierte. Sie fragte sich, weshalb er neuerdings die fixe Idee von den Einbrechern entwickelte: Nach ihrer Kenntnis gab es bei ihm ohnehin nichts zu holen. Sie war ganz sicher, daß er in allernächster Zeit wieder in Le Variouf aufkreuzen und um einen Scheck bitten würde. Wahrscheinlich würde er diesmal wieder zu Helene gehen.

Helene hatte eine Schwäche für Kevin, der in vielerlei Hinsicht ihrem Idealbild eines jungen Mannes entsprach: Er war höflich, ordentlich, sehr gepflegt und rannte nicht, wie andere Singles seines Alters, ständig hinter verschiedenen Frauen her. Es war typisch für Helene, daß sie seine Homosexualität erfolgreich verdrängte, und die Vorstellung, wie Kevin ständig hinter verschiedenen Männern herlief, gar nicht zuließ. Ebensowenig berücksichtigte sie die Tatsache, daß Kevin bei all seiner Ordnungsliebe und Pedanterie in Wahrheit sein Leben nicht geregelt bekam, ständig über seine Verhältnisse lebte und sich, ganz anders als Alan, bei verschiedenen Menschen durchschnorrte. Helene, so dachte Beatrice, war eine Meisterin im Ausblenden von Realitäten. Sie rückte die Dinge so lange zurecht, bis sie in das Bild paßten, das sie von ihnen haben wollte.

Aber allzulange, dachte sie, wird sie Kevin sowieso nicht mehr helfen können. Egal, was sie zusammengespart hat, es dürfte langsam verbraucht sein.

Nun war sie doch wieder bei Helene angelangt in ihren Gedanken, und damit bei Franca. Sie hatte ihr am Nachmittag einen langen Brief geschrieben, hatte im Garten gesessen auf einem bequemen Korbstuhl unter dem Apfelbaum, die Füße auf einen zweiten Stuhl hochgelegt, ein Buch auf dem Schoß, das sie als Unterlage zum Schreiben benutzte. Der Tag war wieder ungewöhnlich warm gewesen, hatte aber die Färbung des Herbstes gehabt, mit einem Himmel von kühlem Blau.

Helene war fort gewesen, zum Tee bei Mae, und sie würde, so hatte Beatrice gehofft, bis zum Abend fort bleiben. Sie fühlte sich sofort freier und besser, hatte den Eindruck, leichter atmen zu können, wenn Helene nicht im Haus war.

Sie hatte den Brief an Franca mit den Worten begonnen:»Helene Feldmann hat mir mein Leben gestohlen.«

Sofort hatte sie den Satz wieder ausgestrichen, hatte ihn so lange zugekritzelt, bis niemand mehr ihn würde lesen können. Er gab viel zuviel preis, viel mehr, als sie einem Fremden anvertrauen wollte. Viel mehr, als sie überhaupt irgend jemandem anvertrauen wollte. Nicht einmal zu Mae hatte sie diesen Satz je gesagt. Genaugenommen hatte sie ihn nicht einmal gedacht. Er mochte als Empfindung irgendwo in ihr gewesen sein, aber sie hatte ihn nie formuliert, hätte es nie gewagt, dies zu tun, weil die Erkenntnis zu schrecklich war. Ein gestohlenes Leben war nicht das gleiche wie ein gestohlenes Auto — die absolute Unwiederbringlichkeit dessen, was man ihr genommen hatte, stürzte sie in Panik, drohte ihr die Luft abzuschnüren. Als sie die Worte auf dem Papier mit einer Gewalt durchstrich, die fast den Schutzumschlag des darunter liegenden Buches zerstört hätte, versuchte sie sie damit auch für alle Zeiten aus dem Gedächtnis zu bannen — wohl ahnend, daß dies nicht gelingen würde. Was einmal lebte, war nicht einfach wieder zu vernichten. Ihr dämmerte bereits, daß die verhängnisvollen Worte nun immer zudringlicher in ihrem Kopf herumgeistern würden.

Sie hatte den Brief statt dessen mit Belanglosigkeiten

begonnen, mit ein paar Floskeln über das Wetter und die schon lang anhaltende Trockenheit auf der Insel. Dann hatte sie angefangen, von damals zu berichten. Von der ersten Zeit mit Erich Feldmann im Haus ihrer Eltern.

Guernsey, Juni/Juli 1940

Er war nicht mehr fortgegangen. Er hatte sich umgesehen und mit inbrünstiger Überzeugung gesagt:»Hier ist es gut. Ausgezeichnet. Hier werde ich bleiben.«

Ein zweiter deutscher Soldat, ein ganz junger Mann noch, kam ins Zimmer. Er und der Offizier sprachen miteinander, aber da sie deutsch redeten, verstand Beatrice kein Wort. Der Mann, der sie entdeckt und aus ihrem Versteck gelockt hatte, hatte ihr gesagt, daß er Erich Feldmann heiße, und diesen für ihre Zunge schwierig auszusprechenden Namen übte sie nun in Gedanken. Erich Feldmann.

Erich wies auf sie und sagte etwas, und der andere Mann nickte. Er trat auf Beatrice zu, nahm ihre Hand und meinte:»Komm, wir sehen, daß wir etwas zu essen für dich finden.«

Sein Englisch klang fast perfekt, und er hatte warme, freundliche Augen. Beatrice folgte ihm in die Küche. Es roch nicht gut in dem Raum; die Sommerwärme staute sich zwischen den Wänden, und irgendwo säuerte Milch vor sich hin.

«Wir brauchen Eis«, sagte der Mann, nachdem er die Kühlschranktür geöffnet und angeekelt das Gesicht verzogen hatte,»hier ist alles abgetaut.«

Er stöberte in den Schränken herum, was Beatrice

schmerzhaft als einen schwer erträglichen Übergriff empfand. Deborahs Küchenschränke! Aber sie sagte sich, daß er es wohl gut meinte. Er wollte etwas zu essen für sie finden.

«Wie heißen Sie?«fragte sie leise.

«Wilhelm. Alle sagen Will zu mir. Wie heißt du?«

«Beatrice.«

«Ein hübscher Name, Beatrice. Wie nennen dich die Leute?«

«Sie nennen mich so, wie ich heiße.«

«Und dein Vater? Deine Mutter? Haben die nicht einen Kosenamen für dich?«

Etwas würgte in ihrer Kehle.»Meine Mutter…«, ihre Stimme klang eigenartig,»meine Mutter sagt oft Bee zu mir.«

«Wenn du magst, werde ich dich auch so nennen.«

Er sah sie prüfend an.»Oder ist dieser Name deiner Mum vorbehalten?«

Das Würgen in ihrer Kehle wurde stärker. Noch eine Sekunde, und sie würde in Tränen ausbrechen. Sie wollte nicht weinen, wollte nicht, daß er sie in den Arm nahm und tröstete und ihr über die Haare strich, genau das, soviel konnte sie spüren, würde er tun. Er betrachtete sie voller Mitgefühl und mit echter Wärme.

Sie schaffte es. Sie schluckte und schluckte, und die Tränen blieben aus.

«Mir wäre es lieber, Sie würden mich Beatrice nennen«, sagte sie schließlich.

Er seufzte leise.»In Ordnung. Hör zu, Beatrice, in dieser Küche gibt es nichts, was nicht entweder angeschimmelt oder verfault wäre. Ich fürchte, du mußt dich noch etwas gedulden. Aber noch vor heute abend wirst du etwas zu essen haben, das verspreche ich dir.«

Eigentlich hatte sie überhaupt keinen Hunger, aber das sagte sie nicht. Erwachsene beharrten ständig darauf, jede Menge Essen in Kinder hineinzustopfen, das war sicher bei den Deutschen nicht anders als bei den Engländern.

«Darf ich bitte hinauf in mein Zimmer gehen?«fragte sie.

Will nickte; er sah bekümmert aus. Beatrice spürte, wie leid sie ihm tat, wie sehr es ihn drängte, sie auf irgendeine Weise zu trösten.

Aber vielleicht will ich gar keinen Trost von einem Deutschen, dachte sie aggressiv. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und stieg die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer.

Dort sah alles aus wie immer. Nichts hatte sich verändert seit dem hektischen Aufbruch der Familie. Die Rosentapete, die himmelblaue Kommode mit dem Spiegel darüber, die kleinen, gerahmten Bilder, die Motive der Kanalinseln zeigten, das Bett, auf dem aufgereiht ein paar Puppen und Tiere saßen, der Schreibtisch, der weißlackierte Kleiderschrank — alles war friedlich, unberührt von den Ereignissen. Nur eine dicke Biene schwirrte mit verzweifeltem Brummen wieder und wieder gegen die Fensterscheibe. Beatrice öffnete das Fenster, und sie entschwand mit erleichtertem Summen in den blaßblauen Himmel.

Die Wärme des Sommertages flutete ins Zimmer, der Duft der Rosen, die unter dem Fenster wuchsen, breitete sich süß und sinnlich aus. Die Rosen schienen für Beatrice mehr als all die vertrauten Gegenstände um sie herum den Frieden zu verströmen, der bislang die felsensichere Grundlage ihres Lebens dargestellt hatte. Bis zu diesem Moment hatte sie nicht erkannt, wie selbstverständlich Gleichmaß und Unbeirrbarkeit jeden Tag und jede Stunde für sie bestimmt hatten. Eine Ahnung sagte ihr, daß die alte Zeit nie wiederkehren würde, aber sie versuchte sich trotzdem an die Hoffnung zu klammern, der Alptraum würde vergehen, und alles würde so sein, wie es einmal gewesen war.

Beatrice saß den ganzen Nachmittag lang auf ihrem Bett, aufrecht und mit zusammengepreßten Knien, ein braves Schulmädchen, zu dem nur die wirren Haare und das erschöpfte Gesicht mit den hungrigen Augen nicht recht passen wollten. Sie konnte hören, daß reges Leben und Treiben im Haus herrschte. Autos fuhren vor, Stimmen und Schritte hallten aus allen Zimmern. Sie empfand die deutschen Laute als bedrohlich, vor allem deshalb, weil sie nicht eine Silbe verstand und es nicht einmal mitbekommen hätte, wenn man dort draußen über sie gesprochen hätte, und darüber, was mit ihr nun geschehen sollte.

Sie widerstand dem Bedürfnis, eine ihrer Puppen oder eines der Tiere in den Arm zu nehmen. Es erschien ihr nicht mehr angemessen. Es war, als habe sich die Welt einmal um sich selbst gedreht und dabei ein völlig neues Gesicht bekommen, das mit dem alten keine Ähnlichkeit mehr aufwies. Die Kindheit war vorbei. Sie hatte jäh geendet, es hatte keinen sanften Übergang in das neue Leben gegeben. Nie wieder würde Beatrice Trost finden in der Umarmung eines Teddybären oder einer Puppe.

Am frühen Abend erschien Will und sagte, sie solle zum Essen herunterkommen. Beatrice verspürte noch immer keinen Hunger, aber sie folgte dennoch der Aufforderung. Unten in der Eingangshalle stapelten sich Kisten und Kartons. Jenseits der offenstehenden Haustür sah Beatrice einen Kübelwagen, an dem zwei deutsche Soldaten lehnten und plauderten. Sie hielten ihre Gesichter in die Abendsonne und lachten. Sie sahen nicht nach Krieg aus, sondern wirkten wie zwei junge Männer, die Ferien machten und ihre Freiheit genossen.

Es ist wie ein Spiel für sie, dachte Beatrice schaudernd.

Im Eßzimmer hatten sich Erich und drei weitere deutsche Offiziere eingefunden. Sie standen um den Tisch herum, rauchten und unterhielten sich in ihrer Sprache. Auf dem Tisch war Deborahs schönstes Porzellan eingedeckt, dazu die kristallenen Weingläser und das alte, silberne Besteck. Die Familie hatte es nur an Feiertagen benutzt, an Weihnachten, Ostern und an Geburtstagen. Doch die Deutschen schienen die wertvollen Stücke in Gebrauchsgegenstände umfunktionieren zu wollen. Oder sahen sie den Tag als einen besonderen Anlaß an? Vielleicht feierten sie ihren Sieg über die Inseln. Jedenfalls brannten die Kerzen in allen Leuchtern, und die große Glasschale auf der Anrichte war mit Wasser gefüllt, auf dem Rosen in allen Farben, leuchtend und wild, schwammen. Die Tür zum Garten stand offen, die Sonne schien auf das helle Grün des Rasens.

Zum erstenmal seit vielen Tagen waren keine Flieger zu hören, nur Vogelgezwitscher und das Zirpen der Grillen. Irgendwie fand es Beatrice irritierend, daß die Insel trotz der dramatischen Ereignisse in nichts ihr Gesicht geändert hatte.

Erich wandte sich zu ihr um, als sie das Zimmer betrat. Er lächelte.

«Da ist ja die junge Dame«, sagte er. Er sprach jetzt wieder sein akzentreiches Englisch.»Meine Herren, darf ich Ihnen Miss Beatrice Stewart vorstellen?«

Er fügte nicht hinzu — aber vielleicht hatte er zuvor davon berichtet —, daß dies in Abwesenheit ihrer Eltern ihr Haus war.

Er behandelte sie wie einen Gast, der sich etwas verspätet hatte und nun nachträglich bekannt gemacht wurde.

Die Namen der Herren rauschten an ihrem Ohr vorüber, sie verstand sie nicht, und sie interessierten sie auch nicht. Sie bekam nur mit, daß es sich offenbar bei allen um Offiziere handelte. Erich selbst wurde mit» Herr Major «angesprochen und mit großem Respekt behandelt. Er gebärdete sich ganz als Hausherr, ließ Will der, wie Beatrice vermutete, wohl eine Art persönlicher Diener war — Wein aus dem Keller holen und freigiebig ausschenken. Beatrice wußte, wie stolz ihr Vater immer auf seinen Weinkeller gewesen war, und es machte sie wütend, dabei zuzusehen, wie Erich Feldmann voller Stolz die Etiketten vorlas, als habe er für all die Genüsse gesorgt.

Ein Koch brachte das Essen. Er sah hager und blaß aus und sprach kein Wort, aber er schien etwas von seinem Handwerk zu verstehen, denn er hatte ein hervorragendes fünfgängiges Menü gezaubert. Erich hatte den Nachmittag über Unmengen von Lebensmitteln anliefern lassen. Beatrice fragte sich, ob die Deutschen derartige Güter wohl mitgebracht oder einfach nach der Besetzung der Insel beschlagnahmt hatten. Sie rührte kaum etwas an, trank nur in hastigen Zügen den Orangensaft, den Will vor sie hingestellt hatte. Die Männer unterhielten sich auf deutsch, lachten, schienen bester Laune zu sein. Erst als man beim Dessert angelangt war, wandte sich Erich wieder an Beatrice.

«Will wird dir von morgen an jeden Tag zwei Stunden Deutschunterricht geben. Ich denke, du wirst unsere Sprache rasch lernen. In deinem Alter ist man noch sehr aufnahmefähig.«

«Außerdem sieht sie nach einer sehr intelligenten kleinen Lady aus«, meinte einer der Offiziere und zwinkerte Beatrice onkelhaft zu.

«Wozu soll ich Deutsch lernen?«fragte sie.»Ich werde ja nie in Deutschland leben.«

Verblüfftes Schweigen folgte ihren Worten. Will, der gerade Wein hatte nachschenken wollen, erstarrte in der Bewegung. Dann lachte Erich, laut und — wie es Beatrice vorkam — nicht fröhlich, sondern aggressiv.

«Mein liebes Mädchen, das ist wirklich entzückend! Aber in deinem Alter fehlt wohl jeder Blick für die Realität. Du lebst bereits in Deutschland, hast du das nicht begriffen?«

«Ich…«, setzte Beatrice an, aber Erich unterbrach sie sofort:»Du mußt dir das klarmachen. Je eher, desto besser. Dies hier, diese Inseln, sind jetzt Deutschland!«

Einer der übrigen Offiziere schien den Eindruck zu haben, Beatrice sei möglicherweise durch die sich überschlagenden Geschehnisse der letzten Tage geschockt genug, und es sei nicht der Moment, ihr nationalsozialistisches Gedankengut nahezubringen.

«Die Kleine ist sicher müde«, sagte er unbehaglich,»und außerdem hat sie…«

«Sie ist müde, aber sie muß es lernen!«rief Erich. Seine Zunge schlug etwas an, und er sprach zu laut. Seine Augen hatten einen metallischen Glanz. Beatrice hatte nicht den Eindruck, daß er allzuviel getrunken hatte, aber offenbar vertrug er schon geringe Mengen Alkohol nur schlecht. Sie vermutete, daß er schwanken würde, falls er aufstand.

«Die ganze Welt«, sagte er,»wird Deutschland sein. Verstehst du? Norden, Osten, Süden, Westen — wohin du auch blickst, wohin du gehst, überall wird Deutschland sein. Hast du nicht bemerkt, mit welcher Unaufhaltsamkeit wir alle Länder besetzen? Wo ist das Volk, das uns Widerstand zu leisten vermag? Nenne es mir! Sag mir, wer stärker ist als wir!«

Er funkelte Beatrice herausfordernd an.

«Sie ist doch noch ein Kind«, sagte der andere Offizier wieder.

Erich wandte sich ihm zu mit der Bewegung eines Raubvogels, der auf ein Beutetier herabstürzt.»Das ist es ja! Gerade deshalb muß sie es begreifen, wie tief sich die Welt verändern wird, in der sie lebt. Kein Stein wird auf dem anderen bleiben. Nichts — und das muß sie wissen —, nichts wird sein, wie es war!«

Niemand sagte etwas. Der Nachhall der Worte hing im Raum. Will fuhr fort, den Wein einzuschenken. Eine Weile hörte man nur das leise Klappern der Bestecke, das Klingen der Gläser. Beatrice sah zu Erich hin. Seine Wangen hatten sich in einem unnatürlichen Rot gefärbt, und er kippte den Wein viel zu hastig hinunter. Fast körperlich empfand Beatrice die Bedrohung, die von diesem Mann ausging. Er hatte etwas Unbeherrschtes, Gewalttätiges in seiner Art. Sie hatte dies am Mittag, während ihrer ersten Begegnung, nicht gespürt, aber nun trat es deutlich hervor. Offenbar reichten schon geringe Mengen Alkohol aus, diese Seite in ihm wachzurufen.

Nach dem Essen stand Beatrice sofort auf und ging nach oben. Unten sprachen die Männer offenbar reichlich dem Alkohol zu, denn Stimmen und Gelächter wurden immer lauter. Erich konnte man mühelos unter allen anderen heraushören.

Beatrice versuchte die Stimmen aus ihrem Bewußtsein zu filtern. Sie stellte sich an das weitgeöffnete Fenster und atmete tief die Wärme der klaren, hellen Juninacht. Sie dachte an ihre Mutter und ihren Vater, stellte sich beide so intensiv vor, wie sie nur konnte. Wo mochten sie sein? Waren sie gut in England angekommen? Sicher waren sie krank vor Sorge um ihr Kind. Ob Deborah jetzt auch an sie dachte? Vielleicht trafen sich ihre Gedanken in der Mitte, die irgendwo zwischen ihnen lag. Beatrice fühlte und wußte, daß Mummie genauso wie sie in die Nacht hinausstarrte und sich nach ihr sehnte.

«Mach dir keine Sorgen, Mummie«, flüsterte sie,»ich bin schon ziemlich groß, und ich werde das alles durchstehen. Du mußt keine Angst um mich haben. Und wir werden uns sicher wiedersehen, es wird gar nicht so lange dauern.«

Halb hatte sie gedacht, daß vielleicht Will noch auftauchen und ihr eine gute Nacht wünschen würde, aber er ließ sich nicht blicken, und so zog sie sich schließlich aus und legte sich ins Bett. Sie war nicht im Bad gewesen, obwohl Wasser, Seife und Zahnpasta ihr nach der langen Zeit gutgetan hätten, aber sie hatte gefürchtet, auf dem Weg dorthin möglicherweise Erich zu begegnen, und diese Vorstellung empfand sie als allzu beunruhigend. Aber nachdem sie eine Stunde lang wach im Bett gelegen hatte, war ihr klar, daß sie es möglicherweise noch eine ganze Weile würde aufschieben können, sich zu waschen, daß sie aber keine zehn Minuten mehr dem Drang, die Toilette aufzusuchen, würde Widerstand leisten können. Sie erhob sich, tappte leise ins Bad hinüber. Von unten war jetzt kein Laut zu hören. Sie verriegelte die Tür hinter sich, lehnte sich aufatmend dagegen. Im Spiegel gegenüber konnte sie sich sehen, und sie erschrak fast vor dem bleichen Gespenst, das ihr von dort entgegenblickte. Sie hatte stark abgenommen, sah spitz und hohlwangig aus, und ihre Augen waren riesig und angsterfüllt. Die langen, dunkelbraunen Haare hingen strähnig und struppig über ihre Schultern, wirkten stumpf und glanzlos. Hatte das lange weiße Nachthemd auch früher schon so um ihren Körper geschlottert?

Da sie nun schon einmal hier war, wusch sie sich auch, putzte ihre Zähne, kämmte die Haare. Sie sah besser aus danach und fühlte sich auch so, und während sie sich noch prüfend im Spiegel musterte, kam ihr wie eine Eingebung die Erkenntnis: Ich sollte nicht hier bleiben. Es ist mein Haus, aber jetzt haben sie es, und dieser Mann ist gefährlich. Ich muß sehen, daß ich wegkomme.

Der Gedanke war so erschreckend, daß er ihr Herzklopfen verursachte und sie sich für einen Moment am Waschbecken festhalten mußte. Sie hatte das Haus bislang trotz allem noch als sicheren Hort in dem Chaos empfunden, und die Vorstellung, diesen Halt aufzugeben, machte ihr Angst. Aber es stimmte nicht, das Haus war nicht länger ihre Heimat. Es befand sich in der Hand des Feindes und konnte zur Falle werden. Wichtig für sie waren jetzt Menschen — Menschen, die sie liebten und die sie beschützen würden.

Es gab genügend Freunde auf der Insel; das Problem war nur, daß sie nicht wußte, wer von ihnen noch hier war. Sie hatte die Menschenmassen im Hafen gesehen, und es erschien ihr zweifelhaft, ob sich auch nur noch eine einzige englische Katze auf der Insel aufhielt. Am Ende war sie die letzte, die…

«Das findest du nur heraus, indem du dich auf die Suche machst«, sagte sie sich leise.

Deborah hatte gemeint, Mae wäre mit ihrer Familie ebenfalls evakuiert worden, aber sicher hatte sie es nicht wissen können, und vielleicht waren Mae und ihre Eltern noch auf Guernsey. Die Sehnsucht nach der vertrauten und geliebten Freundin überwältigte sie beinahe. Sie würde keine Zeit mehr verlieren.

Sie huschte in ihr Zimmer zurück, zog sich in Windeseile an.

Sie wählte ihre Schuluniform, denn die würde sie brauchen, wenn sie wieder zum Unterricht ginge. In einen kleinen, mit Leinen überzogenen Koffer, der ursprünglich ihren Puppen gehört hatte, packte sie etwas Wäsche, eine lange Hose und einen Pullover. Das mußte genügen, und außerdem konnte sie sich auch Sachen von Mae leihen. Wenn Mae nur da war! Sie sandte ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel, während sie lautlos ihre Zimmertür öffnete, den Gang entlangschlich und sich vorsichtig die Treppe hinunterbewegte, geschickt die knarrenden Stufen überspringend, von denen sie genau wußte, wo sie sich befanden.

In der kleinen Eingangshalle atmete sie tief durch. Sie wollte sich noch ihren runden, kleinen Matrosenhut von der Garderobe angeln, da vernahm sie hinter sich ein Geräusch, und als sie sich umdrehte, sah sie Erich, der in der Tür zum Wohnzimmer aufgetaucht war und dort schweigend stehenblieb.

Im Zimmer hinter ihm lag hell glänzend das Mondlicht und machte ihn zum schwarzen Schatten ohne Gesicht. Beatrice konnte ihn atmen hören, und sie roch den Alkoholdunst, den er verströmte. Sie selbst sagte ebenfalls kein Wort, und so standen sie einander einige Momente lang schweigend gegenüber. Dann machte der Schatten eine Bewegung, und Licht flammte auf.

Beatrice blinzelte. Erichs Gesicht war geisterhaft bleich und von einem feinen Schweißfilm bedeckt. Er sah ganz anders aus als noch drei Stunden zuvor beim Abendessen, als seine Wangen hektisch gerötet gewesen waren und er so feist und unangenehm gewirkt hatte. Nun, da selbst seine Lippen alle Farbe verloren hatten, schien er beinahe ätherisch, kraftlos und krank.

«Ach, sieh an«, sagte er. Die Worte kamen ein wenig schleppend, aber Beatrice hatte schon gemerkt, daß er englisch viel langsamer sprach als deutsch.»Willst du verreisen?«

Da der kleine Koffer neben ihr stand, hatte es wenig Zweck zu behaupten, sie habe nur im Garten den Mond betrachten wollen.

«Ich möchte zu meiner Freundin Mae«, sagte Beatrice.

«Zu deiner Freundin Mae? Und wo, bitte schön, wohnt die?«

«Weiter unten im Dorf.«

«Hm. Ist sie nicht evakuiert worden?«

Genau dies wußte Beatrice nicht zu sagen, aber sie behauptete mit einiger Kühnheit:»Nein. Ist sie nicht.«

Die Blässe in seinem Gesicht vertiefte sich, seine Stimme jedoch klang ruhig.

«Aha. Und warum wolltest du bei Nacht und Nebel zu ihr schleichen? Warum hast du nicht bis morgen gewartet und mit mir darüber gesprochen?«

Sie wußte nicht, ob sie es wagen konnte, die Wahrheit zu sagen, aber sie dachte, daß sie im Grunde nicht viel zu verlieren hatte.»Ich war sicher, Sie hätten mich nicht gehen lassen.«

Er lächelte. Sein Lächeln war nicht böse, aber es war ohne Freundlichkeit.

«Du warst dir sicher? Und da dachtest du, vorsichtshalber trickse ich den Alten einfach aus und mache mich bei Nacht und Nebel davon.«

«Mae und ihre Eltern sind wie eine Familie für mich. Ich…«

Er lächelte noch immer.»Hast du dir einen Moment lang überlegt, welche Sorgen ich mir gemacht hätte?«

Hätte er sich Sorgen gemacht? Vielleicht, dachte sie. Er hatte ihr gegenüber vom ersten Moment an eine gewisse Fürsorglichkeit an den Tag gelegt, und sie konnte nicht wirklich etwas gegen ihn sagen, abgesehen davon, daß ihr seine aggressiven Reden beim Abendessen nicht gefallen hatten. Sie schwieg.

Der Schweiß auf Erichs Stirn verdickte sich zu kleinen, glitzernden Tropfen. Es schien ihm ziemlich schlecht zu gehen.

«Du sollst wissen, Beatrice, daß ich mich für dich verantwortlich fühle«, sagte er,»genaugenommen fühle ich mich nicht einfach verantwortlich, ich bin es. Ich habe dich zitternd und verzweifelt im Wohnzimmer gefunden, verlassen von aller Welt, und seit diesem Moment bin ich für dich verantwortlich. Du magst dich recht erwachsen fühlen, und du bist zweifellos reif für dein Alter — aber du bist ein Kind, und du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert. Deine Eltern sind nicht mehr da, und wie ich schon sagte, es wird eine ganze Zeit dauern, bis du sie wiedersiehst. Für diese Zeit — und ich möchte, daß du das wirklich verstehst — bin ich der Mensch, zu dem du gehörst. Eine Art Vormund. Das bedeutet…«

Er machte eine kurze Pause und sprach dann sehr langsam und betont weiter:»Das bedeutet, du tust, was ich dir sage. Und du lebst in meinem Haus. Unter meiner Aufsicht. Ist das klar?«

«Ich habe Sie verstanden«, sagte Beatrice kühl.

Die Hoffnung, Mae wiederzusehen, zerfiel. Es schien ihr nicht ratsam, ein zweites Mal zu versuchen, das Haus zu verlassen.

«Vielleicht wirst du noch einmal weglaufen wollen«, sagte Erich, so als habe er ihre Gedanken ahnen können,»aber du sollst wissen, daß das überhaupt keinen Sinn hat. Dies hier ist eine Insel, wie du weißt. Und sie ist voller deutscher Soldaten. Es gibt keinen Winkel, den wir nicht kontrollieren. Das heißt, ich hätte dich im Handumdrehen gefunden. Du hast keine Chance, Beatrice, und das solltest du dir wirklich klarmachen.«

«Warum wollen Sie unbedingt, daß ich hierbleibe?«fragte Beatrice.»Wenn ich doch auch bei meiner Freundin wohnen könnte?«

Er runzelte die Stirn, und sie begriff, daß er für sein Empfinden genügend Erklärungen gegeben hatte, daß er keine weiteren Diskussionen wünschte.

«Ich habe entschieden, daß du hierbleibst«, sagte er,»daran wird sich nichts ändern, und je eher du dich mit diesem Gedanken anfreundest, desto einfacher ist es für uns. Und nun gehst du hinauf, ziehst deine hübsche Schuluniform aus und legst dich in dein Bett. Du siehst müde aus.«

Und du siehst krank aus, dachte Beatrice aggressiv, aber sie erwiderte nichts mehr, sondern drehte sich um und stieg, ihren albernen Puppenkoffer in der Hand, wortlos die Treppe hinauf und verschwand in ihrem Zimmer. Sie schloß die Tür nachdrücklich hinter sich. Ein paar Augenblicke später konnte sie Erichs schwere Schritte hören. Er ging ins Bad und dann in das Schlafzimmer von Beatrices Eltern, und dies war der Augenblick, der unter all den bedrohlichen, befremdlichen, erschreckenden Momenten dieses Tages Beatrice am heftigsten weh tat: zu hören, wie der deutsche Offizier ohne zu zögern Deborahs und Andrews Schlafzimmer besetzte und zu seinem eigenen machte.

Knapp drei Wochen später traf Helene Feldmann auf Guernsey ein.

Beatrice hatte sich in diesen drei Wochen allmählich von dem Schock erholt, in dem sie zunächst gefangen gewesen war, aber noch immer erschien ihr jeder einzelne Tag wie ein Alptraum, dessen Schrecken vor allem darin bestand, daß man wußte, er würde am nächsten Tag immer noch da sein, und im nächsten Monat auch noch. Nichts deutete darauf hin, daß die Deutschen vorhatten, die Inseln wieder zu verlassen, oder daß irgend etwas geschehen würde, was sie dazu zwingen könnte. Beatrice hatte vierzehn Tage lang auf das Erscheinen der britischen Armee gehofft, auf die RAF, auf die Marine, auf Scharen tapferer Männer, die kommen und die Nazis zum Teufel jagen würden. Aber nichts geschah, und sie begann zu ahnen, daß man sich — zumindest vorläufig — in London mit dem Stand der Dinge arrangiert hatte.

Den Deutschen war der Ruf vorausgeeilt, gründlich, schnell und sehr systematisch zu arbeiten, Dinge anzupacken und mit Tatkraft und Energie durchzuführen. Die verbliebene britische Bevölkerung auf den Kanalinseln sah mit Staunen, wie die Besatzer diesem Ruf mit äußerster Zuverlässigkeit gerecht wurden.

Das Straßenbild hatte sich rasch verändert. Abgesehen davon, daß es von deutschen Uniformen wimmelte, wehten auch Hakenkreuzfahnen von allen öffentlichen Gebäuden, und vereinzelt waren bereits englische Straßennamen oder die Namen größerer Häuser oder Anlagen in deutsche Bezeichnungen umgetauft worden.

Castle Cornet, die beeindruckende Festung, die das Bild des Hafens von St. Peter Port prägte, hieß nun» Hafenschloß«. Aus dem malerischen Ort Torteval wurde» Spitzkirchen «wegen des weithin sichtbaren, eigentümlichen Kirchturms. Es gab die Auflage, keine anderen Namen als die neuen zu verwenden, aber darum scherte sich niemand aus der Bevölkerung, und letzten Endes konnten dies die Deutschen auch nicht wirklich kontrollieren.

Als schwieriger für die Engländer erwies sich die umgehend erfolgte Neuregelung des Straßenverkehrs. Man fuhr nicht mehr links, sondern — wie auf dem europäischen Festland üblich rechts. Dies führte zu einiger Verwirrung, auch unter den Deutschen, weil die Beschilderung der Straßen nun nicht mehr stimmte und nicht so rasch ausgetauscht werden konnte. Allerdings besaßen ohnehin nur noch wenige Inselbewohner ein Auto; viele waren beschlagnahmt worden, man brauchte einen Sonderschein, um seinen Wagen behalten zu dürfen, und in der Regel wurden diese Scheine nur an Besitzer landwirtschaftlicher Fahrzeuge oder Lieferautos ausgegeben. Das Benzin war rationiert und nur auf Marken erhältlich, ebenso die Nahrungsmittel.

Die Deutschen erließen ein generelles Versammlungsverbot, das selbst harmloseste Vergnügungen wie Bridgeclubs einschloß, und verhängten eine abendliche Ausgangssperre. Der kurz vor der Besatzung völlig zusammengebrochene Schulbetrieb sollte, so hieß es, so rasch wie möglich wieder aufgebaut werden, und vorrangiges Unterrichtsziel würde das Erlernen der deutschen Sprache sein.

Der Juli war heiß und trocken und trostlos. Beatrice unternahm keinen Versuch mehr, das Haus zu verlassen. Sie kümmerte sich um die Rosen, was für sie ein Gefühl der Verbindung mit ihrem Vater bedeutete und was von Erich mit einem herablassenden Lächeln bedacht, aber immerhin geduldet wurde.

«Es ist nicht die Zeit für Blumen und ähnlichen Firlefanz«, sagte er,»es ist Krieg. Aber letztlich habe ich nichts dagegen, daß du dich um den Garten kümmerst, Beatrice.«

Er bestand, wie angekündigt, darauf, daß sie ihren täglichen Deutschunterricht bei Will nahm. Beatrice haßte es, Deutsch zu lernen, aber sie sagte sich, daß die Lage auf der Insel noch eine ganze Weile andauern konnte und daß es für sie nur von Vorteil sein würde, die Sprache des Feindes zu verstehen.

Immerhin kam sie mit Will gut zurecht. Zwischen ihnen entwickelte sich rasch eine Freundschaft, er wurde zu einem Ersatz für den großen Bruder, den Beatrice sich immer gewünscht hatte.

Sie hatte gehofft, er werde bei ihr und Erich im Haus wohnen, aber offensichtlich hielt Erich dies nicht für angemessen, denn er hatte Will in der kleinen Dachwohnung über der Scheune untergebracht, in der immer die Hilfskräfte geschlafen hatten, die Andrew hin und wieder beschäftigt hatte. Deborah hatte den weißgetünchten Raum mit den schrägen Wänden gemütlich eingerichtet; vor dem Gaubenfenster bauschten sich geblümte Vorhänge im warmen Sommerwind; das Bett konnte tagsüber als Couch benutzt werden, es gab einen runden Tisch und einen Korbsessel, ein Waschbecken in der Ecke mit einem Spiegel darüber und eine kleine elektrische Kochplatte mit einem Wasserkessel. Will hatte gesagt, er werde zum Unterricht ins Haus hinüberkommen, aber Beatrice hatte erklärt, es sei ihr lieber, wenn sie zu ihm kommen dürfe. Will akzeptierte dies, ohne nachzufragen, und Beatrice vermutete, daß er ihre Beweggründe begriff: Sie hatte so die Möglichkeit, sich wenigstens ein paar Schritte weit aus Erichs Bannkreis zu entfernen. Erich gegenüber gab sie an, sich im Haus nicht konzentrieren zu können, und dagegen konnte er kaum etwas einwenden, da dort tatsächlich ständig Offiziere aus und ein gingen, Lagebesprechungen stattfanden, Autos vorfuhren und ein reges Leben und Treiben herrschte.

Also kletterte Beatrice jeden Nachmittag um drei Uhr die steile Leiter in Wills Reich hinauf, um sich dort bis fünf Uhr mit den verwirrenden und komplizierten Regeln der deutschen Sprache herumzuschlagen. Will erwartete sie stets mit einer großen Kanne Tee und ein paar aufmunternden, humorvollen Worten. Er hätte nie riskiert, in Beatrices Gegenwart ein böses Wort über Erich fallen zu lassen, aber sie hatte rasch erkannt, daß er seinen Vorgesetzten nicht mochte. Die Rolle als Angehöriger einer Besatzungsarmee schien ihm ebenfalls nicht zu behagen, doch auch diesen Umstand würde er sich hüten, in Worte zu fassen.

Ein einziges Mal wagte er sich in die Nähe des brisanten Themas; das war, als Beatrice einige Minuten zu früh zum Unterricht erschien und ihn beim Schreiben eines Briefes antraf. Er hatte gerade den Stift sinken lassen und sah zum Gaubenfenster hinaus in den heißen, blütenschweren Julitag, der ein Gewitter in sich trug und Menschen und Tiere mit einer eigenartigen Spannung erfüllte.

Auf seinem Gesicht lag eine Traurigkeit, die Beatrice eigenartig tief berührte.

«Will«, sagte sie vorsichtig.

Er zuckte zusammen, denn er hatte sie nicht kommen hören.

«Ach, da bist du ja schon«, sagte er. Seine Züge entspannten sich, er war wieder der fröhliche Will, der es verstand, andere Menschen aufzumuntern. Aber Beatrice hatte die andere Seite an ihm gesehen.

«Ich setze gleich das Teewasser auf«, sagte er.»Oder meinst du, es ist heute zu heiß für Tee?«

«Ich hätte lieber etwas kaltes Wasser«, erwiderte Beatrice. Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu:»Sie haben so traurig ausgesehen, Will. Was ist los?«

Er füllte zwei Gläser mit kaltem Wasser und stellte sie auf den Tisch.»Ich habe gerade einen Brief an meine Eltern geschrieben. Und irgendwie…«

Er zuckte mit den Schultern.

«Haben Sie Heimweh?«fragte Beatrice.

Will zögerte, dann nickte er.»Ich vermisse meine Familie. Aber du weißt ja nur zu gut, wie das ist.«

Sie sahen einander ernst an, das elfjährige Mädchen und der erwachsene Mann, beide in diesem Moment durch einen Schmerz verbunden, der sie über die Mauern zweier Sprachen, zweier Nationalitäten und eines Krieges hinweg unerwartet stark einte. Schließlich sagte Beatrice leise:»Aber ich habe es mir nicht ausgesucht, von meinen Eltern getrennt zu werden. Sie haben…«

«Ach, so einfach ist das nicht, Beatrice. Wenn du denkst, ich habe mir irgend etwas an dieser Situation, so wie sie ist, gewünscht…«

Er klang plötzlich so bitter, wie sie ihn noch nie gehört hatte.»Du mußt nicht denken, daß alle deutschen Soldaten glücklich sind mit dem Verlauf der Dinge«, sagte er hastig, aber dann schien ihm plötzlich klarzuwerden, daß er sich viel zu weit vorwagte, denn er lächelte und sagte:»Aber das sind nicht die Themen, mit denen wir uns beschäftigen sollten. Du bist hier, um Deutsch zu lernen. Zeigst du mir deine Hausaufgaben? Ich bin sicher, du hast wieder einmal nicht einen Fehler gemacht!«

Er hatte Angst vor Erich, das spürte Beatrice. Alle hatten Angst vor Erich. Die vielen Soldaten, die täglich aus und ein gingen, legten eine Devotheit an den Tag, die Beatrice selbst ohne Verständnis der Sprache auffiel. Niemand schien auch nur im mindesten bei ihm anecken zu wollen. Beatrice vermutete, daß die Vorsicht, mit der alle ihn behandelten, mit der völligen Unberechenbarkeit seines Wesens zusammenhing. Sie hatte nie einen Menschen gekannt, dessen Stimmungen sich so häufig und so grundlegend im Laufe eines Tages veränderten. Manchmal hatte sie das Gefühl, völlig verschiedene Personen vor sich zu haben, aber sie merkte schließlich, daß Erichs Stimmungsschwankungen einer gewissen Regelmäßigkeit unterlagen.

Am frühen Morgen war er müde, sah schlecht aus, sprach kaum ein Wort und rührte auch nichts vom Frühstück an, trank nur starken, schwarzen Kaffee und rauchte hektisch die erste Zigarette des Tages. Dann jedoch stieg seine Laune rasch, und auch sein Aussehen verbesserte sich. Seine Wangen bekamen Farbe, seine Augen glänzten, er wurde redselig, lebhaft und legte fast eine gewisse Herzlichkeit an den Tag. In dieser Phase vermochten ihn selbst Hiobsbotschaften nicht zu erschüttern, und wer immer zu ihm kam, wurde mit Zigaretten und Schnaps reichlich beschenkt.

Am frühen Nachmittag ging es wieder bergab, aber er war jetzt nicht müde und unbeweglich wie am Morgen, sondern von einer vibrierenden Nervosität. Er konnte nicht still sitzen, lief hierhin und dorthin, rauchte wie besessen, drückte halbgerauchte Zigaretten aus, um sich in der nächsten Sekunde eine neue anzuzünden. Er fuhr jeden an, der ihm in den Weg kam, und manchmal zitterten seine Hände so stark, daß er kaum eine Kaffeetasse zum Mund führen konnte. Gegen fünf — Beatrice hätte die Uhr danach stellen können — überschritt er seinen Tiefpunkt und verwandelte sich langsam in den allzu redseligen, auf eine unnatürliche Weise gutgelaunten Mann, den Beatrice vom ersten Abend her noch in Erinnerung hatte. Von sechs Uhr an nahm er einige Aperitifs mit seinen Gästen — er lud jeden Abend Offiziere zum Essen ein —, und später trank er Wein, auf den er rasch mit einem puterroten Kopf und etwas ausufernder Gestik reagierte. Er lachte, redete, verkündete seine Theorien zur Lage der Welt, aber irgendwann, meist sehr rasch und ohne wirklichen Übergang, fiel er in sich zusammen, wurde von einer bleiernen Müdigkeit überwältigt, tauchte in eine Melancholie, die an eine Depression grenzte. Seine Haut wurde fahl, die Lippen grau. Manchmal hörte ihn Beatrice durch alle Räume wandern und irgendwelche Dinge vor sich hin murmeln, die sie jedoch nicht verstand.

Eines Tages, Ende Juli, sagte Will zu Beginn der Deutschstunde mit einem geheimnisvollen Lächeln und gesenkter Stimme:»Heute wird Mrs. Feldmann erwartet. Sie soll gegen fünf Uhr hier sein.«

Beatrice hatte bis zu diesem Moment nicht gewußt, daß Erich verheiratet war.»Wirklich?«fragte sie überrascht.

Will nickte.»Es heißt, sie wollte eigentlich gar nicht herkommen, aber Major Feldmann hat darauf bestanden. Na ja, er hat vermutlich keine Lust, die ganze Zeit solo zu sein.«

Beatrice brauchte ein paar Momente, um sich von ihrem Schrecken zu erholen. Nicht, daß es ihr auch nur einen Tag lang behagt hätte, mit Erich allein zu sein, aber die momentane Situation begann ihr zumindest ein wenig vertraut zu werden. Die unbekannte Mrs. Feldmann flößte ihr Angst ein. Vielleicht entpuppte sie sich als Tyrannin, die ihr das Leben noch schwerer machen würde.

«Ach, Will«, seufzte sie.»Wie ist Mrs. Feldmann denn?«

«Ich kenne sie nicht«, sagte Will bedauernd.»Ich habe nur gehört, sie soll sehr schön sein.«

Das entmutigte Beatrice noch mehr. Sie stellte sich eine elegante, mondäne Frau vor, die wie eine Filmdiva hereingerauscht käme und sich über alles, was sie vorfand, mokieren würde. Wahrscheinlich war ihr nichts fein genug, und sie würde als erstes eine Reihe von Veränderungen einführen. Ein Mann wie Erich, der ganz offensichtlich eine bedeutende Stellung auf der Insel innehatte, mußte auch eine auffallende Frau haben.

Sie war ohnehin unglücklich und deprimiert an diesem Tag. Die ganze Zeit hoffte sie, irgendeine Nachricht ihrer Eltern werde sie erreichen, aber weder ein Brief noch eine Karte trafen ein, und das Telefon klingelte schon gar nicht, ganz gleich, wie beschwörend sie es auch anstarrte. Will sagte zwar, das habe nichts zu bedeuten, denn es bestehe für niemanden eine Möglichkeit der Kontaktaufnahme zwischen England und den Kanalinseln, aber Beatrice hoffte entgegen aller Vernunft, es werde ihren Eltern gelingen, der Tochter eine Nachricht zukommen zu lassen. Daß dies nicht geschah, machte sie trübsinnig. Noch immer vermochte sie nicht zu weinen über die grausamen Veränderungen in ihrem Leben, aber der Schmerz, der ihre Seele ausfüllte, wurde stärker. Zudem hatte Erich sie beim Frühstück heftig angefahren, er hatte in deutsch auf sie eingeredet, und sie hatte ihn nicht verstanden, was ihn aufgeregt hatte, weil sie nach seiner Ansicht viel zu langsam Fortschritte machte.

«Was tut ihr eigentlich, Will und du, jeden Tag in den zwei Stunden, die du da drüben bei ihm bist?«schrie er. Seine übliche morgendliche Lethargie wich diesmal einer heftigen Wut.»Spielt ihr Mensch ärgere dich nicht, oder was?«

Er starrte Beatrice finster an.»Es ist sowieso nicht gut, daß du dich allein mit einem jungen Mann in dessen Wohnung aufhältst, darauf hätte ich längst kommen müssen. Von jetzt an kommt er hier herüber, und das Ganze findet unter meiner Aufsicht statt, verstanden?«

Zum Glück war er mittags guter Laune, und als Beatrice sich verabschiedete, um zu Will hinüberzugehen, schien er seine Anordnung vom Morgen vergessen zu haben, denn er nickte nur und sagte gedankenabwesend:»Ja, geh nur. Sei fleißig, hörst du? Ich setze große Erwartungen in dich.«

Sie wußte nicht, was er mit dem letzten Satz gemeint hatte, aber sie empfand ihn als beunruhigend.

Sie sprach Will auf Erichs unberechenbare Launen an, und Will entgegnete vorsichtig, dies falle vielen Menschen an ihm auf und sei ein häufiges Gesprächsthema auf der Insel.

«Zum Glück weiß ich ungefähr, wann ich ihm aus dem Weg gehen muß«, sagte Beatrice, und leise setzte sie hinzu:»Wenn es nur endlich vorbei wäre!«

Sie quälten sich beide durch den Nachmittag. Will wirkte unkonzentriert, und Beatrice machte wesentlich mehr Fehler als sonst. Will drückte ihr zum Schluß ein Buch in die Hand und sagte, sie solle versuchen, bis zum nächsten Tag das erste Kapitel darin zu lesen.

«Geh jetzt hinüber«, sagte er,»und mach dir nicht zu viele Sorgen. Vielleicht ist Mrs. Feldmann ja ganz nett.«

Beatrice hatte keine Lust, sich auch nur einem der beiden Feldmanns auszusetzen, und so verschwand sie gleich im Garten, zog sich an ihren Lieblingsplatz zurück, an eine hohe, weiße Steinmauer, vor der ihr Vater etwas Wein angebaut hatte. Rebstöcke hatten nicht die besten Kulturbedingungen auf den Inseln, aber wenn man sie unterstützte, ihnen windgeschützte, sonnige Plätze ermöglichte, gediehen sie recht gut. Die weiße Mauer, die Andrew selbst gebaut hatte, reflektierte das Licht und die Wärme, und sie hatten immer eigene Trauben ernten können. Aber auch hier schritt die Verwahrlosung voran, das konnte Beatrice bereits sehen. Das Unkraut kroch aus der Erde und breitete sich nach allen Richtungen aus.

«Armer Garten«, flüsterte sie,»aber ich kann nichts tun. Ich kann nicht genug tun.«

Sie blätterte das Buch auf und versuchte, die erste Geschichte zu lesen, aber ihr fehlten noch zu viele Vokabeln, und sie schaffte es nicht, einen Sinn in den Sätzen zu entdecken. Entnervt und frustriert gab sie schließlich auf. Wahrscheinlich werde ich diese Sprache nie mehr lernen, dachte sie müde.

Die Hitze machte sie schläfrig, sie döste ein wenig vor sich hin, und vielleicht schlief sie sogar für einige Momente ein. Sie schrak zusammen, als sie Laute hörte, die sie im ersten Augenblick nicht identifizieren konnte, aber dann erkannte sie, daß unweit von ihr eine Frau weinte, und stand auf, um nachzusehen.

Die Frau kauerte jenseits der Mauer auf dem steinernen Rand einer Vogeltränke, in die schon seit Wochen niemand mehr Wasser gefüllt hatte und in der dicke Moospolster aus allen Ritzen quollen. Das weiße Sommerkleid, das die Frau trug, würde grüne Flecken haben, wenn sie aufstand. Sie hatte den Kopf in die Hände gestützt, ihr Schluchzen kam stoßweise, verebbte, wurde dann wieder stärker. Ihre blonden Haare glänzten rötlich im Licht der Abendsonne. Sie waren zu einer komplizierten Hochfrisur aufgesteckt, aber einige Nadeln hatten sich bereits gelöst, und lange, gewellte Strähnen

fielen der Frau über die Schultern.

Instinktiv wußte Beatrice sofort, daß sie Mrs. Feldmann vor sich hatte.»Hallo«, sagte sie schüchtern.

Mrs. Feldmann hob ruckartig den Kopf und starrte Beatrice an. Ihr Gesicht war naß von Tränen, die Augen stark gerötet. Vielleicht wirkte sie dadurch jünger, als sie war, auf jeden Fall schien sie Beatrice sehr jung zu sein, kaum halb so alt wie Erich. Ihr Kleid war elegant und aus gutem Stoff gearbeitet, aber sie hatte nichts Mondänes an sich. Sie sah aus wie ein junges, trauriges Mädchen, das sich verlaufen hat und nicht weiß, wie es den Weg nach Hause finden soll.

«Hallo«, erwiderte sie und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Sie schien aufstehen zu wollen, gleichzeitig jedoch nicht die Kraft dazu zu finden.»Du mußt Beatrice sein.«

Ihr Englisch war akzentfreier als das ihres Mannes, aber sie stockte häufiger, um die richtigen Worte zu suchen.»Mein Mann hat mir von dir erzählt. Ich bin Helene Feldmann.«

Sie kramte in ihrer Rocktasche, fand ein zerknittertes Taschentuch und putzte sich damit die Nase.»Es tut mir leid«, sagte sie,»ich dachte, hier im Garten sei niemand. Du mußt einen eigenartigen Eindruck von mir haben.«

Ihre Stimme zitterte. Sie würde jeden Moment erneut in Tränen ausbrechen.

«Ich habe dort hinter der Mauer gesessen«, sagte Beatrice,»und versucht, dieses Buch zu lesen.«

Sie hielt das Buch hoch, das Will ihr gegeben hatte.»Aber ich verstehe fast nichts. Ich versuche, Deutsch zu lernen, aber irgendwie komme ich einfach nicht voran.«

«Du wirst es schaffen«, sagte Helene,»in deinem Alter lernt man schnell. Manchmal denkt man, es geht nicht weiter, aber plötzlich öffnen sich die Schleusen, und man weiß nicht, weshalb man vorher ein Problem hatte. Du wirst sehen, bald träumst du in deutsch.«

Beatrice empfand diese Vorstellung nicht unbedingt als tröstlich, aber sie verstand, daß es Helene gut mit ihr meinte. Die Befürchtungen, die sie hinsichtlich der fremden Mrs. Feldmann gehegt hatte, zerrannen, aber auch die für Sekunden aufgeflammte Hoffnung, jemand gefunden zu haben, der sie in die Arme nehmen und nach ihrem Schmerz fragen würde, verging so schnell, wie sie gekommen war. Helene mochte eine erwachsene Frau sein, aber sie hatte die Konstitution eines Vogels, der aus dem Nest gefallen ist. Ihr Trost würde sich auf ein hilfloses Bemühen um die richtigen Worte beschränken, und noch während sie nach ihnen suchte, würden ihre Augen immer darum betteln, selbst getröstet zu werden.

Helene begann schon wieder zu weinen; sie stammelte eine Entschuldigung deswegen, aber offenbar vermochte sie ihre Tränen nicht einzudämmen. Beatrice wartete einen Moment, dann setzte sie sich vorsichtig neben sie auf den moosigen Rand der Vogeltränke, und schließlich legte sie ihr schüchtern den Arm um die Schultern.

Diese Bewegung genügte, Helene den letzten Rest an Selbstbeherrschung verlieren zu lassen. Laut aufschluchzend, barg sie ihren Kopf an Beatrices Hals.

«Es wird alles gut«, sagte Beatrice, ohne an die Wahrheit dieses Satzes zu glauben und ohne zu wissen, worin Helenes Schmerz bestand. Helene weinte und weinte, aber allmählich wurde sie ruhiger, ihr Körper zitterte nicht mehr, sie schien irgendeine Art von Hoffnung zu schöpfen, ohne daß sie vermutlich hätte zum Ausdruck bringen können, worin diese Hoffnung bestand. Sie fand in der elfjährigen Beatrice den Halt, nach dem sie gesucht hatte, solange es sie gab.


8

«Und so ist es geblieben bis heute«, sagte Beatrice, und Kevin, der gerade die Schüssel mit dem Gemüse auf den Tisch stellte, sah sie überrascht an.

«Was ist los?«

«Nichts. Ich habe nur gerade an Helene gedacht. An unsere erste Begegnung zwischen all den Rosen unseres Gartens.«

«Ich habe dir schon mal gesagt, du solltest nicht soviel an die Vergangenheit denken.«

«Eigenartig«, sagte Beatrice versonnen,»es fallen einem so viele kleine Details ein, wenn man sich wirklich erinnert. Dinge, die man jahrzehntelang nicht im Gedächtnis hatte. Plötzlich sind sie wieder da.«

«Und was ist dir eingefallen?«fragte Kevin.»Welches wichtige Detail?«

«Mir ist das Kleid wieder eingefallen, das Helene an jenem Tag trug. Ich sehe es genau vor mir. Lange Zeit hätte ich es nicht beschreiben können, aber jetzt weiß ich wieder, wie es aussah.«

Kevin brachte die Kartoffeln.»Und was ist daran so besonders?«

«Nichts. Ich finde diesen Prozeß des Erinnerns nur sehr interessant. Helenes Kleid damals sah genauso aus, wie ihre Kleider heute noch aussehen: romantisch, verspielt, jungmädchenhaft. Sie ist von diesem Stil nie abgewichen. Als sei sie stehengeblieben auf einer Stufe und habe nicht weitergekonnt.«

«So ist sie eben.«

«Mir ist noch etwas anderes eingefallen. Helene lag in meinen Armen und weinte, und irgendwann, nach einer unendlich langen Zeit, versiegten ihre Tränen, und sie löste sich von mir. Und dann sagte sie zu mir…«

«Was sagte sie?«fragte Kevin, als Beatrice stockte.

«Sinngemäß sagte sie etwas in der Art, ich sei ein sehr tapferes kleines Mädchen. Ich sei stark, und ganz sicher würde ich einmal mein Leben in beide Hände nehmen und… und furchtlos angehen, was immer auf mich zukomme.«

«Kluge Frau«, sagte Kevin.»Sie hatte recht. Und das, obwohl sie dich kaum kannte.«

Beatrice starrte in die Kerzenflamme, deren Schein unruhig an den Wänden zuckte.»Sie sagte noch etwas: Sie sei nie so gewesen wie ich und werde nie so sein. Und es werde ihr nie möglich sein, ein Leben so zu führen, wie sie es wolle.«

Sorgfältig richtete Kevin Gemüse, Kartoffeln und Fisch auf den vorgewärmten Tellern an.

«Typisch Helene«, sagte er,»aber das ist auch nichts Neues. So redet sie doch immer.«

«Aber damals«, beharrte Beatrice,»sagte sie es zum erstenmal. Und ich hätte gewarnt sein müssen. Sie jammerte und lamentierte nämlich nicht einfach, so wie sie es heute ständig tut. Es war Neid in ihrer Stimme, blanker, häßlicher Neid. Später habe ich ihn nie wieder herausgehört, da hatte sie ihn unter Kontrolle, genauer gesagt: Sie hatte eine Strategie gefunden, mit ihm umzugehen. Sie hatte einfach beschlossen — unbewußt vielleicht, aber deshalb nicht weniger unnachgiebig —, mein Leben dem ihren anzugleichen. Indem sie mich mit all ihren Ängsten und Sorgen und Hunderten von Vorsichtsmaßnahmen ebenso einengte, wie sie sich selbst immer eingeengt hatte, war sie in der erleichternden Situation, eine Genossin gefunden zu haben. Indem sie mich ebenfalls zum Opfer machte, hat Helene ihre eigene Opferrolle hinnehmen können. Und an jenem Tag im Garten hat sie begonnen, mich zu einem Teil ihres unerfüllten, beengten, unglücklichen Lebens zu machen.«

Kevin schenkte Wein nach und setzte sich Beatrice gegenüber an den Tisch.»Wenn du das damals hättest überblicken können«, sagte er,»was, nach meiner Ansicht, völlig unmöglich ist für ein elfjähriges Mädchen — aber wenn du tatsächlich ihren Neid hättest erkennen und die richtigen Schlußfolgerungen daraus ziehen können —, was hätte es geändert? Wo hättest du eine Möglichkeit gehabt, etwas anders zu machen?«

«Nirgends«, sagte Beatrice.»Komm, laß uns essen, bevor es kalt wird.«


9

Franca wachte mitten in der Nacht auf, weil sie einen Alptraum gehabt hatte. Sie konnte sich nicht sofort erinnern, worum es gegangen war, aber sie war naß am ganzen Körper, ihr Herz galoppierte, und in ihr war ein eigentümliches inneres Zittern. Sie lag auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit, und dann plötzlich drängten die Bilder des Traumes in ihr Gedächtnis, und sie stöhnte leise auf. Sofort bewegte sich Michael neben ihr, und sie hielt den Atem an, um ihn nicht zu wecken. Er hatte einen leichten Schlaf, zudem ein untrügliches Gespür für Francas psychische Befindlichkeit. Er würde sofort merken, daß es ihr schlecht ging, würde mit gereizten Vorwürfen reagieren oder mit Ratschlägen, bei denen sie sich noch elender fühlen würde. Inzwischen hatte sie einen Punkt erreicht, an dem sie lieber mit dem Schornsteinfeger über ihre Probleme gesprochen hätte als mit ihrem Mann — obwohl nach ihrem Verständnis eine Ehe auch deshalb eingegangen wurde, um in Krisenzeiten füreinander da zu sein.

Vielleicht dauerte aber auch ihre Krise einfach schon zu lange. Das jedenfalls hätte Michael entgegnet, wenn sie ihm ihre Definition des Begriffs Ehe dargelegt hätte.

«Natürlich steht man in Krisen zueinander«, würde er sagen,»aber wenn eine Krise über Jahre dauert, kann der Partner nicht mehr die Anlaufstelle sein. Dann muß das Krisenopfer irgendwie lernen, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen.«

Er gebrauchte diesen Ausdruck gern. Sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen stellte für ihn offensichtlich den Inbegriff von Stärke und Entschlossenheit dar. Michael war der Ansicht, dieses Kunststück selbst schon mindestens ein dutzendmal in seinem Leben praktiziert zu haben, wohingegen Franca die Überzeugung hegte, daß Michael erstens in Wahrheit noch nie in einem Sumpf gesteckt hatte und daß es zweitens diesen vielbeschworenen Trick überhaupt nicht gab.

Man braucht Hilfe im Leben, dachte sie, immer wieder braucht man Hilfe.

Doch dann überlegte sie, daß es falsch war, wenn sie» man «sagte: Es mußte» ich «heißen. Sie brauchte Hilfe. Michael hatte sie noch nie gebraucht.

Lautlos erhob sie sich, wagte nicht, nach ihrem Morgenmantel zu suchen, aus Angst, Michael dadurch zu wecken, sondern huschte einfach aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Sie fröstelte; naß geschwitzt wie sie war, würde sie sich eine Erkältung holen, wenn sie nicht aufpaßte. Im Wohnzimmer fand sie eine Wolldecke, sie hüllte sich darin ein und kauerte sich in den Sessel am Fenster. Jenseits der schräggestellten Jalousien verriet noch kein Lichtschein die Nähe des Morgens. Die Nacht war schwarz und tief, eine sehr dunkle Oktobernacht, von der sie wußte, daß sie nach Feuchtigkeit roch, nach Laub, das bald fallen würde, nach Abschied und nach einer Kälte, die lange dauern würde. Sie zitterte unter der dicken, weichen Wolle der Decke, ein inneres Zittern, das aus dem Gefühl tiefsten Alleinseins rührte.

Sie hatte am Vormittag Beatrice einen Brief geschrieben, sie war auf ihre Schilderung der ersten Begegnung mit Helene Feldmann eingegangen und auf ihre Beschreibung Erichs, seiner Gemütsschwankungen und Unberechenbarkeiten.»Könnte es sein, daß er Psychopharmaka eingenommen hat?«hatte sie geschrieben.»Beruhigungsmittel, Aufputschmittel, Antidepressiva — je nach Bedarf? Wie Sie es darstellen, klingt es sehr danach. Vermutlich hat er ständig höhere Dosierungen gebraucht und legte in den Phasen dazwischen immer extremere Verhaltensweisen an den Tag.«

Dann hatte sie erwogen, auch etwas über sich zu schreiben über die Alpträume, die sie so häufig heimsuchten, und über ein paar Dinge, die sich in ihrem Leben ereignet hatten und ihr keine Ruhe ließen, aber sie hatte es nicht fertiggebracht und den Brief schließlich mit ein paar Floskeln beendet. Sie hatte nicht den Eindruck, daß Beatrice irgend etwas von dem, was sie zu sagen hatte, interessieren würde. Beatrice hatte bereits eine Menge von sich erzählt, und vielleicht würde sie es auch weiterhin tun, weil sie offensichtlich manches loswerden mußte. Genausogut mochte es sein, daß sie plötzlich aufhörte, sich nicht mehr rührte, sich völlig zurückzog. Ganz sicher aber hatte sie keinerlei Neigung, sich innerhalb einer brieflich geführten Diskussion ihrer, Francas, Probleme anzunehmen. Neben all dem, was sie erlebt hatte, mußten sie ihr ohnehin allzu banal vorkommen.

In ihrem Alptraum, dessentwegen sie nun naß und zitternd und mit hämmerndem Herzen wie ein krankes Tier zusammengekrümmt unter ihrer Decke saß, hatte sie wieder vor einer Schulklasse gestanden, hatte sich einer tobenden Meute gegenübergesehen, die sich mitleidlos an ihrer Qual weidete.

Michael allerdings, wenn sie ihm früher davon erzählt hatte, war der Ansicht gewesen, sie übertreibe in ihrer Interpretation maßlos die tatsächlichen Begebenheiten.

«Das war keine Meute, die sich an deiner Qual geweidet hat! Das waren ein paar Kinder, die es satt hatten, still auf ihren Plätzen zu sitzen und einem Unterricht zu folgen, der ihnen zum Hals raushing — dein Unterricht ebenso wie der deiner Kollegen übrigens. Nur daß sie spürten, sie konnten es sich bei dir leisten, Randale zu machen, und bei den anderen Lehrern eben nicht. Kinder sind da wie junge Hunde. Sie probieren einfach, wie weit sie gehen können. Und du allein entscheidest, wo die Grenze verläuft.«

Sie hatte oft darüber nachgedacht, ob das stimmte, ob sich die Grausamkeiten ihrer Schüler nicht gegen sie als Person richteten, sondern jeden getroffen hätten, der sich nicht dagegen zu wehren vermochte. Im Endergebnis kam es ohnehin auf das gleiche hinaus: Sie war das Opfer. Und ein Opfer erweckt selten Mitleid. Im günstigsten Fall kommt es mit milder Verachtung davon. Im schlimmsten Fall fordert es immer neue, sadistische Quälereien heraus. Von irgendeinem Zeitpunkt an war es nur noch ein Sport unter den Schülern gewesen, herauszufinden, ob es irgendeine Grausamkeit geben könnte, die Franca Palmer entweder in den Selbstmord oder fort von der Schule treiben könnte.

Sie hatten nichts ausgelassen: Sie hatten die Fahrstuhltür blockiert, wenn sie aussteigen wollte, und sie gezwungen, wieder hinunterzufahren. Sie hatten ihr Tinte auf ihre Kleider gespritzt oder Zettel mit obszönen Sprüchen auf die Rückseite ihrer Kostümjacke geheftet. Sie hatten die Reifen ihres Autos zerstochen und Hundekot in ihre Tasche gefüllt. Sie hatten sie als grotesk häßliche Fratze an die Tafel gezeichnet, und irgendwann war es ihr nicht mehr möglich gewesen, in ihren Unterrichtsstunden auch nur einen einzigen Satz zu sagen, der nicht in Geschrei und Getöse unterging. Es hatte Beschwerden gegeben von Kollegen wegen des Lärms, der aus den Räumen drang, in denen sie unterrichtete. Einmal hatte jemand den Direktor informiert, und dieser war überraschend erschienen. Er mußte, dachte Franca später, den Eindruck gehabt haben, mitten in einen Bürgerkrieg hineinzuplatzen. Die Schüler hatten mit Fliegern geworfen und Papierkugeln mit Gummiringen abgeschossen, sie waren auf Tischen und Bänken herumgesprungen, einige hatten auf der Tafel herumgekritzelt und einander laut johlend mit dem nassen Schwamm traktiert. Kreidestücke flogen aus dem geöffneten Fenster, und zwei Mädchen hatten sich vor dem Spiegel über dem Waschbecken aufgebaut und tuschten sich die Wimpern. Irgendwo inmitten des Chaos stand Franca und sprach über die englische Revolution im 17. Jahrhundert; sie probierte in dieser Zeit ständig verzweifelt neue Strategien aus, mit ihrer katastrophalen Situation fertig zu werden, und an jenem Tag hatte sie sich für die Taktik entschieden, das Geschrei zu ignorieren und ihren Unterricht zu halten, als sei alles in bester Ordnung. Geschrei und Drohungen ihrerseits hatten sich als völlig wirkungslose Versuche erwiesen, Ordnung zu erzeugen, und sie fühlte sich ohnehin zu erschöpft, um weiterzukämpfen.

Sie hatte den Direktor zunächst nicht bemerkt, aber urplötzlich hörten die Schüler auf, durcheinanderzubrüllen, weder Kreide noch Papierkugeln flogen noch durch die Luft, und die Mädchen vor dem Spiegel ließen die Bürsten mit der Wimperntusche sinken und schlichen etwas betreten an ihre Plätze. Franca dachte keine Sekunde lang, etwas in ihrem Verhalten könnte diesen Umschwung herbeigeführt haben; sie war schon lange nicht mehr fähig, an irgendeine Kraft in sich zu glauben oder an ein Wunder, das eintreten könnte. Dann spürte sie auch schon einen Luftzug und wandte sich um. Sie wußte, daß sie blaß wurde, als sie den Direktor sah.

Der Direktor wartete, bis völlige Stille eingetreten war — was in wenigen Sekunden geschah —, dann donnerte er los:»Was geht hier vor?«

Niemand erwiderte etwas. Die meisten Schüler blickten zu Boden, zu feige, um auch nur zu grinsen. Der Direktor genoß hohen Respekt an seiner Schule.

«Wer ist der Klassensprecher?«fragte er.

Der Klassensprecher meldete sich und schien sich äußerst unbehaglich zu fühlen. Der Direktor fragte erneut nach den Hintergründen des Radaus, aber natürlich wußte der Sprecher darauf auch keine Antwort zu geben.

«Es… es ist kurz vor dem Wochenende«, brachte er schließlich hervor, und nun grinsten doch einige.

Der Direktor wandte sich an Franca, die mit hängenden Armen vor ihrem Pult stand und den Eindruck hatte, nach Schweiß zu riechen.»Kommen Sie in der Pause bitte zu mir, Frau Kollegin«, sagte er, ehe er sich zur Tür wandte und grußlos den Raum verließ.

Der Direktor war später nicht unfreundlich gewesen; er hatte sich eher besorgt, mitfühlend gegeben, und Franca hatte sich gedemütigt gefühlt wie nie zuvor in ihrem Leben. Offenbar hatte sich schon eine Reihe von Kollegen beschwert, und sie galt längst als schwerwiegendes Problem in der Schule. In taktvollen Worten, aber unmißverständlich, riet ihr der Direktor, einen Psychologen aufzusuchen, da es doch Gründe geben müsse für diese andauernden Schwierigkeiten.

Noch heute, unter ihrer Decke im Wohnzimmer kauernd, erinnerte sich Franca, daß sie sich wie geohrfeigt gefühlt und in innerer, wie üblich gut verborgener Empörung gedacht hatte: Warum ich? Warum kommt niemand auf die Idee, diese halbirren Monster auf die Couch zu schicken?

Sie entsann sich, wie grausam sie die nicht vorhandene Solidarität ihrer Kollegen empfunden hatte. Wie oft hatte sie um Beistand gefleht, in Worten und Blicken. Sie hatte von besonders schwierigen Schülern gesprochen, und ihre Augen hatten um einen Kommentar gebettelt, in der Art:»Oh, ich weiß, was Sie meinen. Ich habe selber ziemliche Probleme mit…«

Aber einen solchen Satz hatte sie nie gehört. Im Gegenteil, es schien ihnen allen eine gewisse sadistische Freude zu bereiten, ihr das Gegenteil von dem zu sagen, was sie hören wollte. Sie beteuerten gern, gerade mit diesem Schüler, mit dieser Klasse nie irgendwelche Schwierigkeiten zu haben. Sie hatten überhaupt alle nie Schwierigkeiten. Sie merkte, wie stark und überlegen sie sich ihr gegenüber fühlten, wie sehr sie ihr Ego an ihr stärkten, anstatt ihr selbst einmal ein wenig Kraft zu geben. Ihr war, schmerzhaft und überdeutlich, die Wahrheit einer Behauptung aufgegangen, die sie stets als Klischee abgetan hat: Wer am Boden liegt, der wird auch noch getreten.

Es stimmte. Sie traten sie nach Herzenslust. Sie nahm Beruhigungsmittel, um am Morgen die Schule überhaupt betreten zu können. Sie fing an, unter Schlafstörungen und Asthma zu leiden. Sie konsultierte einen Arzt wegen ihrer Magenschmerzen, und der stellte eine heftige Entzündung fest.

«Sie werden bald ein Geschwür haben«, warnte er,»Sie müssen Streß reduzieren, Aufregungen meiden.«

Ihr klang noch heute ihr eigenes bitteres Lachen in den Ohren. Der Arzt hätte ihr auch vorschlagen können, den Mond vom Himmel zu holen und ihn sich im Wohnzimmer aufzuhängen. Streß und Aufregung steigerten sich von Tag zu Tag. Sie verlor kiloweise Gewicht, weil sie kaum noch essen konnte, und was sie aß, erbrach sie meist wieder. Es dauerte erstaunlich lange, bis Michael merkte, wie ernst Francas Lage war. Das heißt, dachte sie nun unter ihrer Decke, erstaunlich war das gar nicht. Es war ganz typisch. Neben Michael kann man verrecken, ohne daß er etwas merkt.

Irgendwann einmal — soweit sie sich entsann, war es bei einem Frühstück gewesen — hatte er sie plötzlich durchdringend gemustert und dann in beinahe vorwurfsvollem Ton konstatiert, sie sei recht dünn geworden.

«Um nicht zu sagen: mager. Was ist los? Machst du eine Diät?«

Er hatte natürlich die Geschichte mit den zerstochenen Reifen mitbekommen und dann und wann auch die Tintenflecken auf ihren Kleidungsstücken bemerkt, aber er kannte nicht das ganze Ausmaß der Schikanen, denen Franca täglich ausgesetzt war.

«Mir geht es nicht gut«, hatte sie gemurmelt. Es hatte ein Schultag vor ihr gelegen, und im Spiegel hatte sie gesehen, daß sie geradezu grün war um die Nase.

«Wenn es dir nicht gutgeht, mußt du einen Arzt aufsuchen«, sagte Michael, und dann hatte er sie schärfer angesehen und hinzugefügt:»Du siehst wirklich schlecht aus. Plagst du dich mit irgendeiner verschleppten Geschichte herum?«

«Vielleicht eine Erkältung.«

«Geh zum Arzt«, hatte er wiederholt und war dann aufgesprungen, um seinen Kaffee im Stehen zu Ende zu trinken, denn er war wieder einmal spät dran gewesen.

Sie bewegte sich vorsichtig im schützenden Kokon der Wolldecke. Die augenblickliche Situation erschien ihr sinnbildlich für ihr ganzes Dasein: zusammengekauert, zittrig, eine Hülle über dem Kopf, die sie schützte vor der Welt. Woher, fragte sie sich, nehmen die Menschen die Kraft, die man braucht zum Leben? Wo liegt die geheime Quelle, aus der sie schöpfen? Woher hat die kleine Beatrice die Kraft genommen, mit der sie den grausamen Zusammenbruch ihrer einst festgefügten Welt ertragen hat?

Beatrice, das hatte sie deren Briefen entnommen, besaß eine bemerkenswerte Fähigkeit, sich den Gegebenheiten anzupassen, ohne dabei ihre Persönlichkeit zu verleugnen. Sie biederte sich nicht an, redete niemandem nach dem Mund, aber sie lehnte sich nicht gegen Unausweichliches auf und machte das Beste aus den Dingen, wie sie waren. Sie lernte Deutsch, um den Feind zu verstehen, und sie baute ihre Freundschaft zu Will aus, um einen Verbündeten zu haben, der ihr irgendwann einmal behilflich sein konnte. Sie versuchte, Erich aus dem Weg zu gehen, da sie ihn instinktiv als Gefahr erkannt hatte, aber sie achtete darauf, einigermaßen gut mit ihm auszukommen. Angst und Sorge um ihre Eltern machte sie mit sich selbst ab. In ihren Briefen war nicht die Rede davon, daß sie gejammert und geklagt hätte — wobei Franca den Eindruck hatte, daß sie noch wochenlang in einer Art Schockzustand gefangen gewesen war. Am meisten schien sie tatsächlich gelitten zu haben unter der Selbstverständlichkeit, mit der Erich das Haus ihrer Eltern für sich beschlagnahmt hatte. Sie hatte sich einem unablässigen Übergriff ausgesetzt gesehen, und alles in ihr hatte sich dagegen empört.

Franca versuchte, sich ihre Empfindungen vorzustellen, wenn Fremde ihr Haus besetzt hätten und darin agieren würden, als wäre es ihr eigenes. Die Verletzung, das war ihr klar, ging über das bloße Vergreifen an fremdem Eigentum hinaus. Die fremden Stiefel, die über die Teppiche trampelten, die fremden Hände, die sich an Türen und Fenstern zu schaffen machten, die fremden Münder, die aus den Gläsern tranken, verletzten etwas in der Seele, das vielleicht nie wieder wirklich heilte. Ein Urvertrauen mochte dahinschwinden, der Glaube an die Unversehrtheit des eigenen Territoriums.

Sie hörte leise Schritte auf der Treppe und hielt den Atem an. Licht flammte auf und blendete sie. Michael stand in der Tür. Er präsentierte seine makellose Figur in einem engen Slip und mit nacktem Oberkörper. Und er blickte äußerst verwundert drein.

«Franca«, sagte er,»was tust du denn hier?«

Sie war sich des eigenartigen Anblicks, den sie bieten mußte, nur zu bewußt. Hockte wie ein Indianer unter ihrer Decke und starrte grübelnd vor sich hin. Sie wußte nicht sofort etwas zu erwidern und verzog nur das Gesicht zu einem entschuldigenden Lächeln.

«Es ist halb drei«, sagte Michael,»wieso bist du nicht im Bett?«

«Ich war im Bett«, erwiderte Franca.

«Ich weiß. Und warum bist du aufgestanden? Warum sitzt du einfach da und starrst vor dich hin? Du könntest doch auch lesen oder fernsehen.«

Natürlich, dachte sie und spürte einen Anflug von Gereiztheit, wenn man schon nicht schläft, sollte man wenigstens etwas tun, und wenn es der Blick in die Glotze ist.

«Ich habe nachgedacht«, erklärte sie.

Michael seufzte; es klang, als habe er ein problematisches Kind vor sich, mit dessen Widerspenstigkeit er nicht zurechtkam.»Woran hast du denn gedacht?«fragte er genervt.»An deine Schüler? An die Zeit damals?«

Er konnte von ihrem Traum nichts wissen, aber indem er auf» die Zeit damals «tippte, lag er — und das wußte er natürlich — mit einiger Sicherheit nicht falsch. Franca hatte keine Lust, irgend etwas zuzugeben.»Auch wenn es dich enttäuscht, ich habe nicht daran gedacht«, entgegnete sie bockig.

«Das weißt du sicher?«

«Das weiß ich sicher.«

«Na ja«, meinte Michael. Er trat von einem Fuß auf den anderen, vermutlich fror er.»Dann hast du über deine englische Brieffreundin nachgedacht?«

«Und wenn?«

Michael verdrehte die Augen.»Mein Gott, du hast gesagt, die Alte ist über siebzig Jahre alt! Was fasziniert dich denn bloß so an ihr?«

«Ich glaube nicht, daß du das wirklich wissen willst.«

Er kniff die Augen zusammen, hatte wohl die leise Schärfe in ihren Worten registriert — eine Schärfe, die sie schon lange nicht mehr, oder sogar nie, an den Tag gelegt hatte.»Ich würde nicht fragen, wenn ich es nicht wissen wollte.«

Erstaunlicherweise hatte sie nicht die mindeste Lust, etwas zu erklären. Statt dessen betrachtete sie ihre nackten, langen Beine und überlegte, wann sie zuletzt mit ihm geschlafen hatte. Es mußte vor etwa anderthalb Jahren gewesen sein. Er war zu einem formellen Abendessen eingeladen gewesen, und sie war wie üblich nicht mitgegangen, und als er nach Hause gekommen war, mitten in der Nacht, war er glänzender Laune und ein wenig alkoholisiert gewesen. Sie hatte schon geschlafen, war aber aufgewacht, als er sich neben sie ins Bett fallen ließ und die Hände nach ihr ausstreckte.

«Was ist los?«hatte sie schlaftrunken gefragt. Wie

gewöhnlich hatte sie Tabletten genommen, um einschlafen zu können, und nun gelang es ihr kaum, wach zu werden.

«Du bist schön«, murmelte er,»wunderschön.«

Das hatte er ihr praktisch noch nie gesagt, und seine Worte erstaunten sie daher so, daß sie ein wenig munterer wurde. Sie ließ es zu, daß er sie berührte, obwohl sie es im Grunde nicht wollte; sie fühlte sich zu elend, zu zerstört, um sexuelle Gefühle überhaupt zulassen zu können. Er rollte sich leise stöhnend auf sie, und sie versuchte die ganze Zeit über zu denken, daß es in Ordnung war, daß es schön war, begehrt zu sein, das körperliche Interesse eines Mannes zu wecken. Aber eine innere Stimme hatte ihr deutlich erklärt, daß sie sich nicht einbilden müsse, Michael meine wirklich sie; irgend etwas an dem Abend — vermutlich eine andere Frau, eine Teilnehmerin an dem Essen — hatte ihn erotisch stimuliert, und sie war einfach diejenige Frau, die ihm nun als erste zwischen die Finger kam. Danach hatte es einen solchen Vorfall nicht mehr gegeben; er hatte auch nie mehr gesagt, er finde sie schön.

«Nimmst du mich eigentlich noch als Frau wahr?«fragte sie.»Ich meine — als Frau in einem sexuellen Sinn?«

Irritiert gab er zurück:»Was möchtest du wissen?«

«Genau das, wonach ich gefragt habe.«

Ein Lächeln stahl sich auf seine Züge, eigentlich nur der Anflug eines Lächelns, aber es genügte, um ihr deutlich zu machen, was er in ihr sah. In diesem Lächeln erkannte sie wie in einem Spiegel das Bild, das sie ihm bot: unter einer Decke kauernd, frierend, von Angstträumen gepeinigt und aus dem Bett gejagt. Schwach. Ein schwacher Mensch. Sie las in seiner Mimik, daß ihm kein anderes Attribut als dieses für sie einfallen würde, und wie albern ihm ihre Frage vorkommen mußte.

Sie erhob sich, schüttelte die Decke ab, fühlte sich dadurch jedoch weder freier noch stärker.

«Vergiß es«, sagte sie,»vergiß einfach, was ich gefragt habe. Es war dumm von mir.«

«Hör mal…«, fing er vorsichtig an, aber sie unterbrach ihn sofort:»Ich will nicht mehr darüber sprechen. Ich habe Unsinn geredet, und ich würde dich bitten, einfach nicht mehr daran zu denken.«

«Schon gut.«

Er hakte nicht weiter nach, aber Franca war zu verletzt, darin einen kleinen Sieg zu erkennen, den sie errungen hatte. Michael drehte sich um.»Kommst du auch wieder ins Bett?«

«Geh du nur. Ich werde wirklich noch etwas fernsehen. Ich glaube nicht, daß ich jetzt schlafen kann.«

Michael schien noch irgend etwas sagen zu wollen, entschied sich jedoch dagegen. Seine nackten Füße patschten leise auf den Steinfliesen im Flur.

Franca drückte ihre Stirn, die sich plötzlich heiß anfühlte, gegen die kühle Scheibe des Wohnzimmerfensters. Frei. Könnte sie nur frei sein. Frei von ihren quälenden Erinnerungen, frei von alten Bildern und Gefühlen. Befreit von sich selbst.


10

24. Dezember 1999

Liebe Franca,

heute ist Weihnachten, und ich schicke ein ganzes Paket mit Briefen an Sie ab. Sicher haben Sie schon geglaubt, ich will überhaupt nichts mehr von Ihnen wissen, weil ich so lange nichts mehr von mir habe hören lassen. Aber wie Sie sehen, habe ich dennoch fleißig an Sie geschrieben, zehn Briefe, wie ich gerade nachgezählt habe, bloß hatte ich eine eigenartige Hemmung, sie abzuschicken. Fragen Sie mich nicht, warum. Vielleicht, weil Sie immer noch eine Fremde für mich sind, was für mich einerseits eine Einladung ist, Ihnen Dinge mitzuteilen, die ich bislang für mich behalten habe, was mich andererseits aber auch immer wieder blockiert und sehr nachdenklich werden läßt. Ich frage mich dann, warum ich Ihnen schreibe, und da ich darauf nie eine zufriedenstellende Antwort finde, werde ich unsicher und bin wieder für einige Tage sehr zurückhaltend und wenig gesprächsbereit — besser: wenig bereit zum Schreiben. Noch genauer: Zum Schreiben bin ich bereit, aber nicht zum Absenden. Jedesmal denke ich: Ich tue es für mich. Ich schreibe die bösen und guten Erinnerungen auf, und dann lege ich alles in eine Schublade, und dort kann es dann verstauben.

Mit dem Schreiben ist es wie mit einer Lawine. Es fängt mit ein bißchen Schnee an, aber dann wird es immer mehr, mehr Schnee, aber auch Geröll und Erde und ganze Bäume. Zum Schluß donnert da etwas dem Tal entgegen, das durch nichts auf der Welt mehr aufzuhalten ist. Ich könnte jetzt nicht mehr aufhören, und ich will es auch nicht. Und da ich natürlich nicht frei bin von Eitelkeit und mir Ihr Interesse schmeichelt, werde ich mir heute ein Herz nehmen und Ihnen den ganzen Packen Briefe schicken, der sich angesammelt hat.

Es ist noch früh am Morgen, aber mit meinen Hunden bin ich schon fort gewesen, in tiefster Finsternis. Wir haben keinen Schnee; der ist sowieso außerordentlich selten auf den Inseln, aber ich erinnere mich, daß am Weihnachtstag 1940, dem ersten Weihnachten unter deutscher Besatzung, eine dünne Schicht weißen Puderzuckers über allen Wiesen, Bäumen und den steinernen Mauern lag. Die Deutschen sind wild nach Schnee an Weihnachten, und sie gerieten richtig in Rührung, als wir ihnen diesen gleichsam als Willkommensgruß auf Guernsey präsentierten. In den vielen, vielen Jahren danach hat es natürlich noch manchmal geschneit, aber da kann ich mich nicht im einzelnen erinnern. Aber an den 24. Dezember 1940 werde ich immer denken.

Der 24. Dezember war Erichs Geburtstag. Ich glaube, auf der einen Seite war Erich immer stolz, an einem so privilegierten Datum zur Welt gekommen zu sein — und auf der anderen Seite ärgerte er sich, daß Christus ihm regelmäßig die Schau stahl. Anders als bei uns, ist in Deutschland ja der Vierundzwanzigste der große Tag, und sosehr Erich natürlich dafür sorgte, daß man ihn gebührend feierte, sowenig konnte er verhindern, daß auch den untertänigsten unter seinen Landsleuten ganz andere Dinge in den Köpfen herumgingen als sein Wiegenfest. In den fünf Jahren, die ich das Vergnügen hatte, mit Erich Feldmann unter einem Dach zu leben, endete jedes Weihnachtsfest — bis auf das letzte — in einem Desaster, weil Erich jedesmal glaubte, nicht genügend gewürdigt zu werden.

Wir werden morgen feiern, richtige englische Weihnachten. Ich hoffe, der Tag wird harmonisch verlaufen. Für Helene habe ich eine Bescherung vorbereitet, ein paar nützliche Dinge, Bücher, CDs und jede Menge Marzipan, denn danach ist sie verrückt, auch wenn sie — wie von allem — behauptet, es nicht essen zu können.

Von ihr werde ich Parfüm bekommen, das bekomme ich immer, zu Ostern, zum Geburtstag, zu Weihnachten. Und sie hat mir einen Fotokalender geklebt, das macht sie auch jedes Jahr. Die Motive sind Rosen. Für jeden Monat eine andere Rose, manchmal ein ganzer Strauch, dann wieder eine einzelne geschlossene Blüte, eine geöffnete Blüte, auf deren Blättern der Tau perlt, oder eine mit Wasser gefüllte Glasschale, in der bunte Blüten schwimmen. Sie macht sich viel Mühe, sucht Sprüche und Gedichte zusammen, die sie unter die Bilder schreibt und die in irgendeiner Weise zu dem betreffenden Monat passen. Ich bekomme einen solchen Kalender nun seit fast fünfzig Jahren. Helene ist geradezu besessen davon, die Rosen im Garten zu fotografieren, sie muß Tausende von Bildern haben inzwischen. Am liebsten sind ihr die Rosen, die zwischen der weißen Mauer und der Vogeltränke wachsen, an dem Ort, an dem wir uns das erste Mal trafen. Hier knipst sie, als würde sie dafür bezahlt. Mich macht es oft auf eine eigenartige Weise aggressiv, wenn ich sie dort mit ihrer Kamera herumschleichen sehe, sie bewegt sich vorsichtig, als könne eine hastige Bewegung eine Rose sterben lassen oder den Ort entweihen.

Das Dumme ist nur, daß ich Rosen nicht sonderlich mag und der ganze Kalender verlorene Liebesmüh ist. Habe ich Ihnen davon eigentlich schon erzählt? Von meiner Abneigung gegenüber Rosen? Üblicherweise erwartet man von einer Rosenzüchterin Liebe zu diesen Pflanzen, denen sie schließlich ihr Leben verschrieben hat — denn irgendwo ist der Beruf das Leben, oder sehen Sie das anders, Franca? Und da liegt bei mir das Problem: Die verdammten Rosen haben mein Leben bestimmt, das ich eigentlich ganz anders hatte führen wollen.

Nach meinem Studium drüben in Southampton hätte ich mich gern in der Welt umgesehen, aber da kam dann zunächst Cambridge dazwischen, was auch in Ordnung war. Cambridge ist nicht die große Welt, aber es hat eine Atmosphäre, die mir gefallen hat. Statt dessen bin ich wieder auf Guernsey gelandet und habe, mit ziemlich durchschnittlichem Erfolg, Rosen gezüchtet. Ich werde in dem Haus sterben, in dem ich geboren wurde und in dem ich immer gelebt habe. Falls Helene nicht vor mir stirbt — sie ist zehn Jahre älter als ich, aber das muß nichts bedeuten —, wird auch in meiner Todesstunde ein Rosenkalender über meinem Bett hängen. Vielleicht finde ich noch die Kraft, ihn umzudrehen oder herunterzureißen. Wenn ich sterbe, möchte ich, daß ein Hund mein Gesicht leckt, ich möchte diesen warmen, immer etwas fauligen Atem riechen, und meine Hand soll sich in dickem, weichem Fell vergraben. Dann hätte ich das Gefühl, ein Stück Leben mitzunehmen. Aber Helene würde es fertigbringen, mir eine frisch erblühte Rose unter die Nase zu halten, um mir meine letzte Minute zu» versüßen«, und ich kann nicht garantieren, daß ich dann nicht kotzen müßte.

Oh, Franca, welch ein Weihnachtsbrief! Jetzt male ich mir meine Todesstunde aus, und Sie denken vermutlich, die arme Alte ist schon völlig durchgedreht. Dabei ist heute kein Tag, um trüben Gedanken nachzuhängen, im Gegenteil! Alan ist gestern bereits angekommen, er schläft im Gästezimmer, und vor zwölf Uhr heute mittag werde ich ihn nicht zu Gesicht bekommen, denn im Urlaub verläßt er sein Bett meist erst um die Mittagszeit. Vor allem dann, wenn er am Vorabend tief ins Glas geschaut hat. Er hat gestern eine ganze Flasche französischen Rotwein allein geleert, dann noch mehrere Schnäpse hinterhergekippt, und zuvor hatte er einen doppelten Whisky als Aperitif. Ich frage mich, wie seine Leber mit all dem fertig wird. Wahrscheinlich gibt sie's irgendwann einfach auf.

Kevin wird heute abend für uns kochen, das heißt, er wird natürlich schon im Laufe des Nachmittags damit anfangen. Er bringt praktisch seine gesamten Küchengerätschaften mit, weil er der Ansicht ist, mit meinen unzulänglich vorhandenen Mitteln niemals ein schmackhaftes Essen zubereiten zu können. Einfacher wäre es wahrscheinlich, wir würden zu ihm gehen, aber es ist eine Tradition, daß wir am 24. Dezember hier essen, und man soll mit Traditionen nicht brechen. Es wird wieder eine herrliche Mahlzeit sein, und nicht einmal Helene wird behaupten können, keinen Bissen hinunterzukriegen. Schon deshalb nicht, weil sie Kevin wirklich liebt. Und weiß, daß er sie liebt. Irgendwie gleichen sie einander in ihrer mäkeligen Art, und sie sind beide die größten Hypochonder, die ich kenne; sie machen sich nie über die Wehleidigkeit des anderen lustig, sondern hören einander aufmerksam und voller Mitgefühl zu.

Dann habe ich noch Mae und Maja eingeladen, das heißt, eigentlich hatte ich nur Mae gebeten zu kommen. Aber gestern rief sie an und fragte, ob sie Maja mitbringen dürfe, diese habe sich wieder einmal mit ihren Eltern überworfen, und es sei besser, sie die Weihnachtstage über von ihnen fernzuhalten.

Ich konnte kaum nein sagen. Maja ist nymphoman, aber das hat mich eigentlich nie gestört, im Gegenteil, es hat mich stets erheitert, Helenes Entrüstung darüber zu bemerken. Aber seitdem ich weiß, daß Alan ihr hörig ist, würde ich sie am liebsten am anderen Ende der Welt wissen. Ich hoffe, es hängt nicht mit ihr zusammen, daß er wieder verstärkt trinkt, aber wenn doch, könnte ich letztlich auch nichts daran ändern.

Ich würde ihm so gern seinen dummen Kopf zurechtrücken, Einfluß nehmen auf seinen so unerträglich schlechten Geschmack, was Frauen angeht. Maja ist ein Luder und dazu kalt bis ins Herz, aber das wird er sich von mir nicht anhören. Man ist immer Mutter, das ist wie ein Fluch. Man sorgt sich selbst dann noch um das Küken, wenn es ein über vierzigjähriger Rechtsanwalt mit einem Alkoholproblem ist.

Kurz und gut, es wird nett werden, wir werden einen Spaziergang machen, während Kevin kocht, und dann werden wir in ein schönes, warmes Haus zurückkehren, in dem es wundervoll riecht, und wir werden stundenlang essen. Irgendwann wird Helene über Müdigkeit klagen (sie kann nicht einfach sagen, daß sie müde ist, sie muß diesen Zustand sofort bejammern) und schlafen gehen, und Alan wird trinken und Maja fixieren, die sich einen Spaß daraus machen wird, ihn nicht zu beachten.

Was machen Sie über Weihnachten, Franca? Sie schreiben wenig über sich. Ich vermute, Sie möchten Ihre Probleme für sich behalten. Die Geschichte zwischen uns wird etwas einseitig dadurch, aber das geht zu Ihren Lasten, nicht zu meinen, daher müßten Sie es ändern und nicht ich, nicht wahr?

Merry Christmas, Franca. Und kommen Sie gut ins neue Jahrtausend. Ich habe das eigenartige Gefühl, daß das nächste Jahr bedeutsam sein wird, aber das mag Einbildung sein. Man weiß ja sowieso nie, was kommt, und das macht das Leben so beunruhigend. Wie gut, daß es dazwischen immer wieder Berechenbares gibt.

Zum Beispiel, daß ich morgen ein Parfüm und einen Rosenkalender bekommen werde.

Vielleicht haben Sie ja ein bißchen Zeit zu lesen, Franca. Darüber, wie es mit mir und Helene und Erich weiterging damals.

Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit.

Ciao, Beatrice.

Guernsey, August/September 1940

Beatrice hatte eine Zeitlang geglaubt, sie sei Erichs auserkorenes Opfer für den Fall, daß er einmal eines brauchen würde, und sie hatte sich innerlich zu wappnen versucht, aber sie merkte rasch, daß diese Rolle Helene zugedacht war. Und sie war keineswegs nur dann sein Opfer, wenn er gerade eines brauchte, sie war es immer. Oder aber er brauchte immer eines. Helene schien in jedem Fall die ideale Besetzung zu sein.

Sie war einundzwanzig Jahre alt, stand kurz vor ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag. Irgendwann erzählte sie, ihr Geburtstag sei der 5. September, und Beatrice sagte, dies sei auch der ihre. Helene geriet darüber in Entzücken.

«Das ist kein Zufall!«rief sie.»Das hat etwas zu bedeuten.«

«Was soll denn das zu bedeuten haben?«fragte Erich ärgerlich.»Mußt du immer irgendeine Magie hinter den banalsten Begebenheiten sehen?«

Helene bekam sofort rote Flecken auf den Wangen und biß sich auf die Lippen. Aber Erich war diesmal auch auf Beatrice böse.

«Hör zu, mein Fräulein, mit dieser ganz speziellen Art von Opposition, wie du sie offenbar verfolgst, wirst du bei mir nicht weit kommen«, sagte er.»Du wirst dich in unser Familienleben einfügen, das kann ich dir versprechen!«

«Ich weiß nicht, was Sie meinen«, entgegnete Beatrice.

«Du weißt es recht gut. Wir haben Ende August. Es ist gerade noch eine Woche bis zu deinem Geburtstag. Aber du sagst keinen Ton. Hätte Helene nicht davon angefangen, du hättest den 5. September vorübergehen lassen und nichts gesagt. Wir leben hier unter einem Dach. Wir sollten die Geburtstage voneinander kennen, meinst du nicht auch?«

«Sie haben mich nie gefragt.«

«Du wirst mir Dinge auch dann sagen, wenn ich nicht danach frage. Du wirst sie mir einfach deshalb sagen, weil du ein guterzogenes Mädchen bist, das weiß, was sich gehört. Natürlich kann auch ich es übernehmen, dir Manieren beizubringen, aber du solltest dir überlegen, ob es nicht einfacher ist, wenn du dich zuvor auf die besinnst, die du schon hast.«

«Wie alt wirst du denn?«fragte Helene mit der Piepsstimme, die sie immer bekam, wenn ihr Mann sie wieder einmal zurechtgewiesen hatte.

«Zwölf.«

«Mit zwölf bist du fast schon eine junge Dame«, meinte Erich leutselig.»Vielleicht sollten wir für dich an diesem Tag eine kleine Feier veranstalten — obwohl du es wegen deines Schweigens nicht verdient hast!«

«Wir könnten für uns beide eine Feier veranstalten«, schlug Helene vor, aber damit forderte sie schon wieder Erichs Ärger heraus.

«Kannst du dich nicht einmal zurücknehmen? Ist das wirklich so völlig unmöglich für dich? Bricht dein minimales Selbstwertgefühl zusammen, wenn du einem zwölfjährigen Kind den Vortritt lassen sollst?«

«Nein, ich dachte nur…«

«Du dachtest gar nichts, Helene, und das genau ist das Problem. Du hattest bloß wieder einmal das Gefühl, du könntest womöglich zu kurz kommen, und schon hast du dich rasch in den Mittelpunkt geschoben. Herrgott, manchmal frage ich mich, wann du endlich erwachsen wirst!«

Helenes Augen füllten sich mit Tränen; mit einer unbeherrschten Bewegung stieß sie ihren Stuhl zurück, wollte zur Tür. Erich bellte mit scharfer Stimme:»Du bleibst hier! Wir besprechen jetzt Beatrices Geburtstagsfeier!«

Beatrice hatte es nie erlebt, daß ihr Vater in solch einem harschen Ton mit ihrer Mutter gesprochen hätte, und sie konnte sich auch nicht vorstellen, daß sich Deborah einem derart harsch vorgebrachten Kommando gefügt hätte. Aber Helene blieb stehen, als hinge sie an einer Leine, die jemand ruckartig angezogen hatte. Sie sah bleich und angespannt aus.

«Also«, sagte Erich, nun wieder an Beatrice gewandt,»wie hast du dir dein Fest vorgestellt?«

Beatrice hatte sich gar nichts vorgestellt, und so sah sie Erich nur abwartend an.

«Wir sollten Gäste einladen. Wen möchtest du denn gern hier haben?«

Beatrice hatte nicht die geringste Lust, ein Fest zu feiern, aber sie spürte die vibrierende Aggression hinter Erichs väterlicher Freundlichkeit, und es schien ihr ratsam, sein Angebot anzunehmen.

«Ich möchte Will einladen«, erklärte sie.

Erich zog die Augenbrauen hoch.»Will? Große Freundschaft, wie? Na ja, es ist dein Geburtstag. Du mußt es wissen.«

Er schien etwas verstimmt.»Wen noch?«fragte er und trommelte gereizt mit den Fingern auf der Tischplatte.

Beatrice beschloß, zum zweitenmal einen Vorstoß zu wagen.

«Mae«, sagte sie.

«Mae?«fragte Erich.»Ist das die Freundin, zu der du dich gleich in der ersten Nacht hast absetzen wollen?«

«Ja.«

«Du weißt aber gar nicht, ob sie noch auf der Insel ist.«

«Nein. Aber vielleicht ist sie noch da, und ich könnte sie endlich wiedersehen.«

«Wir werden es herausfinden. Nun gut, dann kommen Will und diese Mae. Helene, du wirst alles organisieren. Kuchen und Getränke und so weiter. Du erlaubst doch, daß ich dabei bin, nicht? Der gute Will braucht ein wenig Unterstützung, so ganz allein mit zwei jungen Damen.«

Von diesem Moment an fieberte Beatrice der Aussicht entgegen, Mae könnte tatsächlich noch auf der Insel sein, und sie würde die Freundin vielleicht bald wiedersehen. Erich hatte versprochen, sich darum zu kümmern, hatte sich Maes Familiennamen und ihre Adresse geben lassen. Beatrice hatte gehofft, er werde sofort nach dem Frühstück die entsprechenden Schritte unternehmen, aber er schien sich Zeit lassen zu wollen. Es bereitete ihm offensichtlich ein gewisses Vergnügen, Beatrice zappeln zu lassen.

Während der Deutschstunde überbrachte sie Will die

Einladung, sagte ihm aber auch, das ganze Fest sei einzig Erichs Idee.»Ich wollte nicht feiern. Aber ich glaube, er würde wütend werden.«

Will nickte bedächtig.»Er setzt andere Menschen gern unter Druck. Selbst mit seinen Wohltaten.«

«Wie alt ist er eigentlich?«

«Major Feldmann? Ich glaube, so um die vierzig.«

«Helene wird zweiundzwanzig. Sie ist viel jünger als er. Und er behandelt sie ziemlich schlecht.«

Will nickte.»Das ist mir auch schon aufgefallen. Er tut so, als sei sie ein kleines Mädchen. Aber so muß sie ihm vielleicht auch vorkommen — nachdem sie halb so alt ist wie er.«

Nach der Stunde überlegte Beatrice, weshalb Helene Erich überhaupt geheiratet hatte. Sie und Mae hatten sich manchmal kichernd über die Liebe unterhalten, ohne recht zu wissen, wovon sie dabei sprachen. Mae hatte einmal für einen Jungen aus St. Martin geschwärmt und gesagt, es sei Liebe, was sie für ihn empfinde, und sie verstehe nun, was Männer und Frauen dazu bringe, einander zu heiraten. Beatrice hatte Deborah davon erzählt, aber diese hatte gemeint, Mae sei zu klein für die Liebe.

«Laßt euch Zeit«, hatte sie gesagt,»eines Tages werdet ihr eure Gefühle entdecken, und das wird euch dann noch genug durcheinanderbringen.«

Jedenfalls verleitete die Liebe offenbar zu Fehlhandlungen. Erich sah gut aus, und das mochte Helene dazu gebracht haben, in die Ehe mit ihm einzuwilligen. Nun hing sie fest und bereute ihre Voreiligkeit vielleicht zutiefst. Beatrice nahm sich fest vor, selbst einmal wachsamer zu sein.

Als sie die Auffahrt erreichte, die zum Haus führte, vernahm sie bereits Erichs Stimme. Es lag eine solch erschreckende Mischung aus Haß und Kälte darin, daß Beatrice unwillkürlich fröstelte, trotz der warmen Augustsonne, die an diesem Tag noch einmal mit fast hochsommerlicher Kraft schien. Es war fünf Uhr, die Zeit, zu der sich Erichs Laune für gewöhnlich besserte. Im Augenblick schien er jedoch äußerst gereizt und bösartig zu sein.

Vor der Haustür stand ein Kübelwagen, daneben waren vier schwerbewaffnete deutsche Soldaten postiert. Einer von ihnen hielt sein Gewehr im Anschlag.

Vor den Soldaten standen zwei Männer, deren bejammernswert elendes Aussehen im krassen Gegensatz zur gesunden Wohlgenährtheit der Besatzer stand. Beide waren sie groß, ließen jedoch die Schulten hängen und hielten die Köpfe gesenkt. Zerschlissene, schmutzige Kleidung schlotterte um ihre ausgemergelten Körper. Sie waren hohlwangig, die Gesichter spitz und grau. Ihre Mützen hatten sie abgenommen und drehten sie zwischen den Händen. Sie hatten Angst und schienen befallen von einer tiefen Hoffnungslosigkeit. Erich stolzierte vor ihnen auf und ab und redete auf englisch auf sie ein.

«Ihr werdet den Garten in Ordnung halten, und wenn ich sage: in Ordnung halten, dann meine ich das auch so. Dann wird nicht ein Blatt auf dem Rasen liegen, und nicht eine Rose wird ihren Kopf hängen lassen. Ihr seid mir persönlich dafür verantwortlich, habt ihr das verstanden? Ihr habt großes Glück, wißt ihr das? Die anderen bauen den Atlantikwall und die unterirdischen Bunker. Sie schuften wirklich, und das Steineschleppen ist eine verdammt harte Arbeit, das kann ich euch sagen. Wenn ihr jetzt triumphiert und denkt, ihr könntet euch ein gutes Leben machen, dann habt ihr euch allerdings gründlich geirrt.«

Er blieb stehen und herrschte den Größeren von beiden an:»Schau mich an, wenn ich mit dir rede! Wie heißt du?«

Der Mann hob den Kopf. Seine dunklen Augen waren voller Traurigkeit.»Ich heiße Julien«, sagte er. Er sprach englisch mit starkem französischen Akzent.

«Aha. Und du?«

Jetzt war der andere gemeint. Die gleiche Niedergeschlagenheit sprach aus seinem Blick.»Ich heiße Pierre.«

«Gut. Julien und Pierre. Ihr werdet hier arbeiten, nicht wahr? Wirklich arbeiten. Ihr werdet meine Befehle befolgen und die von Mrs. Feldmann, und ihr werdet sehr fleißig sein. Sehr fleißig. Wißt ihr, wie ich heiße? Ich bin Major Feldmann. Für euch bin ich der Herr Major. Ihr habt zu grüßen, wenn ihr mich seht. Vergeßt nie«, er hob die Stimme und ließ sie noch schneidender klingen als zuvor,»vergeßt nie, daß ihr nichts seid! Einfach zwei Stück Dreck. Und es gibt Tausende von euch. Wenn ihr mir also nicht paßt, werdet ihr ersetzt. Sofort. Wenn es zwei Stück Dreck weniger auf der Welt gibt, wird das der Welt nichts ausmachen, sie wird es nicht einmal merken. Denn ob Dreck da ist oder Dreck verschwindet, bleibt sich gleich für die Welt. Würdet ihr mir da recht geben?«

Keiner antwortete. Erich bekam schmale Augen.»Ob ihr mir recht geben würdet, habe ich gefragt! Julien? Pierre?«

«Ja«, sagte Julien.

«Ja«, sagte Pierre.

Erich verzog keine Miene.»Jetzt geht es an die Arbeit. Der Garten ist ziemlich verwahrlost. Ihr habt eine Menge zu tun.«

In dem Moment entdeckte er Beatrice, die langsam näher gekommen war. Er lächelte.»Hallo, Beatrice. Ich habe eine gute Nachricht für dich. Deine geliebte Mae ist tatsächlich noch mit ihren Eltern auf der Insel. Sie wird an deinem Geburtstag herkommen.«

Beatrice zuckte zusammen. Für ein paar Momente hatte sie Mae tatsächlich vergessen. Sogleich schlug ihr Herz schneller, und sie merkte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Erich sah das, und irgendwie schien es ihn zu freuen, daß er sie glücklich machen konnte.

«Du siehst, alles ist gar nicht so schlimm«, sagte er.

Die beiden Gefangenen verschwanden, begleitet von einem Soldaten, im Garten. Beatrice sah ihnen nach.»Wer sind sie?«

«Kriegsgefangene. Aus Frankreich.«

«Kriegsgefangene?«

«Ja. Deutschland hat Frankreich erobert, wie du vielleicht weißt. Du mußt dich vor ihnen in acht nehmen. Die meisten Franzosen sind ziemlich unanständige Menschen. Unberechenbar und verlogen. Du findest viele Verbrecher unter ihnen.«

Beatrice hatte nicht den Eindruck, daß die beiden Männer gefährlich wirkten, aber sie beschloß, auf der Hut zu sein. Im übrigen gingen ihr nun auch wichtigere Dinge im Kopf herum.»Darf ich Mae nicht vielleicht gleich besuchen?«fragte sie hoffnungsvoll.

Erich plusterte sich natürlich sofort wieder auf.»Hör mal zu, man muß auch einmal etwas abwarten können. Du wolltest unbedingt ein Geburtstagsfest haben, und ich habe es dir erlaubt. Nun wirst du dich bis dahin wohl noch gedulden können!«

Es hatte keinen Sinn, ihm zu sagen, daß sie nie um ein Fest gebeten hatte. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß er auf Diskussionen nicht einging, daß er Tatsachen verdrehte, wenn es ihm gefiel. Sie erwiderte nichts, lief hinauf in ihr Zimmer und schloß nachdrücklich die Tür hinter sich. Sie stellte sich ans Fenster, schaute über die Bäume, deren Blätter sich an den äußersten Spitzen gelb zu färben begannen. Deborah hatte ihr einmal erzählt, man könne mit einem Menschen, der weit weg sei, Kontakt aufnehmen durch die Kraft der Gedanken.»Wenn du ganz stark an die Person denkst, ihr ganz viele Gedanken und Gefühle sendest, wird sie es spüren. Es wird wie ein unsichtbares Band zwischen euch sein.«

Sie versuchte, sich mit aller Kraft auf Deborah und Andrew zu konzentrieren

«Ich denke an euch«, flüsterte sie,»ich denke ganz, ganz fest an euch. Hoffentlich könnt ihr es spüren. Ich möchte so gern fühlen, daß auch ihr an mich denkt. Ich bin sicher, ihr tut es. Ich weiß, daß du Angst hast um mich, Mummie. Aber du mußt dich nicht sorgen. Mir wird nichts passieren, und ich weiß, wir sind irgendwann wieder zusammen.«

Sie stand sehr lange so da, hingegeben an ein Gefühl der Nähe, das sie tatsächlich zu empfinden meinte und von dem sie hoffte, daß sie es sich nicht einbildete. Irgendwann lag der Garten in tiefem Schatten, und die Sonne, von einem Dunstschleier umgeben, hing nah über dem Horizont.

Beatrice merkte, daß sie Hunger hatte, und wunderte sich, daß noch niemand zum Essen gerufen hatte. Sie verließ ihr Zimmer, um hinunterzugehen, aber im Gang vernahm sie plötzlich eigenartige Geräusche und blieb stehen.

Die Laute kamen aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern, das jetzt von Erich und Helene bewohnt wurde. Es klang ziemlich beängstigend, so als werde jemand gequält oder verletzt. Überraschenderweise hatte sie den Eindruck, daß es Erich war, der die befremdlichen Jammerlaute ausstieß.

Langsam schlich sie näher. Die Tür stand einen Spalt offen, so daß sie hindurchspähen konnte. Sie sah das Bett ihrer Eltern, und sie sah Erich und Helene, die beide nackt waren, keuchten und erhitzt zu sein schienen. Erich lag auf dem Rücken, hatte den Kopf zurückgebogen und wimmerte. Helene saß auf ihm und bewegte sich hastig auf und ab. Die blonden Haare, die sie sonst immer geflochten und aufgesteckt trug, flossen wie goldene Seide über Schultern und Rücken bis zu den Hüften hinab. Im letzten Licht des Tages schimmerte ihre helle Haut wie Elfenbein. Helene war sehr schlank, alle Glieder perfekt geformt, ihre Oberschenkel lang und fest. Ihre kleinen Brüste trugen hoch aufgerichtete Spitzen, und auf ihrem Gesicht lag ein triumphierender, selbstzufriedener Ausdruck, den Beatrice an ihr zuvor nie wahrgenommen hatte. Fast sah sie glücklich aus, zumindest nicht mehr verängstigt und eingeschüchtert. Sie war stark. Sie war stärker als der stöhnende Erich unter ihr. Auf wundersame Weise hatte sich die Welt auf den Kopf gestellt, und zwei Menschen, die klar festgelegt schienen auf ihre Positionen, hatten ihre Rollen getauscht. Innerhalb weniger Stunden war mit beiden eine Veränderung vorgegangen, die Beatrice sprachlos gemacht hätte, wäre sie nicht ohnehin stumm gewesen vor Schreck.

Sie fand es widerlich, was die beiden taten, auch wenn sie nicht wirklich begriff, was es war. Natürlich hatte sie manches aufgeschnappt über» diese Dinge«, aber wenn sie Andrew danach gefragt hatte, hatte er nur gesagt, sie solle zu Deborah gehen, und Deborah hatte gesagt, sie sei zu jung, und man werde ihr das alles später erklären. Am meisten hatte sie noch von Mae erfahren, die einen großen Bruder hatte und von ihm ausgiebig mit Geschichten versorgt wurde, die sich um das sexuelle Verhältnis zwischen Männern und Frauen drehten. Das meiste klang derart abenteuerlich, daß Beatrice sich nicht vorstellen konnte, daß etwas Wahres daran sein mochte. Was sie jetzt sah, schien jedoch das Grauen zu bestätigen, das auch durch Maes Worte immer geklungen hatte. Die nackten Leiber, auf denen der Schweiß glänzte, die Aggression der Bewegungen, das Stöhnen, die verzerrten Gesichter machten auf Beatrice den Eindruck eines Kampfes auf Leben und Tod, dem sich zwei Menschen aus unerfindlichen Gründen hingaben.

Erichs Atem ging nun immer schneller, und Helene bewegte sich mit einer Heftigkeit, daß ihre Haare flogen. Dann keuchte Erich wie ein sterbendes Tier, die Muskeln seines Körpers spannten sich, und schließlich sank er in sich zusammen, blieb schwer atmend liegen, schien in Ermattung und Erleichterung auseinanderzufließen.

Helene rührte sich nicht mehr. Sie blieb noch einen Moment lang auf Erich sitzen, dann rutschte sie herab und legte sich an seine Seite. Sie kuschelte sich an ihn, schlang einen Arm um ihn, vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Beatrice hätte nicht zu sagen gewußt, wodurch sich ihr die Veränderung mitteilte, aber innerhalb weniger Minuten verkehrten sich die Machtverhältnisse zwischen den beiden wieder in die ursprünglichen Positionen. Helene wurde schwach, und Erich wurde stark. Vielleicht lag es an der Deutlichkeit, mit der Helene um Zärtlichkeit warb, und an der Kälte, mit der Erich ihr diese verweigerte. Er ließ ihre Berührungen über sich ergehen, erwiderte sie aber mit keiner Geste. Plötzlich schwang er abrupt beide Beine aus dem Bett und erhob sich. Helenes Arm schüttelte er dabei ab wie ein lästiges Insekt.

«Erich«, bat Helene leise. Sie klang traurig und verletzt.

Er erwiderte etwas auf deutsch, was Beatrice nicht verstand. Der Tonfall aber war abweisend und kalt. Sie sah seinen nackten Körper sich dunkel abzeichnen vor dem hellen Rechteck des Fensters. Erich hatte lange Beine, sehr breite Schultern. Er war ein schöner Mann, wie Helene eine schöne Frau war; ein gutaussehendes Paar, das optisch eine große Harmonie ausstrahlte. Niemand hätte gedacht, daß ihre Beziehung marode war wie ein morscher Baum.

Helene zog die Bettdecke bis zum Kinn. Der triumphierende Ausdruck, der noch wenige Augenblicke zuvor ihr Gesicht völlig verändert hatte, war nun verschwunden. Sie sah wieder aus wie ein waidwundes Reh und schien mit den Tränen zu kämpfen.

Erich zog seine Uniform an, strich sich vor dem Spiegel über die Haare. Er hatte sich jetzt vollkommen in der Gewalt, war wieder der Erich, der seiner Umgebung ständig eine latente Furcht einflößte und von dem man nie wußte, welche Gedanken hinter seiner Stirn vorgingen.

«Zeit zum Abendessen«, sagte er. Diesmal verstand Beatrice seine Worte. Es geschah jetzt öfter, daß sie einzelne Sätze oder wenigstens Teile davon mitbekam.

Helene rührte sich nicht. Ihre Augen bettelten um Zärtlichkeit, aber es war klar, daß sie ebensogut einen Stein hätte anflehen können.

«Zeit zum Abendessen«, wiederholte Erich, und diesmal klangen die Worte wie eine Drohung.

Helene grub sich tiefer in ihre Decke. Sie schien das Bett nicht verlassen zu wollen, sah blaß und gedemütigt aus. Erich zog seine hohen, schwarzen Stiefel an und war nun fertig. Er ergriff ein Kleiderbündel, das auf einem Stuhl lag, und warf es

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auf das Bett, mitten auf Helenes Bauch.»Zieh dich an und komm runter«, befahl er und wandte sich zur Tür.

Beatrice konnte in letzter Sekunde im Bad verschwinden, ehe Erich auf den Flur hinaustrat und mit polternden Schritten die Treppe hinunterlief.

Am Nachmittag des 5. September erschien Mae mit ihren Eltern. Als Beatrice die Freundin sah, schossen ihr zum erstenmal, seitdem sich all das Schreckliche ereignet hatte, die Tränen in die Augen, aber sie drängte sie sofort wieder zurück. Sie hatte sich geschworen, daß Erich sie niemals würde weinen sehen.

Sie und Mae umarmten einander wie zwei Ertrinkende. Mae schluchzte und lachte abwechselnd und stellte hundert Fragen hintereinander, ohne eine einzige Antwort abzuwarten.

«Wir dachten, du bist in England!«schrie sie.»Ich habe geglaubt, ich werde verrückt, als ich hörte, du bist hier!«

Mrs. Wyatt, Maes Mutter, war voller Besorgnis.

«Kind, wenn wir geahnt hätten, daß du hier bist, hätten wir uns längst um dich gekümmert. Aber deine Eltern hatten uns gesagt, sie verlassen die Insel, und wir wären nicht im Traum darauf gekommen, daß du noch hier bist!«

«Beatrice gehört jetzt zu meiner Frau und mir«, sagte Erich.»Sie müssen sich keinerlei Sorgen um sie machen.«

Maes Eltern musterten den Besatzer feindselig, erwiderten jedoch nichts. Wie alle auf den Inseln zurückgebliebenen Engländer litten sie unter zahlreichen Schikanen der Deutschen; unter dem Versammlungsverbot, der abendlichen Ausgangssperre, jeder nur denkbaren Rationierung der täglichen Verbrauchsgüter. Man hatte ihr Auto beschlagnahmt und es ihnen erst auf Dr. Wyatts heftigen Protest hin zurückgegeben; selbst die Deutschen hatten einsehen müssen, daß er als Arzt nicht ohne Auto sein konnte. Mrs. Wyatt durfte nicht mehr in ihren Bridgeclub gehen, und zahlreiche ihrer Bekannten waren interniert worden. Sie hatte Zwangsarbeiter gesehen, die man vom Festland auf die Insel gebracht hatte, damit sie Festungen, Bunker und Wälle bauten. Die Deutschen waren, so kam es Edith Wyatt vor, besessen von Festungen, Bunkern und Wällen. Innerhalb der wenigen Wochen, die sie hier waren, hatten sie es bereits erreicht, der Insel ein neues Gesicht zu geben. Die Häftlingskolonnen, die Jeeps, die bewaffneten Soldaten, die Hakenkreuzfahnen, die ersten Zugwaggons, die aus Frankreich herübergeschafft wurden, um Granitfelsen und Felsblöcke zu transportieren — all dies schien wie eine gigantische Kriegsmaschinerie, die perfekt funktionierte und von einer vollkommenen Unaufhaltsamkeit war. Die Nazis hatten eine gnadenlose Art, die Dinge unter Kontrolle zu bringen. Sie organisierten schnell und gründlich und mit einer Perfektion, die man übermenschlich oder auch unmenschlich nennen konnte. Mrs. Wyatt, die das behagliche, geruhsame Leben der Gattin eines Landarztes geführt hatte, sah ihre Welt auf den Kopf gestellt und von namenlosen Gefahren bedroht. Sie bereute es, nicht an der Evakuierung teilgenommen zu haben. Sie hatte sich nicht entschließen können, ihr gemütliches Häuschen aufzugeben, und ihr Mann hatte gemeint, gerade als Arzt zum Bleiben verpflichtet zu sein. Nun zitterte sie jeden Tag, daß man ihr das Haus wegnehmen könnte. Vielen war es so ergangen; die Besatzer beschlagnahmten Häuser, wie es ihnen paßte, und nur in seltenen Fällen erlaubten sie den Besitzern, dort ebenfalls, zusammengepfercht in einem Zimmer, wohnen zu bleiben.

Dr. Wyatt wandte sich an Erich und sagte:»Wir würden Beatrice gerne mit zu uns nehmen. Wir waren eng mit ihren Eltern befreundet. Ich denke, es wäre im Sinne von Deborah und Andrew Stewart, daß wir uns um ihre Tochter kümmern.«

Erich lächelte, aber seine Augen blieben kalt.»Und ich denke, daß es darum geht, was in meinem Sinne ist. Beatrice bleibt hier bei uns. Mae kann hin und wieder herüberkommen und sie besuchen, aber vorläufig möchte ich nicht, daß Beatrice zu Ihnen geht.«

Dr. Wyatt erwiderte darauf nichts mehr, aber er strich Beatrice kurz über die Haare, in einer aufmunternden und beruhigenden Geste, die sie als Versprechen auffaßte, daß er sich trotz allem um sie kümmern und sie nicht aus den Augen verlieren würde.

Helene hatte den Tisch im Garten gedeckt; die Abende waren zwar schon kühl inzwischen, aber tagsüber schien die Sonne noch warm und strahlte in sanftem, goldfarbenem Licht. Es roch nach reifem, süßem Obst, und die Rosen verströmten einen tieferen Duft als je im Sommer.

Helene trug ein Dirndlkleid. Beatrice hatte mitbekommen, daß sie es auf Erichs Befehl hin angezogen hatte, obwohl sie sich darin nicht mochte. Sie sah wieder einmal gequält und unglücklich aus und noch jünger, als sie war.

Dr. Wyatt und seine Frau wurden höflich, aber sehr nachdrücklich von Erich wieder fortgeschickt, indem er ihnen erklärte, Mae werde am Abend von Will nach Hause gebracht.

Dann ging die seltsame Geburtstagsgesellschaft in den Garten und setzte sich um den Tisch, den Helene liebevoll mit Deborahs schönstem Porzellan gedeckt hatte.

Erich nahm eine der zarten Wedgewood-Tassen in die Hand und hielt sie in die Höhe.

«Von meiner Frau Helene kannst du eine Menge lernen, Mae«, sagte er,»eine ganze Menge, wirklich.«

Helene bekam hektische Flecken im Gesicht, und Mae blickte verwirrt drein.

Erich setzte die Tasse wieder ab, sie klirrte leise, denn seine Bewegung war heftig gewesen.»Helene hat eine ganz besondere Art, junge Mädchen auf das Leben vorzubereiten«, fuhr er fort,»eine geschickte Art, denn Helene ist sehr geschickt.«

Will blickte unbehaglich zur Seite. Helene sah aus, als werde sie jeden Moment in Panik ausbrechen.

Erich fuhr mit dem Finger liebevoll über den Goldrand der Tasse.»Wir veranstalten eine Gartenparty heute, nicht? Das stand seit heute früh fest, seitdem klar war, daß das Wetter sonnig sein würde. Also habe ich zu Helene gesagt, du deckst den Tisch im Garten, und das hat sie ja auch getan. Und wie schön sie es getan hat.«

«Erich«, sagte Helene. Es klang wie ein Jammerlaut.

Erich nahm die Tasse erneut in die Hand, hob sie in die Höhe und ließ sie fallen. Das hauchzarte Porzellan zerbrach auf der harten, trockenen Erde.

Alle um den Tisch herum erstarrten.

«Helene zeigt jungen Mädchen nämlich gern, wie man es nicht machen soll«, sagte Erich. Er nahm seinen Teller, ließ ihn ebenfalls fallen und zerspringen.

«Hat deine Mutter jemals dieses Geschirr im Garten gedeckt?«wandte sich Erich an Beatrice.

«Ich erinnere mich nicht«, erwiderte Beatrice leise.

«Du erinnerst dich nicht? Wie eigenartig. Mir kam es nie so vor, als habest du ein schlechtes Gedächtnis. Wie dem auch sei, ich glaube nicht, daß deine Mutter so dumm war, ihr bestes und feinstes Geschirr in den Garten zu schleppen, wo es jederzeit kaputtgehen kann.«

Er stand auf, und ehe es irgend jemand verhindern konnte, hatte er das Tuch vom Tisch gerissen. Mit lautem Klirren fielen Teller und Tassen, Kaffeekanne, Besteck und Kuchenplatten zu Boden. Kaffee und Kakao spritzten in alle Richtungen, die Kuchen lagen als Matsch aus Teig, Äpfeln, Mirabellen und Sahne im Gras.

Helene schrie auf.»Tu das nicht, Erich! Bitte!«

Aber natürlich war es zu spät, und er hätte sich sowieso nicht von ihr abhalten lassen, seinen Jähzorn auszuleben. Alle waren aufgesprungen und starrten fassungslos auf das Chaos zu ihrem Füßen.

«Lieber Himmel, Herr Major«, murmelte Will.

Helene brach in Tränen aus, und Mae schien dicht davor, es ihr nachzutun.

Erich brüllte nach den beiden Franzosen.»Julien! Pierre! Kommt sofort her!«

Die beiden tauchten aus den Tiefen des Gartens auf, folgsam und ängstlich wie zwei Hunde, die auf brutale Weise abgerichtet worden sind.

«Ihr räumt hier auf«, befahl Erich,»und ich will nicht einen Splitter hier mehr sehen, sonst könnt ihr etwas erleben.«

Er entfernte sich mit großen Schritten, und kurz darauf hörten sie, wie ein Motor angelassen wurde und ein Auto mit quietschenden Reifen die Auffahrt hinunterschoß.

«Ihr Mädchen geht am besten in Beatrices Zimmer und unterhaltet euch ein wenig«, schlug Will vor.»Ich kümmere mich um Mrs. Feldmann.«

Helene wurde inzwischen von einem Weinkrampf geschüttelt, der in Hysterie überzugehen drohte.

«Ist er immer so?«fragte Mae entsetzt.

«Er ist manchmal so und manchmal anders«, antwortete Beatrice.

Sie empfand Zorn beim Anblick des Scherbenhaufens. Wie sehr hatte Deborah dieses Geschirr geliebt, es gehegt und gepflegt und nur zu ganz besonderen Anlässen auf den Tisch gebracht. Zu ihrem Erstaunen fühlte Beatrice eine gewisse Übereinstimmung mit Erich: Es war dumm gewesen von Helene, ausgerechnet dieses Geschirr für den Garten zu wählen! Aber vermutlich hatte sie es nur wieder unbedingt richtig machen wollen. Es hätte ihr auch passieren können, von Erich angeschnauzt zu werden, weil sie sich nicht für das beste Geschirr entschieden hatte. Allmählich wurde Beatrice die Grausamkeit des Systems klar: Wenn Erich nach einem Ventil suchte, war es einerlei, wie sich Helene verhielt, was sie sagte oder tat. Es war immer falsch, und es forderte unweigerlich seine Wut heraus.

Will entfernte sich mit der schluchzenden Helene, und die beiden Franzosen knieten auf der Erde und sammelten die Scherben ein.

Beatrice zog Mae mit sich fort hinter die weiße Mauer, an der die Weintrauben reiften.»Mae, es ist gut, daß wir uns allein sprechen können«, sagte sie ohne Umschweife.»Ich möchte so gern meine Eltern wissen lassen, daß es mir gut geht, und ich möchte unbedingt erfahren, wie es ihnen ergeht. Aber ich kann von hier aus nichts machen. Meinst du, dein Vater könnte versuchen, Kontakt mit ihnen aufzunehmen?«

«Ich werde ihn fragen«, versprach Mae, aber sie blickte keineswegs zuversichtlich drein.»Er hat gesagt, es gibt keinen Kontakt von hier nach London. Die Deutschen haben alles verriegelt. Sie gewinnen überall, wo sie auch kämpfen. Mein Vater sagt, sie wollen die ganze Welt erobern.«

«Niemand kann die ganze Welt erobern«, meinte Beatrice, aber sie war nicht sicher, ob es die Deutschen nicht doch konnten. Und auch Mae sah aus, als habe ihre Hoffnung, alles werde eines Tages wieder gut sein, einen schweren Schlag abbekommen.»Die Deutschen «sah sie zwar seit Wochen an allen Ecken und Enden der Insel, aber sie war noch nie wirklich mit ihnen in Berührung gekommen. Nun hatte sie Erich in Hochform erlebt, und er war ihr wie die Verkörperung des Grauens erschienen, das in den Stimmen der Leute schwang, wenn sie von» den Deutschen «sprachen. Sie verstand nun die Angst ihrer Mutter und den ständigen Ausdruck von Besorgnis auf dem Gesicht ihres Vaters.

«Es wäre besser gewesen, wegzugehen«, sagte sie, aber Beatrice erwiderte leise:»Ich bin froh, daß ihr noch hier seid. Ich würde mich sonst völlig verlassen fühlen.«

Sie saßen noch eine Weile schweigend im Gras, hielten ihre Gesichter in die Sonne und atmeten den Duft der Rosen. Irgendwann hörten sie Will rufen. Sie standen auf und kamen hinter der Mauer hervor, damit er sie sehen konnte. Die Franzosen waren verschwunden, alle Spuren des verunglückten Kaffeeklatsches beseitigt. Der Garten war still und friedlich.

«Ich fahre dich jetzt nach Hause, Mae«, sagte Will.»Beatrice, du könntest noch einmal nach Mrs. Feldmann sehen. Sie ist in ihrem Zimmer, und ich fürchte, es geht ihr nicht besonders gut.«

Mae und Beatrice verabschiedeten sich voneinander, beide verstört und bedrückt, voller Angst, was kommen würde.

«Wir sehen uns bald wieder«, versprach Mae, aber Beatrice wußte, daß dies allein von Erichs Launen abhing und daß es ihm Spaß machen würde, ihr den Umgang mit der Freundin besonders schwierig zu gestalten.

Sie sah Wills Auto nach, bis es am Fuß der Auffahrt angelangt war, dann ging sie ins Haus, lief die Treppe hinauf und klopfte vorsichtig an die Schlafzimmertür. Niemand antwortete. Zaghaft öffnete sie die Tür, aber das Zimmer war leer. Auf dem Bett lag ein Koffer, aufgeklappt, darin stapelten sich ein paar offensichtlich willkürlich zusammengewürfelte Kleidungs- und Wäschestücke.

Der Schrank stand offen; ein paar Röcke lagen davor auf dem Boden. Es sah aus, als habe jemand in größter Hast abreisen wollen, habe gegriffen, was ihm in die Finger kam und sei dann schon beim Einordnen in den Koffer von jeder Geduld verlassen worden. Beatrice dachte, daß Erich sicher mit tiefster Wut auf die Unordnung im Zimmer reagieren würde. Wie konnte Helene ihn derart provozieren? Und wo war sie überhaupt?

Während sie noch unschlüssig dastand und überlegte, ob sie Helene suchen oder lieber selbst das Zimmer aufräumen sollte, hörte sie einen dumpfen Schlag, der aus dem Badezimmer kam. Sie lief hinüber, zögerte nur einen Moment, riß dann die Tür auf, die nicht verschlossen war. Sie blieb stehen und versuchte zu begreifen, was sie sah.

Die Badewanne war randvoll mit Wasser gefüllt, lief bereits über, und Pfützen bildeten sich auf den steinernen Fliesen. Vor der Wanne lag Helene. Sie trug nichts als ihren aprikosenfarbenen Bademantel, der vorne auseinanderklaffte und ihren nackten, mädchenhaft schmalen Körper enthüllte. Ihre langen Haare, dunkler als sonst von der Nässe, verteilten sich wie ein Kissen um ihren Kopf herum. Die Pfützen neben ihr waren rot gefärbt, und aus ihren Handgelenken schossen rhythmisch pulsierende Ströme von Blut.

Der Anblick des Blutes schockierte Beatrice, auch wenn ihr Verstand sich im ersten Moment weigerte zu begreifen, was geschehen sein mußte. Sie stieg vorsichtig durch die Pfützen, durch die sich, wie sie nun sah, überall Schlieren von Blut zogen, und drehte den Hahn über der Wanne zu. Dann kniete sie neben Helene nieder, sah die Rasierklinge, die ein Stück von ihr entfernt auf dem Boden lag, und die tiefen, häßlichen Wunden an Helenes Handgelenken.

«Oh, du lieber Gott«, flüsterte sie entsetzt.

Helene rührte sich nicht und war von einer so durchsichtigen Blässe im Gesicht, daß Beatrice einen furchtbaren Moment lang überzeugt war, sie sei bereits tot. Doch dann erkannte sie, daß sich Helenes Brust kaum merklich hob und senkte: Sie hatte das Bewußtsein verloren, war aber noch am Leben.

«O Gott«, murmelte Beatrice noch einmal. Sie sprang auf die Füße, rief nach Will, aber dann fiel ihr ein, daß er gerade Mae nach Hause fuhr. Mae! Sie mußte sofort Maes Vater anrufen!

Sie rannte die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, wählte mit zitternden Fingern das Amt, bat darum, mit Dr. Wyatt verbunden zu werden. Sie betete, er möge daheim sein. Ohne etwas davon zu verstehen, hatte sie den Eindruck, daß es nicht mehr lange dauern konnte, bis Helene verblutet wäre.

Maes Mutter meldete sich und wurde sofort nervös, als sie Beatrices aufgeregte Stimme hörte:»Was ist? Ist etwas mit Mae?«

«Nein. Mae muß jeden Moment daheim sein. Mrs. Wyatt, es ist etwas Schreckliches geschehen! Mrs. Feldmann hat sich die Handgelenke aufgeschnitten. Sie liegt im Bad, und alles ist voller Blut, und ich glaube, sie stirbt bald!«

Sie hörte es leise knacken in der Leitung und vernahm einen scharfen Atemzug des Fräuleins vom Amt. Ihr schoß der Gedanke durch den Kopf, daß die Nachricht, Major Feldmanns junge Frau habe sich das Leben nehmen wollen, sich nun in Windeseile auf Guernsey verbreiten würde, und wie sehr es Erich erbittern würde zu wissen, daß das Drama nicht geheimzuhalten war.

«Ich schicke sofort meinen Mann«, sagte Edith Wyatt und legte auf.

Beatrice rannte wieder hoch ins Bad, in dem die Blutlachen nun schon besorgniserregende Ausmaße angenommen hatten. Sie zerrte einen Stapel Handtücher aus dem Schrank und schlang sie um Helenes Handgelenke, in der Hoffnung, die Blutungen würden zum Stillstand kommen, aber statt dessen durchtränkten lediglich die Tücher in Windeseile, und nichts schien das Entweichen des Lebens aus Helenes Körper aufhalten zukönnen.

Beatrice mühte sich, die Panik, die in ihr aufsteigen wollte, unter Kontrolle zu bekommen. Es hatte keinen Sinn, jetzt die Nerven zu verlieren. Sie rannte noch einmal nach unten, sah zur Haustür und betete darum, Dr. Wyatts Wagen schon um die Ecke biegen zu sehen. Aber die Auffahrt lag still und leer vor ihr. Kühle wehte aus dem Garten herüber, Feuchtigkeit entstieg dem Gras. Der Septemberabend wurde bereits dunkel.

Sie wird sterben, schoß es Beatrice durch den Kopf, sie wird sterben!

Der Gedanke schmerzte sie unerwartet heftig, wobei sie nicht wußte, ob der Schmerz Helene galt oder der Aussicht,mit Erich wieder allein leben zu müssen. Sie hielt verzweifelt Ausschau nach Julien oder Pierre oder nach einem der Soldaten, die stets um das Haus patrouillierten, aber niemand ließ sich blicken. Doch in diesem Moment jagte Dr. Wyatts Wagen die Auffahrt hoch und blieb mit quietschenden Bremsen vor der Haustür stehen.

«Wo ist sie?«fragte der Arzt ohne Umschweife.

Beatrice drehte sich um und rannte vor ihm her die Treppe hinauf ins Bad, das wie ein Schlachthaus aussah.

«Verdammt, das wird aber höchste Zeit!«rief Dr. Wyatt, schob Beatrice zur Seite und stürzte zu Helene.

«Wird sie es schaffen?«fragte Beatrice und hörte zwischen den Worten voller Erstaunen ihre Zähne aufeinanderschlagen.

«Bete für sie«, antwortete Dr. Wyatt kurz, und in seiner Stimme klang wenig Hoffnung.

Will kochte heiße Milch mit Honig für sie und wies sie darauf hin, die Kleider zu wechseln, da sie von oben bis unten voller Blut war. Beatrice zog ihren Bademantel an und kauerte sich im Wohnzimmer neben den Kamin, in dem Will ein Feuer entzündet hatte. Sie trank ihre Milch in kleinen Schlucken, während ihr Körper bebte. Will verschwand nach oben, um das Bad sauberzumachen, was eine ganze Weile dauerte. Nach der ersten notdürftigen Versorgung durch Dr. Wyatt war ein Ambulanzwagen gekommen und hatte Helene in die Klinik nach St. Martin gebracht. Will, der in diesem Moment nach Hause gekommen und von Mrs. Wyatt schon über die Geschehnisse informiert worden war, hatte noch einen Blick auf das eingefallene, graue Gesicht werfen können und war für eine Sekunde erstarrt vor Entsetzen; auch er hatte geglaubt, sie sei bereits tot. Dr. Wyatt hatte erklärt, sie sei noch am Leben, aber er befürchte, daß sie es nicht schaffen werde.

«Ich fahre mit in die Klinik«, sagte er,»können Sie sich um Beatrice kümmern? Die Kleine scheint mir ziemlich am Ende ihrer Kräfte. Sie sollte jetzt auf keinen Fall allein bleiben.«

«Selbstverständlich kümmere ich mich um sie«, versprach Will. Er wirkte so erschüttert, wie Beatrice ihn noch nie erlebt hatte.

«Gibt es eine Möglichkeit, Major Feldmann zu erreichen?«erkundigte sich Dr. Wyatt.»Er muß über den Zustand seiner Frau informiert werden.«

«Ich weiß nicht, wo er sich aufhält«, sagte Will ratlos.»Ich habe schon heute nachmittag mehrmals versucht, ihn über Funk zu erreichen, aber er hat sein Gerät nicht eingeschaltet. Er muß jedoch bald nach Hause kommen.«

Will fuhr sich mit allen zehn Fingern durch die Haare. Er sah elend und verstört aus. «Ich hätte nicht fortgehen dürfen. Sie war völlig außer sich, und ich hatte ein ganz dummes Gefühl. Aber sie schrie mich an, sie wolle allein sein, und verschwand in ihrem Schlafzimmer, und dorthin konnte ich ihr ja schlecht folgen, oder? Ich war dann noch in meinem Zimmer, und später habe ich Mae heimgefahren, und…«

«Nun regen Sie sich nicht auf«, sagte Dr. Wyatt beschwichtigend.»Sie konnten nicht ahnen, daß sie zu einer Rasierklinge greifen würde. Und niemand kann es letztlich verhindern, wenn ein Mensch es unbedingt tun will.«

Er klopfte Will aufmunternd auf die Schulter und stieg dann in sein Auto, um dem Ambulanzwagen zu folgen, der schon das Gartentor erreicht hatte.

Zwischen Milchkochen, Kaminanzünden und dem Saubermachen des Badezimmers versuchte Will immer wieder, Erich über Funk zu erreichen, ohne jedoch Erfolg zu haben.

Als er sich zu Beatrice ins Wohnzimmer setzte, sah er völlig erschöpft aus.»Das Bad ist wieder in Ordnung«, sagte er.»O Gott, sie muß literweise Blut verloren haben. Ich möchte wirklich wissen…«

Er sprach den Satz nicht zu Ende, sagte statt dessen:»Du solltest schlafen gehen, Beatrice. Du mußt todmüde sein. Dieser Tag war ein Alptraum, nicht?«

«Ich könnte jetzt nicht schlafen«, sagte Beatrice,»ich würde lieber hier unten bleiben.«

«In Ordnung. Wenn ich nur wüßte, wie die ganze Geschichte ausgeht! Mein Gott, käme nur Major Feldmann endlich heim!«

«Meinen Sie, daß man uns anruft vom Krankenhaus, wenn…«

Beatrice wußte nicht, wie sie das Undenkbare formulieren sollte.

«Man wird uns anrufen, was immer passiert«, sagte Will. Er starrte auf den Telefonapparat.»Solange sich niemand meldet, ist es das beste Zeichen.«

Um halb elf rief Will selbst im Krankenhaus an. Mrs. Feldmanns Zustand sei unverändert, wurde ihm mitgeteilt, sie habe noch immer nicht das Bewußtsein wiedererlangt. Dr. Wyatt sei bei ihr.

«Immerhin lebt sie noch«, meinte Will. Er war aschfahl im Gesicht, und allmählich kam Beatrice der Gedanke, daß ihn nicht nur die Sorge um Helene umtrieb, sondern auch die um sich selbst. Wie würde Erich reagieren, wenn er erfuhr, was geschehen war? Er würde versuchen, einen Schuldigen zu finden, um sich nicht selbst die Schuld zusprechen zu müssen.

Wer bot sich eher an als Will? Er hatte Helene in einem kritischen Zustand allein gelassen, war dann sogar fortgefahren. Beatrice war auf einmal ganz sicher, daß Erich sehr böse auf Will sein würde.

Kurz nach Mitternacht endlich hörten sie draußen einen Wagen vorfahren, dann eine Autotür schlagen. Gleich darauf kam Erich ins Zimmer. Er wirkte recht gut gelaunt, etwas müde, aber ausgeglichen. Überrascht betrachtete er die Situation, die sich ihm bot.

«Nanu? Was macht ihr denn hier? Könnt ihr nicht schlafen?«

Will erhob sich. Beatrice hatte den Eindruck, daß ihm die Knie zitterten.»Herr Major«, begann er. Er sprach deutsch, aber Beatrice bekam dennoch ungefähr mit, was er sagte. Stockend berichtete er, was geschehen war.

Erich rang um Fassung, dann herrschte er Will an, er solle ihn sofort mit dem Krankenhaus in St. Martin verbinden.

«Wieso, verdammt noch mal, habt ihr keinen deutschen Arzt geholt?«brüllte er.

«Beatrice wußte wohl nur…«, begann Will, aber Erich unterbrach ihn sofort:»Wo waren Sie? Wie konnten Sie meine Frau in einem derart hysterischen Zustand zurücklassen? Allein mit einem zwölfjährigen Kind!«

Will reichte ihm den Telefonhörer.»Das Krankenhaus, Herr Major.«

Erich brüllte seinen Namen ins Telefon und verlangte, sofort den behandelnden Arzt seiner Frau zu sprechen. Dann lauschte er eine ganze Weile und sagte schließlich:»Ja, ja. Danke. Ja, das wäre nett. Danke.«

Er legte den Hörer auf, wandte sich an Will.»Sie ist nicht mehr bewußtlos. Ihr Zustand hat sich stabilisiert. Der Arzt meint, sie schafft es.«

Sein Gesicht war schweißnaß.»Ich brauche einen Whisky.«

Will schenkte ihm das Gewünschte ein, reichte ihm das Glas. Erich kippte den Inhalt mit Schwung hinunter.»Ich brauche noch einen.«

Er trank den zweiten Whisky so rasch wie den ersten. Beatrice schien es, als sei er schon vorher nicht ganz nüchtern gewesen, und wenn er so weitermachte, wäre er bald völlig betrunken. Sie krampfte ihre Hände um den Becher mit der heißen Milch und spürte, wie die Angst sich als kalter Schleier um sie legte.

Erich fixierte Will aus stechenden Augen.»Will, Sie können in Ihre Wohnung hinübergehen und sich schlafen legen. Die Geschichte wird ein Nachspiel für Sie haben, das erwarten Sie sicher nicht anders. Wie das aussehen wird, werde ich mir noch überlegen.«

«Wenn ich noch irgend etwas tun kann…«, murmelte Will, aber ihn traf nur ein zynisches, wortloses Lächeln. Mit gesenktem Kopf verließ er den Raum, kurz darauf knirschten draußen seine Stiefel auf dem Kies.

Erich nahm sich einen dritten Whisky. Die Bewegungen, mit denen er einschenkte, wirkten bereits etwas fahrig.

«Wie gut, daß du da warst, Beatrice«, sagte er. Seine Zunge schlug an die Zähne.»Wie gut, daß es dich gibt. Du bist ein tapferes, umsichtiges Mädchen. Wahrscheinlich wäre meine Helene schon tot, wenn du nicht so überlegt gehandelt hättest.«

Beatrice entspannte sich etwas. Auf sie schien er jedenfalls nicht böse zu sein. Sie beschloß sogleich, seine mildere Stimmung zu Wills Gunsten zu nutzen.

«Sir, Will hat Mae nach Hause gefahren, weil Sie ihm das mittags aufgetragen hatten. Er wollte tun, was von ihm erwartet wurde.«

Erich nahm sich einen vierten Whisky. Mit sanfter Stimme sagte er:»Du bist vielleicht zu jung, das zu verstehen, Beatrice. Will genießt als mein persönlicher Adjutant manches Privileg. Dafür stellen sich ihm natürlich auch erhöhte Anforderungen. Er hat zu tun, was von ihm erwartet wird, ja, aber was wird letztlich von ihm erwartet? Meinen Befehlen zu folgen natürlich, aber darüber hinaus muß er in der Lage sein, selbständig umzudisponieren, wenn es die Umstände erforderlich erscheinen lassen. Auf diese Fähigkeit muß ich mich bei ihm verlassen können. Ich brauche keinen Sklaven. Sklaven habe ich, das sind die beiden Franzosen, die sich um die Rosen kümmern, und das sind die Leute, die hier die Straßen und Bunker und Wälle bauen. Ich brauche jemanden, der eigenständig mitdenkt.«

Man hörte ihm an, daß er eine Menge getrunken hatte, aber seine Stimme war emotionslos, und Beatrice wußte inzwischen, daß er dann am gefährlichsten war. Wenn er unbeherrscht herumtobte, so wie am Mittag, mochte er damit seine Umgebung, besonders Helene, in blinde Furcht und Verzweiflung versetzen, aber im Grunde steckte wenig dahinter. Vor Erich mußte man auf der Hut sein, wenn er sanftmütig wurde, wenn er leise sprach, wenn er sachlich und ausführlich seine Gründe und Gedanken darlegte. Dann plante er einen Schlag, den er kalt ausführen würde, und das machte ihn so gefährlich.

Trotzdem wagte Beatrice zu sagen:»Will konnte nicht ahnen, daß so etwas passieren würde. Niemand kann so etwas ahnen.«

Erich lächelte; es war ein eisiges Lächeln.»Helene ist eine hochgradig hysterische Person. Du weißt das nicht, weil du sie noch nicht lange genug kennst. Will kennt sie auch noch nicht lange, natürlich. Aber er ist erwachsen. Ein Erwachsener kann diese Dinge eher einschätzen. Ich bin sicher, daß ihm sehr schnell klar war, daß er es mit einer neurotischen Person zu tun hat. Einer Person, die durchaus selbstmordgefährdet ist.«

Beatrice riß die Augen auf.»Hat sie schon einmal versucht…?«

«…sich das Leben zu nehmen? Nein. Aber du kannst mir glauben, ich habe schon eine Menge unschöner Szenen mit ihr erlebt. Weinkrämpfe, Ohnmachtsanfälle, Fieberattacken. Es ist erstaunlich, welche Krankheiten Helene tatsächlich entwickeln kann, wenn es darum geht, die Umwelt unter Druck zu setzen oder mir deutlich zu machen, ich würde sie schlecht behandeln. Sie ist erfinderisch. Man darf sie nicht allein lassen, wenn die Hysterie sie überkommt. Sie ist dann zu allem fähig — wie sich ja wieder gezeigt hat.«

«Sie war traurig, weil Sie so mit ihr geschimpft haben, Sir.«

«War sie das?«

Erich kramte eine Zigarette aus der Tasche und entzündete sie.

«Ich will dir etwas sagen, Beatrice. Helene ist immerzu traurig. Das liegt in ihrer Natur. Helene kreist von morgens bis abends nur um sich selbst, um ihre Kümmernisse und Wehwehchen, ihre eingebildeten Sorgen und Probleme. Sie beschäftigt sich einfach nur mit sich, und das genau führt zu jenem übersteigerten Verhalten, das sie immer wieder an den Tag legt.«

Beatrice empfand es nicht unbedingt als übersteigert, daß Helene nach den Angriffen ihres Mannes

zusammengebrochen war, auch wenn ihr das Aufschneiden der Pulsadern sehr drastisch vorkam.

«Was tun wir nun?«fragte sie sachlich.

Erich starrte sie an.»Wie — was tun wir nun?«

«Nun ja, Sir, ich nehme an, Mrs. Feldmann wird bald wieder hier sein, und ich… wir müssen aufpassen, daß sie es nicht wieder tut. Ich meine, daß sie nicht noch einmal versucht, sich… etwas anzutun. Man darf sie gar nicht mehr allein lassen.«

Mit einer ungeduldigen Bewegung schnippte Erich die Asche seiner Zigarette auf die Tischplatte.»Hör zu Beatrice, wir dürfen ihr vor allem nicht das Gefühl geben, daß sie uns mit dieser Tat tief erschüttert hat. Wenn sie den Eindruck gewinnt, sie kann mit derartigen Idiotien unsere Aufmerksamkeit und Sorge erregen, wird sie sich nämlich ständig etwas Derartiges einfallen lassen. Sie will unter allen Umständen ständig im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses stehen. Und wenn sie sich dafür jede Nacht die Pulsadern aufschneiden müßte.«

«Vielleicht sucht sie Wärme?«

Er hatte ein Glitzern in den Augen, das Beatrice bedrohlich erschien.»Du meinst, die bekommt sie nicht genug von mir? Diese Wärme?«

«Ich weiß es nicht, Sir.«

«Aber du denkst dir doch irgend etwas. Ich bin sicher, dir gehen eine Menge Dinge durch den Kopf. Sag mir deine Meinung, Beatrice.«

Sie zuckte mit den Schultern, antwortete nicht. Erich drückte seine Zigarette auf der Tischplatte aus — wie sorgfältig ist Mummie immer mit der Politur umgegangen, dachte Beatrice — und stand auf.»Ich rufe noch einmal im Krankenhaus an«, sagte er schließlich.

Es ging Helene den Umständen entsprechend gut, ihr Kreislauf hatte sich stabilisiert, sie schlief.

«Wir können zu Bett gehen«, sagte Erich,»wir müssen uns keine Sorgen mehr machen. Helene ist in Sicherheit. Ihr kann nichts mehr passieren.«

Er griff erneut nach der Whiskyflasche.»Du hast gut funktioniert, Beatrice. Wirklich gut. Du bist ein vernünftiges Mädchen. Ich bin stolz auf dich.«

Wieso sollte er stolz sein auf mich, dachte Beatrice verärgert, aber sie sagte nichts. Ganz allmählich glitt die Anspannung von ihr ab, und die Müdigkeit packte sie jäh. Es war drei Uhr in der Früh, und auf einmal sehnte sie sich nur noch nach ihrem Bett, nach einem tiefen, traumlosen Schlaf, der sie die Aufregungen der letzten Stunden würde vergessen lassen, die blutüberströmte Helene, den bleichen Will, den angetrunkenen Erich.

Über all das kann ich morgen wieder nachdenken, sagte sie sich erschöpft.

Sie erwachte in dem Bewußtsein, nicht allein in ihrem Zimmer zu sein. Irgendwie mußte das Gefühl, daß sich ein anderer Mensch in ihrer Nähe befand, bis in die Tiefen ihres Schlafes vorgedrungen sein. Sie hatte die völlige Traumlosigkeit genossen, die sie sich so gewünscht hatte. Nun bemerkte sie fahles, graues Morgenlicht vor dem Fenster. Es mußte noch sehr früh am Tag sein, und das strahlende Spätsommerwetter war wohl umgeschlagen in der Nacht; an der Farbe des düsteren Lichts erkannte Beatrice, daß Nebel draußen herrschen mußte.

Whiskygetränkter Atem streifte ihre Nase. Erich saß an ihrem Bettrand und neigte sich über sie.»Bist du wach?«raunte er.

Eine Sekunde lang schien es ihr das beste zu sein, sich schlafend zu stellen, aber sie ahnte, daß er sich damit nicht zufriedengeben würde. Er würde nicht ruhen, bis er sie geweckt hatte, und sie konnte ebensogut sofort die Augen aufschlagen.

Ihr Magen krampfte sich kurz zusammen. Sie hatte Angst, ohne genau zu wissen, wovor. Erich hatte bislang die Privatsphäre ihres Zimmers respektiert. Er hatte alles in Besitz genommen, aber diesen Raum hatte er noch nie betreten. Und Beatrice hatte sich darauf verlassen, daß er es auch nie tun würde. Als hätte es eine geheime Absprache zwischen ihnen gegeben, die Grenzen absteckte, die keiner von ihnen übertreten würde.

Jetzt hatte Erich diese Grenze übertreten. Er war nicht nur in das Zimmer gekommen, er saß sogar auf dem Bett.

Zu nah, sagte eine Stimme in Beatrice, viel zu nah. So nah darf er keinesfalls kommen.

Sie öffnete schließlich die Augen.

Es war hell genug im Zimmer, so daß sie seine Züge erkennen konnte. Er war sehr blaß im Gesicht, aber das mochte daran liegen, daß das Licht von draußen alle Farben dieses Morgens schluckte und jedem Gegenstand, jedem Menschen einen fahlen Anstrich verlieh. Erichs Augen glänzten unnatürlich, Schweiß lag auf seiner Stirn.

«Ach, du bist wach«, sagte er. Es klang erleichtert.

«Was ist denn los?«fragte Beatrice und richtete sich auf.»Wie spät ist es?«

«Gleich acht Uhr. Nein…«

Er hatte gesehen, daß sie sofort aufstehen wollte, und legte beruhigend die Hand auf ihren Arm.»Bleib liegen. Das war eine lange Nacht. Du solltest dich jetzt ausruhen.«

«Ich bin nicht müde.«

Sie setzte sich erneut auf.»Ich werde…«

Wiederum drückte er sie zurück, sanft, aber unmißverständlich.»Nein, mein tapferes kleines Mädchen. Du ruhst dich jetzt aus. Es ist keinem gedient, wenn du plötzlich zusammenklappst.«

Sie verstand nicht recht, was er meinte — welche Art Sorgen er sich machte und warum er so tat, als sei sie aus Porzellan. Sie wußte nur, daß es keinen Sinn hatte, sich gegen ihn zu wehren.

Es hat nie Sinn bei ihm, dachte sie plötzlich sehr müde.

Er nahm ihre linke Hand zwischen seine beiden Hände, streichelte sie sanft.»Wenn ich dich nicht hätte, Beatrice, wenn ich dich nicht hätte…«

Sie wagte nicht, ihm ihre Hand zu entziehen, aber sie wünschte inbrünstig, er möge endlich verschwinden. Sie merkte, daß ihr Herz heftig pochte, daß sie hellwach war und von Fluchtbereitschaft erfüllt — obwohl sie wußte, daß sie nicht würde fliehen können.

«Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der mich versteht«, sagte Erich,»nicht einen einzigen. Kannst du dir so etwas vorstellen, kleine Beatrice? Wie es sich anfühlt, wenn einen niemand auf der ganzen Welt versteht?«

«Helene versteht Sie, Sir.«

«Helene? Die versteht mich am allerwenigsten. Helene tut nur so, als sei sie sanft und lieb und voller Güte. Helene will anderen Menschen ihren Willen aufzwingen, und sie versucht es auf eine besonders heimtückische Art — mit Augenaufschlag und Piepsstimme und einer Wehleidigkeit, die dir ständig Schuldgefühle verursacht, und deshalb tust du irgendwann, was sie will, nur um eine Schuld abzutragen, die in Wahrheit gar nicht existiert.«

Erich schwieg einen Moment lang und starrte düster vor sich hin. Obwohl er eindeutig betrunken war, formulierte er seine Sätze klar, und was er sagte, erschien Beatrice logisch und durchdacht. Ihr fiel ein, daß ihr Vater einmal gesagt hatte, manche Leute fänden im Zustand der Trunkenheit zu einer größeren Klarheit. Bei Erich schien dies der Fall zu sein.

«Du denkst wahrscheinlich, in der Beziehung zwischen Helene und mir bin ich der Stärkere«, sagte er nun.»Alle denken das, weil Helene immerzu heult und jammert. Aber auf ihre Weise ist sie sehr stark, Beatrice, sehr stark. Du wirst das wahrscheinlich noch merken. Sie zwingt die Menschen unter ihr Joch. Auch mich.«

Warum erzählt er mir das, fragte sich Beatrice unbehaglich, das alles ist allein seine Sache. Ich will es überhaupt nicht wissen.

«Ich suche so oft nach einem Menschen, der mich versteht.«

Erich klang jetzt weinerlich.»Einem Menschen, mit dem ich alles teilen kann, was ich empfinde. Mir gehen mehr Dinge im Kopf herum, als du vielleicht meinen magst. Ich habe sehr schöne Gedanken oft. Tiefe Gedanken, verstehst du? Manchmal sind es auch sehr, sehr traurige Gedanken.«

Er sah sie an. Beatrice hatte den Eindruck, daß er einen Kommentar erwartete.

«Das tut mir leid, Sir«, murmelte sie.

«Es ist eine große Schwermut in mir«, teilte Erich feierlich mit.»Ich möchte, daß du das weißt, Beatrice. Es wird dir helfen, mich besser zu verstehen. Manchmal komme ich dir vielleicht eigenartig vor. Dann hat mich diese schreckliche Traurigkeit in ihren Fängen.«

Beatrice fragte sich, ob er inzwischen doch nicht mehr recht wußte, was er redete, aber ihr fielen seine eigenartigen Stimmungsschwankungen ein, die sie schon manchmal befremdlich gefunden hatte. Sein Verhalten schwankte allzu häufig und rasch zwischen Euphorie und grüblerischer Weitabgewandtheit, zwischen Aggression und Melancholie. In seinen stillen Phasen hatte Beatrice manchmal gedacht, er brüte über finsteren Plänen, er lege den Schatten über sein Gesicht, um zu verbergen, was hinter seiner Stirn vor sich ging. Vielleicht aber hing er tatsächlich trüben Gedanken nach.

«Es gibt einen Feind in meinem Innern«, sagte Erich. Plötzlich wirkte sein Gesicht zerfurcht, als sei er innerhalb weniger Momente um Jahre gealtert.»Er ist schlimmer und gefährlicher, als es jeder Feind von draußen sein könnte. Er sitzt ganz tief in meiner Seele. Das bedeutet, ich kann nicht vor ihm davonlaufen. Ich kann ihn auch nicht bekämpfen, denn wie sollte ich Krieg führen gegen mein eigenes Selbst?«

Erwartet er eine Antwort? fragte sich Beatrice beklommen. Sie sagte lieber nichts, und nach einer Minute unbehaglichen Schweigens fuhr Erich fort:»Wir Deutschen sind ein siegreiches Volk. Wir sind im Begriff, die ganze Welt zu erobern. Kennst du ein Land, das uns ernsthaft Widerstand zu leisten vermag? Es gibt nichts und niemanden, der uns aufhalten könnte. Wir sind die Rasse, der die Welt gehört — und ich bin ein Teil davon. Ich bin Teil einer siegreichen und stolzen Nation. Und um so erbärmlicher fühle ich mich, wenn ich merke, daß ich mit ihm hier drinnen…«, er legte die Hand auf sein Herz,»…mit diesem gnadenlosen Feind in meinem Innern nicht fertig werde. Er ist stärker als ich, verdammt stark. Manchmal kann ich ihn betäuben. Dann schläft er für eine Weile und läßt mich in Frieden, aber es ist fast so, als sammle er auch neue Kraft in diesen Phasen. Wenn er aufwacht, ist er wieder stark und lebendig wie ein junger Hund. Und dann fällt er mich an und schlägt seine Zähne in mein Fleisch und läßt nicht mehr von mir ab.«

«Vielleicht ist er gar nicht so stark, wie Sie denken«, sagte Beatrice vorsichtig. Sie hätte sich gern aufgesetzt, weil sie sich in ihrer liegenden Position so hoffnungslos unterlegen empfand, aber sie war überzeugt, daß er sie wieder auf das Kissen zurückdrücken würde, und so unterließ sie einen Versuch, der von vornherein zum Scheitern verurteilt war.»Vielleicht spielt er sich nur auf.«

Erich sah sie überrascht an.»Wie meinst du das?«

Beatrice überlegte, was sie gemeint hatte. Es ging um Dinge, die schwer zu verstehen, schwer zu formulieren waren. Andrew hatte oft mit ihr über Ängste gesprochen und darüber, wie man mit ihnen umgehen konnte. Es war ihm daran gelegen gewesen, ihr klarzumachen, daß sie jede Art von Angst beherrschen konnte und sich nicht selbst beherrschen lassen mußte.

«Wenn Sie Angst haben vor jemandem«, sagte sie, die Worte ihres Vaters rekapitulierend,»dann gehen Sie meistens einen Schritt zurück. Und der andere kommt dann nach. Er hat mehr Platz, und Sie haben weniger. Dadurch wirkt er stärker, aber das scheint nur so, weil Sie ihm Platz gemacht haben.«

«Und was schlägst du vor?«

Sie überlegte.»Vielleicht muß man einfach stehen bleiben.

Und genau hinschauen. Vielleicht ist der andere gar nicht so mächtig.«

Er lächelte ein wenig.»Wie einfach das klingt aus deinem Mund, kleine Beatrice. Wie ist es…«

Er musterte sie scharf.»Hast du eigentlich Angst vor mir?«

«Nein«, sagte Beatrice.

«Bist du ehrlich?«

«Ich denke schon.«

In seine Augen trat ein Ausdruck der Bewunderung.»Ich glaube dir. Du bist stark. Stärker als Helene und ich. Komm her!«

Er zog sie hoch zu sich heran.»Nimm mich in die Arme. Würdest du das tun? Nur für einen Moment.«

Sie zuckte unwillkürlich zurück. Erich berührte sanft ihre Wange.»Ich will wirklich nichts anderes. Du sollst mich nur festhalten.«

Zögernd legte sie beide Arme um ihn. Der Stoff seiner Uniform fühlte sich kratzig an. Er preßte sein Gesicht gegen ihres; verstärkt nahm sie den Geruch des Whiskys wahr und spürte die Rauheit seiner Bartstoppeln. Sie fand es nicht unangenehm, ihn so dicht zu spüren; trotz der Alkoholausdünstung hatte er einen Geruch, den sie irgendwie mochte — eine Mischung aus einem guten Rasierwasser und seiner Haut, die an herbe, getrocknete Kräuter erinnerte.

«Du kannst mir viel Kraft geben«, murmelte er an ihrem Hals.»Ich brauche dich, Beatrice.«

Überrascht registrierte sie, daß er in diesem Moment wohl wirklich empfand, was er sagte. Er klammerte sich an sie wie ein kleines, verlorenes Kind. Wie schwierig, dachte sie, wie schwierig wird das alles noch werden.

Erich begann leise zu weinen.

11

Es gibt keinen Monat, der so trostlos ist wie der Januar, dachte Franca. Viele Menschen sagten, der November stimme sie trübsinnig, aber Franca erging es ganz anders. Sie mochte diesen Monat. Sie fand, daß seine kurzen, grauen Tage, sein Nebel und sein kalter Wind Geborgenheit schenkten. Der November legitimierte den Rückzug in die eigenen vier Wände, er rechtfertigte die Abkehr von der Welt, das Eintauchen in Kerzenlicht, heißen Tee, Weihnachtsmusik und Kaminfeuer. Der November vermittelte Franca stets das Gefühl, für eine kurze Zeit ihre Wesensart in Einklang mit der Welt bringen zu können.

Im Januar war es genau andersherum. Der Januar war wie eine weit aufgerissene Tür, zu der das Jahr hereinflutete, mit all den tausend Möglichkeiten und Gefahren, die es bereithielt. Franca hatte Michael einmal diese Empfindung zu erklären versucht, und sie erinnerte sich nur zu gut an die Gereiztheit, mit der er auf ihre Worte reagiert hatte.

«Möglichkeiten und Gefahren! Mein Gott, Franca, wenn diese Kombination nur nicht wieder so schrecklich typisch für dich wäre! Möglichkeiten und Gefahren! Das Wort Möglichkeiten besetzt du einfach automatisch mit einer negativen Assoziation. Dir kommt überhaupt nicht in den Sinn, daß ›Möglichkeit‹ auch positiv besetzt sein könnte!«

«Nun, ich…«

Er hatte sie nicht ausreden lassen.»Du witterst Gefahren an allen Ecken und Enden, Franca, und das ist einfach krankhaft.

Das Schlimme ist, es wird auch nicht besser mit dir. Kannst du dir nicht vorstellen, daß irgend etwas in deinem Leben auch mal gefahrlos ablaufen kann? Oder, noch kühner gedacht: daß du Gefahren bewältigen und überstehen könntest?«

Dieser Gedanke war ihr in der Tat kühn erschienen.

Er kann es nicht nachvollziehen, hatte sie gedacht, er kann mich nicht verstehen.

Diesmal war der Januar noch schlimmer. Er hatte nicht nur ein neues Jahr eingeleitet, ein neues Jahrhundert und sogar ein neues Jahrtausend. Franca kam es vor, als hätten sich alle Bedrohungen vervielfacht, und umdrängten sie lauernd und feindselig.

«Ich wünschte, es wäre Sommer«, sagte sie.

Sie saßen am Frühstückstisch in der Küche, es roch nach Kaffee und Rühreiern. Auf dem Fenster stand der trockene, nadelnde Adventskranz, seine vier roten Kerzen waren tief heruntergebrannt. Ein staubiges, verfallenes Relikt.

«Alle warten auf den Sommer«, sagte Michael nun auf Francas Bemerkung hin. Er klang schon wieder ungeduldig.»Der Sommer ist warm und bunt und riecht gut. Niemand kann dem Winter ernsthaft etwas abgewinnen.«

«Der Januar«, sagte Franca,»ich kann dem Januar nichts abgewinnen.«

Michael rührte in seiner Kaffeetasse.»Jetzt fängst du schon wieder mit dem Januar an! Ich meine, wenn du sagen würdest, der Januar ist kalt und häßlich, und deshalb kann ich ihn nicht leiden, dann könnte man das verstehen. Aber es sind ja wieder nur diese diffusen Ängste, die dir zu schaffen machen, stimmt's?«

Eingeschüchtert gab sie zu, daß er recht hatte.

Michael seufzte tief und lehnte sich in seinem Stuhl zurück; er vermittelte den Eindruck eines Menschen, der sich gottergeben in sein Schicksal fügt, ein bestimmtes Thema diskutieren zu müssen, der aber nicht gewillt ist, seine Gereiztheit und seinen Überdruß zu verbergen.

«Kannst du nicht versuchen, wenigstens versuchen, irgendwann einmal mit deiner Angst vor allem und jedem fertig zu werden? Ich kann diese eigenartigen Phobien einfach nicht begreifen. Wenn du wenigstens konkretisieren könntest, wovor du dich fürchtest und was dir deiner Ansicht nach an schrecklichen Dingen zustoßen könnte! Aber du weißt es ja selbst nicht. Du kannst keine einzige Gefahr benennen. Das macht die ganze Angelegenheit so widersinnig. Und so hoffnungslos.«

Widersinnig und hoffnungslos, dachte Franca, das sind die Attribute, die er für meine Gefühle findet. Letztlich die Attribute, die er für mich findet.

«Ich müßte wieder eine Aufgabe haben«, sagte sie. Ihre Stimme hörte sich zu hoch an, wie meist, wenn sie in einen Dialog mit Michael trat. Michael seufzte noch einmal.»Aha. Da hätten wir wieder einmal das alte Thema. Du brauchst eine Aufgabe. Woran hast du gedacht?«

Er wußte natürlich, daß sie an nichts gedacht hatte. Daß ihr zwar eine Menge Dinge einfielen, die sie gern tun würde, daß es aber nichts gab, was zu bewältigen sie sich zutraute. Hier lag das Problem.

«Ich weiß nicht«, sagte sie.

«Wenn du sagst, du brauchst eine Aufgabe, dann wirst du doch an irgend etwas gedacht haben.«

«In meinen alten Beruf kann ich nicht zurück.«

«Das haben wir bis zum Umfallen besprochen. Den Punkt könnten wir langsam abhaken, findest du nicht? Anstatt ständig zu diskutieren, was du nicht kannst, sollten wir darüber sprechen, was du kannst!«

Ich gehe ihm entsetzlich auf die Nerven, dachte Franca. Sie fühlte sich von dem kurzen Wortwechsel bereits so frustriert und müde, als habe sie eine ganze Nacht mit einer zermürbenden Diskussion verbracht. Es war schon jetzt klar, daß aus diesem Gespräch nichts für sie herausspringen würde — nicht einmal ein Funken Wärme und Anteilnahme von dem Mann, den sie acht Jahre zuvor geheiratet hatte. Sie wünschte bereits, sie hätte das Thema gar nicht angeschnitten.

«Es ist nicht so wichtig«, sagte sie schwach.

Michael war natürlich nicht bereit, sie so einfach entkommen zu lassen. Franca hatte schon manchmal gedacht, daß er die Mentalität einer Katze hatte, die mit der Maus spielt, ehe sie sie frißt. Die Maus darf ein paar Schritte weit laufen, ehe die Katzenpfote wieder unbarmherzig auf sie niedersaust.

Warum bin ich immer die Maus? fragte sich Franca in steigender Verzweiflung.

«Was heißt — es ist nicht wichtig? Du hast angefangen mit dem Thema, weil es wichtig ist. Sonst hättest du kaum davon gesprochen, oder? Ich gehe ja nicht davon aus, daß du bei unserem letzten ruhigen Frühstück, ehe für mich der Arbeitsalltag wieder beginnt, ein Gespräch anfängst, das nicht wichtig ist!«

«Michael…«

«Du hast gesagt, du brauchst eine Aufgabe. Ich habe dich gefragt, woran du gedacht hast. Ich habe daraufhin vorgeschlagen, das Pferd andersherum aufzuzäumen und ein paar Möglichkeiten zu überlegen. Prompt ist die ganze Unterhaltung deiner Ansicht nach nicht mehr wichtig. Merkst du nicht, daß dieses Verhalten ein wenig neurotisch erscheinen muß?«

Die Katzenpfote hatte zugeschlagen. Franca hatte ein neues Attribut verliehen bekommen. Neben widersinnig und hoffnungslos war sie nun auch neurotisch.

Sie bereute es zutiefst, ein Thema angeschnitten zu haben, bei dem es um sie ging. Es funktionierte einfach nicht mit Michael. Sie stand im Handumdrehen mit dem Rücken zur Wand und verteidigte sich gegen seine Angriffe. Aber ging es ihr wirklich nur bei ihm so? Eigentlich geriet sie bei den meisten Menschen sehr rasch in die gleiche Situation. Irgendwie kapierten fast alle — selbst solche, die sonst zu dumm waren, bis drei zu zählen — sehr schnell, wo ihre Schwachpunkte lagen. Sie bemerkten ihre Angst und ihre Unsicherheit und schossen sich darauf ein. Sie analysierten, berieten, bemitleideten Franca. Die aggressiveren Naturelle trieben sie mit Angriffen in die Enge.

«Was willst du heute machen?«fragte sie, hoffend, ihre Rolle als Gesprächsgegenstand abgeben zu können.»Es ist dein letzter Ferientag. Du solltest…«

Michael verzog spöttisch das Gesicht.»Aha. Madame wünschen einen Themenwechsel. Wollten wir nicht über deine beruflichen Möglichkeiten sprechen? Oder interessiert dich das schon nicht mehr?«

«Es nützt nichts.«

Er seufzte zum dritten Mal. Franca kam sich vor wie ein bockiges kleines Kind.»Mit dieser Einstellung wird es natürlich nichts. Wenn du von vornherein nicht an ein gutes Ergebnis glaubst… Das ist wirklich das Problem, Franca. Wenn du nicht an dich glaubst, tut es auch sonst niemand.«

Diesen Satz hatte sie schon so oft von ihm gehört, daß er ihr fast Erbrechen verursachte. Wie macht man das denn — an sich glauben? hätte sie gern gefragt. Ich würde das sofort tun, wenn ich nur wüßte, wie. Gibt es ein Rezept, so zu werden wie du?

Sie betrachtete ihn, wie er da zurückgelehnt im Stuhl saß und die Hände hinter dem Kopf verschränkte. Sie hatte immer gefunden, daß er gut aussah, und sie fand das auch jetzt noch, aber zum erstenmal dachte sie plötzlich, daß er jedenfalls nicht sympathisch aussah. Sie kam sich ketzerisch vor und erschrak über sich selbst, aber sie konnte das Bild, das Michael abgab, nicht vor sich selbst beschönigen, ohne sich dabei in die eigene Tasche zu lügen: Er sah kein bißchen sympathisch aus.

In seinem Lächeln lag eine Arroganz, die früher nur als Andeutung vorhanden gewesen war, sich nun aber ausgeprägt hatte. Seine lässige Haltung, die hochgezogenen Augenbrauen, die etwas zu langen, zurückgekämmten Haare mit dem attraktiven Grau über den Schläfen verstärkten den Eindruck eines Menschen, der sich seiner Wirkung auf andere sehr bewußt ist und gern mit seinen Möglichkeiten spielt.

Und was sieht er, wenn er mich anschaut? fragte sich Franca beklommen. Sie konnte sich dunkel erinnern, daß es einst geheißen hatte, sie sei eine attraktive Frau. In der Uni hatte sie immer wieder Komplimente gehört, Männer hatten ihre langen Beine bewundert und ihre hellen Augen mit den dichten Wimpern. Jetzt hatte sich schon lange niemand mehr nach ihr umgedreht. Sie wußte, daß ihren Augen Glanz und Wärme fehlten, daß sie zu selten lachte, daß Frustration und Angst ihren Zügen einen Anstrich von Bitterkeit verliehen. Sie sah aus, wie sie sich fühlte: grau, verhuscht, nervös und verschreckt.

Ihr kam der Gedanke, daß es wahrscheinlich nicht mehr lange dauern könnte, bis Michael sie mit einer anderen Frau betrog falls er es nicht die ganze Zeit über schon tat.

«Also«, wiederholte sie die Frage, die sie bereits einmal gestellt hatte, die Michael aber bislang nicht beantwortet hatte,»was wirst du heute tun?«

Er knüllte seine Serviette zusammen und stand auf.»Ich glaube, ich bin irgendwie nicht mehr in Ferienstimmung«, sagte er, und sein Tonfall drückte aus, daß er sie dafür verantwortlich machte.»Ich fahre ins Labor. Da ist heute niemand, und ich kann mich in Ruhe mit der Buchführung beschäftigen.«

Er küßte sie so flüchtig, daß es kränkend war. Er roch nach einem guten Eau de Toilette, und Franca dachte, daß es wohl wirklich schon längst eine andere Frau in seinem Leben gab. Die Vorstellung tat ihr weh, aber sie war schon von zu großer Resignation erfüllt, um darüber Wut zu empfinden.

Guernsey hat im Januar nicht viel von seiner sonstigen Lieblichkeit, dachte Alan. Er hatte zwei Stunden lang in einem gut geheizten, behaglichen Café in St. Peter Port gesessen, Scones gegessen und Tee mit viel Milch getrunken, und als er nun hinaus auf die Straße am Hafen trat, traf ihn der schneidend kalte Wind mit brutaler Härte. In der Luft vibrierten feine Regentropfen; als feuchter, unangenehmer Schleier legten sie sich sogleich über Haut und Haare. Als er vorhin vom Auto zum Café gegangen war, hatte er das Wetter nicht als so klamm und ungemütlich empfunden. Der Wind schien auf Nordost gedreht zu haben. In den Nachrichten hatten sie jede Menge Regen für die nächsten Tage prophezeit.

Alan wusste eigentlich nicht, weshalb er schon jetzt das warme Café verlassen hatte. Sein Flug nach London ging erst in zwei Stunden, und warum sollte er sich in sein kaltes Auto setzen und Zeitung lesen? Nun, du weißt es schon, sagte eine innere Stimme. Wenn du noch länger in diesem Café gesessen hättest, hättest du in nicht allzu langer Zeit den ersten Cognac bestellt, und bei dem wäre es nicht geblieben. Es bleibt nie bei einem, nicht wahr? Und du bist gerade so stolz, daß es schon elf Uhr am Vormittag ist, und du noch immer nichts getrunken hast.

Es gab Tage, an denen er sich zu beweisen versuchte, daß er seinen Alkoholkonsum völlig im Griff hatte. Daß er zwar gern trank, daß er aber nichts brauchte, um sich wirklich wohl zu fühlen. Er zögerte dann das erste Glas Whisky oder Wein bis zum Abend hinaus — zumindest nahm er sich das vor, und manchmal gelang es ihm. Manchmal auch nicht, aber dann gab es immer eine Erklärung. Ein Mittagessen mit einem Mandanten, bei dem es ungastlich gewesen wäre, nicht mitzutrinken. Eine Kreislaufschwäche, der er nur mit Hilfe eines Cognacs begegnen konnte. Ein plötzlicher beruflicher Ärger, auf den hin er einen Whisky brauchte. Bei den meisten Menschen, die er kannte, kamen im Lauf eines Tages einige Gläser zusammen; er hatte nicht den Eindruck, daß er aus dem Rahmen fiel.

Heute gibt es leider keinen Grund, dachte er und zog schaudernd seinen Mantel enger um den Körper, nur die Kälte vielleicht. Ein schöner, heißer Grog…

Der Gedanke war so verführerisch, daß er rasch einen weiteren Schritt von dem Café weg tat. Vielleicht, so überlegte er, machte er einen Fehler, indem er so viel und so häufig über Alkohol nachdachte. Nur dadurch schließlich bekam das Thema soviel Gewicht. Aber das lag natürlich auch an Beatrice. Wie hatte sie ihm über die Weihnachtstage wieder zugesetzt, seine Gläser gezählt, beargwöhnt, er könne irgendwo geheime Vorratslager angelegt haben. Unglücklicherweise war sie in der Nacht vor Silvester um zwei Uhr morgens ins Wohnzimmer gekommen und hatte ihn im Sessel sitzend vorgefunden, ein Glas mit Whisky in der Hand, umwogt vom Qualm dreier Zigaretten, die er geraucht hatte. Er hatte einen Bademantel getragen, aber weder Schuhe noch Strümpfe an den Füßen; er erinnerte sich, unangenehm gefroren, aber nicht die Energie aufgebracht zu haben, hinauf in sein Bett zu gehen.

«Was tust du denn hier?«hatte Beatrice gefragt und dabei die Augenbrauen auf eine Art hochgezogen, die ihm tadelnd und dabei sehr kühl vorkam.

Aggressiv hatte er zurückgegeben:»Und was tust du hier?«

Ziemlich ungeniert — dafür daß sie ihn deswegen immer anging — hatte sie sich ein Glas aus dem Schrank genommen und sich ebenfalls einen Whisky eingeschenkt, einen doppelten mindestens, wie er feststellte.

«Ich wurde wach und konnte nicht mehr einschlafen«, erklärte sie und setzte sich auf das Sofa,»da dachte ich, ich hole mir etwas zu trinken, vielleicht geht es dann.«

«Kaum zu glauben«, sagte Alan,»aber genauso ging es mir. Haben wir vielleicht Vollmond?«

«Nein.«

Sie nahm einen großen Schluck und verzog gleich darauf das Gesicht.»Eigentlich mag ich Whisky überhaupt nicht.«

«Warum trinkst du ihn dann?«

«Die Flasche stand gerade griffbereit. Das hat mich wohl verführt. Oder der Geruch aus deinem Glas oder von dir selbst, was weiß ich. Es riecht ziemlich stark nach Alkohol hier im Zimmer, trotz der Zigaretten. Dein wievieltes Glas ist das?«

Er fühlte sich hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, ihr harsch zu erklären, daß er über vierzig war und ihr keinerlei Rechenschaft schuldete, und dem kindischen Wunsch, sie zu schockieren, indem er ihr eine Zahl nannte, die sie erschüttern würde.

«Das sechste oder siebte«, erklärte er gelangweilt und schenkte sich erneut nach.

«Unsinn. Dann würdest du schon lallen. Aber ich finde es ziemlich bedenklich, daß du jetzt bereits mitten in der Nacht trinkst.«

«Du tust ja nichts anderes.«

«Bei mir ist es eine Ausnahme.«

«Ach ja? Das kann ich dir glauben oder nicht. Ich jedenfalls schlafe nachts für gewöhnlich.«

«Alan!«

Sie stellte ihr Glas ab, und sah ihn eindringlich an.»Irgend etwas stimmt doch nicht! Du trinkst einfach zuviel, das ist für jeden inzwischen ersichtlich. Und dieses nächtliche Herumwandern… Ich weiß ja nicht, ob du es nicht auch in London tust, und dann frage ich mich, weshalb du nicht schlafen kannst und wovor du davonläufst und in den Alkohol flüchtest!«

«Ich habe dir gerade gesagt, daß ich es in London nicht tue. Vielleicht liegt es an dem Haus hier. Ständig knarren und ächzen hier irgendwelche Holzbalken. Kein normaler Mensch kann dabei schlafen.«

«Alan…«

Klirrend stellte er sein Glas ab.»Mum, bitte hör auf mit diesen inquisitorischen Fragen. Ich bin erwachsen. Ich weiß, was ich tue.«

«Du bist nicht glücklich.«

«Woher willst du das wissen?«

«Ich sehe es. Selbst jemand, der dich weniger gut kennt als ich, könnte es sehen. Dein Gesichtsausdruck verrät es, es steht in deinen Augen deutlich geschrieben, und dein Verhalten zeigt es auch. Du bist zweiundvierzig Jahre alt, du bist erfolgreich und siehst gut aus — aber du lebst in einer Einsamkeit, die fast greifbar an dir ist. Mir tut es weh, dich so zu erleben, und ich wünschte, du würdest mit mir darüber reden, und wir könnten zusammen überlegen, was zu tun ist.«

Noch jetzt, eine Woche später, unschlüssig im kalten Wind des Hafens stehend, erinnerte er sich gut, wie übel ihm bei diesen Worten geworden war. Immer schon hatte es ihn psychisch belastet, wenn Beatrice anfing, eine allzu intensive Nähe zu ihm herzustellen, wenn sie das Wort» wir «strapazierte und irgendwelche gemeinsamen

Vorgehensweisen ansteuerte. Sofort legten sich ihm dann Bleigewichte auf die Brust, ihm wurde heiß, und er konnte nicht mehr richtig atmen. Er hatte keine Ahnung, woran das lag; möglicherweise an der Tatsache, daß er die Unwahrheit des Wortes» wir «kannte. Für Beatrice gab es im Grunde nur ein» Ich«. Wenn sie sagte:»Wir können gemeinsam überlegen«, dann hieß das in Wahrheit:»Ich werde einen Plan fassen, und du wirst ihn akzeptieren.«

Darüber hinaus haßte er es, wenn sie an seinen Verdrängungsmechanismen rüttelte. Vielleicht stimmte irgend etwas nicht an seinem Leben, aber er hatte es zumindest im Griff, und wenn er unglücklich war, so gelang es ihm jedenfalls die meiste Zeit über, diesen Umstand so von sich zu schieben, daß er sein Vorhandensein fast nicht bemerkte. Er konnte es nicht gebrauchen, daß ein Mensch heranspaziert kam, zehn spitze Finger auf die Wunde legte und ihm einzureden versuchte, er sei ein armer Tropf. Beatrice war unschlagbar in dieser Disziplin. Sie musterte andere Menschen mit ihren Röntgenaugen, entdeckte in Windeseile ihre Schwachstellen und krallte sich daran fest. Unter dem Tarnmantel der Hilfsbereitschaft und Fürsorge natürlich.

In Wahrheit, dachte er, befriedigt sie einfach nur ihre Machtgelüste. Er fand es verwunderlich, daß er sich immer wieder auf sie einließ, daß er nach Guernsey kam, in ihrem Haus wohnte, sich von ihr beaufsichtigen, schikanieren und kritisieren ließ. Und auch gleich eine ganze Weile blieb.

Er war am Tag vor Weihnachten angereist, und nun war schon die erste Januarwoche vorbei, und er war immer noch hier. Er hatte bis zum 9. Januar Urlaub genommen und fragte sich nun, warum er so dumm gewesen war, die kostbaren freien Tage auf Guernsey zu vertun. Er hätte ebensogut in den Süden fliegen und sich in die Sonne legen können.

Aber er wäre dabei allein gewesen. In London, und» im Süden «auch. Nicht, daß es ihm Schwierigkeiten bereitet hätte, in Kneipen oder Hotelbars Mädchen kennenzulernen. Die Frauen hatten es ihm schon immer leichtgemacht, reagierten bereitwillig und entgegenkommend auf einen Blick oder ein Lächeln von ihm. Aber eine Reihe schneller, flüchtiger Affären hatte ihn gelehrt, daß man selbst in der intimsten körperlichen Verschmelzung mit einem anderen Menschen einsam sein konnte. Einsamer manchmal als allein vor dem Fernseher. Irgendwann hatte er den One-night-stands abgeschworen. Er mußte nicht mehr mit Frauen schlafen, um sich von seiner eigenen Unwiderstehlichkeit zu überzeugen. Eigentlich fand er es inzwischen sogar schöner, mit einer Frau zu reden, als sofort mit ihr ins Bett zu gehen.

Wahrscheinlich werde ich alt, dachte er, oder Mummie hat recht, und ich bin so einsam, daß ich nicht einmal mehr am Sex Spaß habe.

Ein Gefühl tiefer Mutlosigkeit überkam ihn, und auf einmal schien auch der Wind um ein weiteres Grad kälter zu werden. Die Gier nach einem Schnaps wurde beinahe übermächtig. Er wußte, daß er sich damit sofort besser fühlen würde. Er stellte sich das Brennen in seiner Kehle vor, die Wärme in seinem Magen, die Leichtigkeit in seinem Kopf. Der fahlgraue Januartag würde Farbe bekommen, und die Luft würde etwas milder werden. Er zögerte eine Sekunde und schaute die Straße hinunter, und in dem Moment sah er sie, und er wußte wieder, weshalb er immer und immer wieder nach Guernsey kam, länger blieb, als es hätte sein müssen, spürte wieder die kindliche Hoffnung, die ihn zwang, stets von neuem einen Ort aufzusuchen, den er eigentlich haßte.

Er sah Maja und dachte, daß es, verdammt noch mal, nie aufhören würde. Er verzehrte sich nach ihr. Wie ein dummer, kleiner Schuljunge betete er sie an, und wider besserem Wissen existierte irgendwo in seinem Gehirn, in seinem Herzen oder in seiner Seele unauslöschbar die Vorstellung, alles — das Leben, der Alltag, die Zukunft — werde besser und schöner, wenn sie sich endlich ganz für ihn entschiede.

«Hallo, Alan«, sagte sie, als sie näher gekommen war.

«Hallo, Maja«, erwiderte er, und glücklicherweise gelang es ihm, seiner Stimme einen gelassenen Ton zu verleihen. In Wahrheit schlug sein Herz heftig, und mehr als zuvor sehnte er sich nach einem Schnaps, der ihm die Ausgeglichenheit zurückgegeben hätte.

«Ich dachte, du wärst längst abgereist«, sagte Maja,»wie schön, dich so unerwartet zu treffen.«

Ihr Lächeln war sanft und liebevoll und glich dem einer Madonna, aber ihre Augen funkelten kokett und verführerisch und verrieten, wie sehr sie jede Geste und jeden Blick kalkulierte.

Alan überlegte, ob sie aus irgendeinem Grund unempfindlich gegen die Kälte war, oder ob sie erbärmlich fror, diesen Preis jedoch für ihr aufreizendes Aussehen zu bezahlen bereit war. Sie trug einen Rock, der so eng und kurz war, daß es kaum möglich sein dürfte, sich damit hinzusetzen. Ihr Pullover war mindestens eine Nummer zu klein gekauft, und die langen Beine steckten in schwarzen, schimmernden Strümpfen. Die Schuhe mit den hohen Absätzen ließen Maja noch größer und schlanker erscheinen, als sie tatsächlich war. Und sie war sehr schlank, womöglich noch schlanker als an Weihnachten, als er sie zuletzt gesehen hatte. Weshalb rührte ihn ihre Magerkeit so? Mühsam rief er sich ins Gedächtnis, daß es nichts an ihr gab, was einem anderen Menschen ein Gefühl der Rührung hätte abringen müssen. Maja war cool und schlau und setzte ihre Belange mit einiger Rücksichtslosigkeit durch. Wenn sie manchmal kindlich und zart aussah, dann deshalb, weil sie in bestimmten Momenten kindlich und zart aussehen wollte.

Sie hatte ihren Mantel über dem Arm hängen; etwas barsch fragte er:»Glaubst du nicht, daß du dich erkälten wirst? Du spazierst ja halb nackt durch die Gegend!«

Sie verzog spöttisch das Gesicht.»Vielleicht ist dein Kreislauf ein bißchen schwach. Ich friere jedenfalls nicht.«

Er bemerkte den bläulichen Schatten über ihren Lippen — die weich waren und voll und warm — und wußte, daß sie log. Ihr war kalt, aber der Mantel hätte zuviel von ihrem Körper verdeckt.

Schlag sie dir aus dem Kopf, dachte er gleichermaßen zornig und verzweifelt, du kannst mit ihr nicht glücklich werden. Kein Mann kann es. Eine Frau, die bei diesen Temperaturen ohne Mantel herumläuft, nur damit jeder ihre Brüste und ihre Beine sehen kann, ist nichts wert!

Er erschrak vor seinen Gedanken. Noch nie war er in der Beurteilung ihrer Person so gnadenlos gewesen, und er bereute die Härte, mit der er sie bedacht hatte. Er war ungerecht. Sie war jung und lebenslustig, sie machte eine Menge Dummheiten, aber alle jungen Leute machten das, die einen mehr, die anderen weniger, und Maja vielleicht etwas mehr… Aber er durfte sie deswegen nicht als wertlos bezeichnen, die Frau, nach der er sich so sehnte, die er so sehr begehrte…

«Mein Flug geht erst in zwei Stunden«, sagte er«,»willst du einen Kaffee mit mir trinken?«

Sie überlegte kurz.»Hast du dein Auto in der Nähe? Wir könnten an einen Strand fahren. Ich liebe das Meer an Tagen wie diesem.«

Er kramte seine Autoschlüssel hervor.»Okay. Fahren wir.«

Manchmal fragte sich Helene, weshalb sie unbedingt hatte in Guernsey bleiben müssen. An Tagen wie diesem fragte sie es sich mit besonderer Ratlosigkeit. Der bleigraue Himmel bedrückte sie, das Heulen des Windes, der Anblick der kahlen Baumzweige im Garten, die sich duckten unter der Wucht des Sturms. Aus irgendeinem Grund fühlte sie Heimweh an einem Tag wie diesem; Heimweh nach einem Land, das sie seit über einem halben Jahrhundert nicht mehr betreten hatte. An den warmen, stillen, blühenden Tagen tröstete Guernsey sie über den Verlust Deutschlands hinweg. An den dunklen und kalten Tagen aber war es, als breche eine alte, schlecht vernarbte Wunde auf. Dann dachte sie an Berlin, an das alte Haus, an die vertrauten Straßen, an Wege, die sie gegangen war, an Menschen, die sie gekannt hatte. Freundinnen aus der Schule, Männer, mit denen sie sich getroffen hatte, bevor Erich aufgetaucht war. Unschuldige Liebeleien, ein paar hingehauchte Küsse und romantische Spaziergänge im tief verschneiten Grunewald. Nichts hatte sich vertieft; erst mit Erich war sie eine ernsthafte Verbindung eingegangen. Aber heute, im nachhinein, erschien ihr manche dieser längst vergangenen Begegnungen wie eine verpaßte Gelegenheit, eine Chance auf ein anderes Leben, die sie hatte verstreichen lassen und die nun unwiderruflich dahin war. Albern natürlich, überhaupt daran zu denken, in ihrem Alter, da nun wirklich alles zu spät war. Beatrice würde sagen, sie solle nicht ihre Energie verschwenden, indem sie über Dinge grüble, die sie nicht ändern könne, oder die der Vergangenheit angehörten. Aber Beatrice war einfach anders: pragmatisch, nüchtern, auf eine fast radikale Weise darauf ausgerichtet, den Blick nach vorn zu halten. Beatrice ließ finstere oder trübe Gedanken nicht zu. Oder verbarg sie schlechte Stimmungen nur besser?

Helene verließ ihr Zimmer, in dem sie unruhig auf und ab gegangen war und ein wenig Ordnung zu schaffen versucht hatte, aber im wesentlichen hatte sie nur ein paar Dinge von einer Stelle zur anderen getragen, und es hatte sich nichts verändert.

Sie ging die Treppe hinunter, lauschte, ob sie irgendwo im Haus ein Geräusch vernahm, das auf die Anwesenheit eines anderen Menschen hindeutete. Aber alles blieb still. Beatrice war vermutlich zum Einkaufen gefahren, das tat sie oft um diese Zeit. Helene ging ins Wohnzimmer. Der Raum wurde den ganzen Tag über geheizt und war gemütlich warm, aber Helene überlegte, ob sie dennoch zusätzlich den Kamin anzünden sollte, da sie den Anblick der Flammen und das Knistern der Scheite immer als so beruhigend empfand.

Erich hatte diesen Kamin bei jeder Gelegenheit beheizt. An nebligen Wintertagen wie an kühlen Sommerabenden. Sie mußte plötzlich an den ersten Herbst auf Guernsey denken, an die Wochen nach ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus. Sie war sehr elend gewesen, schwach und angegriffen, und der Oktober und November hatten kein warmes Altweibersommerwetter gebracht, sondern eine für die Region ungewöhnliche Kälte und überdies Regentage ohne Ende. Lange Zeit war es ihr nicht gelungen, sich zu erholen; wegen der schlechten Witterung, aber vielleicht auch deshalb, weil ihre Seele den Körper im Gesundwerden nicht unterstützen konnte. Sie war deprimiert, hatte Heimweh und fand sich in sich selbst nicht zurecht.

Das einzig Schöne an dieser Zeit war, daß sich Erich mit sehr viel mehr Fürsorge als sonst um sie bemühte. Er machte ihr zwar Vorhaltungen wegen ihrer Tat, aber er vermied es dabei, in einen wirklich scharfen Ton zu verfallen, und sie registrierte, daß sie ihn diesmal wirklich schockiert hatte. Er wurde nervös, wenn er sie im Haus nicht sofort fand oder wenn sie auf sein Rufen nicht antwortete; manchmal war sie so tief in Gedanken versunken, daß sie ihn nicht hörte, obwohl sie keineswegs schlief, sondern aus dem Fenster starrte oder vor dem Kamin Wärme zu finden suchte. Erich schimpfte entsetzlich auf Will, so als habe dieser alles zu verantworten, aber Helene erklärte, Will trage nicht die geringste Schuld, und sie wolle nicht, daß er die Familie verließ. Es war einer der wenigen Momente ihres Lebens, da sie Erich entgegentrat und einen Wunsch äußerte, und es kam zu dem ebenso seltenen Fall, daß Erich ihren Wunsch respektierte. Seine Depressionen machten ihm zu schaffen, er schluckte Unmengen von Tabletten und war heftigen Stimmungsschwankungen ausgesetzt. Helene brauchte eine ganze Weile, um herauszufinden, daß er sich zunehmend zu Beatrice flüchtete, wenn es ihm schlechtging.

Bis heute erinnerte sie sich an den heißen Schrecken, der sie durchfuhr, als sie erkannte, daß sich eine eigenartige Gemeinschaft zwischen ihrem Mann und dem zwölfjährigen Mädchen anbahnte. Es schien keinerlei sexuelle Annäherung zwischen den beiden zu geben, und Helene hielt es auch für unwahrscheinlich, daß es dazu kommen könnte; sie kannte Erichs Moralvorstellungen und wußte, daß er Beatrice nicht anrühren würde. Er hatte es auf etwas anderes abgesehen: Er wollte sie zu seiner Vertrauten machen, zu seiner Komplizin, wollte ihr Verständnis und ihre Zuneigung gewinnen.

Die Eifersucht traf Helene mit der Gewalt eines Faustschlags, aber ihre Gedanken kreisten dabei nicht um Erich, sondern um Beatrice. Erichs Launen und Unberechenbarkeit erschöpften sie immer mehr, und es war ihr nur recht, wenn er sich einen anderen Menschen suchte, bei dem er sich ausweinen und austoben konnte. Aber Beatrice sollte es nicht sein. Beatrice gönnte sie ihm nicht. Beatrice gehörte ihr, und er sollte aufhören, sie in Besitz nehmen zu wollen.

Sie hatte den Tag noch immer lebhaft in Erinnerung, an dem sie zufällig ein Gespräch zwischen den beiden mit angehört hatte. Es war ein Januartag gewesen, im Jahr 1941, ein Tag wie der heutige, mit kaltem Wind und jagenden Wolken. Helene hatte lange geschlafen und war am späteren Vormittag die Treppe hinuntergekommen; sie trug einen Bademantel und fror wie stets seit jenem Tag im September, und sie war dabei, sich resigniert damit abzufinden, daß sie wohl frieren würde, solange sie lebte. Sie sehnte sich nach einer Tasse heißem, starkem Kaffee, aber als sie die Tür zum Eßzimmer öffnen wollte, hielt sie inne, denn sie vernahm Erichs Stimme dahinter. Helene war verwundert, denn sie hatte geglaubt, er sei längst fort.

«Es ist die Kälte«; sagte er gerade, womit er ironischerweise eine Empfindung ansprach, die auch Helene ständig beschäftigte.»Es ist die fürchterliche Kälte in mir. Und die Leere. Es wird nie enden.«

«Ich weiß nicht mehr, was ich dazu sagen soll, Sir. Wir haben schon so oft darüber gesprochen.«

Das war Beatrice. Sie sprach deutsch, mit starkem Akzent noch, aber weitgehend fehlerfrei.

Wie schnell sie lernt, dachte Helene bewundernd, was für ein intelligentes Ding sie doch ist.

Das Gefühl der Bewunderung überschwemmte sie mit einer Wärme, wie sie selten und kostbar für sie geworden war, aber zugleich zog sich ihr Magen plötzlich zusammen, in einem kurzen, bösartigen Schmerz. Sie hatten schon so oft darüber gesprochen. Er vertraute sich ihr also an. Vertraute ihr die Dämonen in seinem Innern an, die Feinde in seinem Kopf, die quälenden Gedanken, die ihn so häufig heimsuchten. Und sie ließ es geschehen, öffnete sich ihm, schenkte ihm Zeit und Verständnis und sprach mit sanfter Stimme zu ihm.

«Es ist ja nicht so, daß ich kein Ziel hätte«, sagte Erich,»natürlich habe ich ein Ziel. Wir Deutschen haben es alle. Wir führen einen großen Kampf um eine neue Weltordnung, und dieser Kampf ist die Aufgabe, der ich diene. Damit hat mein Leben einen Sinn. Es ist ein großartiger Sinn, findest du nicht? Ein großartiger und wichtiger Sinn.«

Beatrice erwiderte darauf nichts — wie sollte sie auch, dachte Helene, als Bürgerin eines besetzten Landes —, aber sie sah ihn vermutlich aus ihren schönen Augen sehr aufmerksam an.

Verzweifelt fragte Erich:»Warum kann ich den Sinn nicht fühlen? Ich kenne ihn, mein Kopf und mein Verstand kennen ihn, aber ich kann ihn nicht spüren! Ich fühle Sinnlosigkeit. Das ist absurd. Absurd und widersinnig angesichts der großen Aufgabe, die mich ganz und gar ausfüllt. Ich verstehe nicht, wie das sein kann. Wenn ich es verstehen könnte, dann wäre es vielleicht einfacher.«

Helene entfernte sich mit weichen Knien von der Tür, setzte sich auf die unterste Treppenstufe. Sie konnte nicht genau ausmachen, was Beatrice erwiderte; irgend etwas sagte sie, etwas Ausweichendes, denn sicher gab sie nicht die Antwort, die sich aus der Situation heraus von selbst eröffnete, die aber vielleicht von einem zwölfjährigen Kind nicht erfaßt werden konnte: daß die große Aufgabe, die Erich beschwor, zweifelhaft genug war, daß sie ihn mehr belastete, als er wahrhaben wollte, nicht unbedingt in einem moralischen Sinn, aber in der Hinsicht, daß man ihres positiven Ausgangs nicht unbedingt gewiß sein konnte.

Er hat Angst, dachte Helene auf einmal mit einer Klarheit, von der sie wußte, es war die Klarheit des richtigen Instinkts, er hat panische Angst vor dem Ende, und er flüchtet in die Depression, um die Angst nicht sehen zu müssen.

Die Tür ging auf, und Erich kam heraus, er war blaß, und seine Augen waren rot gerändert von Müdigkeit. Helene wußte, daß er kaum schlief in den Nächten.

«Ach, Helene«, sagte er, nicht wirklich verwundert, sie dort

vorzufinden,»was tust du hier? Du wirst dich erkälten.«

«Ich wollte frühstücken. Aber mir wurde schwindlig, und ich mußte mich setzen.«

«Nimmst du die Eisenpräparate, die Dr. Mallory dir verschrieben hat?«

Er beugte sich zu ihr herunter, hauchte ihr einen Kuß auf die Stirn.»Ich muß gehen. Beatrice ist da. Sie wird dir Gesellschaft leisten beim Frühstück.«

Er hielt die Schultern gestrafft, den Kopf hoch erhoben, als er den Flur durchquerte und hinaus ins Freie trat. Es mochte ihn mehr Mühe kosten, als es den Anschein hatte. Helene wußte, was sein steifer Nacken, sein durchgedrückter Rücken bedeuteten: Er brauchte alle Willenskraft, den stattlichen Offizier herauszukehren und niemanden merken zu lassen, daß es ihm wirklich dreckig ging. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß, gleichzeitig kam Beatrice aus dem Eßzimmer. Sie sah hübsch aus an diesem Morgen. Der Ausdruck ihres Gesichts zeigte eine Reife, die nicht ihrem Alter entsprach.

«Warum«, fragte Helene scharf,»bist du nicht in der Schule?«

«Wir fangen heute später an. Der Deutschunterricht fällt aus.«

Deutsch war als Pflichtfach an allen Schulen der Inseln eingeführt worden, aber es gab zu wenige Lehrer, und die Stunden fanden nur sporadisch statt.

«Aha. Warum fällt er aus?«

«Die Lehrerin ist krank. Grippe. Und Ersatz ist nicht da.«

Helene erhob sich mühsam; sie mußte sich am Treppengeländer festhalten.

«Und anstatt einmal, nur einmal, nach mir zu sehen,

plauderst du fröhlich und stundenlang mit Erich«, stieß sie hervor.

Beatrice sah sie überrascht an.»Wir haben eine Viertelstunde geredet. Nicht länger.«

«Mit mir hast du heute überhaupt noch nicht geredet. Nicht einmal eine Viertelstunde!«

«Sie haben noch geschlafen.«

«Wer sagt das?«

Helenes Stimme wurde lauter und nahm einen schrillen Ton an.»Wer sagt dir, daß ich geschlafen habe? Daß ich nicht wach gelegen und gehofft habe, irgend jemand kommt und sieht nach mir!«

«Das konnte ich nicht wissen«, antwortete Beatrice höflich und zugleich der ganzen Angelegenheit überdrüssig.»Tut mir leid.«

«Oh — es tut dir kein bißchen leid!«schrie Helene.»Ich spiele keine Rolle in deinem Leben! Ich frage mich nur, warum du mich damals nicht hast sterben lassen. Es wäre besser für uns alle gewesen!«

Beatrice erwiderte nichts, und Helene drehte sich um und stürzte die Treppe hinauf.

«Ich kann es wieder tun! Ich werde es wieder tun!«

Sie verschwand im Bad, schlug die Tür zu und schob den Riegel vor. Schwer atmend sank sie auf den Rand der Badewanne und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Es war eine kühle Feuchtigkeit, ein kalter Film, der sich bei jeder heftigen Bewegung weiter ausbreitete.

Es erfüllte sie mit Genugtuung, Beatrice die Treppe herauf jagen zu hören. Sie rüttelte an der verschlossenen Tür.»Helene, machen Sie auf! Bitte! Kommen Sie raus!«

Helene gab keine Antwort. Sie ließ Beatrice eine ganze Weile bitten und drohen und rührte sich nicht. Schließlich verschwand Beatrice und kehrte mit Pierre zurück, der die Tür eintrat. Das Holz splitterte, und der Riegel löste sich aus der Halterung, flog gegen das Waschbecken und ließ ein Stück Emaille abspringen. Pierre, Beatrice und ein deutscher Wachmann stürmten mit angstgeweiteten Augen in den Raum. Helene saß noch immer auf dem Badewannenrand und starrte den dreien entgegen.

«Alles in Ordnung, Madame?«fragte Pierre in gebrochenem Deutsch, nachdem er sich hastig nach Blutspritzern umgesehen hatte oder nach irgend etwas anderem, was auf einen Selbstmordversuch hindeutete.

«Machen Sie das nie wieder«, sagte Beatrice, die eine Minute gebraucht hatte, ihre Fassung wiederzufinden,»es ist nicht fair. Tun Sie es nie mehr.«

Natürlich hatte sie es wieder getan. Auftritte dieser Art waren irgendwann zur Regel geworden. Je deutlicher sie gemerkt hatte, daß die Wirkung nachließ — irgendwann trat Pierre nicht mehr die Tür ein, und irgendwann war Beatrice nicht mehr gespenstisch bleich nach einem solchen Vorkommnis —, desto wilder hatte sie sich aufgeführt. Als sie kaum noch eine Reaktion bei den anderen hervorrief, war sie in eine neue Strategie geflüchtet. Sie hatte Krankheiten produziert, Fieberschübe, Migräneanfälle. Einmal war sie so stark abgemagert, daß alle fürchteten, man werde sie in ein Krankenhaus bringen müssen.

Über all dem, dachte sie nun, habe ich Beatrices Liebe verloren. Wenn ich sie überhaupt je besessen habe. Ich war ihr immer nur lästig — und bin es bis heute.

Sie ging ans Fenster, schaute hinaus. Der Wind wurde immer stärker, bis zum Abend würden sie Sturm haben. Eine Tür klapperte im Haus, und Helene drehte sich hoffnungsvoll um.

«Hallo?«rief sie fragend.

Es kam keine Antwort.

Sie parkten an der Petit Bôt Bay, gleich vor dem alten, steinernen Mühlengebäude, in dem sich im Sommer ein kleines Bistro befand. Im Garten standen verlassene Holzbänke und Tische, und nur ein paar Möwen spazierten auf dem Kies herum und pickten zwischen den Steinen. Über den leeren Strand hin konnte man das Meer sehen; grau und dunkel donnerte es heute an die Küste. Die Stufen des Fußwegs, der vom Klippenpfad hinunterführte, glänzten naß von der Feuchtigkeit, die in der Luft hing. Die kahlen Gerippe der Bäume bogen sich gefährlich tief und schwankten willenlos hin und her. Die Möwen stießen hohe Schreie aus, ließen sich vom Sturm pfeilschnell und wie auf einer Achterbahn durch die Luft tragen.

Der Flug nach London wird ungemütlich, dachte Alan.

Er hatte versucht, die Autotür zu öffnen, aber der Wind hatte so sehr dagegengetobt, daß er sie fast nicht aufstemmen konnte.

«Ich glaube, auf einen Spaziergang sollten wir wirklich verzichten«, meinte er genervt.

Maja lachte.»Vom Klippenrand werden wir jedenfalls wahrscheinlich nach ein paar Metern hinuntergepustet. Laß uns gemütlich im Auto sitzen und eine Zigarette rauchen.«

Sie kramte eine Schachtel aus der Tasche und hielt sie ihm hin aber er winkte ab. Er nahm ihr das billige Plastikfeuerzeug mit dem Aufdruck Rainbow Colours aus der Hand und gab ihr Feuer; dabei kam ihm die Erinnerung, daß Rainbow Colours der Name einer Diskothek etwas außerhalb von St. Peter Port war, die wegen des ausschweifenden Treibens, das dort stattfand, einen schlechten Ruf hatte. Wann war sie zum letztenmal dort gewesen? fragte er sich. Letzte Woche? Vorgestern? In der vergangenen Nacht?

Er wußte, daß sie hinreißend aussah, wenn sie tanzte. Ihr Körper konnte biegsam und grazil sein wie der einer Artistin. Sie hatte ein unglaubliches Gefühl für Rhythmus und Bewegung. Und einen Sex-Appeal, der Männer umwarf. Sie war eine Sensation, wenn sie nur durch einen Supermarkt ging; in einer Diskothek ließ sie alle übrigen anwesenden Frauen zum Nichts verblassen. Mit wie vielen Männern hatte sie in der letzten Zeit getanzt? Mit wie vielen war sie anschließend ins Bett gegangen?

Daß Gedanken wie diese immer noch so weh taten! Er schämte sich für die Heftigkeit seines Schmerzes, für dieses pubertäre Gefühl hoffnungslosen Verliebtseins, ohne mit dem Verstand gegensteuern zu können. Sie spielte mit ihm, sie führte ihn an der Nase herum. Welchen Zweck sie damit verfolgte — wenn sie überhaupt einen im Sinn hatte —, wußte er nicht.

Der Sturm ließ den Wagen schwanken. Maja lachte.»Das Auto bewegt sich, als ob wir hier drin Liebe machen würden«, sagte sie belustigt.»Auf die Entfernung würde das jeder glauben.«

Alan sah sie nicht an.»Würdest du jetzt gern Liebe machen?«fragte er.

Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette.»Würdest du es gern?«

«Ich habe dich gefragt.«

«Es war immer sehr schön mit dir.«

Das klang aufrichtig, aber er wußte, daß man bei ihr nie sicher sein konnte.»Du warst es ja, der plötzlich nicht mehr wollte!«

«Das ist so nicht richtig«, korrigierte er sie,»ich wollte es nur nicht mehr unter den gegebenen Umständen.«

«Ach, richtig! Ich sollte ja erst der Lebensfreude abschwören und ein ernsthafter Mensch werden, oder irgend so etwas Ähnliches!«

«Ich wollte, daß wir heiraten.«

«Das ist das gleiche.«

«Ich denke wirklich nicht, daß Heiraten und das Ende der Lebensfreude das gleiche sind. Anders ist es natürlich, wenn man Lebensfreude ausschließlich über die Anzahl wechselnder Bettgenossen definiert, mit denen man die Nächte verbringt. Diese Angewohnheit sollte man aufgeben, wenn man heiratet.«

In einer Geste der Provokation blies sie ihm den Rauch ihrer Zigarette ins Gesicht.»Mein Gott! Merkst du nicht, daß du gerade wieder deinen Oberlehrerton anschlägst?«

Er kurbelte sein Fenster herab, wedelte demonstrativ den Rauch hinaus. Der Sturm schoß in den Wagen und brachte einen kalten Schauer mit.

«Dauerhaft wirst du nicht jeden Menschen als Oberlehrer abtun können, der dich darauf hinweist, daß manches mit deiner Lebensweise nicht stimmt, Maja. Abgesehen von deinen Männergeschichten — findest du nicht, daß du wirklich allmählich über deine berufliche Zukunft nachdenken solltest? Du kannst doch nicht ewig nur in Bars und Kneipen herumhängen, dich von deiner Großmutter aushalten lassen und völlig ohne Ordnung in den Tag hinein leben. Irgendwann mußt doch auch du einmal etwas Sinnvolles tun!«

Sie blies ihm erneut den Rauch ins Gesicht.»Was du nicht sagst! Du hast heute einen ziemlich schlechten Tag, kann das sein? Du nörgelst ohne Ende und bist so langweilig, daß mir schon die Füße einschlafen. Wollen wir nicht doch Liebe machen?«

Sie würde nicht mit mir spielen, wenn ihr gar nichts an mir läge, dachte er, bemüht, ihr Verhalten vor sich selbst zu beschönigen. Man spielt nur mit einem Menschen, der irgendeine Bedeutung hat.

«Ich will mit dir reden. Es geht um mehr als um eine schnelle Nummer im Auto. Für mich zumindest geht es um mehr.«

Ungeduldig schlug sie ihre schlanken Beine übereinander.»Ich habe dir ja gesagt, ich komme mit nach London. Sofort. Du mußt nur…«

«Ich muß dir nur eine Wohnung und ein Auto finanzieren, für deinen Lebensunterhalt aufkommen und dich mit teuren Klamotten überschütten. Darauf lasse ich mich nicht ein.«

Einen Rest von Würde, dachte er, muß ich mir bewahren. Einen Rest von Selbstachtung.

«Du hast genug Geld. Und wenn dir wirklich etwas an mir läge…«

«Mir liegt genug an dir, um dich heiraten zu wollen. Das sollte dir als Beweis für meine Gefühle ausreichen.«

Noch einmal blies sie ihm den Rauch ins Gesicht, und er sagte warnend:»Hör auf damit!«

«Womit?«

«Hör auf, mich zu provozieren. Hör auf, dich wie eine dumme Gans zu benehmen. Werde endlich erwachsen!«

Gelangweilt erwiderte sie:»Ich tue, was ich will, das weißt du doch. Was willst du machen?«

«Ich könnte mich endgültig aus deinem Leben zurückziehen«, sagte er trotzig und fand gleichzeitig, daß er sich wie ein kleiner Junge aufführte, der mit dem Fuß aufstampft und leere Drohungen ausstößt.

Sie lachte hell und amüsiert auf, warf ihre Zigarettenkippe auf den Boden des Autos und trat sie mit dem Schuh aus. Sie demonstrierte Rücksichtslosigkeit mit jedem Blick und jeder Geste.

«Gott, du bist so süß, Alan. Wirklich! Du willst dich aus meinem Leben zurückziehen? Das schaffst du doch gar nicht!«

Sie hatte recht, und er hätte sich verfluchen mögen für seine Schwäche. Er schaffte es einfach nicht. Ganz gleich, wie schlecht und nachlässig und abwertend sie ihn behandelte, mit welcher Erbarmungslosigkeit sie ihn lockte und wieder von sich stieß, mit welcher Kaltschnäuzigkeit sie ihre Forderungen an ihn richtete und offensichtlich die Überzeugung hegte, daß sein Widerstand irgendwann zusammenbräche und er ihnen nachkäme. Er wußte, daß sie unbedingt nach London wollte und daß sie eine Möglichkeit finden würde. Über kurz oder lang würde sie einen reichen Kerl auftun, der sie aushielt und dem ihre Eskapaden nichts ausmachten. Sie war schön und furchtlos und von einer faszinierenden Lebensgier.

Ich liebe sie, dachte er resigniert, ich werde sie immer lieben.

«Ich muß zum Flughafen«, sagte er,»aber ich bringe dich vorher nach St. Peter Port zurück.«

«Tu das«, erwiderte sie träge, und ihre Augen verschleierten sich in plötzlicher Schläfrigkeit.»Ich werde nach Hause gehen und mich ins Bett legen. Heute ist ein Tag, um zu schlafen.«

«Andere Leute arbeiten tagsüber«, sagte Alan, obwohl er wußte, daß Maja ihn nun wieder als Oberlehrer bezeichnen würde und daß sie ihn unattraktiv fand, wenn er Ermahnungen aussprach.

«Andere Leute«, sagte Maja,»schlafen dafür nachts.«

«Aha. Und du hast in der letzten Nacht nicht geschlafen?«

Die Schleier über ihren Augen verdichteten sich, und ein angedeutetes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.»Nein. Geschlafen habe ich nicht.«

Ihr Blick verriet alles. Alan versuchte gelassen zu klingen, obwohl die Eifersucht ihm von einer Sekunde zur anderen die Luft abschnürte und wie ein Gift seinen Körper und seine Seele durchzog.»Dann hattest du wohl Gesellschaft.«

Ihr Lächeln vertiefte sich. Sie reckte sich ein wenig, glich einer Katze, die behaglich in der Sonne ruht.»Die hatte ich. Weißt du, das Leben…«

Sie neigte den Kopf zur Seite, schloß für einen Moment die Augen,»das Leben ist unheimlich schön und spannend.«

Mit einer heftigen Bewegung drehte er den Zündschlüssel um und ließ den Motor an.»Wie gut, daß du so empfindest, Maja. Ich freue mich für dich.«

Sie lachte wieder, und dann neigte sie sich plötzlich vor, brachte ihr Gesicht dicht an die Windschutzscheibe.

«Ist das nicht Kevin da draußen?«fragte sie überrascht.

Tatsächlich tauchte Kevin gerade zwischen den hohen Mauern auf, die den Strand zum Festland hin abschirmten. Der Sturm schien ihn fast davonzublasen, und die Feuchtigkeit in der Luft hatte ihn bereits völlig durchweicht.

Dieser Anblick war deshalb so erstaunlich, weil es Kevin nicht im mindesten ähnlich sah, in Sturm und Regen auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen. Er haßte es, nass zu werden, ungepflegt und durchweicht auszusehen.

«Eigenartig«, meinte Maja,»was macht er denn hier? Ich kann mir nicht vorstellen, daß es ihn heute zu einem Strandspaziergang getrieben hat.«

«Was er da tut, ist nicht ganz ungefährlich«, sagte Alan,»es schlagen ziemlich hohe Brecher in die Bucht.«

«Vielleicht hat er sich mit einem Lover getroffen und es mit ihm in irgendeiner Felshöhle getrieben«, mutmaßte Maja. Sie öffnete die Tür an ihrer Seite, stemmte sie mühsam auf und schrie:»Kevin! He, Kevin, wo kommst du denn her?«

Der Wind riß ihr die Worte vom Mund und teilte sie in unhörbare Fetzen. Aber Kevin war gerade vor der Mühle angelangt, hob den Blick und sah das Auto. Er zuckte zusammen, starrte den Wagen so erschrocken an, als habe er eine Erscheinung. Dann kam er vorsichtig näher.

Maja fuchtelte wild mit den Armen.»Kevin!«

Er hatte das Auto erreicht und erkannte nun, wer darin saß. Der Ausdruck des Erschreckens auf seinem Gesicht legte sich.

«Maja! Alan!«

Er war kaum zu hören im Tosen des Sturms.»Warum steht ihr hier herum?«

«Steig ein!«brüllte Maja.»Du holst dir ja eine Lungenentzündung!«

Kevin öffnete die hintere Wagentür und sank auf den Rücksitz. Sein Atem ging schwer und keuchend.

«Lieber Himmel«, stieß er hervor,»was für ein Scheißwetter!«

«Was haben Sie denn am Strand gemacht?«fragte Alan und steuerte das Auto vorsichtig die enge, gewundene Straße hinauf. Kevin strich sich die nassen Haare aus der Stirn.»Ich mußte raus. Mir fiel die Decke auf den Kopf. Da dachte ich, ich laufe einfach ein bißchen am Meer entlang.«

«Also Kevin, entweder bist du krank, oder es stimmt sonst etwas nicht mit dir«, sagte Maja.»Bei dir darf doch eigentlich keine Wolke am Himmel sein, damit du dich aus deinen vier Wänden wagst.«

«Wie du siehst, hast du einen völlig falschen Eindruck von mir, liebe Maja«, sagte Kevin, und er klang ungewöhnlich bissig.»Ich bin nicht die verweichlichte Tunte, die du offenbar in mir siehst.«

Oho, dachte Alan, dem ist aber heute eine Laus über die Leber gelaufen!

Er musterte Kevins Gesicht im Rückspiegel. Kevin sah blaß, angespannt und sehr erschöpft aus. Von dem heiteren Charme, der sonst charakteristisch für ihn war, war nichts zu bemerken. Seine Lippen preßten sich zu einer schmalen Linie zusammen.

«Du bist wohl mit dem falschen Fuß aufgestanden«, sagte Maja und lachte.»Wie bist du überhaupt hergekommen? Wo steht dein Auto?«

«Ich bin mit dem Bus gefahren.«

«Mit dem Bus? Aber wieso…?«

«Maja, kannst du vielleicht aufhören, mich derart auszufragen? Ich meine, willst du auch noch wissen, ob ich heute morgen auf der Toilette war, und wenn ja, warum, und wenn nein, warum nicht?«

«Guter Gott!«meinte Maja.»Ich bin ja schon still! Du hast

wirklich eine Scheißlaune, Kevin!«

«Ich würde Sie gern nach Hause bringen, Kevin«, sagte Alan,»aber ich muß erst Maja nach St. Peter Port fahren, und bis Torteval schaffe ich es nicht, ehe mein Flugzeug geht.«

«Kein Problem. Ich habe sowieso in St. Peter Port noch ein paar Dinge zu erledigen. Ich steige mit Maja aus.«

Schweigend fuhren sie in die Stadt zurück und hielten vor dem dreistöckigen Haus in der Hauteville Road, in dem Maja wohnte. Kevin verließ das Auto sofort, murmelte nur noch einen knappen Gruß.

Maja sah ihm kopfschüttelnd nach.»Das ist aber mysteriös. Hast du Kevin schon einmal so erlebt?«

«Nein. Aber ehrlich gesagt, ist Kevin mir ziemlich egal.«

Er sah Maja an.»Ich muß los. Ich wünsche dir eine gute Zeit.«

«Wann sieht man dich wieder einmal auf Guernsey?«

«Ich weiß noch nicht.«

Seine Finger klopften nervös auf das Lenkrad.»Wahrscheinlich werde ich für längere Zeit in London bleiben.«

Maja neigte sich zu ihm hinüber, hauchte ihm einen Kuß auf die Wange.»Ich werde dich anrufen. Ich könnte dich ja mal in London besuchen.«

«Wir werden sehen«, sagte er förmlich, aber er konnte spüren, daß ihm Maja das nicht abnahm. Sie lachte und hüpfte leichtfüßig aus dem Auto, und ihr Lachen klang ihm noch im Ohr, als er durch das immer stärker werdende Unwetter zum Flughafen fuhr; er hörte es sogar noch, als er schon im Flugzeug saß und die Insel unter ihm immer kleiner wurde, nur noch ein winziger Flecken war im Meer, unbedeutend und doch von so tiefer Bedeutung für ihn.

12

Franca fragte Michael am Abend, ob er ein Verhältnis mit einer anderen Frau habe, und er gab es ohne Umschweife zu. Seine Direktheit erschütterte sie fast mehr als die Erkenntnis, daß sie mit ihrer Vermutung tatsächlich recht gehabt hatte.

«Was heißt das — ja?«fragte sie entsetzt auf seine knappe und klare Reaktion hin.

«Ja heißt ja«, sagte er ungeduldig, und weniger schuldbewußt als neugierig setzte er hinzu:»Wie hast du es herausgefunden?«

«Ich habe es gar nicht herausgefunden. Ich habe es einfach vermutet.«

«Aha — eine Fangfrage, und sie hat funktioniert!«

Er schien ein wenig ärgerlich, daß er ihr so bereitwillig auf den Leim gegangen war.»Ganz schön raffiniert, das muß ich zugeben.«

Franca wartete ein paar Augenblicke, hoffte, daß er etwas zu seiner Rechtfertigung hervorbringen würde. Aber er sagte nichts. Er saß ihr gegenüber am Eßtisch, spielte mit seinem Rotweinglas herum und betrachtete Franca mit kühler Distanz im Blick.

«Wer ist sie?«fragte Franca schließlich, betäubt und mechanisch.

«Du kennst sie nicht.«

«Aber sie wird doch einen Namen haben. Ein Alter. Einen Beruf. Irgendwelche Lebensumstände!«

«Welche Rolle spielt das?«

Er schenkte sich Rotwein nach. Die teure Uhr an seinem Handgelenk blitzte. Er hatte schöne Hände, kräftig und dennoch schlank.

«Welche Rolle spielt es für dich?«

«Ich wüßte gern, wer die Frau ist, an die ich meinen Mann verliere.«

«An die du deinen Mann verlierst! Du bist wieder einmal höchst theatralisch, weißt du das? Woher willst du wissen, daß du mich an sie verlierst?«

«Das habe ich doch schon.«

«Unsinn. So weit ist es noch gar nicht.«

«Also ist sie nur eine Affäre?«

«Das weiß ich nicht. Das werde ich sehen. Muß ich dir das jetzt haarklein definieren?«

Perplex gab Franca zurück:»Muß ich warten, bis du es definieren kannst?«

«Was willst du hören?«

«Wie lange geht das schon?«

«Ein knappes Jahr.«

«Und wo hast du sie kennengelernt?«

«In einer Bar. Es war spät geworden im Labor, ich wollte noch irgendwo etwas trinken, und… na ja, da war sie!«

«Ist sie jünger als ich?«

Wie verrückt, dachte Franca, diese Frage mit vierunddreißig Jahren zu stellen! Normalerweise sind Frauen über fünfzig, wenn sie anfangen, junge Rivalinnen zu fürchten.

Aber vermutlich gab es da keine Regel. Man konnte immer betrogen werden, und die andere konnte immer jünger sein. Oder älter. Das macht im Grunde auch keinen Unterschied.

«Sie ist ein bißchen jünger als du«, sagte Michael,»aber unwesentlich. Anderthalb Jahre, glaube ich.«

Wenn es keine Zwanzigjährige war, was hatte sie dann an sich? Worin bestand ihre Faszination, was machte sie für Michael so attraktiv? Obwohl Franca sich die Antwort denken konnte, stellte sie die Frage und bekam zu hören, was sie bereits geahnt hatte.

«Himmel, Franca, sie ist in allem das Gegenteil von dir! Sie ist ungeheuer selbstbewußt, sehr stark, sehr sicher. Sie strahlt einen umwerfenden Optimismus aus. Sie ist voller Lebensfreude und Energie. Es ist ein Abenteuer, mit ihr zusammenzusein. Sie steckt voller Überraschungen und spontaner Einfälle.«

Er sprudelte das alles hervor, und jedes Wort traf Franca wie eine Ohrfeige. Es ging nicht einfach darum, daß er die andere in den Himmel hob. Es ging darum, daß er sie, Franca, vernichtete. Daß er sie degradierte zu einer Frau ohne Profil, ohne Ausstrahlung, ohne irgendeine Eigenschaft, die sie für einen Mann interessant gemacht hätte. In seinen Augen war sie ein erbärmliches Nichts, und es war so wie immer: Im Handumdrehen hatte er Franca seine eigene Anschauung übergestülpt, ohne daß sie sich dagegen zu wehren vermocht hätte.

Er sah sie als Nichts, und sie empfand sich als Nichts.

Sie schluckte trocken und dachte einmal mehr: Dies ist der Tiefpunkt. Der schwärzeste Moment. Schlimmer wird es nicht werden. Aber es wird auch nie wieder besser werden.

Sie las die Verachtung in seinen Augen. Instinktiv wußte sie, er verachtete ihre Unfähigkeit, sich zu wehren, aufzubegehren. Sie hätte ihm den Rotwein ins Gesicht kippen, einen

Aschenbecher nach ihm werfen oder mit den schlimmsten Vergeltungsmaßnahmen drohen müssen. Sie hätte nicht in sich zusammensinken und zu einem grauen Häufchen Elend werden dürfen. Michael haßte Schwäche, und sie war die personifizierte Schwäche für ihn.

Sie stand auf, weil sie es auf ihrem Stuhl nicht mehr aushielt, und ging zum Fenster, hinter dem rabenschwarze Finsternis alles verschluckte, was es sonst zu sehen gab.

«Wie soll es denn nun weitergehen?«fragte sie schließlich.

Michael hatte sich darüber offenbar keinerlei Gedanken gemacht.»Was heißt, wie soll es weitergehen? Es geht weiter wie immer. Herrgott, Franca, wir leben seit Jahren irgendwie nebeneinander her. Es hat sich eingependelt, oder nicht? Es muß sich nichts daran ändern.«

«Nur, daß du mir von jetzt an nicht mehr sagst, daß du abends später kommst, weil du soviel zu tun hast. In Zukunft sagst du mir direkt, daß du zu ihr gehst, oder?«

«Wenn du das geschmackvoll findest…«

Sie drehte sich zu ihm um. Die Empörung ballte sich wie eine Faust in ihr, und mit einer Schärfe, wie sie seit langer Zeit nicht mehr in ihrer Stimme gelegen hatte, gab sie zurück:»Aber was du tust, das findest du geschmackvoll, ja?«

Er zuckte ein klein wenig zusammen; offenbar hatte ihr Ton auch ihn überrascht.»Vielleicht ist es nicht geschmackvoll«, sagte er nach ein paar Sekunden,»aber ich habe auch nur das eine Leben.«

«Und dich auf mich zu beschränken hieße, es zu vergeuden?«

Er stand jetzt auch auf; sie sah ihm an, daß ihm das Gespräch auf die Nerven ging, daß er es aber führen würde,um den Fall dann abhaken zu können.

«Wenn du es unbedingt Vergeudung nennen willst… Franca, sieh dich doch an! Du bestehst aus Selbstzweifeln, Unsicherheit und Angst, wann immer du zufällig einmal einen Schritt nach vorn machst! Du schluckst Beruhigungsmittel ohne Ende, und dennoch wird es schlimmer statt besser. Ich kann mit dir zusammen nichts planen, weder einen Urlaub noch einen Restaurantbesuch. Ich kann Geschäftspartner nicht mit nach Hause bringen, weil du in eine Panikattacke verfällst, wenn mehr als ein Mensch hier auftaucht. Ich kann dich nirgendwohin mitnehmen, weil du von sieben Tagen der Woche an sechsen behauptest, das Haus nicht verlassen zu können. Glaubst du ernsthaft, das ist das Leben, wie ich es mir vorgestellt habe?«

Francas Handflächen begannen zu kribbeln. Überall in ihr lag die Panik auf der Lauer. Was sollte sie entgegnen? Er hatte recht. Mit jedem einzelnen Wort, das er sagte, hatte er recht.

«Es tut mir leid«, flüsterte sie, und dachte gleichzeitig, daß sie vermutlich die einzige Ehefrau auf der Welt war, die sich entschuldigte, nachdem ihr Mann seine Untreue gestanden hatte.»Ich… ich weiß, daß ich eine Enttäuschung bin für dich.«

Sein Blick umfaßte ihre Gestalt, und jetzt sah er nicht einmal verächtlich, sondern mitleidig drein — was womöglich noch schlimmer war.

«Du warst einmal anders«, meinte er,»und ich war wirklich verliebt in dich. Ich wollte dich unbedingt haben. Ich dachte, alles hinge davon ab, dich zu gewinnen.«

«Was, alles?«fragte sie.

Er fuchtelte mit den Händen.»Alles eben. Das Glück. Die Erfüllung. Was weiß ich!«

Leise sagte Franca:»Wir hätten vielleicht eine gute Chance gehabt.«

«Die hätten wir sicher gehabt«, erwiderte Michael gleichgültig.

Und Franca begriff: Er war so weit entfernt von ihr, daß er dieser Chance nicht einmal mehr nachtrauerte.

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