Zweiter Teil

1

«Ich würde nicht zu dir kommen, Helene, wenn es nicht wirklich wichtig wäre«, sagte Kevin.

Er sah angespannt aus, blaß und unausgeschlafen. Für den ungewöhnlich warmen Apriltag draußen war er viel zu warm gekleidet; er trug Cordhosen und einen blauen Wollpullover. Er schwitzte stark, sein Gesicht glänzte feucht, die dunklen Haarsträhnen klebten an seiner Stirn.

«Warum hast du dich denn so dick angezogen?«fragte Helene.»Es ist doch richtig sommerlich draußen!«

«Vorhin habe ich gefroren. Jetzt ist mir tatsächlich zu heiß. Ich weiß auch nicht…«

Kevin strich sich mit einer erschöpften Bewegung übers Gesicht.»Vielleicht bekomme ich eine Grippe.«

«Du siehst jedenfalls schlecht aus«, meinte Helene besorgt. Sie schenkte ihm Tee nach.»Hier, trink das. Oder hättest du lieber etwas Kaltes?«

«Nein, nein. Tee ist schon in Ordnung.«

Kevin schien kaum zu merken, was er trank. Seine Hände zitterten leicht.

«Ich würde nicht schon wieder zu dir kommen, Helene, wenn es nicht wirklich dringend wäre«, sagte er wiederum nervös.»Sicher denkst du inzwischen, ich kann dir das viele Geld nie zurückgeben, aber ich schwöre dir, daß ich…«

«Darum geht es doch gar nicht«, unterbrach Helene beschwichtigend.»Ich bin überzeugt, eines Tages kannst du alles zahlen und…«

«Mit Zins und Zinseszins!«

«Kommt nicht in Frage. Von Freunden nehme ich doch keine Zinsen. Nein, Kevin, ich mache mir nur ein wenig Sorgen um dich. Soviel Geld, wie du ständig brauchst… Du mußt dich ziemlich übernommen haben.«

«Die Gewächshäuser in der Perelle Bay haben ein Vermögen gekostet. Ich mußte einen höheren Bankkredit aufnehmen, als ich ursprünglich geplant hatte. Und nun hänge ich mit den Zinszahlungen hinterher.«

Vorsichtig fragte Helene:»Wie laufen denn die Geschäfte?«

Kevin zuckte die Schultern.»Es geht. Sie liefen schon besser. Die allgemeine Wirtschaftslage… du weißt ja.«

Helene seufzte. Natürlich, die Zeiten waren schlecht. Fast niemand konnte mehr die gleichen lukrativen Geschäfte tätigen wie noch im Boom der achtziger Jahre. Trotzdem konnte sie sich nicht recht erklären….

«Wieviel Geld brauchst du denn?«fragte sie.

Sie saßen im Eßzimmer, in dem ein düsteres Dämmerlicht herrschte, das den herrlichen Frühsommertag aussperrte. Ein Kirschbaum vor dem Fenster sorgte für kühlgrünen Schatten. Helene und Beatrice hatten ihn gepflanzt, wenige Tage nach Kriegsende, getrieben von dem Bedürfnis, etwas Lebendiges, Wachsendes, Schönes zu schaffen. Damals hatte der Baum ausgesehen wie ein magerer, krummer Besenstiel.

«Auf das Leben«, hatte Helene nach dem letzten Spatenstich gesagt und sich die wirren Haare aus der Stirn gestrichen, und dann war ihr wieder schwindlig geworden, und sie hatte sich rasch hinsetzen müssen. Der Hunger hatte sie zu sehr geschwächt. Ihre ohnehin zarte Konstitution hatte unter den monatelangen Magerrationen sehr gelitten. Sie kippte bei jeder Gelegenheit um, und die Hitze, die damals herrschte, hatte die Sache noch schlimmer gemacht.

Der Baum hatte ewig vor sich hingekränkelt, obwohl sie ihn fleißig gossen, und es hatte immer wieder den Anschein gehabt, als würde er jeden Moment eingehen. Doch plötzlich, als sie schon nicht mehr daran glaubten, hatte sich das dürre Bäumchen von einem Tag auf den anderen erholt, hatte die Blätter nicht länger hängen lassen, hatte sogar noch ein paar schöne, weiße Blüten bekommen. Und nun ist er so stark, dachte Helene, und so groß!

Sie hatte eigentlich mit Kevin draußen im Garten Tee trinken wollen, aber er hatte darum gebeten, die Unterredung im Haus stattfinden zu lassen, und da hatte sie schon gewußt, daß es wieder einmal um Geld ging.

«Ich brauche etwa eintausend Pfund«, sagte Kevin.

Helene hielt den Atem an.»Das ist ziemlich viel Geld!«

«Zwölfhundert wären noch besser. Damit käme ich einige Zeit über die Runden.«

«Meinst du nicht, man hätte diese Gewächshäuser auch billiger haben können?«

«Wenn man etwas macht, sollte es anständig sein.«

Kevin hob in einer hilflosen Geste die Hände.»Ich weiß, ich benehme mich unmöglich. Du mußt dich ausgebeutet fühlen von mir — und ausgenutzt. Aber ich habe niemanden sonst, zu dem ich gehen könnte. Du bist immer wieder die Einzige.«

Wie meist fühlte sich Helene geschmeichelt von Kevins Taktik deren Kalkül sie durchaus durchschaute —, sie zu seiner einzigen Quelle der Rettung und Hoffnung zu erheben. Es tat gut, gebraucht zu werden; gerade dann, wenn man alt war und sich abgetakelt und überflüssig vorkam. Kevin wußte das natürlich und nutzte es für seine Zwecke, aber daneben war Helene überzeugt, daß er sie tatsächlich mochte. Sie ersetzte ihm Mutter, Großmutter, ältere Schwester. Kevin hatte nicht einen einzigen Angehörigen mehr. Oft hatte er beteuert, er würde sich noch verlassener fühlen, gäbe es Helene nicht.

«Ich gehe hinauf und hole den Scheck«, sagte Helene, erhob sich leichtfüßig und sah, wie sich Kevins Gesicht entspannte. Er hatte Angst gehabt, sie könne diesmal streiken. Während sie die Treppe hinaufging, überlegte sie, wieviel Geld er ihr insgesamt schon schuldete. Es mußten an die zehntausend Pfund sein.

Als sie wieder hinunterging, traf sie auf Beatrice, die gerade aus dem Garten kam. Sie trug Arbeitshandschuhe und hatte die Haare mit einem Seidenschal aus dem Gesicht gebunden. Helene kannte den Schal; sie hatte ihn in Paris gekauft und Beatrice geschenkt, und er hatte ein Vermögen gekostet. Und nun benutzte sie ihn wie irgendein Stirnband!

Auf Schritt und Tritt, dachte Helene, auf Schritt und Tritt muß sie mir zeigen, wie wenig ich ihr wert bin!

«Ich habe Kevin im Eßzimmer sitzen sehen«, sagte Beatrice.»Wollte er zu mir oder zu dir?«

«Zu mir«, erwiderte Helene. Sie versuchte den Scheck zu verbergen, den sie in der Hand hielt, aber Beatrice hatte ihn bereits entdeckt.

«Du gibst ihm ja schon wieder Geld! Er war doch vor drei Wochen erst hier! Und die Woche davor! Und Anfang Februar und…«

«Es macht mir nichts aus. Ich habe genug.«

«Ich werde nie verstehen«, sagte Beatrice,»wie du es schaffst, über solche Beträge zu verfügen. So hoch ist deine Rente nun wirklich nicht. Du mußt eisern gespart haben — und das, um nun alles an Kevin zu verschleudern.«

«Ich verschleudere es nicht. Was soll ich als alte Frau mit dem vielen Geld? Es gibt doch nichts Klügeres, als einem jungen Menschen zu helfen, der dabei ist, sich eine Existenz aufzubauen.«

«Kevin hat sich seine Existenz längst aufgebaut. Wenn er jetzt immer noch ständig Geld braucht, dann bedeutet das, daß er höher hinauswill, als es seine Möglichkeiten zulassen.«

«Er hat diese Gewächshäuser in der Perelle Bay gekauft.«

«Das war schon im letzten Jahr. Und diese tollen Gewächshäuser muß ich mir ohnehin einmal ansehen. So, wie er dich ständig anpumpt, muß er sie ungeheuer aufwendig herrichten.«

«Ich dachte immer, du magst Kevin!«

«Natürlich mag ich Kevin. Aber er kann mit Geld nicht umgehen. Ob es sich um Gewächshäuser handelt oder um sonst etwas — irgendwie verkalkuliert er sich ständig. Er ist wie ein Faß ohne Boden!«

«Mit meinem Geld«, sagte Helene nach einem Moment des Schweigens,»kann ich machen, was ich möchte.«

Beatrice hob beide Hände.»Selbstverständlich. Kein Mensch will dir da in etwas hineinreden. Aber sei ein bißchen vorsichtig, ja?«

Das Telefon klingelte und enthob Helene einer Antwort. Beatrice eilte an den Apparat, und Helene begab sich ins Eßzimmer, wo Kevin inzwischen unruhig auf und ab ging. Er griff nach dem Scheck wie ein Ertrinkender nach dem Strohhalm.

«Danke, Helene. Ich weiß nicht, wo ich bliebe ohne dich.«

Er verstaute den Scheck sorgfältig in seiner Brieftasche.»Ich muß los. Möchtest du am Samstag zu mir kommen? Ich koche etwas Schönes für dich.«

«Ich werde kommen«, sagte Helene. Seine Freundlichkeit, sein Lächeln taten ihr so gut wie ein warmer Sommerwind oder der Geruch von Gras und Blüten. Kevin hatte eine bezaubernde Art, die Seele eines Menschen zu streicheln. Helene hätte noch dreimal soviel Geld für seine Zärtlichkeit bezahlt.

Sie begleitete ihn zur Tür, sah ihm nach, wie er in sein Auto stieg. Im vergangenen Herbst war er für einige Zeit ohne Wagen gewesen; jemand hatte ihn beim Parken heftig gerammt, und das Auto war lange in der Werkstatt gewesen. Helene hatte die Reparatur bezahlt, denn den Verursacher des Schadens hatte man nicht ermitteln können. Dies sei schließlich ein Pech, so hatte sie Beatrice erklärt, für das Kevin wirklich nichts konnte.

Er winkte ihr zu, ehe er davonfuhr, und sie wartete, bis er um die Wegbiegung verschwunden war; dann erst schloß sie die Tür. Beatrice kam ihr entgegen.

«Das war Franca«, sagte sie,»du weißt, die junge Frau, die Alan im September angeschleppt hatte. Sie kommt morgen nach Guernsey und wollte wissen, ob sie kurzfristig das Zimmer haben kann.«

«Das ist aber wirklich kurzfristig«, meinte Helene,»sie muß sich ja schnell entschlossen haben.«

«Sie klang merkwürdig«, sagte Beatrice nachdenklich,»aufgeregt und hektisch. Ich wollte wissen, wie lange sie bleibt, und sie sagte, sie wisse es nicht. Dann fügte sie hinzu: ›Vielleicht gehe ich nie wieder zurück‹. Und legte auf.«

Sie hatte zunächst ihre Sachen wahllos in den Koffer geworfen. Es gelang ihr nicht, sich zu konzentrieren. Sie griff in den Schrank, zog heraus, was ihr in die Finger kam, und merkte schließlich, daß sie auf diese Weise eine völlig unsinnige und nutzlose Auswahl traf. Sie räumte alles wieder aus dem Koffer und zwang sich, ihre Gedanken zu sammeln. Es war April. Es war ziemlich warm. Sie sollte ein paar leichte Sachen mitnehmen, T-Shirts, Shorts, ein oder zwei Kleider. Aber sie brauchte auch Pullover für kühle Abende, Jeans, Regensachen. Da sie mit dem Auto fahren würde, konnte sie Gepäck mitschleppen, soviel sie wollte. Ob sie es schaffen würde? Sie hatte sich ihre Reiseroute auf der Karte genau angesehen. Sie mußte bis hinunter nach Saarbrücken, dort über die Grenze nach Frankreich. Dann Richtung Paris, dann weiter in die Bretagne bis St.-Malo und von dort mit der Fähre nach Guernsey…

Franca schloß den Koffer und warf dann Wäsche und Strümpfe in die bereitgestellte Reisetasche. Beatrice hatte etwas überrascht geklungen am Telefon, aber durchaus erfreut.

«Natürlich kommen Sie, Franca! Ich habe noch überhaupt keine Buchung für den Frühling. Das Zimmer steht Ihnen zur Verfügung!«

Beatrices Herzlichkeit hatte ihr gutgetan. Sie hatte Glück gehabt, denn es hätte leicht sein können, daß kein Zimmer frei war. Franca war nicht sicher, ob sie den Mut und die Tatkraft aufgebracht hätte, sich ein anderes Zimmer zu beschaffen. Vielleicht hätte sie den ganzen Plan fallengelassen.

Obwohl ihr, genaugenommen, kaum eine Wahl blieb.

Sie hielt inne in den hastigen Bewegungen, mit denen sie ihre Sachen packte. Sie hatte Koffer und Taschen auf dem Bett verteilt — auf dem Bett, in dem sie seit fast zwölf Jahren mit Michael die Nächte verbrachte. Auch die vergangene Nacht. Die letzte vielleicht.

Er war wieder einmal spät nach Hause gekommen, hatte weder angerufen noch am Morgen nach dem Frühstück etwas davon verlauten lassen, daß es länger dauern würde. Seit einiger Zeit raffte er sich zu diesen Höflichkeiten nicht mehr auf. Er kam und ging, wie es ihm paßte. Er tat so, als sei Franca kaum mehr vorhanden.

Sie hatte ferngesehen und dabei eine Menge Rotwein getrunken, hatte versucht, den aufkeimenden Gedanken zu verdrängen, daß sie ihr Leben in diesem Haus, Abend für Abend allein vor dem Fernseher und mit steigendem Alkoholkonsum, im Grunde vergeudete. Sie war vierunddreißig Jahre alt. Alle sagten, dies sei ein phantastisches Alter und die Jahre zwischen dreißig und fünfundvierzig die besten im Leben einer Frau. Für Franca schienen sie sich zum Alptraum zu entwickeln. Um halb zwölf ging sie ins Bett, müde und schwer vom Rotwein, doch kaum hatte sie das Licht ausgeschaltet, war sie mit einem Schlag wieder hellwach. Sie warf sich hin und her, lauschte auf jedes Geräusch im Haus, knipste das Licht schließlich wieder an, griff nach einem Buch, las und stellte fest, daß es ihr nicht gelang, auch nur einen einzigen Satz wirklich aufzunehmen und etwas vom Inhalt zu begreifen.

Um ein Uhr ging unten die Haustür, und Michael kam die Treppe herauf. An seinem beschwingten Schritt erkannte Franca, daß er guter Laune war. Als er oben angelangt war, versuchte er sich leise zu bewegen — offenbar ist ihm tatsächlich gerade eingefallen, daß es mich noch gibt, dachte Franca bitter. Er kam auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer und zuckte zusammen, als er sah, daß das Licht brannte und Franca wach war.

«Warum schläfst du denn nicht?«fragte er vorwurfsvoll. Seine gute Laune schien von einem Moment zum anderen in sich zusammenzufallen.

«Du kommst ziemlich spät«, gab Franca anstelle einer Antwort zurück. Ihr war klar, daß er von seiner Geliebten kam, sie sah es ihm an, wobei sie nicht hätte definieren können, woran genau sie es bemerkte. Weder saß seine Krawatte schief, noch hatte er Lippenstift im Gesicht, noch waren seine Haare zerzaust. Er roch auch nicht, soweit sie es feststellen konnte, nach fremdem Parfüm. Aber er strahlte etwas aus… eine satte Zufriedenheit, ein gefestigtes Selbstvertrauen, ein Einverständnis mit sich und seinem Leben — Glück…

Ja, vielleicht ist es das, dachte Franca, und feine Stiche in ihrem Magen zeugten davon, wie sehr sie dieser Gedanke berührte: Er ist glücklich.

Sie hatte sich bisher geweigert, den Begriff Glück, der in ihrer Vorstellung eine gewisse Reinheit und eine altmodische Romantik vereinte, mit einer trivialen außerehelichen Affäre in Verbindung zu bringen. Aber womöglich hatte sie sich da etwas vorgemacht. Michael war glücklich, er sah glücklich aus, und damit hatte es sich. Es änderte nichts an seinem Glück, wenn sie es ignorierte.

«Wieviel Uhr ist es denn?«entgegnete Michael auf ihre Feststellung, setzte sich aufs Bett, indem er ihr den Rücken zuwandte, und begann seine Schuhe auszuziehen. Franca warf einen umständlichen Blick auf den Wecker neben sich, obwohl sie sowieso wußte, wie spät es war.

«Fünf nach eins. Ich nehme nicht an, daß du bis jetzt im Labor warst.«

Er hatte die Schuhe nun abgestreift, stand auf und zerrte an seiner Krawatte.»Zum Teufel, nein, natürlich nicht. Was soll ich die halbe Nacht im Büro?«

«Dann warst du bei ihr?«

«Ja.«

«War es nett?«

Sie hatte erwartet, daß er ihre Frage abschmettern würde, daß er sie anherrschen würde, sie solle nicht derartigen Unsinn reden und sie beide in Verlegenheit bringen. Statt dessen zögerte er einen Moment und sagte dann:»Ja. Es war ein wunderschöner Abend.«

Seine Stimme hatte einen weichen Klang. Franca erinnerte sich dunkel, diesen Klang bereits früher einmal gehört zu haben, vor sehr langer Zeit, vor sehr vielen Jahren. Sie hatte ihn schon vergessen, hatte nicht geglaubt, daß es ihn noch gab. Nun zauberte ihn Michael hervor, als sei kein Tag vergangen, als habe sich nichts geändert, als sei nicht in der Zwischenzeit die Welt zusammengestürzt.

Sie brauchte ein paar Momente, um sich zu fassen, dann sagte sie mit rauher Stimme:»Mein Abend war nicht ganz so wunderschön. Ich habe ferngesehen, wobei ich dir schon nicht mehr sagen könnte, was eigentlich lief, und ich habe eine Flasche Rotwein getrunken. Es kamen keine Anrufe. Ich habe mit niemandem geredet.«

Michael zuckte mit den Schultern.»Genau das, was du magst, oder? Keine Anrufe, keine Gespräche. Niemand, der dir Angst einjagen kann. Es ist das Leben, das du führen willst, also sei zufrieden.«

«Du glaubst ernsthaft, das ist das Leben, das ich führen will?«

«Es ist das Leben, das du führst. Also nehme ich an, du willst es auch so.«

«Du meinst, alles, was man tut, will man auch tun? Zwangsläufig?«

«Sonst würde man es ja nicht tun, oder?«

Michael hatte sich ausgezogen, kroch unter seine Bettdecke, streckte sich gähnend.»Ich bin todmüde. Machst du bitte das Licht aus?«

Sie richtete sich auf.»Ist dir jemals in den Sinn gekommen, ich könnte Hilfe brauchen? Deine Hilfe?«

Seine Laune verdüsterte sich nun zusehends. Er hatte einen schönen Abend gehabt, er wollte an einzelne Momente dieses Abends denken und dabei einschlafen, und er wollte sich keinesfalls mit den Problemen seiner Frau beschäftigen. Er konnte sie nicht lösen, und sie hingen ihm schon lange zum Hals heraus.»Müssen wir das jetzt besprechen?«fragte er, erneut gähnend.»Es ist ein Uhr nachts. Ein bißchen Schlaf sollte ich noch kriegen, ehe ich um sechs Uhr wieder aufstehen muß.«

«Es ist nicht meine Schuld, daß du erst so spät ins Bett gekommen bist.«

«Ich habe nicht gesagt, daß es deine Schuld ist. Ich habe dich nur gebeten, mich jetzt schlafen zu lassen. Vielleicht könntest du mir diesen Gefallen tun?«

In seiner Stimme schwang jene feine Schärfe, die Franca zur Genüge kannte und von der sie gelernt hatte, daß es besser war, sie nicht zu ignorieren. Aber hatte sie nicht immer geschwiegen, wenn er ihr signalisierte, sie solle schweigen?

«Es kann so nicht weitergehen«, brach es aus ihr heraus,»du mußt dich endlich dazu äußern, wie du es dir weiterhin vorstellst. Wie lange willst du dein Verhältnis fortführen, und wie lange sollen wir diese Farce von einer Ehe aufrechterhalten?«

Sie hatte hart und klar sprechen, ihm mit Mut und Schärfe die Stirn bieten wollen. Aber wie so häufig klang ihre Stimme weinerlich und anklagend und sogar kindlich. Ein Kind, dachte sie, das um Liebe und Verständnis bettelt.

«Michael«, flehte sie, und damit hatte sie seine Geduld überstrapaziert. Er setzte sich nun auch auf, sah sie aus funkelnden Augen an, und seine Stimme vibrierte vor Wut.

«Hör zu, Franca, ein für allemal, laß mich bei deinen Problemen aus dem Spiel! Ich kann dir nicht helfen, ich kann höchstens mit dir zusammen in diesem Strudel versinken, und dazu habe ich nicht die geringste Lust. Du kommst mir vor wie ein kleines Mädchen, das sich hinsetzt und heult und darauf wartet, daß jemand kommt und es an der Hand nimmt und beschützt und behütet und was-weiß-ich-noch-alles! Aber so funktioniert es nicht, Franca, verdammt noch mal! Für niemanden! Du ziehst dich entweder selbst aus dem Sumpf, oder du läßt dich immer tiefer hineinsinken.

Aber hör auf, um Hilfe zu rufen. Du vergeudest deine Kräfte damit, und die Art von Hilfe, die du haben möchtest, wirst du nicht bekommen!«

Er atmete schwer. In seinen Augen konnte Franca nicht einen Funken Sympathie oder Achtung erkennen. Nur Überdruß und Gereiztheit.

«Und jetzt laß mich in Ruhe«, sagte er und legte sich in die Kissen zurück.

Er war recht bald eingeschlafen, wie sie an seinen

gleichmäßigen Atemzügen erkennen konnte. Sie hingegen tat die ganze Nacht kein Auge zu. Seine Worte hämmerten in ihrem Kopf, und nachdem Verletztheit und Empörung abgeklungen waren, begriff sie zu ihrem Entsetzen, daß er hart und brutal gewesen sein mochte, daß er aber recht gehabt hatte.

Sie war kein Kind mehr. Es würde keine Mutter herbeieilen und sie in den Arm nehmen. Es würde niemand kommen, ihr alle Steine aus dem Weg zu räumen und ihr noch zu sagen, wie sie ihre Schritte setzen mußte, um wirklich unbeschadet durch ihr Leben zu gelangen.

Sie stand allein da.

Sie mußte entscheiden, was sie als nächstes tun wollte. Sie mußte das Risiko auf sich nehmen, das Falsche zu tun. Sie mußte ihre Schritte allein machen und auch allein verantworten. Ihr schwindelte vor der Gnadenlosigkeit dieser Erkenntnis, aber daneben wuchs auch das Gefühl, weder eine Wahl noch etwas zu verlieren zu haben, und dieses Wissen dämmte die aufkeimende Panik ein. Es war, als befinde sie sich im freien Fall, doch sie konnte sich ebensogut diesem Fall überlassen, weil es keinen Sinn mehr hatte, sich dagegen zu wehren.

Hör auf zu strampeln und um Hilfe zu schreien, sagte eine innere Stimme, und vergrabe dich nicht in deiner Angst. Lebe einfach. Mehr wird von dir nicht verlangt.

Bis zum Morgen hatte sie den Entschluß gefaßt, nach Guernsey zu reisen. Ihr Herz raste, und ihr Magen rebellierte, aber sie versuchte, die hysterischen Reaktionen ihres Körpers zu ignorieren. Sie wartete, bis Michael — schweigend, müde und etwas verstimmt — das Haus verlassen hatte; sie fragte ihn nicht, ob es spät werden würde am Abend, weil es nun gleich war für sie, wann er zurückkam. Sie hatte den Eindruck, daß ihre Zurückhaltung ihn ein wenig irritierte, und dieser Umstand erfüllte sie mit einem Anflug von Heiterkeit.

Die Tasche war fertig gepackt. Sie mußte noch ihre Schuhe zusammensuchen und dann zur Bank gehen, um Geld abzuheben und umzutauschen. Zwar hatte sie vor, sich ausgiebig von Michaels Konto in St. Peter Port zu bedienen, aber sie war nicht sicher, ob er es sperren konnte, und sie wollte nicht plötzlich ohne Geld dastehen. Sie würde so viel mitnehmen, daß sie mindestens sechs Wochen durchhalten konnte.

Sie würde ihr Gepäck im Auto verstauen und am nächsten Morgen, sofort nach Michaels Aufbruch, losfahren. Ob sie ihm einen Zettel hinterließe mit den Angaben über ihren Aufenthaltsort und irgendeiner Erklärung, war noch zu überlegen. Eigentlich, dachte sie, muß er vorläufig gar nicht wissen, wo ich bin. Er soll sich ruhig ein paar Tage lang Gedanken machen. Ich kann ja später immer noch anrufen.

In einer Art Trance erledigte sie den Tag über, was erledigt werden mußte. Die Panik lag dabei ständig auf der Lauer; sie nahm zwei Tabletten, um sie unter Kontrolle zu halten. Sie war überzeugt, daß Michael nach dem Zusammenstoß der letzten Nacht an diesem Abend zur gewohnten Zeit nach Hause kommen würde; sie deckte den Tisch, bereitete ein Essen vor, stellte eine Flasche Wein kalt. Die Vorstellung, ihm am Eßtisch gegenüberzusitzen, schweigend vermutlich, in seine verschlossene Miene zu blicken und dabei zu wissen, daß es ihn verwirren und verunsichern würde, am nächsten Tag ihr Verschwinden zu registrieren, gab ihr einen Vorgeschmack von Triumph. Diesmal war sie um eine Nasenlänge voraus. Sie wußte etwas, was er nicht wußte.

Dieser Gedanke, zusammen mit den Tabletten, schenkte ihr ein beinahe siegreiches Gefühl.

Michael erschien den ganzen Abend über nicht. Irgendwann kippte Franca das abgestandene Essen in den Abfalleimer, trank den Wein allein zu Ende, überlegte, ob sie den Tisch wieder abdecken sollte, ließ dann aber alles stehen, wie es war. Sollte Michael doch sehen, was er von nun an mit dem Haushalt anfing, es war nicht mehr ihre Sache. Sie legte sich ins Bett, und wie sie nun schon geahnt hatte, tauchte Michael bis zum Morgen nicht mehr auf, Franca schlief nicht, und im ersten Licht des Tages — es war fünf Uhr früh — erhob sie sich und machte sich reisefertig. Das Hochgefühl war verflogen, machte tiefster Niedergeschlagenheit und Angst Platz. Sie mußte weg sein, ehe die Panik sie fest im Griff hatte, sonst schaffte sie es nicht mehr.

Sie schluckte noch einmal zwei Tabletten, obwohl dies ihre Fahrtüchtigkeit beeinträchtigen würde, aber sie hätte ohne diese Unterstützung nicht die Kraft gehabt, die sie brauchte. Sie schluchzte, als sie ihr vollbeladenes Auto aus der Einfahrt steuerte und noch einmal zum Haus hinsah, das behäbig und friedlich in der Morgensonne lag und das ihr vorkam wie der einzige sichere Ort in einer bösartigen, gefährlichen Welt. Sie weinte vor Angst, und ihre Knie zitterten, aber sie bog um die nächste Straßenecke und fuhr weiter, fuhr immer schneller und weinte heftiger. Sie wußte bereits, daß sie nicht mehr umkehren würde.

2

Helene trug ein weißes Sommerkleid mit Puffärmeln, das viel zu jugendlich für sie war und sie ziemlich grotesk aussehen ließ, an dem sie aber aus unerfindlichen Gründen sehr hing. Sie trug es zu Gelegenheiten, die sie als besonders wichtig empfand. Offensichtlich zählte ein Abendessen bei Kevin für sie zu den herausragenden Anlässen.

«Wie sehe ich aus?«fragte sie, als sie in die Küche kam und ein paar tänzelnde Schritte machte, die, das mußte Beatrice zugeben, nicht ohne Grazie waren.»Ist alles in Ordnung? Meine Haare? Mein Schmuck?«

«Sie sehen perfekt aus, Helene«, sagte Franca.

Sie saß auf einem Stuhl in der Ecke, hatte ein Glas Wein vor sich und wirkte sehr müde. Sie war am Abend zuvor auf Guernsey eingetroffen, und sie konnte es bis jetzt noch nicht wirklich fassen, daß es ihr gelungen war, dieses Abenteuer ohne Probleme zu bestehen. Sie war auf eigene Faust losgefahren und genau dort angekommen, wohin sie gewollt hatte. Sie fühlte sich etwas benommen und befangen in einem Zustand der Irritation über sich selbst.

Helene strahlte über das Kompliment.»Vielen Dank, Franca.«

Wie stets in Francas Anwesenheit sprach sie deutsch, ebenso wie Beatrice.»Ich fühle mich immer so jung und beschwingt in diesem Kleid.«

Leider beschränkt es sich auf das Gefühl, dachte Beatrice, du siehst nämlich verdammt alt aus, Helene!

Helene nahm sich ein Glas aus dem Schrank und schenkte sich einen Schluck Wein ein. Sie trug schönen, alten Granatschmuck, ein Geschenk von Erich zu irgendeinem Hochzeitstag, wie Beatrice wußte. Im Schein der untergehenden Sonne jenseits des Küchenfensters blitzte und schimmerte der Schmuck in einem flammenden Rot.

«Franca und ich werden uns einen schönen, gemütlichen Abend machen«, sagte Beatrice.»Wir haben Pizza bestellt, und Wein ist glücklicherweise genug im Haus. Leider ist es noch ein bißchen zu kühl, um draußen zu sitzen.«

Der Tag war wieder sehr warm gewesen, aber kaum hatte sich die Sonne geneigt, hatte auch ein kühler Wind vom Meer aufgefrischt und ließ sie leise frösteln.

Helene summte vor sich hin. Beatrice lehnte an der Anrichte und beobachtete die alte Frau mit einer Mischung aus Gereiztheit und fast widerwilliger Belustigung.

Ein paar Minuten lang sagte keiner ein Wort, aber ehe sich die Spannung in der kleinen Küche ausbreiten konnte, hörten sie von draußen das Motorengeräusch eines heranfahrenden Wagens: Kevin kam.

Er trat einfach in die Küche, denn die Haustür hatte offengestanden, und Kevin empfand sich sowieso als Mitglied der Familie. Er hatte sich herausgeputzt an diesem Abend, denn er wußte, worauf Helene Wert legte bei Anlässen wie diesem. Seine frisch gefönten Haare glänzten, und er trug eine auffallend schöne Krawatte.

Aber er sieht elend aus, dachte Beatrice, er schläft nicht genug, und er macht den Eindruck eines Menschen, den viele Sorgen plagen.

Kevin machte Helene ein paar überschwengliche Komplimente zu ihrem Kleid, umarmte Beatrice und lächelte Franca voll Herzlichkeit zu.

«Franca! Wie schön, daß Sie wieder hier sind. Beatrice hat gar nicht erwähnt, daß sie einen Gast hat!«

«Es hat sich kurzfristig ergeben«, warf Beatrice ein.»Kevin, wir sind natürlich neidisch, daß du heute für Helene kochst und wir uns hier mit einer Pizza begnügen müssen. Hoffentlich lädst du uns auch bald einmal ein!«

«Versprochen. Auf jeden Fall, solange Franca hier ist. Sie müssen meine Küche kennenlernen, Franca. Sie werden danach nichts anderes mehr wollen.«

Er lächelte und nahm Helene an der Hand.»Komm. Wir müssen los, sonst fällt noch das Essen zusammen. Wir werden einen wunderschönen Abend haben. Beatrice, ich bringe Helene dann wohlbehalten zurück.«

Helenes Miene verriet, daß sie sich wie ein junges Mädchen fühlte, das von seinem Verehrer zum Tanzen abgeholt wird und gefangen ist vom Zauber einer hellen Frühlingsnacht und all ihrer Versprechungen. Sie schien den Umstand zu verdrängen, daß sie über achtzig war und Kevin Ende Dreißig, sowie die Tatsache, daß Kevin sich aus Frauen ohnehin nichts machte. Von Zeit zu Zeit brauchte sie das Abtauchen in eine irreale Welt, in das Gefühl, das Leben liege noch vor ihr und werde alles über ihr ausschütten, was es zu bieten hatte. Beatrice, der es niemals gelang, sich etwas vorzumachen, schwankte wie so häufig zwischen Verachtung und einem gewissen Neid.

Als die beiden verschwunden waren, sagte Franca erstaunt:»Seltsam, dieser ganze Aufwand, den Kevin betreibt, nicht? Ich meine, er ist ein junger Mann. Er hat an einem Samstagabend doch sicher Besseres vor, als für eine alte Dame zu kochen und sie zu verwöhnen!«

Beatrice zündete sich eine Zigarette an.»Sicher hat er Besseres vor. Aber Sie brauchen nicht in Rührung zu fallen, weil er Helene seine Zeit opfert. Er weiß ganz genau, warum er das tut. Schließlich pumpt er sie seit Jahren immer wieder an, und da sie seinem Charme ebenfalls immer wieder erliegt, kommt er damit ziemlich gut durch. Er wird ihr diese Summen nie zurückzahlen können, aber Helene ist ihm derart ergeben, daß sie ihn nie deswegen unter Druck setzen wird. Das brächte sie nicht fertig.«

«Hat sie denn so viel Geld, daß sie ihm immer wieder etwas leihen kann?«

Beatrice schüttelte den Kopf.»Eben nicht, und deshalb finde ich es auch nicht richtig, was Kevin tut. Helene bekommt eine relativ geringe Rente, aber sie hat sich wohl einiges zusammengespart im Lauf der Jahre. Davon hebt sie die Summen für ihn ab. Sie erkauft sich Zuwendung damit. Kevin weiß das, und er nutzt es aus. Er argumentiert natürlich, sie müsse ihm ja nichts geben, aber es ist doch klar, daß man mit einer einsamen alten Frau machen kann, was man will, sie ist in gewisser Weise völlig wehrlos. Sie haben ja gerade erlebt, was ihr dieser Abend bedeutet. Dafür würde sie ihm ihren letzten Penny schenken.«

«Ist Helene so einsam?«fragte Franca.»Ich dachte…«

«Es gibt einsamere Menschen als sie, weiß Gott. Sie lebt hier mit mir unter einem Dach, Mae kümmert sich um sie, Kevin. Aber ich denke…«, Beatrice klopfte die Asche von ihrer Zigarette achtlos ins Spülbecken,»jede Art von Leiden ist immer subjektiv. Wenn Helene leidet, dann leidet sie, auch wenn alle um sie herum meinen, es müßte ihr eigentlich gutgehen. Es ist wohl eine sehr spezielle Art der Einsamkeit, die sie erfüllt. Sie glaubt, daß das Leben an ihr vorübergegangen ist, daß sie alles versäumt hat, was wesentlich ist im Leben. Sie will ihre Jugend zurückhaben, und da das natürlich nicht funktioniert, will sie wenigstens die Illusion von Jugend ergattern. Sie haben ja das unmögliche, jungmädchenhafte Kleid gesehen, das sie für heute abend ausgewählt hat. Da haben Sie den fatalen Punkt, an dem sie ausnutzbar ist. Kevin hat ein ganz gutes Gespür für derartige Schwächen. Bei Helene ist er der Kavalier der alten Schule, der ihr die Hand küßt und ihr sagt, wie zauberhaft sie aussieht. Und sie schmilzt dahin.«

«Vielleicht ist dieses Arrangement insgesamt durchaus sinnvoll«, meinte Franca nachdenklich.»Natürlich kann man sagen, es ist ein bißchen schäbig von Kevin, Helene für seine Aufmerksamkeit sozusagen bezahlen zu lassen, aber immerhin bekommt sie etwas von ihm, was sie das Alter leichter ertragen läßt. Ich denke, die letzten Lebensjahre sind nicht so einfach, und Abende wie dieser, zusammen mit der tagelangen Vorfreude, sind mehr wert als alles Geld.«

«Helene ist ein verzogenes Geschöpf und maßlos in ihren Ansprüchen«, entgegnete Beatrice ärgerlich.»Sie hat schon immer geglaubt, das Leben müsse sie mit Samthandschuhen anfassen, und mit all ihrem Gequengele ist es ihr tatsächlich gelungen, dauernd Menschen zu finden, die sie umsorgt und verzärtelt haben. Es ist einfach unvernünftig, das Geld derart zum Fenster hinauszuwerfen. Schließlich ist es ja möglich, daß ich vor ihr sterbe und sie zum Pflegefall wird, daß sie Betreuung und dafür dringend Geld braucht. Sie denkt einfach nicht voraus, das ist das Unglück mit ihr.«

«Wie lange ist ihr Mann schon tot?«fragte Franca.

«Erich? Seit Mai '45«, antwortete Beatrice kurz und drückte die Zigarette auf einem Teller aus.»Vor genau fünfundfünfzig

Jahren hat er uns verlassen.«

Ihre harsche Stimme schüchterte Franca ein, aber sie fragte dennoch:»Und… war es schlimm für Helene? War es schlimm für Sie?«

«Schlimm?«fragte Beatrice. Sie zündete sich ohne Umschweife die nächste Zigarette an, blies den Rauch in die Luft und schaute nachdenklich den grauen Ringen hinterher.»Wissen Sie, man erschrickt, wenn jemand plötzlich tot ist. Es sei denn, er hat ein Alter erreicht, in dem man damit rechnet, aber das war bei Erich ja nicht der Fall. Er war vierundvierzig, als er starb, und es war schon ein Schock. Für Helene vielleicht noch mehr als für mich, aber für mich auf jeden Fall auch.«

Sie schwieg einen Moment. Franca sah sie abwartend an. Es drängte sie, mehr von Erich zu hören, von den Dingen, die sich vor langer Zeit in diesem Haus zugetragen hatten. Sie wußte nicht sicher, ob ein echtes Interesse in ihr war oder ob sie nur die Stimme in sich betäuben wollte, die von Michael sprach, die ihr Angst einflößte und ihr ständig erklärte, mit ihrem Davonlaufen habe sie etwas Unmögliches getan, das nur ein schlimmes Ende nehmen könne. Sie wollte nicht hinhören. Sie war zu erschöpft, um sich mit all den Problemen, die auf sie zukommen mochten, auseinanderzusetzen.

Morgen denke ich darüber nach. Oder übermorgen. Irgendwann, wenn ich nicht mehr so müde bin.

«Aber der Schock verging«, fuhr Beatrice fort.»Und letztlich waren wir erleichtert. Ich kann nicht sagen, daß Erich ein durch und durch schlechter Mensch war, aber tatsächlich war er ein schädlicher Mensch. Er hat anderen Menschen Unglück gebracht, selbst dann, wenn er es gerade einmal gut meinte. Wenn ich ganz ehrlich bin, kann ich nicht behaupten, es sei schade um ihn.«

«Hat er Helene weiterhin so schlecht behandelt in den Jahren vor seinem Tod?«

Beatrice schüttelte den Kopf.»Er gab sich mehr Mühe. Ihr Selbstmordversuch hatte ihn stärker erschreckt, als er zugab. Vielleicht fürchtete er auch um seine Reputation: Es mußte ein schlechtes Licht auf ihn werfen, wenn seine Frau ständig versuchte, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Denn auf den Inseln hatte sich die Geschichte natürlich in Windeseile herumgesprochen. Also nahm er sich zusammen. Er bemühte sich, ein Eheglück zu demonstrieren, das so natürlich nicht existierte, aber tatsächlich fiel er nicht mehr einfach grundlos über Helene her und machte ihr willkürliche Vorhaltungen. Aber er wurde in anderer Weise unangenehm. Äußerst unangenehm sogar.«

Guernsey, Juni 1941 bis Juni 1942

Zunächst empfand Beatrice Erleichterung, als sich der Umgangston zwischen Erich und Helene entschärft hatte, aber bald merkte sie, daß unterschwellig die gleichen Spannungen herrschten wie zuvor und daß sie sich in dieser unausgelebten Form manchmal furchteinflößender anfühlten als vorher. Man schien auf einem Pulverfaß zu sitzen, das jeden Moment in die Luft fliegen konnte. Im Sommer 1941 wurde es schlimmer. Erich hatte ein depressives Frühjahr hinter sich; er war die meiste Zeit niedergeschlagen gewesen, in sich gekehrt und still bis hin zur Sanftmut. Nun schien er in eine neue Phase zu treten. Er hatte das Tief überwunden, gewann an Energie und Tatkraft. Er konnte jovial und gönnerhaft auftreten, aber auch aggressiv und gehässig. Da er nicht mehr wagte, seinen Zorn an Helene abzureagieren, schikanierte er zunehmend Julien und Pierre. Er gab ihnen bösartige Schimpfnamen und war mit ihrer Arbeit unzufrieden, ganz gleich, wie sehr sie sich anstrengten.

«Ihr seid faul, faul wie Dreck«, sagte er, nachdem er den Garten abgeschritten und festgestellt hatte, daß die Farbe einer neu angestrichenen Bank noch nicht getrocknet war, was er auf zu langsames Arbeiten zurückführte.»Wißt ihr, woran das liegt? Es geht euch zu gut, und das macht euch schwerfällig und unbeweglich. Ihr freßt zuviel, schlaft zuviel, und das muß sich ändern. Nicht wahr? Ihr findet doch auch, daß sich das ändern muß?«

Pierre und Julien erwiderten nichts, sie standen vor ihm, ihre Mützen in der Hand, die Köpfe gesenkt, aber Beatrice, die die Szene aus einiger Entfernung beobachtete, sah, daß Julien ganz kurz aufblickte, und sie gewahrte das wütende Blitzen in seinen dunklen Augen, erkannte, wie heftig er innerlich rebellierte gegen die Demütigung, die stumm hinzunehmen er gezwungen war.

«Für heute bekommt ihr nichts mehr zu essen und zu trinken«, sagte Erich,»und ab morgen nur noch die halbe Ration. Wollen doch mal sehen, ob es dann nicht besser vorangeht mit der Arbeit.«

Es war noch früh am Vormittag; Julien und Pierre hatten die übliche Tasse Kaffee und je zwei Scheiben Brot zum Frühstück gehabt. Der Tag würde sich noch lange hinziehen, und überdies versprach es sehr warm zu werden. Für gewöhnlich konnten die beiden Zwangsarbeiter jederzeit an die Küchentür kommen, die über eine Veranda zum Garten hinführte, und um Wasser bitten; außerdem bekamen sie ein Mittag- und ein Abendessen. Helene war entsetzt, als Erich ihr mitteilte, daß sie absolut nichts Eß- oder Trinkbares ausgeben dürfe.

«Das ist unmenschlich, Erich. Wenigstens Wasser müssen sie doch trinken! Sie haben nichts getan, wofür du sie so quälen solltest.«

«Die beiden müssen begreifen, was Arbeit bedeutet«, entgegnete Erich barsch,»und wenn sie es anders nicht lernen, dann muß es eben so gehen. Du wirst sehen, ihre Disziplin wird sich ungeheuer verbessern.«

Er überlegte einen Moment, dann ging er noch einmal hinaus und erklärte, er habe beschlossen, daß an diesem Tag mit dem Bau des Steingartens begonnen werden solle. Erich hatte schon einige Male von diesem Plan gesprochen. Er hatte sich in die Idee verliebt, am Beginn der Auffahrt, wo der Garten seitlich steil zur Straße abfiel, Steine anzuhäufen und dazwischen einzelne Rosenstöcke zu pflanzen. Die Felssteine sollten vom Meer an der Petit Bôt Bay herangeschafft werden.

Der Soldat, der die Franzosen bewachte, wurde angewiesen, sie auf den Wegen zur Bay und zurück zu begleiten und sicherzustellen, daß sie nicht» auf dumme Gedanken «kämen.

«Sie werden ziemlich oft laufen müssen«, sagte er,»und wenn ich heute abend wiederkomme, will ich ein respektables Ergebnis sehen. Also keine langen Ruhepausen. Die beiden müssen dringend lernen, was es heißt, sich für den eigenen Lebensunterhalt anzustrengen. Mir wird auch nichts geschenkt.«

Er stieg in sein Auto und ließ sich von Will fortfahren. Die Besatzer hatten unweit von Le Variouf mit dem Bau eines unterirdischen Krankenhauses begonnen, und Erich führte die Gesamtaufsicht über das Vorhaben. Er würde den ganzen Tag weg sein.

Beatrice ging zur Schule und mußte ständig an die beiden Franzosen denken. Mae fiel ihre Geistesabwesenheit auf, und nach dem Grund gefragt, antwortete Beatrice, sie mache sich Sorgen wegen Julien und Pierre.

«Meine Eltern sagen, daß es vielen Zwangsarbeitern sehr schlecht geht«, berichtete Mae mit gesenkter Stimme.»Mein Vater hat ein paarmal welche behandeln müssen, die krank waren. Normalerweise haben die Deutschen ihre eigenen Ärzte, aber es waren wohl gerade keine da… Mein Vater sagt, die Leute sind teilweise in einem schrecklichen Zustand. Viele sterben.«

Sie biß in das Käsebrot, das sie von daheim mitgebracht hatte, und sah Beatrice bekümmert an.»Meinst du, Mr. Feldmann will die beiden Franzosen verhungern und verdursten lassen?«

«Unsinn«, sagte Beatrice ärgerlich. Manchmal reizten Maes weit aufgerissene blaue Augen und die piepsige Stimme ihren Ärger.»Aber er will sie quälen, und das ist auch schlimm. Man weiß bei ihm nie, was als nächstes kommt.«

Die Schule schloß bereits am Mittag, was wegen des Lehrermangels jetzt häufig vorkam. Es war sehr heiß, die Luft flirrte, und über dem Meer hatten sich feine Dunstschleier gebildet. Sie hatten Deutschunterricht in der letzten Stunde gehabt, aber Mae hatte fast nichts begriffen, und während sie von St. Martin über staubige Feldwege nach Hause stapften, erklärte Beatrice die Zusammenhänge. Die fremde Sprache bereitete ihr keinerlei Mühe mehr, sie unterhielt sich fast fließend mit Erich und Helene, und manchmal träumte sie sogar auf deutsch. Mae hingegen hatte größte Schwierigkeiten; sie brach sich fast die Zunge und stotterte herum, daß weder ein Engländer noch ein Deutscher sie hätte verstehen können.

Als sie am Eingang des Dorfes vor dem Haus der Wyatts ankamen, hatte sie immer noch nichts begriffen, aber sie verabredeten, sich am nächsten Morgen früher als gewohnt zu treffen und den Stoff noch einmal durchzugehen. Beatrice setzte ihren Weg allein fort. Rechts und links in den Gärten wogte das hohe Junigras, verblühte der letzte Löwenzahn, wucherten dicke Farne und blaßlila Fingerhut. Die Tage waren jetzt endlos lang und die Nächte hell und von einer Wildheit erfüllt, die von der Schlaflosigkeit herrühren mochte, die jetzt Menschen und Tiere plagte. Beatrice erinnerte sich, daß Deborah immer gesagt hatte, im Juni fühle sie sich ständig so, als habe sie Sekt getrunken.»Und sehnsüchtig!«hatte sie gesagt.»So sehnsüchtig! Wenn spät in der Nacht noch immer dieser helle Streifen am Himmel ist, dann denke ich, irgend etwas wartet dort hinten auf mich, irgend etwas ruft und lockt mich, und ich möchte diesem Ruf dann so gern folgen…«

Andrew hatte sie mit hochgezogenen Augenbrauen angesehen.»Ich muß sagen, das klingt ein wenig bedenklich. Du hörst dich an wie ein junges Mädchen, das von der großen Liebe träumt. Wahrscheinlich genüge ich dir einfach nicht mehr!«

Deborah hatte gelacht und ihn umarmt und Beatrice den Eindruck vermittelt, sie habe nur Spaß gemacht. Aber Beatrice wußte, daß ihre Mutter manchmal nachts im Garten gesessen und unverwandt auf den Lichtstreifen im Westen geblickt hatte; drei- oder viermal hatte sie sie dabei überrascht, als sie selbst schlaflos umhergeirrt war. Deborahs ganzer Körper war angespannt gewesen, und in ihren Augen hatte eine fremde, beängstigende Verzweiflung gelegen. Beatrice hatte nicht gewagt, sie anzusprechen, sie war auf Zehenspitzen wieder davongehuscht und hatte sich tief unter ihrer Bettdecke vergraben. Ihre Gewißheit, in einer heilen Welt zu leben, hatte einen Sprung davongetragen; sie vermochte Deborahs Verhalten nicht einzuordnen, aber sie spürte, daß ihre Mutter in Wahrheit nicht so glücklich und ausgeglichen war, wie es nach außen hin stets den Anschein hatte. Im Lauf der Jahre stellte sie aber auch fest, daß die Unruhe Deborah immer nur im Mai zu ergreifen pflegte, daß sie im Juni ihren Höhepunkt fand und Mitte Juli wieder abklang. Es lag an den hellen Nächten. Die dunklen gaben Deborah ihre Heiterkeit und ihr fröhliches Lachen zurück.

Jetzt aber war Juni, und Beatrice mußte ständig an ihre Mutter denken. Ob sie drüben in England auch nachts hinauslief, sich ins Gras setzte und vibrierte vor einem Ereignis, von dem sie nicht wußte, wie es aussehen sollte, dessen Eintreten sie jedoch ersehnte wie nichts sonst auf der Welt? Oder beschäftigte sie die Sorge um ihr Kind so sehr, daß alles übrige in den Hintergrund trat?

Beatrice war überzeugt, daß sie ihre Eltern wiedersehen würde, einen anderen Gedanken hätte sie nicht ertragen, aber manchmal hatte sie Angst, daß in der Zwischenzeit Dinge geschehen könnten, die sie alle zu sehr veränderten, die es unmöglich machen würden, ihr gemeinsames Leben an dem Punkt fortzusetzen, an dem es so jäh geendet hatte. Sie würden den alten Frieden nicht mehr finden. Sie würden mit Bildern leben, die im Gedächtnis brannten, und mit Schrecken, die in den Träumen umhergeisterten. Und wie lange würde es dauern, bis die Deutschen entweder die ganze Welt erobert hatten oder vor ihren Gegnern kapitulieren mußten?

Vielleicht dauert es, bis ich erwachsen bin, dachte Beatrice voller Angst, und Mum und Dad erkennen mich gar nicht mehr, wenn sie mich sehen. Ich bin eine andere geworden, und wir wissen nicht, worüber wir miteinander reden sollen. Sie war deprimiert, als sie die Auffahrt zum Haus erreichte, und die Hitze setzte ihr zu. Früher hatte ihr kein Wetter, ob Sonne, Wind oder Regen, etwas ausgemacht, aber seit einiger Zeit wurde ihr schwindelig, wenn es besonders warm oder kalt war, und sie fühlte sich oft matt und elend.

«Du wächst zu schnell«, hatte Helene gesagt,»du bist fast zehn Zentimeter größer als im letzten Jahr.«

Sie schlich die Auffahrt entlang, hungrig und durstig, und plötzlich sah sie Julien und Pierre, die unter der Aufsicht ihres Bewachers die ersten Felssteine, die sie auf einer Trage vom Meer herangeschleppt hatten, aufeinanderstapelten. Beiden lief der Schweiß in Strömen über die Gesichter, und die Kleider klebten klatschnaß an ihren Körpern. Vor allem Julien machte den Eindruck, als werde er jeden Moment umfallen, als halte er sich mit knapper Not und letzter Kraft auf den Füßen. Der wachhabende Soldat hatte sich in den Schatten einer Buche gekauert, er rauchte eine Zigarette und nahm gelangweilt hin und wieder einen Schluck Wasser aus einer Feldflasche. In der rechten Hand hielt er seine Pistole!

Beatrice eilte, so rasch sie konnte, zum Haus. Helene stand in der Küche und schnitt Tomaten in eine Salatschüssel.

«Wie schön, daß du schon kommst!«rief sie.»Der Salat ist gleich fertig. Du muß unbedingt etwas essen, du siehst ziemlich blaß aus!«

Beatrice stellte ihre Tasche in die Ecke.»Julien und Pierre brauchen auch etwas zu essen. Und zu trinken. Sie sind beide am Ende ihrer Kräfte.«

Helene sah sie unglücklich an.»Ich darf nicht. Du hast gehört, was Erich gesagt hat.«

«Aber sie arbeiten so schwer! Und es ist entsetzlich heiß draußen. Helene, wir müssen ihnen etwas geben!«

«Das können wir nicht riskieren. Der Soldat würde es Erich sagen. Es hat keinen Sinn, Beatrice. Die beiden tun mir furchtbar leid, aber es läßt sich nicht ändern.«

Sie aßen schweigend ihren Salat. Eine halbe Stunde später sahen sie die Franzosen in den rückwärtigen Garten kommen, gefolgt von ihrem Bewacher. Offenbar war ihnen eine kurze Ruhepause zugestanden worden, denn sie ließen sich beide schwer atmend ins Gras fallen und wischten sich den Schweiß aus den Gesichtern. Der Soldat zündete sich die nächste Zigarette an. Er ging ein paar Schritte auf und ab, dann warf er den völlig erschöpften Männern einen prüfenden Blick zu, schien sicher zu sein, daß sie kaum in der Lage waren, sich zu rühren. Hastig verschwand er im Gebüsch.

Kaum war er weg, da erhob sich Julien. Er kam schwankend auf die Füße, taumelte. Sein nasses Gesicht war von einer gespenstischen Blässe. Er torkelte auf die geöffnete Küchentür zu.

«Bitte«, seine Stimme klang krächzend.»Wasser. Nur einen Schluck!«

Beatrice wollte sofort ein Glas unter den Wasserhahn halten, aber Helene griff nach ihrem Arm.»Nein! Wir bekommen schrecklichen Ärger!«

Beatrice schüttelte ihre Hand ab.»Das ist doch egal! Er bricht jeden Moment zusammen!«

Juliens Lippen waren aufgesprungen, sein Atem ging schwer. Die dunklen Augen glänzten fiebrig.

«Bitte«, wiederholte er,»nur einen Schluck. Für Pierre und mich!«

Auch Pierre hatte sich nun aufgerafft und kam zögernd näher.

«Bitte etwas Wasser«, sekundierte er seinem Kameraden.

Noch ehe Beatrice das Glas füllen konnte, tauchte der Soldat wieder aus den Büschen auf. Er entsicherte sofort seine Waffe.

«Was geht hier vor?«brüllte er.

Beatrice erschien mit dem Wasserglas in der Tür.»Die beiden brauchen etwas Wasser. Sie verdursten fast.«

«So schnell verdurstet man nicht«, sagte der Soldat.»Schütte mal das Wasser wieder weg, junge Dame! Eindeutiger Befehl vom Herrn Major!«

«Aber das können Sie nicht machen«, rief Beatrice beschwörend,»die beiden arbeiten so hart! Und es ist so heiß!«

Der Soldat war nicht zu erschüttern.»Das mußt du mit dem Herrn Major diskutieren. Ich habe Befehle auszuführen, und ich werde den Teufel tun, mir Probleme aufzuladen!«

Beatrice sah Helene an.»Helene…«

Helene hob hilflos beide Hände.»Ich kann nichts tun. Es tut mir leid, aber ich habe da nichts zu sagen.«

«Ich führe nur meine Befehle aus«, beharrte der Soldat und richtete seine Waffe auf die erschöpften Männer.»Los, bewegt euch. Wir machen weiter.«

Beatrice fühlte, wie ihr wieder einmal schwindelig wurde.

Was ist das nur, dachte sie, warum ist mir dauernd so schlecht?

«Ihr seid Unmenschen!«rief sie.»Wie könnt ihr so etwas tun? Wie könnt ihr es aushalten, so etwas zu tun?«

«Beschwere dich beim Herrn Major«, entgegnete der Soldat, aber seine Stimme klang plötzlich eigenartig weit weg, als werde sie durch eine Wattewand gedämpft, die zwischen ihm und Beatrice stand. Beatrice fing einen Blick aus Juliens Augen auf, einen Blick voller Traurigkeit und Haß und einem stummen Dank für ihren Mut, mit dem sie sich über Erichs Befehl hatte hinwegsetzen wollen. Sein Blick löste irgend etwas in ihr aus, ein seltsames, fremdartiges Gefühl, das sie nicht einzuordnen und zu erklären wußte. Aber ehe sie noch länger darüber nachdenken konnte, kam die Wand aus Watte schon auf sie zu, kroch in ihren Mund und in ihre Ohren, umschloß sie immer dichter und fester und versenkte schließlich alles um sie herum in nachtschwarze Dunkelheit.

Sie lag in ihrem Bett und versuchte sich zu erinnern, was geschehen war. Verwundert stellte sie fest, daß sie angezogen war und sogar ihre Schuluniform trug. Wieso war sie damit ins Bett gegangen?

Aber da neigte sich bereits das vertraute Gesicht Dr. Wyatts über sie.

«Na bitte, die junge Dame weilt wieder unter uns. Du hast eine ganze Weile geschlafen, Beatrice. Und zuvor warst du richtig weggetreten.«

«Was ist passiert?«fragte sie und setzte sich hastig auf, aber da wurde ihr schon wieder elend, und sie stöhnte leise.

Eine blasse Helene tauchte sofort aus der Zimmerecke auf.»Hast du Schmerzen?«fragte sie.

«Nein. Mir ist nur schwindelig. Aber es geht schon besser.«

«Ich lasse Tropfen hier, die nimmst du jeden Morgen, dann fühlst du dich bald wieder gesund«, sagte Dr. Wyatt.»Du bist einfach ein bißchen schnell gewachsen in der letzten Zeit, das ist alles. Die Entwicklungsjahre überfordern den Körper manchmal«, fügte er, an Helene gewandt, hinzu,»da kann dann schon mal der Kreislauf schlappmachen.«

Er sprach das langsame, sorgfältige Englisch, mit dem er es ihr erleichterte, ihn zu verstehen.»Dazu das heiße Wetter… lange ist der Juni nicht mehr so heiß gewesen wie in diesem Jahr. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«

«Sie fiel plötzlich einfach um«, sagte Helene,»ich war so aufgeregt, daß ich gar nicht wußte, was ich tun sollte.«

«Es ist ja nichts passiert«, beschwichtigte Dr. Wyatt,»und ich denke auch nicht, daß sich dieser Vorfall allzubald wiederholen wird.«

Er klappte seine Tasche zu, blinzelte Beatrice freundlich an und winkte ab, als Helene ihm folgen wollte.»Bemühen Sie sich nicht. Ich finde den Weg. Bleiben Sie ruhig hier oben bei der Patientin.«

«Ein wirklich netter Mann«, sagte Helene, nachdem der Arzt das Zimmer verlassen hatte.»Wie gut, daß wir ihn gleich erreicht haben.«

Sie sah sehr erschöpft und außerordentlich beunruhigt aus.

Sie wird das Ganze wieder einmal schrecklich dramatisieren, dachte Beatrice.

«Du bist noch in der Küche wieder zu dir gekommen«, erklärte Helene,»aber du konntest nicht aufstehen. Pierre hat versucht, dich die Treppe hinaufzutragen, aber er war selber so entkräftet… Der Wachmann mußte helfen…«

Sie schluckte.

«Ich fühle mich ganz gut«, sagte Beatrice,»mir war manchmal schwindelig in der letzten Zeit, aber noch nie so schlimm wie heute.«

«Du bist hier oben dann sofort eingeschlafen. Ich habe Dr.Wyatt angerufen, und zum Glück konnte er sofort kommen.«

Sie seufzte.»Ich hatte solche Angst um dich. Aber Dr. Wyatt scheint das alles in deinem Alter nicht ungewöhnlich zu finden. Meine Güte, was für ein Tag!«

Beatrice war nun endlich ganz wach und registrierte, daß irgend etwas Eigenartiges vorging. Vom Garten herauf klangen Stimmen, Rufe, Geschrei. Türen schlugen, Autos fuhren davon, andere kamen an. Dazwischen bellten wütende Hunde.

«Was ist denn da draußen los?«fragte Beatrice.»Warum ist so ein Lärm?«

«Das muß dich jetzt nicht kümmern«, erwiderte Helene. Sie wirkte hektisch und verstört.»Ich erklärte dir das alles morgen.«

Mit diesen Worten machte sie Beatrice natürlich noch hellhöriger.»Nein. Ich möchte es jetzt wissen. Mir geht es wirklich gut. Ich falle nicht einfach um, egal, was du mir erzählst.«

«Ach«, sagte Helene,»Erich ist natürlich furchtbar wütend… aber ich kann nichts dafür. Es war… es war einfach ein Unglück… du wurdest ohnmächtig, und irgend etwas mußten wir ja tun… wir konnten dich nicht einfach liegen lassen, und…«

«Helene«, unterbrach Beatrice,»was ist passiert?«

Helene sah sie nicht an.»Julien ist weg«, sagte sie leise,»in dem ganzen Durcheinander hat er es geschafft, fortzulaufen. Er ist spurlos verschwunden.«

Die Flucht des Franzosen stellte für Erich einen persönlichen Affront dar, und über Wochen setzte er alle Hebel in

Bewegung, Julien aufspüren und zurückbringen zu lassen. Er ließ Besatzungssoldaten über die ganze Insel ausschwärmen mit dem Befehl,»jeden Stein umzudrehen und nachzusehen, ob der Kerl darunter kauert!«.

Die Geheime Feldpolizei, die sich vielfach aus den Reihen der Gestapo rekrutierte, nahm in allen Städten und Dörfern Hausdurchsuchungen vor. Inselbewohner wurden mitten in der Nacht aus ihren Betten geklingelt und mußten zusehen, wie Polizisten das Unterste zuoberst kehrten, eine gewaltige Unordnung anrichteten und mit scharfen Stimmen barsche Fragen stellten. Hatten sich die Besatzer bislang um ein gewisses Einvernehmen mit der Inselbevölkerung bemüht und sich nicht durch übermäßige Schikanen hervorgetan, so zeigten sie sich nun von der Seite, die sie in anderen besetzten Ländern längst Tag für Tag herauskehrten: Sie demonstrierten, wie gefährlich, rücksichtslos und brutal sie sein konnten. Sie waren als Gegner aufgetreten, mit denen man sich arrangieren mußte — und konnte. Sie konnten auch Feinde sein.

Julien schien wie vom Erdboden verschluckt.

«Er muß Helfer haben!«brüllte Erich.»Wie zum Teufel soll er sonst überleben? Natürlich kann er sich in irgendeiner verdammten Felsspalte am Meer verstecken, und wir finden ihn nie, aber wie will er sich ernähren? Er kann das nicht schaffen!«

«Vielleicht hat er die Insel verlassen«, warf Helene schüchtern ein.»Nach Alderney hinüber ist es nicht so weit, und…«

«Unsinn. Auf Alderney hat er es noch schwerer. Da lebt kaum noch britische Bevölkerung, da sind überall unsere Leute. Vielleicht ist er nach Jersey…«

Erich versank in düsteres Grübeln, schlug dann plötzlich krachend die Faust auf den Tisch, so daß alle zusammenzuckten.»Der Kerl müßte mehr Glück als Verstand haben, wenn ihm das gelungen ist! So einfach verläßt niemand im Boot die Insel und landet auf einer anderen. Es wimmelt von Wachtposten. Die Nächte sind hell und klar, man könnte ihn weithin sehen. Es ist ein Wahnsinn, was er da riskieren würde!«

Noch am Tag von Juliens Flucht wurde Pierre von Soldaten weggebracht. Er war bleich wie der Tod, als sie ihn abführten. Beatrice war halb krank vor Sorge um ihn und fragte Erich am Abend, was mit ihm geschehen war.

«Sie verhören ihn«, war die Antwort,»möglich, daß er von Juliens Vorhaben wußte und den Ort kennt, an dem er sich aufhält.«

«Ich glaube nicht, daß er etwas weiß«, mischte sich Helene ein,»denn Julien hatte bestimmt nichts geplant. Er hat ganz spontan den Augenblick genutzt, als hier das Durcheinander wegen Beatrice herrschte. Und das konnte er ja nicht voraussehen.«

Erich warf Beatrice einen finsteren Blick zu.»Man könnte direkt mißtrauisch werden, Beatrice, wenn man nicht wüßte, daß du zu klug bist, etwas wirklich Dummes zu tun. Fast könnte man das alles für ein abgekartetes Spiel halten. Aber das würdest du nicht wagen, oder?«

«Ich habe es jedenfalls nicht getan«, sagte Beatrice unwillig.

Pierre wurde nach einer knappen Woche zurückgebracht und nahm seine Arbeit wieder auf. Sie hatten ihm die Nase gebrochen, ein Auge blau geschlagen und irgend etwas mit seinem rechten Bein angestellt, denn er humpelte und zog den Fuß nach. Er bekam jetzt wieder Nahrung und Wasser, aber Erich hatte die Zuteilung so strikt rationiert, daß man absehen konnte, Pierre würde die harte körperliche Arbeit nicht allzulange durchhalten. Er mußte den Steingarten nun allein bauen und sich auch sonst um Haus und Garten kümmern. Erich schien entschlossen, ihm niemanden an die Seite zu stellen; Pierre sollte für Juliens Flucht büßen.

«Was haben sie mit dir gemacht?«flüsterte ihm Beatrice zu, als sie ihm an der Küchentür einen Becher Wasser gab.

Pierre trank das Wasser in gierigen Zügen.»Sie haben gefoltert«, raunte er in seinem schwerfälligen Englisch zurück,»aber ich nichts sagen. Nichts wissen. Keine Idee, wo Julien kann sein!«

Beatrice fragte Erich, was mit Julien geschehen würde, sollte er aufgegriffen werden. Erichs Antwort ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:»Er wird erschossen.«

Erich konnte die Suche nicht ununterbrochen mit dem ungeheuren Aufwand fortsetzen, mit dem er sie begonnen hatte; dauerhaft hätte er dafür nicht genügend Leute zur Verfügung gehabt. Aber er ließ Fahndungsplakate drucken und überall auf der Insel verteilen.

«Irgendwann wird ihn jemand sehen«, sagte er grimmig,»und vielleicht wird das jemand sein, der an einer guten Zusammenarbeit mit uns Deutschen interessiert ist.«

Es gab auf den Inseln eine Reihe von Briten, die ein solches Interesse hegten. Die Zahl der Denunziationen — die meist anonym erfolgten — war erstaunlich hoch. In der Hauptsache wurden Leute angezeigt, weil sie ein Radio besaßen; das war verboten, aber viele hatten sich dem Befehl, die Geräte abzugeben, widersetzt. Außerdem blühte ein reger Schwarzmarkt, mit dessen Hilfe das ausschließliche Angewiesensein auf Lebensmittelkarten umgangen wurde.

Auch hier kam es zu Anzeigen, und Erich konnte durchaus darauf hoffen, daß Menschen, die einem entflohenen Zwangsarbeiter Unterschlupf gewährten, über kurz oder lang von einem Nachbarn oder einem langjährigen Intimfeind angezeigt würden.

Zu Beginn der letzten Juniwochen fielen die Deutschen in Rußland ein. In der Schule sprach man aufgeregt davon. Die Deutschlehrerin verkündete, nun gehe es mit großen Schritten dem Endsieg entgegen. Sie zeigte den Schülern auf der Landkarte, wie groß Rußland war.

«Ihr könnt euch sicher denken, wie mächtig Deutschland ist, wenn uns das alles gehört«, sagte sie so stolz, als führe sie selbst die Eroberer an.»Danach wird kein Volk der Welt mehr ernsthaft Widerstand leisten.«

Beatrice fand, daß Deutschland ziemlich klein aussah auf der Karte, verglichen mit Rußland, und es schien ihr recht waghalsig von Hitler, es mit einem so mächtigen Gegner aufzunehmen. Aber dann sah sie die vielen schraffierten Stellen in Europa, die die Gebiete markierten, die von Deutschland erobert worden waren, und sie seufzte tief. Die Nazis hatten bereits eine Menge geschafft. Vielleicht war ihr Selbstbewußtsein durchaus gerechtfertigt. Irgendwann würden sie die Welt beherrschen, und für alle Zeiten würde man die stiefelknallenden Soldaten um sich haben, mußte rechts statt links fahren, deutsch sprechen und die Hakenkreuzfahne wehen sehen anstelle des Union Jack. Aber wenigstens würde sie dann wieder mit Andrew und Deborah Zusammensein.

Der Sommer, sehr heiß und trocken, verging, ohne daß Julien wieder auftauchte. Seine Flucht bedeutete auch einen Bruch in der Beziehung zwischen Erich und Beatrice: Sie fungierte nicht länger als seine Vertraute. Er wußte — und sie bemühte sich nicht, es zu verbergen —, daß sie auf Juliens Seite stand und darauf hoffte, er werde nie erwischt werden. Zwar war sie auch zuvor nie eine Anhängerin Erichs oder gar der Nazis gewesen, ihr Herz hatte für die Besiegten, nicht für die Sieger geschlagen, aber es hatte sich keine Situation ergeben, in der das wirklich offensichtlich hätte werden können. Nun hatten sich die Fronten geklärt. Erich war sich wieder der Tatsache bewußt, daß er das Haus, in dem er mit Beatrice lebte, okkupiert hatte, daß er nicht freiwillig dort aufgenommen worden war. Sie war eine Gegnerin, und er hatte einer Gegnerin allzuviel Intimes anvertraut. Er trat einen inneren Rückzug an, mied ihre Nähe, ließ kein Gespräch entstehen, das über einen notwenigen Informationsaustausch hinausgegangen wäre. Beatrice fühlte, wie er sie ständig fixierte, wie sich sein Blick manchmal förmlich an ihr festsaugte, wie er dagegen ankämpfen mußte, sie wie früher in ein Gespräch über seine Probleme zu ziehen. Er sah schlecht aus und trank zuviel Alkohol, begann oft schon am Nachmittag damit, kaum daß er daheim war. Die Hitze trug dazu bei, daß er dann rasch schläfrig wurde. Beatrice fand es herrlich, häufig mit Helene allein zu Abend zu essen, weil Erich schnarchend auf dem Sofa oder sogar schon im Bett lag. Helene ging ihr zwar auch auf die Nerven, verhielt sich aber nicht feindselig. Sie jammerte und klagte, attackierte aber niemanden.

Hat sich einer von beiden eigentlich je überlegt, wohin ich gehe mit meinen Problemen? fragte sich Beatrice bitter.

Früher hatte sie mit ihren Eltern über die Dinge gesprochen, die sie beschäftigten, und wenn sie mit ihnen nicht hatte reden wollen, war sie zu Mae gegangen. Aber zu Mae fand sie nun keinen rechten Zugang mehr. Sie hatte das Gefühl, Jahre älter zu sein als die Freundin, zuviel erlebt zu haben und ständig zu erleben, wovon Mae keine Ahnung hatte. Mae mußte wie sie unter deutscher Besatzung leben und sich mit gravierenden Veränderungen ihres Alltags herumschlagen, aber sie stand nach wie vor unter dem Schutz ihrer Familie, hatte ihren Vater und ihre Mutter um sich und war ein naives, kleines Mädchen, wie Beatrice fand. Sie erlebte wirklich und hautnah, was deutsche Besatzung hieß. Sie war von ihren Eltern getrennt worden und hatte keine Ahnung, wann sie sie wiedersehen würde. Ihr Leben war von einem Tag zum anderen aus seinem Gefüge gerissen worden, und sie hatte zusehen müssen, wie sie sich in einer völlig veränderten Situation zurechtfand. Neben Mae kam sie sich manchmal wie eine alte Frau vor. Mae kicherte viel und himmelte einen Jungen aus St. Martin an, der sie nicht beachtete, über den sie aber dennoch ständig voller Aufgeregtheit reden wollte. Beatrice reagierte abwechselnd gereizt und gelangweilt. Sie fühlte sich von niemandem mehr verstanden.

Die Deutschen kamen in Rußland auf schon gewohnte Weise ungehindert voran; Erich verkündete jeden Abend neue Etappen und neue Siege.

Die Kanalinseln wurden mehr und mehr zu Festungen umgebaut, zu einer Art vorgelagertem Wall zum Schutz der französischen Küste. Die Besatzer ließen Züge aus Frankreich zum Materialtransport herüberbringen, neue Bahnstrecken wurden gebaut, stillgelegte Gleise wieder in Betrieb genommen. Überall entstanden Mauern, Türme, unterirdische Gänge. Man sah die Kolonnen der Zwangsarbeiter durch die Straßen ziehen — zerlumpte, hungrige Gestalten mit verzweifelten, angstvollen Augen. Seit Hitler Krieg mit Rußland führte, waren es viele russische Gefangene, die auf die Inseln gebracht wurden. Unter der Bevölkerung kursierte eine Menge erschreckender Gerüchte über Mißhandlungen, willkürliche Erschießungen, über Menschen, die vor Hunger und Erschöpfung zusammenbrachen und ohne ärztliche Hilfe in schmutzigen Baracken dahinvegetierten oder starben. Auf Alderney, hieß es, entstehe ein Konzentrationslager, in das Juden vom Festland gebracht werden sollten. Die ganze Situation schien sich zu verschärfen. Die Besatzer wurden nervöser und damit gefährlicher.

«Die Deutschen übernehmen sich mit Rußland«, sagte Dr. Wyatt einmal, als Beatrice von Mae zum Abendessen eingeladen worden war und mit der Familie in dem gemütlichen kleinen Eßzimmer saß.»Noch läuft es gut, aber sie führen nun Krieg mit einem allzu starken Gegner, und irgendwie fangen sie an zu spüren, daß die Luft dünner wird.«

Man hörte von heftigen Bombardierungen Londons, und viele Inselbewohner hatten Angst um Verwandte, die sich dort aufhielten. Nach wie vor gab es keinen Kontakt, keine Verbindung nach England hinüber, aber es sickerten immer wieder Neuigkeiten, Gerüchte, Meldungen durch.

«Die Menschen in London können keine Nacht mehr schlafen«, hieß es,»sie sitzen nur noch in den Kellern, und ringsum krachen Häuser zusammen und brennen ganze Straßenzüge. Sie schicken die Kinder alle aufs Land. Es soll viele Tote geben.«

Hoffentlich gehen Mum und Dad auch aufs Land, dachte Beatrice.

Erich hielt sich nun öfter für einige Tage, manchmal auch für eine oder zwei Wochen, in Frankreich auf, ohne Helene und Beatrice zu informieren, was genau er dort tat. Helene vermutete, daß er den Transport von Baumaterial, hauptsächlich Stahlbeton, auf die Inseln herüber überwachte.

Beatrice fand das Leben jedenfalls wesentlich leichter, wenn er nicht da war. Sie konnte öfter zu den Wyatts hinüber, denn obwohl sie mit Mae nicht mehr allzuviel anzufangen vermochte, verbrachte sie lieber einen Abend im Kreis der englischen Arztfamilie als zusammen mit Helene und ihrem ewigen Gejammere. Helene versuchte zwar stets, sie zum Daheimbleiben zu überreden, aber sie sprach kein Verbot aus, so wie Erich es tat. Beatrice konnte sich freier bewegen, und manchmal schlief sie sogar bei den Wyatts, weil es zu spät geworden war und Helene nicht verlangen konnte, daß sie sich nach der Sperrstunde noch hinausbewegte.

Über den Herbst und Winter hin wurden Erichs Depressionen schlimmer, und sie erreichten einen Höhepunkt am 24. Dezember, seinem Geburtstag. Weihnachten sollte nach deutscher Sitte gefeiert werden, mit einem richtigen Heiligen Abend, mit Tannenbaum, Kerzenschein und Lametta. Pierre und Will hatten den Baum gebracht und im Wohnzimmer aufgestellt, und Helene und Beatrice gingen am Mittag daran, ihn zu schmücken. Erich war im Schlafzimmer verschwunden und ließ sich über Stunden nicht blicken, bis Helene schließlich nervös wurde und meinte, Beatrice solle hinaufgehen und nach ihm sehen.

«Es ist immerhin sein Geburtstag. Er hat seine Geschenke noch nicht ausgepackt, und außerdem sollten wir allmählich die Torte anschneiden. Sag ihm doch, er soll herunterkommen.«

«Warum sagst du es ihm nicht?«

Helene hatte einen Blick wie ein furchtsames Kaninchen.»Ich weiß nicht… Sein Geburtstag ist doch immer so kritisch für ihn… Könntest du nicht…?«

Er ist doch ihr Mann, dachte Beatrice verbittert, als sie

hinaufging, warum setzt sie immer mich ein, wenn es um ihn geht?

Erich reagierte nicht auf ihr Anklopfen, aber die Tür war nicht verschlossen, und Beatrice trat schließlich einfach ein. Heftiger Alkoholgeruch schlug ihr sofort entgegen, das ganze Zimmer war erfüllt davon, und in den Dunst mischte sich ein unangenehmer Schweißgestank. Erich stand am Fenster und sah hinaus in die frühe winterliche Dämmerung, die sich bereits über den Garten senkte und mit jeder Minute schwärzer und finsterer wurde. Er hatte kein Licht angemacht, im Zimmer waren nur noch die Umrisse der Möbel zu erkennen.

«Beatrice?«fragte er, ohne sich umzudrehen.»Bist du es?«

«Sir, wir wollten wissen, ob Sie nicht hinunterkommen mögen. Helene will die Torte anschneiden.«

«Ist es nicht eine furchtbare Jahreszeit?«

Er ging auf ihre Frage nicht ein, drehte sich noch immer nicht um.»So dunkel, so kalt. Hast du bemerkt, daß den ganzen Tag über kein Licht war am Himmel? Nur schwere, graue Wolken. Ein Tag, der nicht hell wurde. Die Dunkelheit des Morgens geht über in die Dunkelheit des Abends. Dazwischen bleibt nichts.«

«Sir…«

«Hast du dir schon einmal Gedanken gemacht, ob es eine Rolle spielt im Leben eines Menschen, in welcher Jahreszeit er geboren wird? Ob in der hellen und warmen oder in der dunklen, kalten? Glaubst du, es prägt sein Leben?«

«Ich glaube das eigentlich nicht.«

«Du bist Anfang September geboren, Beatrice. Das ist im Spätsommer, und die Welt blüht und duftet und wird mit jedem Tag feuriger und bunter. Du kamst auf die Welt und wurdest empfangen von Licht und Schönheit. Du mußt geglaubt haben, in ein Paradies gekommen zu sein.«

Er sprach ein wenig schwerfällig, machte hin und wieder längere Pausen zwischen den Worten, hatte ein wenig Mühe, sich zu konzentrieren, hatte aber offensichtlich auch lange genug über diese Gedanken gebrütet, um sie nun trotz allem formulieren zu können.

«Ich bin in der dunkelsten Zeit geboren«, fuhr er fort.»Am 24. Dezember. Der 21. Dezember ist der kürzeste Tag des Jahres. Der 24. ist nicht viel besser. Eigentlich ist es gar kein Tag. Es ist eine ununterbrochene Nacht.«

Draußen, jenseits des Fensters, verdichtete sich die Dunkelheit. Es erschien Beatrice schwierig, seinen Worten etwas entgegenzuhalten.

«Dafür ist es Weihnachten«, sagte sie schließlich,»das ist doch etwas ganz Besonderes.«

Erich lachte, es klang unfroh und gequält.

«O ja«, sagte er,»etwas ganz Besonderes. Dieser verdammte 24. Dezember ist so besonders, daß kein Mensch jemals daran denkt, daß an diesem Tag noch etwas anderes hätte passiert sein können als die Geburt Jesu. Meine zum Beispiel. Das hat nie irgend jemanden interessiert.«

Er drehte sich endlich um. Ganz schwach konnte Beatrice sein Gesicht erkennen. Es kam ihr grau, alt und müde vor.

«Ich bin nie wichtig gewesen. Für niemanden. Weißt du, was meine Mutter oft zu mir gesagt hat? ›Erich‹, hat sie gesagt, ›du hast mir Weihnachten damals gründlich verdorben. Alle saßen sie unter dem Tannenbaum und haben gefeiert. Ich lag im Bett und mußte dich zur Welt bringen. Hättest du dir nicht einen anderen Tag aussuchen können?‹«

«Das hat sie im Spaß gemeint«, sagte Beatrice.

«Natürlich hat sie es im Spaß gemeint. Natürlich. Aber kein Spaß ist jemals nur ein Spaß, verstehst du? Ein Funken Ernst und Wahrheit ist immer dabei. Meine Mutter hat an jenem Heiligen Abend 1899 bestimmt wirklich gedacht: Verdammt! Warum ausgerechnet heute? Konnte der Bengel nicht etwas früher oder später kommen? Warum heute?«

«Das kann sich niemand aussuchen«, sagte Beatrice sachlich. Wie immer, wenn sie sich mit Erich unterhielt, verspürte sie den ersten Anflug von Kopfschmerzen. Es war, als verkrampfe sich etwas in ihrem Gehirn. Warum machte er seine Probleme nicht irgendwann einmal mit sich allein ab?

Er starrte sie an.»Mein Leben ist so dunkel wie der Tag, an dem ich geboren wurde.«

«Möchten Sie nicht mit hinunterkommen?«

«Ich komme später«, sagte er und wandte sich wieder zum Fenster.

Er erschien nicht zum Essen. Helene und Beatrice saßen allein bei Heringssalat und Wein. Helene war nervös und angespannt.

«Jedes Jahr ist dieser Tag ein Drama«, sagte sie und spielte unruhig mit ihrem Serviettenring.»Ich weiß nicht genau, womit er nicht zurechtkommt. Vermutlich damit, daß er einfach ein Jahr älter wird.«

«Vermutlich damit, daß er einfach nicht im Mittelpunkt steht«, entgegnete Beatrice.

Erich kam, als Helene und Beatrice gerade beschlossen hatten, schlafen zu gehen. Die Kerzen am Baum waren heruntergebrannt, der Tisch abgedeckt, der Raum von Schläfrigkeit erfüllt. Der Wein hatte Beatrice benebelt; es war das erste Mal, daß sie Alkohol getrunken hatte. Sie fand es ein wenig schwierig, sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren.

Erich war glänzender Laune und sehr berauscht. Beatrice vermutete, daß er Tabletten genommen hatte, um sich aufzuputschen. Er wollte nichts mehr essen, aber er lamentierte herum, weil die Kerzen am Baum nicht mehr brannten, und schließlich mußte Helene auf die Suche nach neuen Kerzen gehen, sie in den Haltern befestigen und anzünden. Erich sagte, sie sollten alle zusammen» Stille Nacht «singen, aber es waren dann nur er und Helene, die sangen, weil Beatrice den deutschen Text nicht kannte. Dann stellte sich Erich in die Mitte des Zimmers und begann einen Vortrag über den Krieg zu halten, wobei er sich hochtrabender Worte, wilder Gesten und dramatischer Blicke bediente. Der Endsieg war in greifbarer Nähe, der Führer stand im Begriff, der Welt seine ganze Größe zu beweisen, die Herrenrasse säuberte die Erde von allen niederen Subjekten. Erich schleuderte Parole um Parole in den Raum, mit heiserer, betrunkener Stimme, aber mit etwas seltsam Unechtem in seinem Blick, in seiner Gestik, in seiner Ausstrahlung.

Er glaubt nichts von dem, was er sagt, dachte Beatrice, er redet vorformulierte Worte, weil er nicht nachdenken will. Aber es ist Schwachsinn, und er weiß, daß es Schwachsinn ist.

«Ich gehe schlafen«, sagte sie und wollte aufstehen, aber Erich drückte sie auf ihren Stuhl zurück.»Bleib sitzen. Ich bin noch nicht fertig.«

Er redete weiter, öffnete zwischendurch eine Weinflasche, schenkte Helene und Beatrice trotz deren Protest ein, trank selber ein Glas und gleich darauf ein zweites. Seine Worte wurden undeutlicher, die Sätze erschienen manchmal zusammenhanglos, dann wieder ergaben sie einen gewissen Sinn, waren aber einfach die Wiederholung dessen, was die Nazi-Propagandamaschinerie ständig ausspuckte.

Irgendwann waren die Kerzen ein zweites Mal heruntergebrannt, und Erich stand nicht mehr, sondern saß, hielt sich am Tisch fest und verkündete, daß er Erich Feldmann heiße und niemand etwas dagegen tun könne.

«Vielleicht sollten wir ihn hinaufbringen«, meinte Beatrice.

Erich sträubte sich nicht, als er rechts und links untergefaßt und die Treppe hinaufgeführt wurde. Er versuchte zu reden, aber es gelang ihm nicht mehr, ein einziges klares Wort auszusprechen. Oben im Schlafzimmer bugsierten Helene und Beatrice ihn sofort zum Bett, wo er sich ausstreckte und im nächsten Moment einschlief.

«Morgen wird ihm entsetzlich schlecht sein«, sagte Helene seufzend.»Ich frage mich, ob es jemals möglich sein wird, mit ihm ein Weihnachten zu erleben, das nicht schrecklich ist!«

Beatrice fand, daß praktisch jeder Tag schrecklich war mit ihm, aber sie sagte nichts. Sie sehnte sich nach Ruhe und Schlaf, und mehr denn je nach Deborah und Andrew.

Am nächsten Morgen wachte sie sehr früh auf, obwohl sie erst so spät ins Bett gekommen war. Ein nebliger, kalter Tag schaute zum Fenster herein, grau und dunkel. Ihr fiel ein, was Erich über diese Jahreszeit gesagt hatte, und für einen Moment konnte sie den Schauder nachempfinden, der ihn erfüllen würde, wenn er heute die Augen aufschlug und den Nebel sah. Aber dann erinnerte sie sich, daß es der 25. Dezember war und daß sie in früheren Zeiten den Tag schön gefunden hätte, trotz der Kälte und des Nebels. Im Wohnzimmer hätte ein warmes Feuer im Kamin gebrannt, das Haus hätte geduftet nach Kaffee und Eiern mit Speck, und sie hätte im Morgenmantel auf dem Teppich gekniet und ihre Geschenke ausgepackt. Sie hätte sich eingehüllt gefühlt von Liebe und Wärme, hätte den Weihnachtsliedern gelauscht, die Deborah mit leiser Stimme vor sich hin trällerte.

Sie stand auf, zog sich an und ging nach unten, fand ein kaltes, ungemütliches Eßzimmer vor, in dem kalter Kerzenrauch zwischen den Wänden hing und leere Gläser und Flaschen auf dem Tisch standen; Überbleibsel des Alkoholexzesses, dem sich Erich am Vorabend hingegeben hatte.

Auf einmal befiel Beatrice der Eindruck, diesen Morgen in diesem Haus mit Erich und Helene nicht aushalten zu können. Er würde zu trostlos sein, zu traurig. Sie zog ihren Mantel an, huschte hinaus und machte sich auf den Weg zu Mae.

Die Luft war kalt und feucht, und der Nebel ließ nur eine Sicht von wenigen Metern zu. Silbriger Rauhreif lag über den Wiesen rechts und links der Straße. Hin und wieder stahl sich ein Streifen Sonne zwischen den Nebelwänden hervor und sickerte über die Gräser und Mauern. Kein Laut war zu hören. Eine vollkommene Stille hüllte die Insel ein, der Nebel schien alles Leben verschluckt zu haben. Beatrice zog fröstelnd die Schultern hoch und wußte dabei, daß ihr Frieren nicht nur von der Kälte herrührte.

Das gemütliche Haus der Wyatts mit seinen Sprossenfenstern und den vielen Obstbäumen im Garten tauchte am Ortsausgang vor ihr auf. Nirgendwo brannte Licht, was Beatrice irritierte. Schlief die Familie noch? Aber die Läden waren geöffnet, und nach einigem Zögern betätigte Beatrice den Türklopfer aus Messing.

Nichts rührte sich. Sie probierte es ein zweites Mal, aber

wiederum blieb alles still. Sie ging um das Haus herum, trat an die Küchentür, spähte durch die Glasscheibe hinein. Sie sah Julien, der am Tisch saß und Kaffee trank.

Er erblickte sie im gleichen Moment wie sie ihn und sprang auf. Einen Augenblick lang hatte es den Anschein, als wolle er aus der Küche stürzen und sich verstecken, aber dann wurde ihm wohl die Sinnlosigkeit einer solchen Reaktion klar. Er blieb also stehen, und sie starrten einander an, Beatrice voller Staunen, und Julien voller Entsetzen.

Dann kam Julien auf die Tür zu, schob den Riegel zurück und öffnete.

«Beatrice!«

Seine Stimme klang heiser.»Bist du allein?«

«Ja. Es ist niemand bei mir. Julien… ich weiß gar nicht, was ich…«

Er trat einen Schritt zurück.»Komm rein!«flüsterte er, und kaum war sie drinnen, verriegelte er die Tür schon wieder.

«Ich habe vorn geklopft.«

Unwillkürlich flüsterte auch Beatrice.»Aber als sich nichts rührte…«

«Ich habe das gar nicht gehört«, sagte Julien. Er sah sehr blaß aus, immer noch zutiefst erschrocken.»O Gott, es war wohl schrecklich leichtsinnig von mir, hier in der Küche zu sitzen. Es hätten Deutsche sein können, die plötzlich zur Tür hereinschauen.«

«Oder Nachbarn, die Sie verraten könnten«, meinte Beatrice.»Wie lange sind Sie denn schon hier?«

«Seit dem dritten Tag nach meiner Flucht. Ich hatte mich zunächst in den Felsen an der Küste versteckt, aber dort konnte ich natürlich nicht überleben. Dr. Wyatt war der einzige Mensch, den ich kannte — und dem ich vertraute. Er hat mich sofort aufgenommen.«

«Ich war so oft hier«, sagte Beatrice,»und nie habe ich etwas bemerkt.«

«Ich lebe auf dem Dachboden.«

Julien verzog das Gesicht.»Nicht der beste Aufenthaltsort, aber besser als die Arbeit für die Deutschen. Dr. Wyatt überlegt immer wieder, wie er mich von der Insel wegbringen kann, aber er meint, es sei zu gefährlich. Die Deutschen bewachen alle Küsten ringsum.«

«Weiß Mae Bescheid?«fragte Beatrice, und Julien nickte.

«Natürlich. Es würde nicht funktionieren, wenn man sie nicht eingeweiht hätte. Offenbar hat sie aber tatsächlich den Mund gehalten.«

«Das hat sie.«

Beatrice war erstaunt. Die alberne, kindische Mae brachte es tatsächlich fertig, über eine solche Sensation zu schweigen. Das hätte sie ihr nicht zugetraut.

«Wo sind Mae und ihre Eltern?«fragte sie.

«Bei Freunden. Sie sind zum Weihnachtsfrühstück eingeladen und werden mittags wiederkommen. Möchtest du einen Kaffee, Beatrice? Setz dich doch!«

Er rückte einen Stuhl für sie zurecht. Allmählich schien er sich zu entspannen.»Ich mußte einfach mal vom Dachboden herunter. Man wird ganz verrückt da oben. Manchmal habe ich richtig Platzangst. Ich möchte das Fenster aufstoßen und schreien, aber natürlich tue ich es nicht.«

Er nahm eine zweite Tasse aus dem Schrank, stellte sie vor Beatrice hin, schenkte Kaffee ein.»Hier, trink das. Du siehst ziemlich verfroren aus.«

Der heiße Kaffee tat gut. Beatrice schloß ihre klammen Finger um die Tasse, spürte das Kribbeln der Wärme.

Wie schön ist es, dachte sie, hier mit Julien zu sitzen und Kaffee zu trinken, anstatt mir drüben Erichs Geschwätz und Helenes Gejammer anzuhören.

«Was machen Sie den ganzen Tag?«fragte sie.

Julien sah richtig stolz aus.»Ich lerne Englisch. Ich kann es ja aus der Schule, aber mir fehlte natürlich die Übung. Jetzt lese ich englische Bücher, und Dr. Wyatt hat mir noch eine Grammatik gegeben, mit der ich arbeite. Findest du nicht, daß ich schon ziemlich gut bin?«

«Sie sind perfekt.«

Sein Englisch war tatsächlich um vieles besser geworden. Allerdings sprach er nach wie vor mit einem starken französischen Akzent, den Beatrice aber höchst interessant fand. Sie hätte ihm stundenlang zuhören können.

«Ich weiß ja nicht«, fuhr Julien fort,»ob ich je in meine Heimat zurückkann. Nach meiner Ansicht wird es auch das unbesetzte Frankreich nicht mehr lange geben. Die Deutschen breiten sich aus wie ein Krebsgeschwür, schnell und rücksichtslos wuchernd. Wenn es mir also je gelingen sollte, diese Insel zu verlassen, kann ich vielleicht nur nach England hinüber. Besser, ich beherrsche dann die Sprache.«

Seine dunklen, melancholischen Augen verschleierten sich, und ein Ausdruck von Trauer und Müdigkeit, der Beatrice anrührte, legte sich über sein Gesicht. Sie war versucht, nach seiner Hand zu greifen, scheute aber davor zurück.

«Sie haben Heimweh, nicht wahr?«fragte sie statt dessen.

Julien nickte.»Manchmal denke ich, ich sterbe vor Heimweh. Nach meinen Eltern, den Geschwistern, nach meinem Land. Nach den Freunden, nach meiner Sprache. Und nach der Freiheit.«

Er atmete tief.»Kälte und Feuchtigkeit hängen in deinen Kleidern und in deinem Haar, Beatrice. Ich möchte am liebsten davon trinken. Oft habe ich ein solch starkes Bedürfnis, hinauszulaufen, über die Wiesen zu rennen, über die Klippen am Meer zu klettern, durch Wälder zu streifen, meinen Kopf auf die Erde zu legen, Gras und Rinde und Blumen zu atmen oder den kalten Wind auf meinem Gesicht zu spüren. Ich denke, ich werde verrückt, wenn ich nicht endlich meine Kraft wieder ausprobieren kann, meine Muskeln und meinen Körper spüren…«

Er bewegte seinen Arm.»Ich trainiere jeden Tag mit Gewichten. Ich kann nicht nur an einem Fleck sitzen und zusehen, wie mein Körper schlaffer und schwächer wird.«

«Vielleicht dauert das alles nicht mehr lange«, tröstete Beatrice,»es heißt, es steht nicht gut für die Deutschen in Rußland.«

Julien hob beide Hände.»Wer weiß es? Hitler hat den Teufel auf seiner Seite. Der Teufel ist stark.«

Abrupt wechselte er das Thema.»Wie geht es Pierre? Ist er noch bei euch?«

«Ja. Sie haben ihn damals verhört. Und gefoltert.«

«Das habe ich befürchtet. Ich hätte nicht weglaufen sollen, nicht wahr? Aber ich habe schon so lange mit dem Gedanken gespielt. Immer wieder habe ich Pläne gemacht, und ich habe auch versucht, Pierre dafür zu gewinnen. Ich wollte mit ihm fliehen. Aber Pierre war zu ängstlich. Er hat immer gesagt, er wagt es nicht, so etwas zu tun. Irgendwann war mir klar, daß ich es nur allein machen kann. Daß er nicht die Nerven dafür haben würde.«

«Es geht ihm jetzt einigermaßen gut«, sagte Beatrice.»Im Winter ist auch nicht soviel zu tun. Er bekommt sehr wenig zu essen, aber insgesamt wird er gut behandelt.«

Julien nickte gedankenverloren. Dann wieder schweiften seine Augen wach und unruhig durch die Küche.

«Wir müssen sehr vorsichtig sein«, sagte er eindringlich.»Bist du sicher, daß niemand dir gefolgt ist?«

«Nein, niemand. Und ich werde auch zu niemandem etwas sagen. Ich hoffe nur…«

Sie sprach den Satz nicht zu Ende, wissend, daß Julien ahnte, woran sie dachte. Razzien und Hausdurchsuchungen waren auf der Insel an der Tagesordnung, und Dr. Wyatt konnte es ebensogut treffen wie jeden anderen auch. Julien schwebte Tag und Nacht in höchster Gefahr.

«Wir stehen das alles durch«, sagte sie und machte eine Handbewegung, die die kleine Küche einschloß und die ganze Insel meinte.»Das alles. Diesen ganzen Krieg, die Deutschen, den ganzen verdammten Schlamassel eben.«

Julien lächelte. Ein Strahlen erhellte seine düsteren Züge und ließ ihn so jung aussehen, wie er war.

«Den ganzen verdammten Schlamassel«, wiederholte er.»Ich bin überzeugt, wir schaffen das.«

Das Kriegsglück der Deutschen begann sich ernsthaft zu wenden im Frühjahr 1942, und trotz aller Bemühungen der Besatzer, Nachrichten zu unterdrücken und statt dessen die eigene Propaganda wirksam werden zu lassen, bekam die Inselbevölkerung genau mit, was sich an den Fronten in aller Welt abspielte: Fast kein Haushalt, der nicht heimlich BBC gehört hätte. Gerüchte sprangen von Ort zu Ort, von Haus zu Haus. In Rußland sah es gar nicht gut aus, hieß es, und die deutsche Bevölkerung leide in den Nächten unter englischen Bombern. Die einen sagten, Amerika werde bald in den Krieg eintreten, andere behaupteten, das werde nie geschehen. Churchill plane eine Invasion auf dem Festland, behaupteten manche, und andere sagten, dies sei absurd, denn Churchill könne niemals genügend Truppen mobilisieren. Die Wogen gingen hoch, aber obwohl niemand etwas Genaues sagen konnte, schien doch eine neue Bewegung in den Krieg gekommen zu sein: Auf eine noch undefinierbare Weise hatte sich die von Siegen getränkte Aura der Deutschen verändert. Sie verlor an Glanz. Die Nazis hatten geglaubt, nichts und niemand werde sie aufhalten können, und nun schien das keineswegs mehr sicher. Die Deutschen erwiesen sich als verletzbar.

«Das Glück war lange Zeit auf ihrer Seite«, sagte Dr. Wyatt,»aber niemand hat das Glück auf ewig gepachtet. Es geht aufwärts und abwärts. Für die Nazis wie für uns alle.«

Beatrice hielt sich noch häufiger als früher bei den Freunden auf, denn Erich war nach wie vor oft auf dem französischen Festland, und Helene versuchte zwar, sie daheim zu halten, wagte es aber nicht, ein Verbot auszusprechen. Beatrice merkte, daß Mae wegen Julien eifersüchtig war; bisher hatte sie als einzige Nicht-Erwachsene von dem Versteck gewußt, und nun war auch Beatrice eingeweiht. Zudem verbrachte Beatrice mehr Zeit mit ihm oben auf dem Dachboden als mit Mae beim Plaudern, Kichern und Spazierengehen. Sie unterhielt sich stundenlang mit ihm, fragte ihn englische Vokabeln ab und ließ sich von ihm Französisch beibringen. Er las ihr Victor Hugo vor und erzählte, daß der französische Dichter lange Zeit auf Guernsey gelebt habe.

«Lies weiter«, bat sie, denn sie fand Notre-Dame von Paris, die Geschichte des Glöckners Quasimodo, so spannend, daß sie die Lektüre keinen Moment lang unterbrechen wollte.

«Ich glaube, mich kennst du bald gar nicht mehr«, klagte Mae eines Tages gekränkt, als Beatrice zu Besuch kam, kurz grüßte und in Richtung Dachboden strebte.»Du beachtest mich überhaupt nicht!«

«Ich habe Julien versprochen, daß ich…«, fing Beatrice an, aber Mae schrie:»Julien, Julien, Julien! Du denkst ja an nichts anderes mehr! Weißt du, was ich glaube? Du bist verliebt in Julien, das ist es! Du bist total verknallt, und deshalb rennst du ständig zu ihm hin!«

«Also, soviel Unsinn hast du schon lange nicht mehr geredet«, entgegnete Beatrice verärgert, aber Maes Worte gingen ihr für den ganzen Rest des Tages durch den Kopf. Sie hat recht, dachte sie, und diese Erkenntnis erschütterte sie fast. Natürlich war sie verliebt in ihn, das war das eigenartige Gefühl, das sie seit einiger Zeit erfüllte. Seitdem Julien sie am Tag seiner Flucht so eigenartig angesehen hatte, war etwas verändert in ihr, aber sie hatte nicht recht gewußt, was es war. Jetzt, da sie es einordnen konnte, steigerte sich die Spannung fast ins Unerträgliche. Sie ging nach Hause, schloß sich in ihrem Zimmer ein und betrachtete sich in dem Spiegel über der Kommode, versuchte, sich mit den Augen Juliens zu sehen. Sie blickte auf ein großes, dünnes Mädchen mit schlaksigen Armen und Beinen, mit einem schmalen Gesicht, das ihr unfertig vorkam und etwas zu spitz. Sie hatte etwas schräg gestellte Augen —»Katzenaugen «sagte Helene immer —, die ernst und leicht skeptisch dreinblickten. Sie wirkte älter als Mae, fand sie, überhaupt älter als ein dreizehnjähriges Mädchen. Sie mochte ihre welligen, dunkelbraunen Haare nicht, sie waren zu dick, zu widerspenstig, zu wild und zerzaust, statt fein und seidig.

Sie seufzte, drehte sich ein wenig, um sich im Profil zu betrachten, strich die Haare zurück, versuchte ein kokettes Lächeln, das völlig mißlang. Sie war nicht der Typ für Koketterie, ahnte, daß sie es nie sein würde.

Sie überlegte einen Moment, dann streifte sie langsam ihr Kleid von den Schultern. Es war eines von Helenes Sommerkleidern; Helene hatte es für sie geändert. Beatrice wußte, daß es ihr stand, deshalb trug sie es gern, wenn sie Julien besuchte. Das sanfte Grün ließ ihre Augen schillern und zauberte einen kastanienfarbenen Schimmer in ihre Haare. Jedenfalls hatte Julien das behauptet. Sie selbst konnte nichts dergleichen wahrnehmen, aber es reichte, wenn Julien es sah.

Das Kleid rutschte zur Hüfte hinab, fiel an den Beinen entlang auf den Boden. Zögernd zog sie das leinerne Unterhemd über den Kopf, betrachtete zuerst scheu, dann kritisch ihren knochigen Oberkörper, die Rippenbögen, die sich deutlich unter der blassen Haut abzeichneten, und die kleinen, weißen Brüste, auf denen hauchfein blaßblaue Adern verliefen und deren Spitzen hellrot und fest waren. Ihre Unterhose zog sie nicht aus, das wäre ihr peinlich gewesen wegen des Spiegels und ihrer Gedanken an Julien. Aber sie konnte die Hüftknochen sehen, die scharf hervorstanden, und ihre Oberschenkel, die sehr lang und sehr glatt waren.

Ich müßte ein bißchen runder werden, dachte sie, Männer mögen das, oder? Sie erinnerte sich, daß Deborah manchmal gejammert hatte, sie habe zugenommen, und daß Andrew dann immer gesagt hatte, sie solle um Himmels willen jedes Gramm hegen und pflegen und möglichst noch ein wenig zulegen.

«Irgend etwas muß ich doch anfassen können«, sagte er.»Soll ich etwa mit leeren Händen dastehen?«

«Das Kind!«zischte Deborah dann verschämt, aber» das Kind «hatte sowohl die Worte genau verstanden, als auch die Blicke bemerkt, mit denen Andrew Deborahs Körper streichelte. Wie bei Julien, dachte Beatrice nun, wenn er mich ansieht.

Der Gedanke verursachte ein eigentümliches Gefühl in ihrem Magen, eine Art Schauer, ein leises, angenehmes Ziehen.

Vielleicht war Julien auch in sie verliebt.

Der Gedanke machte sie unruhig, aber auch glücklich. Es bedeutete, daß sich etwas in ihrem Leben verändern würde, oder daß sich sogar schon etwas verändert hatte. Aber vielleicht steigerte sie sich in eine ganz unsinnige Idee hinein: Konnte es wirklich sein, daß sich ein zwanzigjähriger Mann in ein dreizehnjähriges Mädchen verliebte?

Bald vierzehn, korrigierte sie sich, im September.

Ein paar Tage später sprach sie zufällig mit Julien über ihren Geburtstag, und er fragte sie, was sie sich von ihm wünsche. Sie saßen auf dem Dachboden, hatten gerade die Lektüre von Notre-Dame von Paris beendet. Es war sehr warm draußen; sie hatten die Luke geöffnet, aber dennoch schien die Luft stickig und staubig. Julien war schon die ganze Zeit unruhig gewesen, hatte die Lektüre immer wieder unterbrochen, war hin und her gelaufen. Es jährte sich nun bald der Tag, an dem er geflohen und untergetaucht war, und der Gedanke daran schien ihn mit Entsetzen zu erfüllen.

«Ein Jahr! Ein ganzes Jahr!«

Er sprach mit stärkerem Akzent als sonst.»Ein Jahr schon sitze ich auf diesem Speicher, eingesperrt wie ein Tier in einem Käfig, und nichts hat sich geändert. Die Deutschen sind immer noch da, meine Heimat ist besetzt, diese Inseln ebenfalls. Es kann Jahre so weitergehen, Jahrzehnte! Mein ganzes Leben werde ich auf diesem Dachboden verbringen! Irgendwann werde ich mir nicht einmal mehr wünschen, es möge anders sein, weil ich nicht mehr fähig bin, draußen zu existieren. Man verlernt es, weißt du. Und vielleicht ziehen die Deutschen ab, wenn ich ein alter Mann bin, und ich gehe hinaus und finde eine Welt vor, die keine Ähnlichkeit mehr hat mit der, die ich gekannt habe.«

«Alle sagen, daß die Deutschen nicht mehr lange siegen werden.«

«Das weiß niemand. Es kann so oder so kommen. Und meine Zeit verrinnt. Ich sitze hier, und niemand hilft mir. Niemand!«

Irgendwann hatte er sich wieder hingesetzt, hatte weitergelesen, aber er war unkonzentriert gewesen und hatte so schnell gesprochen, daß Beatrice manchmal Mühe hatte, ihn zu verstehen. Schließlich klappte er das Buch zu, sah sie an und fragte sie, wann sie Geburtstag habe und was sie von ihm haben wolle.

«Ich weiß nicht. Es ist noch so lange bis dahin.«

«Trotzdem. Ich möchte wissen, was du dir wünschst.«

Sie überlegte.»Ich hätte gern das Buch«, sagte sie,»die Geschichte vom Glöckner von Notre-Dame.«

Julien reichte es ihr sofort über den Tisch hinweg zu.

«Hier. Behalte ihn. Natürlich sollst du ihn haben — deinen ersten Roman in französischer Sprache. Aber dieses alte, zerfledderte Buch ist kein wirkliches Geburtstagsgeschenk.«

Beatrice fragte sich, was er ihr sonst hätte schenken wollen. Er hatte doch nichts; nicht einmal die Kleider, die er trug, gehörten ihm, sondern Dr. Wyatt.

«Es ist ein wunderschönes Geschenk«, sagte sie.

«Nein, nein«, widersprach Julien, stand auf, fing erneut an im Kreis umherzulaufen. Sein Gesicht verriet Anspannung. Plötzlich blieb er stehen.

«Ich habe eine Idee«, verkündete er,»ich kann dir nichts Richtiges schenken, aber wir können etwas Besonderes an deinem Geburtstag machen. Wir werden die Nacht vor deinem Geburtstag am Meer verbringen. Wir werden über die Klippen wandern, wir werden im Sand sitzen und uns vom Mond bescheinen lassen, und vielleicht werden wir im Meer baden und…«

Beatrice lachte.»Das geht doch nicht. Das wäre viel zu gefährlich.«

«Natürlich geht es. Wir werden vorsichtig sein, und niemand wird uns sehen.«

«Aber nach der Sperrstunde darf niemand mehr hinaus. Vor der Küste kreuzen deutsche Boote. Wir würden bestimmt auffallen. Die Nächte sind Anfang September nicht mehr so hell wie jetzt, aber…«

«Aber?«

«Wir sollten es nicht tun«, sagte sie ohne jede Überzeugung.

Er war mit zwei Schritten neben ihr, zog sie vom Stuhl hoch und schloß sie in die Arme. So nah war er ihr noch nie gekommen.

«Wir sollten es tun«, sagte er leise.»Es hat keinen Sinn, immer nur in Angst zu erstarren. Laß uns einfach einmal etwas Verrücktes, Wildes, Gefährliches unternehmen!«

— 295-

Sie schüttelte noch immer den Kopf, aber ihr Widerstand war längst in sich zusammengefallen. Und wenn sie wahnsinnig werden würde vor Angst — es wäre besser, als die Nacht daheim, am Fenster stehend, zu verbringen, in den samtschwarzen Himmel zu schauen, auf die Laute im Gras und in den Bäumen zu lauschen und zu denken, was hätte sein können, wäre sie nur ein wenig mutiger gewesen.


3

«Er wurde mein Liebhaber in der Nacht meines 14. Geburtstages«, sagte Beatrice,»und er blieb es für einige Jahre. Ich war überzeugt, nie wieder jemanden so lieben zu können wie ihn. In diesem Alter ist die Liebe entsetzlich intensiv. Sie zieht einem den Boden unter den Füßen weg. Ich konnte nur noch an Julien denken, Tag und Nacht. Manchmal kam mir der Gedanke, ich müßte mich mehr um meine Eltern sorgen, und dann hatte ich ein ziemlich schlechtes Gewissen. Aber es half nichts. Ich war verliebt in Julien, und ich war strahlend glücklich. Trotz Krieg und allem Schrecken. Ich fühlte mich überwältigt vor Glück.«

«Und niemand hat Sie in dieser Nacht gesehen?«fragte Franca.

Beatrice schüttelte den Kopf.»Die Nacht war klar und sehr hell. Wir liefen über die Klippen, und bestimmt waren wir weithin sichtbar. Aber irgendwie hatten wir wohl das Glück auf unserer Seite. Es geschah nichts. Die Deutschen ließen uns in Ruhe bis zum Morgengrauen.«

«Eine romantische Geschichte«, sagte Franca, und Beatrice entgegnete:»Manchmal denke ich, es sind die harten Zeiten, die die romantischen Geschichten hervorbringen. Man wagt höhere Einsätze für das, was man dann bekommt.«

Sie saßen immer noch in der Küche, es war weit nach Mitternacht, und draußen hatte es zu regnen begonnen. Der Aprilregen rauschte gleichmäßig, stark und kräftig zur Erde. Irgendwann am Abend war der Pizzabote gekommen und hatte die Pizzen gebracht; nun standen die leeren Pappschachteln auf dem Tisch, und der Geruch nach geschmolzenem Käse, Tomaten und Oregano hing im Raum. Beatrice hatte Kerzen angezündet, deren Schein den letzten Rest Rotwein in den Gläsern schimmern ließ. Die Atmosphäre war von Vertrauen und Zuneigung und sehr viel Nähe erfüllt, und das alles war zwischen Beatrice und Franca bislang nicht spürbar gewesen. In den letzten Stunden war eine Wärme entstanden von jener besonderen, unbefangenen Art, wie nur Frauen sie untereinander empfinden können. Es störte nicht, daß sie verschiedenen Generationen angehörten. Sie verstanden einander.

«Heute frage ich mich manchmal, ob Julien mich wirklich geliebt hat«, fuhr Beatrice fort,»ich meine, mit der gleichen Opferbereitschaft und Hingabe, mit der ich ihn liebte. Ich denke, ich stellte für ihn die Verbindung zum Leben dar. Er fühlte sich begraben, ausgegrenzt, oft hoffnungslos. Wenn er mich in den Armen hielt, wenn wir uns liebten, dann war er einfach ein junger Mann, der mit einem jungen Mädchen Liebe machte. Dann lebte er. Vielleicht wäre jede andere das gleiche für ihn gewesen wie ich.«

«Mae jedenfalls nicht«, wandte Franca ein.»Die beiden hatten ein halbes Jahr lang Zeit, etwas zwischen sich entstehen zu lassen. Aber es geschah nichts.«

«Nein, mit Mae nicht. Aber sie war auch noch ein richtiges Kind — im Unterschied zu mir. Zudem war sie die Tochter der Leute, die Julien versteckten, die unendlich viel für ihn aufs Spiel setzten. Mit ihr zu schlafen, so jung, wie sie war, hätte Julien unerträgliche Gewissensbisse bereitet. Das hätte er nicht getan.«

«Sie waren auch sehr jung.«

«Ich wurde vierzehn in unserer ersten Nacht. Sind die Mädchen heute da nicht noch jünger? Damals war es sicher ungewöhnlich. Aber…«, Beatrice hob die Schultern,»aber die Umstände ließen nichts anderes zu. So schien es uns jedenfalls.«

«Hatten Sie keine Angst, schwanger zu werden?«

«Natürlich. Ständig. Wir versuchten aufzupassen, so gut wir konnten. Letzten Endes hatten wir wohl einfach Glück. All die Jahre passierte nichts.«

«Und die Wyatts bekamen nicht das geringste mit?«

«Sie waren es ja schon gewöhnt, daß ich stundenlang oben bei ihm war. Dr. Wyatt war sowieso selten daheim. Und die Bodenklappe war geschlossen, die Leiter eingezogen. Das mußte aus Sicherheitsgründen immer der Fall sein, es hätte ja plötzlich eine Razzia stattfinden können. Wenn also Mae oder ihre Mutter etwas von uns wollten, mußten sie sich bemerkbar machen, und wir öffneten ihnen dann und ließen die Leiter hinunter. Es gab keine Überraschungsbesuche.«

«Trotzdem wäre es nur natürlich gewesen, wenn Mrs. Wyatt mißtrauisch geworden wäre. Ein junger Mann und ein junges Mädchen… so viele Stunden immer wieder allein…«

«Mrs. Wyatt war halb verrückt vor Angst wegen Julien. Sie sah sich und ihre Familie ständig in Gefahr. Ich glaube, ihre Kraft reichte nicht aus, sich auch noch um meine Unschuld Gedanken zu machen. Ich habe sie vor zwei Jahren in ihrem Altersheim bei London besucht, und wir sprachen über die Zeit damals — sie hatte ganz offensichtlich immer noch nicht den geringsten Verdacht. Insgeheim war sie vielleicht auch ganz froh, daß Julien durch mich ein wenig Gesellschaft hatte, daß er abgelenkt war und nicht ständig grübelte. Und nicht dauernd Pläne schmiedete, wie er abhauen könnte. Zwar hätte sie ihn gern am anderen Ende der Welt gesehen, aber sie war zugleich überzeugt, daß er bei einer Flucht geschnappt werden und sie alle dann verraten würde. Sie war sehr blaß und immerzu niedergeschlagen.«

«Und Mae…«

«Mit Mae war es schon schwieriger. Sie argwöhnte, daß sich etwas abspielte, aber sie fand keine Bestätigung für ihren Verdacht. Unsere Freundschaft geriet in eine ernste Krise, aber das war wirklich meine Schuld. Ich kümmerte mich kaum noch um Mae. Sie muß sich sehr verletzt gefühlt haben.«

Franca griff nach der Rotweinflasche, schenkte sich nach. Sie hatte schon zuviel getrunken, fühlte sich angenehm leicht und hatte den Eindruck, es sei vielleicht besser, nicht weiterzumachen. Aber diesmal hatte sie kein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken, möglicherweise zuviel zu erwischen. Sie trank nicht so, wie sie in den letzten Wochen abends allein daheim vor dem Fernseher getrunken hatte: frustriert, traurig, darum bemüht, sich zu betäuben, und dabei wissend, daß sie sich am nächsten Morgen kalt und elend fühlen und heftige Kopfschmerzen haben würde.

Heute trank sie, weil es ihr gutging, weil ihr der Wein schmeckte. Sie fühlte sich geborgen, warm und zufrieden in der gemütlichen Küche. Das anheimelnde Geräusch des gleichmäßig rauschenden Regens beruhigte sie. Irgendwo in ihr breitete sich, noch halb unbewußt, die Ahnung aus, daß das Leben schön sein konnte.

«Wirklich mißtrauisch war übrigens Helene«, fuhr Beatrice fort. Sie hatte sich die zwanzigste Zigarette an diesem Abend angezündet, rauchte sie so genießerisch, als sei es die erste.»Dabei wußte sie nun am allerwenigsten. Aber sie sagte ständig, ich käme ihr verändert vor, meine Aura sei eine andere geworden. Ich strahlte wohl etwas aus, das sie beunruhigte.«

«Weiß sie inzwischen davon?«fragte Franca.

Beatrice nickte.»Sie hat später davon erfahren. Nach dem Krieg. Aber da konnte sie nichts mehr tun.«

Sie hatten Helene zweieinhalb Stunden zuvor nach Hause kommen hören. Kevin hatte sich an der Tür mit einem geheimnisvollen Flüstern von ihr verabschiedet, was ihr das Gefühl gegeben haben mußte, ein junges Mädchen zu sein, das von seinem Verehrer etwas verspätet heimgebracht wird und aufpassen muß, seine Eltern nicht aufzuwecken.

«Er weiß ganz gut, wie er es anstellen muß«, hatte Beatrice mit einem sarkastischen Lächeln kommentiert.

Helene hatte kurz zur Küche hereingeschaut, mit einer wirbelnden Bewegung, die den Rock ihres weißen Kleides fliegen ließ.»Seid ihr immer noch wach?«

Ihre Augen leuchteten. Sie war tatsächlich unpassend jugendlich angezogen, aber in ihrem Gesicht erkannte Franca etwas von der Attraktivität, die sie einmal besessen haben mußte.»Es war ein herrlicher Abend! Kevin hat einfach göttlich für mich gekocht. Ich glaube, ich platze gleich, soviel habe ich gegessen. Wir haben Musik gehört, und als es langsam dunkel wurde, zündete Kevin alle Kerzen im Zimmer an. Ach, ich werde jetzt gut schlafen!«

Sie warf ihnen eine Kußhand zu.»Gute Nacht! Träumt etwas Schönes!«

Schon war sie wieder verschwunden und eilte mit einer für ihr Alter bemerkenswerten Leichtfüßigkeit die Treppe hinauf.

«Es geht ihr gut«, hatte Franca gesagt,»und das ist die Hauptsache.«

«Kevin geht es sicher auch gut«, hatte Beatrice bitter erwidert,»denn sie wird bereit sein, eine Menge Geld zu bezahlen, um einen weiteren solchen Abend zu erleben.«

Nun meinte sie gedankenverloren:»Ich glaube, daß Helene mich in jener Zeit regelrecht haßte. Ihr war klar, daß irgend etwas vor sich ging, und sie begriff, daß ich nicht vorhatte, sie zu meiner Vertrauten zu machen. In ihrer Not wandte sie sich schließlich an Erich. Sie erzählte ihm, daß ich mich ständig herumtriebe und daß sie Angst habe, ich könnte in schlechte Gesellschaft geraten. Erich war außer sich. Er war so oft weg, daß er kaum etwas mitbekommen hatte, und nun fühlte er sich wohl hintergangen und verraten. Ausgegrenzt. Er schrie herum, wollte wissen, wo und mit wem ich soviel Zeit verbrächte. Ich sagte, daß ich oft mit Mae zusammen sei — was zwar gefährlich war, da sich dort ja Julien versteckt hielt, aber noch auffälliger hätte ich mich verhalten, hätte ich abgestritten, Mae zu sehen. Denn das wußte er sowieso. Ich berichtete aber auch von langen, einsamen Spaziergängen, erklärte ihm, wie sehr ich litte unter der Trennung von meinen Eltern, und daß ich in einer Phase sei, in der ich die Einsamkeit suchte. Irgendwie nahm er mir das nicht wirklich ab. Er musterte mich aus scharfen Augen und meinte, ich sei verändert. Ich erwiderte, das komme daher, daß er mich lange nicht gesehen habe, ich sei einfach älter geworden.

›Nein, nein, das allein ist es nicht‹, sagte er stirnrunzelnd, ›du hast etwas an dir… mir gefällt das nicht! Mir gefällt das ganz und gar nicht! ‹

Nun, jedenfalls verlangte er, ich solle in Zukunft von der Schule direkt nach Hause kommen und den Rest des Tages und den Abend daheim verbringen. Helene beauftragte er, darauf zu achten, daß ich den Befehl befolgte. Ich hoffte, Helene austricksen zu können, wenn Erich erst wieder fort wäre, aber das erwies sich als schwierig. Helene hatte ein ausgeprägtes eigenes Interesse daran, mich daheim zu halten. Sie konnte nicht allein sein, und es hatte sie halb verrückt gemacht, mich nie bei sich zu haben.«

«Es wurde also sehr schwierig, Julien zu treffen«, mutmaßte Franca.

Beatrice nickte langsam.»Was nicht heißt, daß es unmöglich geworden wäre. Aber wir sahen uns bei weitem nicht mehr so häufig, und das Risiko für alle Beteiligten erhöhte sich. Denn wenn ich mich nun heimlich davonstahl, bestand immer die Gefahr, daß Helene mir folgte oder daß sie in ihrer Hysterie Suchmannschaften hinter mir herhetzte. Das hätte Juliens Ende bedeuten können — und den Wyatts hätte es das Verhängnis gebracht. Ich glaube, in dieser Zeit fing ich wirklich an, Helene zu hassen. Sie war mir immer schon auf die Nerven gegangen, aber eigentlich hatte sie mir leid getan, und ich hatte nie eine echte Abneigung gegen sie gehegt. Doch nun lernte ich sie von ihrer unangenehmen Seite kennen. Ich begriff, wie egoistisch sie war und welch eiserne Härte sich hinter ihrem mädchenhaften Äußeren verbarg. Sie war rücksichtslos, wenn es um die Durchsetzung ihrer Interessen und Wünsche ging. Das begriff ich damals, und später bestätigte sie dieses Bild immer wieder. Irgendwann verachtete ich sie nur noch.«

Franca zögerte.»Aber trotzdem«, sagte sie schließlich,»sind Sie dann ein Leben lang zusammengeblieben.«

Beatrice starrte sie an. Mit einer aggressiven Bewegung drückte sie ihre Zigarette aus.»Ja, man sollte es nicht glauben, stimmt's? Das hat sie tatsächlich geschafft. Dieses zerbrechliche Wesen mit den blauen Kulleraugen hat es in der Tat geschafft, mich bis heute zu terrorisieren. Das ist eine Leistung, finden Sie nicht? Manchem, der viel stabiler aussieht als sie, wäre das nicht geglückt.«

Franca hatte den Eindruck, etwas Falsches gesagt zu haben.»Es tut mir leid, wenn ich…«, begann sie, aber Beatrice winkte ab.

«Es muß Ihnen nichts leid tun, Franca. Ihre Bemerkung war ganz normal. Aber wir sollten jetzt schlafen gehen. Es ist gleich ein Uhr, und morgen ist auch noch ein Tag.«

Sie ließen alles stehen und liegen und stiegen die Treppe hinauf. Franca merkte plötzlich, wie müde sie war. Der Rotwein hatte eine einschläfernde Wirkung auf sie, und das Rauschen des Regens hinter den Fenstern verstärkte sie noch. Sie hatte sich kaum im Bett ausgestreckt, da schlief sie schon ein.

Das Läuten des Telefons weckte sie. Auf jene unerklärliche Weise, wie Menschen träumen, hatte sie das Klingeln zuerst in ihren Traum integriert. Sie war daheim gewesen und hatte auf Michael gewartet, und auf einmal hatte die Haustürglocke anhaltend geschrillt.

Das muß Michael sein, dachte sie, ich muß ihm sofort öffnen.

Sie setzte sich im Bett auf, blickte verwirrt um sich und versuchte zu begreifen, wo sie sich befand. Ihr wurde klar, daß sie auf Guernsey war und nicht daheim, und daß es das Telefon war, das klingelte, und nicht die Türglocke. Sie überlegte, ob sie hinunterlaufen sollte, aber da hörte sie schon Beatrices Stimme, ohne verstehen zu können, was sie sagte. Gleich darauf waren Schritte auf der Treppe zu vernehmen, und es wurde an ihre Tür geklopft.

«Franca?«

Das war Beatrice.»Franca, sind Sie wach?«

«Ja. Was ist los?«

«Ihr Mann ist am Apparat. Er möchte Sie sprechen.«

Also hatte er tatsächlich überlegt, wo sie sein könnte, und offensichtlich war ihm dabei auch Guernsey eingefallen. Eine gewisse Kombinationsgabe hatte man ihm nie absprechen können.

Ob er sich Sorgen gemacht hat, fragte sich Franca, während sie aus dem Bett sprang, oder ob es ihm einfach nur gegen den Strich geht, daß ich etwas tue, ohne vorher seine Meinung einzuholen?

Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihr, daß es noch immer regnete, aber viel sanfter und schwächer als in der Nacht.

«Ab morgen scheint wieder die Sonne«, sagte Beatrice, die vor der Tür wartete. Sie war vollständig angezogen, und ihre Kleidung zeigte feuchte Flecken, ihr Haar war naß. Sie mußte bereits mit den Hunden fort gewesen sein.»Und das schöne Wetter soll dann anhalten.«

«Wunderbar«, sagte Franca und gähnte.»Mein Gott, wie spät ist es? Ich muß völlig verschlafen haben!«

«Es ist noch nicht einmal acht Uhr. Machen Sie sich keine Sorgen.«

Beatrice lächelte verschwörerisch.»Ihr Mann scheint ziemlich wütend zu sein.«

Auf nackten Füßen lief Franca in die Halle hinunter und nahm den Telefonhörer auf.

«Ja?«fragte sie, und es gelang ihr nicht, ein weiteres Gähnen zu unterdrücken.

«Franca?«

Michaels Stimme klang in der Tat auf das höchste gereizt.»Bist du es?«

«Ja. Was gibt's?«

Er schien nach Luft zu schnappen.»Was es gibt? Das fragst du mich?«

«Ja. Du rufst schließlich an.«

«Hör mal… ich… sag mal, bist du noch ganz richtig im Kopf? Verschwindest einfach, bist plötzlich weg, sagst kein Wort und wirst dann auch noch unverschämt am Telefon?«

Franca bemerkte das leise Zittern ihrer Hände, das sie schon immer befallen hatte, wenn Michael böse mit ihr war.

Warum habe ich eigentlich ständig Angst vor ihm gehabt, überlegte sie, und gleich darauf setzte sie in Gedanken hinzu: Diesmal muß ich mich wirklich nicht fürchten. Er ist viele hundert Kilometer weit weg von mir. Und wenn er zu unangenehm wird, lege ich einfach auf.

Das Zittern verebbte. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, aber nur, weil ihr kalt war, nicht etwa aus Unruhe.

«Es gab leider keine Möglichkeit, dich von meinen Plänen zu unterrichten«, erwiderte sie kühl.»Denn in der Nacht vor meiner Abreise bist du nicht nach Hause gekommen.«

«Aha. Und das gibt dir das Recht, einfach zu verschwinden und mir nicht einmal einen Zettel zurückzulassen?«

Er war die perfekte Mischung aus Empörung und Selbstmitleid.»Kannst du dir vorstellen, welche Sorgen ich mir gemacht habe?«

«Kannst du dir vorstellen, daß ich mir möglicherweise auch Sorgen mache, wenn du eine Nacht lang nicht heimkommst?«

«Du weißt schließlich, daß…«

Er sprach den Satz nicht zu Ende. Offenbar war selbst ihm manchmal etwas peinlich.

«…daß du eine Geliebte hast und dich vermutlich bei ihr aufhältst«, vollendete Franca den Satz.»Findest du nicht, daß wir in einer ziemlich grotesken Situation leben? Irgend etwas sollten wir daran vielleicht ändern.«

«Indem du abhaust? Glaubst du, damit änderst du etwas?«

Sie überlegte, obwohl sie wußte, daß er keine ernsthafte Antwort auf seine Frage erwartete.»Vielleicht ja«, sagte sie schließlich,»vielleicht haben wir beide dadurch Zeit und Ruhe, um nachzudenken.«

Sie merkte, daß sie ihn verwirrte.

Es bringt ihn durchaus aus dem Konzept, wenn jemand keine Angst vor ihm hat, dachte sie, und wenn jemand ruhig bleibt.

«Nachdenken!«blaffte er.»Nachdenken! Worüber, zum Teufel, willst du nachdenken?«

Sie bemühte sich, ihre Tonlage nicht zu verändern, obwohl ihr nach einer scharfen Bemerkung zumute war, denn sie empfand seine Ignoranz zunehmend als Unverschämtheit.

«Über die Zukunft«, sagte sie,»darüber, wie sie aussehen soll.«

«So. Und das willst du auf Guernsey allein für dich entscheiden?«

«Mit dir zusammen dürfte eine Entscheidungsfindung sehr schwierig sein. Ich habe nicht den Eindruck, daß du an der Situation, wie sie ist, etwas ändern möchtest. Du bist ganz zufrieden und hast eigentlich alles, was du brauchst.«

Er dachte nach. Sie wußte, daß er zumeist sehr bösartig war,wenn er nachgedacht hatte.

«Weißt du«, sagte er,»es verläuft wieder einmal alles nach dem gleichen Muster. Eine Situation ist dir unbequem, irgend etwas paßt dir nicht, das Leben verläuft gerade einmal anders, als du es dir vorgestellt hast — und schon wirfst du das Handtuch. Du hast keinerlei Stehvermögen, Franca, du hast, wie man so schön sagt, keinen Biß. Du kannst keine Spannung aushalten, und noch weniger kannst du Unannehmlichkeiten offensiv angehen. Du machst es einfach wie immer: Du läufst weg. Du verkriechst dich, versteckst dich, bohrst den Kopf in den Sand und hoffst, daß alles Unheil irgendwie über dich hinwegflutet. Und merkst nicht, daß du dabei immer schwächer und ängstlicher wirst. Immer unfähiger und immer…«

Seine Stimme hämmerte wie ein Maschinengewehrfeuer. Franca spürte, wie ihre Hände wieder zu zittern begannen. Ihre Knie wurden weich, und am ganzen Körper brach ihr der Schweiß aus.

«Michael…«, krächzte sie.

«Ich muß es dir wirklich einmal sagen, Franca, auch wenn es brutal ist: Du bist der größte Feigling, den ich je kennengelernt habe. Der schwächste Mensch. Und meine Geliebte, von der du stets in so verächtlichem Ton sprichst, hat dir gegenüber wenigstens ihren Mut voraus, ihre Tatkraft, ihre Fähigkeit, unangenehmen Wahrheiten ins Gesicht zu sehen und den Kampf mit ihnen aufzunehmen. Du hingegen…«

Er hatte Oberwasser. Innerhalb von Sekunden hatte sich das Blatt gewendet. Francas anfängliche Überlegenheit war restlos in sich zusammengebrochen. Michaels Verwirrung hatte sich gelegt. Nun roch er ihre Schwäche, und erbarmungslos wie ein Raubvogel, der ein verletztes Kaninchen wittert, stieß er zu.

«Michael…«, brachte sie noch einmal hervor, aber sie hörte seine Stimme schon wie aus weiter Ferne, und das Zittern ihrer Finger ging in eine Taubheit über. In diesem Moment wurde ihr sanft, aber nachdrücklich der Telefonhörer aus der Hand genommen.

Beatrice stand neben ihr, sie lächelte und legte den Hörer auf die Gabel.

«Ehe Sie umkippen«, sagte sie,»beenden Sie doch einfach das Gespräch. Und jetzt kommen Sie. Wir trinken einen starken Kaffee, und Sie erzählen mir, was los ist.«

Nach dem Frühstück brach Franca zu einem Spaziergang auf. Es hatte aufgehört zu regnen, der Wind trieb die Wolken auseinander, und immer wieder blitzte die Sonne hervor. Die nassen Wiesen funkelten. Möwen schossen, hohe Schreie ausstoßend, durch die Luft. Es roch nach frischer Erde, nach jungen Blüten, nach dem Salz des Meeres.

Sie lief über den Klippenrand hoch über dem Meer, atmete die klare Luft und fühlte sich mit jedem Schritt freier und besser. Sie hatte Beatrice erzählt, was los gewesen war, und es hatte sie auch nicht gestört, daß sich Helene zu ihnen gesetzt und ebenfalls gelauscht hatte. Im Zeitraffer hatte sie von ihrem beruflichen Versagen berichtet, von ihren Ängsten und Panikanfällen, von ihrer Tablettenabhängigkeit, von der Verachtung, die Michael ihr gegenüber an den Tag legte, und von seiner Hinwendung zu einer anderen Frau.

Eigenartigerweise hatte sie dabei nicht geweint. Ihre Stimme hatte klar geklungen und erstaunlich sachlich. Helene hatte ein paar mitfühlende Äußerungen gemacht, in ihrer üblichen sentimentalen Art, aber Franca hatte sie dennoch als tröstlich empfunden. Beatrice hatte schweigend zugehört, und nur einmal, als das Telefon erneut klingelte, gesagt:»Lassen wir es läuten. Es ist Ihr Mann, Franca, jede Wette, und er soll jetzt ruhig einmal gegen die Wand rennen.«

Später lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück, sah Franca an und sagte:»Meine Güte, machen Sie sich doch nicht so verrückt! Einen Beruf aus irgendwelchen Gründen aufgeben zu müssen ist schon ganz anderen Leuten passiert. Panikattacken sind für viele Menschen an der Tagesordnung. Sie würden sich wundern, wenn Sie wüßten, wie viele Personen ständig mit Beruhigungstabletten leben. Aber irgend jemand hat Ihnen eingeredet, Sie seien ein hoffnungsloser und absolut außergewöhnlicher Fall, und deshalb sitzen Sie da und meinen, Ihren Zustand einfach ertragen zu müssen.«

«Ich glaube, ich habe überhaupt kein Selbstvertrauen mehr«, hatte Franca gesagt.

Beatrice hatte gelacht.»Nein, im Moment wohl nicht. Sie sehen aus wie eine verschüchterte Maus. Aber Selbstvertrauen kann man wieder erlernen, glauben Sie mir. Fast jeder Mensch verliert es irgendwann einmal in einer Phase seines Lebens. Das ist ganz normal.«

Zum erstenmal seit langer Zeit fühlte Franca an diesem Morgen die ersten Anzeichen einer neu erwachenden Zuversicht. Natürlich hatte sie eine Tablette genommen, gleich nach dem Gespräch mit Michael, aber zusätzlich gab ihr die Gelassenheit, mit der Beatrice auf ihre Geschichte reagiert hatte, Mut. Auf einmal erschien ihr alles in etwas hellerem Licht, war das Leben nicht länger von Trostlosigkeit erfüllt. Vielleicht hatte es auch etwas mit der räumlichen Distanz zu Michael zu tun. Sie hatte sich besser gefühlt mit jedem Kilometer, den sie zwischen sich und ihn legte. So oft sie schon ohne ihn nach Guernsey gereist war, es war doch immer auf seine Anweisung hin geschehen, war von ihm geplant

worden. Sie war nie wirklich fort gewesen. An langen, unsichtbaren, aber überaus starken Fäden hatte er sie gehalten und dirigiert. Als willige Marionette hatte sie seine Befehle ausgeführt, hatte regelmäßig das Geld von der Bank geholt, das er an der deutschen Steuer vorbei nach Guernsey geschafft und dort auf einem Konto angehäuft hatte, hatte es in ihrem Koffer verstaut und war jedesmal bei der Paßkontrolle am Flughafen nervös gewesen. Sie hatte Unmengen von Tabletten nehmen müssen, um tun zu können, was er von ihr verlangte. Eifrig war sie bemüht gewesen, seine Gunst zu erringen, war sich vorgekommen wie ein Zirkuspferd, das nach Erfüllung seiner Kunststücke auf ein belohnendes Stück Zucker wartet. Sie hatte den Zucker nie bekommen. Auch kein anerkennendes Schulterklopfen. Michael war sich ihrer so sicher gewesen, daß er sich nicht einmal seiner krummen Geschäfte wegen bemüht hatte, sie bei Laune zu halten.

Ob er nun Angst hat, daß ich die Konten hier leerräume? fragte sie sich, und der Gedanke, daß Michael nervös über sein Geld grübelte, erheiterte sie. Er war zornig gewesen am Telefon, und er hatte sie wie immer sehr schnell wieder in eine unterlegene Position gedrängt, aber sie hatte auch seine Bestürztheit über ihr Verschwinden gespürt, seine Verblüffung, seine Ungläubigkeit. Damit hatte er nie im Leben gerechnet. Sie hatte sein Weltbild ins Wanken gebracht, und das war mehr, als sie sich selbst noch vor wenigen Tagen zugetraut hätte.

Der Himmel riß immer schneller auf und war wenige Minuten später von Wolken leergefegt. Das Meer spiegelte sein strahlendes Blau wider, war aber noch aufgewühlt vom Wind und trug weiße Schaumkronen auf den Wellen. Die Sonne schien jetzt so warm, daß Franca ihre Jacke auszog und um die Hüften knotete. Wenn das Wetter so blieb, würde sie eine schöne Farbe im Gesicht und auf den Armen bekommen. Sie ging, in Gedanken versunken, weiter und schrak heftig zusammen, als plötzlich ein Mann vor ihr auftauchte. Es war Kevin.

«Keine Angst«, sagte er beruhigend. Er hatte ihr Erschrecken bemerkt.»Ich bin es nur.«

Er sah abgekämpft aus, das fiel Franca sofort auf. Sie dachte an Helenes beschwingte Stimmung an diesem Morgen. Offenbar hatte Kevin den Abend mit ihr nicht so angenehm gefunden wie sie. Oder im Laufe des Morgens war ihm irgendeine Laus über die Leber gelaufen.

«Ach, Kevin«, sagte Franca,»ich hätte gar nicht erwartet, hier einen Menschen zu treffen.«

«Es hörte auf zu regnen, und ich mußte unbedingt ein paar Schritte laufen«, erklärte er. Es hörte sich an wie eine Rechtfertigung. Franca fand es eigenartig, daß er hier spazierenging, über der Petit Bôt Bay, und nicht in der Umgebung seines Hauses in Torteval. Aber sie stellte keine Fragen. Wenn er dazu etwas hätte sagen wollen, hätte er es getan.

Kevin faßte sich an den Kopf.»Ich fürchte, ich bin ein bißchen verkatert. Nachdem ich Helene gestern abend nach Hause gebracht hatte, habe ich noch die Küche aufgeräumt und dabei eine zweite Weinflasche geleert. Dazwischen noch ein paar Grappa… das merkt man am nächsten Morgen.«

«Helene hat es sehr gefallen bei Ihnen«, sagte Franca,»sie ist bester Laune.«

«So? Das freut mich. Sie ist eine nette Frau. Manchmal ein bißchen anstrengend, aber… nun ja. Irgendwie hängt sie an mir.«

Er zuckte mit den Schultern.»Alle alten Damen hängen an mir. Ich verkörpere wohl den Traummann, den sie in ihrer Jugend einmal haben wollten.«

Er lächelte, und seine Züge entspannten sich, seine Wangen bekamen wieder einen Anflug von Farbe. Franca betrachtete ihn, die gleichmäßigen, schönen Züge, die dunklen Haare, die weit auseinanderstehenden Augen von auffallender graugrüner Farbe, das warme Lächeln. Ein Mann, der intensiv auf Frauen wirkte, keineswegs nur auf ältere, und der doch nie etwas mit ihnen würde anfangen können.

Sie standen ein wenig unschlüssig herum, dann meinte Kevin:»Wenn Sie mögen, dann begleite ich Sie noch ein Stück. Ich will noch nicht nach Hause. Die Luft ist herrlich, finden Sie nicht auch?«

«Und das Meer riecht so wunderbar. Ich bin lange nicht mehr hier gewesen. Zwischendurch vergißt man fast, wie wohl man sich fühlen kann.«

Nebeneinander liefen sie den Klippenpfad entlang. Franca schmeckte Salz auf ihren Lippen.

Wenn ich nur nie wieder fort müßte von hier, dachte sie plötzlich.

Als hätte er ihre Gedanken geahnt, fragte Kevin:»Wie lange bleiben Sie?«

«Ich weiß nicht…«

Sie zögerte. Kevin musterte sie aufmerksam von der Seite.

«Es geht mich natürlich nichts an«, meinte er,»aber wenn es irgendwelche Probleme gibt, dann werden Sie hier bestimmt Abstand finden und vielleicht sogar eine Lösung. Räumliche Distanz hilft in vielen Fällen.«

«Ich denke, irgendein Weg wird sich für mich auftun«,

entgegnete Franca, aber sie war keineswegs überzeugt, daß es so sein würde.

«Ich finde, Sie sehen anders aus als im letzten Herbst«, meinte Kevin.»Damals wirkten Sie entsetzlich angespannt auf mich. Sie…«

Er stockte.

«Ja?«fragte Franca.

«Sie schienen so verkrampft. Ungeheuer verschlossen. An Beatrices und Helenes Geburtstag lächelten Sie fast nie, und man hatte das Gefühl, Sie erschraken, wenn man Sie ansprach. Das ist diesmal anders.«

Sie lachte.»Mir geht es auch besser als sonst. Ich fühle mich sehr frei. Vielleicht muß man… manchmal Dinge tun, die man sich nie zugetraut hat. Es ist ein schönes Gefühl, wenn alles plötzlich funktioniert.«

«Natürlich ist es ein schönes Gefühl. Es ist ein Sieg über sich selbst. Es gibt keinen anderen Sieg, der soviel innere Stärke gibt.«

Kevin schwieg, hing seinen Worten nach.»Und keinen anderen Sieg, der so schwer zu erringen ist«, fügte er hinzu.

Es geht ihm gar nicht gut, dachte Franca, er wälzt eine Menge Probleme.

Ihr fiel ein, daß Beatrice von seiner ständigen Geldnot gesprochen hatte. Vielleicht nahm er Helene nicht nur deshalb aus, um von ihrem Geld in Luxus zu schwelgen. Vielleicht ließen ihn sehr ernsthafte geschäftliche Sorgen nachts keinen Schlaf finden. Er sah nicht einfach verkatert aus. Er sah aus wie ein Mann, der schon lange keine Entspannung und Ruhe mehr fand. In seinen Augen lag ein gehetzter Ausdruck.

«Ich weiß noch nicht, ob ich in meinem Fall von einem Sieg

sprechen kann«, ging sie auf seine Worte ein,»wer weiß, wie die ganze Geschichte endet? Zum Schluß laufe ich zähneklappernd nach Hause zurück und verkrieche mich in meinem Bett.«

Sie lachte, aber Kevin sah sie ganz ernst an. Er blieb stehen.

«Das tun Sie nicht«, sagte er,»jede Wette, daß Sie das nicht tun.«

Sie hörte auf zu lachen.»Was läßt Sie so sicher sein?«

«Der Ausdruck auf Ihrem Gesicht«, sagte Kevin.»Sie sind auf den Geschmack gekommen. Auf den Geschmack der Freiheit. Er wird Sie nicht mehr loslassen.«

Er nahm ihren Arm und drückte ihn, eine Geste, die voller Wärme und Zuneigung war.»Ich glaube, Sie werden ziemlich lange bleiben«, sagte er.


4

Das Leben auf dieser Insel, dachte Maja, ist einfach nicht auszuhalten.

Der Winter war geradezu trostlos gewesen. Kaum Touristen, jede Menge Regen, langweilige Disconächte mit ebenso langweiligen Einheimischen. Als sie noch zur Schule ging, hatte Maja die Jungs von der Insel recht spannend gefunden; sie waren kräftig und braungebrannt, sportlich und ziemlich scharf auf ein Mädchen wie Maja, das sich ihnen bereitwillig auf Auto-Rücksitzen, in verlassenen Bootshäusern oder in Strandhöhlen auf weichem Sand hingab. Aber die meisten von ihnen hatten nichts von der Welt gesehen, und es war höchst unbefriedigend, mit ihnen zu reden; die Klügeren würden ins Bankgeschäft gehen, die anderen entweder die Pensionen oder Hotels ihrer Eltern übernehmen, oder Fischer und Hafenarbeiter werden. Maja fand, daß Fischer einfach immer nach Fisch stanken, selbst wenn sie gerade aus der Dusche kamen. Der Geruch des Meeres hatte sich in jeder Pore ihres Körpers eingegraben, und Maja schüttelte sich noch heute bei der Erinnerung an manches hastige Liebesabenteuer, bei dem sie gemeint hatte, ein ganzer Eimer Garnelen werde über ihr ausgekippt.

Später hatte sie sich dann bevorzugt an Touristen gehalten, vorwiegend französische und deutsche Urlauber. Manche von ihnen hatten sich als ganz interessant und spendabel erwiesen, aber letzten Endes waren sie weißhäutige, oft übergewichtige Spießer, die sich als unwiderstehliche Casanovas fühlten, weil es ihnen gelang, ein schönes, einheimisches Mädchen zu vögeln. Daß der Abend sie ein halbes Vermögen gekostet hatte, merkten sie nicht im Überschwang ihrer Gefühle. Maja fand sie irgendwann nur noch dämlich und hatte bei ihnen ebenso das erschreckende Gefühl, kostbare Lebenszeit zu vergeuden, wie bei den Fischern und Banklehrlingen.

Jetzt, im April, strömten sie mit ihren Fotoapparaten, Baseballmützen und Wanderstiefeln wieder in Scharen auf die Insel. Nachts hingen sie in den Bars herum und hielten Ausschau nach einer raschen Eroberung. Früher hatte Maja jeden Abend ausgedehnte Streifzüge unternommen, hatte sich als Beute präsentiert und selber Ausschau gehalten. Ein Vergnügen, das sie mehr und mehr zu langweilen begann.

Hoffentlich werde ich nicht einfach alt, dachte sie erschrocken.

Sie stand in der Schalterhalle der Royal Bank of Scotland in St. Peter Port und fragte sich, weshalb sich an einem gewöhnlichen Montagmorgen so lange Schlangen vor allen Schaltern bildeten. Offenbar hatte gerade heute jeder beschlossen, seine Bankgeschäfte zu erledigen. Vor allem die Rentner. Mit endloser Umständlichkeit und Langsamkeit zahlten sie Kleckerbeträge auf ihre Sparbücher ein oder hoben ebensolche ab, und Maja gewann fast den Eindruck, daß ihre Unbeweglichkeit Absicht war, daß sie aus einem einzigen Ereignis ihres Tagesablaufs unbedingt ein großes Ereignis machen mußten.

Die Schlange, in der Maja stand, rückte einen Schritt nach vorn, und Maja konnte sich in einem Spiegel seitlich der Eingangstür sehen. Sie warf einen vorsichtigen Blick auf ihr Gesicht. Gerade hatte sie sich gefragt, ob sie vielleicht alt werde, und nun erwartete sie fast, Linien und Falten um Augen und Mund zu entdecken.

Nicht mehr lange, dachte sie, und ich bin dreißig.

Was sie sah, beruhigte sie wieder ein wenig. Ihre knabenhafte Gestalt ließ sie noch immer wie ein Teenager aussehen. Die klobigen Schuhe mit den Plateausohlen machten ihre Beine noch länger und schlanker, der kurze schwarze Pullover ließ ein Stück von ihrem flachen, braungebrannten Bauch sehen. Sie trug eine Perlenschnur eng um den Hals und ließ ihre Haare als ungebändigte Mähne über den Rücken fallen. Die Augen hatte sie mit einem Kajalstift betont, die Lippen dunkelrot bemalt. Das künstliche Licht im Raum machte sie blaß, aber sie wußte, daß sie in Wahrheit eine schöne Farbe hatte. Sie bemerkte, daß fast alle im Raum anwesenden Männer sie mehr oder weniger verstohlen musterten. Das gab ihr ein gutes Stück Selbstvertrauen zurück.

Wenn ich sage, ich bin achtzehn, glaubt mir das jeder, dachte sie zufrieden. Sie stand im Begriff, ihr gesamtes Sparbuch abzuräumen, und sie hoffte nur, daß der Betrag reichen würde, ihr eine Reise nach London zu finanzieren. Großmutter Mae schenkte ihr immer wieder Geld, sonst würde völlige Ebbe herrschen, aber Maja hatte in der letzten Zeit eine Menge für Kleidung ausgegeben, und so war sie nicht sicher, wieviel sie nun vorfinden würde.

Sie wollte zu Alan.

Irgendwann in den letzten Wochen war ihr klargeworden, daß ihr Leben so, wie es war, nicht weitergehen konnte. Sie verschimmelte auf Guernsey, begnügte sich mit drittklassigen Abenteuern und ließ das wirkliche Leben, das sich jenseits des sie umschließenden Meeres abspielte, an sich vorüberziehen. Auf einmal hatte eine Unruhe sie befallen, die an Panik grenzte und ihr fast die Luft zum Atmen nahm. O Gott, wie sträflich lange hatte sie schon getrödelt! Sie mußte zusehen, daß sie ihr Leben in den Griff bekam, und es mußte schnell gehen; sie konnte es sich nicht leisten, jetzt noch viele Monate zu verlieren. Nächtelang lag sie wach und grübelte, ließ Möglichkeit um Möglichkeit vor ihrem geistigen Auge erstehen, verwarf jeden Plan wieder und stürzte sich hastig auf den nächsten.

Und dann, irgendwann, in einer windigen, kühlen Nacht Ende März war ihr Alan in den Sinn gekommen. Sie hatte sich im Bett aufgesetzt, ihr Herz hatte heftig gepocht, und sie hatte gedacht: Das ist es! Alan ist die Rettung! Warum bin ich nicht eher darauf gekommen?

Auf einmal war Alan die Lichtgestalt am Horizont, die Lösung all ihrer Probleme. Sie erinnerte sich an ihre letzte Begegnung im Januar, an alles, was er gesagt hatte. Er hatte ihr Moralpredigten gehalten, natürlich, das tat er dauernd, aber in seinen Augen hatte sie gelesen, wie sehr er sie noch immer wollte; und was er auch von ihr denken mochte — er würde es nicht fertigbringen, sie zurückzuweisen. Letztlich war er Wachs in ihren Händen, selbst wenn er ihr noch so oft erklärte, er denke nicht daran, ihr Leben zu finanzieren, ihre Vorstellung von Luxus, von schicken Kleidern und teuren Nachtclubs.

Wenn sie es geschickt anstellte, würde er ihr irgendwann aus der Hand fressen. Sie würde eine gewisse Zeit der Langeweile in Kauf nehmen müssen, aber über kurz oder lang würde sie das Leben führen, das ihr immer vorgeschwebt hatte.

Warum nur war sie so dumm gewesen, Alan immer wieder abzuweisen, obwohl er das Beste war, was ihr passieren konnte?

Es hatte ihr Spaß gemacht, das gestand sie sich ehrlich ein,ihn an der lange Leine hinter sich hertrotten zu lassen. Ihn zu locken und zurückzustoßen, je nachdem, in welcher Laune sie sich gerade befand. Ihn schlecht zu behandeln und dann zu sehen, daß er trotzdem ankam, wenn sie ihm zur Abwechslung wieder ein Lächeln schenkte. Wie ein Pokerspieler hatte sie ihr Blatt weiter und weiter ausgereizt. Wie weit konnte sie gehen? Wann würde er aufschreien? Wann würde er — endlich! — wütend werden?

Er wurde nicht wütend, und sie begann sich zu langweilen. Er dozierte, aber er nahm ihre Kriegserklärung nicht an, schlug sie nicht mit ihren eigenen Waffen. Maja wußte, es hätte sie närrisch gemacht, wenn er sich ernsthaft mit einer anderen Frau eingelassen hätte. Sie hätte alles darangesetzt, ihn zurückzugewinnen, und er hätte den Triumph gehabt, sie kämpfen und betteln und taktieren zu sehen. Er hatte seine Macht über sie nie begriffen. Armer Alan! Sogar jetzt, nach allem, was gewesen war, würde er sich noch glücklich schätzen, sie bei sich aufnehmen zu dürfen.

Die Schlange bewegte sich nicht mehr. Maja stellte fest, daß es nebenan schneller zu gehen schien, und wechselte in die andere Reihe. Zu spät bemerkte sie, daß sie direkt hinter Helene Feldmann zu stehen kam. Sie hatte die alte Dame bislang nicht wahrgenommen, und glücklicherweise hatte diese sie offenbar auch nicht gesehen. Zurück konnte Maja nicht mehr, sie hätte sich wieder ganz hinten anstellen müssen. Sie hoffte von ganzem Herzen, Helene werde sich nicht umdrehen und sie entdecken. Sie konnte sich den Redeschwall vorstellen, der über sie hereinbrechen würde. Helene konnte eine unerträgliche Quasselstrippe sein. Sie meinte, Gott und die Welt müßten sich für ihre verquasten Themen aus der Vergangenheit interessieren; sie kapierte nicht, daß sich niemand mehr für ihre Geschichten erwärmen konnte.

Helene kam an die Reihe.

Sie wird drei Pfund und fünfzig Pence abheben und dafür eine Stunde brauchen, dachte Maja gehässig, und zu blöd, sich das Geld am Automaten zu holen, ist sie auch noch!

Gelangweilt betrachtete sie ihre schwarzlackierten Fingernägel, und dann vernahm sie zu ihrem tiefen Erstaunen, wie Helene um die Auszahlung von fünfzehntausend Pfund bat.

Ruckartig hob Maja den Kopf. Fünfzehntausend Pfund! Die Alte hatte wirklich Nerven, ihr Konto derart zu überziehen. Denn so viel Geld konnte sie kaum besitzen, oder? Mae hatte immer von Helenes bescheidener Rente gesprochen, wenn Maja sich mokiert hatte, daß die alte Frau nur daheim saß und jammerte, anstatt auf Reisen zu gehen und ihr Leben zu genießen.

«Sie hat doch kein Geld, Maja! Sie kann sich keine Vergnügungen leisten.«

Von wegen! Maja schürzte verächtlich die Lippen. Wer so einfach an einem gewöhnlichen Montagmorgen hinging und ohne mit der Wimper zu zucken fünfzehntausend Pfund abhob, der war jedenfalls nicht arm wie eine Kirchenmaus. Auch wenn es ein Kredit war — die Bank ließ sich nicht bei jedem auf eine solche Zahlung ein. Aber möglicherweise überzog Helene nicht einmal. Maja spitzte die Ohren, aber sie konnte nichts davon hören, daß der Schalterbeamte von Kreditlimit oder vom Überziehen des Kontos sprach. Offensichtlich hatte er überhaupt kein Problem damit, ihr die Scheine auf den Tresen zu blättern. Helene stopfte das Geld in ihr zierliches Handtäschchen, das aussah, als habe sie es von einer Tanzstundenschülerin der fünfziger Jahre entliehen, und drehte sich um. Sie sah Maja sofort und schien einen Moment lang erschrocken, faßte sich aber rasch.

«Ach, Maja! Ich habe dich gar nicht bemerkt! Wie geht es dir? Du siehst gut aus!«

Die Worte purzelten ihr ein wenig zu hastig aus dem Mund.

Sie ist nervös, dachte Maja, sie weiß nicht, was ich mitbekommen habe, und sie will nicht, daß jemand etwas erfährt.

«Alles okay«, sagte sie leichthin und trat an den Schalter, denn der Beamte hatte ihr schon ungeduldig zugewinkt. Sie erkundigte sich nach ihrem Sparbuch und erfuhr, daß sich lächerliche achtundvierzig Pfund dort befanden. Das würde nicht reichen. Sie mußte wieder einmal Mae anpumpen, und wenn die ihr nichts gab, war sie am Ende ihrer Weisheit.

Und die alte Krähe geht einfach hin und hebt locker fünfzehntausend Pfund ab, dachte sie mißgünstig.

Helene hatte auf sie gewartet und trippelte neben ihr her zur Tür. Sie bewegte sich langsam, also mußte auch Maja schleichen, und sie fühlte sich zunehmend genervter.

«Ein düsterer Tag heute«, sagte Helene mit rauher Stimme«, der 17. April.«

Es interessierte Maja nicht im mindesten, weshalb Helene diesen Tag als düster empfand, aber sie wollte ausnahmsweise einmal höflich sein und fragte:»Warum?«

Helene blieb stehen und seufzte tief.

«Heute vor fünfundfünfzig Jahren«, sagte sie,»fing der Alptraum an. Damals begann mein Mann in Panik zu verfallen. Ihm brach der Boden unter den Füßen weg. Und das Verhängnis begann.«

Sie ging weiter, und während Maja nach einer

angemessenen Antwort suchte, wechselte sie abrupt das Thema und fragte:»Ist eigentlich noch etwas zwischen dir und Alan?«

«Ich denke schon«, sagte Maja. In Gedanken fügte sie hinzu: Ich kann es nur schwer hoffen.

«Ich würde Ihnen gern etwas schenken«, sagte Helene,»zum Dank, daß Sie mich nach St. Peter Port gefahren haben.«

Sie war am Auto angelangt, das Franca vor der Parish Church geparkt hatte. Maja hatte sich sehr eilig mit irgendeiner gemurmelten Entschuldigung verabschiedet. Franca war ausgestiegen, um Helene zu helfen, aber Helene plante noch nicht zurückzufahren. Trotz Francas Protest beharrte sie auf ihrer Idee, mit ihr einkaufen zu gehen.

«Ich kenne hier ein sehr schönes Modegeschäft«, sagte sie,»vielleicht möchten Sie sich dort etwas aussuchen.«

«Das geht wirklich nicht, das wäre viel zu teuer. Ich habe Sie gern gefahren, Helene, ich…«

«Es würde mir Spaß machen. Außerdem…«

Helene zögerte, fuhr dann aber fort:»Außerdem finde ich, Sie sollten sich ruhig einmal ein paar schicke Sachen gönnen. Sie sind eine so hübsche Frau, Franca, aber manchmal scheint es, als ob Sie alles täten, um diese Tatsache zu verbergen. Ihre Sachen schlottern um Sie herum, und…«

«Ich habe keine besonders gute Figur. Ich kann es mir nicht leisten, allzuviel von meinem Körper zu zeigen.«

Helenes Augen begannen zu blitzen.»Wer hat Ihnen denn diesen Unsinn erzählt?«rief sie.»Soweit ich das unter all den Stoffmassen, mit denen Sie sich tarnen, erkennen kann, sind Sie eine schlanke, langbeinige Person mit perfekten

Proportionen. Wir gehen jetzt sofort in das Geschäft und lassen uns das von der Verkäuferin noch einmal bestätigen.«

Franca sträubte sich, aber Helene gab nicht nach, und schließlich landeten sie in einem kleinen Laden in einer Nebengasse.

«Claire Ladies Wear «stand über den hohen Fenstern. Zu Francas Erleichterung befanden sich keine weiteren Kunden im Verkaufsraum. Wann hatte sie sich zuletzt etwas zum Anziehen gekauft? Es mußte eine halbe Ewigkeit her sein, mindestens fünf Jahre. Sie war sich zu unsicher wegen ihres Körpers gewesen; allerdings mußte sie zugeben, daß Michael darüber nie eine abfällige Bemerkung gemacht hatte. Er hatte jedoch auch nie ein anerkennendes Wort gefunden. Vermutlich hatte er ihren Körper schon seit langer Zeit überhaupt nicht mehr wahrgenommen.

«Haben Sie an etwas Bestimmtes gedacht?«wollte die Verkäuferin wissen.

Franca überlegte, denn eigentlich hatte sie ja an gar nichts gedacht, aber schon mischte sich Helene ein.»Wir dachten an ein Sommerkleid. Kurz sollte es sein und eng. Die junge Frau hat eine sehr hübsche Figur, und ich finde, sie sollte sie auch zeigen.«

Die Verkäuferin ließ einen sachkundigen Blick über Franca schweifen und nickte.»In der Tat. Sie brauchen sich wirklich nicht unter Schlabberpullovern zu verstecken. Sie haben sehr lange Beine. Kurze Kleider müßten Ihnen gut stehen.«

Eifrig schleppte sie einen ganzen Berg von Sachen heran. Nachdem sie sich zu Anfang noch sehr befangen gefühlt hatte, begann Franca an dem Abenteuer immer mehr Gefallen zu finden. Sie ließ sich Stück um Stück in die Kabine reichen, probierte Kleider, Röcke, Hosen und bunte T-Shirts. Zu ihrer Überraschung konnte sich ihr Körper wirklich sehen lassen. Sie war viel schlanker, als sie gedacht hatte, und sie hatte tatsächlich hübsche Beine. Die Verkäuferin und Helene gerieten in Entzücken.

«Sie sind ein ganz anderer Typ, wenn Sie sich so anziehen«, sagte die Verkäuferin, und Helene fügte hinzu:»Jeder Mann wird sich nach Ihnen umdrehen, Franca. Sie sehen phantastisch aus.«

Franca kaufte schließlich zwei kurze sommerliche Leinenkleider, eines in Weiß und eines in Rot, mehrere Miniröcke mit passenden T-Shirts, ein Paar Shorts und ein trägerloses Oberteil, das sie bei Strandspaziergängen tragen wollte, um ihre Schultern zu bräunen. Helene wollte alles bezahlen, aber Franca sagte, es sei von einem einzigen Kleid die Rede gewesen, und mehr werde sie nicht annehmen. Sie zahlte mit der Scheckkarte, die auf das gemeinsame Konto mit Michael lief, und lächelte bei dem Gedanken, daß es ihn ärgern würde, wenn er die Abbuchung bemerkte. Die Endsumme war recht hoch, aber sie dachte daran, wieviel er gespart hatte in den letzten Jahren, als sie nie etwas für sich gekauft hatte. Wahrscheinlich machte er seiner Geliebten teure Geschenke, daher mußte sie nicht das geringste schlechte Gewissen haben.

Sie war gut gelaunt und beschwingt, als sie den Laden, bepackt mit Tüten, verließ.

«Kommen Sie, Helene«, sagte sie,»ich lade Sie irgendwohin zum Essen ein. Ich habe einen fürchterlichen Hunger.«

Sie landeten bei Nino's, einem italienischen Restaurant, das etwas versteckt in einem Hinterhof lag. Sie bestellten Scampi und hinterher Lasagne und dazu eine ganze Flasche Rotwein. Franca wählte einen von der teuersten Sorte.

«Das bezahlt alles mein Mann«, sagte sie,»und das ist in Ordnung so. Also lassen Sie es sich richtig gut schmecken, Helene.«

«Sie sind ganz verändert«, stellte Helene fest.»Es hat Ihnen gutgetan, die schönen Kleider zu kaufen, nicht? Sie haben richtig Farbe im Gesicht, und Sie lächeln häufiger.«

Es hatte ihr tatsächlich gutgetan. Franca fühlte sich leichter und freier als zu irgendeinem Zeitpunkt in den vergangenen sieben oder acht Jahren. Es war ein ungeheuer angenehmes Gefühl gewesen, in den Spiegel zu blicken und sich schön zu finden. Sich als das zu sehen, was sie sein konnte: eine attraktive, begehrenswerte junge Frau, die über viel mehr Reize verfügte, als sie gedacht hatte. Wenn das Wetter gut bleibt, kann ich zusehen, daß ich noch richtig braun werde, dachte sie.

Der Kellner brachte den Wein.

«Wie schön, Sie einmal wiederzusehen, Mrs. Feldmann«, sagte er,»Sie haben sich lange nicht blicken lassen. Gibt es heute etwas zu feiern?«

Helenes Miene umwölkte sich.»Es beginnt nun meine schwerste Zeit. Ein Kreuzweg«, sagte sie mit Grabesstimme.

Dem Kellner war anzusehen, daß er grübelte, ob er mit dieser Information etwas hätte anfangen müssen, aber offensichtlich konnte er es nicht, denn er sah ziemlich ratlos drein.

«Madame?«sagte er schließlich fragend.

Helene konnte blicken wie ein waidwundes Reh, und in diesem Moment tat sie es besser denn je.»Es beginnt die Zeit, mit der alles zu Ende ging«, erklärte sie.»Ich meine die Zeit, die schließlich zum Tod meines Mannes führte.«

Der Kellner setzte eine angemessen betroffene Miene auf und legte eine Art Schweigeminute ein.

Ob er weiß, daß es ein Nazi-Bonze war? fragte sich Franca. Sie musterte den Kellner, einen jungen, gutaussehenden Italiener, keine fünfundzwanzig Jahre alt. Er hatte den NaziTerror nicht mitbekommen. Vermutlich wußte er von nichts.

«Das tut mir leid«, murmelte er, schenkte den Wein ein und sah zu, daß er davonkam.

Franca überlegte, ob sie das Thema wechseln sollte, und zerbrach sich den Kopf, worüber sie nun sprechen konnten. Aber Helene schien gar nicht darauf aus zu sein, sich von ihren trüben Gedanken ablenken zu lassen.

«Ganz gleich, wieviel Zeit vergeht«, sagte sie leise,»immer wenn der Frühling kommt, immer ab Mitte April, scheint das alles kein Jahr zurückzuliegen. Dann ist es so, als wäre es gestern gewesen… als wäre das alles gerade eben erst geschehen.«

«Es ist nicht so leicht, so jung Witwe zu werden«, meinte Franca etwas unbehaglich.

«Ach, wissen Sie, das war nicht das Schlimmste«, sagte Helene. Sie trank hastig von ihrem Wein, der schnell Wirkung zeigte und ihre Zunge zu lösen begann.

«Das Schlimme waren die Umstände«, sagte sie,»darüber komme ich nicht hinweg.«

Sie starrte in ihr Glas, das sie schon fast leer getrunken hatte.»Sie werden das vielleicht schockierend finden, Franca, aber unter der Tatsache, daß Erich nicht mehr da war, habe ich nie so sehr gelitten. Unsere Ehe… war nicht besonders glücklich. Ich war immer bedrückt, wenn Erich in meiner Nähe war. Das ist mir erst hinterher wirklich klargeworden. In seiner Gegenwart konnte ich nicht lachen, nicht unbeschwert sein. Nicht jung sein. Ich war achtzehn, als ich ihn heiratete, und vom Tag meiner Hochzeit an fühlte ich mich wie eine alte Frau, die nur zufällig in einem jungen Körper steckte.«

«Er war wohl ein sehr schwieriger Mensch«, sagte Franca, an Beatrices Erzählungen denkend,»selbst eine ältere Frau hätte es schwer mit ihm gehabt, aber für eine Achtzehnjährige muß es ziemlich schlimm gewesen sein.«

«Er war launisch, depressiv, aufbrausend, rachsüchtig und sentimental«, sagte Helene, und Franca dachte, daß sie Erichs Charaktereigenschaften erstaunlich präzise und sachlich auflistete.»Ich konnte erst zu leben beginnen, als er tot war. Insofern…«

Sie sprach nicht aus, was sie dachte, eine Art abergläubische Furcht schien sie zurückzuhalten.

«Nun, egal«, sagte sie statt dessen,»er war der Mensch, der er war. Er konnte so wenig aus seiner Haut heraus wie wir alle. Und es ist sehr lange her.«

Sie lauschte ihren Worten nach, schien über die Jahre zurückzublicken zu einer Zeit, in der sie jung gewesen war und noch geglaubt hatte, das Leben werde wenigstens einen Teil seiner Versprechungen einlösen.

«Es ist sehr lange her«, wiederholte sie.

«Wie…«, begann Franca vorsichtig,»ich meine, wie ist Ihr Mann denn gestorben?«

Es schien ihr tatsächlich noch immer weh zu tun, daran zu denken oder darüber zu sprechen.

«Hitler-Deutschland lag in Trümmern«, sagte sie.»Sie wissen wohl, wie schrecklich das Ende war? Eine Art Weltuntergang. Das Strafgericht der Sieger stand bevor, und es war klar, daß man Milde nicht erwarten konnte. Am 9. Mai 1945 kapitulierten die deutschen Besatzer hier auf den Inseln. Eine gute Woche zuvor, am 1. Mai, nahm Erich sich das Leben.«

«Er hat sich selbst umgebracht?«

«Wie sein Führer. Das heißt, er wollte es seinem Führer gleichtun und sich eine Kugel in den Kopf schießen. Ich weiß nicht, ob ihn im letzten Moment der Mut verließ oder ob er sich ungeschickt anstellte… Die Kugel traf ihn mitten in die Brust. Er war keineswegs sofort tot. Er verblutete. Über Stunden hin. Er quälte sich entsetzlich.«

«Waren Sie bei ihm?«

Helene nickte.»Die ganze Zeit. Ich hielt seinen Kopf in meinem Schoß und sprach beruhigend auf ihn ein. Ich sagte ihm, alles werde gut werden… Aber es war kein Arzt zu bekommen, das war das Schlimme. Es herrschte das totale Chaos, alles ging drunter und drüber. Kein Mensch interessierte sich für Erichs Schicksal. Irgendwann bekam er Fieber, er rief um Hilfe… Es war brütend heiß… dazu der Hunger, das Blut…«

Sie schauderte.

«Nie«, sagte sie,»werde ich diesen furchtbaren Tag vergessen. Nie habe ich etwas ähnlich Grausiges erlebt. Und ich hoffe, es bis zu meinem eigenen Ende nicht mehr zu erleben.«

Sie wartete nicht auf den Kellner, sondern schenkte sich selbst Wein nach.

«Vielleicht sollten wir von etwas anderem reden«, meinte sie schließlich.

Daheim probierte Franca vor dem Spiegel in ihrem Zimmer noch einmal die neuen Kleider an. Sie drehte und wandte sich, lächelte ihrem Bild zu. Irgendwie, fand sie, sah ihr Gesicht zu blaß aus. Zu ihren alten Sweatshirts und ausgebeulten Hosen hatte es gepaßt, aber jetzt verdarb es den Gesamteindruck. Sie kramte in ihrer Kosmetiktasche, förderte Wimperntusche und einen Lippenstift zutage. Vorsichtig färbte sie ihre Wimpern und betrachtete entzückt die Wirkung: Ihre Augen sahen viel ausdrucksvoller aus, wirkten größer und leuchtender. Sollte sie ihre Lippen anmalen? Der Lippenstift hatte ein ziemlich kräftiges Rot, sie hatte ihn als Gratisprobe in einer Drogerie bekommen.

Egal, dachte sie, ich kann die Farbe ja ohne weiteres wieder abwischen.

Der Effekt war überraschend: Das Rot harmonierte perfekt mit der Farbe des Leinenkleides, das sie trug, und es paßte wunderbar zu ihren blonden Haaren. Die Lippen, voller und sinnlicher als sonst, gaben ihr einen verführerischen Gesichtsausdruck. Sie sah sehr weiblich aus, selbstbewußter und herausfordernder.

Nicht mehr wie ein scheues Kaninchen, dachte sie, sondern wie…

Sie überlegte, mit welchem Tier sie besonders gern verglichen würde. Ihr Lieblingstier war die Katze.

Eine Katze? fragte sie ihr Bild und lächelte. Natürlich, sie war eine schlanke, geschmeidige Katze mit grünen Augen und hellem, glänzendem Fell. Sie lächelte noch einmal, und dann dachte sie: O Gott, welch ein Unsinn! Wie kann eine erwachsene Frau nur einen solchen Blödsinn im Kopf haben! Mit dem Handrücken wischte sie sich hastig den Lippenstift vom Mund. Idiotisch, plötzlich zur Femme fatale werden zu wollen. Die Rolle lag ihr nicht, sie hatte sie nie gespielt, und das aus gutem Grund. Es hatte keinen Sinn, ein schickes Kleid anzuziehen, sich Farbe ins Gesicht zu pinseln und zu glauben, man sei dadurch ein anderer Mensch. Zu einer verführerischen Frau gehörte mehr als elegante Kleidung und ein aufwendiges Make-up. Sie mußte Selbstbewußtsein ausstrahlen, Sicherheit, Vertrauen in sich und ihre Wirkung. Sie mußte Gelassenheit verkörpern und Souveränität.

Und von all diesen Eigenschaften fühlte sich Franca meilenweit entfernt. Sie war nicht einmal sicher, ob sie ihr einfach nur abhanden gekommen waren. Sie fürchtete, daß sie sie nie besessen hatte.

Es klopfte an der Tür, und Beatrice streckte ihren Kopf ins Zimmer.»Franca? Störe ich? Ich wollte…«

Sie unterbrach sich und sagte erstaunt:»Sie sehen aber gut aus! Ist das Kleid neu? Es steht Ihnen ausgezeichnet!«

Franca zerrte am Reißverschluß.»Ich… es war nur so eine dumme Idee… Helene meinte, ich solle mir etwas zum Anziehen kaufen, aber…«

Sie geriet fast in Panik, weil sie den Reißverschluß nicht aufbekam.

Beatrice trat ein.»Diesmal hatte Helene keine dumme Idee. Sie sind eine attraktive Frau, Franca, und das sollten Sie jedem zeigen. Kommen Sie, ich helfe Ihnen mit dem Reißverschluß. Sie machen das Kleid sonst noch kaputt!«

Franca streifte das Kleid ab wie eine zweite Haut, in der sie sich nicht wohl fühlte.

«Die Frage ist doch«, sagte sie,»wozu man sich so etwas kauft! Es muß irgendeinen Zweck haben, und in meinem Fall ist es einfach sinnlos und überflüssig!«

Beatrice starrte sie an.»Wie alt sind Sie?«

«Vierunddreißig.«

«Vierunddreißig! Ein wunderbares Alter! Ich sage Ihnen, Franca, die nächsten zwölf Jahre werden die besten Ihres Lebens sein. Nutzen Sie sie, um Gottes willen! Ziehen Sie sich jetzt nicht in sich selbst zurück, und meinen Sie nicht, alles hätte keinen Sinn mehr!«

Franca schlüpfte in Shorts und T-Shirt.»Ich kam mir einfach albern vor, mich hier vor dem Spiegel hin und her zu drehen. Es erschien mir plötzlich so lächerlich.«

«Ich glaube eher, Sie fangen ganz langsam an, normal zu werden. Wissen Sie was? Sie begleiten mich und die Hunde jetzt zu einem schönen, langen Spaziergang. Sie müssen unbedingt ein bißchen Farbe bekommen!«

Als sie hoch über dem Meer den Klippenpfad entlanggingen, umtobt von den drei begeisterten Hunden, sagte Franca:»Ich habe heute mit Helene zu Mittag gegessen. Sie erzählte mir vom Tod ihres Mannes. Es muß damals ziemlich schlimm gewesen sein.«

«Das war es«, bestätigte Beatrice.»Sie wissen, daß er sich in die Brust geschossen hat? Er litt einen langen Todeskampf. Und es war kein Arzt aufzutreiben.«

«Nicht einmal Maes Vater?«

«Der war auch irgendwo auf der Insel unterwegs. Es ging alles drunter und drüber in diesen Tagen. Überall wurden händeringend Ärzte gebraucht. Viele Menschen hier waren ja halb verhungert. Die Inseln waren seit fast einem Jahr von der Außenwelt abgeschnitten. Die Ernährungsfrage war schon lange zu einem hochbrisanten Problem geworden.«

«Helene scheint über die Art, wie ihr Mann gestorben ist, kaum hinwegzukommen.«

«Sie bewies eine erstaunliche Tapferkeit an diesem Tag. Sie blieb wirklich bis zu seiner letzten Sekunde bei ihm. Stunde um Stunde. Manch einer wäre sicher weggelaufen. Aber sie harrte aus.«

Beatrice schwieg nachdenklich.»Das war einer der wenigen Momente«, sagte sie dann,»in denen ich sie wirklich bewunderte.«

Der Weg führte nun steiler bergab, wurde schmaler und steiniger. Die Hunde rannten ihn laut bellend hinunter, schwanzwedelnd und unbekümmert.

Franca schaute bewundernd zu, mit welch einer Anmut und Leichtigkeit die siebzigjährige Beatrice den Abstieg bewältigte. Sie versuchte sie sich als junges Mädchen vorzustellen, das sich in einer hellen Spätsommernacht zwischen den Felsen und Höhlen mit einem jungen Mann traf, in einer Situation, die Lebensgefahr bedeutete, der aber dennoch keiner von beiden hatte widerstehen können.

«Haben Sie sich mit Julien noch jemals im Freien getroffen?«fragte sie.»Wie in der ersten Nacht?«

Sie waren unten angelangt. An der steinernen Mauer, die die Petit Bôt Bay zur Straße hin abschirmte, war ein Schild angebracht, das Hunden den Zutritt zur Bucht erst ab dem 1. Mai untersagte, und so konnten sie sie noch mit an den Strand nehmen. Sie kletterten über ein paar felsige Steine und standen im hellen Sand. Das Meer war friedlich und glatt an diesem Tag, in ruhigen Wellen trieb es zum Ufer, lief als weißer Schaum den Sand hinauf, ließ Schlick und Algen und kleine Muscheln zurück. Die Hunde jagten in wilden Sprüngen an der Brandung entlang. Beatrice schaute über das Wasser, atmete tief und in einer Art hingebungsvollem Glück. Sie liebt diese Insel, ist verwachsen mit ihr, dachte Franca. Ganz gleich, wohin sie sich früher einmal gesehnt hat — heute könnte sie nirgendwo anders mehr leben.

«Wir sind noch oft in den Nächten hinausgegangen«, antwortete Beatrice auf Francas Frage.»Sie müssen sich vorstellen, daß sich Julien vier Jahre lang versteckt halten mußte. Manchmal konnte er es wirklich kaum noch aushalten. Dieser enge Dachboden, dessen Wände so schräg waren, daß er überhaupt nur an einem Punkt des Raumes aufrecht stehen konnte, die Langeweile… Er war ein junger, kräftiger Mann, er konnte einfach nicht jahrelang nur von morgens bis abends Bücher lesen. Dazu kamen die deprimierenden Nachrichten aus seiner Heimat Frankreich, die ständige Sorge um seine Familie, um Freunde. Manchmal, wenn er nachts umherstreifte, hatte es fast den Anschein, als provoziere er geradezu die Möglichkeit, geschnappt zu werden, als gehe er ganz bewußt das Risiko ein, nur um endlich eine Veränderung herbeizuführen. Vielleicht sehnte er sich fast danach, erschossen zu werden und alles zu beenden.«

«Aber er brachte auch Sie in Gefahr!«

«Es war nicht so, daß wir einander immer trafen, wenn er nachts unterwegs war«, berichtigte Beatrice.»Oft zog er allein los, und ich erfuhr erst am nächsten Tag oder Tage später davon. Dann fing ich noch nachträglich an zu zittern. Die Lage der Deutschen verschlechterte sich an allen Fronten, es war ein wenig so wie bei Tieren, die in die Enge getrieben werden. Sie wurden immer gefährlicher. Zu Anfang hatten sie sich als Sieger aufgespielt, hatten geprotzt und geprahlt und waren einfach unangenehm gewesen. Aber ihre Siegestrunkenheit hatte sie auch ein wenig leichtsinniger sein lassen, man hatte sie besser austricksen, seine eigenen Sachen machen können.

Nun wurde ihnen langsam die Luft dünn. Sie waren nicht mehr siegestrunken. Öffentlich durfte keiner von ihnen am Endsieg zweifeln, aber ich denke, daß nur noch die wenigsten daran glaubten. Sie wurden aggressiver, witterten Bedrohung an allen Ecken und Enden. Die Katastrophe von Stalingrad hatte endgültig die Wende gebracht, es ging bergab, wie laut die braunen Machthaber jenseits des Kanals auch das Gegenteil behaupten mochten. Der Anfang vom Ende war da. Das versuchte ich Julien immer wieder klarzumachen. Ich sagte, ich sei sicher, daß er nicht mehr lange würde aushalten müssen, aber meine Worte erreichten ihn nicht wirklich. Seine Verzweiflung wuchs.«

«Er liebte Sie immer noch?«fragte Franca.

Beatrice setzte sich auf einen Felsen und klopfte einladend mit der Hand neben sich auf den Stein.»Setzen Sie sich. Ich möchte mir ein bißchen die Sonne aufs Gesicht scheinen lassen. Ich werde Ihnen von meiner und Juliens Liebe erzählen, und Sie können entscheiden, ob es sich überhaupt um eine Liebe gehandelt hat.«

«Glauben Sie es denn nicht?«fragte Franca. Sie setzte sich. Der Felsen fühlte sich wunderbar warm und glatt an. Ein leichter Wind blies und benetzte ihre Lippen mit Salz. Welch ein herrlicher Tag, dachte sie.

«Wie ich schon sagte«, entgegnete Beatrice,»bin ich der Ansicht, daß ich für Julien in erster Linie eine Verbindung zum Leben war. Er brauchte mich, ich war die einzige Bastion gegen die endgültige Verzweiflung. Es mag anmaßend klingen, aber ich glaube, daß ich es war, die verhindert hat, daß er durchdrehte, sich freiwillig stellte oder so unvorsichtig wurde, daß sie ihn hätten erwischen müssen. Das war meine Bedeutung in seinem Leben… die entscheidendere Bedeutung vielleicht als die, daß wir einander auf welche Weise auch immer — liebten.«


Guernsey, Sommer 1943

Vom Sommer des Jahres 1943 an wurde die Versorgungslage auf den Inseln immer schlechter. Im Dezember 1942 waren die Amerikaner, nach dem Angriff der Japaner auf den Truppenstützpunkt Pearl Harbor, in den Krieg eingetreten. Nacht für Nacht flogen ihre Bomber zusammen mit denen der RAF Angriffe auf deutsche Städte, verwüsteten Häuser und Straßen, brachten zahllosen Zivilisten den Tod. In Stalingrad wurde die Sechste Armee vernichtend geschlagen; am 3. Februar 1943 gab das Oberkommando der Wehrmacht die Kapitulation bekannt.

Die Lebensmittel im Reich wurden knapp; angesichts der Zerstörung brach auch die Landwirtschaft immer mehr zusammen. Kaum jemand schien noch daran zu denken, Versorgungsschiffe zu den Kanalinseln zu schicken, die als einsamer, exponierter Stützpunkt vor der französischen Küste lagen und noch immer mit Feuereifer zur Verteidigungsfestung ausgebaut wurden — obwohl niemand mehr glauben konnte, daß sie einen wirklichen Schutz vor drohenden Invasoren würden darstellen können. Heerscharen von Zwangsarbeitern wurden gebraucht, wurden zu unmenschlichen Anstrengungen getrieben, starben am Hunger und an entsetzlichen Mißhandlungen. Je aussichtsloser die allgemeine Kriegslage wurde, desto entschlossener forcierten die Besatzer ihren Entschluß, aus den Kanalinseln eine uneinnehmbare Festung zu machen.

Die Rationierungen wurden strenger, die Marken sparsamer verteilt. Es fiel den Wyatts nicht leicht, eine weitere Person satt zu bekommen — denn Julien hatte natürlich selbst keine Lebensmittelkarten und mußte von denen der Wyatts versorgt werden. Früher war der Arzt von vielen Inselbewohnern in Naturalien bezahlt worden, aber das gehörte nun auch der Vergangenheit an: Die Leute hatten selbst nichts mehr zu essen. Kaum jemand gab noch ein Ei oder ein Stück Schinken heraus.

Beatrice fand, daß Julien oft zu ungeduldig war, zuviel jammerte. Andere riskierten ihr Leben für ihn, teilten ihr letztes Stück Brot mit ihm, und er tat oft nichts anderes, als zornig gegen das Schicksal zu rebellieren. Sie verstand, daß er seine Situation haßte, aber es gab Menschen, die Schlimmeres aushielten in dieser finsteren Zeit. Immer häufiger verließ er nachts heimlich das Haus und begab sich auf seine geheimen Streifzüge, obwohl Beatrice ihm immer wieder sagte, daß sie Angst habe um ihn, und daß er seine Helfer in große Gefahr brachte.

«O Gott!«rief er wütend.»Glaubst du, ich würde sie verraten, wenn ich geschnappt werde? Wofür hältst du mich?«

«Die haben vielleicht durchaus Methoden, dich zum Reden zu bringen«, hielt Beatrice dagegen. Sie dachte daran, wie Pierre ausgesehen hatte, als sie ihn zurückbrachten.»Außerdem verfolgen sie dich vielleicht bis in dein Versteck zurück, und das wäre ein furchtbares Unglück.«

«Soll ich hier langsam wahnsinnig werden und mich schließlich selbst erschießen?«schrie Julien.»Wie kannst du glauben, daß ich das alles hier noch lange durchstehe?«

Sie nahm ihn in die Arme, strich ihm sanft über die Haare, und obwohl er nicht weinte, meinte sie, sein Schluchzen zu hören. Er war krank vor Heimweh, krank vor Sehnsucht nach Freiheit. Sein Hunger nach Leben, nach Bewegung, nach Luft zum Atmen war übermächtig geworden.

«Manchmal habe ich Angst, er hält nicht mehr lange durch«, sagte Mrs. Wyatt eines Tages besorgt zu Beatrice. Es war ein sonniger, windiger Augusttag; die Wolken jagten pfeilschnell über einen unglaublich blauen Himmel, die Bäume bogen sich, und auf den Blättern lag ein wunderbares goldfarbenes Licht. Beatrice war nach der Schule mit zu Mae gegangen, trotz Helenes ausdrücklichem Verbot. Aber sie hoffte, Julien wenigstens für ein paar Augenblicke sehen zu können. Ihre Gefühle für ihn vertieften sich, je mehr Zeit verging; sie wurden angeheizt durch all die Steine, die Helene und Erich ihr in den Weg legten. Sie dachte inzwischen zu jeder Sekunde des Tages an Julien. Im Unterricht, beim Spazierengehen, vor dem Einschlafen und beim Aufwachen. Sie war von einer fiebrigen Unruhe erfüllt. Ihre Sexualität, die zu Anfang sehr unschuldig und unausgeprägt gewesen war, wurde bewußter, wacher und hungriger, je mehr Nahrung sie bekam. Sie stand jetzt kurz vor ihrem fünfzehnten Geburtstag, und jeder erfahrene Beobachter hätte am Leuchten ihrer Augen, an der Farbe ihrer Wangen und an der Art, wie sie sich bewegte, gesehen, was mit ihr los war.

«An Tagen wie heute«, erwiderte sie auf Mrs. Wyatts besorgte Vermutung,»muß es besonders schwer sein.«

«Geh hinauf zu ihm und tröste ihn«, sagte Mae spitz. Beatrice hatte sich stets gehütet, ihr reinen Wein einzuschenken, aber dennoch war Mae die einzige, die eine ziemlich klare Vorstellung davon hatte, was zwischen Beatrice und Julien vor sich ging. In dieser Hinsicht war sie weit weniger naiv als ihre Mutter.

Beatrice kletterte auf den Dachboden hinauf und traf einen zornigen, unruhigen Julien an, der eine Tasse des scheußlichen Ersatzkaffees trank, den man inzwischen überall nur noch bekam zahlte man nicht horrende Preise auf dem Schwarzmarkt, und selbst dort war echter Kaffee zu einer Rarität geworden.

«Kannst du zur Petit Bôt kommen heute nacht?«fragte er anstelle einer Begrüßung.»Ich muß raus. Ich muß ans Meer. Ich muß dich sehen.«

«Das ist zu gefährlich«, sagte Beatrice und dachte, daß er sie langsam hassen mußte für diesen Satz, den sie praktisch jedesmal sagte, wenn er mit Vorschlägen dieser Art kam. Sie fühlte sich wie eine besorgte Gouvernante, die den Menschen in ihrer Umgebung jeden Spaß verdirbt, aber es ging, um Himmels willen, um mehr als um ein harmloses mitternächtliches Badevergnügen am Meer.

«Ich bin um elf Uhr in der Bucht«, sagte er,»so oder so. Ob du kommst oder nicht.«

Er hob den Kopf, sah durch die geöffnete Dachluke hinaus in den stürmischen Himmel, der schon das lichte, kühle Blau des Herbstes angenommen hatte.

«Mein Leben zerrinnt mir zwischen den Fingern«, sagte er verzweifelt.»Siehst du, wie die Wolken jagen? Genauso schnell vergeht die Zeit. Und ich sitze hier!«

Er ballte die Hand zur Faust, ließ sie krachend auf den Tisch fallen.»Ich sitze hier!«

«Es kann nicht mehr lange dauern. Alle sagen…«

«Seit Jahren sagen alle alles mögliche. Niemand stoppt die deutschen Teufel, wann kapiert ihr das endlich? Vielleicht geht es ihnen gerade ein wenig schlechter, aber irgendwann geht es ihnen auch wieder besser. Es wird nie aufhören. Niemals!«

Es war das übliche Lamento, die üblichen Reden, auf die Beatrice allmählich keine Erwiderungen mehr fand. Stets beschwor sie das Ende des Krieges, das Ende der Besatzung, stets beharrte Julien auf seiner düsteren Prophezeiung, daß es ein Ende niemals geben würde. Sie versuchte ihn zu verstehen, zu begreifen, daß seine Lage zwangsläufig eine pessimistische Einstellung hervorrufen mußte, aber dann wieder machte sie die Erkenntnis traurig, daß sie ihm nicht helfen, ihm die Panik nicht nehmen konnte.

«Kommst du?«fragte er.

Sie seufzte.»Ich werde es versuchen. Ich kann es nicht versprechen.«

Sie wußte, er zweifelte nicht daran, daß sie da sein würde.

Erich kam an diesem Abend aus Frankreich zurück, was die Situation verkomplizierte. Er hatte länger fortbleiben wollen, und niemand wußte, weshalb er verfrüht zurückkehrte, zumal er selbst nichts dazu sagte. Er war glänzender Laune und brachte sogar Geschenke mit: eine Perlenkette für Helene, deren Verschluß aus einem großen, leuchtendgrünen Smaragd bestand, und einen Ring für Beatrice. Der Ring war aus schwerem Gold, sehr breit und wuchtig, und trug einen dunklen Goldtopas aus Stein. Er war viel zu weit für Beatrices Finger, selbst vom Daumen rutschte er noch herunter, und er sah viel zu auffallend aus an ihren noch kindlich zarten Händen. Beatrice fand, daß er zu einer dicken, alten Dame paßte, aber keineswegs zu ihr, und daß es sowieso unpassend war von Erich, ihr einen Ring zu schenken und Helene nicht. Erich merkte natürlich, daß sie nicht allzu begeistert war.

«Was ist?«fragte er stirnrunzelnd.»Gefällt dir der Ring nicht?«

«Er ist zu groß.«

«Wir müssen ihn natürlich enger machen lassen. Du hast aber wirklich schlanke Finger, das muß ich sagen. Da wird eine Menge Gold wegfallen. Nun, vielleicht kann man einen Kettenanhänger daraus arbeiten lassen.«

«Oder einen zweiten Ring«, bemerkte Helene spitz,»einen für mich.«

Erich begriff, daß beide Frauen ihn nicht mit dem Enthusiasmus empfing, den er sich vorgestellt und ausgemalt hatte. Lächelnd kramte er in einem Tornister, den er zuvor ein wenig achtlos in einer Ecke abgestellt hatte.

«Vielleicht entfacht dies ja ein Leuchten in euren Augen«, sagte er und zauberte nacheinander eine Reihe von Herrlichkeiten hervor, die man auf der Insel schon seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatte.

«Echter Bohnenkaffee!«pries er seine Errungenschaften an.»Schokolade! Seidenstrümpfe. Seife. Tee. Köstliche Biskuits. Was sagt ihr dazu?«

Helene schien von diesen Geschenken tatsächlich mehr angetan zu sein als von ihrer Perlenkette.»Meine Güte«, sagte sie ehrfürchtig.»Leben die Menschen in Frankreich noch so in Saus und Braus?«

«Die meisten nicht. Aber es gibt noch Vorratslager. Und treusorgend, wie ich bin, habe ich natürlich an euch gedacht.«

«Wie steht es mit dem Krieg?«fragte Beatrice, nicht bereit, sich von etwas Kaffee und Schokolade korrumpieren zu lassen.

«Oh, mit dem Krieg steht alles zum besten«, entgegnete Erich sofort.»Natürlich ist so ein Krieg nicht von heute auf morgen zu entscheiden, und zwischendurch verschieben sich die Dinge immer wieder einmal, aber insgesamt sieht es großartig aus. Einfach großartig.«

«Wie man so hört, weichen die Deutschen an allen Fronten zurück«, sagte Beatrice provozierend.»Und wieso kriegen wir hier auf den Inseln fast nichts mehr zu essen, wenn alles so gut läuft?«

Erichs Miene verfinsterte sich.»Zum Teufel mit der feindlichen Propaganda! Natürlich versucht man, den Kampfeswillen und die Durchhaltemoral zu schwächen, indem man Hiobsbotschaften durch die Sender schickt. Aber davon ist kein Wort wahr.«

Er seufzte ärgerlich.»Wenn man nur endlich alle Radioapparate auf dieser Insel konfiszieren könnte! Aber offenbar scheint das ja nicht möglich zu sein.«

Er trank viel an diesem Abend, was Beatrice beruhigte, denn so würde er tief schlafen. Helene, die sich offenbar nicht besonders wohl fühlte, sprach ebenfalls dem Rotwein reichlich zu, und als sie sich verabschiedete, um ins Bett zu gehen, schlug ihre Zunge schwer an.

Es war schon nach elf Uhr, als Beatrice sich sicher genug fühlte, aus dem Haus zu schleichen und den Weg zur Petit Bôt Bay einzuschlagen. Sie wußte, daß zwei Wachtposten um das Grundstück patrouillierten, aber die beiden waren noch nicht ein einziges Mal von ihrem gewohnten Rhythmus und von den üblichen Zeiten abgewichen, und so war es kein Problem, auf den Moment zu warten, da Haustür und Auffahrt unbeobachtet waren. Trotzdem war ihr bewußt, daß sie ein viel zu hohes Risiko einging und daß sie standhaft genug hätte sein müssen, sich von Julien nicht zu diesen nächtlichen Ausflügen überreden zu lassen.

Wie dumm von mir, dachte sie beinahe wütend, während sie durch die Dunkelheit huschte, etwas so Verrücktes zu tun!

Aber wie immer fielen Ärger und Wut in sich zusammen, als sie Julien gegenüberstand und er sie mit der Ungeduld und Heftigkeit, die ihm seine Verzweiflung eingaben, in die Arme schloß. Er hatte unten in der Bucht auf sie gewartet, ein regloser Schatten zwischen den Felsen, der sich aufrichtete und auf sie zukam, als sicher feststand, daß ihr niemand gefolgt war.

Sie standen eng aneinandergepreßt, und Beatrices Herz klopfte stürmisch, weil sie so schnell gelaufen war. Die Nacht war warm und von einer samtigen Schwärze, und noch immer glitten Wolken über den Himmel, ließen nur hin und wieder den Mond sichtbar werden oder Sterne aufblitzen. Das Meer rauschte ruhig und geheimnisvoll. Es schien kein anderer Mensch als sie beide auf der Erde zu sein.

Julien sagte ein paar zärtliche Worte auf französisch zu ihr und strich ihr die Haarsträhne zurück, die ihr immer wieder in die Stirn flatterte. Hier draußen war er ein anderer Mann als auf seinem Dachboden. Es war, als fließe sein Blut sofort schneller, als beschleunigten sich Herzschlag und Atmung, als durchströme ihn eine Kraft, die sich aus unbekannten Quellen speiste. Seine Augen leuchteten, sein Lachen klang tief und warm. Es war jung und vital, stark und selbstsicher.

Er ist frei, dachte Beatrice, hier draußen ist er ganz einfach frei, und das macht einen anderen Menschen aus ihm.

Sie liebten sich im hellen Sand der Bucht, und das Bewußtsein der Gefahr, in der sie schwebten, und der kurzen Zeit, die ihnen blieb, ließ sie noch gieriger werden, noch sehnsüchtiger und hingebungsvoller. Die Romantik ihrer Begegnung blieb immer gleich, weil ihre Situation immer gleich blieb. Sie waren stets in Gefahr, und ihre Zukunft war immer ungewiß.

Sie lagen nebeneinander und hielten sich an den Händen, und Julien sprach auf französisch von der Zeit nach dem Krieg. Wenn er sich gut fühlte, gab es Momente, in denen er glaubte, der Schrecken werde vorübergehen, und es werde nicht mehr lange dauern, bis alles vorbei war. Jetzt war ein solcher Moment. Er lag unter freiem Himmel am Meer, er sah Sterne und Wolken über sich, und er hatte ein Mädchen geliebt, dessen Hand er noch immer in der seinen hielt. Er war ein junger Mann wie tausend andere Männer.

«Ich werde viel Geld verdienen, wenn der Schlamassel vorbei ist«, sagte er. Es war auf jeden Fall positiv, daß er von» Schlamassel «sprach, statt von» Terror«,»Schrecken«, oder» Weltende«.»Schlamassel «war ein bewußt gewählter, harmloser Begriff für das Unheil, das über sie alle hereingebrochen war.»Ich weiß noch nicht genau, wie, aber du sollst sehen, ich werde ein reicher Mann.«

Beatrice setzte sich auf und kramte in der Tasche ihres Kleides. Sie hatte heimlich ein Stück von der Schokolade, die Erich mitgebracht hatte, an sich genommen. Sie brach einen Riegel ab und reichte ihn Julien.

«Hier, möchtest du?«

Er setzte sich ebenfalls auf. Der Mond tauchte gerade wieder hervor, und in seinem Licht sah Julien gespenstisch fahl aus. Beatrice wußte, daß das nicht nur am Mond lag: Auch bei Tag war Julien von wächserner Blässe. Er war nicht mehr der kräftige, braungebrannte Kerl, als der er auf die Insel gekommen war. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst.

«Schokolade? Woher hast du die denn?«

Er schob den ganzen Riegel auf einmal genießerisch in den Mund.»Ich wußte fast nicht mehr, wie so etwas schmeckt.«

«Erich ist heute aus Frankreich zurückgekommen. Er hat eine Menge herrlicher Dinge mitgebracht.«

Sie sah ihm zu, wie er kaute und sich die Lippen leckte. Sie schob ihm das nächste Stück in den Mund.

«Wenn du an die Zeit nach dem Krieg denkst«, sagte sie,»komme ich da in deinen Plänen auch vor?«

Er warf ihr einen erstaunten Blick zu.»Natürlich. Warum nicht?«

«Du hast nie etwas gesagt.«

«Wann reden wir schon über die Zeit danach? Es hat so wenig Sinn, sich den Kopf darüber zu zerbrechen.«

«Du sprichst von dem Geld, das du verdienen willst, «sagte Beatrice vorsichtig,»aber nicht von mir.«

«Leg doch nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Jetzt habe ich vom Geld gesprochen. Ein anderes Mal spreche ich von dir.«

Er stand auf, plötzlich unruhig geworden.»Weißt du was? Ich möchte im Meer schwimmen. Ich möchte das Salz auf meinen Lippen schmecken und das Wasser auf meiner Haut fühlen.«

Sie haßte ihre Gouvernantenrolle, aber sie mußte sie schon wieder spielen.»Tu es nicht, Julien. Es ist zu gefährlich. Du bist weithin sichtbar im Wasser. Von einem Schiff aus könnten sie dich sehen, oder oben von den Klippen.«

«Die Nacht ist viel zu dunkel.«

Er wippte ungeduldig auf den Zehen.»Außerdem ist hier niemand.«

Wie eine Warnung zeigte sich der Mond erneut und warf sein bleiches Licht zur Erde.

«So dunkel ist die Nacht nicht«, sagte Beatrice nervös,»die Wolken ziehen zu schnell, der Mond verschwindet nie lange. Bitte, Julien. Was wir hier tun, ist gefährlich genug, aber wir sind durch die Felsen einigermaßen geschützt. Da draußen schützt dich nichts.«

«Es ist die letzte Nacht dieses Sommers. «Es gab keinen Anhaltspunkt dafür, daß es so war, aber Julien schien sicher zu sein.»Und ich weiß sowieso nicht, wann ich wieder hinaus kann. Ich werde jetzt schwimmen.«

Sie sah ihm nach, wie er über den Strand zum Wasser lief. Sein hochgewachsener nackter Körper war im Mondlicht von silbriger Farbe. Er bewegte sich leicht und geschmeidig; sie konnte es förmlich spüren, wie sehr er die Berührung mit der Luft, mit dem Sand genoß, wie sehr ihn das Laufen beglückte, das Spiel seiner Muskeln.

Wie schön er ist, dachte Beatrice, und wie rücksichtslos. Sie kam sich alleingelassen vor, saß im Schatten der Felsen, die sich über ihr türmten, und sah ihn vor der Weite des Meeres und im Licht des Mondes. Sie versuchte, die Symbolik der Situation nicht überzustrapazieren, aber es war, als hätten sie beide ihre Rollen vertauscht: Er ging in die Freiheit hinaus, während sie gefangen zurückblieb. Und irgendwie stimmte dieses Bild auch, das hatte sie begriffen in den letzten Minuten. Er liebte sie nicht wirklich. Sie gehörte zu den Dingen, die ihm sein Leben im Versteck erleichterten, und so hatte sie eine entscheidende Bedeutung für ihn, aber innerlich hatte er sich nicht an sie gebunden. Er würde sie vergessen, sobald er frei war. Er würde nach Frankreich zurückkehren und sich in sein wiedergewonnenes Leben stürzen, und es würde lachende, fröhliche Mädchen um ihn herum geben, er würde flirten, mit ihnen tanzen, trinken, und er würde sie lieben, und eine von ihnen würde er irgendwann heiraten.

Was werde ich sein in seiner Erinnerung? fragte sich Beatrice. Sie zog sich wieder an, glättete mit den Händen notdürftig die Haare.

Sie würde einfach Beatrice sein, das englische Mädchen, dem er Französisch beigebracht, mit dem er Victor Hugo gelesen und dem er die Unschuld genommen hatte. Er würde sich an ihre blasse Haut erinnern und an ihre widerspenstigen Haare, an ihren knochigen Körper und vermutlich daran, daß sie nicht besonders hübsch gewesen war.

Aber er hatte keine Wahl, und ich war besser als nichts, dachte Beatrice zornig. Sie wühlte heftig mit der Hand im Sand, zog mit den Fingern tiefe Linien und Kerben. Und ich war auch noch dumm genug, mich nachts mit ihm am Strand zu treffen und mein Leben in Gefahr zu bringen.

Julien stand nun schon bis zu den Hüften im Wasser, zögerte einen Moment und ließ sich dann in die Wellen gleiten. Er schwamm mit kräftigen Zügen vorwärts, drehte sich auf den Rücken, strampelte mit Armen und Beinen, planschte, prustete und vollführte einen Höllenlärm in der bis dahin völligen Stille der Nacht. Zu Beatrices Erschrecken flutete das Mondlicht nun ungehindert vom Himmel, der Wind hatte die Wolken immer weiter auseinandergetrieben, und die Nacht war jetzt von gnadenloser Helligkeit.

Das gibt ein Unglück, dachte sie mit klopfendem Herzen.

Sie stand auf, wagte sich einen Schritt vor.

«Julien!«rief sie halblaut.»Bitte komm zurück! Du machst zuviel Lärm! Komm zurück!«

Natürlich hörte er sie nicht. Er spielte im Wasser wie ein Kind oder ein lebenslustiger Delphin. Er bewegte sich wie auf einem Präsentierteller, herausfordernd oder selbstvergessen, das vermochte Beatrice nicht zu sagen.

Ich sollte gehen, dachte sie, ich sollte ihn allein lassen in diesem Wahnsinn und sehen, daß ich wegkomme.

Als der Schuß krachte, ohrenbetäubend laut, wußte sie in der ersten Sekunde nicht einmal, was sie da gehört hatte und woher das Geräusch gekommen war. Doch im nächsten Moment fiel der zweite Schuß, und dann erklang eine scharfe Stimme, die auf deutsch durch ein Megaphon rief:»Verlassen Sie sofort das Wasser! Kommen Sie sofort an Land!«

Lichter flammten von den Klippen herab. Jetzt waren viele Stimmen zu hören, deutsche Stimmen. Es mußte sich um Soldaten handeln, die oben am Klippenpfad aufgetaucht waren und sich nun zweifellos an den Abstieg hinunter in die Bucht machten.

Beatrice wich tiefer zwischen die Felsen zurück. Sie fühlte sich wie ein Kaninchen in der Falle, gefangen zwischen Meer und Klippen und umzingelt von bewaffneten Feinden. Wieder wurde geschossen, die Kugel traf platschend ins Wasser auf, schlug aber weit entfernt von Julien ein. Er schien sich außer Reichweite zu befinden, aber das würde ihm nichts nützen, denn er würde zurückschwimmen müssen.

Ergib dich, flehte sie im stillen, ergib dich, um Gottes willen, das ist deine einzige Chance!

Julien hatte wie erstarrt innegehalten, als der erste Schuß gefallen war, so überrascht, als sei das Auftauchen der deutschen Soldaten das letzte, womit er gerechnet hätte. Auch beim zweiten Schuß hielt er still, starrte zum Strand, schien die Situation zu analysieren.

Der dritte Schuß brachte ihn in Bewegung. Aber anstatt der Aufforderung — die er nicht einmal verstanden haben mochte, da sein Deutsch sehr schlecht war — Folge zu leisten, schlug er die entgegengesetzte Richtung ein, kraulte in raschem Tempo weiter ins Meer hinaus und bog dann in westliche Richtung ab. Das lange Herumsitzen in seinem Versteck mochte ihn geschwächt haben, aber die Todesangst mobilisierte die alten Kräfte: Er bewegte sich ungeheuer schnell und zielsicher.

«Der versucht, die nächste Bucht zu erreichen!«brüllte jemand.»Schickt sofort Leute hin, die ihn abfangen!«

Beatrice wich noch tiefer in ihre Felsspalte zurück. Ihr war klar, daß dieses Versteck sie nicht schützen würde. Man würde sie finden. Vielleicht würde man sie sogar erschießen.

Ihr Herz raste. Für Sekunden war sie versucht, freiwillig hinauszutreten, sich zu stellen, ehe man sie hervorzerren würde. Aber irgend etwas hielt sie zurück, und auf einmal dachte sie, daß sie nicht so rasch aufgeben sollte.

Ich muß hier weg, ehe sie unten sind. Wenn sie erst da sind, habe ich keine Chance mehr. Ich muß vorher verschwinden.

Erneut fielen Schüsse, aber für Julien bestand keine Gefahr mehr. Er war schon fast um die Biegung der ins Meer hinausragenden Felsen verschwunden.

Die Soldaten kamen den Klippenpfad nur langsam herunter; sie waren mit dem Gelände nicht vertraut und konnten zudem nicht wissen, ob nicht ein Hinterhalt sie unten erwartete.

Beatrice hingegen kannte das Gelände seit frühester Kindheit. Tausendmal war sie hiergewesen, hatte gelernt, sich wie eine Katze über die Felsen zu bewegen.

Ihr Gehirn arbeitete fieberhaft. Den westlichen Pfad konnte sie nicht hinauf, das stand fest. Von der Straße, die zur Bucht

führte, hörte sie nun Motorengeräusche; dort kamen sie mit Motorradgespannen, und so war ihr auch dieser Weg versperrt. Blieb der Klippenpfad in östlicher Richtung, zu dessen Fuß sie jedoch nicht mehr gelangen konnte — sie hätte die Bucht verlassen und die Straße hinauflaufen müssen, aber dort wimmelte es nun schon von Deutschen. Sie hatte keine Wahl, als direkt an den Klippen hinaufzuklettern. Das Schlimme war, daß sie zuvor den Strand in seiner ganzen Breite überqueren mußte, um den Aufstieg beginnen zu können. Sie mußte zusehen, daß sie sich in der oberen Strandhälfte dicht am dort liegenden Geröll entlangbewegte, so flach und klein wie möglich, den Schutz eines jeden Steines ausnutzend.

Sie wollte schon davonhuschen, denn nun kam es auf jede Sekunde an, da bemerkte sie, daß Juliens Kleidungsstücke noch im Sand lagen. Falls man sie als das Eigentum Dr. Wyatts identifizierte, würde dies den Arzt und seine Familie ans Messer liefern.

Sie glitt aus ihrer Felsspalte heraus, immer noch geschützt vor dem steinernen Dach über sich, raffte Hose, Hemd, Strümpfe und Schuhe zusammen und zog sich mit angehaltenem Atem wieder zurück. Dann kroch sie, flach wie ein Eidechse, entlang den Steinen über den Strand, während die Deutschen noch immer aus den Klippen schossen, auf der Straße die Bremsen quietschten und Soldaten auf den Strand zuliefen.

Am meisten störten die Schuhe. Die übrigen Kleidungsstücke hatte sie irgendwie um ihren Körper gebunden, aber die Schuhe hielt sie in der linken Hand, was bedeutete, daß ihr nur die rechte zur Verfügung stand. Sie benutzte den schwierigsten, steilsten, haltlosesten Weg, den es aus der Bucht heraus gab. Es war schierer Wahnsinn, hier hinaufzuklettern, noch dazu im Dunkeln und mit nur einer freien Hand und zudem in einer halsbrecherischen Geschwindigkeit. Beatrice blieb nicht die Zeit, ihre Schritte zu überprüfen, mit dem Fuß zu tasten, ob der Stein halten würde, auf den sie trat. Sie mußte sich auf ihre Erinnerung verlassen — dieser Weg hatte früher die beliebte Mutprobe zwischen ihr und den Jungen aus dem Dorf dargestellt, allerdings bei Tageslicht und ohne Gepäck —, und sie mußte auf ihr Glück hoffen.

Zumindest funktionierten in diesem Moment der Gefahr ihr Körper und ihre Nerven. Sie bewegte sich ruhig und sicher, trotz der Schnelligkeit. Weder wurde ihr schwindlig noch stieg Panik in ihr auf. Das würde vermutlich später geschehen.

Wenn alles vorbei ist, dachte sie einmal, werde ich schreien.

Die Deutschen veranstalteten einen Heidenlärm unten in der Bucht. Schreie und Schüsse klangen durch die Nacht. Schließlich kam noch Hundegebell dazu; irgend jemand mußte Spürhunde herbeigeschafft haben. Beatrice wußte, daß ihre Zeit damit noch knapper wurde; die Hunde würden in Windeseile den Platz in der Felsspalte entdecken, in der sie sich versteckt gehalten hatte, und von dort aus ihre Spur bis hinüber zu den östlichen Klippen und um die Biegung herum verfolgen. Dann würde klar sein, welchen Weg sie genommen hatte. Die Feinde mußten sie oben nur noch abfangen.

Sie steigerte ihr Tempo, ignorierte die Schmerzen in ihren Fingerknochen, die vom angespannten Umklammern der Schuhe herrührten. Die letzten Felsen… Ihre freie Hand griff in Gras, mit einer letzten Anstrengung zog sie sich hinauf, sank keuchend in sich zusammen.

Sie war oben. Sie hatte es geschafft.

Sie wußte, daß sie hier nicht liegen bleiben durfte. Es wimmelte von deutschen Soldaten um sie herum. Sie mußte weiter, so schnell sie konnte.

Auf allen vieren kroch sie vorwärts. Sie wagte nicht, aufrecht zu laufen, weil sie im hellen Mondlicht eine weithin sichtbare Silhouette abgegeben hätte. Erst als sie ein kleines Waldstück erreicht hatte, hielt sie inne, lehnte sich an einen Baumstamm und atmete tief durch. Sie ließ die Schuhe fallen, entspannte ihre schmerzenden Hände. Jetzt merkte sie, wie erschöpft und ausgepumpt sie war. In ihren Seiten stach es, ihre Beine zitterten, ihr Kopf dröhnte. Sie war naßgeschwitzt am ganzen Körper.

Sie barg das Gesicht in den Händen, wartete, daß sich das Beben in ihr beruhigte.

Was war aus Julien geworden?

Er konnte nicht die ganze Insel umschwimmen. Irgendwo mußte er inzwischen an Land gegangen sein. Hatten sie ihn abgefangen?

Wie konnte er so wahnsinnig sein? fragte sie sich verzweifelt. Wie konnte er nur so schrecklich dumm sein?

Irgendwie mußte sie rasch nach Hause gelangen. Sie konnte nur hoffen, daß man Erich nicht bereits von der Aktion in Kenntnis gesetzt hatte, er wach war und somit ihr Verschwinden entdeckt hatte. Wohin, zum Teufel, sollte sie mit Juliens Kleidungsstücken?

Mühsam kam sie auf die Füße, ergriff die Schuhe, machte sich auf den Heimweg. Im Wald blieb alles still, niemand schien sich hier aufzuhalten. Sie lief einen gewaltigen Umweg, umrundete das Dorf, näherte sich dem Haus ihrer Eltern von der Rückseite. Die Auffahrt zu nehmen erschien ihr zu riskant.

Sie huschte in den Garten, spähte nach der Patrouille, hielt den Atem an, aber alles blieb still. Sie betrat das Gewächshaus, das am Ende des Grundstücks stand und das inzwischen in einen Zustand völliger Verwahrlosung geraten war, da Pierre allein mit seiner Arbeit nicht fertig werden konnte.

In einer Ecke stapelten sich Säcke mit Erde und Torf, denen man ansah, daß sie seit Jahren nicht mehr von der Stelle bewegt worden waren. Beatrice rutschte sie ein Stück zur Seite, verstaute Kleidungsstücke und Schuhe dahinter, rückte die Säcke wieder an ihren Platz. Vorerst erschien ihr der Ort als ein sicheres Versteck, später mußte sie weitersehen.

Sie gelangte ungesehen ins Haus und in ihr Zimmer hinauf, aber erst als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, konnte sie ein wenig ruhiger atmen. Sie schälte sich aus ihren Kleidern, die sich feucht anfühlten von ihrem Schweiß, legte sie achtlos über einen Sessel, kroch unter ihre Bettdecke und krümmte sich zusammen wie ein Embryo, krank vor Erschöpfung und Angst. Ihr war übel, und ihre Zähne schlugen aufeinander. Langsam drang nun die Erkenntnis in ihr Bewußtsein, welch ein Wunder es war, daß sie noch lebte, daß sie leicht hätte erschossen werden können, daß sie um Haaresbreite dem Tod entkommen war.

Hoffentlich muß ich mich nicht übergeben. Hoffentlich lebt Julien noch. Hoffentlich finden sie ihn nicht. Hoffentlich habe ich die Kleider sicher genug versteckt.

Die Gedanken rasten in ihrem Kopf. Einmal war sie dicht daran, aufzustehen und ins Bad zu laufen, so sicher war sie, sich erbrechen zu müssen, aber ihr Magen beruhigte sich wieder, und sie sank in die Kissen zurück.

Irgendwann, in den frühen Morgenstunden, fand sie ein wenig unruhigen Schlaf. Sie erwachte von Stimmen und Rufen, von Motorenlärm und dem Tritt schwerer Stiefel auf der Treppe. Das Haus schien voller Menschen zu sein, und es herrschte eine ungewöhnliche Aufregung.

Julien, dachte sie sofort.

Es war acht Uhr, und niemand hatte sie geweckt, aber ihr fiel ein, daß Samstag war und sie nicht zur Schule gehen mußte. Ihr war immer noch übel, und als sie aufstand und in den Spiegel sah, stellte sie fest, daß sie bleich und elend und wirklich krank aussah.

Sie räumte ihr zerknittertes Kleid in den Schrank, suchte ein frisches heraus, zog es an. Ihre Haare standen in alle Richtungen, es war wieder einmal unmöglich, sie zu bändigen, und sie faßte sie einfach mit einer Schleife zusammen.

Als sie das Zimmer verließ, kam schon Helene auf sie zu.

«Da bist du ja! Große Aufregung!«wisperte sie.»Heute nacht haben sie um ein Haar einen Spion in der Petit Bôt Bay erwischt!«

«Um ein Haar?«fragte Beatrice sofort zurück.

«Er konnte wohl entkommen. Aber nun suchen sie die ganze Insel nach ihm ab. Sicher werden sie ihn finden.«

Aus dem Erdgeschoß war Erichs dröhnende Stimme zu vernehmen.»Und ich verlange Bericht über alles, was passiert! Verstanden? Ich will auf dem laufenden gehalten werden!«

Er kam die Treppe herauf, starrte Beatrice an.»Wie siehst du denn aus? Bist du krank?«

Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern fuhr gleich fort:»Eine verrückte Geschichte! Der Mann war im Wasser. Rätselhaft, woher er gekommen ist!«

«War es sicher ein Spion?«fragte Beatrice. Ihre Stimme hörte sich belegt und fremd an.

Wieder warf Erich ihr einen forschenden Blick zu.»Was sollte er sonst gewesen sein?«

«Ich weiß nicht. Jemand von der Insel. Jemand, der baden wollte…«

«Also wirklich«, sagte Erich pikiert,»du kommst auf sehr eigenartige Ideen! Hier herrscht nachts Ausgangssperre. Wer sollte so verrückt sein, hinzugehen und im Meer zu baden?«

Weil ihr euch nie vorstellen könnt, daß jemand eure Befehle nicht befolgt, dachte Beatrice aggressiv.

Erich rannte die Treppe wieder hinunter — die Wichtigkeit in Person —, und Helene sagte besorgt:»Du siehst wirklich elend aus, Beatrice, da hat Erich recht. Geht es dir nicht gut?«

«Ich habe nur schlecht geschlafen«, erwiderte Beatrice. Innerlich sandte sie ein Dankgebet zum Himmel, weil sie klug und beherzt genug gewesen war, Juliens Kleider mitzunehmen. Sie zweifelte jetzt nicht mehr daran, daß diese Sachen eine entscheidende Spur für die Deutschen hätten sein können.

Den ganzen Tag über schlich sie im Haus herum und überlegte, wie es ihr gelingen konnte, etwas über Juliens Verbleib herauszufinden. Wo hielt er sich versteckt? Offensichtlich spürten sie ihn nicht auf, das hätte sie erfahren. Sie wagte nicht, zu den Wyatts hinüberzulaufen, zumal Helene es sowieso nicht erlaubt hätte. Sie war ständig an Beatrices Seite, verwickelte sie in sinnlose Gespräche, jammerte ein wenig, verlangte in den Garten begleitet zu werden, fand es dann dort zu kühl und wollte wieder ins Haus. Julien schien recht zu behalten mit seiner Bemerkung über die letzte warme Nacht: Die Luft war merklich kälter

geworden, obwohl die Sonne schien. Der Himmel zeigte ein herbstlich intensives Blau. Zum erstenmal in diesem Sommer fiel es Beatrice auf, daß sich die Spitzen der Blätter färbten.

Der Sommer ist fast vorbei, dachte sie und schauderte, weil sie den Gedanken als doppeldeutig empfand und im Innern wußte, daß tatsächlich etwas vorüber war in ihrem Leben, das nie wiederkehren würde.

Sie verbrachte den ganzen Tag in trübe Gedanken versunken, sorgte sich um Julien, konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß die Angelegenheit noch nicht ausgestanden war. Sie war unruhig und nervös. Als sie für eine halbe Stunde Helene loswerden konnte, zog sie sich ins Bad zurück und wusch das Kleid, das sie in der vergangenen Nacht getragen hatte. Sie wußte selbst nicht recht, welches Problem sich für sie aus dem Zustand dieses Kleides hätte ergeben können, aber es erschien ihr wichtig, jede nur denkbare Spur zu verwischen. Als sie aus dem Bad kam, das nasse Kleid über dem Arm, um es draußen zum Trocknen aufzuhängen, vernahm sie aus der Halle Erichs scharfe Stimme.

«Wo ist Beatrice?«

«Ich weiß nicht«, sagte Helene,»eben war sie noch da.«

«Ich muß sofort mit ihr sprechen.«

Alles in ihr stand auf Alarm. Erich sprach nicht einfach in seinem üblichen Befehlston. In seiner Stimme hatten Wut, Mißtrauen und Zorn geklungen. Irgend etwas war geschehen.

Fieberhaft jagten sich die Gedanken in ihrem Kopf. Auf welche Spur war er gestoßen? Welchen Beweis hielt er in den Händen? Wieviel sollte sie leugnen, wieviel zugeben?

Es hatte keinen Sinn, sich zu verstecken. Sie mußte die

Angelegenheit hinter sich bringen, mußte herausfinden, was los war.

«Ich bin hier oben.«

Ihre Stimme klang erstaunlich klar.

«Komm sofort herunter!«bellte Erich.»Sofort!«

Sie ging langsam die Treppe hinab. Von dem nassen Kleid tropfte Wasser auf die Stufen. Erich und Helene standen unten in der Halle nebeneinander; Helene sah erschrocken und blaß aus, und Erich machte ein Gesicht wie beim Jüngsten Gericht. Er hielt irgend etwas in der Hand, was Beatrice jedoch nicht sofort erkennen konnte. Sie blieb auf der untersten Stufe stehen; damit war sie fast so groß wie Erich, und dies gab ihr ein Gefühl der Sicherheit.

«Kannst du mir erklären, was das hier ist?«fragte Erich. Diesmal sprach er sehr leise, und das klang noch gefährlicher als sein Geschrei zuvor.

Sie starrte auf das, was er ihr entgegenstreckte.

«Was ist das?«fragte sie.

Er trat einen Schritt näher an sie heran.

«Das will ich von dir wissen.«

Immer noch sprach er sehr leise.»Genau das sollst du mir jetzt erklären.«

Sie erkannte endlich, was er da zwischen den Fingern hielt. Ein Stück Papier. Einwickelpapier. Es stammte unverkennbar von der Schokolade, die er aus Frankreich mitgebracht hatte.

Irgendwie fügten sich die Einzelheiten für sie noch immer nicht zusammen. Ihr Gehirn weigerte sich, logisch und zusammenhängend zu denken. Aber eine dumpfe Ahnung braute sich in ihr zusammen, der Anflug der Erkenntnis, daß sie in einer Falle saß.

«Hast du die Sprache verloren?«fragte Erich.»Du kannst doch sonst reden wie ein… jüdischer Juwelenhändler!«

Nach seinem Verständnis war das eine der schlimmsten Beleidigungen, die er aussprechen konnte. Beatrice zuckte zusammen, weil sie das wußte, und die Lähmung, die sie gefangengehalten hatte, fiel von ihr ab.

«Das ist Schokoladenpapier«, sagte sie.

Erich lächelte. Es war ein grausames, heimtückisches Lächeln.»Richtig. Sehr richtig. Schokoladenpapier. Es ist aber kein englisches Papier, nicht wahr? Es ist kein Papier, das irgendwo auf der Insel benutzt oder verkauft wird, schon gar nicht jetzt, da es Schokolade praktisch nicht mehr gibt. Würdest du das auch so sehen?«

«Ich denke, ja«, antwortete Beatrice. Die Angst kroch in ihr hoch. Sie begann Zusammenhänge zu erkennen, und ihr wurde für Sekunden übel.

«Das ist doch das Papier von der Schokolade, die du gestern aus Frankreich mitgebracht hast«, sagte Helene arglos und erstaunt, weil Erich in diesem Umstand offensichtlich ein Problem oder eine Besonderheit zu sehen schien.

Er wandte sich ihr langsam zu.»Richtig, Helene. Du kannst offensichtlich schneller denken als unsere liebe Beatrice. Das ist das Papier von der Schokolade, die ich gestern aus Frankreich mitgebracht habe. Und weißt du, wo dieses Papier gefunden wurde?«

«Wo?«fragte Helene mit großen Augen.

«Unten in der Petit Bôt Bay. Im Sand.«

Helene war jetzt völlig durcheinander.»Wie kommt es denn da hin?«

«Hm.«

Erich tat so, als überlege er angestrengt.»Eigentlich gibt es nur drei Personen, die es dorthin gebracht haben können. Entweder war ich es, oder du warst es, oder es war Beatrice. Sonst kommt eigentlich niemand in Frage.«

«Ich war nicht am Strand«, sagte Helene,»schon seit Wochen nicht. Und bestimmt nicht gestern oder heute.«

«Ich auch nicht«, sagte Erich.»Ich glaube sogar, ich bin überhaupt nie in dieser Bucht gewesen.«

«Aber Beatrice war auch nicht dort«, sagte Helene verwirrt.»Gestern und heute nicht. Wir waren immer zusammen.«

«Dann«, sagte Erich,»stehen wir wirklich vor einem Phänomen. Wie ist das Papier an den Strand gekommen? Ich meine, fliegen kann es nicht.«

Er sah Beatrice aus zusammengekniffenen Augen an. Sie hielt noch immer ihr nasses Kleid im Arm. Zu ihren Füßen hatte sich eine kleine Pfütze gebildet.

«In der Bucht war doch heute nacht der Spion«, meinte Helene.»Vielleicht hat es mit ihm etwas zu tun.«

«Weißt du«, sagte Erich nachdenklich,»so wie es aussieht, bleibt eigentlich nur die Möglichkeit, daß einer von uns heute nacht doch am Strand war. Denn was den gestrigen und den heutigen Tag angeht, sind wir praktisch jeder für den anderen ein Alibi. Aber was die Nacht angeht, kann niemand die Hände für den anderen ins Feuer legen.«

Beatrice dachte, daß sich eine Maus, mit der die Katze spielt, ungefähr so fühlen mußte wie sie. Erich umkreiste sie, belauerte sie, weidete sich daran, sie in die Enge zu treiben.

Sag, was du denkst, dachte sie, sag es einfach, und dann werden wir weitersehen.

«Wer von uns sollte denn nachts an den Strand gehen?«rief Helene.»So verrückt ist doch keiner! Ich würde sterben vor Angst!«

«Ich kann mir dieses Verhalten bei dir tatsächlich nicht vorstellen«, meinte Erich.»Helene, die nachts den Klippenpfad in die Petit Bôt Bay hinuntersteigt, sich in den Sand setzt und Schokolade ißt… Würdest du nicht auch sagen, Beatrice, daß dieses Verhalten nicht im geringsten zu ihr paßt?«

«Es paßt nicht zu ihr«, bestätigte Beatrice mit belegter Stimme.

«Aber auch Beatrice würde so etwas nie tun«, sagte Helene.»Warum sollte sie denn?«

«Es kann ein ganz romantischer Treffpunkt sein dort unten«, erklärte Erich,»eine warme Augustnacht, der Himmel ist voller Sterne, das Meer rauscht…, ein leiser Wind weht… Mein Gott, Helene, wir waren doch auch einmal jung!«

Es war Helene anzusehen, daß sie jeglichen Faden verloren hatte. Sie wußte überhaupt nicht, wovon ihr Mann eigentlich sprach.

Erich sah Beatrice an. Mit einem Schlag knipste er sein Lächeln aus.

«So, genug geredet«, sagte er kalt.»Man kann ja vieles über dich sagen, Beatrice, aber schwer von Begriff bist du nicht. Du weißt, wann es nichts nützt, sich aus einer Bredouille herauszureden. Wen hast du heute nacht in der Bucht da unten getroffen?«

Es war ein so verdammt dummer, so idiotischer Fehler gewesen, die Schokolade mitzunehmen! Niemals hätte sie dieses Risiko eingehen dürfen.

Erich war überzeugt, daß nur sie die Schokolade mit zum Strand genommen haben konnte und daß der Mann, den die Soldaten für einen feindlichen Spion gehalten hatten, ihr Liebhaber war, mit dem sie sich nachts heimlich traf. Immerhin ließ er nun die Suche nach dem Fremden einstellen, denn er hatte keinen Zweifel mehr daran, daß es sich um einen Einheimischen handelte, der längst sein Zuhause erreicht hatte und damit ohnehin unauffindbar war. Zwei Dinge wollte er jedoch von Beatrice wissen: wer der Mann war und wie lange sie ihn kannte.

Es war ein regelrechtes Verhör gewesen, das sich bis in die späten Abendstunden hingezogen hatte. Beatrice hatte auf einem Stuhl im Eßzimmer gesessen, immer noch das nasse Kleid in den Armen, das sie wie eine Art schützendes Kissen vor ihren Körper hielt. Aus unerfindlichen Gründen dachte sie ständig darüber nach, daß das Kleid trocken und entsetzlich zerknittern würde und daß es schwierig sein würde, es später zu bügeln. Natürlich war dies das geringste und unwichtigste Problem, das sie im Augenblick zu bewältigen hatte, aber sie klammerte sich an dieser Frage fest, vermutlich, wie sie später dachte, um sich überhaupt an etwas festklammern zu können.

Erich ging auf und ab, setzte sich, stand wieder auf, lief wieder hin und her. Er sprach leise, er brüllte, er wurde gefährlich sanft, er wurde bedrohlich aggressiv. Er tobte und schrie, er flüsterte und brachte sein Gesicht so dicht an ihres, daß sie seinen Atem spüren konnte. Sie versuchte, nicht zurückzuweichen. Sie versuchte, keine Angst zu zeigen. Tatsächlich war Angst auch nicht das in ihr vorherrschende Gefühl. Sie war zu betäubt, um sich wirklich zu fürchten. Sie dachte an ihr zerknittertes Kleid und daran, daß sie den Mund halten mußte, ganz gleich, was passierte.

Helene kam einige Male ins Zimmer und heulte, und es sah ganz so aus, als werde sie einen Nervenzusammenbruch erleiden. Die Situation mußte sie in ihren Grundfesten erschüttern: Einem handfesten Familienkrach war sie ohnehin nicht gewachsen, und sie wußte nicht, wie weit ihr Mann gehen würde, um die Wahrheit aus Beatrice herauszubekommen. Zudem schien es tatsächlich so zu sein, daß ihre Pflegetochter seit längerer Zeit schon einen Freund hatte, den sie zu intimen Schäferstündchen traf, ohne daß sie oder Erich eine Ahnung davon gehabt hatten. Helene war verstört und entsetzt und fragte sich ratlos, wie es Beatrice hatte gelingen können, dieses Verhältnis aufzubauen, ohne daß irgend jemand etwas davon mitbekommen hatte.

Beatrice schwieg beharrlich, Stunde um Stunde. Irgendwann hatte sie sich an ihr eigenes Schweigen gewöhnt, vergrub sich darin wie in einem dunklen Versteck, ließ weder Erichs Stimme noch seinen heißen Atem an ihrem Gesicht zu sich durchdringen.

«Du wirst reden«, sagte er in der Nacht. Seine Stimme klang heiser und erschöpft.»Du wirst reden, früher oder später. Ich habe Mittel, jeden zum Sprechen zum bringen.«

Beatrice überlegte, ob er vorhatte, sie den SS-Schergen zu übergeben, und ob sie aus deren Befragung grün und blau geprügelt wie Pierre hervorgehen würde. Aber irgendein Instinkt sagte ihr, daß Erich das nicht tun würde. Er hatte alles darangesetzt, sie einzuschüchtern, aber er hatte sie nicht einmal geschlagen. Etwas hielt ihn zurück, er brachte es nicht über sich, und er würde es auch nicht über sich bringen, andere die Schmutzarbeit tun zu lassen. Er schien auf subtilere Methoden zu setzen. Auf Zermürbung. Auf Entzug. Auf permanentes, bohrendes Fragen.

Irgendwann scheuchte er sie mit einer Handbewegung in ihr Zimmer hinauf; sie breitete dort das halbtrockene, völlig zerknitterte Kleid über einem Stuhl aus und kroch in ihr Bett, erschöpft und benommen; aber so müde sie war, sie fand keinen Schlaf, wälzte sich die ganze Nacht ruhelos hin und her, und als der Morgen kann, wußte sie, daß sie sich bereit machen mußte für die zweite Runde.

Die Befragungen dauerten fast drei Wochen lang an. Erich ließ Beatrice nicht zur Schule gehen, und auch er selbst verließ kaum einmal das Haus. Mußte er fort, so hatten sowohl Helene als auch die beiden wachhabenden Soldaten strikten Befehl, Beatrice keinen Schritt aus dem Haus tun zu lassen. Es gab keine Chance für sie, Kontakt zu Julien aufzunehmen — was auch nur dann möglich gewesen wäre, wenn es ihm geglückt war, zu den Wyatts zurückzuflüchten, und nicht einmal das konnte sie herausfinden. Sie nahm an, daß sich Mae nach ihr erkundigte, aber sie wurde nicht zu ihr vorgelassen, und Beatrice erfuhr nicht, was man Mae erzählte, um ihr Fernbleiben von der Schule zu begründen. Ob sich die Wyatts sorgten? Ob sich Julien sorgte?

Sie begriff Erichs Taktik: Er isolierte sie. Er isolierte sie von allem, was zu ihrem Leben, zu ihrem Alltag gehörte. Von ihren Freunden, ihren Mitschülern, von den Pflichten und Erfordernissen, die ihren Tagesablauf prägten. Sie war getrennt, allein, ohne Information, ohne Verbindung nach draußen. Dazu über Stunden seinen hämmernden, bohrenden Fragen ausgesetzt.

Sie war — und das mußte in Erichs Augen am schwersten wiegen — nicht in der Lage, Kontakt mit dem Mann aufzunehmen, den sie liebte.

«Ich kann nicht verstehen«, sagte Helene eines Tages tief

verletzt,»warum du mir nichts erzählt hast. Mir ist das unbegreiflich. Ich dachte immer, du hättest Vertrauen zu mir!«

«Es gibt nichts zu erzählen«, sagte Beatrice stereotyp. Diesen Satz hatte sie Erich einige Male entgegengehalten.

Helene seufzte tief. Natürlich glaubte sie das nicht. Niemand glaubte es. Aber Beatrice ihr Geheimnis zu entreißen, schien praktisch unmöglich zu sein. Erichs Kalkül ging nicht auf: Beatrice wurde nicht mürbe, je mehr Zeit verstrich, sie zog sich nur noch weiter in sich selbst zurück. Sie kapselte sich völlig ab. Nichts schien sie mehr zu erreichen. Sie lehnte sich nicht auf, sie kämpfte nicht, sie suchte nicht nach Ausflüchten, nicht nach Wegen, die Situation zu beenden oder erträglicher zu gestalten. Sie ertrug alles, was geschah. Es war, als habe sie eine eigene, weitab liegende Welt aufgesucht, in die niemand ihr zu folgen vermochte.

Sie magerte stark ab und wurde sehr blaß. Unter ihren Augen lagen bräunliche Ringe. Ihre Haare sahen noch struppiger aus als sonst. Es gab keinen Glanz in ihren Augen. Ihre Bewegungen hatten alles Leichte und Federnde verloren, das ihnen vorher zu eigen gewesen war.

Am Ende kapitulierte Erich. Er begriff, daß Beatrice nicht nachsehen würde und daß er sie nicht dauerhaft würde einsperren und von der Schule fernhalten können. Er selbst konnte nicht ständig die Zeit aufbringen, sie zu befragen und zu malträtieren. Zähneknirschend mußte er sich damit abfinden, daß die Runde an sie ging.

«Du wirst keine Chance mehr bekommen, ihn zu sehen«, sagte er.»Es wird keine Minute am Tag und in der Nacht mehr geben, in der du dich davonstehlen könntest. Du magst glauben, daß du gewonnen hast, aber in Wahrheit hast du verloren. Du bist von jetzt an eine Gefangene.«

Ein Adjutant brachte sie zur Schule und holte sie wieder ab. Die patrouillierenden Soldaten vor dem Haus hatten Anweisung, Beatrice keinesfalls vorbeizulassen. Nachts saß ein Soldat in der Eingangshalle des Hauses; es wäre unmöglich für Beatrice gewesen, an ihm vorbeizukommen.

Das Haus hatte sich in eine Festung verwandelt.

Immerhin aber hatte Beatrice nun wieder Kontakt zu Mae, die sich aufgeregt hatte und voller Sorge gewesen war. Von ihr erfuhr sie, daß Julien nach einigen Tagen bangen Wartens in das Haus der Wyatts zurückgekehrt war; er hatte sich in Ställen und Scheunen versteckt und sich dann zu der Arztfamilie durchgeschlagen. Er hatte von einem nächtlichen Badeausflug erzählt und davon, daß er fast geschnappt worden wäre.

«Mein Vater war entsetzlich wütend«, berichtete Mae,»denn Julien hat uns ja alle in größte Gefahr gebracht. Am liebsten hätte er ihn gar nicht mehr aufgenommen, aber dann wäre er vielleicht doch noch geschnappt worden und hätte alles gesagt.«

Neugierig fügte sie hinzu:»Warst du bei ihm in dieser Nacht?«

Beatrice schwieg wieder einmal, was Mae als ein Ja interpretierte.

«Nun«, meinte sie, und es lag eine gewisse Selbstzufriedenheit sowohl in ihrer Stimme als auch in ihrem Gesichtsausdruck,»du wirst ihn wohl nicht mehr treffen können. Sie bewachen dich ja rund um die Uhr. Diese Geschichte scheint vorbei zu sein.«


Guernsey, Juni 1944 bis Mai 1945

In der Nacht vom 5. auf den 6. Juni 1944 begann das» Unternehmen Overlord«, das die Endphase des Krieges und das Ende der Nazi-Diktatur einläutete. In der Normandie landeten am 6. Juni 1944 die alliierten Truppen. Über eine halbe Million amerikanische, kanadische und englische Soldaten gingen dort an Land, und die französische Stadt Cherbourg war drei Wochen später in amerikanischer Hand. Die Deutschen mußten im Westen wie im Osten eine Niederlage nach der anderen hinnehmen. Je schwächer die Armeen wurden, desto lauter erklangen die Kampfparolen der Regierung. Selbst unter den größten Pessimisten auf den Inseln regte sich nun Hoffnung. Er sah so aus, als sei wirklich ein Ende des Schreckens in Sicht.

Die Alliierten hatten bei ihrer Landung auf dem europäischen Festland die besetzten Kanalinseln für zu unwichtig gehalten, um sie einzunehmen und dabei Verluste zu riskieren, ehe sie in der Normandie zum unmittelbaren Angriff auf Hitlers Truppen ansetzten. Wie vergessene, letzte kleine Stützpunkte des Nazi-Regimes im Atlantik lagen sie nun im Rücken der Invasoren, von einem Tag zum anderen abgeschnitten vom» Großdeutschen Reich«, von dem aus bis dahin die Versorgung organisiert worden war. Seit 1943 hatte zwar vieles nicht mehr richtig funktioniert, da durch die zahlreichen U-Boote vor der französischen Küste der Transport von Nahrungsmitteln und sonstigen Gebrauchsgütern nicht reibungslos vonstatten gehen konnte, aber es waren noch immer Schiffe angekommen, es hatten noch vereinzelt Flugzeuge landen können. Nun bewegte sich nichts mehr. Einzig die Engländer hätten noch Nahrungsmittel schicken können, aber Churchill untersagte jegliche Hilfe für die Kanalinseln. Er wußte, daß alles, was er dorthin schickte, zunächst an die Feinde verteilt würde. Also schickte er nichts. Er ließ seine Landsleute hungern, um den Feind nicht zu unterstützen.

Die Lage verschärfte sich, als sich das Jahr 1944 seinem Ende zuneigte. Man trank Tee aus Pastinaken oder Brombeerblättern oder Eichelkaffee. Es gab kaum noch Brot, es gab keinen Käse mehr, kein Fleisch, denn zu viele Menschen hatten vor der Invasion die Inseln verlassen, als daß die Landwirtschaft hätte aufrechterhalten werden können. Und mit dem Einbruch des Herbstes und des Winters wurde alles noch schlimmer.

Besatzer und Besetzte hungerten gemeinsam. Sie froren, sie litten, sie versuchten sich an erbärmlichen Eigenerzeugnissen, von denen sie nicht satt wurden und zudem Magenbeschwerden bekamen. Sie teilten den Hunger und das Gefühl, vergessen worden zu sein. Der Krieg fand anderswo statt, würde sich anderswo entscheiden, aber sie würden nicht teilhaben. Sie lagen im Rücken einer Invasion, die über sie hinweggerollt war, ohne sie zu berühren, und waren zum Warten verurteilt, konnten nichts tun, nicht kämpfen, nicht siegen, nicht verlieren, nicht sterben. Jedenfalls nicht mit einer Waffe in der Hand.

Vielleicht aber am Hunger. Am schlechtesten ging es den Häftlingen, die im KZ auf Alderney vegetierten, und den Zwangsarbeitern. Ihre ohnehin kärglichen Rationen wurden zuerst gekürzt, was bedeutete, daß sie fast überhaupt nichts mehr zu essen bekamen und, je nach Konstitution, früher oder später starben. Engländer und deutsche Soldaten hielten sich mühsam über Wasser und sahen sich mit der seltsamen Situation konfrontiert, gewissermaßen in einem Boot zu sitzen, mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen und — auf die eine oder andere Weise — jeweils von den Regierungen ihrer Länder im Stich gelassen worden zu sein. Die Deutschen schimpften auf die Reichsführung, die nichts tat, sie von den Inseln zu holen oder ihnen auf sonst irgendeine Weise in ihrer mißlichen Lage beizustehen, und die Engländer schimpften auf Churchill, der sich nicht scheute, die eigenen Leute zu opfern, um den Gegner buchstäblich auszuhungern. Da das Schimpfen nichts nützte, war jedem klar, daß man versuchen mußte, mit den Umständen, wie sie nun einmal waren, fertig zu werden. Man bildete eine Schicksalsgemeinschaft. Man versuchte, gemeinsam irgendwie zu überleben.

Das Verhältnis zwischen Besatzern und Besetzten war auf den Inseln immer ein anderes gewesen als in den übrigen von Hitler eroberten Ländern. Die Deutschen waren tyrannisch, aggressiv und überheblich aufgetreten, aber es hatten keine Ausschreitungen bis hin zu Massenexekutionen wie in Polen, Rußland oder auch in Frankreich stattgefunden. Umgekehrt war auf den Inseln auch nie eine Widerstandsbewegung entstanden, somit hatte es keine Angriffe auf den Gegner gegeben. Den ganzen Krieg über hatte man sich auf einer Insel aufgehalten, durch das Meer ringsum abgetrennt von allem übrigen Geschehen, eine weitgehend geschlossene Gemeinschaft, in der sich alle Beteiligten fast zwangsläufig anders arrangierten als in den Ländern, in denen ein Kommen und Gehen möglich war — zumindest für die Sieger. Irgendwie hatte man miteinander auskommen müssen, weil man dichter aufeinandersaß und nicht ausweichen konnte. Ungewollt und ungesteuert war ein gewisses Gemeinschaftsgefühl entstanden.

Unter dem Einfluß von Hunger und Angst begann sich dieses Gefühl in den letzten Kriegsmonaten zu einer erstaunlich ausgeprägten Solidarität zu entwickeln.

Im September '44 war Beatrice sechzehn Jahre alt geworden, und sie war überzeugt, daß dies der letzte Geburtstag war, den sie unter deutscher Besatzung hatte feiern müssen. Die Wende im Kriegsglück der Feinde war nun nicht mehr zu übersehen.

«Noch ein halbes Jahr vielleicht«, tuschelten die Menschen,»dann ist alles vorbei.«

Es war für Beatrice ein eigenartiges Gefühl zu wissen, daß sie bald ihre Eltern wiedersehen würde. Vier Jahre waren seit der Trennung vergangen, fünf würden es bald sein, bis sie einander wieder in die Arme schließen konnten. Nun, da sie sich gewissermaßen auf der Zielgeraden befand, wuchs die Ungeduld in Beatrice. Sie fieberte, sie konnte es nicht mehr abwarten. Sie konnte ihre Gefangenschaft nicht mehr ertragen, die ständige Bewachung, den Zwang, über jeden Schritt Rechenschaft ablegen zu müssen. Sie hatte Julien in all der Zeit nur noch ein einziges Mal sehen können; das war im März gewesen, als Mae Geburtstag gehabt hatte. Erich hatte sich zu diesem Zeitpunkt in Frankreich aufgehalten, und Beatrice hatte Helene überreden können, sie zu der Party gehen zu lassen, die Mae veranstaltete. Helene hatte nach langem Zögern, nach endlosem Hin und Her eingewilligt. Beatrice hatte sich irgendwann von der Schar kichernder junger Mädchen, die ihr alle kindisch und unreif vorkamen, distanziert und war auf den Dachboden hinaufgeklettert, den sie zuletzt im Sommer des Vorjahres betreten hatte. Julien saß in einem Liegestuhl unter der Dachluke, er war warm angezogen und ließ sich die erste kalte Frühlingssonne durch das geöffnete Fenster ins Gesicht scheinen. Er sah Beatrice an wie ein Gespenst.

«Du? Ich dachte, dich lassen sie nie wieder hierher!«

«Tun sie auch nicht. Aber zu Maes Geburtstag haben sie eine Ausnahme gemacht.«

Er erhob sich aus seinem Liegestuhl und kam auf sie zu. Er war sehr blaß und trug einen gequälten Ausdruck im Gesicht, der früher, trotz allem, nicht dagewesen war. Er schien, als habe er die Phase der Rebellion und des Zorns abgeschlossen und sei in eine Resignation gefallen, die ihn still und depressiv sein ließ. Er lehnte sich nicht mehr auf. In sich selbst zurückgezogen, wartete er auf das Ende, wie immer es aussehen würde.

«Schön, daß du da bist«, sagte er, aber es klang wenig enthusiastisch.

«Was haben die Wyatts dir erzählt?«

«Was Mae ihnen gesagt hat. Daß du praktisch das Haus nicht mehr verlassen und nicht mehr hierherkommen darfst.«

«Wissen sie, daß wir in… jener Nacht zusammen waren?«

Er nickte.»Das haben sie sich zusammenreimen können. Es hat sich wohl herumgesprochen, daß du damals mit einem Mann am Strand gesehen worden bist, und da ich auch fort war…«

Er zuckte mit den Schultern.»Sie wissen sicher nicht, wie weit unser Verhältnis ging, aber daß sich da zumindest mehr anbahnte, als sie zunächst dachten, wurde ihnen wohl schon klar. Sie sind ziemlich böse auf mich.«

«Immerhin verstecken sie dich noch.«

«Ja. Da habe ich wohl Glück, auch wenn ich es im Grunde so nicht empfinden kann.«

«Du wirst alles überstehen«, sagte Beatrice, und er erwiderte

vage:»Ja, ja.«

Dann standen sie einander eine Weile stumm gegenüber, und keiner wußte, was er reden sollte. Irgendwie schien es, als gäbe es nichts mehr zu sagen, als wäre alles zwischen ihnen ausgesprochen, als könnten sie jetzt nur abwarten, was die Zukunft bringen würde.

«Ich muß dann wieder hinunter zu den anderen«, sagte Beatrice schließlich, und er sagte erneut:»Ja, ja.«

Sie hatten einander nicht berührt, es hatte keine Geste der Zärtlichkeit zwischen ihnen gegeben, nichts, was an ihre einstige Intimität und Vertrautheit erinnert hätte.

Und er hat nicht einmal gefragt, wie es mir in dieser Nacht erging, dachte Beatrice, als sie die Leiter wieder hinunterstieg, kein Wort über die Gefahr, in die er mich gebracht hatte, kein Bedauern darüber, daß er mir die Situation eingebrockt hat, in der ich jetzt stecke, in der ich fast so gefangen und unbeweglich bin wie er. Und das alles nur wegen seines Leichtsinns.

Es ergab sich für sie später keine Gelegenheit mehr, Julien zu besuchen, aber im Grunde wollte sie es auch nicht, legte es nicht darauf an. Sie war enttäuscht von ihm, und zudem begann der Alltag zunehmend strapaziöser zu werden, und es schien nicht die Zeit für Liebe zu sein.

Den Jahreswechsel 1944/45 verbrachte sie mit Erich und Helene allein daheim. Erich hatte zunächst verkündet, sie würden gemeinsam nach St. Peter Port fahren und in einen Offiziersclub gehen, wo eine Party stattfand, dann sprach er von einer Einladung beim Befehlshaber der Streitkräfte auf den Inseln, und zum Schluß wollte er an keinem dieser Ereignisse teilnehmen und beschloß, daß sie alle daheim bleiben würden. Beatrice vermutete, daß die Feiern, die er zunächst anvisiert hatte, keineswegs besonders festlich werden würden, daß er dies wußte und daher von vornherein die Lust verloren hatte. Wer hatte noch die Möglichkeit, ein Fest zu veranstalten? Der akute Mangel an Nahrungsmitteln und der Hunger machten auch vor den höchsten Offizieren nicht halt. Es gab nichts mehr, nicht einmal Privilegien. Unter den Deutschen verbreitete sich zunehmend Endzeitstimmung, vor allem, da die Radiosender nur noch Vormärsche der Alliierten auf dem Kontinent und Rückzugsgefechte der Hitler-Truppen meldeten. In der britischen Inselbevölkerung mischten sich Spannung und Erwartung mit Furcht: Was, wenn man sie weiterhin vergaß? Wenn überall der Krieg zu Ende ging und sie hier weiter festsaßen mit den Feinden, einem langsamen Hungertod preisgegeben? Man war allgemein äußerst schlecht zu sprechen auf Churchill. Die eiserne Härte, mit der er die Inseln boykottierte und seinen eigenen Leuten immer unerträglicher werdende Entbehrungen aufnötigte, würde man ihm nie wirklich verzeihen.

Erichs Geburtstag, der 24. Dezember, war ohne nennenswerte Probleme verlaufen. Die Alkoholvorräte im Haus waren nahezu vollständig aufgebraucht, und Nachschub war nicht zu ergattern, daher saß Erich auf dem trockenen und durchlebte einen langsamen Entzug, was das Trinken anging. Es kam nicht mehr zu der tödlichen Mischung aus Alkohol und Tabletten, die ihn regelmäßig in seine extremen Stimmungslagen katapultiert hatte. Über eine letzte Reserve an Medikamenten schien er noch zu verfügen, denn es gelang ihm immer wieder, ein Abgleiten in die Melancholie, deren Herannahen man ihm deutlich ansah, im letzten Moment abzufangen. Beatrice fragte sich, was passieren würde, wenn ihm diese Möglichkeit nicht mehr zur Verfügung stand. Es gab dann keinerlei Hilfsmittel mehr für ihn. Er würde krank werden oder durchdrehen, oder beides.

Am Silvesterabend hatte er eindeutig Tabletten geschluckt, denn er war euphorisch und gut gelaunt, obwohl es dafür nicht den geringsten Grund gab. Im Radio meldeten sie Einbrüche an allen Fronten, und obwohl selbst die katastrophalsten Nachrichten noch mit Siegesmeldungen verbrämt wurden, konnte niemand übersehen, daß der Niedergang begonnen hatte und in rasantem Tempo voranschritt. Die Amerikaner hatten Aachen eingenommen, standen nun also unmittelbar auf deutschem Boden. Im Osten rückten russische Truppen bedrohlich nahe auf die deutschen Grenzen zu; niemals, so beteuerte die Propaganda, werde es den Russen gelingen, den Ostwall zu überwinden und ins Reich einzufallen, aber BBC London, dessen heimlich abgehörte Meldungen sich täglich in Windeseile über die Inseln verbreiteten, berichtete von Truppenaufmärschen in unvorstellbaren Größenordnungen. Das gigantische Rußland, das einst fast im Schlaf überrascht worden war und wenig Abwehr gegen die Feinde hatte aufbieten können, hatte nun alle Kräfte aktiviert, Kämpfer aus allen Ecken und Winkeln des Landes zusammengezogen. Laut BBC war das Schicksal Ostpreußens, des östlichen Teils des Reiches, bereits besiegelt. Es war eine Frage von Tagen, wann die Russen angreifen würden, und es war eine Frage von Stunden, wann sie die Abwehr an den Grenzen überwunden haben würden.

Selbst Erich, dachte Beatrice, kann nicht mehr an den Endsieg glauben.

Das Abendessen an diesem letzten Tag des Jahres 1944 bestand aus einer wäßrigen Graupensuppe, zu der ein trockenes, geschmackarmes und hartes Graubrot gereicht wurde; als Nachtisch hatten sie eingeweckte Mirabellen, die noch von Deborah stammten. Als Überraschung brachte Helene danach die letzten beiden Flaschen Wein, die es im Haus noch gab. Sie hatte sie in den Wochen zuvor an sich genommen und in ihrem Kleiderschrank versteckt.

«Damit wir etwas zum Anstoßen haben«, sagte sie.

«Auf dich kann man sich wirklich verlassen«, sagte Erich und lachte exaltiert.

Spätestens in diesem Moment wurde es Beatrice völlig klar, daß er Tabletten genommen haben mußte, denn unter normalen Umständen hätte er jetzt einen Wutanfall bekommen. Den ganzen Dezember über hatte er an fast jedem Abend im Keller herumgestöbert und nach Alkohol gesucht, war manchmal ganz verzweifelt gewesen, weil er nichts fand. Es hätte ihn zutiefst gegen Helene aufbringen können, nun zu erfahren, daß die ganze Zeit über ein letzter Vorrat im Haus gewesen war. Aber er lachte nur wieder und wieder und bekundete, daß er die gewitzteste und schlaueste Frau auf Erden geheiratet habe, die immer für eine angenehme Überraschung gut sei, und Helene saß strahlend am Tisch und schien platzen zu wollen vor Stolz über seine Komplimente.

Erich trank hastig und am meisten von allen und schaffte es, daß die Flaschen weit vor Mitternacht leer waren, so daß sie schließlich mit einem bitteren Tee aus getrockneten Brombeerblättern anstoßen mußten.

«1945«, sagte Erich pathetisch.»Ich trinke auf dieses besondere Jahr! Es wird das Jahr der Entscheidung. Das Jahr eines heroischen Kampfes. Das Jahr tapferer Männer und Frauen, die ihre letzten Kräfte einsetzen werden, dem deutschen Volk, dem Deutschen Reich den Endsieg zu bringen!«

Er hob den Becher mit dem stinkenden Tee.»Heil Hitler!«

rief er.

«Heil Hitler!«fiel Helene pflichtschuldig ein. Beatrice dachte, daß sie es ihr kaum übelnehmen konnten, wenn sie sich dieser Floskel enthielt, und so stieß sie mit ihnen an und schwieg dabei.

Um halb eins verkündete Erich, er wolle den Sternenhimmel sehen, und Beatrice solle mit ihm hinauskommen. Sie folgte ihm auf die rückwärtige Veranda, wurde sofort eingehüllt von feuchter Kälte, von einer Nässe, die in der Luft hing und so ungemütlich war, daß Beatrice am liebsten gleich wieder umgekehrt wäre. Das nun schon monatelang andauernde Hungern hatte sie stark abmagern lassen, sie litt unter der Kälte dieses Winters weit mehr als unter der irgendeines Winters zuvor. Erich hingegen, obwohl auch dünn und eingefallen inzwischen, hatte genug getrunken, um sich trotz allem draußen wohl zu fühlen.

«Nicht ein Stern ist zu sehen«, bemerkte er mit einem Blick in den schwarzen, nebelverhangenen Himmel.»Nicht ein Stern in dieser ersten Nacht eines bedeutsamen Jahres. Nur Nebel. Verdammter, ewiger Nebel. Eine Menge Nebel hier auf dieser Insel. Da, wo ich herkomme, in Berlin, ist nicht soviel Nebel.«

Vermutlich deshalb, weil da nicht soviel Wasser ist, dachte Beatrice, sagte aber nichts. Sie hielt beide Arme um ihren Körper geschlungen und bemühte sich, nicht mit den Zähnen zu klappern.

«Wir sind am Ende«, sagte Erich plötzlich. Seine Stimmlage hatte sich nicht verändert, er sprach mit dem gleichen Gleichmut, mit dem er über den Nebel geredet hatte.»Deutschland ist am Ende. Ich weiß es, du weißt es. Ich möchte nur Helene noch nicht allzusehr beunruhigen.«

«Ich glaube«, sagte Beatrice,»daß Helene es auch weiß.«

Erich machte eine wegwerfende Handbewegung.»Helene ist ein Kind. Sie glaubt immer das, was ihr gerade erzählt wird, wenn es nur überzeugend genug vorgetragen wird. Du kannst sie nicht ernst nehmen.«

Der Nebel legte sich in feuchten Schleiern um sie.

Ich werde eine Lungenentzündung bekommen, dachte Beatrice.

«Ich weiß nicht genau, wie das Ende aussehen wird«, sagte Erich,»wie es für die Menschen im Reich aussehen wird, und wie für uns hier. Aber es wird furchtbar sein, soviel ist gewiß. Es wird furchtbar sein.«

Er lauschte seinen Worten nach, die der Nebel zu schlucken und damit irreversibel zu machen schien.

«Es sind sehr schlimme Dinge geschehen«, fuhr er fort,»es ist viel Leid über die Menschen gekommen. Ich sage nicht, daß wir nicht richtig gehandelt haben, oder besser, daß wir nicht glaubten, richtig zu handeln. Daß wir nicht das Beste im Sinn gehabt haben.«

Beatrice dachte an die Häftlingskolonnen, die man überall auf der Insel gesehen hatte, an die abgemagerten, ausgebeuteten Zwangsarbeiter, an ihre elenden, verzweifelten oder abgestumpften Gesichter. Sie dachte an alles, was sie über Folterungen und Entbehrungen, über das grausame Zusammenspiel von kärglicher Ernährung und härtester Arbeit gehört hatte. Sie dachte an Julien, der seit Jahren versteckt auf einem Dachboden hausen mußte. Sah es so aus, wenn jemand das Beste im Sinn hatte?

«Aber natürlich haben wir Fehler gemacht, so wie jeder Fehler macht, und man wird alles gegen uns verwenden und uns kaum eine Möglichkeit zur Verteidigung lassen«, sagte Erich.»Und sie werden keinen Grund finden wollen, uns gnädig zu behandeln.«

«Wer ist ›sie‹?«fragte Beatrice.

«Die Sieger. Und die Geschichte. Beide werden sie uns verteufeln. Und ich möchte dich um eines bitten, Beatrice: Was auch immer du hörst, welche Greuel auch immer dir zu Ohren kommen werden, behalte von mir das Bild, das du dir gemacht hast in all den Jahren. Laß es dir nicht nehmen. Laß es nicht beschmutzen. Laß nicht zu, daß es in den Dreck gezogen wird.«

«Was haben Sie getan, Sir?«fragte Beatrice.»Was könnte man mir über Sie erzählen?«

Er schüttelte den Kopf.»Diese Differenzierung wird es gar nicht mehr geben. Sie werden uns über einen Kamm scheren. Sie werden Teufelsfratzen an die Wand malen. Laß dich nicht beeindrucken, Beatrice.«

Sie dachte an die sadistische Freude, mit der er Julien und Pierre gequält hatte. Vielleicht leuchtete die Teufelsfratze bereits jetzt an ihrer Wand. Aber diese Möglichkeit schien Erich nicht in Erwägung zu ziehen. Er wurde zunehmend sentimentaler.

«Wer weiß, ob ich das Kriegsende erlebe. Ob ich es überlebe. Die Sieger werden ihren Triumph womöglich rücksichtslos auskosten. Vielleicht töten sie mich.«

Beatrice sagte dazu nichts, aber er schien auch keine Antwort zu erwarten.

«Ich möchte, daß du dich um Helene kümmerst, sollte mir etwas zustoßen«, sagte er plötzlich nach einer längeren Pause, in der er in die Nacht hinausgestarrt hatte, während sich Beatrice fragte, ob sie ihm sagen sollte, daß sie dabei war zu erfrieren.»Helene ist ein Mensch, der nicht allein sein kann. Sie würde das Leben nicht bewältigen. Sie ist schwach. Du bist stark, Beatrice. Du mußt für sie sorgen, wenn ich nicht mehr da sein werde.«

«Ich glaube nicht, daß Ihnen etwas zustoßen wird, Sir«, sagte Beatrice, teils aus Höflichkeit, teils weil sie tatsächlich nicht glaubte, Erich werde sein Leben lassen müssen. Er aber schien sich für den Gedanken zu begeistern. Er wiederholte die Schilderung vom Ende des Krieges, wie es sich gestalten und welch ein Weltuntergang über sie alle hereinbrechen würde. Er malte sich erneut die Rache der Sieger aus und beteuerte, im Grunde nichts getan zu haben, was nicht zum Wohl des deutschen Volkes gedacht gewesen wäre.

«Es ist normal, alles für sein Land tun zu wollen, findest du nicht, Beatrice?«

«Mir ist entsetzlich kalt, Sir«, sagte Beatrice. Sie konnte nicht länger verhindern, daß ihre Zähne aufeinanderschlugen.

Er sah sie mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an.»Dir ist kalt? Mir ist heiß. Tief in mir erfüllt mich Hitze. Es ist wie ein Fieber!«

«Ich muß hineingehen. Ich fürchte, ich werde sonst krank.«

Was sie sagte, schien ihn zu verärgern. Sie hatte ihn dabei unterbrochen, sich das Weltende auszumalen. Vermutlich hatte er zudem das Gefühl, daß sie nicht wirklich ernst nahm, was er sagte.

«Gut, gut, dann geh ins Haus!«sagte er unwirsch und wedelte mit der Hand.»Ich finde es wirklich nicht kalt hier, aber wenn du meinst…«

Er schien ihr Frieren als persönlichen Affront zu empfinden.

Demonstrativ blieb er eine ganze weitere Stunde auf der Veranda und kam erst ins Haus, als Beatrice und Helene sich bereits anschickten, zu Bett zu gehen.

Zwei Tage später bekamen er und Beatrice die Grippe.

Erich erholte sich vergleichsweise rasch von der Krankheit, aber Beatrice mußte wochenlang im Bett liegen. Ihre Grippe ging in eine Lungenentzündung über; sie fieberte stark, hatte stechende Schmerzen und sah sich schrecklichen Fieberphantasien ausgesetzt, die sie schließlich nur noch als Folter empfand. Immer wieder sah sie Julien vor sich, und in ihren wenigen klaren Momenten hatte sie Angst, in ihrer Verwirrtheit irgendwann laut von ihm zu reden. Helene saß ständig an ihrem Bett, sie hätte alles mitbekommen. Auch Erich kam häufig ins Zimmer; zweimal schrak Beatrice aus peinigenden Träumen auf, weil sich sein Gesicht dicht über ihres neigte. Sie schrie jedesmal wie ein Tier in der Falle, was Erich sehr verletzen mußte, aber er sagte nichts, sondern schien nur sehr besorgt. Einmal, als sie gerade wieder einmal klar denken konnte, hörte Beatrice ihn und Helene in ihrem Zimmer streiten.

«Es war unverantwortlich, so lange mit ihr da draußen in der Kälte zu stehen«, sagte Helene aufgebracht. Sie bemühte sich, leise zu sprechen, und ihre Stimme klang wie ein erregtes Zischen.»Ich kann nur beten, daß sie am Leben bleibt!«

«Es war nicht kalt draußen. Es war warm!«

«Du bist ja verrückt. Das sind deine Tabletten, die dir etwas vorgaukeln. Es war kalt zum Erfrieren. Und naß. Dazu ist sie zart und, wie wir alle, inzwischen ziemlich unterernährt. Sie mußte krank werden!«

«Ich bin auch krank geworden.«

«Das war deine eigene Schuld. Und du warst bei weitem nicht so krank wie sie!«

«Jetzt hör endlich auf und sei leise. Willst du, daß sie aufwacht?«

Beatrice preßte die Augen zusammen. Die beiden sollten nicht merken, daß sie wach war.

Dr. Wyatt kam jeden Tag, um nach ihr zu sehen. Häufig bekam Beatrice seine Besuche gar nicht mit, aber manchmal begriff sie, daß er da war. Helene stand direkt neben ihm, so daß sich Fragen nach Julien verboten, doch einmal, in einem schwebenden, halb entrückten Zustand, erwähnte Beatrice ihn doch.

«Wo ist Julien?«fragte sie.

Sie erinnerte sich später an die große Hand, die sich ihr blitzschnell auf den Mund preßte, und an Dr. Wyatts erschrockenes Gesicht.

«Was hat sie gesagt?«klang Helenes Stimme aus weiter Ferne.

Wyatt murmelte irgend etwas, was Helene offenbar zufriedenstellte, denn sie hakte nicht noch einmal nach. Die Gefahr war für den Moment gebannt, aber nicht endgültig. Dr. Wyatt war die Erleichterung anzusehen, als er eines Morgens feststellen konnte, daß Beatrice fieberfrei war.

Es war inzwischen Mitte Februar, ein kalter Wind heulte um das Haus, als Beatrice zum erstenmal nach sechs Wochen ohne Hilfe ihr Bett verließ. Sie lief auf wackligen Beinen umher und war so dünn geworden, daß ihre Kleider wie Säcke an ihr hingen. In ihrem Gesicht wirkten die Augen übergroß, so hager waren ihre Züge geworden. Ihre Haut hatte eine bläulichgraue Farbe, sah krank und fahl aus. Sie wusch ihre struppigen Haare, ohne auch nur eine Spur von Glanz damit hervorrufen zu können. Sie hätte dringend aufgepäppelt werden müssen, hätte Vitamine gebraucht und kräftige, nahrhafte Speisen, aber es gab nichts, und sie mußte hungern und darben wie alle anderen Menschen auf den Inseln auch. Einmal im Monat legte inzwischen ein Schiff des Roten Kreuzes auf den Inseln an und brachte Nahrungsmittel und Medikamente, aber es reichte nie, zu viele hatten die Grippe, zu viele waren alt und schwach. Beatrice hatte noch Glück, weil sie im Haus eines hohen Offiziers wohnte; anders als viele andere Menschen auf den Inseln wurde Erich privilegiert behandelt und bekam Dinge, die andere schon lange nicht mehr erhielten. Aber auch das reichte nicht, um Beatrice wieder auf die Füße zu stellen. Sie war zu lange und zu schwer krank gewesen.

Die erste blasse Märzsonne verleitete sie endlich dazu, das Haus zu verlassen: Sie sah noch immer aus wie ein Geist, durchsichtig fahl, mit bräunlich umschatteten Augen. Sie bewegte sich mit der Vorsicht eines Menschen, der an die Kraft seines Körpers nicht mehr glaubt. Sie weinte viel, weil sie ihre Schwäche nicht in den Griff bekam, weil sie sich häufig zu elend fühlte, um auch nur ein Buch in die Hand zu nehmen und zu lesen. Entgegen der Anweisung Dr. Wyatts und trotz Helenes händeringenden Protests schleppte sie sich in die Schule, weil sie nicht völlig den Anschluß verlieren und außerdem wieder eine Struktur in ihren Tagesablauf bringen wollte. Der Versuch endete im Fiasko. Vor Schwäche ohnmächtig kippte sie aus der Bank, ein deutscher Arzt wurde gerufen, ein Krankenwagen brachte sie nach Hause, wo sie zu Helenes Entsetzen auf einer Bahre in ihr Zimmer getragen wurde.

«Sie braucht noch sehr viel Schonung«, sagte der Arzt ernst.»Sie ist in einem wirklich schlechten Zustand. Mindestens für die nächsten vier Wochen sollte sie nicht zur Schule gehen.«

Es wurden acht Wochen daraus. Ihr Zustand wollte sich nicht bessern. Die Beine knickten unter ihr weg, wenn sie nur einen Schritt tun wollte. Die Tränen schossen ihr in die Augen, sobald man sie ansprach.

«Das ist die Schwäche«, sagte Dr. Wyatt jedesmal, wenn er kam, um nach ihr zu sehen,»du weinst aus Schwäche, Kind. Deine Nerven funktionieren nicht mehr. Du brauchtest endlich einmal etwas Anständiges zu essen.«

Die Hungersnot war inzwischen dramatisch geworden auf den Inseln; auch für die Familie eines deutschen Offiziers gab es kaum noch Zuteilungen. Helene sammelte Sauerampfer und Löwenzahn und versuchte daraus Gemüse zuzubereiten; ab und zu gab es eine Graupensuppe, die vorwiegend aus Wasser bestand, und an Festtagen aßen sie etwas hartes Graubrot, dessen einziger Vorteil darin bestand, daß es noch Wochen später wie ein Stein im Magen lag und ein — wenn auch trügerisches — Gefühl von Sättigung vermittelte.

Ab Anfang April brannte die Sonne Tag für Tag von einem blauen Himmel; Beatrice saß stundenlang im Garten, und ganz langsam kehrten ihre Lebensgeister zurück. Die Sonnenstrahlen gaben ihr die Energie, die sie sich aus der Nahrung nicht mehr hatte holen können. Allmählich wich ihre geisterhafte Blässe einer zartbraunen Tönung, ihre eingefallenen Wangen nahmen Farbe an. Irgendwann konnte sie zum erstenmal einen Spaziergang ans Meer machen; sie stand lange am Strand, atmete die klare, salzige Luft, beobachtete die Sonne, die auf den Wellen flimmerte und glitzerte, und spürte, wie die Kräfte in sie zurückfluteten und das Leben wieder die Oberhand gewann. Sie spürte bohrenden Hunger, wie immer, aber zugleich war da wieder das optimistische Gefühl, daß sie alles überstehen würde und daß auch noch Gutes für sie bereitstand. Und bald würde der Krieg vorbei sein.

Deutschland brach zusammen in diesen Apriltagen des Jahres 1945. Die Russe hatten Ostpreußen und Schlesien eingenommen, hatten Polen befreit und standen vor Berlin. Von Westen her marschierten Amerikaner, Engländer und Franzosen immer weiter in Deutschland ein, besetzten Stadt um Stadt, Landstrich um Landstrich. Die meisten Städte lagen in Trümmern, die Bevölkerung ergab sich rasch, ohne auf die unaufhaltsam ausgegebenen Durchhalteparolen der Reichsführung zu achten. Es konnte sich, so die einhellige Meinung, nur noch um Wochen handeln, bis Hitler selbst kapitulieren mußte.

Es ist vorbei, dachte Beatrice, es ist praktisch schon vorbei.

Am 30. April schoß sich Adolf Hitler im Keller der Reichskanzlei in Berlin eine Kugel in den Kopf.

Am 2. Mai wurde Berlin von den Russen eingenommen.

Am 7. Mai kapitulierte Deutschland bedingungslos.

5

«Ja«, sagte Beatrice,»so war es. Eigentlich war der Krieg vorbei. Nur wir hockten immer noch mit unseren Besatzern hier und fragten uns, was werden würde. Der Oberbefehlshaber der deutschen Streitkräfte auf den Inseln erklärte am 9. Mai die Kapitulation. Und dann waren auch sofort unsere Leute da, englische Soldaten. Bis Mitte Mai hatten alle Deutschen als Kriegsgefangene Guernsey und die anderen Inseln verlassen. Es war tatsächlich vorbei.«

Sie saßen noch immer auf den Felsen am Meer. Der Wind hatte inzwischen auch die letzten Wolken vom Himmel gefegt, und die Sonne hatte erstaunlich an Kraft gewonnen. Franca hatte sich so gedreht, daß die Strahlen sie nicht mehr ins Gesicht trafen; ihre Haut war sehr empfindlich und noch blaß vom Winter, und sie hatte Angst, einen Sonnenbrand zu bekommen.

«Aber davor«, sagte sie,»vor dem 9. Mai, vor der Kapitulation, erschoß sich Erich.«

«Ja«, bestätigte Beatrice,»noch vor der Kapitulation erschoß er sich. Am 1. Mai vor fünfundfünfzig Jahren.«

«Warum tat er das?«

«Ich weiß es nicht. Fürchtete er sich wirklich so sehr vor der Rache der Sieger? Ich mußte später noch oft an unser Gespräch in der Silvesternacht denken. Damals hatte er seine Angst artikuliert, aber ich nahm ihn nicht richtig ernst. Er hatte getrunken, er hatte Tabletten geschluckt, und seine Reden waren geprägt von jener Sentimentalität, die bei den Deutschen…«

Sie unterbrach sich, lachte.»Entschuldigen Sie, Franca. Sie sind auch Deutsche. Ich wollte nicht verallgemeinernd schlecht über Ihr Volk sprechen. Ich meine die Nazis. Die Nazis konnten ungeheuer sentimental sein. Ständig kamen ihnen die Tränen, wenn es um ihr eigenes schweres Schicksal ging. Vielleicht glaubte ich deshalb nie etwas von dem, was Erich sagte. Und nach jener Silvesternacht wurde ich ja sofort krank, und ich kam gar nicht mehr dazu, mir Gedanken zu machen. Ich fürchte allerdings, ich hätte sie mir auch andernfalls nicht gemacht. Ich hielt das alles einfach für sein übliches gefühlstriefendes Gerede, zu dem er manchmal neigte.«

«Wie war er in den Tagen, bevor er sich erschoß?«fragte Franca.»War ihm etwas anzumerken?«

Beatrice schüttelte den Kopf.»Er war übernervös. Aber das waren alle, Deutsche wie Engländer, und die Deutschen wohl noch mehr. Es herrschte eine kaum beschreibbare Spannung auf der Insel. Jeder hing von morgens bis abends nur am Radioapparat. Niemand wußte, was kommen würde. Vor allem die Offiziere vibrierten. Sie bekamen seit Wochen keine Befehle. Sie hungerten und waren völlig kaltgestellt. Ich denke, auch ihre Rolle war ihnen nicht mehr klar. Sie hielten eine Inselgruppe vor der französischen Küste besetzt, befanden sich aber aufgrund ihrer Nationalität bereits im Zustand der katastrophalen Niederlage. Ihr Besatzerdasein war eine Farce, von der sie nicht wußten, ob und wie sie sie beenden sollten. Ihr Schicksal als Kriegsgefangene stand ihnen klar vor Augen. Hunderte von Häftlingen waren an Hunger und Mißhandlungen auf den Inseln gestorben. Es hatte Standgerichtsverfahren und Hinrichtungen gegeben. Sie konnten nicht darauf hoffen, mit Samthandschuhen angefaßt zu werden.«

«Es gab aber doch«, sagte Franca,»freundschaftliche Beziehungen zu den Inselbewohnern.«

«Freundschaft ist vielleicht zuviel gesagt. Aber es gab eine ganze Menge fester Verhältnisse zwischen deutschen Soldaten und englischen Mädchen. Und man hatte seit dem Sommer '44 eine harte Zeit gemeinsam hinter sich gebracht. Echten Haß auf die Besatzer gab es fast nirgends.«

«Dann hatte Erich nicht soviel zu befürchten«, meinte Franca,»es war offenbar anders als bei den Deutschen beispielsweise in der Tschechoslowakei. Die mußten mit einem Aufstand rechnen, mit blutiger Rache, und genau das passierte dann ja auch. Aber hier…«

«Ich denke«, sagte Beatrice,»daß Erich einfach mit dem Gefühl der Niederlage nicht zurechtkam. Er war gescheitert. Die Idee, an die er geglaubt, der er sich verschrieben hatte, war nichtig geworden. Damit konnte er sich nicht abfinden. Die Schande, die Schmach, verstehen Sie? Davor lief er davon, und es schien sich für ihn kein anderer Ausweg aufzutun als der Tod.«

Sie schaute über das Wasser, ihr Blick schien irgend etwas am Horizont zu suchen, aber Franca wußte, daß ihre Gedanken zu jenem Maitag des Jahres 1945 zurückgekehrt waren, daß sie die Bilder von einst sah.

«Wir konnten ihn nicht retten. Wir bekamen, wie gesagt, keinen Arzt. Wyatt war irgendwo auf der Insel, seine Frau hatte keine Ahnung, wo. Ich rannte nach St. Martin, aber weder ein deutscher noch ein englischer Arzt waren aufzutreiben. Später stellte sich heraus, daß die meisten in den Kriegsgefangenenlagern waren. Die Deutschen waren in Panik wegen des schlechten Zustands der Häftlinge, und sie versuchten, in letzter Sekunde mit Hilfe der Ärzte noch eine Besserung herbeizuführen. In den meisten Fällen dürfte kaum etwas zu machen gewesen sein — zumal die Ärzte praktisch kaum noch Medikamente, kein Verbandsmaterial hatten. Na ja«, sie richtete ihren Blick wieder auf Franca und in die Gegenwart,»es gelang uns jedenfalls nicht, jemanden zu finden, der ihm helfen konnte. Er starb, und wir mußten zusehen. Vielleicht war es das Beste. Es war jedenfalls das, was er gewollt hatte.«

Franca musterte sie aufmerksam.»Haben Sie um ihn getrauert, Beatrice?«

Beatrice lachte, kramte eine zerdrückte Zigarette und ein Feuerzeug aus ihrer Jeanstasche, zündete die Zigarette an. Der Seewind zerrte an der kleinen Flamme, erst der fünfte Versuch gelang.»Um Erich getrauert? Zuerst dachte ich: Er ist tot, und es ist gut. Ich hatte keine innere Bindung an ihn. Er war ein Nazi, er war ein Feind. Er hatte Julien verfolgt, er hatte unsere Liebe zerstört. Nein, ich trauerte nicht. Damals nicht, und später nicht.«

Sie strich sich die Haare aus der Stirn.»Aber irgendwann wurde mir klar, daß auch ich ein Verlierer war im Spiel mit dem Tod. Vielleicht war ich der größte Verlierer überhaupt.«

«Weshalb?«

«Er hinterließ mir Helene«, sagte Beatrice kurz. In ihren Augen stand eine Abneigung, die nach Francas Gefühl an Haß grenzte.»Er hinterließ mir Helene, und es gab Zeiten, da trauerte ich nur noch um mich.«

6

Das Flugzeug landete pünktlich um 17.30 Uhr in London. Maja hatte Herzklopfen, als sie aus der Maschine stieg. Sie war zweimal im Leben in London gewesen, jedesmal zum Geburtstag von Urgroßmutter Wyatt, der im August lag und seit längerem nicht mehr gefeiert wurde, da die Jubilarin beim Erreichen des 90. Lebensjahres erklärt hatte, von nun an könne jeder Geburtstag nur noch peinlich werden, und sie wolle auf Glückwünsche und Geschenke verzichten. Maja fand das idiotisch. Sie selbst würde sich mit hundert Jahren noch mit Präsenten und Ehrenbezeugungen überschütten lassen. Außerdem hatte ihr Urgroßmutter Wyatt mit ihrem pingeligen Verhalten die Möglichkeit vermasselt, wenigstens einmal im Jahr nach London zu kommen — auf Maes Kosten, denn im Falle einer Familienfeier hätte sie den Flug bezahlt.

So hatte sie zweiundzwanzig Jahre alt werden müssen, um wieder hierherzukommen, sie hatte ihren letzten Penny hergeben müssen, und es hatte nicht einmal gereicht; sie hatte wieder einmal Schulden gemacht. Mae hatte den fehlenden Betrag ausgeglichen.

Nicht ohne endlose Ermahnungen zu geben und Maja mehrfach aufzufordern, auf jeden Fall die alte Mrs. Wyatt zu besuchen.

«Du mußt mir das Geld nicht zurückgeben, wenn du hin und wieder nach Mummie siehst. Versprichst du mir das? Sie würde sich so sehr freuen. Und mir würdest du einen riesigen Gefallen tun.«

Maja hatte wenig Lust, auch nur einen einzigen Nachmittag mit einer fünfundneunzigjährigen Frau zu verbringen, aber sie versprach Mae, sich» ab und zu «um Mrs. Wyatt zu kümmern. Sie brauchte Maes Geld, und es war schwierig genug gewesen, ihr den Plan, nach London zu gehen und bei Alan zu leben, schmackhaft zu machen.

«Glaubst du denn, Alan möchte das überhaupt?«hatte Mae zweifelnd gefragt.»Ich meine, du schneist einfach in sein Leben und gehst davon aus, daß er dich mit offenen Armen aufnimmt. Was tust du, wenn er nicht mitspielt?«

Maja lachte.»Großmutter, Alan hat mich schon mindestens hundertmal auf Knien angefleht, zu ihm zu kommen und mit ihm zu leben. Er wird sein Glück kaum fassen können, wenn ich jetzt plötzlich vor seiner Tür stehe.«

«Wann hast du zum letzten Mal mit ihm gesprochen?«

«Anfang Januar. Warum?«

«Jetzt haben wir April. Du weißt doch nicht, was sich vielleicht alles in seinem Leben geändert hat. Vielleicht gibt es eine andere Frau. Vielleicht wohnt er nicht mehr unter seiner bisherigen Adresse. Vielleicht…«

«Großmutter, du bist eine alte Schwarzseherin! Bei Alan ändert sich nichts. Er ist hoffnungslos verknallt in mich und würde hinter mir herschmachten, bis er alt und grau ist. Du wirst sehen, alles läuft genau so, wie ich es will.«

Mae hatte seufzend ihre Brieftasche hervorgekramt, einen Scheck herausgenommen und ihn auf den Betrag von vierhundert Pfund ausgestellt.»Der ist für den Notfall! Prinzipiell möchte ich ihn uneingelöst zurück. Aber falls mit Alan etwas schieflaufen sollte, hast du auf diese Weise Geld für ein Hotel und für den Rückflug.«

«Wird nicht nötig sein, aber vielen Dank.«

Maja hatte den Scheck lässig eingesteckt.»Ich rufe an, wenn ich da bin, Großmutter. Mach dir keine Sorgen. Ich falle immer auf die Füße.«

Sie hatte das genauso gemeint, wie sie es gesagt hatte, aber nun, an diesem Ankunftsabend in London, begann sie sich doch ein klein wenig mulmig zu fühlen. Hoffentlich hatte Mae nicht recht mit ihren Unkenrufen. Tatsächlich hatte sie von Alan seit dem letzten Gespräch im Januar nichts gehört. Für gewöhnlich rief er alle zwei bis drei Wochen bei ihr an, erkundigte sich nach ihrem Befinden und erzählte von den Dingen, die sich in seinem Leben ereigneten.

Sein völliges Verstummen und sein Rückzug waren verdächtig. Andererseits mochte auch eine Taktik dahinterstecken. Nachdem er ihr jahrelang hinterhergelaufen war, ohne wirklich erfolgreich zu sein, probte er nun eine andere Strategie: Er entzog sich. Ließ nichts mehr von sich hören, schottete sich ab. Er wollte sie nervös machen, wollte sie zwingen, aktiv zu werden.

Und er wird glauben, damit Erfolg zu haben, dachte Maja, wenn ich jetzt plötzlich bei ihm aufkreuze. Dabei wäre ich so oder so gekommen. Aber er soll sich ruhig den Sieg auf seine Fahnen schreiben. Hauptsache, ich kann bei ihm bleiben.

Alan wohnte in der Sloane Street, und Maja war kurz in Versuchung, mit dem Taxi zu ihm zu fahren. Aber dann wäre ihr letztes Bargeld fort gewesen, und sie hätte nur noch den Notfall-Scheck von Mae gehabt, den sie eigentlich gar nicht einlösen durfte — den sie aber einlösen würde, wie sie jetzt schon wußte. Aber ein wenig mußte sie ihre Reserven noch zurückhalten, und so entschied sie sich schweren Herzens für die U-Bahn.

Die Londoner Underground zur Rushhour war die Hölle, um so mehr, wenn man zwei Koffer auf Rollen hinter sich herschleifen mußte und noch eine schwere Tasche um die Schultern trug. Der Apriltag war warm, die Luft in den Waggons zum Schneiden. Maja fuhr einmal in die falsche Richtung und mußte den ganzen Weg zurück, und als sie irgendwann — es schienen Stunden vergangen zu sein — auf der Sloane Street wieder ans Licht trat, war sie in Schweiß gebadet, fühlte sich verklebt, schmutzig und völlig unattraktiv.

Phantastisch, dachte sie, nun sehe ich genauso aus, wie eine Frau aussieht, wenn sie einen Mann überraschend in dessen Wohnung aufsucht, um sich ihm an den Hals zu werfen und ihm klarzumachen, daß er sie von nun an beherbergen und ihr Leben finanzieren soll.

Keuchend setzte sie ihren Koffer ab, kramte ihr Adreßbuch aus der Handtasche und vergewisserte sich der richtigen Hausnummer. Dann machte sie sich müde an die letzte Etappe ihres Weges.

Alan hätte jeden anderen Menschen auf der Welt eher erwartet als Maja. Er stand in seinem Wohnzimmer und trank gerade einen Whisky — den zweiten des Tages —, als es klingelte. Kurz überlegte er, ob er überhaupt öffnen sollte; es war ein anstrengender Tag gewesen, und er mochte an diesem Abend niemanden mehr sehen oder sprechen. Aber es klingelte ein zweites und ein drittes Mal, und schließlich ging er zur Tür, hoffend, daß es nicht Liz war, eine junge Frau, mit der er ein paar Wochen lang zusammengewesen war. Er hatte sich wenige Tage zuvor von ihr getrennt, ohne genau zu wissen, weshalb, denn sie war attraktiv, intelligent, humorvoll und sehr verliebt in ihn. Wahrscheinlich lag es daran, daß sie nicht Maja war. Wahrscheinlich würde er sich von allen Frauen trennen, weil sie nicht Maja waren.

Er öffnete die Tür, und vor ihm stand Maja.

Ihm verschlug es buchstäblich die Sprache, aber dafür redete sie.

«Hallo, Alan. Unten im Hausflur stehen noch zwei Koffer von mir, die ich die Treppe nicht heraufbekomme. Könntest du sie holen? Und bitte sag mir, wo das Bad ist. Ich brauche unbedingt eine Dusche.«

Perplex öffnete er ihr die Badezimmertür, und sie war wie der Blitz verschwunden. Er hörte, daß sie den Schlüssel herumdrehte, kurz darauf begann das Wasser zu rauschen. Er kam sich wie ein folgsamer Trottel vor, als er die drei Treppen, die zu seiner Wohnung führten, hinuntertrabte und nacheinander zwei Koffer hinaufwuchtete, in denen sich Mühlsteine zu befinden schienen.

Wie lange will sie bleiben? fragte er sich.

Ihrem Gepäck nach zu schließen, mußte sie nahezu ihr gesamtes bewegliches Hab und Gut mit sich führen. Langsam kam er zu sich und merkte, daß er ärgerlich wurde. Es war so ungemein typisch für Maja, ihn auf diese Weise zu überfallen, ihm ihren Entschluß, ihren Willen aufzudrängen. Und er rannte auch noch los, führte ohne ein Wort ihre Befehle aus. Andererseits hätte er schlecht ihre Koffer da unten stehen lassen oder ihr den Zutritt zu seinem Bad verwehren können. Er hörte den Fön brummen und Maja ein Lied trällern. Offensichtlich war sie bester Laune.

Natürlich. Es lief ja auch alles, wie sie es wollte.

Er ging ins Wohnzimmer, schenkte sich den dritten Whisky ein, überlegte, ob er einen Champagner im Kühlschrank hatte. Maja würde ein Glas wollen, oder mehrere, und danach hatte sie vermutlich vor, zum Essen auszugehen, in ein teures Restaurant, schick und mondän.

Weswegen war sie nach London gekommen?

Unruhig ging er im Zimmer hin und her. Es dauerte eine ganze Weile, bis Maja erschien. Sie war in ein großes, flauschiges Badetuch gehüllt, auf ihren Schultern glitzerten dekorativ ein paar Wassertropfen. Sie mußte sie nachträglich dorthin gespritzt haben, denn im Grunde war es zu lange her, seitdem sie geduscht hatte. Ihre Haare glänzten, sie hatte die Lippen nachgezogen, die Wimpern neu getuscht und sich reichlich mit Parfüm besprüht. Vorhin, als sie zur Wohnungstür hereinkam, hatte sie erschöpft und ziemlich zerknittert ausgesehen, aber davon war nichts mehr zu bemerken. Sie sah ausgeruht aus, frisch, jung und energiegeladen. Ihre Augen strahlten.

«Hast du eine Zigarette für mich?«fragte sie.»Und etwas zu trinken?«

Schweigend reichte er ihr die Zigarettenschachtel. Als er ihr Feuer gab, neigte sie sich so dicht an ihn heran, daß er ihr Haar riechen konnte und ihre Haut. All die sehnsüchtigen Gedanken, die er auf sie verwandt hatte in unzähligen Tagen und Nächten, fielen ihn wieder an. Warum, zum Teufel, wurde er nicht fertig damit? Wurde nicht fertig mit ihr! Es drängte ihn, die Worte zu sagen, von denen er wußte, er hätte sie jetzt sagen müssen. Er hätte ihr erklären müssen, daß sie, nun da sie einmal hier war, selbstverständlich über Nacht bleiben könne, daß sie aber am nächsten Morgen ihre Sachen packen und gehen müsse. Sie durfte nicht davon ausgehen, daß er sich hin und her schieben ließ, daß er sprang, wie sie es gerade wollte, daß er…

O Gott, dachte er müde, ich werde es ja doch nicht sagen. Ich werde wieder einmal die Brotkrumen annehmen, die sie mir zuwirft. Sie wird triumphieren, weil die Dinge genauso laufen, wie sie es will.

Sie streckte die Hand aus, strich ihm mit dem Finger sacht über die Stirn.»Du hast eine Sorgenfalte über der Nase«, sagte sie. Ihre Stimme klang zärtlich und etwas rauh, und ihm lief ein Schauer über den Rücken.»Was ist los? Freust du dich nicht, daß ich da bin?«

Er lachte, leise und resigniert.»Was erwartest du, Maja? Daß ich einen Luftsprung mache vor Glück? Ich weiß ja nicht einmal, warum du hier aufgetaucht bist. Ich weiß nicht, was du vorhast.«

«Du wolltest mir etwas zu trinken holen«, erinnerte Maja.

Er stand auf, ging in die Küche. Glücklicherweise stand tatsächlich eine eiskalte Flasche Champagner im Kühlschrank. Er stellte sie in einen Kühler, nahm sie mit hinüber ins Wohnzimmer. Maja saß auf dem Teppich, lehnte sich gegen das weiße Sofa. Ihr Blick schweifte im Raum umher, wach und kritisch. Sie versuchte nicht zu verbergen, daß sie den Wert eines jeden Gegenstandes genau taxierte.

Sie ist immer noch das gierige kleine Mädchen, dachte er, und wird es immer sein.

Sie trank den Champagner in hastigen Zügen, ließ sich sofort das nächste Glas einschenken.

«Schön hast du es hier«, sagte sie dann,»die Wohnung ist sehr elegant. Sie paßt zu dir. Sie gefällt mir.«

«Danke. Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.«

«Du hast keine gestellt.«

«Ich sagte: ›Ich weiß nicht, was du vorhast.‹ Das ist in gewisser Weise eine Frage.«

Sie lächelte kokett.»Was glaubst du denn, was ich vorhabe?«

Ihm war bewußt, daß er schon wieder die Stirn runzelte.»Nicht so, Maja. Laß uns vernünftig reden. Du stehst plötzlich mit zwei riesigen Koffern vor der Tür, okkupierst eine halbe Stunde lang mein Bad, sitzt dann sehr schön und malerisch in meinem Wohnzimmer und klimperst mit den Wimpern. Du willst also irgend etwas. Vermutlich eine kostenlose Unterkunft in London.«

Sie verzog ihren Mund zu einem Schmollen.»Alan, du kannst wirklich ziemlich kalt und häßlich sein. Ich…«

«Maja!«sagte er scharf.»Versuch es nicht damit! Ich schmelze nicht dahin, wenn du Kulleraugen machst und mit Piepsstimme redest. Benimm dich bitte wie eine erwachsene Frau.«

Offensichtlich begriff sie, daß es ihm ernst war. Sie setzte sich aufrecht hin, zog das Badetuch enger um ihren Körper. Ihr Gesichtsausdruck war jetzt kühl und konzentriert. Sie sah so begehrenswert aus, daß er am liebsten die Arme ausgestreckt und sie an sich gezogen hätte.

«Okay, Alan«, sagte sie,»sprechen wir ganz offen miteinander. Ich möchte in London bleiben. Ich habe das Leben auf Guernsey hoffnungslos satt. Es ist langweilig, und ich sehe dort keine Zukunft für mich. Meine Familie glaubt, ich sei nur für ein paar Monate fort, aber die Wahrheit ist, daß ich nie mehr zurückmöchte. Ich bin hier, und ich bleibe hier. Und ich hoffe, du hilfst mir.«

«Wovon willst du leben?«

«Ich werde mir einen Job suchen«, sagte Maja kühn,»aber das wird sicher nicht von heute auf morgen klappen.«

«Sicher nicht. Woran hattest du gedacht?«

Majas Souveränität begann ein wenig zu bröckeln. Alan wußte, daß er die entscheidende Frage gestellt hatte, auf die Maja vermutlich noch keine Antwort wußte. Sie zog hastig an ihrer Zigarette.

«Himmel, Alan, mußt du mich immer einem Verhör unterziehen? Wir sitzen hier, es ist ein wunderschöner Frühlingsabend, draußen braust der Londoner Verkehr… alles könnte so schön sein, und du schaffst wieder nur Probleme. Ich bin da!«

Sie sah ihn herausfordernd an.»Hallo! Hast du das überhaupt begriffen? Ich bin da! Ich habe getan, was du immer wolltest. Ich bin zu dir gekommen! Ich will bei dir bleiben!«

Er konnte nicht mehr an sich halten, er mußte sie berühren. Vorsichtig strich er mit dem Finger über ihre Wange. Sie fühlte sich samtig an.

«Wenn ich dich nur nicht so gut kennen würde«, sagte er leise,»ich kann mir nicht vorstellen, daß du irgend etwas ohne Berechnung tust. Ich glaube, du wolltest nach London, nicht zu mir. Ich bin dir nur eingefallen, weil du ja irgendeine Unterkunft brauchst.«

Das Handtuch glitt an ihrem Körper herab; er hätte nicht sagen können, ob eine Absicht dahinter lag oder ob es zufällig geschah. Sie hatte wunderschöne Brüste, und er wußte genau, wie sie sich anfühlten. Er sah ihre schmale Taille, die feinen Bögen ihrer Rippen, den sanften Schwung der Hüften.

«Vielleicht wäre es besser«, sagte er,»wenn du dir etwas anziehst.«

«Dann muß ich meinen Koffer auspacken. Ich weiß ja nicht, ob ich das darf.«

Er seufzte.»Natürlich darfst du. Es ist mir jedenfalls lieber, als wenn du den ganzen Abend so«, er machte eine Handbewegung zu ihrem nackten Körper hin,»so herumläufst.«

Sie sah ihn nachdenklich an.»Wirklich? Ist es dir so unangenehm?«

«Es ist gefährlich.«

«Für dich oder für mich?«

«Für mich. Ich bin der Schwächere.«

Sie zog das Handtuch wieder hinauf, knotete es um ihre Brüste, stand auf.

«Lädst du mich zum Abendessen ein? Dann ziehe ich mir jetzt etwas an.«

«Natürlich. Gern.«

Er sah ihr nach, als sie aus dem Zimmer ging. Er wußte, daß sie bereits gewonnen hatte, und er konnte ihr ansehen, daß sie es ebenfalls wußte.

Der Abend war für ihn überraschend verlaufen. Schon Majas Anblick, als sie aus dem Bad kam, wo sie sich angezogen hatte, hatte ihn irritiert. Für gewöhnlich war ihm ihre Aufmachung immer ein wenig peinlich gewesen; sie hatte zu kurze Röcke bevorzugt, tief ausgeschnittene Oberteile, hochhackige Schuhe, viel Schmuck und pfundweise Schminke im Gesicht. Aber offensichtlich war sie gerade dabei, ihren Stil zu ändern. Sie erschien in einem marineblauen Hosenanzug mit einem hochgeschlossenen weißen Seidenshirt darunter; sie trug keinen Schmuck außer kleinen, weißen Perlenohrringen und einem Goldarmband, und sie stöckelte auch nicht auf halsbrecherischen Absätzen herum. Ihr Lippenstift war — zumindest für ihre Verhältnisse — sehr dezent. Sie sah damenhaft und erwachsen aus, fremd, neu und zugleich vertraut.

O Gott, hatte er gedacht, ich liebe sie. Ich werde sie immer lieben. Der Gedanke hatte ihn erschreckt. Er hatte drei Monate lang nichts von ihr gehört, hatte sich nicht bei ihr gemeldet, hatte sich eingebildet, sie allmählich vergessen zu können. Nun begriff er, daß seine Gefühle für sie so wach und stark waren wie immer. Es hätte sich nichts geändert. Vielleicht war alles sogar heftiger geworden, so wie sie heute aussah. Sie war anders.

Doch natürlich pochte das Mißtrauen laut und heftig in ihm. Er kannte Maja seit Jahren. Er wußte, daß sie berechnend und schlau war, wenn es darum ging, einen Vorteil zu erlangen. Weshalb war sie nach London gekommen? Seinetwegen? Oder reizte sie ganz einfach die große Stadt, und benutzte sie seine Wohnung als kostenlose Absteige?

«Du siehst gut aus«, hatte er gesagt.

Ihre Antwort war ein sachliches Danke gewesen. Sie hatte nicht mit den Wimpern geklimpert, nicht sofort versucht, die Situation in irgendeiner Weise zu ihren Gunsten zu nutzen. Sie hatte hinzugefügt:»Gehen wir?«, und er hatte genickt und war etwas perplex hinter ihr hergetrottet.

Er hatte einen kleinen Italiener» um die Ecke «vorgeschlagen, und sie war freudig einverstanden gewesen, die nächste Überraschung des Abends. Maja liebte es teuer, mondän und aufwendig. Sie wollte interessante Leute sehen, und sie wollte selbst gesehen werden. Er hätte geschworen, daß sie mindestens das Ritz im Auge gehabt hatte.

Statt dessen begnügte sie sich tatsächlich mit dem Italiener,aß eine bescheidene Lasagne, trank etwas Pinot Grigio und verzichtete der Kalorien wegen auf einen Nachtisch. Sie erzählte von Guernsey, ohne dabei auf etwaige Liebesabenteuer zu kommen, berichtete von Mae, von Beatrice und Helene.

«Diese Frau aus Deutschland wohnt wieder bei deiner Mutter«, sagte sie,»wie heißt sie noch? Franca. Ich habe sie mit Helene in St. Peter Port getroffen. Großmutter sagt, sie wolle offensichtlich länger bleiben. Scheint irgendein Problem mit ihrem Mann zu haben. Kennst du sie näher?«

«Ich habe sie im letzten Jahr im Auto mitgenommen. Mit ihrer Hotelbuchung hatte etwas nicht geklappt, und ich habe sie zu meiner Mutter gebracht. Wir haben uns eine Weile unterhalten, aber ich kann natürlich nicht sagen, daß ich sie wirklich kenne.«

Er dachte an die scheue, unscheinbare Frau mit dem deutschen Akzent und den schönen Augen, die zu unsicher dreinblickten, als daß sie ihn wirklich hätten faszinieren können. Sie war seinen Blicken ausgewichen, hatten ihn an ein furchtsames Reh erinnert. Er erinnerte sich, überlegt zu haben, was jemand mit dieser Frau angestellt haben könnte, um sie in ein derart schwieriges Verhältnis zu sich selbst zu bringen.

«Großmutter hat natürlich versucht, deine Mutter über sie auszuquetschen«, sagte Maja,»du weißt ja, sie interessiert sich für einfach alles, was auf der Insel vor sich geht. Selbst wenn es sich um eine Frau wie diese Franca handelt, an der wohl beim besten Willen niemand etwas Aufregendes finden kann.«

Das war die alte Maja, vor deren kritischen Augen kaum je eine andere Frau Gnade fand.

«Sie schaut immer wie eine Kuh, wenn's donnert, und sie hat überhaupt keine Ausstrahlung, findest du nicht?«

So hart hätte er es nicht gesagt, aber er widersprach nicht. Für Franca hatte er in diesem Moment nicht das geringste Interesse. Von Sekunde zu Sekunde verlor er sich tiefer in Majas Bann.

«Nun, jedenfalls ist Beatrice ja nie besonders gesprächig, und die arme Mae weiß immer noch nichts Genaues, aber sie meint herausgehört zu haben, daß die gute Franca wohl vor ihrem Mann davongelaufen ist.«

Sie lachte.»So. Nun weißt du alles. Mehr ist von Guernsey beim besten Willen nicht zu berichten.«

Er betrachtete sie nachdenklich über den Tisch hinweg. Es war inzwischen dunkel geworden, und nur noch das Licht vieler Kerzen beleuchtete ihr Gesicht. Sie sah sehr jung aus — in diesem nahezu ungeschminkten Zustand —, fast unschuldig und verletzlich.

Vielleicht, dachte er, hatte sie sich wirklich geändert.

«Warum«, fragte er, als sie sich auf dem Heimweg befanden und Arm in Arm die nächtliche Straße entlanggingen,»bist du wirklich nach London gekommen?«

Sie schwieg eine ganze Weile, und er dachte schon, sie hätte die Frage nicht verstanden, aber schließlich sagte sie:»Ich habe nachgedacht, Alan. Mein Leben verläuft in Bahnen, die… nein, eigentlich verläuft es in überhaupt keinen Bahnen. Das ist das Problem. Ein Tag hat bei mir keinen Anfang und kein Ende. Jede Woche, jeder Monat, alles ist so völlig ziellos. Ich nehme die Dinge, wie sie gerade kommen, genieße den Augenblick und verschwende keinen Gedanken an die Zukunft.«

Sie blieb stehen.»Weißt du, das war für eine bestimmte Phase okay. Für die Zeit, in der ich jung war.«

Das klang sehr ernsthaft, und er mußte lachen.»Mein Gott, Maja! Wenn du wüßtest, wie jung du noch immer bist!«

Sie runzelte ein wenig die Stirn.»Ja, vielleicht. Aber ich bin über zwanzig. Du hast selbst damals im Januar gesagt, daß ich allmählich Ordnung in mein Leben bringen sollte.«

Alan vermochte es kaum zu fassen. Sie hatte ihm zugehört, und seine Worte waren auch noch auf fruchtbaren Boden gefallen. Er hielt den Atem an.»Maja…«

«Ich weiß noch nicht genau, was werden wird. Aber ich dachte, wenn ich erst einmal hier bin, dann findet sich vielleicht ein Weg. Ich dachte…«, sie zögerte,»ich dachte, du könntest mir helfen. Einen Weg zu finden, meine ich. Denn schließlich… nun, es gibt kaum einen Menschen, glaube ich, der mich besser kennt als du.«

Er fühlte sich plötzlich älter als sonst. Der Begriff» väterlicher Freund «kam ihm in den Sinn. Irgendwie schien sie ihn in diese Rolle zu schieben, und er war nicht ganz sicher, ob ihm dieser Part behagte.

«Du meinst«, sagte er,»daß ich ein guter Berater sein könnte für dich. Deshalb bist du gekommen.«

Sie lächelte ein wenig. Natürlich, sein Bemühen, vorsichtig auf den Busch zu klopfen, war allzu durchschaubar gewesen.

«Berater«, sagte sie,»nein, als solchen sehe ich dich wohl weniger. Eher… als den Mann, den ich liebe. Könntest du damit etwas anfangen? Oder ist dir das zu intim?«

Sie hatte schon manchmal von Liebe gesprochen. Vor allem in der ersten Zeit ihrer Beziehung. Aber irgendwann hatte er gemerkt, wie leichtfertig das Wort aus ihrem Mund klang, wie locker und unverbindlich sie es dahinsagte und, vor allem, daß eine Menge Männer in den Genuß kam, von ihr geliebt zu werden. Ihr» Ich liebe dich «war nichts wert, jeder konnte es haben, der einigermaßen gut aussah und auffallend gut verdiente. Er hatte nicht aufgehört, sich nach diesen Worten aus ihrem Mund zu sehnen, und sich gleichzeitig für den Wunsch nach einer derart inflationären Ware verachtet.

Aber diesmal, so schien es ihm, sagte sie es anders. Ihre Stimme klang weicher und zugleich ernster. Ihr Gesichtsausdruck zeigte Wärme und Ehrlichkeit.

Ein Rest von Vorsicht, von Mißtrauen blieb. Natürlich. Er war dreiundvierzig Jahre alt. Er kippte nicht mehr von einer extremen Gefühlslage in die andere. Er streckte die Hand aus, strich ihr vorsichtig über die Wange.»Wir werden einfach sehen, was kommt«, sagte er.

Michael hatte eine Woche lang nichts von sich hören lassen, aber dann rief er plötzlich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen an. Beim erstenmal geriet er nur an Beatrice, die ihm mitteilte, Franca sei am Strand und gehe mit den Hunden spazieren, und er sagte, sie möge ihn zurückrufen, wenn sie wieder da sei. Franca versuchte ihn am Abend zu erreichen, aber er war nicht daheim.

«Wahrscheinlich ist er bei seiner Geliebten«, sagte sie bitter zu Beatrice.

«Schmerzt es sehr?«fragte diese und musterte sie dabei aufmerksam.

Franca überlegte.»Ein wenig. Nicht mehr so sehr. Es ist weiter weg.«

Am nächsten Morgen rief Michael erneut an. Er klang verstimmt.

«Hat man dir nicht ausgerichtet, daß du mich anrufen sollst?«fragte er anstelle einer Begrüßung.

«Ich habe angerufen. Aber du warst nicht zu Hause. Guten Morgen, übrigens.«

«Guten Morgen.«

Er ging auf den Umstand, daß er nicht daheim gewesen war, nicht weiter ein.»Ich wollte eigentlich nur wissen, wann du vorhast, wieder zurückzukommen?«

Franca fand es bemerkenswert, daß er diese Frage so locker stellte.»Ich wundere mich, daß dich das überhaupt interessiert«, sagte sie.

«Warum sollte es nicht?«fragte Michael irritiert.

Franca wußte, daß Helene in der Küche saß und sich mit gespitzten Ohren nicht ein einziges Wort entgehen ließ, aber im Grunde konnte es ihr gleich sein.

«Du hast dich doch anderweitig orientiert«, sagte sie,»es gibt eine andere Frau in deinem Leben. Was willst du da noch von mir?«

Was sie sagte, schien Michael ernsthaft zu verwundern.»Aber du bist meine Frau.«

«Das schien dir meistens entfallen zu sein in den letzten Jahren.«

Er seufzte genervt.»Okay, du willst eine Auseinandersetzung. Das heißt, genau das willst du eigentlich nicht, das willst du nie. Vor Streitgesprächen hast du dich ja schon immer gedrückt. Zuviel Angst, man könnte dir eine unangenehme Wahrheit sagen, nicht?«

«Michael, ich…«

«Also hören wir doch einfach auf, um den heißen Brei zu reden. Ich habe zugegeben, daß es eine andere Frau gibt. Du wirst nicht abstreiten können, daß du daran nicht völlig unschuldig bist.«

Das kann doch nicht wahr sein, dachte Franca.

«Auf jeden Fall ist das wirklich kein Zustand«, fuhr Michael fort,»ich habe dir schon einmal gesagt, daß du dich nicht durch Flucht deinen Problemen entziehen kannst. Ich würde es wirklich begrüßen, wenn du möglichst rasch zurückkämst.«

«Und dann?«

«Was meinst du mit — ›und dann?‹«

«Michael, wie soll es denn weitergehen? Ich sitze wieder daheim und warte darauf, daß du von den Ausflügen zu deiner Geliebten zurückkehrst, und du bist nächtelang unterwegs und hältst es nicht einmal für nötig, mir vorher zu sagen, ob du kommst oder gehst. Findest du, daß das ein Zustand ist?«

«Aber du kannst doch jetzt nicht wochenlang auf Guernsey herumsitzen!«

«Ich muß hier so lange herumsitzen, bis ich herausgefunden habe, wie mein Leben weitergehen soll. Michael, ich bin immer noch eine relativ junge Frau. Mein Leben kann sich nicht darauf beschränken, eingesperrt in einem Haus zu sitzen und auf einen Mann zu warten, der mich überhaupt nicht mehr zur Kenntnis nimmt!«

«Ach, daran soll ich jetzt wohl noch schuld sein!«sagte Michael entrüstet.»Wer hat sich denn im Haus eingesperrt? Das ging doch nicht von mir aus! Ich habe nie gesagt, du sollst deinen Beruf aufgeben! Ich habe nie gesagt, du sollst deine Nase nicht mehr zur Tür hinausstrecken. Ich habe nie gesagt, du sollst durchdrehen bei der Vorstellung, Gäste könnten zu uns kommen. Ich habe nie…«

Voll selbstgefälliger Empörung ratterte er seine Sätze

herunter. Quintessenz war, soviel begriff Franca, daß er an nichts schuld war und sie an allem. Aber das, dachte sie müde, war eigentlich schon vorher klar.

«Wann kommst du nun zurück?«fragte Michael schließlich, als ihm offenbar nichts mehr einfiel, was er ihr vor die Füße knallen konnte.

«Wenn ich zu einem Entschluß bezüglich meiner Zukunft gekommen bin«, entgegnete Franca, und wieder einmal legte sie den Telefonhörer auf, ohne sich von ihm zu verabschieden.

Als sie in die Küche trat, kam ihr Beatrice entgegen, sagte nichts, sondern schob sich mit versteinerter Miene an ihr vorbei und verließ das Haus, wobei sie ziemlich laut die Tür hinter sich zuschlug.

«Was hat sie denn?«fragte Franca erstaunt.

Helene saß am Tisch und rührte überwältigende Mengen an Zucker in ihren Tee.»Mae war vorhin da«, sagte sie,»und hat erzählt, daß Maja nach London gereist ist und nun bei Alan wohnt. Beatrice hat nichts gesagt, aber seitdem ist sie in sich gekehrt und hat diesen eigenartigen Gesichtsausdruck. Und eben ist sie plötzlich aufgestanden und aus dem Raum gelaufen. Ich vermute, sie geht an den Strand und rennt sich die Wut aus dem Leib.«

«Warum ist sie so wütend?«fragte Franca.

Sie stand ein wenig unschlüssig da, noch gefangen in ihrem Gespräch mit Michael. Sie mußte die Worte, die gefallen waren, verarbeiten und wußte nicht recht, wie ihr das gelingen sollte.

«Setzen Sie sich doch«, sagte Helene,»aber holen Sie sich vorher eine Tasse. Trinken Sie einen Tee mit mir, das wird Ihnen guttun. Sie sehen ziemlich blaß aus. Es gab wieder Ärger mit Ihrem Mann, nicht?«

Franca setzte sich und schenkte Tee ein. Er war heiß und roch würzig. Er schien ihr im Augenblick tatsächlich genau das Richtige zu sein.

«Mein Mann möchte, daß ich nach Hause komme«, sagte sie,»aber ich kann mir nicht vorstellen, das zu tun. Mich erschreckt im Moment die Erkenntnis, daß ich mir nicht vorstellen kann, es jemals wieder zu tun.«

«Sie werden eine Entscheidung treffen und sie ihm mitteilen müssen«, sagte Helene.

Franca nickte.»Aber ich brauche Zeit. Es geht um meine Zukunft. In gewisser Weise… geht es um mein Leben.«

Sie nahm einen Schluck Tee. Er schmeckte so tröstlich, wie er gerochen hatte.

«Was ist nun mit Maja und Alan?«fragte sie. Für den Moment erschien es ihr besser, sich von Michael und allen Gedanken an ihn abzulenken.

Helene seufzte tief, aber das Glimmen in ihren Augen verriet, wie sehr sie diesen Tratsch liebte.

«Also, Maja und Alan haben seit einigen Jahren ein Verhältnis«, berichtete sie,»genaugenommen ist es ein Verhältnis, das ständig unterbrochen wird, denn Maja hat sich nie wirklich auf Alan festgelegt. Vielleicht ist sie dafür auch einfach zu jung.«

«Wie alt ist sie?«

«Zweiundzwanzig. Alan ist dreiundvierzig. Also ein ziemlich großer Altersunterschied. Aber, nun ja, Sie wissen, wo die Liebe hinfällt…«

«Liebe scheint es von Majas Seite her nicht unbedingt zu sein, oder?«

Helene schüttelte den Kopf.»Maja kann gar nicht lieben. Unter uns gesagt, sie ist ein kleines Flittchen. Ich glaube, sie hat mit praktisch jedem Mann auf Guernsey geschlafen, außer mit Kevin, und mit ihm nur deshalb nicht, weil er vom anderen Ufer ist. Dann kommen noch die Feriengäste dazu… Also, das Mädchen hat nicht schlecht gelebt, und es gibt eigentlich keinen Anhaltspunkt dafür, daß sich das in absehbarer Zeit ändern wird.«

«Warum hat Alan das so viele Jahre mitgemacht? Ich kenne ihn ja nur flüchtig…«

Sie dachte an ihre Begegnung mit ihm an jenem warmen Septembertag im vergangenen Jahr zurück.»Er ist ein gutaussehender Mann. Er ist intelligent, und ich denke, er ist auch erfolgreich. Es gibt sicher eine Menge Frauen, die gern etwas mit ihm anfangen würden. Er hat es doch nicht nötig, sich jahrelang von einer nymphomanen Göre an der Nase herumführen zu lassen!«

«Alan ist ziemlich umschwärmt«, stimmte Helene zu,»doch er hat ein Alkoholproblem, wußten Sie das? Aber auch das schreckt die meisten Frauen nicht ab, im Gegenteil. Wahrscheinlich sieht sich jede als rettenden Engel, der gekommen ist, ihn zu heilen. Aber Alan…«

Sie zuckte mit den Schultern.»Letztlich wollte er nie eine andere als Maja. Er kam, wann immer sie mit dem Finger schnippte. Und er litt Qualen, wenn sie sich dann wieder anderen zuwandte.«

«Warum ist sie jetzt bei ihm?«

«Das fragt sich Beatrice auch. Ihr schwant nichts Gutes. Sie hat Mae auf den Kopf zugesagt, ihrer Ansicht nach wolle sich Maja ein lockeres Leben in London machen, und Alan sei der Trottel, der dies finanzieren dürfe. Nun ist Mae beleidigt, und Beatrice macht sich Sorgen.«

«Hat sie mit ihm gesprochen?«

«Er ist erwachsen. Er ist über vierzig. Er würde sich von ihr nichts sagen lassen. Das weiß sie, daher ruft sie gar nicht erst an.«

«Vielleicht hat sich Maja geändert.«

«Das habe ich auch gesagt. Aber Beatrice hat nur gelacht. Sie sieht nicht viel Gutes in Maja.«

«Und wie sehen Sie das?«

Helene überlegte.»Ich fürchte, in diesem Fall hat Beatrice recht. Aber man sollte keinen Menschen pauschal und für alle Zeiten verurteilen. Natürlich kann sich auch Maja ändern. Ich denke aber, niemand auf der Insel hält das für wirklich wahrscheinlich.«

Franca trank in kleinen Schlucken ihren Tee. Sie war müde, und sie hatte den Eindruck, daß sich diese Müdigkeit seit ihrem Gespräch mit Michael als bleierne Schwere über sie gesenkt hatte. Wenn sie genau überlegte, dann war sie in den vergangenen Jahren immer müde gewesen, wenn er mit ihr sprach oder ihr auch nur gegenübersaß. Es schien, als sauge er Lebenskraft und Energie aus ihr heraus. Wenn es ihr gerade etwas besser ging, wenn sie sich ein wenig stärker fühlte, dann kam er, und es war, als werde eine Nadel in einen Luftballon gepiekt; die Luft entwich, und es blieb nur eine schlaffe Hülle zurück.

Eine schlaffe Hülle, dachte sie, mehr bin ich in seinen Augen sowieso nicht.

Sie mußte unbedingt das Thema Michael loswerden. Er spukte in ihrem Kopf herum und fing bereits an, sich dort festzusetzen. Sie kannte nur zu gut das bohrende,zermürbende Gedankenkarussell, in das er sie bringen konnte, wenn er erst einmal in ihrem Kopf war.

«Der Vater von Alan«, sagte sie,»lebt er noch? Ich meine, sind er und Beatrice geschieden, oder ist sie Witwe?«

Helene senkte sofort die Stimme.»Ich weiß gar nicht, ob ich das erzählen darf…«

Es war keine Frage, daß sie es erzählen würde.»Nur Mae weiß außer mir noch Bescheid… und ich glaube, sie hat ausnahmsweise einmal dichtgehalten.«

«Worüber denn?«

Helene sprach noch leiser, Franca mußte sich anstrengen, sie zu verstehen.»Der Mann, mit dem Beatrice verheiratet war, Frederic Shaye, ist nicht Alans Vater!«

«Nein?«

«Nein. Sie hat ihn betrogen — und Alan ist das Produkt dieser Affäre.«

«Oh…«

«Ja. Sie verbrachte einen Sommer hier auf Guernsey — das muß…«, Helene überlegte,»das muß 1956 oder '57 gewesen sein… nein, 1956 war es. Da war sie ziemlich lange hier. Sie wollte das Haus ihrer Eltern verkaufen… sie suchte einen Interessenten…«

«Wo lebte sie damals?«

«Drüben in England. In Cambridge. Shaye war Professor dort an einem College. Beatrice hatte beschlossen, nie nach Guernsey zurückzukehren, und Shaye hatte sie überredet, das Anwesen ihrer Eltern hier zu veräußern. Von allein wäre sie nie auf diesen Einfall gekommen — schließlich lebte ich noch immer hier im Haus.«

Es war für Helene offensichtlich wichtig, diesen Umstand zu

betonen. Shaye war der Schuft, nicht Beatrice. Franca bezweifelte ein wenig, daß die Dinge so lagen, wie Helene sie sah. Vermutlich war auch Beatrice durchaus daran interessiert gewesen, alle Brücken hinter sich abzubrechen. Nach allem, was Franca bereits gehört hatte, war sie wohl auch durchaus begierig darauf gewesen, Helene wenigstens teilweise aus ihrem Leben zu entfernen.

«Ich war oft bei den beiden zu Besuch in Cambridge«, fuhr Helene fort,»und ich dachte eigentlich, Frederic hätte nichts gegen mich. Er tat immer so freundlich… Aber ich glaube, insgeheim hat er ständig gegen mich intrigiert.«

«Weshalb«, fragte Franca,»sind Sie nach dem Krieg nicht nach Deutschland zurückgegangen? In Ihre Heimat?«

«Sie sind zu jung«, sagte Helene,»Sie haben diese Zeit nicht miterlebt. Nach dem Krieg ist ja plötzlich niemand in Deutschland je für die Nazis gewesen. Wenn man genau hinhörte, waren sie im Grunde alle Widerstandskämpfer. Das bedeutete, den vorhandenen, nachweislichen Nazi-Größen wurde alles, absolut alles in die Schuhe geschoben. Erich war tot, aber er war dennoch nach wie vor die perfekte Verkörperung des Feindbildes, das überall herumgeisterte. Als seine Witwe… Gott, ich hatte einfach Angst. Ich wollte nicht zurückgehen und erleben müssen, wie alle mit dem Finger auf mich zeigten.«

«Sie hatten doch sicher Familie in Deutschland.«

Helene schüttelte den Kopf.»Nein. Nur noch meine Mutter. Aber die war schon vor dem Krieg bettlägerig gewesen. Ein schwerer Schlaganfall hatte sie bereits im Alter von fünfzig Jahren zum Pflegefall gemacht, sie lebte in einem Heim und erkannte niemanden mehr. Sie hätte auch mich nicht erkannt.«

«Sind Sie nie wieder nach Deutschland gekommen?«

«Einmal. Im April 1951, zur Beerdigung meiner Mutter. Aber ich bin schon am nächsten Tag wieder zurückgereist.«

«Eines verstehe ich nicht«, sagte Franca,»mir kommt es eigenartig vor, daß es hier soviel besser für Sie gewesen ist. Ich meine, die Deutschen waren hier fünf Jahre lang als Besatzer. Man kann nicht allzu freundlich auf Sie zu sprechen gewesen sein!«

«Es hatte sich eine Menge Solidarität entwickelt in dem letzten Jahr, das den großen Hunger brachte«, sagte Helene.»Beatrice hat Ihnen sicher davon erzählt. Haß und Wut waren vergleichsweise gering. Natürlich gab es Anfeindungen, auch solche, die sich gegen mich richteten. Aber das hielt sich in Grenzen. Insgesamt ging es mir wohl besser, als das in Deutschland der Fall gewesen wäre.«

«Aber Sie waren ziemlich allein. Nachdem Beatrice fort war…«

Helenes Augen verdüsterten sich.»Ich habe nie verstanden, weshalb sie Guernsey verlassen hat«, sagte sie heftig,»direkt nach dem Krieg… Nun gut, da wollte sie herausfinden, was aus ihren Eltern geworden war. Dazu mußte sie hinüber nach London. Aber dann wollte sie nicht zurück. Sie kam, um ihren Schulabschluß zu machen, dann ging sie nach Southampton, um zu studieren. Ich beschwor sie, hierzubleiben. Sie wolle keine Rosen züchten, erklärte sie, und ich sagte, das müsse sie bei Gott nicht tun, es gebe doch auch andere Möglichkeiten. Sie wolle auch in dem Haus ihrer Eltern nicht bleiben, sagte sie immer wieder. Ihre Eltern, müssen Sie wissen, haben beide den Krieg nicht überlebt.«

«O nein!«sagte Franca erschrocken.

Helene nickte gewichtig, und Franca ertappte sich bei dem Gedanken, daß ihr dieser Umstand wohl keineswegs unlieb gewesen war — worüber sie erneut erschrak. Sie musste aufpassen, daß sie sich nicht in ein bestimmtes Bild von Helene hineinsteigerte.

«Wie sind ihre Eltern umgekommen?«fragte sie.

«Der Vater ist 1941 bei einem Bombenangriff auf London gestorben. Sie haben ihn tot aus den Trümmern eines Bürohauses geborgen, in dem er als Nachtwächter arbeitete. Die Mutter ist danach in schwerste Depressionen gefallen. Sie zog aus dem Haus ihrer Schwester aus, muß dann im Osten Londons unter geradezu asozialen Umständen gelebt haben. Sie hatte keinen Kontakt zu ihrem einzigen Kind und hatte nun auch noch den Mann verloren. Nachbarn haben Beatrice erzählt, daß sie trank, um den Schmerz zu vergessen, daß sie oft schon morgens um neun Uhr betrunken durch die Straßen schwankte. Sie hat sich Ende 1944 mit Schnaps und Tabletten das Leben genommen.«

Helene seufzte tief.»Eine schreckliche Tragödie. Im Alter von sechzehn Jahren war Beatrice Vollwaise. Sie hatte nur noch mich.«

«Eine Tragödie, für die die Nazis verantwortlich waren«, erinnerte Franca.»Wäre Guernsey nicht besetzt worden, hätte die Familie weiterhin glücklich und in Frieden gelebt. Hatte Beatrice damit nicht ein Problem? Ich meine, ein Problem mit Ihnen, als eine, die zu den… Feinden gehörte?«

Helenes Gesichtsausdruck verriet, daß Franca durchaus einen wunden Punkt getroffen hatte, aber es gelang ihr, recht schnell die Kontrolle wiederzufinden.

«Nein«, sagte sie kühl,»das hatte sie nicht. Ich war ihre beste Freundin, ihre Ersatzmutter, ihre Bezugsperson… Sie wußte, daß ich mich nie mit der Ideologie der Nazis identifiziert hatte. Sie konnte das durchaus trennen.«

Franca beschloß, diese Angelegenheit nicht weiterzuverfolgen. Helene hatte sich ihre persönliche Wahrheit zurechtgelegt, und daran war nichts mehr zu ändern. Vielleicht, dachte sie, sollte man auch gar nicht versuchen, eine Frau von achtzig Jahren zu ändern.

«Wer ist denn nun der Vater von Alan?«fragte sie, um auf den Ausgangspunkt des Gesprächs zurückzukommen.

«Ein Franzose«, sagte Helene,»Julien. Im Krieg hat er für uns gearbeitet.«

«Julien? Sie hat wieder etwas mit ihm angefangen?«

«Sie wissen von ihm?«fragte Helene konsterniert.

Franca war nicht sicher, was genau Helene wußte, und antwortete ausweichend.»Sie hat ihn mal erwähnt.«

Helene schien darüber nicht glücklich zu sein. Sicherlich wäre sie gern Beatrices einzige Vertraute gewesen.

«Sie hatte mit Julien während des Krieges ein Verhältnis«, sagte sie, wobei sie erneut die Stimme zu einem Flüstern senkte,»eine ungute Geschichte, in die sie mich damals leider nicht einweihte. Ich hätte ihr doch helfen können. Aber gut, nach dem Krieg war es vorbei, Julien ging nach Frankreich, Beatrice nach England, und ich glaube, sie hatten jahrelang keinen Kontakt. In jenem Sommer trafen sie sich zufällig hier auf der Insel. Julien hatte seine Frau dabei; er wollte ihr seine Vergangenheit zeigen, hatte aber wohl nicht damit gerechnet, hier plötzlich auf Beatrice zu stoßen. Irgend etwas von den alten Gefühlen muß in ihnen hochgekocht sein, es muß ein romantischer Moment gewesen sein… Na ja, jedenfalls trafen sie sich einige Male, und am Ende des Sommers hatte Beatrice zwar noch immer keinen Käufer für das Haus gefunden dafür war sie aber schwanger.«

«Sie erzählte es Ihnen?«

«Nein. Aber ich erfuhr von der Beziehung. Als dann ihr Kind kam, konnte ich eins und eins zusammenzählen. Nur Julien konnte der Vater sein.«

«Und dann?«fragte Franca, nachdem eine längere Pause entstanden war.

«Und dann«, sagte Helene,»ging ich zu Frederic Shaye und berichtete ihm alles.«

Das Ticken der Küchenuhr dröhnte in Francas Ohren. Sie glaubte, nicht richtig gehört zu haben.

«Wie bitte?«fragte sie schließlich.

«Die Ehe mit Frederic Shaye wurde geschieden«, erklärte Helene gleichmütig.»Beatrice und das Baby kehrten zu mir zurück.«

Am Abend rief Michael erneut an, um zu fragen, wann Franca nach Hause zu kommen gedenke. Franca erklärte, sie wisse es nicht.

«Wie willst du deinen eigenartigen Abenteuertrip eigentlich auf Dauer finanzieren?«erkundigte sich Michael eisig.

«Wir haben ein Konto hier auf Guernsey«, erinnerte Franca.

«Wir? Ich habe es. Du solltest dir im klaren darüber sein, daß es sich um mein Geld handelt!«

«Ich habe eine Kontovollmacht. Jahrelang war ich ja auch gut genug, regelmäßig hierherzufahren und für dich…«

«Mein Gott, das sind Dinge, die bespricht man nicht am Telefon«, fauchte Michael,»du hast wirklich von nichts eine Ahnung!«

«Ich weiß. Seit ungefähr zehn Jahren erklärst du mir das an

jedem einzelnen Tag meines Lebens.«

«Vermutlich deshalb, weil es einfach stimmt.«

Sie widerstand dem Impuls, wieder einmal einfach aufzulegen. Sie konnte nicht jedesmal ein Gespräch mit ihm auf diese Weise beenden.

«Warum machen wir es nicht so, daß wir vorerst eine Weile nicht telefonieren?«schlug sie vor.»Laß mich herausfinden, wie es für mich weitergehen soll, und versuche du herauszufinden, wie es bei dir weitergeht. Wir brauchen beide ein wenig Zeit.«

«Ich sehe nicht, wozu wir Zeit brauchten. Vor allem hat es überhaupt keinen Sinn, irgend etwas herausfinden zu wollen, worüber wir nicht miteinander reden. Das bringt nichts.«

«Michael«, sagte Franca,»du hast eine Geliebte. Du mußt, ganz allein für dich, klären, ob du sie willst oder mich. Dazu brauchst du nicht mit mir zu sprechen. Ich kann dir dabei nicht helfen.«

«Aha. Du willst also so lange auf Guernsey herumsitzen und mein Geld verprassen, bis ich reumütig zu dir zurückkehre?«

Er kann einfach nicht anders als ekelhaft sein, dachte Franca fast traurig.»Ich denke nicht, daß ich unser Geld hier verprasse«, sagte sie betont,»und es geht nicht darum, daß du reumütig zu mir zurückkehrst. Es geht einfach darum, daß du eine Entscheidung triffst. Wie immer sie am Ende aussieht — du mußt sie treffen.«

«Du klingst wie eine verdammte Oberlehrerin«, sagte Michael, und diesmal legte er den Telefonhörer auf.

Franca ging ins Eßzimmer, wo Beatrice am Tisch saß, ein Glas mit Rotwein und eine Zeitung vor sich. Sie las jedoch nicht darin, sondern starrte gedankenverloren auf die Tischplatte.

«Störe ich?«fragte Franca.

Beatrice blickte hoch.»Nein, natürlich nicht. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist. Möchten Sie etwas essen? Ich fürchte, ich schaffe es nicht, heute zu kochen, aber…«

«Nein, danke. Ich habe keinen Hunger. Kann ich einen Schluck Rotwein haben? Mein Mann hat gerade angerufen, und er schafft es jedesmal, mich zu deprimieren.«

«Trinken Sie, soviel Sie wollen«, sagte Beatrice und schob ihr die Flasche zu,»für mich wird das heute auch nicht das letzte Glas sein. Ich brauche ebenfalls eine Stärkung.«

Franca nahm ein Glas aus dem Schrank, setzte sich neben Beatrice.

«Sie machen sich Sorgen um Alan, nicht?«sagte sie vorsichtig.»Helene deutete es heute morgen an.«

«Wie ich Helene kenne, hat sie nichts angedeutet, sondern alles höchst ausführlich erzählt«, sagte Beatrice, fügte aber, als sie Francas Gesicht sah, sofort hinzu:»Keine Sorge, es macht mir nichts aus. Ich habe Ihnen jetzt schon so viel erzählt, daß es auf ein paar Details mehr oder weniger nicht mehr ankommt. Von mir aus können Sie alles wissen.«

«Wo ist Helene heute abend?«

«Sie geht essen mit Mae. Mae ist tief gekränkt, weil ich gesagt habe, daß Maja ein Miststück und eine Schlampe ist, und Helene will sie nun wieder moralisch aufrichten. Angeblich um unserer Freundschaft willen, aber in Wahrheit geht es ihr nur um sich selbst. Mae begleitet sie häufig zum Einkaufen und zum Kaffeetrinken, und Helene hat eine Heidenangst, das könnte vorbei sein, wenn wir zerstritten bleiben.«

«Könnte die Geschichte mit Maja denn Ihre Freundschaft gefährden?«

Beatrice machte eine wegwerfende Handbewegung.»Ach was! Mae weiß genau, was ich von Maja halte, ich habe es ihr schon hundertmal gesagt. Sie muß nur der Form halber nun ein bißchen schmollen. Die einzige, die sie damit noch beeindrucken kann, ist Helene.«

«Haben Sie mit Alan gesprochen?«

«Es juckt mich ständig in den Fingern, zum Telefonhörer zu greifen«, gab Beatrice zu,»aber ich halte mich immer noch zurück. Alan ist dreiundvierzig Jahre alt. Im Grunde darf ich mich wirklich nicht mehr einmischen.«

«Ich verstehe nicht, weshalb er Maja derart verfallen ist«, meinte Franca,»sie ist ein hübsches Mädchen, aber als so besonders einzigartig empfinde ich sie nicht. Er kann doch jede andere haben.«

«Er will sie. Fragen Sie mich nicht, warum das so ist. Warum verlieben sich Menschen ineinander, warum erwischt es manchmal jemanden so heftig, daß er von einer Person nicht loskommt, selbst wenn er immer wieder gedemütigt und verletzt wird? Oder sind es gerade die ständigen Verletzungen, die ein wirkliches Ende der Beziehung unmöglich machen? Manchmal denke ich, Alan wird aus dieser Beziehung nicht herausfinden, ehe nicht ein Gleichgewicht der Kräfte hergestellt ist. Aber vielleicht interpretiere ich zuviel in ihn und in das alles hinein. Vielleicht gibt es einfach irgend etwas an ihr, was ihn so fasziniert, daß er nicht loslassen kann.«

«Sie ist jetzt bei ihm, nicht?«

Beatrices Gesicht blieb unbewegt, aber ihre Augen verschleierten sich vor Kummer.»Sie ist bei ihm, ja. Und vermutlich redet sie ihm ein, wie sehr sie ihn liebt und wie grundlegend sie sich geändert hat. Und er wird diesen Strohhalm ergreifen und sich daran festhalten. Bis sie ihn wieder enttäuscht und er eine Menge Schmerz erleidet.«

«Sie können ihn nicht beschützen«, sagte Franca leise,»nicht dauerhaft. Er ist erwachsen.«

Beatrice zündete sich eine Zigarette an, rauchte sie auf die nervöse, hektische Art, die Franca schon oft an ihr beobachtet hatte.»Ich weiß. Ich sage es mir immer wieder. Es ist sein Leben, es sind seine Erfahrungen, die er machen muß. Aber irgendwo ist er auch mein Kind. Und wird immer mein Kind sein.«

«Sie haben eine sehr enge Bindung an ihn?«

«Ich habe ihn allein großgezogen. Vielleicht macht das eine Beziehung sehr stark. Es ist kein Ausgleich da. Kein Partner, auf dessen Schultern man das eine oder andere Gewicht laden kann. Es gab immer nur uns beide, Alan und mich.«

«Und Helene«, sagte Franca leise.

Beatrice verzog das Gesicht.»Richtig. Fast hätte ich Helene vergessen. Helene hat meine Ehe mit Frederic Shaye zerstört — hat sie Ihnen das erzählt? Und Sie hätten das Drama miterleben müssen, das sie aufführte, als die Geschichte mit Frederic losging, als sie begriff, daß ich von ihr fortgehen würde…«

November 1952 bis September 1953

Beatrice war krank in diesem Herbst, sieben Jahre nach Kriegsende, seelisch krank. Sie schlich durch den Londoner Novembernebel und empfand die Trostlosigkeit ringsum wie ein Spiegelbild ihres Innern. Sie hatte auf die endgültige Trennung von Julien und auf die Erkenntnis, daß ihre beiden Eltern tot waren, mit der Flucht in uferlose Aktivität reagiert. Sie war nach Guernsey zurückgekehrt und hatte die Schule abgeschlossen, und sie hatte sich gegen eine schreiende, anklagende Helene durchgesetzt und war zum Studieren nach Southampton gegangen. Sie hatte sich mit zahlreichen Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, war in abgetragenen Mänteln mit zu kurzen Ärmeln und in löchrigen Schuhen herumgelaufen, hatte gelernt und geschuftet und es vermieden, auch nur für einen Moment innezuhalten und nach rechts oder links zu sehen. Jetzt lag alles hinter ihr, sie hatte einen Abschluß in Anglistik und Romanistik in der Tasche, fand aber noch keine Arbeit und stürzte in ein schwarzes Loch. Sie konnte sich nicht ablenken. Die verdrängten Geschehnisse, Ängste und Sorgen stiegen unaufhaltsam in ihr hoch, überschwemmten sie förmlich, rissen sie in die Tiefe. Zum erstenmal stellte sie sich dem Gefühl, das der Tod ihrer Eltern in ihr ausgelöst hatte, und begegnete einem Schmerz, der sie in seiner Heftigkeit nach Luft ringen ließ. Auf einmal begriff sie, daß sie alles verloren hatte. Sie hatte keinen Menschen mehr auf der Welt, der zu ihr gehörte. Zu den Verwandten in England, den wenigen, die es überhaupt noch gab, hatte sie kaum Kontakt, sie waren Fremde für sie. Deborah und Andrew waren tot. Sie hatte das Gefühl, nach Guernsey nicht zurückkehren, die Insel, das Haus nicht ertragen zu können. Damit gab es auch die Heimat nicht mehr. Sie bewegte sich im luftleeren Raum. Um sie herum existierten nur noch Traurigkeit und tiefer Schmerz.

Sie wohnte im Osten Londons, in einer der deprimierenden Arbeitersiedlungen, in denen noch immer nicht die Schäden, die durch die deutschen Bomben entstanden waren, repariert worden waren. Hier fehlte ein Teil des Daches, dort waren zersprungene Fensterscheiben durch vorgenagelte Pappe ersetzt worden. Bauschutt türmte sich in Hinterhöfen und manchmal auch mitten auf der Straße. Im Sommer hatte mancher belaubte Baumast über eine Mauer geschaut, aber nun, im Herbst, ragten nur kahle Zweige in den grauen, wolkenverhangenen Himmel und verstärkten den Eindruck völliger Trostlosigkeit.

Beatrice hatte ein Zimmer in der Bridge Lane gemietet, in einem grauen, schmutzigen Haus, vor dessen Tür immer Pfützen standen, um die man herumbalancieren mußte, und auf dessen Treppenstufen im Hausinnern Müll lag und jede Menge leere Flaschen herumstanden. Die meisten Bewohner des Hauses waren arbeitslos, viele waren zudem Alkoholiker, lebten als Großfamilien zusammengepfercht in winzigen Wohnungen. Heftige Streitigkeiten und Gewalttaten waren an der Tagesordnung. Beatrice konnte nicht umhin, das meiste davon mitzubekommen, was sie noch trübsinniger und verstörter werden ließ. Sie verdiente ihren kärglichen Lebensunterhalt als Französischlehrerin bei reichen Damen der Gesellschaft, und es deprimierte sie, am Abend aus den schönen, gepflegten Häusern im Londoner Westen zurückzukehren in das Abbruchviertel, in dem sie selbst lebte. Sie hatte nicht studiert, um Vokabeln und Grammatik in mühevoller Kleinarbeit in die Köpfe begriffsstutziger, verwöhnter Frauen zu pflanzen. Aber ohnehin kam es darauf schon fast nicht mehr an. Selbst wenn sich ihr Traum, in einem Buchverlag zu arbeiten, plötzlich erfüllt hätte, wäre sie nicht glücklich gewesen. Die Verluste, die sie erlitten hatte, wogen zu schwer. Das Gefühl der inneren Leere und Einsamkeit drückte sie zu Boden. Manchmal sehnte sie sich nach Guernsey, dachte an die Wiesen, die Klippen, an den Blick über das Meer und in den Himmel, der höher und klarer war als der Himmel über London. Aber sowie sie sich ein solches Gefühl, einen solchen Gedanken erlaubte, bezahlte sie gleich darauf mit dem Schmerz, den die hereinbrechenden Erinnerungen in ihr auslösten; sie dachte an ihre Eltern, an ihre Kindheit, an die Rosen und an die Wärme, mit der jeder einzelne Tag angefüllt gewesen war. Sie dachte auch an die Jahre des Krieges, an diese eigenartige Zeit, in der sie sich manchmal vorgekommen war wie in einem bösen Traum gefangen. Und schon war da wieder dieses dumpfe Gefühl in ihrem Kopf, wurde der Hals eng, fiel ihr das Atmen schwer; kaum mehr konnte sie Arme und Beine bewegen, und es war, als verlangsame sich unter dem Gewicht der Trauer sogar ihr Herzschlag.

Nicht daran denken, befahl sie sich dann, nur nicht daran denken!

Helene bombardierte sie mit Briefen, in denen sie sie beschwor, wieder nach Hause zu kommen.

«Was willst Du in London?«schrieb sie.»In dieser kalten, häßlichen Stadt, in der es keinen Menschen gibt, den Du kennst, mit dem Du vertraut bist? Hier auf Guernsey hast Du Freunde. Hier hast Du mich!«

Manchmal dachte Beatrice, daß es gerade Helene war, die sie fernhielt von Guernsey. Ihre Nähe ertrug sie nicht, ihr Gebaren von Familie und Zusammengehörigkeit. Sie selbst empfand Helene nicht im mindesten als die Ersatzmutter, als die diese sich so gern sah. Einmal hatte Mae sie in London besucht, und sie hatte mit ihr über das Problem Helene gesprochen. Mae war erstaunt gewesen.

«Wir dachten alle, du hängst so sehr an ihr. Wenn das nicht so ist, warum wirfst du sie dann nicht hinaus? Welches Recht hat sie noch, sich in deinem Haus breitzumachen?«

«Ich kann sie nicht wegjagen.«

«Du bist nicht für sie verantwortlich.«

Natürlich war sie das nicht. Aber da sie es im Moment wohl so oder so nicht auf Guernsey ausgehalten hätte, war es nur bequem, einen Menschen zu haben, der sich um das Haus kümmerte. In gewisser Weise bedeutete Helene auch einen Aufschub in der Frage, was aus dem Besitz ihrer Eltern werden sollte. Sie konnte noch ein wenig abwarten. Sich ihrer Depression hingeben und auf Lösungen hoffen, die von der Zeit gebracht würden.

Beatrice ging praktisch nie aus, selten einmal in ein Pub, und das nur, wenn sie ein wenig Geld übrighatte, was kaum jemals vorkam. Sie zögerte, als sie Ende November von einer ihrer Schülerinnen zu einem Klavierabend eingeladen wurde.

«Ich weiß nicht, ob ich zu Ihren Freunden richtig passe«, meinte sie vorsichtig,»vielleicht sollte ich lieber nicht kommen.«

«Oh, natürlich passen Sie zu unseren Freunden!«rief Mrs. Chandler.»Beatrice, Sie sind eine so reizende Person, Sie müssen mir einfach die Freude machen!«

Mrs. Chandler war eine äußerst exaltierte Dame, und Beatrice ahnte, daß sie es als sehr interessant und ausgefallen empfand, die Französischlehrerin zu einem geselligen Beisammensein aufzufordern. Die Chandlers wohnten in einem großen, schönen Haus in Windsor, und im Grunde ging Beatrice gern dorthin, auch wenn der Weg eine halbe Weltreise für sie darstellte. Der Gedanke, sich an einem dunklen, kalten Novemberabend auf den Weg dorthin zu machen und in tiefer Nacht zurückzukehren, war nicht

verlockend, eher beängstigend, aber sie kam zu dem Schluß, daß sie keine Wahl hatte. Mrs. Chandler bezahlte sie nicht nur großzügig, sie steckte ihr auch häufig Lebensmittel zu oder schenkte ihr abgelegte Kleider. Es wäre dumm von ihr gewesen, gerade diese Frau zu kränken.

Sie fand den Abend zunächst ziemlich schrecklich. Es war ihr nichts übriggeblieben, als ein Kleid zu tragen, das Mrs. Chandler ihr gegeben hatte, denn sie fand unter ihren eigenen Sachen beim besten Willen nichts, was den Ansprüchen einer feinen Abendgesellschaft genügt hätte. Sie wußte, daß sie die ganze Zeit über unter der Vorstellung leiden würde, daß jeder der Gäste das schwarze Samtkostüm kannte, in dem sie selbst sich fremd und seltsam unecht vorkam. Es war nicht allzu schwierig, bis Windsor zu gelangen, aber es war ein ziemlich weiter Fußweg von der Busstation bis zum Haus der Chandlers. Für gewöhnlich lief sie ihn bei Tag, und er bereitete ihr nicht allzu viele Probleme, aber an diesem dunklen, kalten Winterabend dehnte sich die Zeit zu einer Ewigkeit aus. Der Nebel befeuchtete ihren Mantel, schien durch das fadenscheinige Gewebe bis zum Kostüm und von dort bis zur Haut vorzudringen. Sie hatte vergessen, einen Hut oder ein Kopftuch mitzunehmen, und wußte, daß ihre Haare naß am Kopf klebten. Als sie das Haus der Chandlers endlich erreichte, glühten ihre Wangen von der Kälte, und in einem Spiegel, der im Eingang hing, stellte sie fest, daß sie wie eine struppige Katze aussah. Sie war zu mager. Sie hatte das Kostüm enger genäht, aber es schlabberte immer noch an ihr.

Ich bin ungefähr so attraktiv wie eine Vogelscheuche, dachte sie resigniert.

Es waren an die sechzig Gäste versammelt. Alle schienen sie äußerst wohlhabend zu sein; ausnahmslos sah Beatrice gute

Kleidung und wertvollen Schmuck.

«Oh«, meinte eine Dame, die ein bodenlanges Spitzenkleid trug und sich zu stark parfümiert hatte,»wie apart! Das Kostüm sieht an Ihnen ganz anders aus als an Mrs. Chandler! Sie sind wesentlich schlanker, nicht?«

Sie schien keine Antwort zu erwarten, drehte sich um und begrüßte eine Bekannte, indem sie einen Entzückensschrei ausstieß und ihr um den Hals fiel. Dieses Gebaren war, wie Beatrice feststellte, absolut üblich und schick in der guten Gesellschaft. Man demonstrierte überschwengliche Gefühle, brachte damit zum Ausdruck, wie beliebt man selbst war und wie viele enge Freunde man hatte. Beatrice kam das alles ziemlich unecht vor, aber außer ihr schien das niemanden zu stören. Sie fühlte sich elend und allein. Ziellos wanderte sie mit einem Weinglas in der Hand durch die Räume, tat so, als betrachte sie angelegentlich die Bücher in den Regalen und die Bilder an den Wänden, aber in Wahrheit nahm sie nichts von all dem wahr und sehnte sich nur nach ihrer engen, häßlichen Wohnung, in der es still war und sie eine Tür hinter sich schließen und allein sein konnte.

Nach einer endlosen Zeit bat Mrs. Chandler dann zum Essen; endlos deshalb, weil Beatrice wußte, sie konnte unmöglich vor dem Essen verschwinden, und je länger sich der Beginn verzögerte, desto später würde sie sich verabschieden können. Es waren mehrere runde Tische für jeweils acht Personen gedeckt und über das ganze Erdgeschoß verteilt. Es gab keine Sitzordnung, und Beatrice versuchte vergeblich, an fünf Tischen nacheinander unterzukommen; jedesmal wurde ihr bedeutet, hier werde für andere Gäste freigehalten, und sie möge sich etwas anderes suchen. Ihr brach schon der Schweiß aus, weil sie sich als übriggebliebene

Person irgendwo mitten im Raum stehen sah, schonungslos den Blicken der anderen ausgesetzt, aber schließlich ergatterte sie einen Stuhl an einem Tisch im Wintergarten. Der Zweig eines undefinierbaren Gewächses hing ihr in die Haare, wann immer sie sich zurücklehnte, und alle anderen Gäste an diesem Tisch waren zwischen siebzig und neunzig Jahre alt. Man unterhielt sich über den Krieg. Eine Dame, die ihren Sohn in Dünkirchen verloren hatte, brach in Tränen aus, als ein Herr in glühenden Worten von der großartigen Evakuierungsaktion der Soldaten sprach. Er war schwerhörig und begriff eine ganze Weile lang nicht, daß er neben einem Menschen saß, für den Dünkirchen nicht glorreich verlaufen war. Erst als die Dame ihren Stuhl zurückstieß, aufsprang und aus dem Raum lief, ging ihm auf, daß irgend etwas nicht stimmte.

«Habe ich etwas Falsches gesagt?«erkundigte er sich pikiert.

Niemand fühlte sich bemüßigt, ihn aufzuklären. Alle kratzten auf ihren Tellern herum und taten so, als sei nichts geschehen. Beatrice fand sich resigniert damit ab, daß der Abend noch einige Zeit dauern würde, daß sie aushalten mußte und daß sie alles irgendwie überstehen würde. Sie war offensichtlich die einzige am Tisch, und womöglich auf dem ganzen Fest, die unter deutscher Besatzung gelebt hatte, und ihr war klar, daß sie mit einem Schlag eine Menge Zuhörer gehabt hätte, wenn sie begonnen hätte zu erzählen. Aber sie mochte nicht. Sie konnte nicht.

Eigentlich habe ich noch nie jemandem davon erzählt, dachte sie, auch Mrs. Chandler weiß nicht, daß ich von Guernsey komme.

Um elf Uhr waren alle Gänge serviert und verspeist, und Beatrice bat Mrs. Chandler, sie nun zu entschuldigen, da sie einen so weiten Heimweg habe. Mrs. Chandler wollte davon nichts wissen.

«Jetzt kommt der Pianist! Das ist der Höhepunkt des Abends! Auf keinen Fall lasse ich Sie jetzt schon gehen!«

Sie müssen ja auch nicht noch drei Meilen durch die Nacht wandern, bis Sie eine Bahnstation erreichen, dachte Beatrice verärgert, und dann hoffen, daß überhaupt noch ein Zug geht!

Der Pianist war ein pickliger junger Mann mit langem, dünnem Hals. Er trug einen Anzug, der ihm zu breit in den Schultern war, und knetete die Hände nervös ineinander. Der Flügel stand im Wohnzimmer. Dienstbare Geister hatten während des Essens Stuhlreihen aufgebaut, aber es war natürlich zu wenig Platz da für alle, und viele mußten in der Tür und noch draußen in der Halle stehen.

Mrs. Chandler flatterte umher und verkündete, ein» bemerkenswertes junges Talent «für den Abend engagiert zu haben. Es klang, als habe sie den jungen Mann entdeckt und gefördert, und vielleicht, dachte Beatrice, war das ja auch der Fall.

Sie war müde und frustriert. Sie hatte einen Sitzplatz ergattert, und es war ihr egal, daß sie zu den Jüngsten gehörte und daß möglicherweise ein paar von den alten Knackern, die an ihrem Tisch gesessen hatten, stehen mußten. Sie wollte nicht höflich sein. Sie wollte, daß die Zeit vorüberging.

Der junge Pianist spielte einige Stücke von Chopin, wechselte dann zu Händel. Soweit Beatrice das beurteilen konnte, machte er seine Sache tatsächlich sehr gut. Seine Nervosität verlor sich, er wirkte konzentriert und souverän. Vielleicht entdeckt ihn jemand, dachte Beatrice, ich würde mich freuen für ihn.

Sie bemühte sich, nicht allzu genau auf die Melodien zu lauschen. Die Musik wühlte sie auf, machte ihr ihre

Einsamkeit bewußt, erinnerte sie an die Traurigkeit, die in ihr lag. Unter all den vielen Menschen fühlte sie sich weit mehr allein, als würde sie tatsächlich ganz für sich in ihrem Zimmer kauern. Niemand von ihnen hatte etwas mir ihr zu tun. Niemand kannte sie, niemand teilte etwas aus ihrem Leben. Sie stand draußen, und nicht eine Tür öffnete sich ihr.

Mrs. Chandler verkündete eine kurze Pause, doch fast niemand erhob sich, da jeder Angst hatte, seinen Sitzplatz nicht wiederzubekommen. Auch Beatrice blieb, wo sie war; sie hatte sowieso keine Ahnung, wohin sie gehen sollte.

Der Herr, der neben ihr saß und den sie bislang kaum zur Kenntnis genommen hatte, neigte sich zu ihr.

«Ein begabter junger Künstler«, sagte er,»finden Sie nicht auch?«

Sie nickte.»Er ist zweifellos sehr talentiert. Damit bekommt dieser Abend immerhin noch einen Sinn.«

Er lächelte.»Sie sind nicht gern hier?«

«Ich weiß nicht genau«, sagte Beatrice. Sie war Mrs. Chandlers Gast und wollte nicht über die Party herziehen.»Ich fürchte, ich passe nicht so recht hierher«, meinte sie schließlich,»ich kenne hier niemanden. Mrs. Chandler hat es gut gemeint, mich einzuladen, aber…«

Sie ließ den Satz unvollendet. Vielleicht verstand ihr Nachbar dennoch, was sie meinte.

Er streckte ihr die Hand hin.»Ich heiße Frederic Shaye. Nun kennen Sie jemanden hier. Sie kennen mich.«

Beatrice mußte lachen.»Damit bin ich immerhin schon ein ganzes Stück weiter. Ich heiße Beatrice Stewart. Ich unterrichte Mrs. Chandler in Französisch.«

«Sie sind Lehrerin?«

«Eigentlich nicht. Ich habe Romanistik und Anglistik studiert, und im Moment finde ich keine Arbeit. Ich halte mich mit Unterrichten über Wasser.«

Es schien ihr, als lese sie Bewunderung in seinen Augen.»Romanistik? Lieben Sie Frankreich?«

«Ich bin nie dort gewesen«, bekannte Beatrice,»aber ich liebe die Sprache. Und die Literatur. Ich habe sehr nahe bei Frankreich gelebt, auf Guernsey. Die Menschen dort sind halbe Franzosen.«

«Wie faszinierend«, sagte Frederic Shaye. Sein Ausdruck verriet ehrliches Interesse.»Guernsey. Haben Sie die deutsche Besatzung erlebt?«

«Ja«, sagte Beatrice,»das habe ich. Aber ich möchte nicht davon sprechen.«

Er nickte.»Natürlich. Entschuldigen Sie, wenn ich an eine Wunde gerührt habe.«

«Das konnten Sie nicht wissen.«

«Trotzdem. Ich entschuldige mich.«

«Sie müssen sich wirklich nicht entschuldigen.«

Frederic Shaye lachte.»Das kann jetzt ewig hin- und hergehen.«

Auch Beatrice lachte.»Dann lassen wir es einfach«, sagte sie.

Frederic Shaye war mit dem Auto da, und er ließ sich nicht davon abbringen, Beatrice nach Hause zu fahren, nachdem er gehört hatte, welch umständlichen Weg sie nehmen mußte.

«Das kommt nicht in Frage«, sagte er,»es ist nach Mitternacht. Wahrscheinlich geht überhaupt kein Bus mehr. Ich lasse Sie auf keinen Fall jetzt allein da hinaus in die Dunkelheit.«

Sie standen in der Eingangshalle und warteten, daß das Hausmädchen ihre Mäntel brachte.

«Wie schade, daß Sie schon fort müssen!«rief Mrs. Chandler.»Wollen Sie nicht noch ein wenig bleiben? Es wird doch jetzt erst richtig gemütlich!«

«Nein, vielen Dank«, sagten Beatrice und Frederic wie aus einem Mund. Sie hatten einander inzwischen gestanden, daß sie sich fortsehnten von dem Fest, und Frederic hatte gemeint, nachdem Mitternacht überschritten sei, könne es keineswegs zu früh sein.

Er steuerte den Wagen selbst. Der Regen war in Schneegraupel übergegangen, aber wenigstens hatte sich der Nebel gelichtet, und man konnte einigermaßen deutlich die Straße sehen. Frederic fuhr konzentriert, ein wenig angespannt.

«Es tut mir leid«, entschuldigte er sich,»meine Augen funktionieren nicht so gut bei Nacht.«

Sie wußte inzwischen, daß er Professor in Cambridge war und als Schüler mit Mrs. Chandler in demselben Internat gewesen war; daher hatte er an diesem Abend zu den Gästen gezählt. Er lebte für ein Jahr in London, da er für eine Forschungsreihe in einem Labor von der Universität freigestellt war. Frederic Shaye war Biologe. Beatrice fand es faszinierend, ihn von seiner Arbeit erzählen zu hören. Während sie im Auto saßen und durch die dunklen Straßen von London fuhren, musterte sie ihn einige Male verstohlen von der Seite. Er hatte dunkle Haare und sehr helle Augen, und sein schmales Gesicht war von einer fast durchscheinenden Blässe. Sie mochte sein klares Profil und die Feinheit seiner Hände, die das Steuer ein wenig zu fest umklammert hielten. Zum erstenmal seit langer Zeit — zum erstenmal seit Julien — nahm sie einen Mann wieder als Mann wahr. Das erstaunte und verunsicherte sie ein wenig. Es paßte nicht zu ihrer Stimmung von Trauer und Bitterkeit. Sie wußte nicht, ob sie wollte, daß der Panzer, der sie umschloß, aufgebrochen wurde.

Als sie endlich bei ihr daheim ankamen, blieb der Schnee schon als dünne Schicht am Straßenrand und auf den Hausdächern liegen. Frederic Shaye begleitete Beatrice noch bis zur Tür.

«Ich fände es schön, wenn wir uns einmal wiedersehen könnten«, sagte er zum Abschied.»Kann man Sie anrufen?«

«Ich habe leider kein Telefon«, antwortete Beatrice.

Frederic überlegte.»Wann sind Sie immer bei den Chandlers? Dann werde ich versuchen, Sie dort zu erreichen.«

Sie nannte ihm die Termine, und er sagte, er werde sie auf jeden Fall im Kopf behalten. Doch als sie sich verabschiedeten, dachte Beatrice: Nein. Eigentlich möchte ich ihn nicht mehr sehen. Eigentlich möchte ich mich nicht in irgend etwas verstricken.

Frederic Shaye ließ nicht locker. Er rief jedesmal an, wenn Beatrice bei den Chandlers war, und versuchte, sie zum Essen einzuladen. Beatrice sagte ebensooft, daß sie keine Zeit habe, blockte auch jeden anderen Versuch von seiner Seite, sie zu treffen, sofort ab. Mrs. Chandler bekam natürlich mit, daß sich etwas zwischen den beiden anzubahnen begann, und bestürmte Beatrice, endlich ihre Zurückhaltung aufzugeben.

«Frederic ist ein reizender Mann«, versicherte sie immer wieder.»Natürlich erscheint er auf den ersten Blick ein wenig weltfremd und in sich gekehrt, aber er ist interessant und intelligent. Sie sollten sich mit ihm treffen.«

«Ich habe anderes zu tun«, sagte Beatrice abweisend.

Mrs. Chandler gab einen prustenden Laut von sich.»Also, so viel haben Sie nun nicht zu tun, liebes Kind. Das ist doch gerade das Problem. Sie finden keine Anstellung. Die Zeit, die Ihnen dadurch geschenkt wird, könnten Sie guten Gewissens auf Frederic Shaye verwenden.«

Sie ließ den Dezember verstreichen. Am frühen Morgen des 24. Dezember fuhr sie mit dem Schiff nach Guernsey, widerwillig, denn eigentlich wäre sie lieber in London geblieben und hätte sich in ihrer Wohnung und in ihrer Trostlosigkeit verbarrikadiert. Aber Helene hatte sie mit Briefen bestürmt, sie müsse kommen, und zähneknirschend hatte sie schließlich beschlossen, diesem Drängen nachzugeben. Sie hatte Helene fast ein Jahr nicht gesehen und fürchtete, sie würde irgendwann bei ihr vor der Tür auftauchen, wenn sie einen Besuch noch länger vor sich herschob.

Es herrschten Sturm und Kälte, und die Überfahrt war eine einzige Katastrophe. Unter Deck wurde es Beatrice so schlecht, daß sie meinte, sterben zu müssen, und so kletterte sie schließlich trotz des furchtbaren Wetters hinauf, kreideweiß im Gesicht, eine Hand auf den Magen gepreßt. Sie hatte gehofft, die frische Luft werde ihr guttun, aber am Ende hing sie über der Reling und übergab sich, und als sie in St. Peter Port ankam, hatte sie butterweiche Knie und zitterte wie Espenlaub. Helene erwartete sie mit dem Auto. Sie sah elegant und ausgeruht aus und hatte gerötete Wangen von der Kälte.

«Gott, was ist denn mit dir los?«waren ihre ersten Worte.»Du bist weiß wie eine Wand und viel zu dünn! London scheint dir überhaupt nicht zu bekommen. Du ißt und schläfst offensichtlich zu wenig!«

«Unsinn«, sagte Beatrice ärgerlich. Sie fühlte sich entsetzlich elend, aber ganz langsam fing ihr Magen an, sich zu beruhigen.»Ich bin seekrank geworden, das ist alles. So eine Überfahrt im Winter hat ihren ganz eigenen Reiz, das kannst du mir glauben!«

«Ich kann nichts dafür, daß es so gestürmt hat«, jammerte Helene, eingeschüchtert und bereits etwas weinerlich,»ich kann doch…«

«Du hast mich mehr oder weniger gezwungen, hierherzukommen«, sagte Beatrice und verfrachtete ihren Koffer mit wütendem Schwung auf den Rücksitz des Autos.»Ich wäre sonst in London geblieben und hätte keine Probleme gehabt.«

Helenes Augen glänzten feucht.»Hättest du es wirklich fertiggebracht, Weihnachten ohne mich zu feiern?«

«Helene, bitte, mach nicht ein solches Theater um Weihnachten«, sagte Beatrice genervt.»Es spielt wirklich keine Rolle, wo und mit wem man diesen Tag verbringt. Ich verstehe nicht, wie man sich so verrückt machen kann!«

«Und ich verstehe nicht, wie man so kaltherzig sein kann«, sagte Helene tief verletzt.»Ich denke, wir beide sind eine Familie. Wir haben doch nur noch einander!«

Beatrice fühlte sich zu kraftlos, das Gespräch noch länger durchzuhalten. Sie sank auf den Beifahrersitz und wünschte ihren Magen im stillen zum Teufel.

«Fahr mich nach Hause«, bat sie müde,»mir ist alles gleichgültig. Ich brauche ein warmes Bett und etwas Schlaf. Und irgendwann einen Schnaps.«

Sie schlief bis zum Abend, dann stand sie auf, erfrischt und erholt, und trank mit Helene vor dem Kamin im Eßzimmer einen Portwein. Sie machte noch einen kurzen Spaziergang zum Meer, fand ihren Weg im Licht des Mondes und im Schein der Sterne. Der Sturm war verstummt, die Luft, kalt und trocken, roch nach Winter, nach schlafendem Heidekraut und nach eisigem Wasser. Beatrice atmete tief und ruhig. Nach der Londoner Hektik, nach dem dortigen Gestank und dem viel zu engen Zusammenleben der Menschen erschien Beatrice die Insel wie eine Zuflucht, paradiesisch und ruhig. Sie wußte, daß es klüger gewesen wäre, hierzubleiben, sich eine Arbeit zu suchen und den Frieden zu genießen, den Guernsey ihr gab. Aber sie begriff auch, daß es nicht funktionieren konnte. Der alte Schmerz fiel sie an wie ein tollwütiger Hund, als sie über das tief und schwarz brausende Meer schaute und mit den Augen der Lichtstraße folgte, die der Mond auf das Wasser malte. Die Geschehnisse der Vergangenheit berührten sie noch immer zu tief. Sie würde Guernsey nicht ertragen können.

Am nächsten Morgen feierten sie und Helene Bescherung. Der Tag war so kalt und windstill wie der vorige. Die beiden Frauen kauerten vor dem Kamin, eingekuschelt in ihre Bademäntel, und packten die Geschenke aus. Genaugenommen packte nur Beatrice aus, denn Helene war sehr rasch fertig. Beatrice hatte ihr ein Buch mitgebracht und dieses, wie sie nun schuldbewußt dachte, nicht einmal besonders liebevoll ausgesucht. Sie hatte in letzter Sekunde vor ihrer Abreise überhaupt erst daran gedacht, daß sie schließlich ein Weihnachtsgeschenk brauchte, und irgendein Buch aus dem Regal einer Buchhandlung gezogen. Es ging darin um die wilden Tiere Kenias, und dafür hatte sich Helene noch nie interessiert. Sie schaute sich den Titel ein wenig überrascht an, faßte sich jedoch schnell und bedankte sich überschwenglich.»Das ist ja wundervoll! Vielen Dank, Beatrice. Ich werde es lesen und Dinge erfahren, von denen ich noch gar nichts wußte!«

Beatrice ihrerseits brauchte eine halbe Stunde, um all die Päckchen auszupacken, die Helene für sie aufgestapelt hatte. Es war eindeutig, daß Helene sich wirklich Gedanken gemacht und alles zusammengetragen hatte, wovon sie glaubte, sie könne Beatrice damit erfreuen. Nylonstrümpfe, Fellhandschuhe, französische Gesichtscreme, eine silberne Armbanduhr, ein Mohairschal, Perlenohrringe und vieles mehr. Zuletzt packte Beatrice einen schweren, silbernen Bilderrahmen aus, in dem sie eine Schwarzweiß-Fotografie von Helene fand. Sie trug auf dem Foto die langen, blonden Haare offen und lächelte süß wie ein Engel. Beatrice fand das Bild allzu zuckrig und war sicher, daß sie es nie in ihrer Wohnung aufstellen würde, aber sie tat so, als gefiele es ihr.

Helene strahlte.»Damit du mich immer bei dir hast! Ach, Beatrice«, sie umarmte sie mit einem tiefen Seufzer,»du ahnst nicht, wie sehr du mir fehlst, wenn du in London bist! Du ahnst nicht, wie gern ich dich hierhätte! Wir haben doch nur noch einander!«

Und ich kriege Platzangst in deiner Nähe, dachte Beatrice und wand sich aus der Umarmung. Warum kann Helene nicht endlich einen netten Mann kennenlernen, ihn heiraten und mich einfach vergessen?

Um die Mittagszeit rief Frederic Shaye an und wünschte ihr eine frohe Weihnacht. Er geriet zunächst an Helene, die darauf mit konsternierter Miene im Wohnzimmer erschien und erklärte, ein Herr sei am Apparat, der Beatrice zu sprechen wünsche.

«Welcher Herr?«fragte Beatrice zerstreut. Sie las gerade in

dem Buch über die wilden Tiere Kenias.

«Cayne oder Shayne oder so ähnlich«, sagte Helene,»wer ist er denn? Ein Bekannter aus London?«

«Ein Biologieprofessor, den ich auf einer Party kennengelernt habe«, sagte Beatrice und stand auf.»Mein Gott, woher hat er denn nun schon wieder meine Nummer?«

Wie sich herausstellte, hatte Frederic über Mrs. Chandler herausgefunden, daß Beatrice nach Guernsey gereist war, und er hatte — ebenfalls über diese bereitwillige Freundin — Helenes Nachnamen in Erfahrung gebracht. Mit Hilfe der Auskunft war es ihm gelungen, an die Telefonnummer zu kommen.

«Der Name ihrer Bekannten klingt deutsch«, sagte er,»und ihr Akzent auch. Lebt sie seit der Besatzungszeit dort?«

«Ja«, sagte Beatrice knapp. Sie sah, daß Helene in der Wohnzimmertür stand und die Ohren spitzte.

«Nun«, fuhr Frederic fort,»ich hätte mich natürlich gefreut, Sie während der Weihnachtszeit einmal in London sehen zu können, aber ich verstehe natürlich, daß Sie nach Hause wollten.«

«Sind Sie in London geblieben? Nicht nach Cambridge gefahren?«

«Was sollte ich in Cambridge?«fragte Frederic.»Dort erwartet mich niemand. Und hier in London kann ich in aller Ruhe arbeiten.«

«Kommen Sie gut voran?«

«Ja, eigentlich schon.«

Er machte eine kurze Pause.»Es hat mir leid getan, daß wir uns nicht mehr treffen konnten«, sagte er dann,»und ich habe das Gefühl, Ihnen irgendwie lästig zu sein. Mir täte das sehr leid, und ich… nun, ich würde es selbstverständlich

respektieren, wenn Sie mir sagten, ich solle Sie nicht mehr anrufen.«

«Sie sind mir nicht lästig«, sagte Beatrice. Im stillen verwünschte sie Helene, die beharrlich stehen blieb, wo sie war, und nicht daran dachte, sich auch nur ein Wort des Gesprächs entgehen zu lassen.»Ich bin nur… Ich weiß nicht, ob ich irgendeine Verstrickung möchte.«

«Es wäre keine Verstrickung, wenn wir zusammen essen gingen.«

«Natürlich nicht.«

Sie kam sich plötzlich albern vor.»Natürlich wäre es das nicht.«

«Dürfte ich Sie also Anfang Januar in London einladen?«

Sie kapitulierte.»In Ordnung. Anfang Januar. Wir telefonieren?«

«Ich rufe Sie über die Chandlers an. Leben Sie wohl, Beatrice. Und… frohe Weihnachten!«

Er legte auf.

«Frohe Weihnachten«, sagte Beatrice in die tote Leitung hinein. Sofort schoß Helene heran.

«Wer war das denn nun?«

«Habe ich doch gesagt. Ich habe ihn bei einer Party kennengelernt.«

«Und warum telefoniert er hinter dir her?«

Beatrice kam sich vor wie in einem Verhör.»Keine Ahnung. Er möchte mich wiedersehen.«

«Wieso sagst du, du hast keine Ahnung, wenn du genau weißt, er will dich wiedersehen?«fragte Helene quengelig.»Glaubst du, er ist verliebt in dich?«

«Helene, wir haben uns an einem einzigen Abend gesehen. Ich weiß es wirklich nicht. Warum interessiert dich das überhaupt?«

«Erlaube mal!«

Helene sah aus wie die fleischgewordene Entrüstung.»Wieso sollte mich das nicht interessieren? Mich interessiert alles, was dich betrifft. Wir gehören zusammen.«

«Aber deswegen muß es mir doch möglich sein, andere Menschen kennenzulernen. Ich lebe in London, du lebst auf Guernsey. Wir können einander nicht vereinnahmen.«

«Es ist ja auch ein Fehler, daß du in London lebst«, sagte Helene anklagend.»Dadurch ist jede von uns allein. Wozu soll das gut sein?«

«Du redest, als wären wir verheiratet. Du kannst doch unmöglich davon ausgehen, daß wir unser Leben zusammen verbringen!«

Um Helenes Mund zuckte es.

Gott, dachte Beatrice, gleich wird sie anfangen zu heulen!

«Du weißt genau, wie allein ich bin, seit Erich tot ist«, sagte Helene.»Die Menschen auf der Insel schneiden mich, und…«

«Das stimmt nicht. Sie sind ausgesprochen nett zu dir. Vor allem, wenn man bedenkt, wer du bist und wer Erich war!«

«Aber ich…«

«Bitte, Helene, laß uns jetzt nicht diskutieren«, sagte Beatrice genervt. Sie konnte es nicht ertragen, wenn Helene kugelrunde Kinderaugen bekam und in diesem weinerlichen Tonfall sprach.»Frederic Shaye sollte kein Grund sein, uns gegenseitig das Weihnachtsfest zu verderben. Ich mache einen Spaziergang zum Meer. Ich bin zum Kaffeetrinken wieder zurück.«

«Kann ich mitkommen?«fragte Helene.

«Nein«, antwortete Beatrice.

Die frische, kalte Luft tat ihr gut. Sie atmete tief und bewußt und schüttelte das Gefühl der Beklemmung ab, das Helene in ihr ausgelöst hatte. Helene würde es nicht gelingen, Einfluß auf ihr Leben zu nehmen. Sie dachte an Frederics warme Stimme. Später rekonstruierte sie, daß es während dieses Spaziergangs an dem dämmrigen Dezembernachmittag gewesen war, als sie ihren inneren Widerstand gegen Frederic aufgegeben hatte. Noch viel später überlegte sie, ob Trotz gegen Helene dabei eine Rolle gespielt hatte.

Am Nachmittag, als es schon wieder dunkel geworden war, erschien Mae, brachte ein paar Geschenke mit und präsentierte einen jungen, etwas schüchternen Mann, den sie als ihren Verlobten vorstellte. Er hieß Marcus Ashworth und arbeitete als Bankangestellter in St. Peter Port. Mae sah sehr hübsch und strahlend aus, hatte rote Wangen und leuchtende Augen. Als sie für ein paar Momente mit Beatrice allein in der Küche war, die Kuchenteller auffüllte und frischen Kaffee kochte, sagte sie:»Marcus und ich werden heiraten. Ich bin schwanger.«

«Mae, das freut mich für dich«, sagte Beatrice, denn Mae wirkte so glücklich, daß ihre Schwangerschaft kaum ungewollt sein konnte.»Werdet ihr hier auf Guernsey bleiben?«

«Ich denke schon«, sagte Mae,»ja, sicher sogar. Marcus ist hier aufgewachsen, ich bin es auch. Wir könnten uns beide gar nicht vorstellen, woanders zu leben.«

Sie musterte Beatrice neugierig.

«Wie du es nur so lange aushalten kannst, in London zu sein! Hast du nicht vor, irgendwann zurückzukehren?«

«Ich weiß nicht«, sagte Beatrice langsam,»ich bin nicht sicher, ob ich zurückkehren kann.«

«Hast du hier kein Heimatgefühl?«

«Doch. Aber ich habe auch ungute Erinnerungen.«

Sie betrachtete die zufriedene, rotwangige Mae, deren Augen so zuversichtlich dreinblickten. In ihnen waren weder Schrecken noch Schmerzen zu lesen. Mae hatte die Besatzungszeit im Haus ihrer Eltern verlebt, hatte nie das Gefühl von Geborgenheit und Wärme verloren. Beatrice hatte ihre fünf wichtigsten Entwicklungsjahre im Haus eines NaziOffiziers verbringen müssen, sie war von ihren Eltern von einem Moment zum anderen getrennt worden, sie hatte eine schmerzhafte und gefährliche Beziehung unterhalten zu einem Mann, der in einem Versteck leben mußte und darüber fast den Verstand verlor, sie hatte ihre Familie nicht mehr lebend vorgefunden. Wenn sie Mae ansah, so hatte sie das Gefühl, daß Lichtjahre sie beide voneinander trennten.

«Mal sehen, was kommt«, meinte sie unbestimmt.

«Gibt es einen Mann für dich drüben in England?«fragte Mae neugierig.»Ich kann mir nicht denken, daß du Jahre an der Uni hast verbringen können, ohne dich in eine Romanze zu verstricken!«

«Ich hatte anderes zu tun an der Uni.«

«O Gott, du wirst aber doch nicht rund um die Uhr nur studiert haben! Nach allem, was ich gehört habe, geht es recht lustig zu an den Universitäten.«

«Ich hatte jedenfalls keine lustige Zeit«, sagte Beatrice etwas kurz angebunden.»Ich hatte einfach eine Menge zu tun.«

«Und jetzt?«

Mae ließ nicht locker.»Gibt es jetzt jemanden?«

«Wie sollte es das? Ich unterrichte verwöhnte Damen aus besseren Kreisen. Wie sollte ich da einen Mann kennenlernen?«

«Es gibt immer eine Möglichkeit. Aber gut, da ist entweder niemand, oder du möchtest nicht darüber sprechen. Aber wenn du völlig frei bist, könntest du doch auch nach Guernsey zurückkehren. Wir würden uns alle sehr freuen.«

«Wer würde sich freuen?«fragte Beatrice zurück, und es schwang Aggression in ihrer Stimme.»Du hast deine junge, glückliche Familie. Glaub nicht, daß du noch viel Zeit findest für irgendeinen anderen Menschen, wenn erst dein Baby da ist!«

«In erster Linie würde Helene sich freuen«, sagte Mae.»Ich glaube, daß sie sich sehr allein fühlt.«

«Weint sie sich bei dir aus?«

«Sie jammert viel«, antwortete Mae vorsichtig«, aber sie ist wirklich einsam. Sie hat zu niemandem auf der Insel richtig Kontakt. Am meisten noch zu mir, ein bißchen zu meinen Eltern. Es ist tragisch, so jung Witwe zu werden.«

«Sie hat jede Möglichkeit zu einem Neuanfang. Nur vielleicht nicht hier. Sie müßte nach Deutschland zurückkehren. Ich kann nicht verstehen, warum sie das nicht tut.«

«Man würde mit Fingern auf sie zeigen. Von den Deutschen ist ja gleich nach Kriegsende angeblich niemand mehr für Hitler gewesen. Wenn man sie reden hört, ist jeder im Widerstand gewesen«, sagte Mae höhnisch.»Komisch, daß sich Hitler dann so lange halten konnte, nicht? Aber Helene, als Witwe eines SS-Offiziers, hätte Schwierigkeiten, so zu tun, als sei sie von blütenreiner Unschuld. Ich verstehe, daß sie nicht wieder nach Deutschland möchte.«

«Aber hier ist es auch nicht viel besser, wie du ja sagst. Mae, was auch immer sie tut, es ist ihr Leben. Sie muß allein entscheiden. Und sie kann sich nicht an mich klammern. Sie ist nicht meine Mutter oder meine Schwester. Ich bin nicht für sie verantwortlich.«

«Sie baut aber auf dich«, meinte Mae.

Beatrice nahm mit einer heftigen Bewegung den Kessel mit dem kochenden Wasser vom Herd, schüttete es durch den Porzellanfilter in die Kaffeekanne, so hastig, daß die Hälfte über den Tisch lief.

«Aber ich nicht auf sie!«sagte sie.

Helene vergoß ein Meer von Tränen, als sich Beatrice Anfang Januar auf den Weg zurück nach London machte. Es war ein Tag voller Regen und Sturm, Guernsey zeigte sich von seiner trübsten Seite. Beatrice konnte verstehen, daß Helene nicht gern zurückblieb, vergraben in dem einsamen Haus, in dem ihre tägliche Hauptbeschäftigung aus dem Lösen von Kreuzworträtseln bestand und darin, auf ein paar Unterhaltungssendungen im Radio zu warten.

«Ich weiß«, sagte sie schluchzend, als sie beide im Hafen standen und Beatrice unruhig von einem Fuß auf den anderen trat, weil sie längst auf dem Schiff hätte sein müssen,»du gehst nur zurück wegen dieses Mannes. Er hat dir völlig den Kopf verdreht. Ich komme überhaupt nicht mehr vor in deinem Leben.«

«So ein Unsinn!«erwiderte Beatrice ärgerlich.»Ich gehe zurück, weil ich in London ein paar Aufgaben habe, die ich nicht liegen lassen kann, und weil ich hoffe, dort irgendwann eine richtige Arbeit zu finden. Das ist alles.«

«Aber er hat so oft angerufen!«heulte Helene. Der Wind zerzauste ihre nassen Haare. Sie war zu dünn angezogen für den kalten Tag und zitterte. Sie sah kindlich und verletzbar aus.»Du kannst mir nicht erzählen, daß das nichts zu bedeuten hat!«

Frederic Shaye hatte noch zweimal angerufen: zum Jahreswechsel und kurz danach, um zu fragen, wann sie Southampton erreichen würde und ob er sie abholen dürfe. Beatrice hatte in sachlichem Tonfall mit ihm gesprochen, aber sie hatte gemerkt, daß Helene intensiv zuhörte und offensichtlich mit feinem Instinkt bemerkte, daß hier zwei Menschen miteinander redeten, die sich nicht ganz gleichgültig waren. Sie war in höchster Alarmbereitschaft. Beatrice hatte den Eindruck, kaum noch einen Atemzug tun zu können, der nicht von Helene untersucht und ausgewertet wurde.

«Mr. Shaye hat nicht oft angerufen«, sagte sie genervt.»Hör zu, Helene, ich muß jetzt aufs Schiff. Es gibt keinen Grund zu weinen. Mae kommt heute abend zum Essen zu dir; ich habe schon mit ihr gesprochen. Also wirst du nicht allein sein.«

«Aber das ist doch nicht das gleiche! Sie wird mir gegenübersitzen, und ich werde an all die Abende denken, an denen du dort gesessen hast. Ich werde sterbenstraurig sein und…«

«Helene, jetzt reiß dich bitte zusammen!«sagte Beatrice scharf.»Ich kann nicht mehr für dich tun, als Mae zu dir zu schicken und sie im übrigen zu bitten, sich auch ansonsten um dich zu kümmern. Was sie ohnehin auf rührende Weise tut. Du hast es besser als manch anderer. Außerdem bist du noch nicht einmal Mitte Dreißig. Du hast jede Möglichkeit, dir einen neuen Freundeskreis aufzubauen.«

«Wie denn? Ich bin wegen Erich…«

Beatrice kannte die Litanei, die nun kam, sie hatte sie hundertmal gehört. Sie umarmte Helene, drückte ihr einen hastigen Kuß auf die Wange und sagte:»Ich muß weg. Laß den Kopf nicht hängen. Leb wohl!«

Sie ergriff ihren Koffer und lief die Gangway hinauf. Sie vermied es, noch einmal zurückzublicken. Weder Helenes vorwurfsvolle Augen noch ihr schmerzerfülltes Gesicht wollte sie mit nach England nehmen.

Als sie wieder in London war, sahen sie und Frederic einander häufig. Sie gingen essen, besuchten Theatervorstellungen und Kinovorführungen, und an einem Wochenende Anfang Februar nahm er sie mit nach Cambridge, um ihr die Welt zu zeigen, in der er daheim war. Es waren zwei klirrend kalte Wintertage, eine dünne Schneeschicht lag über den Wiesen und auf den Dächern der Collegegebäude, und dort, wo im Westen der Fluß Cam mit dem Horizont verschmolz, stand eine leuchtendrote Sonne an einem pastellfarbenen, eisigen Himmel. Beatrice hatte ein kleines Hotelzimmer nahe dem Trinity College, aber bevor sie zum Abendessen in ein Pub gingen, zeigte Frederic ihr noch sein Haus, das am Stadtrand lag. Eine lange Kette aneinandergebauter Häuser zog sich eine leicht bergansteigende Straße entlang, eines davon, das sich ziemlich genau in der Mitte befand, gehörte Frederic. Es war aus weißen Steinen gemauert, hatte blauumrandete Sprossenfenster und eine leuchtendblaue Eingangstür. Im Vorgarten standen hohe Büsche, deren Zweige nun kahl waren, und Frederic sagte, es seien Jasminbüsche, und im Sommer dufte die ganze Straße nach ihnen. Auch in dem kleinen Gärtchen auf der rückwärtigen Seite war Jasmin gepflanzt, außerdem standen dort zwei Apfelbäume und ein steinerner Brunnen, der aussah wie ein Taufbecken.

«Ein Geschenk meiner Studenten«, erklärte Frederic,»im Sommer ist Wasser darin, und ich lasse Rosenblüten auf der Oberfläche schwimmen.«

Das Haus war klein und gemütlich eingerichtet; in fast allen Zimmern zogen sich Bücherregale an den Wänden entlang und bis zur Decke empor. Es herrschte eine klamme, feuchte Kälte.

«Tut mir leid, daß es so ungemütlich ist«, entschuldigte sich Frederic,»ich war seit Monaten nicht hier.«

«Frederic, so ein Haus kann nicht einen ganzen Winter über unbeheizt leerstehen«, sagte Beatrice.»Es geht Ihnen alles hier drinnen kaputt. Die Bücher, die Möbel… Haben Sie keine Haushälterin, die aufpaßt?«

«Nein. Niemanden.«

«Wir sollten die Heizung aufdrehen. Und Feuer im Kamin machen. Wenigstens für dieses Wochenende sollte das Haus einmal richtig geheizt werden.«

Schließlich entschieden sie, an diesem Abend überhaupt nicht mehr wegzugehen. Frederic machte sich auf den Weg, irgendwo etwas Eßbares aufzutreiben, und Beatrice setzte die kleinen Gasöfen in allen Zimmern in Gang, holte Holz aus dem Keller und machte ein großes Feuer im Kamin des Wohnzimmers. Für eine Weile hielt sie die Fenster geöffnet, um den modrigen Geruch zu vertreiben, der zwischen den Wänden hing. Später wurde es kuschelig warm. Beatrice kauerte sich vor den Kamin auf den Boden, sah in die Flammen und stellte fest, daß sich Ruhe und Leichtigkeit in ihr ausbreiteten.

Frederic kehrte mit geröteten Wangen, einen Schwall Kälte mit sich bringend, zurück. Er hatte in einem Pub Essen geholt, eine Schüssel mit Irish Stew,»Fish and Chips«, verschiedene Sorten Brot und Käse und eine Flasche Wein. Sie verzehrten die Mahlzeit vor dem Kamin. Sie redeten nicht, lauschten auf das Knistern der Flammen und auf das Knacken der Holzfußböden, die unter der Wärme wieder aufzuleben begannen.

«Es ist ein sehr schönes Gefühl«, sagte Frederic irgendwann,»hier mit Ihnen zu sitzen, Beatrice. Ich habe unzählig viele Abende hier allein verbracht. Es sind Abende, an die ich mich nicht gern erinnere.«

Er neigte sich zu ihr hinüber, küßte sie auf beide Wangen. Nach einem Augenblick des zögernden Verharrens küßte er sie auf den Mund.

Sie hörte auf zu atmen und merkte, wie sich ihr ganzer Körper verspannte. Alles in ihr war Abwehr. Sie erinnerte sich, wie weich und hingebungsvoll ihr Körper geworden war, wenn Julien sie geküßt hatte, wie sie sich nach seinen Berührungen gesehnt hatte. Sie wartete, daß sich diese vertrauten Gefühle wieder einstellten, aber etwas in ihr schien nicht reagieren zu wollen.

Was, zum Teufel, ist denn los mit mir? dachte sie unglücklich.

«Ich glaube, ich gehe jetzt besser in mein Hotel«, sagte sie und stand auf. Sie fegte ein paar Brotkrumen von ihrem Kleid und strich sich ordentlich den Rock glatt, so als könne sie damit auch Ordnung und Ruhe in ihre Gedanken bringen.

Auch Frederic war aufgestanden.»Es tut mir leid, wenn ich gerade zudringlich war. Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen oder dich gar vertreiben.«

«Nein, nein. Ich habe es nicht so empfunden.«

Sie wußte, daß sie steif wie ein Stock da stand und eine Förmlichkeit ausstrahlten, die überall hingepaßt hätte, nur nicht in diesen Februarabend vor dem Kamin.»Gute Nacht, Frederic. Laß die Öfen an bis morgen.«

«Ich bringe dich natürlich zum Hotel«, sagte Frederic und half ihr in den Mantel.»Vielleicht wäre es doch besser gewesen, in ein Pub zu gehen. Es war keine gute Idee, den Abend bei mir zu verbringen.«

«Es ging nicht anders. Dein Haus war kurz vorm Verschimmeln.«

«Stimmt. Für die Zukunft muß ich das anders organisieren.«

Sie gingen durch die dunklen, stillen Straßen. Die Kälte stach wie mit Nadeln. Als sie vor dem Hotel anlangten, sagte Frederic hastig:»Es ist wahrscheinlich der falsche Moment, dir das zu sagen, Beatrice, aber es hat auch keinen Sinn, es ständig unausgesprochen mit mir herumzutragen. Ich liebe dich. Ich weiß nicht, ob du dieses Gefühl erwiderst oder dir vorstellen kannst, es irgendwann zu erwidern. Aber du solltest wissen, wie es um mich steht.«

Er zog ihre Hand an seine Lippen, küßte sie und verschwand in der Nacht, überstürzt fast, so als habe er Angst, sie könne etwas erwidern, was jede Hoffnung für immer zunichte machen würde. Sie stand noch eine Weile auf der Straße, wartete, daß die Verkrampfung in ihrem Körper sich löste. Ganz allmählich begann das Blut wieder normal zu fließen, hatte ihr Herzschlag seinen alten Rhythmus gefunden.

Vielleicht würde die Verhärtung aufweichen. Irgendwann, irgendwie. Vielleicht würde das Leben zurückkehren, würde wieder leicht sein. Vielleicht würde sie wieder lieben können.

Zurück in London, sahen sie einander fast jeden Tag. Beatrice begann sich an seine Nähe und Gesellschaft zu gewöhnen. Er erfuhr immer mehr von ihr, lernte ihr ganzes Leben mit all seinen Schicksalsschlägen kennen und schien etwas zu begreifen von dem inneren Schmerz, der nicht abklingen wollte. Irgendwann erzählte sie auch von Julien. Er hörte ihr zu und stellte dann die unvermeidliche Frage:»Liebst du ihn noch?«

Sie überlegte.»Nein. Nein, ich glaube nicht.«

«Du glaubst?«

«Ich bin immer noch ein wenig verletzt. Auch wegen der Rücksichtslosigkeit, mit der er mein Leben in Gefahr gebracht hat. Wegen der Art, wie er sang- und klanglos verschwunden ist, kaum daß der Krieg vorbei war. Diese Geschichten tun mir immer noch weh.«

Er sah sie nachdenklich an.»Wenn es noch weh tut, dann ist er noch in dir.«

Sie zuckte mit den Schultern, erwiderte nichts darauf. Sie saßen in einer Kneipe in Soho, tranken dunkles Bier und lauschten der rauchigen Stimme einer schwarzen Sängerin, die die wenigen Gäste mühsam zu unterhalten suchte. Draußen wehte zum erstenmal ein lauerer Wind, der einen Anflug von frischer Erde in sich trug.

«Möchtest du mit zu mir kommen?«fragte Beatrice.

«Jetzt?«

«Ja.«

Sie nickte.»Jetzt.«

Das weiche Gefühl war da. Es war plötzlich gekommen, so unvermittelt wie der Frühlingshauch draußen. Der Panzer löste sich. Sie konnte seine Hand nehmen, als sie durch die Straßen gingen. Sie konnte tief atmen. Sie konnte sich auf ihn freuen und auf die Nacht, die vor ihnen lag.

Sie schloß die Haustür auf. Hielt immer noch seine Hand und lief mit ihm die Treppen hinauf.

Vor der Wohnungstür auf einem Koffer saß Helene und blickte ihr vorwurfsvoll entgegen.

«Ich sitze hier seit Stunden«, sagte sie.»Wo um alles in der Welt warst du?«

Sie sprach deutsch und schloß damit Frederic sofort von der Unterhaltung aus.

«Was machst du denn hier?«fragte Beatrice zurück. Demonstrativ sprach sie englisch.

Helene erhob sich von ihrem Koffer. Sie sah übermüdet und blaß aus und eher wie vierzig als Mitte Dreißig.

«Ich bin gekommen, um nach dir zu sehen.«

Unsinnigerweise fiel sie wiederum in ihre Muttersprache, so daß die Unterhaltung nun zweisprachig geführt wurde und Frederic nur die Hälfte mitbekommen konnte.»Du hast seit fünf Wochen nicht mehr geschrieben. An Weihnachten und Silvester warst du schon mehr als komisch. Ich dachte mir, irgend etwas stimmt nicht. Und daher beschloß ich, nach dir zu sehen.«

«Helene, das ist Frederic Shaye«, sagte Beatrice.»Frederic, das ist Helene Feldmann.«

Aus ihren Erzählungen wußte Frederic, wer Helene war. Er reichte ihr die Hand.

«Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Mrs. Feldmann. Beatrice hat oft von Ihnen berichtet.«

Helene ergriff seine Hand, aber es schien sie einige Überwindung zu kosten. Sie brachte kein Lächeln zustande.

«Guten Tag«, sagte sie mühsam.

Beatrice hatte inzwischen die Wohnungstür aufgeschlossen.»Wie bist du ins Haus gekommen?«

«Eine Frau hat mich hereingelassen, als ich erklärte, ich wolle zu dir.«

Helene schauderte.»Da unten wäre ich sonst wahrscheinlich erfroren. Oder überfallen worden. Es ist ja eine schreckliche Gegend, in der du lebst. Wie hältst du das aus?«

«Ich bin durchaus zufrieden.«

Beatrice wußte, daß sie blaß war vor Wut. Helene hätte nicht ungünstiger, nicht unwillkommener auftauchen können.

«Du hättest mir mitteilen müssen, daß du kommst«, sagte sie.

«Wie denn?«

Helene klang schon wieder weinerlich.»Es ist ja unmöglich, mit dir Kontakt aufzunehmen.«

«Du weißt ja, daß ich über Mrs. Chandler erreichbar bin. Du hättest die Nummer herausfinden und dich mit mir in Verbindung setzen können. Aber du hast es wohlweislich nicht getan, weil du genau wußtest, daß ich dich nicht hier haben will.«

Helene stand nun in dem kleinen Zimmer und schien sich an ihrer Handtasche festzuhalten.»Freust du dich denn überhaupt nicht, mich zu sehen?«

«Vielleicht ist dir auch schon aufgefallen, daß es nicht unbedingt der passendste Moment war«, gab Beatrice unfreundlich zurück.

Frederic hatte inzwischen Helenes Gepäck in die Wohnung gebracht und in einer Ecke abgestellt.

«Ich gehe jetzt besser«, sagte er leise zu Beatrice.»Ihr beiden solltet nun allein sein.«

Sie wollte ihn bitten zu bleiben, aber voller Wut begriff sie, daß es in Helenes Anwesenheit keinen Sinn hatte. Sie konnten nicht einmal höfliche Konversation betreiben, soviel Spannung lag in der Luft.

«Sehen wir uns morgen?«fragte sie unglücklich.

«Du hast jetzt erst einmal Besuch, um den du dich kümmern mußt«, sagte Frederic.»Aber wir telefonieren, ja?«

Er gab ihr einen Kuß. Aus den Augenwinkeln bekam Beatrice mit, daß Helene starr wurde und die Lippen zu einem dünnen Strich aufeinanderpreßte. Verdammte, eifersüchtige Krähe, dachte sie entnervt.

Helene wurde ein wenig lockerer, nachdem Frederic verschwunden war, aber sie konnte ihr Erschrecken über die Verhältnisse, in denen Beatrice lebte, noch immer nicht verbergen.

«Du hast nur dieses eine Zimmer, nicht?«fragte sie, nachdem sie sich ausführlich umgesehen, jedoch keine weiterführende Tür entdeckt hatte.»Wo ist denn das Bad?«

«Es gibt eine Toilette für alle Mieter dieser Etage und der darüber«, erklärte Beatrice,»sie liegt eine halbe Treppe weiter oben.«

«Oh… wie viele Menschen teilen sich diese… Toilette?«

«Siebzehn oder achtzehn Personen. Ich weiß nicht genau.«

Helene sah so grau und müde aus, daß sie beinahe Mitleid in Beatrice erregte.

«Hast du etwas zu essen für mich? Und wo kann ich schlafen?«

«Das Sofa ist eigentlich mein Bett, aber du kannst es haben.«

Nun mußte sie auch noch ihre Schlafstätte abtreten.»Ich werde mir eine Decke auf den Boden legen.«

«Und…«

«Was wolltest du noch? Ach so, etwas zu essen. Schau mal in dem Schrank dort nach.«

Sie wies in die Ecke, in der ihre elektrische Kochplatte stand und sich in einem Schränkchen ihr Geschirr und ihre Vorräte befanden. Helene kramte in den Fächern herum, förderte etwas Brot, ein Marmeladenglas und ein paar Kekse zutage.

«Du hast ja fast nichts da. Kein Wunder, daß du so dünn bist!«

«Ich esse nicht oft zu Hause.«

«Du ißt mit diesem… diesem Frederic Shaye?«

«Ich esse oft zwischen meinen Unterrichtsstunden in irgendwelchen Pubs. Und abends häufig mit Frederic, ja.«

Es sah aus, als bliebe Helene der Keks im Hals stecken, den sie gerade in den Mund geschoben hatte.»Ich verstehe nicht, warum du…«

«Ja?«

«Warum du so lebst. In diesem… diesem Loch von einer Wohnung. Wir haben ein wunderschönes Haus auf Guernsey. Du…«

«Entschuldige, Helene, wenn ich das so deutlich sage: Ich habe ein Haus auf Guernsey, nicht wir. Es gehört mir. Du darfst darin wohnen, das ist alles. Und ich entscheide allein, wo ich wohne. Und im Moment möchte ich in London wohnen und nicht auf Guernsey. Kannst du das irgendwann einmal begreifen?«

Um Helenes Mundwinkel zuckte es.»Du willst hier wohnen wegen dieses Mannes. Weil du dich in ihn verliebt hast.«

Beatrice antwortete nicht. Sie war, verdammt noch mal, Helene keinerlei Rechenschaft schuldig.

«Wie er dich angesehen hat!«fuhr Helene fort.»Und wie du dreingeschaut hast. Ich habe sofort gemerkt, daß eine Menge Gefühl zwischen euch ist. Und wieso bringst du ihn abends mit in deine Wohnung? Das ist eine außerordentlich unschickliche Zeit, und ich finde, du solltest…«

Beatrice registrierte ein feines Pochen in ihren Schläfen. Ihre Nerven vibrierten.

Ein für allemal, dachte sie, ein für allemal, weise sie in ihre Schranken. Es wird sonst niemals aufhören. Sie läßt nicht locker.

«Helene, du kannst heute nacht selbstverständlich hier schlafen«, sagte sie,»aber ich möchte dich bitten, morgen früh wieder abzureisen. Ich habe dich nicht eingeladen, mich zu besuchen. Ich möchte dich nicht hier haben.«

«Wie bitte?«fragte Helene ungläubig.

«Ich möchte dich nicht hier haben«, wiederholte Beatrice,»ich bitte dich, morgen zu gehen.«

«Das ist nicht dein Ernst!«

«Mein voller Ernst. Ich lebe mein eigenes Leben. Seit Jahren schon. Du mußt endlich anfangen, deines zu leben. Du bist noch jung genug dazu.«

Die Blässe in Helenes Gesicht vertiefte sich. Sie sah beinahe grau aus, eingefallen und müde.

«Nach allem, was war«, sagte sie,»nach allem, was wir gemeinsam durchgestanden haben, kann uns nichts mehr jemals trennen.«

Beatrice ließ sich auf das Sofa fallen. Helenes Worte klangen für sie wie eine Drohung.

«O Gott«, sagte sie leise,»du wirst mich nie, niemals loslassen.«

«Wir gehören zusammen«, entgegnete Helene weich,»warum sträubst du dich dagegen?«

«Weil ich mein eigenes Leben möchte.«

«Unsere Leben sind verbunden.«

«Du reist morgen ab.«

«Ich bleibe«, sagte Helene.

Helene blieb fast vier Wochen in London, und Beatrice begriff am dritten Tag, daß sie nicht zum Gehen zu bewegen sein würde. Sie konnte ihr den Koffer vor die Tür stellen, aber Helene würde sich darauf setzen und sich nicht einen Fußbreit entfernen. Sie war wie eine Zecke — schlimmer als eine Zecke, dachte Beatrice. Zecken, die sich in der Haut eines Hundes festsaugten, konnte man so lange hin und her drehen, bis sie aufgaben und sich mit zappelnden Beinen von ihrem Opfer lösen mußten. Helene konnte man drehen, soviel man wollte, sie würde deshalb noch lange nicht loslassen. In gewisser Weise war sie äußerst beweglich. Sie hielt an einem Ziel fest, und auf dem Weg dorthin konnte man mit ihr anstellen, was man wollte, sie rollte sich ein, ließ sich drehen und treten und hierhin und dorthin schubsen, und am Ende war sie dort, wo sie von Anfang an hatte sein wollen, richtete sich auf, war unverletzt und hatte erreicht, was sie sich vorgenommen hatte.

Beatrice gab den Kampf nach einigen Tagen auf und überließ Helene das Feld, zog sich zurück, mied die Wohnung, so oft sie nur konnte. Sie wußte, daß dies die einzige Strategie war, mit der Helene zumindest zu zermürben war. Entzug bedeutete, daß Helenes Taktik nicht länger funktionierte. Er bewirkte allerdings nicht, daß Helene von ihrem Vorhaben abließ.

Beatrice verbrachte die meisten Nächte mit Frederic, und damit begann ihrer beider Beziehung gewissermaßen offiziell, aber es war nicht das gleiche, als hätten sie ihre erste Liebesnacht an jenem frühlingsnahen Februarabend erlebt. Beatrice kam nun nicht aus einer romantischen Stimmung heraus zu ihm, sondern weil sie nicht in ihre Wohnung zurückwollte. Sie war gereizt und zornig und schlief mit Frederic aus einem gewissen Trotz heraus. Beatrice wußte nicht, ob dieser Anfang ihrer Liebe etwas mit der Art zu tun hatte, wie alles schließlich endete, aber es war Helene zumindest geglückt, eine Situation zu schaffen, in der eine Störung mitschwang, jene erste, leise Störung zwischen zwei Liebenden, die sich glätten, die sich aber auch zu ungeahnter Stärke entwickeln konnte.

Helene nutzte die Tage in London, um durch die Geschäfte zu streifen und die Dinge zu kaufen, von denen sie glaubte, daß Beatrice sie dringend brauchte. Sie erwarb einen Teppich, einen Sessel, Bilder, Küchengeräte, Topfblumen, eine Stehlampe mit seidenem Schirm und eine Menge Kleinigkeiten, die das häßliche Loch, in dem Beatrice lebte, tatsächlich schöner und wohnlicher aussehen ließen. Als Beatrice zwischendurch einmal nach Hause kam, prallte sie fast zurück vor Erstaunen.

«Was hast du denn hier gemacht?«fragte sie schließlich, nachdem sie sich wieder gefaßt hatte.

Helene, die sicherlich wütend und verletzt war, weil Beatrice sich tagelang nicht hatte blicken lassen, lächelte sanft.»Ich dachte mir, ich mache es dir ein bißchen schön. Ich weiß ja, daß du nicht viel Geld hast, aber ein wenig liebevoller hättest du es dir hier schon gestalten können. Gefallen dir die Dinge, die ich gekauft habe?«

Helene hatte Geschmack, zweifellos. Teppiche, Kissen und Bilder waren wunderbar aufeinander abgestimmt.

«Woher hast du das Geld?«fragte Beatrice statt einer Antwort zurück. Helene bekam eine sehr bescheidene Rente für ihren toten Ehemann überwiesen, und es hatte lange gedauert, bis das zerstörte Nachkriegsdeutschland überhaupt die entsprechenden Zahlungen hatte leisten und dann auch noch nach Guernsey übertragen können.

«Ich lebe sparsam«, sagte Helene,»da kann ich es mir schon erlauben, dir hin und wieder eine Freude zu machen.«

Beatrice ließ sich in den neuen Sessel sinken und streckte erschöpft die Beine von sich.»Du machst mir damit keine Freude, Helene. Du belastest mich. Du drängst dich in mein Leben. Du versuchst, mir deinen Geschmack aufzuzwingen. Du willst nicht begreifen, daß wir zwei getrennte Wesen sind.«

«Ich möchte, daß du dich wohl fühlst«, meinte Helene sanft.

«Und ich möchte einfach mein Leben leben«, sagte Beatrice erschöpft.

Ende März fragte Frederic sie, ob sie ihn heiraten wolle. Sie hatte gewußt, daß diese Frage kommen würde, hatte allerdings später damit gerechnet. Sie erklärte sich einverstanden, ging dann nach Hause in ihre Wohnung und teilte Helene, die mit einem Handtuch um die frisch gewaschenen Haare auf dem Sofa saß, mit, daß sie und Frederic in Kürze Hochzeit feiern würden. Helenes Gesichtszüge entgleisten fast.

«Ihr wollt heiraten?«fragte sie schließlich.

«Ja. Wir werden zusammen in Cambridge leben.«

«Ich werde nicht zu dieser Hochzeit kommen«, sagte Helene mit versteinerter Miene.

«Ich wollte dich eigentlich auch nicht einladen«, erwiderte Beatrice.

Am nächsten Morgen packte Helene ihren Koffer und ließ sich von einem Taxi zum Bahnhof bringen. Sie hatte in den verbleibenden Stunden nicht ein einziges Wort mehr mit Beatrice gesprochen, sagte auch nichts zum Abschied. Sie war so gekränkt, wie es ein Mensch nur sein konnte. Beatrice hoffte, sie würde für eine lange Zeit Ruhe vor ihr haben.

Frederic war betroffen, als er davon erfuhr. Er hatte viel über Helene erfahren, nicht jedoch bis zum letzten begriffen, was zwischen ihr und Beatrice vor sich ging und wie ihrer beider Verhältnis beschaffen war.

«Ich glaube, ich habe euch endgültig auseinandergebracht«, meinte er unglücklich.

«Da war nichts auseinanderzubringen«, entgegnete Beatrice kurz,»wir waren ja nie zusammen.«

Sie und Frederic heirateten im Juni. Helene hatte nichts von sich hören lassen, aber Beatrice schickte ihr eine Anzeige und teilte ihr die neue Adresse mit. Von Helene kam eine kühle, schriftliche Gratulation. Mae, die zur Hochzeit angereist war und stolz ihr neugeborenes Baby präsentierte, berichtete, Helene lebe abgeschieden von jedem sozialen Leben auf Guernsey.

«Sie hat sich völlig in sich zurückgezogen. Ich besuche sie manchmal, aber nicht einmal darauf scheint sie wirklich Wert zu legen. Meine Güte, sie ist doch noch immer eine junge Frau! Aber sie führt das Dasein einer alten Witwe!«

«Sie wird sich schon wieder besinnen«, sagte Beatrice nur.

Frederics Forschungsarbeit in London war Ende August abgeschlossen. Anfang September gingen sie nach Cambridge zurück. Das kleine Häuschen und die Mitglieder der Colleges nahmen sie freundlich und warm auf. Beatrice fand eine Stelle in der Bibliothek des Trinity College. Befreundete Professoren luden sie zu geselligen Abenden ein, und sie revanchierten sich für diese Einladungen. Es war eine in sich abgeschlossene, überschaubare und friedliche Welt, in der das Leben ruhig und geordnet dahinplätscherte. Wenn es Intrigen gab, so bekam Beatrice davon nichts mit. Sie merkte, wie sie Teil der Ruhe und Beschaulichkeit wurde, die sie umgaben. Sie saugte Frederics gleichmäßige Wärme in sich auf und fühlte, wie sie diese Wärme selbst wieder abzugeben begann. Die Wunden fingen an, sich zu schließen.


Sommer 1956

Im Sommer 1956 fuhr sie nach Guernsey, um das Haus ihrer Eltern zu verkaufen.

Der Entschluß war in der ersten Jahreshälfte in ihr gereift. Ihr Leben war in Cambridge, und Guernsey gehörte einer Vergangenheit an, die sich in immer dichter werdendem Nebel verlor. Frederic hatte sie ein paarmal gedrängt, doch dorthin zu fahren, ein paar Sommerwochen in dem warmen Klima zu verbringen und die Menschen zu treffen, die sie aus ihrer Kindheit kannte.

«Wenn du möchtest, komme ich mit«, sagte er,»wenn du es nicht möchtest, lasse ich dich allein gehen.«

Aber sie lehnte jedesmal ab, und irgendwann sagte Frederic:»Ich habe das Gefühl, du möchtest überhaupt nie wieder in deine Heimat.«

Sie saßen in einem kleinen Pub mitten in der Innenstadt von Cambridge und tranken einen Wein; und immer wieder wurden sie in ihrem Gespräch unterbrochen von Studenten oder Professoren, die vorbeikamen und grüßten. Beatrice fühlte sich geborgen und sicher in dieser Atmosphäre, und sie betrachtete Frederics ruhiges, kluges Gesicht mit tiefer Wärme.

Liebe? Sie hätte nicht sicher zu sagen gewußt, ob sie ihn liebte, aber, dachte sie, da ist ein Gefühl, das der Liebe zumindest sehr ähnlich ist.

«Ich denke, ich werde wirklich nie wieder dorthin gehen«, sagte sie auf seine Bemerkung hin,»ich bin so froh, daß ich vieles von dem, was geschehen ist, vergessen konnte. Ich möchte keine der alten Wunden wieder aufreißen.«

«Ist es in deinem Sinne, daß Helene Feldmann in deinem Haus sitzt bis an ihr Lebensende?«fragte Frederic vorsichtig.»Ich meine, du könntest ziemlich viel Geld erlösen, wenn du das Haus vermieten oder verkaufen würdest. Nicht, daß es mir darauf ankäme«, fügte er eilig hinzu,»wir haben alles, was wir brauchen. Aber du solltest überlegen, ob du nicht vielleicht ausgenutzt wirst.«

Sie traf die Entscheidung innerhalb weniger Sekunden.»Ich möchte das Haus verkaufen«, sagte sie,»ja, am liebsten möchte ich es verkaufen.«

«Dann solltest du das tun«, meinte Frederic.

In den folgenden Monaten dachte Beatrice nicht über ihre Entscheidung nach, denn sie stand fest, sondern darüber, was aus Helene werden sollte und wie sie es ihr am besten beibringen könnte. Am liebsten hätte sie einen Makler mit dem Verkauf beauftragt und ansonsten ihren Kopf in den Sand gesteckt, aber Frederic sagte, das sei nicht angemessen.

«Erstens nicht Helene gegenüber«, meinte er,»und zum zweiten wäre es auch in deinem Sinne nicht richtig. Du mußt dich um die Möbel kümmern, um die Erinnerungsstücke, um all das, was dir gehört. Es würde dir irgendwann leid tun, wenn alles an fremde Menschen ginge.«

«Das heißt «sagte Beatrice,»ich muß nach Guernsey fahren.«

«Ich denke, das solltest du tun«, bestätigte Frederic.»Soll ich mitkommen?«

Sie überlegte kurz, schüttelte dann den Kopf.»Nein. Da muß ich allein durch.«

Erst unmittelbar bevor sie in Portsmouth das Schiff bestieg, gab sie ein Telegramm an Helene auf, in dem sie ihr Kommen ankündigte. Sie wußte, daß Helene beunruhigt sein würde, und sie wollte sie nicht aufgeregt brabbelnd am Telefon haben und ihr die Dinge erklären müssen, ehe sie einander nicht gegenüberstanden.

Sie erreichte St. Peter Port an einem hellen Juniabend; die Luft war weich und warm, und es wehte nur ein schwacher Wind, der nach Meerwasser und Sommer roch. Die Häuser am Hügel lagen noch im Licht der Sonne. Der Turm der Parish Church stand, wie er immer da gestanden hatte, und schien einen stummen, liebevollen Gruß herüberzusenden. Die Möwen erhoben sich kreischend von den Mauern am Hafen hinauf in den Himmel. Beatrice bemerkte das eigentümliche, schmerzliche Ziehen in ihrer Brust, das sie schon lange nicht mehr gespürt hatte, das ihr aber noch allzu vertraut war.

Ich hätte nicht herkommen sollen, dachte sie ahnungsvoll.

Sie opferte das Geld und ließ sich von einem Taxi bis Le

Variouf bringen. Wie gut kannte sie die schmalen Inselstraßen, die gesäumt waren von Mauern und Hecken, wie gut die kleinen Häuser und die verwunschenen Gärten, wie gut die Farben und den Geruch, das Licht, das Glitzern der Sonne auf den Blättern. Sie kannte jede Biegung, die die Straße nahm, und die Stellen, an denen man den Atem anhielt, weil man Angst hatte, ein anderes Auto könnte entgegenkommen.

Eigenartig, dachte sie, bei meinem letzten Besuch hatte ich nicht eine so starke Wahrnehmung all dieser Dinge. Wahrscheinlich liegt es daran, daß ich weiß, ich werde nie zurückkehren.

Helene erwartete sie aufgeregt und fiebernd. Sie hatten einander vier Jahre lang nicht gesehen, und ihr letzter Abschied war voller Wut und Bitterkeit gewesen. Helene hatte auf die Heiratsanzeige mit einer kühlen schriftlichen Gratulation reagiert, und ansonsten hatten sie einander an ihren Geburtstagen und zu Weihnachten höfliche, nichtssagende Karten geschrieben.

Aber nun schien Helene entschlossen, ihre eisige, ablehnende Haltung aufzugeben. Mit feinem Instinkt mochte sie das Unheil ahnen, das auf sie zukam. Sie wußte nicht genau, was ihr drohte, aber sie begriff wohl, daß es einen tieferen Grund für Beatrices Aufkreuzen auf Guernsey geben mußte. Dieser tiefere Grund konnte nur Schlechtes bedeuten.

Beatrice mußte zugeben, daß Helene das Anwesen mit großer Zuverlässigkeit in Ordnung hielt. Der Garten sah gepflegt aus, die Hecken ringsum waren geschnitten, auch die verwaisten Gewächshäuser wurden saubergehalten. Im Haus blitzte und blinkte es. Helene stand mitten im Eßzimmer und hatte hektisch gerötete Wangen.

«Ich bin so froh, daß du da bist«, sagte sie, und ihre Stimme

klang kindlich und aufgeregt.

Sie sah sehr hübsch aus, stellte Beatrice fest, viel hübscher als früher. Es stand ihr gut, älter zu werden. Sie hatte sich die Haare abschneiden lassen, und ihr Gesicht war schmaler geworden. In ihren Augen stand zu lesen, daß sie oft einsam war und daß sie viel weinte. Der Ausdruck von Leid, der feine Spuren in ihre Züge gegraben hatte, hatte das Liebliche, Niedliche vertrieben, das sie früher als so kindlich hatte erscheinen lassen. Nun wirkte sie ernster und reifer und weit mehr wie eine Frau, die ernstgenommen werden konnte.

«Ich finde es schön, daß wir einander endlich wiedersehen«, sagte Beatrice. Das war nicht wirklich aufrichtig, aber es schien ihr in diesem Moment dennoch angebracht, es zu sagen.

Helenes Blick glitt über ihre Gestalt.»Du siehst gut aus. Das Kostüm, das du anhast, ist hübsch. Die Ehe mit diesem… Frederic scheint dir zu bekommen.«

«Ich bin sehr glücklich in Cambridge«, sagte Beatrice. Sie wußte, daß es ungeschickt war, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, aber der Moment schien ihr günstig für eine Überleitung.

«Das ist auch der Grund für mein Kommen«, sagte sie hastig. Sie wollte es hinter sich bringen, möglichst rasch.»Ich werde wohl für immer in Cambridge bleiben. Es ist jetzt meine Heimat. Daher…«

«Ja?«fragte Helene mit unüberhörbarer Panik in der Stimme.

Beatrice gab sich einen Ruck.»Ich muß entscheiden, was mit dem Anwesen hier werden soll, Helene. Du wirst verstehen, daß ich nicht… nun, was soll ich noch mit dem Haus? Ich werde nicht mehr hierherkommen. Ich werde hier nicht mehr leben. Deshalb…«

Sie sprach nicht weiter. Helenes Augen weiteten sich.

«Ja?«fragte sie erneut.

«Ich möchte das Haus verkaufen«, sagte Beatrice,»es ist Ballast für mich. Von dem Geld könnten Frederic und ich uns etwas Größeres in Cambridge kaufen. Oder ein Cottage irgendwo in Nordengland erwerben, für die Ferien. Irgend etwas wird uns einfallen.«

Sie lachte unecht.»Irgend etwas fällt einem schließlich immer ein, um Geld auszugeben.«

Helene war aschfahl geworden.»Aber ich lebe in diesem Haus«, brachte sie mühsam hervor.

«Helene, im Grunde ist das hier doch viel zu groß für dich allein«, sagte Beatrice unbehaglich.»Und es ist zu einsam. Du lebst hier abgeschieden von aller Welt. Du kannst dich nicht so vergraben. Du bist jung, du bist hübsch. Du kannst wieder heiraten…«

«Du setzt mich also vor die Tür! Nach allem, was wir gemeinsam…«

«Wenn du absolut nicht nach Deutschland zurückwillst, dann nimm dir eine Wohnung hier auf der Insel. In St. Peter Port. Dort sind Menschen. Dort findest du Freunde. Hier«, sie machte eine Geste mit beiden Händen, die Haus, Garten und die Wiesen ringsum umschrieb,»hier wirst du doch depressiv!«

«Depressiv? Dies ist der einzige Ort, an dem ich leben kann. Der Ort, an dem ich mit Erich…«

Sie sprach den Satz nicht zu Ende.

«…mit Erich glücklich war?«vollendete Beatrice.»Oh, Helene!«

Sie starrten einander an. Beatrice erwartete, daß Helene in Tränen ausbrechen würde, denn für gewöhnlich reagierte sie auf Krisen mit heftigem Weinen. Diesmal jedoch drang kein Schluchzen aus ihrem Mund.

«Wann soll das alles geschehen?«fragte sie statt dessen mit überraschender Sachlichkeit.

«Du sollst genügend Zeit haben, eine andere Unterkunft für dich zu finden«, erwiderte Beatrice,»niemand will dich vor die Tür setzen. Ich möchte alles, was geschieht, mit dir abstimmen.«

Helene warf ihr einen Blick zu, in dem Sarkasmus und Anzüglichkeit standen.

«Wirklich?«fragte sie.»Bist du sicher, daß du das willst?«

«Natürlich. Ich bin nicht deine Feindin, Helene. Ich muß nur sehen, daß ich… nun, mein Leben muß eben auch irgendwie funktionieren.«

«Wenn du meinst, nur so glücklich werden zu können…«

«Wie meinst du das, ›nur so‹?«

«So, wie du es versuchst. In Cambridge. Mit diesem Frederic. Indem du Guernsey den Rücken kehrst und alle Brücken hinter dir abbrichst.«

«Ich weiß nicht, wie ich in Zukunft glücklich werden kann«, sagte Beatrice.»Ich weiß nur, daß ich im Moment glücklich bin. Glücklicher jedenfalls als früher«, verbesserte sie sich,»ruhiger. Die alten Erinnerungen tun nicht mehr so weh. Ich möchte sie für alle Zeiten begraben, und deshalb… deshalb muß ich mich lösen von Guernsey. Ich kann es nicht mehr mit mir herumtragen.«

«Offensichtlich mußt du dich auch von mir lösen«, meinte Helene,»jedenfalls arbeitest du sehr gründlich an einer endgültigen Trennung zwischen uns.«

«Ich arbeite an einem eigenen Leben, das jede von uns für sich führen soll«, sagte Beatrice,»und dazwischen kann es natürlich Berührungspunkte…«

«O Gott, Berührungspunkte!«rief Helene. Ihre Stimme klang schrill.»Berührungspunkte! Denkst du, das ist es, was ich je von dir wollte?«

«Was wolltest du denn von mir?«fragte Beatrice.

«Das ist doch jetzt gleichgültig«, sagte Helene und verließ das Zimmer.

Am nächsten Tag suchte Beatrice eine Maklerin in St. Peter Port auf, um sie mit dem Verkauf von Haus und Grundstück zu beauftragen. Die Maklerin machte ihr Hoffnung, daß die Angelegenheit recht rasch über die Bühne würde gehen können.

«Es ist nicht die beste Zeit«, sagte sie,»aber dennoch sehe ich eine Menge Möglichkeiten. Natürlich muß ich mir das Anwesen noch einmal ansehen, aber so, wie Sie es beschrieben haben, dürfte es nicht schwer sein, eine ganze Reihe von Interessenten zu finden.«

Beatrice fühlte sich erleichtert nach dem Gespräch. Sie hatte den ersten Schritt getan, und es war, als habe sie einen Weg eingeschlagen, von dem es kein Zurück gab. Das Gefühl, von nun an keine Wahl mehr zu haben, empfand sie als erleichternd, auch wenn es nicht wirklich stimmte, denn natürlich hätte sie noch immer umkehren können. Aber sie hatte eine Maschinerie in Gang gesetzt, die von nun an mit eigener Dynamik funktionieren würde. Es kam ihr vor, als habe sie eine große Hürde übersprungen.

In den nächsten Tagen sicherte sie die Gegenstände, die sich im Haus befanden: Möbel, Bilder, Teppiche, Geschirr. Ihr war klar, daß sie unmöglich alles würde behalten können, und sie bat Helene, sich doch zu nehmen, was sie haben wollte.

«Es wäre doch schade, wenn das alles zu Fremden käme«, sagte sie.»Helene, ich möchte wirklich, daß du bekommst, was immer dir gefällt.«

«Ich glaube nicht, daß ich etwas haben will«, sagte Helene. Sie lief mit versteinertem Gesicht umher.»Ich soll einen Neuanfang machen, nicht wahr, das willst du doch. Dann sollte ich auch nichts aus der alten Zeit hinüberretten.«

«Ich kann dich nicht zwingen, aber du könntest…«

«Du hast genug angerichtet«, sagte Helene,»jetzt laß mich allein zusehen, wie ich mit dem Scherbenhaufen fertig werde.«

«Hast du schon nach einer Wohnung Ausschau gehalten?«fragte Beatrice nach einem Moment des Schweigens, in dem sie überlegt hatte, ob sie auf den Scherbenhaufen eingehen oder ein neues, sachliches Thema anschneiden sollte. Sie hatte sich schließlich für die zweite Möglichkeit entschieden.

«Ich werde dir den Termin meines Auszugs mitteilen«, sagte Helene,»rechtzeitig, da kannst du sicher sein.«

O Gott, dachte Beatrice, wir werden Krieg haben. Ich bin mir fast sicher.

Sie telefonierte jeden Tag mit Frederic und hielt ihn auf dem laufenden über die Schritte, die sie unternahm.

«Morgen wird sich ein Ehepaar das Haus ansehen«, sagte sie zehn Tage nach ihrer Ankunft auf Guernsey zu ihm,»ich bin schon ganz aufgeregt. Vielleicht nehmen sie es ja.«

«Hab nicht zu hohe Erwartungen«, mahnte Frederic sanft.»Selten gehen die Dinge so schnell. Wenn erst der vierte oder fünfte Interessent zugreift, liegst du immer noch sehr gut in der Zeit.«

Wie stets taten ihr seine Sanftheit und sein Verständnis gut.

«Natürlich«, sagte sie,»aber ich würde alles gern schnell hinter mich bringen. Ich… es fällt mir nicht so leicht, hier zu sein.«

«Soll ich kommen?«fragte Frederic sofort.»Wenn du willst, bin ich mit dem nächsten Schiff bei dir!«

Sie mußte lächeln.»Frederic, du kannst doch deine Studenten nicht einfach allein in den Hörsälen herumsitzen lassen. Ich komme hier schon irgendwie zurecht.«

«Ich liebe dich«, sagte Frederic leise.

«Ich liebe dich auch«, erwiderte sie. Und ich freue mich, wenn ich dich wiedersehe, fügte sie in Gedanken hinzu, und später fragte sie sich manchmal, warum sie es nicht laut gesagt hatte.

Am nächsten Tag traf sie Julien wieder.

Die Begegnung kam wie ein Blitzschlag an einem heiteren Tag, aus einem blauen, wolkenlosen Himmel heraus. Auf nichts war sie weniger vorbereitet, nichts hätte sie weniger erwartet, nichts hatte sie unvermittelter und heftiger treffen können.

Am Vormittag waren die Maklerin und das angekündigte Ehepaar erschienen, um das Anwesen zu besichtigen, aber Beatrice hatte den Eindruck gewonnen, daß aus diesem Geschäft nichts würde werden können. Das Ehepaar hatte sich mäkelig und nörgelig gezeigt, der dicke Mann mit dem weißen, teigigen Gesicht war stumm herumgewandert und hatte nur hin und wieder eine angewiderte Miene aufgesetzt, während seine Frau Frage um Frage abschoß und kritisierte, was in ihren Augen nur zu kritisieren war, und darunter fiel nahezu alles, was auf ihrem Weg lag. Die Maklerin reagierte auf die deutlich zur Schau getragene Unlust ihrer Klienten mit forcierter Fröhlichkeit und einem unverdrossen gutgelaunten Geplapper, das Beatrice mehr und mehr auf die Nerven zu gehen begann. Sie haßte es, den einstigen Besitz ihrer Eltern der Kritik eines neureichen Pärchens aussetzen zu müssen. Sie konnte erkennen, daß Helene über die Abneigung der Interessenten erfreut war, und das steigerte ihre schlechte Laune noch, obwohl Helene, wie sie sich sagte, das Recht hatte, beglückt zu sein, und dies aus ihrer Sicht der Dinge heraus nur allzu verständlich war.

Als die beiden zusammen mit der quirligen Maklerin verschwunden waren, zog sich Beatrice feste Schuhe an und machte sich auf den Weg in die Petit Bôt Bay. Der Tag war windig und kühl, die Luft glasklar, und nicht ein Hauch von Nebel lag draußen über dem Wasser. Die Sonne verschwand immer wieder hinter den pfeilschnell dahinjagenden Wolken. Die Obsthecken entlang des Weges blühten nicht mehr; nun würden die Früchte zu reifen beginnen.

Wie schön wird es sein, die Brombeeren im Spätsommer zu ernten, dachte Beatrice, und erst einen Moment später fiel ihr ein, daß es für sie keinen Herbst auf der Insel mehr geben würde.

Sie sah zuerst die aparte schwarzhaarige Frau, die auf einer Bank an einem der Aussichtspunkte des Weges saß. Man hatte von dort einen großartigen Blick über das Meer und auf die steilen Felsen, die eine kleine Bucht umschlossen. Die Sonne kam gerade wieder hervor und verlieh den Farben der Landschaft ein intensives Leuchten. Das Meer glitzerte in einem tiefen, klaren Türkisblau. Die Frau auf der Bank strahlte. Sie trug knöchellange, helle Hosen und einen kurzen,dunkelgrauen Pullover. Sie schien entspannt und glücklich. Ihr pechschwarzes Haar glänzte, als sei es stundenlang mit einem samtenen Tuch poliert worden.

Wie verzückt sie lächelt, dachte Beatrice, und gleich darauf war sie nah genug herangekommen, um den Mann zu bemerken, der wenige Schritte von der Frau entfernt vor der Bank kauerte, vor dem Gesicht einen riesigen Fotoapparat, mit dem er eifrig ein Bild nach dem anderen schoß. Die Frau veränderte kaum ihre Position, aber sie spielte mit ihrem Gesicht, variierte ihr Strahlen, ließ ihr Lachen abwechselnd warm und zärtlich, kokett und verführerisch, verhalten und geheimnisvoll sein. Man konnte eine gewisse Geübtheit darin erkennen, eine lässige Entspanntheit, mit der sie sich der Situation stellte.

Der Mann war Julien.

Es waren elf Jahre seit Kriegsende vergangen, sechzehn Jahre, seitdem sie ihn zum erstenmal gesehen hatte. Insgesamt, fand sie, hatte er sich nicht besonders verändert. Er schien kaum älter geworden zu sein, wirkte kräftig und erholt. Er war stark gebräunt im Gesicht und an den Armen, hatte nicht mehr die geisterhafte Blässe aus den Jahren, die er auf dem Dachboden der Familie Wyatt verbracht hatte. Aber braungebrannt kannte sie ihn auch aus der Zeit, als er für Erich gearbeitet hatte, und daher bot auch dieser Anblick keine besondere Überraschung für sie. Es war ihr Julien.

Er erkannte sie im selben Moment wie sie ihn, ließ die Kamera sinken und starrte sie an. Die schwarzhaarige Frau bemerkte sofort, daß etwas geschehen war, und drehte sich um. Sie starrten einander alle drei an, und die Luft zwischen ihnen schien sich aufzuladen mit Spannung.

Julien richtete sich auf und rief:»Beatrice! Was tust du hier?«

Er sprach französisch, und sie antwortete ihm in derselben Sprache.

«Ich denke, es ist nicht so ungewöhnlich, daß ich hier bin. Was tust du hier?«

Er lächelte. Er hatte sich gefangen und konnte der Situation nun souverän begegnen.

«Ich wandle auf den Spuren meiner Vergangenheit. Suzanne wollte wissen, wo ich den Krieg verbracht habe.«

Die schwarzhaarige Frau lächelte.»Julien hat soviel von dieser Zeit erzählt. Schließlich sagte ich ihm, ich wolle endlich die Schauplätze seines Lebens kennenlernen.«

«Oh«, meinte Beatrice nur und kam sich gleichzeitig wegen dieses Kommentars dumm vor, aber ihr fiel nichts anderes ein.

«Möchtest du uns nicht vorstellen?«fragte Suzanne, an Julien gewandt. Sie war eindeutig Herrin der Situation.

Julien kam diesem Wunsch nach einem kaum merklichen Zögern nach.»Meine Frau Suzanne«, sagte er,»Beatrice Stewart, eine… Freundin aus jener Zeit.«

Beatrice reichte Suzanne die Hand.»Beatrice Shaye. Ich bin inzwischen verheiratet.«

Suzanne lächelte erneut. Sie verströmte einen überwältigenden Charme.»Wie schön, Sie kennenzulernen, Beatrice. Ich bin so neugierig auf alle Menschen, die in jener Zeit auf irgendeine Weise zum Leben meines Mannes gehört haben. Würden Sie mir den Gefallen tun, heute abend mit uns zu essen?«

Beatrice sah sofort, daß Julien keineswegs begeistert war von dieser Idee, aber er konnte ihr natürlich nicht widersprechen, und so nickte er mit einer forcierten Freude.»Natürlich. Das wäre schön. Falls du Zeit hast, Beatrice…«

Ein Instinkt sagte ihr, daß es besser wäre, die Einladung nicht anzunehmen. Gleichzeitig wußte sie, daß sie zu neugierig war, zu frappiert von der Zufälligkeit ihres Zusammentreffens, als daß sie hätte verzichten können. Etwas Altes, Vergrabenes, Verschüttetes flackerte auf, etwas von der Wildheit, dem Leichtsinn, der Risikobereitschaft aus vergangenen Zeiten brachte eine Saite zum Klingen, die schon sehr lange verstummt war. Sie würde es tun. Sie wollte das Klingen der Saite noch einmal spüren.

Sie erfuhr an dem Abend, daß Julien und Suzanne seit vier Jahren verheiratet waren und einander ein halbes Jahr länger kannten. Suzanne arbeitete als Fotomodell, und sie hatten einander an der Côte d'Azur getroffen, wo Julien Urlaub und Suzanne Modeaufnahmen gemacht hatte.

Julien sprach die ganze Zeit über wenig, dafür plauderte, plapperte und lachte Suzanne um so mehr.

Sie hatte ein wenig Make-up aufgelegt, ein weißes Kostüm angezogen und sah umwerfend elegant aus. Immer wieder warf sie die schwarzen, schulterlangen Haare zurück und zeigte ihr strahlend weißes Gebiß. Beatrice kam sich von Minute zu Minute bedeutungsloser vor.

Sie hatte eine halbe Ewigkeit vor dem Spiegel verbracht, hatte versucht, ihre widerspenstigen Haare zu einer Art Frisur zu bändigen, aber als sie auf dem Weg zum Restaurant an einer Schaufensterscheibe vorbeigekommen war und sich zumindest in Umrissen hatte sehen können, hatte sie frustriert bemerkt, daß ihre verhaßten Locken bereits wieder um den Kopf herumflogen, wie es ihnen gerade paßte. Und natürlich war ihr Kostüm nicht halb so elegant wie das von Suzanne, der Stoff war dicker und zu warm für den Abend, und auf einmal kam ihr auch die Farbe, ein kühles Grün, von dem Frederic behauptet hatte, es stehe ihr sehr gut, unmöglich vor.

Ich sehe aus wie ein Stück weißer Käse, dachte sie zutiefst verunsichert.

Suzanne hatte ein Fischrestaurant in St. Peter Port vorgeschlagen. Sie saßen mit Blick auf den Hafen und aßen Seezunge, aber Beatrice hätte sich auch in einer dunklen Kneipe bei einer Portion» Fisch and Chips «befinden können, es hätte keinen Unterschied gemacht. Sie registrierte kaum, was sie aß, registrierte nicht das zauberhafte Abendlicht, das über dem Hafen lag. Sie sah Julien an und fragte sich, was er dachte, wenn er sie ansah.

Sie konnte mit Suzanne nicht mithalten, und natürlich mußte auch Julien das sehen. Sie hatte nicht ihre Schönheit, ihre Eleganz, ihren Esprit.

Sie war eine graue Maus aus Cambridge.

Das Schreckliche war, daß sie es tatsächlich so empfand: eine graue Maus aus Cambridge. Wobei das Etikett Cambridge, das ihr plötzlich klebrig und wie festgewachsen vorkam, ihre Unscheinbarkeit noch vertiefte. Cambridge — das waren stille Tage, ein gleichmäßiger Ablauf der Ereignisse, ein ruhiges Aufeinanderfolgen von Geschehnissen, die niemals unerwartet eintrafen.

Cambridge, das waren lange Gespräche mit Frederic, neblige Abende vor dem Kamin, hochintelligente Diskussionen, die von den Universitäten veranstaltet wurden, Wochenenden, an denen gearbeitet wurde und man irgendwann zusammen etwas kochte oder ein Glas Wein trank und sich gegenseitig aus der Zeitung vorlas… Cambridge war Frederic. Sie dachte an seine klugen, warmen Augen. Sie schaute in die brennend schwarzen Augen Juliens und wußte, sie hätte nicht fühlen dürfen, was sie tatsächlich fühlte. Nicht diese eigenartige Spannung und nicht den Schmerz, mit dem sie auf einmal dachte, das Leben gehe an ihr vorüber.

Julien lebte in Paris und arbeitete bei einer Zeitung als politischer Redakteur. Er war viel unterwegs, lernte ungeheuer interessante Menschen kennen, führte ein hektisches, aufregendes Leben, dessen Strapazen er mit vielen Litern schwarzem Kaffee und Unmengen an Zigaretten überstand. Suzanne machte Aufnahmen in ganz Europa, lernte ebenfalls faszinierende Menschen kennen, vor allem Schauspieler, war heute in Rom, morgen in London und übermorgen in Nizza, und irgendwann zwischendurch trafen sie einander in Paris und gingen essen mit Politikern oder auf die Partys von Künstlern und Intellektuellen. Suzanne ratterte Namen herunter, die man sonst nur aus den Zeitungen kannte. Irgendwann hielt sie inne, lachte ihr bezaubernd schönes Lächeln und fragte:»Wie sieht Ihr Leben aus, Beatrice? Ich rede immer nur von mir, dabei gibt es von Ihnen sicher auch viel Spannendes zu erzählen.«

«Oh — eigentlich nicht so sehr«, sagte Beatrice.»In Cambridge geht es vergleichsweise ruhig zu. Ich arbeite in einer Universitätsbibliothek, und das ist ja nicht so furchtbar aufregend.«

«Stell dein Licht nicht unter den Scheffel«, sagte Julien. Es war das erste Mal, daß er etwas zum Gespräch beitrug, außer zur Begrüßung und als er seine Essensbestellung aufgegeben hatte.»Du tust so, als sei dein Dasein eine Aneinanderreihung ereignisloser Tage. Du warst immer ein abenteuerlustiges Mädchen.«

«Davon möchte ich mehr hören!«rief Suzanne.»Ich könnte mir vorstellen, ihr beide habt eine Menge Abenteuer

miteinander bestanden!«

«Es war Krieg«, erinnerte Julien,»die Insel war besetzt. Ich hielt mich versteckt und wäre vermutlich erschossen worden, wenn sie mich erwischt hätten. Ein gewisses Risiko im Alltag ließ sich gar nicht vermeiden.«

«Habt ihr viel Zeit miteinander verbracht?«erkundigte sich Suzanne. Die Frage klang harmlos, aber Beatrice begriff, daß Suzanne soeben eine sehr genaue Recherche betrieb.

«Beatrice besuchte mich«, sagte Julien,»ich war ein elender, unglücklicher Gefangener. Das Château d'If hätte nicht schlimmer sein können… Wir lasen Bücher zusammen, und ich brachte ihr das perfekte Französisch bei, das sie heute spricht.«

«Wir lasen Notre-Dame von Paris«, sagte Beatrice.

«Wie passend!«meinte Suzanne.»Victor Hugo. Wie alt waren Sie, Beatrice?«

«Als Julien untertauchte? Vierzehn oder fünfzehn.«

Sie wich seinem Blick aus.»Ziemlich jung jedenfalls.«

«Irgendwie klingt das alles recht romantisch«, sagte Suzanne und lachte, aber diesmal klang ihr Lachen nicht so perlend wie sonst, sondern ziemlich unecht.»Ich kann mir vorstellen, wie ihr an heißen, sonnigen Sommertagen auf einem staubigen Dachboden kauert und Victor Hugo lest, und wie Julien sehnsüchtig in den blauen Himmel starrt, während die kleine Beatrice versucht, ihm das schwere Schicksal zu erleichtern… Eine schöne Geschichte, nicht?«

«In der Erinnerung«, sagte Julien,»mag es wie eine schöne Geschichte klingen. In Wirklichkeit war es einfach nur schrecklich.«

«Das kann ich mir vorstellen«, gab Suzanne zu. Sie griff nach

ihrer Handtasche.»Ihr entschuldigt mich für einen Moment?«

Nachdem sie in Richtung Damentoilette verschwunden war, sagte Julien leise:»Du hast dich sehr verändert.«

«Es sind eine Reihe von Jahren vergangen. Ich bin älter geworden.«

Er schnippte ein paar Brotkrümel vom Tischtuch.»Natürlich. Aber das meine ich nicht. Du hattest früher immer soviel Glanz in den Augen. Du hattest einen Lebenshunger, eine Kühnheit, eine Entschlossenheit, die mich faszinierten. Wo ist das alles geblieben?«

Sie zog ihre Hände, die auf dem Tisch lagen, zurück, obwohl Julien keinerlei Anstalten gemacht hatte, sie zu ergreifen.»Dafür daß ich dich so faszinierte, hast du dich damals aber ziemlich rasch und komplikationslos von mir verabschiedet.«

Er seufzte.»Ja. Es war…«

Er suchte nach Worten, schien aber nicht recht zu wissen, was und wie er es sagen wollte.»Ich hatte nichts anderes mehr im Kopf als meine Freiheit«, meinte er schließlich.»Freiheit und Leben. Ich war ausgebrannt. Ich war verdurstet. Ich war voller Hunger. Man hatte mir Jahre meines Lebens gestohlen, und ich wollte sie zurückhaben. An nichts anderes habe ich damals gedacht.«

«Und darüber mich vergessen.«

«Ich habe dich nie vergessen«, berichtigte Julien.»Im Mai '45 nicht, als die Befreier kamen, und bis heute nicht. Aber du warst in den Hintergrund getreten. Und dann…«

«…dann verloren wir uns aus den Augen.«

«Ja. Ich war in Frankreich, und du warst hier. Nicht einmal eine wirklich große Entfernung… aber offensichtlich zu gewissen Zeiten im Leben unüberwindlich.«

«Ja. Offensichtlich. Und dann kam Suzanne.«

«Dann kam Suzanne.«

Er schwieg, schien dem Klang des Namens hinterherzulauschen.»Sie kam und war da, und irgendwie war alles, was dann geschah, völlig unausweichlich.«

«Warum wollte sie Guernsey sehen?«

«Ich hatte ihr viel davon erzählt.«

«Hattest du ihr von mir erzählt?«

«Nein. Hast du deinem Mann von mir erzählt?«

«Nein.«

Julien lächelte.»Wie ist er?«

«Wer? Mein Mann?«

«Ja. Wie ist er?«

«Er ist…«

Sie zögerte.»Er gibt mir Halt und Sicherheit. Sehr viel Wärme und Ruhe.«

Julien hatte nicht aufgehört zu lächeln.»Deine Augen haben nicht mehr diesen fiebrigen Glanz.«

«Ja. Das ist so, wenn man Wärme und Ruhe erlebt.«

Ihn schien das nicht zu überzeugen, aber er konnte nichts mehr sagen, denn in diesem Moment kehrte Suzanne an den Tisch zurück. Sie hatte sich die Lippen nachgezogen und die Haare gebürstet und sah blühend schön und fast überirdisch perfekt aus.

«Hallo, ihr beiden«, sagte sie,»habt ihr ein paar Erinnerungen ausgetauscht?«

«Wir haben ein wenig die alten Zeiten verklärt«, entgegnete Julien.»Du siehst sehr schön aus, Chérie. Möchtest du einen Kaffee?«

«Ich nehme lieber ein Glas Champagner zum Abschluß«, sagte Suzanne,»schließlich ist das heute ein besonderer Abend. Unser letzter Abend auf Guernsey.«

Sie neigte sich dichter zu Beatrice herüber.»Ich muß morgen nach Venedig. Modeaufnahmen für ein Magazin.«

«Wir hatten ausgemacht, daß ich ein paar Tage länger bleibe«, erinnerte Julien,»und wir uns Ende der Woche in Paris treffen.«

«Ich habe den Plan geändert«, entgegnete Suzanne liebenswürdig.»Du begleitest mich nach Venedig. Ich kann mich dann viel besser auf meine Arbeit konzentrieren.«

«Ich würde lieber hierbleiben«, erwiderte Julien.

«Du kommst mit«, sagte Suzanne.

Wahrscheinlich hat sie ihm eine ziemlich heftige Szene gemacht, dachte Beatrice, sie ist ganz sicher keine Frau, die es einfach hinnimmt, wenn ihre Pläne durchkreuzt werden.

Die Sonne schien ungewöhnlich heiß für Juni, und am Horizont lagen Schleier über dem Wasser. Die Felsen in der Petit Bôt Bay waren warm und glatt. Über den Büschen und Hecken entlang des Klippenpfades summten die Bienen. Eine schläfrige Stimmung schien über der ganzen Insel zu liegen. Irgendwo mochten Leben und Treiben herrschen, aber nichts davon drang bis hinunter in die Bucht. Zwei ältere Damen hatten ihre Schuhe ausgezogen und ihre Hosen hochgekrempelt und wateten am Rand der Brandung entlang. Der weiße Schaum des Meeres floß über ihre Füße und füllte die Spuren, die sie im Sand hinterließen. Sonst war kein Mensch weit und breit zu sehen.

«Es ist einfach zu heiß«, murmelte Julien,»zu heiß, um irgend etwas Vernünftiges zu tun.«

Er lag auf einem breiten Felsen, hielt den Kopf an einen anderen Felsen gelehnt und blinzelte aus halb geschlossenen Augen in die Sonne. Die Bräune in seinem Gesicht hatte sich noch vertieft. Er sah phantastisch gesund und jung aus.

«Wir sollten uns ein wenig am Wasser abkühlen«, meinte Beatrice,»wie die beiden älteren Damen dort drüben. Das ist äußerst gesund.«

Julien brummte etwas. Er war von einer geradezu aufreizenden Entspanntheit, wenn man bedachte — und Beatrice bedachte es —, daß er vermutlich jede Menge Ärger mit Suzanne hatte. Sie war notgedrungen abgereist, da sie für den Fototermin in Venedig fest gebucht war, und Julien war auf Guernsey zurückgeblieben, ohne daß sie irgend etwas dagegen hatte tun können. Beatrice nahm an, daß sie häufig anrief und ihm Vorwürfe machte, aber Julien ließ darüber nichts verlauten. Falls Suzanne drüben in Italien Amok lief, so schien ihn das ziemlich kalt zu lassen. Er war auf Guernsey und genoß das Leben; mit möglichen Problemen würde er sich später beschäftigen. Und mit einer entwaffnenden Selbstverständlichkeit hatte er sich sofort mit Beatrice verabredet, schien völlig sicher davon auszugehen, daß sie die Zeit gemeinsam verbrachten. Beatrice fand nicht einmal die Gelegenheit, dieses Ansinnen in Frage zu stellen. Sie wurde nicht gefragt, und überraschenderweise hatte sie kein Bedürfnis, gefragt zu werden. Sie hatte das starke Gefühl, daß hohe Wellen auf sie zurollten und über ihr zusammenschlagen würden, und sie fand nicht den Willen, sich dagegen zu wehren.

«Ich glaube nicht, daß ich jetzt zwischen den alten Tanten am Wasser herumspielen möchte«, murmelte Julien.»Ich glaube, mir wäre es am liebsten, die beiden würden verschwinden.«

«Warum? Sie stören doch niemanden.«

«Nein?«

Er öffnete die Augen und sah sie an.»Du findest es gut, daß sie hier sind?«

«Nein.«

Sie versuchte, die Sogkraft seiner Augen zu ignorieren.»Das heißt, ich finde es weder gut noch schlecht. Es ist mir im Grunde gleichgültig.«

«Aha.«

Er schloß die Augen wieder.»Es gab Zeiten, da waren wir ganz allein in dieser Bucht.«

«Ja, aber das ist schon ziemlich lange her.«

Sie wartete, ob er etwas darauf erwidern würde, aber er schwieg eine ganze Weile, und sie vermutete schon, er sei eingeschlafen. Aber plötzlich fragte er mit klarer, wacher Stimme:»Liebst du deinen Mann eigentlich?«

Nach einer Überraschungssekunde gab sie zurück:»Liebst du Suzanne?«

«Ich glaube schon«, meinte er nachdenklich.

Die Eifersucht war wie ein hauchfeiner Nadelstich.»Weil sie so schön ist?«

«Sie hat noch ein paar Qualitäten mehr«, bemerkte er lässig.

«Welche?«

Sie hatte das Gefühl, bereitwillig über ein Stöckchen zu springen, das er ihr hinhielt, aber sie konnte nicht davon ablassen.»Welche Qualitäten hat Suzanne, außer daß sie wundervoll aussieht, jede Menge Charme versprüht und Kleider trägt, von denen andere Frauen nur träumen können?«

Julien überlegte.»Das Leben mit ihr ist abwechslungsreich. Suzanne ist ständig unterwegs, und wenn sie nach Hause kommt, dann ist sie angefüllt mit Energie, mit Ereignissen, mit Erfolgen. Sie ist ein Motor, der ohne Unterlaß läuft. Um sie herum vibriert die Luft. Mit ihr gibt es keine Sekunde Ruhe.«

«Ist das nicht sehr anstrengend?«

«Natürlich ist es anstrengend. Zumal mein Job ja auch nicht gerade ruhig ist. Aber anders könnte ich nicht leben.«

«So wie ich könntest du nicht leben?«

«Nein. Diese Beschaulichkeit wäre nichts für mich. Ich habe immer noch nicht aufgeholt, was man mir einmal vorenthalten hat. Wahrscheinlich hole ich es nie auf. Ich laufe den Jahren hinterher, die mir gestohlen wurden, aber ich habe oft das Gefühl, ich werde mich nie zurücklehnen und sagen können: Ich habe sie wieder.«

«Aber Suzanne gibt dir zumindest zeitweise die Illusion, du könntest dein Ziel erreichen.«

Julien lächelte.»Ja. Es ist eine Illusion, natürlich. Aber viele Menschen, vielleicht sogar die meisten, hangeln sich ihr ganzes Leben lang von einer Illusion zur nächsten, und auf gewisse Weise sichern sie damit ihr Überleben. Was das Festhalten an Illusionen nach meiner Meinung legitimiert.«

Er richtete sich auf, sein Blick war nun wach und klar.»Die beiden Damen sind weg«, stellte er fest,»wir sind allein.«

Sein Tonfall, seine Stimme verursachten bei Beatrice Gänsehaut.»Wir sind beide verheiratet«, erinnerte sie.

Julien nahm ihre Hand. Seine Augen blitzten.»Oh, richtig«, sagte er,»stimmt. Hattest du den Eindruck, ich könnte das vergessen?«

Sie versuchte, ihre Sachlichkeit wiederzufinden, die kühle Gelassenheit, mit der sie kritischen Situationen zu begegnen pflegte, aber ihre üblichen Strategien schienen nicht funktionieren zu wollen. Weder ihr Kopf noch ihr Körper scherten sich um das, was sie wollte.

«Vielleicht könntest du es vergessen«, sagte sie mit belegter Stimme.

«Vielleicht könntest du es vergessen«, korrigierte Julien und küßte sie.

Sie wollte ihn wegschieben. Aber sie war nicht in der Lage dazu. Nicht einmal, als seine Hand unter den Saum ihres Kleides glitt, sich langsam an ihren Oberschenkeln hinauftastete, als sich seine Finger sanft in ihre Haut gruben, fand sie die Kraft zu widerstehen. Es war Sommer. Es war warm. Sie hörte die Brandung des Meeres und fühlte, wie ein hauchzarter Wind über ihr Gesicht fächelte. Sie war wieder jung. Sie war das Mädchen, das über den Klippenpfad lief, um den Geliebten zu treffen, und das Herzklopfen hatte vor Sehnsucht und Erwartung — und weil es so schnell rannte, weil die Deutschen auf der Insel waren und der nächtliche Ausflug tödlich enden konnte.

Sie lag zwischen den Felsen im feuchten Sand, und Julien war über ihr, und es schien kein Tag vergangen seit jener Zeit des unendlichen Herzklopfens.

«Sag, daß du dich zu Tode langweilst mit deinem Mann«, sagte Julien, ehe er in sie eindrang, und sie wollte ihn so unbedingt, so unverzichtbar, daß sie ihren Stolz vergaß und jeden Rest von Loyalität.

«Ich langweile mich zu Tode mit ihm«, flüsterte sie und wußte, sie hätte in diesem Moment alles gesagt und getan, was er forderte. In der nächsten Sekunde war er in ihr, und sie vergaß Frederic und alles, was zu ihrem Leben gehörte.

7

«Es ist nach ein Uhr«, sagte Franca leise,»und ich habe überhaupt nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist.«

Beatrice zuckte zusammen. Sie war tief versunken gewesen in ihre Erinnerungen.»Entschuldigen Sie, Franca. Ich rede ohne Pause und halte Sie vom Schlafen ab. Ich hoffe, Sie haben sich nicht gelangweilt.«

«Überhaupt nicht! Im Gegenteil. Wie ging es weiter?«

Beatrice seufzte.»Nun — es blieb nicht bei diesem… Erlebnis in der Bucht. Natürlich nicht. Wir wollten beide mehr. Wir sahen uns jeden Tag, wir liebten uns jeden Tag. Wir vergaßen alles und jeden. Helene merkte, daß etwas im Gange war, und Frederic merkte es auch. Er rief nach wie vor täglich an, und ich erzählte ihm, es gehe mit dem Verkauf des Hauses nicht voran, und ich würde länger bleiben müssen als geplant. Er sagte, ich klänge komisch und verändert, und irgend etwas könne nicht stimmen, und ich stritt das natürlich ab, erklärte immer wieder, es sei alles in Ordnung. Aber nichts war in Ordnung, überhaupt nichts. Ich hatte eine Affäre mit dem Mann, der mich bereits einmal hatte sitzen lassen, und ich wußte, er würde es wieder tun, aber ich konnte ihm nicht widerstehen.«

Beatrice bewegte unruhig ihre Hände über die Tischplatte.»Alles, worauf ich einmal so stolz gewesen war, versagte: meine Willenskraft, mein Stolz, meine Disziplin. Ich war Wachs in Juliens Händen. Und ich verspürte nicht einmal den Wunsch, es nicht zu sein. Ich lebte! Mit jeder Faser meines Körpers und meiner Seele lebte ich. Freiwillig hätte ich keinen Augenblick davon hergegeben.«

«Haben Sie über die Zukunft gesprochen? Über eine möglicherweise gemeinsame Zukunft, meine ich.«

Beatrice schüttelte den Kopf.»Irgendwie war klar, daß das nie in Erwägung stand. Julien sagte es nicht, aber es war einfach so. Wir hatten diese paar Sommerwochen. Danach würde jeder von uns in sein eigenes Leben zurückkehren, und wahrscheinlich würden wir einander nie wiedersehen.«

«Damit konnten Sie leben?«

«Damit mußte ich leben, und deshalb konnte ich es auch. Ich denke, jeder von uns holte sich in dieser Zeit etwas, das er brauchte. Wir dachten nicht voraus.«

«Was holten Sie sich?«

«Ich hatte wenig Jugend gehabt«, sagte Beatrice,»und ich war nach dem Krieg durch ein Tränental gegangen. Danach hatte ich mich in ein Leben zurückgezogen, das nicht meinem Alter entsprach. Ich fand ein Stück Leichtigkeit wieder mit Julien. Diese Leichtigkeit hat mich dann nie mehr ganz verlassen. Bis heute nicht, und dafür bin ich sowohl Julien als auch dem Schicksal sehr dankbar.«

«Und was wollte Julien?«

Beatrice zuckte mit den Schultern.»Das sollte man ohne jede Sentimentalität sehen. Julien wollte einfach sein altes Revier noch einmal in Besitz nehmen. Er wollte wissen, ob er mich noch immer haben konnte. Diese Südfranzosen sind so.«

«Merkte Suzanne etwas?«

«Selbstverständlich. Im nachhinein war mir klar, daß sie in der ersten Sekunde etwas bemerkt hatte, schon als wir uns oben auf dem Klippenpfad trafen und Julien und ich einander erkannten. Das gemeinsame Abendessen diente dem Abtasten der Lage. Nicht umsonst wollte sie dann Julien sofort mitnehmen nach Venedig. Und endgültig wurde ihr dann wohl alles klar, als er am Ende jener ersten Woche auch nicht wie vereinbart nach Paris kam, um sie zu treffen, sondern ihr am Telefon sagte, er wolle länger auf Guernsey bleiben. Sie hatte schon wieder den nächsten Job und konnte nicht herkommen und dazwischengehen. Es muß sie ziemlich umgetrieben haben zu wissen, daß wir uns hier auf der Insel vergnügten, während sie irgendwo ihre Modefotos machte und außer Gefecht gesetzt war.«

«Eine äußerst unschöne Situation für sie.«

«Natürlich. Und so hatte sich auch eine Menge Wut in ihr gesammelt, als sie endlich Ende Juli angerauscht kam und eine Szene hinlegte, die filmreif war. Ersparen Sie mir die Einzelheiten, es fielen Worte, die man kaum wiedergeben kann. Suzanne war eine temperamentvolle Frau. Und sie wurde zu einem wilden Tier, als sie ihren Besitz bedroht sah.«

«Helene«, sagte Franca,»bekam alles mit.«

Beatrice nickte.»Der Auftritt fand in unserem Haus statt. Helene stand die ganze Zeit daneben, und Mae übrigens auch, sie war gerade zu Besuch. Am Schluß hatten beide begriffen, daß ich sechs Wochen lang ein intimes Verhältnis mit einem französischen Journalisten unterhalten hatte, der zudem noch mein Liebhaber aus Kriegstagen war. Die arme Helene fiel von einem Schock in den nächsten. Ich hatte sie zweimal ausgetrickst: im Krieg, und nun schon wieder. Aber endlich hatte sie alle Informationen beisammen, die ihr bis dahin gefehlt hatten.«

«Haben Sie Julien wiedergesehen?«

«Nie mehr. Nicht einmal nach der Szene mit Suzanne, zum Abschied gewissermaßen. Wir konnten einander nicht Adieu sagen. Als ich am nächsten Tag zum Hotel kam, waren beide abgereist. Ich vermute, daß sie ihm ein Ultimatum gestellt hat: Entweder er kommt sofort mit ihr, ohne mich noch einmal zu sehen, oder sie wirft ihm ihre Ehe vor die Füße. Julien wußte, daß es kurz vor zwölf war. Und er hatte gehabt, was er wollte. Also ging er mit.«

«Und Sie…«

«Und ich war schwanger. Wie sich wenig später herausstellte. Ich ging nach Cambridge zurück, ohne das Haus verkauft zu haben, und irgendwann wurde es auch für Frederic ersichtlich, daß ein Kind unterwegs war. Natürlich dachte er, es sei seines. Er war außer sich vor Freude.«

«Und Sie?«

«Ich hatte eine schlechte Phase«, sagte Beatrice,»ich fühlte mich elend und unglücklich. Die Schwangerschaft machte mir sehr zu schaffen, mir war ständig übel, und ich fühlte mich depressiv. Ich zerrieb mich in Sehnsucht nach Julien, hatte zugleich ein entsetzlich schlechtes Gewissen gegenüber Frederic, der sich rührend um mich bemühte. Er bemerkte natürlich meine Gereiztheit, mein häufiges Weinen. Aber er schob es auf die Schwangerschaft und kam nicht auf die Idee, daß etwas anderes dahinterstecken könnte.«

«Es wäre nie aufgeflogen«, sagte Franca leise.

«Nein«, sagte Beatrice,»das wäre es nicht. Alan wäre als unser gemeinsamer Sohn geboren worden und aufgewachsen. Ich hätte mich in dem engen Leben von Cambridge erneut eingewöhnt und wahrscheinlich meinen Frieden wiedergefunden. Ich hätte es gut gehabt. Frederic und ich wären Hand in Hand alt geworden.«

«Aber dann kam Helene.«

«Ja. Buchstäblich. Sie reiste an. Anfang Januar 1957. Sie stand so überraschend vor der Tür wie seinerzeit in London, als ich Frederic zum erstenmal mitnehmen wollte in meine Wohnung. Sie hatte zwei Koffer bei sich und war tief gekränkt, weil wir sie weder zu Weihnachten noch zu Silvester eingeladen hatten. Ich war im siebten Monat, hatte einen ziemlich dicken Bauch, geschwollene Fußgelenke und watschelte wie eine Ente. Insgesamt war ich jedoch gerade dabei, mich in mir und in dem vertrauten Leben wieder zurechtzufinden. Aber man hat manchmal eigenartige Ahnungen, nicht wahr? Ich sah Helene da vor der Tür stehen und wußte, daß Schwierigkeiten auf mich zukamen.«

«Sie erzählte Frederic, was sie wußte.«

«Ich weiß nicht, ob sie schon in dieser Absicht nach Cambridge gekommen war oder ob sie einen spontanen Entschluß faßte — aber eines Tages, während ich einen Spaziergang machte, schenkte sie ihm reinen Wein ein, erzählte alles aus jenem Sommer, berichtete von Julien und mir und Suzanne und äußerte die Vermutung, das Kind, das im März zur Welt kommen sollte, sei von Julien und nicht von ihm, Frederic. Ich weiß noch, es war ein naßkalter Januartag, häßlich und trüb, und ich kehrte mit einbrechender Dunkelheit ziemlich verfroren nach Hause zurück. Ich freute mich auf ein warmes Bad, auf einen heißen Tee und einen Abend vor dem Kaminfeuer. Helene war schon zu Bett gegangen, was mich verwunderte, und Frederic verließ nicht sein Arbeitszimmer, um mich zu begrüßen, wie er es sonst immer tat. Ich ging schließlich zu ihm. Das Zimmer stank nach Whisky, was absolut ungewöhnlich war. Noch nie hatte Frederic zuviel getrunken. Er hatte verweinte Augen, war totenblaß, und ich dachte zunächst an einen Trauerfall. Irgend jemand mußte gestorben sein, jemand, der ihm sehr nahe

stand. Einer seiner Studenten? Mir rasten ein paar Möglichkeiten durch den Kopf, während ich in der Tür stand und ihn auf mich zukommen sah, und obwohl ich nicht wußte, worum es wirklich ging, fühlte ich, wie etwas Dunkles wuchs zwischen uns, zwischen mir und Frederic, daß dort eine Gefahr entstand, die ich noch nicht überblickte, die mir aber Angst einflößte.

›Frederic‹, flüsterte ich, ›was ist geschehen?‹

Er mußte eine Menge getrunken haben, aber er schwankte nicht. Wahrscheinlich hatte ihn der Schock so hart getroffen, daß ihn der Alkohol nicht wirklich betäuben konnte. Zwar sprach er stockend, aber er lallte nicht. Er war betrunken, und er war es auch nicht. Ich hatte noch nie einen Menschen in solch einem Zustand erlebt.

›Sag, daß es nicht wahr ist‹, bat er, ›sag mir um Gottes willen, daß es nicht wahr ist!‹

Ich wollte wissen, was er meinte, aber er schien es kaum formulieren und aussprechen zu können. Wäre der Geruch nach Whisky nicht gewesen, ich hätte nicht vermutet, daß er etwas getrunken hatte, ich hätte geglaubt, er sei krank. Ich drückte ihn in den Sessel neben dem kleinen Kamin und fragte, was geschehen sei. Am liebsten hätte ich mich zu seinen Füßen hingekauert und seine Knie umfaßt, aber mein dicker Bauch ließ es nicht zu. Also stand ich vor ihm und strich ihm über die Haare, und nach einer Weile, die ewig schien und in der er verzweifelt nach Worten suchte, erzählte er endlich von dem Gespräch mit Helene. Er sah mich nicht an dabei, sondern starrte an die gegenüberliegende Wand oder vielleicht auch einfach ins Leere. Ich hingegen blickte in das Bücherregal neben dem Kamin, ohne etwas zu sehen außer den flimmernden Buchstaben der Buchtitel. Der Boden unter meinen Füßen schwankte, mein Mund fühlte sich plötzlich trocken an, und mir wurde entsetzlich übel. Mir war sofort klar, daß ich nichts würde abstreiten können, selbst wenn Frederic vielleicht nur allzu bereit gewesen wäre, mir zu glauben.

«Sag, daß es nicht wahr ist‹, wiederholte er, und nun blickte er hoch zu mir und in meine Augen. Dort las er die Antwort, noch ehe ich den Mund hatte öffnen können, und soweit das überhaupt möglich war, wurde er noch fahler im Gesicht. Er begann wieder zu weinen, und ich streichelte mechanisch sein Haar, während ich gegen den Schwindel ankämpfte, der es mir schwermachte, aufrecht zu stehen. Ich hatte nie einen so tief verletzten, verstörten Menschen gesehen. Ich begriff, daß hier Scherben vor mir lagen, die niemals wieder zu kitten sein würden. Frederic war zerbrochen an diesem Nachmittag. Unsere Liebe war zerbrochen. Und ganz zwangsläufig zerbrach bald darauf auch unsere Ehe.«

Beatrice schwieg, die Erinnerung malte Schmerz auf ihre Züge.

«Wir hätten es gar nicht mehr versuchen müssen«, fügte sie hinzu.

«Er verlangte die Scheidung?«fragte Franca mit belegter Stimme.

«Das hätte Frederic nie getan. Er war bereit, dem Kind, das ich erwartete, seinen Namen zu geben, er war bereit, unser Zusammenleben aufrechtzuerhalten. Er wollte versuchen, alles wieder so werden zu lassen, wie es war. Aber es funktionierte nicht. Er kam nicht über die Geschichte hinweg, und mir wurde irgendwann klar, daß ich mit diesem gebrochenen Mann nicht leben konnte. Seine Schwermut erdrückte mich nach und nach, ich verlor jede Lebensfreude, ich magerte ab und hing nur noch bleich und verweint herum. Als Alan ein halbes Jahr alt war, beschloß ich zu gehen. Frederic akzeptierte es sofort. Ihm war wohl auch deutlich geworden, daß es für uns beide keine Zukunft gab.«

«Sie kamen hierher zurück.«

«Es war der einzige Ort, an den ich gehen konnte. Mein Haus, meine Heimat. Die Alternative wäre irgendeine kleine Wohnung gewesen, aber ich wollte, daß Alan Platz hatte und in einer gesunden Umgebung aufwachsen konnte. Guernsey war ideal.«

«Aber Helene war hier«, erinnerte Franca,»und Helene hatte alles zerstört. Konnten Sie mit ihr unter einem Dach sein?«

«Zunächst dachte ich, ich könnte es nicht«, sagte Beatrice,»ich war voller Wut, voller Schmerz. Ich wollte sie hinauswerfen, ein für allemal. Aber dann kam ich an, und sie saß hier, an diesem Tisch, und heulte und jammerte und klagte sich an — und ich wußte, ich würde es nicht fertigbringen. Sie bot ein solches Bild des Elends, und irgendwann reifte dann auch der Gedanke in mir, daß…«, Beatrice zögerte,»daß es letztlich nicht Helene gewesen war, die meine Ehe zerstört hatte. Sie hatte etwas Schlimmes getan, aber sie hatte nicht die Unwahrheit gesagt. Verstehen Sie? Die Affäre mit Julien hatte wirklich stattgefunden, und die Gefühle, die mich zu dieser Affäre bewogen hatten, waren echt gewesen.

Etwas hatte zwischen mir und Frederic nie gestimmt, sonst wäre ich nicht derart hungrig in Juliens Arme gesunken. Ich bin heute sicher, daß es auch ohne Helenes Zutun irgendwann zwischen uns beiden zu Ende gewesen wäre.«

«Sie spürten keinen Haß mehr?«

«Oh, den spürte ich schon«, sagte Beatrice,»den spüre ich auch heute noch. Aber nicht wegen dieser Geschichte. Ich hasse Helene, weil sie es geschafft hat, mich ein ganzes Leben lang festzuhalten und an sich zu binden. Weil sie 1940 in mein Haus gekommen ist und es besetzt hat und bis heute besetzt hält. Sie hat ihr Besatzerverhalten nie aufgegeben. Als Winston Churchill die Befreiung der Kanalinseln verkündete, hat er Helene Feldmann vergessen.«

«Sie bauten die Rosenzucht Ihrer Eltern wieder auf?«fragte Franca vorsichtig.

Irgendwo im Haus schlug eine Uhr die halbe Stunde.

«Halb zwei«, sagte Beatrice,»wir sollten allmählich zu Bett gehen. Kommen Sie«, sie griff nach der Rotweinflasche,»wir trinken jede noch einen ordentlichen Schluck. Man fühlt sich einfach besser danach.«

Sie schenkte das rubinrote Getränk in die Gläser.

«Ja, ich züchtete Rosen«, sagte sie übergangslos in Beantwortung der Frage, die Franca gestellt hatte,»irgend etwas mußte ich machen, und es lag nahe, auf dem aufzubauen, was meine Eltern geschaffen hatten.«

Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Rotwein. Ihre Augen verrieten, daß sie über die Jahre zurückblickte und den Weg überflog, den sie gegangen war.

«Ich stellte einen Gärtner hier von der Insel ein; er verstand eine Menge von Rosen und brachte mir bei, was ich nicht wußte. Allerdings muß ich sagen, daß er wohl stets die Hauptarbeit tat, und wenn es ein paar Erfolge in der Züchtung gab, die wir verbuchen konnten, so lag das an ihm. Ich wurde nicht reich dabei, aber ich konnte ihn bezahlen, und ich konnte mich ernähren. Zudem Geld einzahlen für die bescheidene Rente, die mich heute über Wasser hält. Anstelle von Cambridge hatte ich also diese verdammten Blumen.«

Sie lächelte bitter.

«Ich zog mein Kind groß und sorgte für Helene, die mit den Jahren immer lebensuntüchtiger wurde. Es gab Zeiten, da haßte ich jeden einzelnen Moment meines Lebens. Aber irgendwie hielt ich durch, und ich denke, es hat heute keinen Sinn mehr zu jammern. Insgesamt war alles gar nicht so schlecht.«

Das war eine Lüge, wie Franca begriff, aber sie tat der alten Frau den Gefallen, ihr nicht zu widersprechen.

8

Sie hatte nicht gedacht, daß sie sich so schrecklich langweilen würde. Nicht in London. Von St. Peter Port kannte sie die grauen, ereignislosen Tage, an denen sich der Vormittag zäh und endlos dahinschleppte, um dann in einen ebenso langatmigen Nachmittag überzugehen. Mit dem Einfallen der Abenddämmerung regte sich wieder das Leben, aber jeden Tag stellte sich von neuem das fast unüberwindliche Problem, wie man die Zeit bis dahin hinter sich bringen sollte.

Sie konnte schlafen bis in die späten Vormittagsstunden, aber spätestens um elf Uhr war sie hellwach und hielt es im Bett nicht länger aus. Dann schlenderte sie, nur mit Slip und T-Shirt bekleidet, durch die Wohnung, betrachtete die Bilder an den Wänden, obwohl sie von jedem einzelnen genau wußte, wie es aussah, nahm sich ein paar Bücher aus den Regalen und blätterte gelangweilt darin herum und blieb schließlich an bunten Modemagazinen hängen, die sie zumeist am Vortag gekauft hatte. Die Zeitschriften, die er in der Wohnung herumliegen hatte, interessierten sie nicht; es handelte sich fast ausschließlich um juristische Fachpresse.

Das Frühstück, das sie beim Lesen — oder besser: beim Betrachten der Fotos — zu sich nahm, bestand fast immer aus einem Glas Orangensaft, einer Scheibe Brot mit etwas Cheddar und vielen Tassen starken, schwarzen Kaffees. Dann rauchte sie eine Zigarette, starrte aus dem Fenster, lauschte dem Leben und Treiben auf den Straßen und fragte sich, ob so das große Abenteuer aussah, auf das sie sich eingelassen hatte.

Irgendwann war sie fertig im Bad, war angezogen und startbereit — ohne zu wissen, wohin sie eigentlich starten wollte. Sie ließ sich durch die Straßen und Geschäfte treiben, starrte sehnsüchtig all die wundervollen Dinge an, die sie so gerne besessen hätte, verbrachte Stunden bei Harrod's, probierte Dutzende von Kleidern an und hängte sie dann wieder weg, weil ihr das Geld fehlte, sie zu kaufen.

Das Wetter war sonnig und mild, und meist trank sie gegen zwei Uhr in einem Straßencafé einen Kaffee und aß ein Doughnut dazu, und um auf lustigere Gedanken zu kommen, bestellte sie hinterher oft meist ein Glas Sekt — Champagner hätte ihr besser gefallen, aber ihr Geld neigte sich bedrohlich dem Ende zu, und sie konnte sich kaum einen Luxus erlauben.

Alan könnte mir ruhig ab und zu etwas zustecken, dachte sie manchmal ärgerlich.

Sie war jetzt seit zehn Tagen bei Alan in London, und nichts schien sich anzubahnen, was geeignet gewesen wäre, ihr Leben nachhaltig zu verändern. Alan schien nicht auf die Idee zu kommen, ihr das Dasein angenehmer zu gestalten.

Abends lud er sie stets zum Essen ein, das mußte sie zugeben, und er war, wenn sie später in seinem Wohnzimmer noch zusammensaßen, höchst freigiebig mit teuren Weinen und Champagner. Aber frühmorgens verschwand er in seine Kanzlei, und dort blieb er bis zum Abend.

Was denkt er, was ich tue die ganze Zeit? überlegte sie erbost.

Am zweiten Tag ihres Aufenthalts war sie mittags überraschend in seinem Büro aufgekreuzt und hatte ihn zum Essen abholen wollen. Er war im Gespräch mit zwei Mandanten gewesen, war aber herausgekommen, nachdem ihm seine Sekretärin Maja gemeldet hatte. Maja hatte sich ungeheuer schick angezogen und aufwendig zurechtgemacht, und sie sah ihm an, daß er sie sehr attraktiv fand.

«Schatz, es geht nicht«, sagte er bedauernd,»ich muß mit meinen Mandanten zum Essen gehen. Das ist seit langem verabredet.«

Sie zog einen Schmollmund, warf die langen Haare zurück. Ihre Ohrringe klirrten leise und aufreizend.»Und morgen?«

«Morgen ist es das gleiche. Es tut mir leid. Wir gehen heute abend essen, ja?«

Er strich ihr vorsichtig mit dem Finger über die Wange.»Wir gehen jeden Abend essen. Aber tagsüber kann ich leider nicht.«

«Warum kann ich nicht mit?«

«Weil diese Leute Dinge mit mir zu besprechen haben, die wirklich nur für meine Ohren bestimmt sind. Sie würden nie reden, wenn eine weitere Person dabei ist. Ich kann das unmöglich machen.«

Sie war abgezogen und hatte sich für den Rest des Tages entsetzlich gelangweilt, und erwartungsgemäß hatte Alan am Abend davon angefangen, wie sie sich ihr Dasein denn nun vorstelle, was sie tun wolle, welche Aufgabe sie sich zu suchen vorhabe.

«Es kann dich schließlich nicht befriedigen, den ganzen Tag in der Wohnung zu sitzen oder in der Stadt umherzustreifen«, hatte er hinzugefügt.

Sie hatte schon gefürchtet, daß er irgendwann damit anfangen würde, hatte jedoch gehofft, es werde erst später dazu kommen.

Sie hatte versucht, ihn möglichst treuherzig und aufrichtig anzublicken.»Natürlich. Du hast recht, Alan«, sagte sie,»aber

laß mir noch ein bißchen Zeit, ja? Für mich ist das alles so neu hier, so fremd. Ich muß mich eingewöhnen… irgendwie… Vertrauen finden zu dieser Stadt.«

«Wenn du einer geregelten Tätigkeit nachgingest, würdest du neue Menschen kennenlernen«, gab Alan zu bedenken,»auch das hilft beim Eingewöhnen.«

«Laß mir Zeit«, bat sie erneut.»Alles ist so ungewohnt und verwirrend. Aber ich werde mich hier bald wie zu Hause fühlen.«

Er kam, wie sie gehofft hatte, zunächst auf das Thema nicht zurück. Natürlich würde er es irgendwann erneut anschneiden, aber sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß sie eine ganze Weile Ruhe haben würde. Alan war zu sensibel, um einen anderen Menschen zu bedrängen.

Und wenn er wieder anfängt, dann muß ich eben weitersehen, dachte sie.

Mae hatte zweimal angerufen und gefragt, ob sie schon Urgroßmutter Wyatt besucht habe. Sie war sehr ärgerlich geworden, als sie gehört hatte, daß Maja sich noch nicht dort hatte blicken lassen.

«Wirklich, Maja, ich bin enttäuscht! Du hattest es mir so fest versprochen. Warum kannst du mir nicht diesen einen Gefallen tun? Ich habe Mum gesagt, daß du in London bist, und sie ist wirklich traurig, weil du sie nicht einmal anrufst.«

Als ob ich Lust hätte, einen ganzen Tag im Altenheim zu vertrödeln, dachte Maja mißmutig.

An diesem Tag nun, dem zehnten nach ihrer Ankunft, dachte sie ein wenig anders darüber. Von» vertrödeln «konnte sie kaum mehr sprechen, da sie ohnehin nichts anderes tat, als die Zeit totzuschlagen mit sinnlosen Aktivitäten, die nicht einmal wirklich als solche zu bezeichnen waren. Anstatt sich in Geschäften herumzutreiben, deren Angebote sie sich nicht leisten konnte, und darüber in immer tiefere Frustration zu fallen, konnte sie auch Urgroßmutter Wyatt aufsuchen und sich einen Tag zwischen alten Knackern um die Ohren schlagen. Sie winkte dem Kellner des Bistros, in dem sie saß und etwas gebutterten Toast aß, bezahlte und überquerte die Straße, auf deren anderer Seite sie eine Telefonzelle entdeckt hatte. Sie trat ein und wählte die Nummer ihrer Urgroßmutter.

Edith Wyatt lebte, wie viele alte Menschen, nur noch in der Vergangenheit, und am liebsten beschwor sie Geschichten herauf, die mit dem Krieg zusammenhingen. Stundenlang konnte sie über die Besatzung auf Guernsey sprechen. So war es immer gewesen, wie sich Maja erinnerte. Es ging um den gräßlich vorgestrigen Käse, der sie nicht im allermindesten interessierte.

Das Altenheim lag außerhalb Londons in einem idyllischen Dorf unweit von Henley. Ein großes, verschnörkelt gebautes Haus aus viktorianischer Zeit mit einer breiten Veranda, die um alle vier Seiten herumführte, und einem alten, etwas verwilderten Garten voller Obstbäume, unter denen weißlackierte Bänke und Stühle standen. Die Alten saßen allerdings nicht dort, in der lauschigen Tiefe zwischen hohen Gräsern und Brombeerhecken, sondern hatten sich auf der Veranda aufgereiht wie eine Kette hungriger Krähen, die auf irgend etwas Eßbares lauern, das zufällig des Weges kommt. Als Maja sich näherte, verstummten die Gespräche, und alle Köpfe wandten sich ihr zu. Maja hätte ihnen am liebsten die Zunge herausgestreckt.

Sie haßte alte Menschen. Sie haßte graue Haare und

Wackelköpfe und Sabbermünder. Sie haßte den Anblick des Verfalls, der sie daran gemahnte, wie nahe sie alle jener Grenze standen, hinter der es nur noch den Weg in Richtung Tod gab.

Leben, dachte sie, als sie an den Krähen vorüberging und versuchte, den Geruch nach Alter und Krankheit nicht einzuatmen, ich muß leben, ich muß viel mehr und viel stärker leben, und ich darf nicht soviel Zeit vertrödeln.

Der Gedanke, daß sie mit Alan womöglich eine reine Zeitverschwendung betrieb, beschäftigte sie schon seit ein paar Tagen, aber nun, da sie diesen Geruch atmete, fiel er geradezu über sie her, und sie wußte, daß er sie von nun an keine Sekunde lang mehr aus seinen Klauen lassen würde.

Edith Wyatt saß als einzige nicht auf der Veranda, sondern ganz hinten im Garten in einem weißen Korbsessel. Auf einem Tischchen vor ihr standen eine Kanne mit Tee, zwei Gedecke und eine Schale mit Gebäck. Sie war außer sich vor Freude, ihre Urenkelin zu sehen.

«Nimm dir Tee«, sagte sie,»nimm dir etwas von dem Gebäck! Du bist zu dünn, Kind. Laß dich anschauen! Man sollte nicht meinen, daß du ein Sproß unserer Familie bist. So hübsch wie du ist keine von uns je gewesen.«

Zum Glück riecht sie nicht so wie die anderen, dachte Maja, sonst könnte ich sie auch nicht ertragen.

Sie lehnte sowohl Tee als auch Gebäck ab, das Geschirr, von dem sonst die Alten aßen, ekelte sie zu sehr an. Wer weiß, wie sorgfältig sie hier spülen, überlegte sie und spürte schon wieder eine Gänsehaut.

Edith Wyatt wollte natürlich alles über Guernsey wissen, den neuesten Tratsch und Klatsch, aber die meisten Menschen, die sie gekannt hatte, lebten nicht mehr, und die Namen, die Maja nannte, sagten ihr nichts.

«Ich habe den Bezug zu Guernsey verloren«, meinte sie traurig nach einer Weile.»Ach, ich wünschte, wir wären nie von dort weggegangen. Die Insel war meine Welt.«

Als treue Ehefrau vom alten Schlag hatte sie sich widerspruchslos gefügt, als ihr Mann Mitte der fünfziger Jahre nach London übersiedelt war, weil ihm dort die Praxis eines verstorbenen Studienfreundes angeboten worden war — eine großartige Chance, die kein vernünftiger Mensch ausgeschlagen hätte. Aber Edith Wyatt wurde nie heimisch in England, und als ihr Mann starb, hatte sie lange gezaudert, ob sie nicht zu Kindern und Enkeln nach Guernsey zurückkehren sollte. Doch ihr Mann hatte schon zu Lebzeiten die Plätze im Altenheim für sie beide gekauft, und irgendwie wäre es Edith als ein Verrat an ihm erschienen, seinen Plan zu umgehen und den Rest ihres Lebens nach ihren eigenen Wünschen zu gestalten. Sie war erzogen worden, ihrem Mann zu folgen, wohin er sie führte, und nach ihrer Vorstellung endete dieses Prinzip auch nicht mit dem Tod des Partners.

«Ach, ich möchte so gerne, so gerne, St. Peter Port noch einmal sehen«, seufzte sie,»noch zwei Wochen, dann ist ›Liberation Day‹. Die Insel wird ersticken in Blumen. Nimmst du am Festzug teil, Darling?«

«Ich werde dann immer noch in London sein«, erinnerte Maja. Sie hatte heftigen Durst, aber sie brachte es nicht über sich, den Tee anzurühren.»So rasch gehe ich nicht nach Guernsey zurück!«

Edith musterte sie aus klugen Augen.»Mae erzählte, du lebst in London mit Alan Shaye zusammen, Beatrice Shayes Sohn.«

«Ja. Er wollte seit Jahren, daß ich bei ihm einziehe, und nun

habe ich es eben getan.«

«Liebst du ihn? Willst du bei ihm bleiben?«

Maja rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.»Wir müssen uns noch erst aneinander gewöhnen.«

«Aber ihr seid seit Jahren sehr vertraut miteinander. Allmählich müsstest du wissen, wie es um deine Gefühle steht.«

Edith seufzte. Ihrer Ansicht nach hatten die jungen Leute heutzutage viel zu ausführlich die Gelegenheit, einander unverbindlich zu testen. Sie verlernten völlig, sich einmal wirklich festzulegen.»Alan Shaye ist ein sehr sensibler Mann«, fuhr sie fort,»ein Mensch, mit dem man rücksichtsvoll umgehen sollte.«

«Du kennst ihn doch kaum!«

«Er hat mich und deinen Urgroßvater manchmal besucht. Und hier war er auch schon ein paarmal. Er ist sehr treu, er vergißt Menschen nicht, nur weil sie alt und krank sind und ihm nichts mehr einbringen.«

Maja war überrascht. Alan hatte ihr nicht erzählt, daß er Urgroßmutter Wyatt hin und wieder besuchte.

Typisch Alan, dachte sie und wußte selbst nicht, weshalb sie sich über ihn ärgerte, er ist einfach so grundgut.

«Nun ja«, sagte Edith,»ich hoffe, es wird alles schön zwischen euch. Erzähle mir von Beatrice. Und von Helene. Wie geht es den beiden?«

Maja interessierte sich weder für Beatrice noch für Helene, und im Grunde wußte sie auch über beide nichts zu berichten.

«Ich weiß nicht«, sagte sie unlustig,»ich glaube, es geht ihnen beiden wie immer.«

«Mein Gott, ich sehe sie noch vor mir, als sie jung waren«, sagte Edith mit lebhaft blitzenden Augen, und Maja dachte: Nein, nun geht es los mit den alten Zeiten und dem Krieg!

«Damals, im Mai 1945, fast um diese Zeit vor über fünfzig Jahren… weißt du, daß ich jedes Jahr im Mai an die Tage der Befreiung denken muß? Die Bilder steigen immer wieder vor meinem inneren Auge auf.«

Das ist ja genau das Elend mit euch alten Menschen, dachte Maja genervt.

«Beatrice war sechzehn, so zart und jung«, fuhr Edith fort,»unterernährt, hungrig wie wir alle, fiebernd, was geschehen würde… und Helene war nur noch ein Schatten ihrer selbst, sie hatte Angst. Das Dritte Reich fiel zusammen, und sie wußte nicht, was aus ihr und ihrem Mann werden würde. Die Inseln wurden noch gehalten, aber die Zeit lief ab, und man fragte sich, wie das Ende aussehen würde. Wir hielten noch immer diesen französischen Kriegsgefangenen, Julien, bei uns versteckt, und wir waren nervös wie nie zuvor. Es war eine Art abergläubische Furcht, die uns beherrschte, die Angst, es werde auf dem letzten Wegstück noch etwas passieren, gerade weil wir bis dahin mit einem blauen Auge davongekommen waren.«

Maja seufzte. Sie hatte es schon so oft gehört!

«Die Ereignisse überschlugen sich in jenen letzten Tagen«, fuhr Edith fort,»es wurden immer noch Todesurteile verhängt und vollstreckt von den Deutschen, wußtest du das? Oh, was zitterten wir! In solchen Zeiten verbreiten sich ja auch die Gerüchte mit rasender Geschwindigkeit. Manche behaupteten, die Deutschen würden die Inseln in die Luft sprengen oder alle Bewohner erschießen… Das war natürlich Unsinn.«

«Natürlich«, stimmte Maja gelangweilt zu.

«Aber die Besatzer wurden nervös«, fuhr Edith fort,»und nervöse Menschen sind besonders gefährlich. Am schlimmsten war Erich Feldmann. Wir fanden ja später heraus, daß er sich seit Jahren schon mit Psychopharmaka vollstopfte, und in jenen Tagen brauchte er wohl mehr denn je davon. Aber er bekam nichts mehr. Die Versorgungslage war katastrophal. Bei Medikamenten, die überhaupt noch aufzutreiben waren, handelte es sich um eine Grundausstattung für Verletzte und ein bißchen Penizillin und Ähnliches… aber Psychodrogen gab es natürlich keine, und Erich geriet immer mehr in Panik. Er war abhängig von dem Zeug.«

Maja seufzte erneut, diesmal ein wenig lauter. Erich Feldmann und seine Probleme interessierten sie nicht im mindesten.

«Er hat Thomas bedroht«, sagte Edith,»deinen Urgroßvater. Habe ich dir das eigentlich schon einmal erzählt? Am Morgen des Tages, an dem er starb, Erich, meine ich. Er erschien in aller Herrgottsfrühe in der Praxis. Er sah fürchterlich aus. Grau im Gesicht, mit blutunterlaufenen Augen. Er verlangte Aufputschmittel, schrie herum, Thomas als Arzt müsse etwas vorrätig haben, es gebe sicher noch geheime Quellen… Tommy hatte wirklich nichts, aber Erich glaubte ihm nicht. Er hielt eine Waffe in der Hand, und Thomas mußte ihm jeden Schrank, jede Schublade öffnen, nicht nur in der Praxis, sondern auch im Haus. Erich führte sich auf wie ein Berserker. Wir waren halb verrückt vor Angst, denn oben auf dem Dachboden saß Julien, und es gab die Klappe nach oben, sie war deutlich sichtbar. Jeden Augenblick hätte Erich in seiner Verzweiflung, mit der er unbedingt an ein Medikament gelangen wollte, uns auffordern können, die Leiter herunterzulassen und ihm auch noch diesen Raum vorzuführen. Es war wie ein Alptraum.«

Edith schauderte in der Erinnerung an jene Momente.»Ich dachte, ich müßte schreien, so entsetzlich vibrierten meine Nerven. Aber das hätte alles noch schlimmer gemacht. Ich mußte einigermaßen unbefangen und normal erscheinen.«

Maja kannte diese Geschichte noch nicht, aber deswegen fand sie sie keineswegs spannend. Es lag alles so schrecklich weit zurück. Es hatte keine Bedeutung mehr für sie und ihr Leben.

«Ich nehme an, daß er Julien nicht entdeckt hat«, sagte sie mißmutig,»denn sonst würdest du wohl nicht hier sitzen.«

«Nein«, stimmte Edith zu. Vorsichtig nahm sie einen Schluck Tee.»Ich würde wahrscheinlich nicht hier sitzen. Er zog ab, ohne den Dachboden gesehen zu haben. Aber ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl, daß noch etwas Schlimmes geschehen würde, und ich behielt damit recht. Am späten Nachmittag desselben Tages wurde Thomas zu Beatrice und Helene hinübergerufen. Der andere Franzose, der für Erich arbeitete, Pierre hieß er, glaube ich, lag schwer verletzt in der Küche des Hauses. Erich hatte auf ihn geschossen. Ich weiß gar nicht mehr genau, warum…«, Edith runzelte die Stirn,»irgendeine Meinungsverschiedenheit, nehme ich an. Erich drehte wohl einfach durch, weil er seine Medikamente nicht bekam… Thomas sagte, es habe schlimm ausgesehen.«

«Hat er dem Franzosen helfen können?«fragte Maja. Sie hatte furchtbaren Durst. Vielleicht finde ich in der Küche etwas zu trinken, überlegte sie, eine Dose oder eine ungeöffnete Flasche, an der garantiert noch niemand von den Alten dran war.

«Er hat ihm helfen können«, antwortete Edith,»soweit ich mich erinnere, sprach er von einem glatten Durchschuß im Bein. Pierre hatte wohl ziemlich viel Blut verloren, und es herrschte eine mörderische Hitze draußen…«

Ihre Augen verdunkelten sich ein wenig.»Ach, das waren Zeiten«, sagte sie unbestimmt, und es klang etwas wie Sehnsucht in ihrer Stimme.»Sie waren schrecklich, sie waren gefährlich, aber wir waren alle zusammen, wir lebten… hier habe ich manchmal das Gefühl, schon gar nicht mehr da zu sein.«

«Du solltest nach Guernsey zurückkommen«, sagte Maja.»Großmutter würde sich bestimmt sehr freuen, dich bei sich zu haben.«

«Ich weiß nicht…«, murmelte Edith, wobei sie offenließ, ob sich ihre Zweifel auf Maes Freude bezogen oder auf den Vorschlag, nach Guernsey zurückzugehen.»Wer weiß, ob ich dort noch hingehöre…«

Maja erhob sich.»Du erlaubst doch, daß ich rasch in die Küche gehe, ja? Ich brauche unbedingt etwas zu trinken…«

Edith wies auf die Teekanne.»Der Tee…«

«Etwas Kaltes«, sagte Maja rasch,»es ist einfach zu warm heute für Tee.«

«Ein sehr sonniger Frühling«, stimmte Edith zu,»vielleicht sind deshalb die Erinnerungen besonders lebendig. 1945 war es ebenfalls so warm. Zu warm für den April, zu warm für den Mai…«

Sie tun alle so, als sei diese Zeit toll gewesen, dachte Maja, während sie sich in Richtung Haus entfernte. Dabei ging es doch einfach fürchterlich zu. Ich hätte damals nicht leben mögen. Krieg und Hunger und unmögliche Klamotten…

Sie verzog das Gesicht und schüttelte sich. Sie hatte das Haus erreicht und entdeckte zu ihrer Freude eine Hintertür, die offenstand. Es hätte sie gestört, vorne an den Alten vorbeizumüssen und erneut angestarrt zu werden.

Die Tür führte direkt in die Küche, wie sie beim Anblick mehrerer großer Kühlschränke und eines gigantischen Herdes feststellte. Sie war penibel aufgeräumt, nirgendwo stand schmutziges Geschirr herum, nirgendwo lag auch nur ein Stäubchen. Als unordentlich konnte man das Heim beim besten Willen nicht bezeichnen.

Eine der Kühlschranktüren war geöffnet, ein junger Mann kniete davor und kramte in den Fächern herum. Als er Majas Schritte hörte, sprang er erschrocken auf und drehte sich um. In der Hand hielt er eine Coladose. Sie war beschlagen von der Kälte, ein Tropfen perlte langsam herunter. Bei diesem Anblick wurde Maja ganz schwach.

«Hey«, sagte sie,»hier gibt es ja Cola!«

«Ich würde das gern bezahlen«, sagte der junge Mann verlegen,»ich habe nur niemanden gefunden. Sind Sie hier zuständig? Ich möchte…«

«Ich bin nur zu Besuch hier«, unterbrach Maja,»und ich verdurste beinahe.«

Sie schob ihn beiseite und angelte nach einer zweiten Coladose.»Ich möchte nichts von dem Tee trinken, den sie hier anbieten.«

«Der Tee ist schauderhaft«, stimmte der junge Mann zu,»so dünn, daß man eigentlich ebensogut Wasser zu sich nehmen könnte.«

«Ich habe ihn gar nicht erst probiert«, sagte Maja. Die Dose zischte leise, als sie sie öffnete.»Ich ekle mich vor dem Geschirr hier. Ich weiß nicht, ob richtig gespült wird.«

«Da drüben stehen große Spülmaschinen«, meinte der junge Mann. Er öffnete seine Dose nun ebenfalls, offenbar hatte Maja ihm Mut gemacht.»Das tut gut«, murmelte er.

Maja trank fast die ganze Cola in einem Zug leer.

«Das tut wirklich gut«, meinte sie,»ich weiß nicht, ob es nur die Hitze ist oder auch die deprimierende Atmosphäre, aber ich brauche jetzt unbedingt etwas, das mich aufrichtet.«

«Sie besuchen Ihre Großmutter oder Ihren Großvater?«erkundigte sich der junge Mann. Seine Augen verrieten jene erste Faszination, die Maja von Männern kannte. Es schaute sie kaum je ein Mann an, ohne daß dieses Glimmen im Blick auftauchte.

«Ich besuche meine Urgroßmutter«, sagte sie.

Er war überrascht.»Wirklich? Das ist selten. Ich meine, es ist selten, daß jemand seine Urgroßmutter noch hat.«

«In unserer Familie werden alle ziemlich alt«, sagte Maja.

Sie standen einander etwas unschlüssig gegenüber. Maja registrierte die weichen, dunkelblonden Haare des Mannes, die topasfarbenen Augen, einen Zug von Sanftheit um den Mund, den sie anziehend fand.

Was für ein hübscher Junge, dachte sie.

«Ich heiße Frank«, sagte er,»Frank Langtry.«

«Maja Ashworth.«

«Freut mich, Maja. Wo wohnen Sie? In London?«

«Ja. Sie auch?«

«Ja. Vielleicht könnten wir zusammen zurückfahren. Sind Sie mit dem Auto da?«

«Nein. Ich bin mit dem Bus gekommen.«

«Dann nehme ich Sie gern mit. Wenn es Ihnen recht ist.«

Maja war hoch erfreut. Sie haßte es, mit dem Bus zu fahren, und zudem würde der gutaussehende Mann sie die Eindrücke des Altenheims vergessen lassen.

«Um fünf Uhr?«fragte sie.

Er nickte eifrig.»Okay. Wir treffen uns vor dem Haupteingang. Um fünf Uhr.«

Der Tag hatte ein neues Gesicht bekommen. Maja empfand es geradezu körperlich, als sie, die Coladose mit dem letzten noch übrigen Schluck in der Hand, durch den Garten zu Edith zurückschlenderte. Die Sonne schien goldener, und das Grün der Bäume leuchtete heller. Ein sanfter Wind spielte in ihren Haaren.

Mal sehen, was kommt, dachte sie. Insgesamt schien es jedenfalls nicht die dümmste Idee gewesen zu sein, den Tag im Altenheim zu verbringen.

9

Der 1. Mai fiel auf einen Montag. Franca hatte am Vorabend eine Bowle angesetzt, mit der sie in den Mai hineingefeiert hatten. Mae und Kevin waren ebenfalls dagewesen. Mae redete wieder mit Beatrice, aber die Spannung zwischen den beiden war im höchsten Maße spürbar, und soweit Franca wußte, war auch noch kein erlösendes Wort gefallen. Beatrice hatte fast zwei Wochen lang nichts von Alan gehört, und Franca vermutete, daß sie ziemlich genau zuhörte, als Mae von Maja berichtete. Man hätte es ihr jedoch nicht anmerken können. Sie trank ihre Bowle, blickte aufs Meer hinaus, und ihre gleichmütige Miene verriet nichts von dem, was in ihr vorgehen mochte.

«Maja hat Gott sei Dank endlich einmal meine Mutter besucht«, hatte Mae berichtet.»Mum war entzückt, wie hübsch sie aussieht. Sie habe entspannt gewirkt.«

Sie warf einen Seitenblick auf Beatrice.»Es scheint ihr gutzugehen.«

«Wie schön«, sagte Beatrice.

«Jeder Mensch wird irgendwann einmal erwachsen«, fuhr Mae fort,»und vielleicht ist Maja nun an diesen Punkt gekommen. Das könnte doch sein, oder?«

Nach allem, was Franca von Maja gehört hatte, bezweifelte sie, daß Maja je so weit kommen würde, doch sie sagte nichts dazu. Maja und Alan gingen sie im Grunde nichts an, ebensowenig wie die Spannung zwischen Mae und Beatrice. Obwohl sie inzwischen wesentliche Teile von Beatrices Lebensgeschichte kannte, fühlte sie noch immer eine gewisse Scheu, sich in die Belange der alten Dame einzumischen. Sie empfand die Distanz, die trotz allem zwischen ihnen blieb. Sie hatte den Eindruck, daß Beatrice diese respektiert zu sehen wünschte.

Sie hatten bis in den späten Abend auf der rückwärtigen Veranda sitzen können; der Abend war hell und warm gewesen, und nur langsam war das Licht am westlichen Horizont erloschen. Franca hatte, wie meist, eine Beobachterposition eingenommen und merkte, daß Kevin nervös und ungewöhnlich blaß war und daß Helene eigenen Gedanken nachhing. Franca erinnerte sich, daß der 1. Mai Erichs Todestag war. Vermutlich durchlebte Helene in ihrer Erinnerung noch einmal jene dramatischen Stunden, die nun fünfundfünfzig Jahre zurücklagen. Darüber hinaus flogen ständig feine Giftpfeile zwischen Mae und Beatrice hin und her. Im Grunde, dachte Franca, ist dies hier keineswegs die Idylle, als die sie sich auf den ersten Blick darstellt.

Sie hatten bis Mitternacht alle etwas zuviel Alkohol erwischt, und Beatrice bot Kevin und Mae an, die Nacht in ihrem Haus zu verbringen. Mae lehnte sofort ab, sie könne nur in ihrem Bett schlafen, sagte sie, und sie brauche ihre Sachen um sich herum.

«Aber du bleibst, Kevin«, bat Beatrice, doch auch Kevin lehnte das Angebot ab.»Nein, ich muß nach Hause«, sagte er hastig.

Er hat abgenommen, dachte Franca, er hat sehr schmale Wangen bekommen.

Irgendwie sah er auch ungepflegter aus, nicht mehr so gestylt und perfekt wie früher. Seine Haare waren eine Spur zu lang, so als schiebe er einen überfälligen Friseurbesuch vor sich her, und er schwitzte stark. Es ging ihm ganz offensichtlich nicht gut, aber es war nicht ersichtlich, ob er sich mit einem psychischen Problem herumschlug oder sich körperlich unwohl fühlte. Er machte keinerlei Anstalten, über das, was in ihm vorging, zu sprechen, und verabschiedete sich statt dessen hastig.

«Wenn ihn die Polizei kontrolliert, ist er seinen Führerschein los«, meinte Beatrice unruhig.»So leichtsinnig kenne ich ihn gar nicht. Zudem schien er mir äußerst nervös. Ich wüßte gern, was ihn derart beschäftigt.«

Am nächsten Morgen schliefen sie alle lange. Es war noch völlig still im Haus, als Franca erwachte. Sie blinzelte ins helle Sonnenlicht, setzte sich auf und konnte einen Schmerzenslaut kaum unterdrücken. Ihr Kopf brummte, ihre Augen brannten.

«O Gott«, murmelte sie,»ich habe zuviel Alkohol erwischt.«

Vorsichtig stieg sie aus dem Bett, tappte zum Fenster und sah hinaus. Strahlend sonnig, frisch und von seltener Klarheit lag der Maitag vor ihr. In der Ferne konnte sie das Meer glitzern und funkeln sehen. Für gewöhnlich lagen um diese Zeit feine Nebelschleier über dem Wasser, aber selbst diese hatten sich bereits aufgelöst.

Ein vollkommener Tag, dachte Franca.

Sie zog ihren Bademantel an und schlich, so leise sie konnte, nach unten. Ihr Mund brannte, sie brauchte unbedingt ein Glas Wasser.

Auf dem Eßtisch standen noch die Gläser und Teller vom Vorabend. In dem großen Krug schimmerte in leuchtendem Erdbeerrot die Bowle. Franca schlurfte in die Küche hinüber. Jede Erschütterung spürte sie im Kopf.

Ich wünschte, ich wüßte, wo es hier ein Aspirin gibt, dachte sie.

Während sie in der Küche an die Spüle gelehnt stand und in kleinen Schlucken ihr Wasser trank, vernahm sie Schritte von draußen. Jemand schien um das Haus herumzugehen. Gleich darauf tauchte Kevins Gesicht hinter dem Fensterglas in der Verandatür auf. Franca erschrak so heftig, daß sie fast ihr Glas hätte fallen lassen.

«Himmel, es ist nur Kevin«, sagte sie streng zu sich selbst und öffnete ihm die Tür.

Er kam sofort herein, offensichtlich erleichtert, einen Menschen angetroffen zu haben, der wach war.

«Ach, Franca, wie schön, Sie zu sehen«, sagte er.»Ich weiß, es ist noch ziemlich früh am Morgen, aber…«

Er ließ den Satz unfertig in der Luft hängen, wußte wohl selbst nicht zu erklären, weshalb es ihn schon so früh aus dem Bett getrieben hatte. Wenn er überhaupt im Bett gewesen war. Franca bezweifelte es. Kevin sah aus, als habe er kein Auge zugetan und sei kaum in die Nähe eines Bettes gekommen.

«Ich wollte Sie fragen, ob Sie Lust hätten, heute abend zu mir zu kommen«, fuhr er hastig fort,»ich meine, Sie alle. Helene und Beatrice. Heute ist der Todestag von Helenes Mann, das ist immer sehr schwierig für sie. Ich dachte, ich könnte etwas kochen, und wir könnten sie ein bißchen auf andere Gedanken bringen.«

«Oh — das ist eine nette Idee«, sagte Franca überrascht.»Ich komme gern. Beatrice und Helene schlafen noch, aber ich bin sicher, sie freuen sich auch.«

«Ja, also, vielleicht könnten Sie mich anrufen, wenn alles geklärt ist«, sagte Kevin. Er trat von einem Fuß auf den anderen, wirkte unschlüssig, übernervös, angespannt. Es schien ihn zu beunruhigen, Helene und Beatrice nicht angetroffen zu haben, aber damit, so dachte Franca, hatte er um diese Uhrzeit nicht rechnen können.

«Glauben Sie wirklich, die beiden werden zustimmen?«erkundigte er sich noch einmal.

Es schien ihm viel daran gelegen. Franca betrachtete sein fahles Gesicht und fragte sich, ob es tatsächlich nur die Geldsorgen waren, die diesem Mann den Schlaf und die Ruhe raubten.

«Ich sehe da kein Problem«, sagte sie freundlich,»und ich komme ja auf jeden Fall.«

«Gut, in Ordnung, dann um sieben Uhr heute abend bei mir, ja?«bat Kevin. Mit einer erschöpften Geste strich er sich die Haare aus der Stirn. Franca sah, daß ein feiner Schweißfilm sein Gesicht bedeckte.

«Geht es Ihnen gut?«fragte sie.»Sie sehen ziemlich elend aus. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«

«Hätten Sie einen Cognac?«fragte Kevin zurück.

Irritiert holte sie Flasche und Glas aus dem Eßzimmer. Er kippte den Cognac in einem Zug hinunter, nannte Franca noch einmal die geplante Uhrzeit und verabschiedete sich dann.

Franca machte sich einen starken Kaffee, ging noch einmal auf die vergebliche Suche nach einem Aspirin und zog sich dann mit einem Buch ins Wohnzimmer zurück. Ihr schwerer Kopf und der Schlafmangel machten sich bald bemerkbar.

Trotz des Kaffees schlief sie in ihrem Sessel ein.

Alan saß am Frühstückstisch, las die Times und fragte sich, weshalb er so häufig einen Absatz zweimal lesen mußte und ihn nicht im ersten Durchgang erfaßte. Weshalb gelang es ihm nicht, sich zu konzentrieren? Vor ihm standen Tee, Orangensaft, weiche Eier, Toastbrot, verschiedene Marmeladensorten, Käse und ein paar Scheiben Lachs. Er hatte sich jede erdenkliche Mühe gegeben, einen schönen Tisch zu decken und die Dinge herbeizuschaffen, die Maja gern aß. Er hatte ein richtiges Sonntagsfrühstück gezaubert — und dies an einem Montagmorgen. Um acht Uhr hatte er seine Sekretärin angerufen und ihr gesagt, daß er an diesem Tag nicht kommen werde.

«Aber… Ihre Termine…«, hatte sie erschrocken erwidert, doch er hatte sie unterbrochen:»Alle absagen. Ich bin erst morgen wieder da.«

Dann hatte er aufgelegt.

Am Samstag hatte er eingekauft, war durch die Lebensmittelhallen von Harrod's gestreift und hatte sich Zeit genommen, von allem nur das Beste und Schönste auszusuchen. Eigentlich hatte er mit Maja zusammen einkaufen wollen, aber diese hatte ihm schon morgens erklärt, sie wolle Edith besuchen und den Tag mit ihr verbringen.

«Schon wieder?«hatte er mit hochgezogenen Augenbrauen gefragt.»Du hast sie doch schon zweimal in der letzten Woche besucht!«

«Ich weiß. Aber gerade am Wochenende freut sie sich besonders. So ein Samstag im Altenheim kann sich lang hinziehen.«

«Ich bin wirklich erstaunt. Die ganze Zeit hast du gejammert, daß ich mich nicht um dich kümmere, daß ich ständig weg bin, daß du immerzu allein herumhängst. Nun habe ich Zeit, möchte einen Samstag mit dir verbringen, und ausgerechnet für diesen Tag verabredest du dich anderweitig. Du hättest Edith doch auch nächste Woche besuchen können!«

Sie hatte ihn bekümmert angesehen.»Ich habe nicht richtig nachgedacht. Entschuldige, Alan. Aber wenn ich Edith jetzt absage, dann…«

«Nein, nein!«

Er hatte resigniert abgewehrt.»Auf keinen Fall. So kurzfristig kannst du ihr natürlich nicht absagen, sie wäre zu enttäuscht.«

Er hatte überlegt.»Wenn ich mitkäme, dann…«

Es schien ihm fast, als erschrecke sie dieser Vorschlag.

«Es geht ihr nicht so gut. Ich glaube, sie wäre lieber mit mir allein. Wenn du also nicht gekränkt bist…«

«Nein, nein!«

Gekränkt war er natürlich nicht. Aber beunruhigt. Irgend etwas paßte nicht zusammen. Er kannte Maja, seit sie auf der Welt war, er kannte sie nur zu gut. Maja hatte nie besonders viel Familiensinn bewiesen. Es verband sie eine gewisse Zuneigung mit ihrer Großmutter Mae, aber die beruhte in erster Linie auf den Geldscheinen, die Mae ihrer Enkelin höchst großzügig zukommen ließ. Sicher mochte sie auch Edith, aber es sah Maja überhaupt nicht ähnlich, ihr innerhalb von zehn Tagen drei Besuche in einem Altersheim abzustatten. Er kannte ihren Horror vor alten Menschen. Dies war ein Aspekt des Lebens, dem sie auswich, wo es nur ging.

Um das Maß vollzumachen, war sie dann auch am Sonntag nach Henley hinausgefahren. Er war gerade dabei gewesen, ein Frühstück zu bereiten, das so hätte aussehen sollen wie das Frühstück des heutigen Tages, aber mitten in die Vorbereitungen war Maja hineingeplatzt und hatte verkündet, sie werde den ganzen Tag fort sein.

«Edith ist gar nicht gut beieinander. Ich möchte einfach heute bei ihr sein. Bitte, versteh mich!«

Nun, bei seinem einsamen Frühstück an diesem 1. Mai, ging ihm eine Menge beunruhigender Gedanken durch den Kopf. Waren es vielleicht nur Hirngespinste? Maja hatte ihm gesagt, daß sie sich verändern wolle. Sie hatte ihm gezeigt, daß es ihr ernst war damit.

Hatte sie das?

Am ersten Abend auf jeden Fall. Er löffelte Zucker in seinen Tee, rührte ihn nachdenklich um. Er sah sie vor sich, adrett gekleidet, zurückhaltend, dezent geschminkt — völlig anders als das schillernde Geschöpf, als das sie sich sonst immer präsentierte. Aber das war äußerlich, das war die Maske. Das war einfach.

Sie ist jeden Abend zu Hause gewesen, rief er sich ins Gedächtnis, immer wenn ich aus dem Büro kam, war sie hier. Lag auf dem Sofa, las, sah fern, freute sich, mich zu sehen.

Was nur bereitete ihm solche Kopfschmerzen? Er war am Samstag durch die Stadt geschlichen, hatte eingekauft und sich ebenso verzweifelt wie vergeblich gegen das immer heftiger aufsteigende Gefühl der Bedrohung gewehrt. Zu wehren versucht. Es hatte irgendwann vollständig Besitz von ihm ergriffen, und seitdem war er es nicht mehr losgeworden.

Er hatte bei Harrod's gestanden und gedacht: Das gibt es doch nicht! Ich sage zu ihr: Wir gehen einkaufen. Einkaufen ist das Zauberwort schlechthin für sie. Sie weiß genau, daß eine Menge herausspringen würde für sie. Normalerweise hätte sie alles stehen- und liegenlassen und mich genau in die Geschäfte geschleppt, die sie während der letzten Woche ausgekundschaftet hat. Statt dessen besucht sie Edith Wyatt im Altenheim!

Den Sonntag hatte er lesend auf einer Bank im St. James's Park verbracht und sich sehr einsam gefühlt, und am frühen Abend war er heimgegangen, hatte gehofft, Maja sei vielleicht schon da und sie könnten irgendwo zusammen etwas trinken und später zum Essen gehen. Aber die Wohnung lag leer und still. Er mischte sich einen Gin Tonic, wußte aber bereits, er würde zu härteren Sachen greifen, wenn Maja nicht bald kam. Er hatte sich mit dem Trinken sehr zurückgehalten, seitdem sie da war. Er brauchte nichts am Abend, wenn sie ihn mit einem zärtlichen Lächeln empfing, wenn sie die Arme um ihn schlang, wenn sie ihn küßte und er ihren Geruch atmete; jenen Geruch, den er als so süß empfand, als warm und vertraut, als begehrenswert und als nur ihm gehörend. Irgend etwas, sein Herz, seine Seele oder was auch immer, zog sich in ihm zusammen, wenn er nur daran dachte. Lieber Gott, überlegte er hilflos, könnte ich nur endlich sicher sein!

Den ganzen Samstag über und den ganzen Sonntag hatte es in seinen Fingern gezuckt, zum Telefonhörer zu greifen und bei Edith anzurufen. Sich zu erkundigen, ob Maja noch bei ihr oder bereits aufgebrochen sei. In Wahrheit aber, um herauszufinden, ob sie überhaupt dagewesen war.

Er war sich wie ein mieser kleiner Schnüffler vorgekommen, und jedesmal hatte er im letzten Moment die Hand weggezogen, hatte den Anruf nicht getätigt. Weil er nicht spionieren wollte. Vielleicht aber auch, weil er es gar nicht wissen wollte.

Um zehn Uhr am gestrigen Abend hatte er den ersten Whisky getrunken, kurz darauf den zweiten, dann den dritten. Ihm war übel gewesen, er hatte gefroren. Wo zum Teufel blieb sie so lange? Um Mitternacht hatte ihn die Verzweiflung gepackt. Selbst am Samstag war sie früher daheim gewesen als nun am Sonntag, aber natürlich, bei ihrer Lebensweise konnte es ihr gleich sein, ob ein Feiertag oder ein normaler Werktag sie am nächsten Morgen erwartete, sie schlief ohnehin bis in die Puppen. Aber konnte man sich so lange in einem Altenheim aufhalten? Es schien ihm kaum vorstellbar. Er war um halb eins zu Bett gegangen und hatte trotz des vielen Whiskys keinen Schlaf gefunden, hatte sich herumgewälzt und auf das Ticken der Uhr gelauscht. Irgendwann hatte er die Haustür gehört, hatte auf die Leuchtanzeige des Radioweckers neben seinem Bett gestarrt. Halb drei. Dafür würde es keine überzeugende Erklärung geben, bei aller Bereitwilligkeit von seiner Seite, ihr abzunehmen, was immer sie sagen würde.

Nicht jetzt, hatte er gedacht, nur nicht jetzt, ich muß überlegen, ich muß mir Zeit lassen, ich darf nichts überstürzen.

Er hatte sich schlafend gestellt und dabei gemeint, das Bett müsse beben unter seinem lauten Herzschlag. Maja machte sich eine Weile im Bad zu schaffen und kam dann auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer geschlichen. Sie gab sich die größte Mühe, möglichst lautlos zu ihm ins Bett zu kriechen — natürlich, dachte er aggressiv, sie will mich keinesfalls wecken, damit ich bloß nicht mitbekomme, zu welch unmöglicher Uhrzeit sie hier eintrudelt.

Irgendwann in den frühen Morgenstunden war er eingeschlafen, jedoch schon um halb sieben wieder aufgewacht. Der kurze Schlaf hatte ihn eher erschöpft als aufgebaut. Er konnte Majas gleichmäßigen Atem neben sich hören. Helles Sonnenlicht sickerte zwischen den Lamellen der Jalousien hindurch, hatte den Raum längst der nächtlichen Dunkelheit entrissen. Von Maja sah er nur die langen Haare, die über dem Kopfkissen verteilt lagen. Ihr Gesicht hatte sie tief im Kissen vergraben, die Bettdecke fest um ihren Körper gezogen. Es würde Stunden dauern, bis sie wach war.

Nun saß er vor dem schön gedeckten Tisch, fragte sich, weshalb er sich überhaupt soviel Mühe gegeben hatte und weshalb er Majas wegen seinen Beruf vernachlässigte, und er versuchte den Schmerz zu ignorieren, der in seinem Kopf hämmerte. Er hatte zuviel Whisky erwischt und mußte die Nachwirkungen auf irgendeine Weise überstehen. Nachdem er fast zwei Wochen lang eine — für seine Maßstäbe — weitgehende alkoholische Abstinenz eingehalten hatte, machte ihm der Kater nun besonders heftig zu schaffen Er fragte sich, ob es ihm jemals gelingen würde, dem Alkohol als Seelentröster zu entsagen.

Man geht so verdammt kaputt dabei, dachte er und rieb sich die schmerzenden Augen, und man merkt auch noch, wie man kaputtgeht und kann trotzdem nicht aufhören.

Er betrachtete sich selbst mit gnadenlosem Blick ohne die Spur jener Milde, die er sonst selbst dem härtesten Kontrahenten gegenüber walten ließ. Er sah einen dreiundvierzigjährigen Mann, der an einem Montagmorgen allein an einem Frühstückstisch saß, sein Büro schwänzte und dabei noch nicht einmal in der Lage war, etwas von den Köstlichkeiten vor sich anzurühren. Dem sich der ausschweifende Alkoholgenuß vieler Jahre überdeutlich ins Gesicht gegraben hatte. Der Ringe unter den Augen hatte und dessen Haut zu fahl und zu großporig war. Der eigentlich ein gutaussehender Mann war, sich jedoch deutlich am alleräußersten Ende einer Grenze bewegte: Er konnte den Boden unter den Füßen verlieren, endgültig abkippen und in fünf Jahren aussehen wie ein sechzigjähriger Alkoholiker. Er konnte aber andererseits auch gerade noch das Ruder herumreißen. Die Ehrlichkeit, mit der er sich ansah, zeigte ihm eine Möglichkeit mit derselben Klarheit wie die andere. Noch war er jung genug, sich zu regenerieren. Noch konnte er die Spuren aus seinen Zügen verbannen. Noch hatte er eine Chance.

Aber wie sollte er sie nutzen, während ihm doch täglich von neuem klarwurde, wie gründlich er sein Leben verpfuscht hatte! Eine Menge kurzer, wilder Frauengeschichten anstelle einer langen, intakten, auf Vertrauen und Kameradschaft basierenden Beziehung. Warum war er nicht verheiratet, hatte zwei Kinder, ein Häuschen im Grünen und einen Bobtail? Warum war er verstrickt in eine Affäre mit einer Frau, die zwanzig Jahre jünger war als er und es mit nahezu jedem Mann trieb, der ihren Weg kreuzte? Die ihn ausnutzte und ausnahm, ihn immer wieder mit falschen Versprechungen köderte, ihn lächerlich machte, mit ihm spielte, wie es ihr gerade paßte, und ihn seit Jahren blockierte für eine mögliche andere Beziehung, die im Zweifelsfall nur besser sein konnte.

Ich sollte sie rauswerfen, dachte er, mit Sicherheit war sie gestern und vorgestern bei einem Kerl. Wahrscheinlich betrügt sie mich schon die ganze letzte Woche. Und schämt sich nicht einmal, mir die Geschichte von Urgroßmutter Edith aufzutischen, die sie voller Selbstlosigkeit immer wieder im Altenheim besucht.

Er wußte, er mußte Aggression in sich erzeugen, wenn er es fertigbringen wollte, Maja die Tür zu weisen. Aus Gründen, die ihm völlig unerklärlich blieben, konnte er jedoch nicht die Spur von Wut in sich finden. Er fand nur Traurigkeit und Resignation. Und Hilflosigkeit.

Franca träumte, sie schlage einen Nagel in die Wand, um ein

Bild aufzuhängen. Sie hämmerte aus Leibeskräften, aber der Nagel wollte sich nicht in den Beton bohren.

Vielleicht kann man gar keinen Nagel in Beton schlagen, dachte sie, und im selben Moment wachte sie auf und sah sich verwirrt um. Sie begriff ziemlich schnell, daß sie geträumt hatte, aber sie verstand nicht, weshalb das Hämmern nicht verstummen wollte. Es dröhnte durch das ganze Haus, und erst nach einigen Sekunden wurde es Franca klar, daß jemand an der Tür war und Einlaß begehrte.

Sie erhob sich und unterdrückte dabei einen Schmerzenslaut: Von der zusammengekauerten Haltung in dem Sessel taten ihr alle Glieder weh, und ihr Hals war steif geworden, sie konnte ihn kaum drehen. Das Buch, das sie gelesen hatte, war auf den Boden gefallen, lag aufgeschlagen auf dem Teppich. Trotz des warmen Tages fröstelte sie, kein Wunder, daß sie sich elend fühlte.

Als sie in die Halle trat, kam gerade Beatrice die Treppe herunter. Sie sah verschlafen und zerzaust aus.

«Was ist los?«rief sie.»Warum weckt mich niemand? Es ist fast zwölf Uhr!«

«Ich bin auch noch einmal eingeschlafen«, gestand Franca,»Wir haben wohl alle etwas zuviel Bowle erwischt.«

«Das befürchte ich auch.«

Beatrice zog den Gürtel ihres Bademantels fester um ihre Taille und blickte gereizt zur Tür.»Lieber Himmel! Da hämmert ja einer wie nicht ganz gescheit!«

Sie versuchte, ihre Haare vor dem Spiegel ein wenig zu ordnen.»Können Sie bitte aufmachen, Franca?«

Franca ging zur Tür und öffnete. Vor ihr stand Michael.»Mein Gott«, rief er wütend,»ich dachte schon, es ist niemand da!«

«Michael!«sagte Franca und blickte ihn entgeistert an.

Er hatte einen kleinen Koffer neben sich stehen, den er nun hochnahm.»Darf ich hineinkommen? Ich stehe hier schon eine Weile.«

Sie trat einen Schritt zurück.»Ja. Natürlich.«

Michael kam herein, und es war, als werde mit einem Schlag das helle Licht des Tages ausgeknipst. Franca nahm das Frösteln ihres Körpers verstärkt wahr und spürte wieder jenen engen Ring um die Kehle, der sie in den letzten Jahren begleitet hatte. Das Atmen fiel eine Spur schwerer, auch die Brust schien sich weniger leicht zu heben und zu senken. Eine diffuse Angst breitete sich in ihr aus. Eine Angst, die nicht zu ihrem Alter paßte, nicht zu einer erwachsenen Frau. Eine Angst, die sie an ein kleines Mädchen erinnerte und von der sie wußte, daß sie sie eigentlich nicht mehr verspüren sollte. Aber sie schwappte so jäh über sie hin, daß sie keine Chance hatte, sich zu wehren.

«Guten Tag«, sagte Michael, als er Beatrice entdeckte.»Ich bin Michael Palmer.«

«Beatrice Shaye«, sagte Beatrice freundlich. Etwas irritiert blickte sie zu Franca hin.»Sie haben gar nicht gesagt, daß Sie Ihren Mann erwarten.«

«Sie hat mich nicht erwartet«, erklärte Michael,»ich habe mich spontan zu der Reise entschlossen.«

«Ach so«, sagte Beatrice. Franca hatte den Eindruck, daß ihr die Anspannung, die sich ausgebreitet hatte, nicht entging.

«Franca, gehen Sie doch ins Wohnzimmer mit Ihrem Mann. Nehmen Sie aus der Küche, was Sie mögen, Kaffee, Tee, Wasser oder was auch immer. Ich bin oben, wenn Sie mich brauchen.«

Franca verspürte den kindischen Wunsch, sie zu bitten, nicht wegzugehen, aber natürlich unterdrückte sie es, dies auszusprechen. So sagte sie nur:»Kevin war vorhin hier, Beatrice. Wir sind alle heute abend zum Essen bei ihm eingeladen — Sie, Helene und ich. Um sieben Uhr.«

«Erstaunlich, welch ein Besucherstrom sich heute früh hier schon blicken läßt«, sagte Beatrice.»Sind Sie sicher, daß es Kevin war? Für gewöhnlich spricht er solche Einladungen nicht wochentags aus.«

«Nun, er wollte wegen Helene…«, setzte Franca an, aber ein ungeduldiges Hüsteln von Michael ließ sie verstummen.»Es war jedenfalls Kevin«, sagte sie überflüssigerweise, denn natürlich hatte Beatrice nicht daran gezweifelt.

«Gibt es hier im Haus noch ein Zimmer, das ich für die Nacht mieten kann?«fragte Michael.»Sonst müßte ich mich um ein Hotel kümmern.«

«Das Zimmer, in dem jetzt Ihre Frau wohnt, ist das einzige, das wir vermieten«, erklärte Beatrice.

«Du kannst auf jeden Fall erst einmal deine Koffer dort abstellen«, sagte Franca hastig.»Ich zeige dir den Weg.«

«Ich würde danach gern zum Essen gehen«, sagte Michael und folgte ihr die Treppe hinauf.»Unsere Unterredung muß ja nicht unbedingt hier stattfinden, oder?«

«Nein… wie du möchtest… wir können gern irgendwohin fahren…«

Michael brachte seinen Koffer in ihr Zimmer, der — obwohl er nur klein war — wie ein großer, schwarzer Eindringling darin wirkte. Dann verschwand er im Bad, um» sich frisch zu machen«. Franca wischte ihre feuchten Handflächen an ihrer Jeans ab und starrte wie gebannt in den Spiegel im Flur. Hatte das T-Shirt Flecken? War die Hose verbeult? Warum hatte sie bloß am Morgen nicht ihre Haare gewaschen? Sie zupfte an den Strähnen herum, kniff sich in die Wangen, um ein wenig Farbe hineinzuzaubern und fand sich unattraktiv und fade. Flüchtig kam ihr der Gedanke, daß sie während der vergangenen vierzehn Tage durchaus einverstanden gewesen war mit ihrem Äußeren und daß erst Michaels Auftauchen sie in diese Unsicherheit getrieben hatte.

Er hat nicht einmal etwas gesagt, dachte sie, und dennoch dauert es keine fünf Minuten, und ich bin das reinste Nervenbündel.

«Sie sollten einen kräftigen Schluck Schnaps nehmen«, sagte eine Stimme neben ihr. Beatrice hatte in ihr Zimmer gehen wollen, war dann aber noch einmal umgekehrt.»Und dann sollten Sie sich auf Ihre Stärke besinnen. Schauen Sie nicht drein wie ein Kaninchen, das vor dem Gewehrlauf sitzt. Sie haben das nicht nötig.«

Franca seufzte.»Sieht man es mir so sehr an?«

«Sie sind eine völlig veränderte Frau seit ein paar Minuten«, sagte Beatrice.»Und, ehrlich gesagt, die Frau, die Sie vorher waren, gefiel mir weit besser. Meiner Ansicht nach war das die echte Franca. Was ich jetzt vor mir sehe, ist ein verängstigtes Geschöpf, das rasch in die Rolle eines kleinen Mädchens schlüpft, um den bösen Papa gnädig zu stimmen. Mit einem kleinen Mädchen geht man vorsichtig um. So hoffen Sie jedenfalls.«

«Ich weiß nicht, was los ist. Irgendwie…«

«Zeigen Sie ihm die Zähne«, sagte Beatrice,»und hören Sie endlich auf, an Ihren Haaren herumzuzupfen. Er hat den Überfall-Besuch gemacht. Er kann nicht erwarten, daß Sie gestylt wie die Queen zu seinem Empfang bereitstehen.«

Unwillkürlich mußte Franca lachen.»Gestylt kann man mich wirklich nicht nennen. O Gott, meine Nerven flattern. Ich glaube, ich brauche wirklich einen Schnaps. Kevin bat heute früh auch um einen. Was ist nur los mit uns?«

«Hier herrscht allgemein eine gewisse Nervosität«, sagte Beatrice.»Irgend etwas liegt in der Luft. Ich weiß nicht, was es ist, aber es gefällt mir nicht. Es ist so, als hätten sich eine Menge Emotionen angestaut.«

Sie atmete tief.»Ob ich Alan anrufe?«

«Warum nicht? Es ist der 1. Mai. Wünschen Sie ihm einen schönen Sommer.«

«Heute nachmittag vielleicht«, sagte Beatrice,»möglicherweise habe ich dann mehr Mut.«

Franca ging die Treppe hinunter, nahm zum zweiten Mal an diesem Morgen die Cognacflasche vom Regal, schenkte sich ein und leerte das Glas in einem Zug. Das Getränk brannte wie Feuer in ihrer Kehle, tat ihr aber gut. Die Spannung löste sich ein wenig. Sie trank ein zweites Glas und atmete tief durch.

Das sollte nicht die Regel werden, dachte sie, aber hin und wieder braucht man es einfach.

«Du trinkst schon am Mittag?«sagte eine kalte Stimme hinter ihr.»Ich sehe das mit einiger Verwunderung.«

Sie drehte sich um. Michael war unbemerkt ins Zimmer gekommen und musterte sie mißbilligend. Er hatte den sezierenden Blick, den sie nur zu gut an ihm kannte, den sie fürchtete, seitdem sie mit ihm zusammen war. Die Wirkung des Alkohols verflog unter diesem Blick so schnell, wie sie sich zuvor aufgebaut hatte. Ohne daß sie es hätte verhindern können, war das kleine Mädchen wieder da. Wie hatte Beatrice gesagt?

«Zeigen Sie ihm die Zähne!«

Sie wollte ihm die Zähne zeigen. Sie wollte um nichts in der Welt das kleine Mädchen sein. Sie wollte eine starke, erwachsene Frau sein.

Es gelang ihr nicht.

«Ich brauchte einfach etwas zu trinken«, sagte sie leise.

Michael nahm ihr die Flasche aus der Hand, stellte sie mit Nachdruck in das Regal zurück.

«Damit fängst du am besten gar nicht erst an. Übrigens, ich habe mir das Zimmer oben angesehen. Ich frage mich, wie du ein derart spartanisches Quartier wählen konntest! Ich würde es dort nicht eine einzige Nacht aushalten!«

«Wie hast du mich gefunden?«fragte sie.

Er zuckte mit den Schultern.»Ich kannte ja den Namen deiner Wirtin. Beatrice Shaye. Und diese Insel ist ein Dorf. Ich habe am Flughafen in St. Martin nach ihr gefragt, und sie war sofort ein Begriff. Ich habe einen Mietwagen genommen und bin hierhergefahren.«

Sie nickte. Es hatte ihn nicht allzuviel Mühe gekostet.

«Weshalb bist du gekommen?«fragte sie.

Er verzog ungeduldig das Gesicht.»Müssen wir das hier besprechen? Ich habe Hunger, und ich möchte irgendwohin, wo es gemütlich ist und wir reden können. Wäre das möglich?«

«Das ist möglich«, sagte Franca. Sie nahm ihren Autoschlüssel vom Eßtisch. Michael schüttelte den Kopf.»Ich fahre«, sagte er.

Es war eigentlich unbedeutend, wer fuhr, aber irgendwie erschien Franca diese Frage plötzlich wichtig.

«Nein«, sagte sie,»ich fahre.«

Etwas in ihrem Tonfall mußte Michael erstaunt haben. Er sah sie ein wenig überrascht an und nickte dann.»In Ordnung. Meinetwegen. Dann fahr du.«

Sie saßen auf der Veranda des Chalet-Hotels oberhalb der Fermain Bay. Den Berg hinunter zum Meer erstreckten sich die üppigen Blumengärten der Hotelanlage. Die Maisonne schien warm, schon mußte man den Schutz der Sonnenschirme aufsuchen. Über dem Meer lagen nun feine Schleier gebreitet, der Mittag war nicht mehr kristallklar wie der Morgen, sondern diesig durchsetzt. Ein ganz leichter Wind kam auf, fächelte salzdurchtränkte Luft den Berg hinauf.

«Es ist warm wie im Sommer«, sagte Franca.

Michael rührte in seiner Kaffeetasse. Sie hatten Quiche und Salat gegessen und dazu ein Guernsey-Bier getrunken, und nun waren sie beim Kaffee angelangt und hatten noch immer nichts als Belanglosigkeiten ausgetauscht. Michael hatte von Problemen im Labor erzählt und von der Kündigung seines besten Mitarbeiters, was ein harter Schlag für ihn war, wie er sagte. Franca hatte von ihren Wanderungen über die Insel berichtet, und davon, daß am 1. Mai fünfundfünfzig Jahre zuvor Erich Feldmann Selbstmord verübt hatte. Es schien Michael nicht im geringsten zu interessieren, aber wenigstens hörte er höflich zu.

Er merkt sich nicht ein Wort von dem, was ich sage, dachte Franca, aber andererseits ist er wegen Erich und Helene natürlich auch nicht hergekommen.

Sie hatte ein kleines Stück Sicherheit wiedergefunden. Michael hatte die Wahl des Restaurants gelobt, und das war mehr, als er ihr an Anerkennung während der letzten fünf Jahre hatte zukommen lassen.

«Ja«, sagte er nun,»wir sollten wirklich ernsthaft miteinander sprechen, findest du nicht? Du hast dich Hals über Kopf nach Guernsey abgesetzt und weigerst dich, irgendeine nähere Erklärung für dein Verhalten abzugeben oder dich zu der Frage zu äußern, wie es nun weitergehen soll. Am Telefon war es jedenfalls nicht möglich, etwas aus dir herauszubringen. Deshalb bin ich hergekommen.«

Er klang gekränkt. Natürlich empfand er es als Zumutung, daß er die weite Reise hatte machen müssen.

Was er wohl seiner Geliebten erzählt hat, fragte sich Franca. Die war bestimmt nicht begeistert von dem Vorhaben, seiner Ehefrau hinterherzureisen.

«Ich habe dir doch schon am Telefon erklärt, daß du es bist, der eine Entscheidung treffen muß«, sagte Franca,»du hast eine Affäre. Oder sogar eine ernsthafte Beziehung, ich weiß es nicht. Du mußt doch irgendwann einmal herausfinden, wie das für dich weitergehen soll.«

Er rührte etwas heftiger in seiner Tasse. Das Thema behagte ihm nicht, aber er begriff wohl, daß er es nicht unter den Teppich kehren konnte.

«An dieser Affäre, wie du es nennst«, sagte er,»bist du nicht völlig unschuldig. Das habe ich dir ja schon einmal gesagt.«

«Natürlich«, sagte Franca,»es wäre ja auch unmöglich, daß du allein die Verantwortung dafür übernimmst.«

«Das wäre unmöglich, weil es nicht gerecht wäre. So wie du dich verhalten hast, konnte ich gar nicht anders, als…«

Er hielt inne, suchte nach einer Formulierung.

«…als zu einer anderen Frau ins Bett kriechen«, fuhr Franca fort,»das willst du doch sagen, oder?«

«Darauf kannst du es nicht reduzieren«, widersprach Michael sofort.»Ich habe nicht in erster Linie ein sexuelles Verhältnis gesucht. Ich habe etwas ganz anderes gesucht — ich wollte eine Frau, mit der ich etwas anfangen kann. Ins Kino gehen, ins Theater, in die Oper. Mit der ich Freunde besuchen und einladen kann. Die Selbstvertrauen hat und Kraft und mir davon auch etwas abgibt, wenn ich einmal durchhänge. Ich wollte einfach leben, Franca. Ist das so schwer zu verstehen?«

Es ist für ihn auch nicht einfach gewesen, dachte Franca, natürlich nicht. Eine Frau, die so häufig weint, die so neurotisch ist, die auf größere Menschengruppen mit Panikanfällen reagiert… das hat ihm das Leben auch schwergemacht.

«Ich kann das schon verstehen«, sagte sie.»Jeder würde es verstehen. Aber so, wie du es darstellst und wie du es dir selber sicher auch einredest, läßt du einfach einen großen Teil der Wahrheit aus.

Ich kann dir nicht alle Schuld zuschieben, Michael, aber vom Tag unseres Kennenlernens an bis heute hast du dich immer so verhalten, daß es mich verunsichern mußte. Ich konnte einfach nie etwas richtig machen. Ich war nie so in Ordnung, wie ich eben war. Du hattest ständig etwas an mir auszusetzen. Meinst du nicht, daß das Selbstvertrauen eines Menschen dadurch untergraben wird? Daß es immer kleiner wird und irgendwann völlig verkümmert?«

«Nun schiebe mir noch deine Selbstzweifel und Neurosen in die Schuhe!«sagte Michael empört.»In erster Linie wurde dies alles doch durch dein Versagen in der Schule ausgelöst.«

Sie zuckte zusammen. Auch sie empfand es als Versagen, was in der Schule passiert war, aber es war noch etwas anderes, dieses Wort von ihm um die Ohren zu bekommen.

Das ist es eben, dachte sie müde, diese Art ist es, die mich so fertiggemacht hat. Warum kann er in einem solchen Fall nicht einen anderen Ausdruck finden? Es weniger verletzend sagen? Warum muß er es für mich stets schwerer machen als leichter?

«Ich habe versagt, das stimmt«, sagte sie. Ihre Stimme klang sehr ruhig. Vielleicht war auch das immer ein Fehler, schoß es ihr durch den Kopf, dieses verdammte» Haltung bewahren«. Nie zu schreien, nie Wut und Angst und Schmerz zu zeigen. Vielleicht konnte er nie kapieren, wie weh er mir tut.

«Aber«, fuhr sie fort,»hast du je darüber nachgedacht, daß dieses Versagen auch gefördert wurde von einem Mann, der mir noch vor dem ersten Staatsexamen ständig erklärte, ich könne nach seiner Ansicht in diesem Beruf nie bestehen? Der mir unentwegt klargemacht hat, ich sei zu schüchtern, zu schwach, zu unfähig, mich wirklich zu behaupten? Als ich zum erstenmal vor einer Schulklasse stand, war ich schon, bevor ich die ersten Worte sprach, davon überzeugt, daß es schiefgehen würde.«

«Oh — jetzt macht es sich Madame aber ganz einfach! Du willst allen Ernstes behaupten, alles bei dir wäre wundervoll gelaufen, wenn ich nicht vorher ein paar gutgemeinte Warnungen ausgesprochen hätte?«

So hatte sie es nicht ausgedrückt, und sie wußte, daß er es auch wußte. Die Gespräche der letzten Jahre waren allzu häufig daran gescheitert, daß er Tatsachen verdrehte und sie absichtlich mißverstand. Es hatte immer damit geendet, daß sie jede Menge Kraft und Energie aufwandte, sich gegen diese Mißverständnisse zu wehren, anstatt sich auf das Thema zu konzentrieren, um das es zu Anfang gegangen war. Zum Schluß war sie nur noch damit beschäftigt, sich zu rechtfertigen, und geriet darüber in immer tiefere Erschöpfung.

«Ich denke nicht, daß alles gutgegangen wäre, wenn du mich nicht beeinflußt hättest«, sagte sie,»aber es wäre vielleicht ein bißchen besser gelaufen. Ich wäre anders gepolt gewesen, hättest du mir hin und wieder Mut gemacht. Aber«, sie hob die Stimme, erstickte seinen Protest, zu dem er schon den Mund geöffnet hatte, im Keim,»das ist jetzt auch nicht mehr wichtig. Wir könnten Stunden, Tage, Wochen verbringen, einander vorzurechnen, was jeder von uns nach Ansicht des anderen wann und wie falsch gemacht hat. Es würde nichts bringen. Wir müssen überlegen, was werden soll.«

«Unsere Zukunft hängt mit unserer Vergangenheit zusammen«, beharrte Michael,»wir sind an dem Punkt, an dem wir sind, weil wir Fehler in der Vergangenheit gemacht haben.«

Immerhin sagt er wir, dachte Franca.

Er machte eine Pause. Sie hörten nur das Rauschen des Windes in den Zweigen und die Rufe der Möwen. Dann lachte eine Frau am Nachbartisch, und auf einmal setzten an allen Tischen die Unterhaltungen wieder ein, und die Luft schwirrte von den verschiedenen Stimmen.

«Ich habe mich ins Flugzeug gesetzt und bin hierhergekommen, um mit dir zu reden«, sagte Michael schließlich,»das sollte dir zeigen, daß mir an unserer Beziehung gelegen ist.«

Franca erwiderte nichts. Sie sah ihn abwartend an.

«Wenn du dich ändern könntest«, fuhr er fort,»wenn du es ernsthaft versuchen würdest… Mir ist diese Beziehung zu der anderen Frau nicht wirklich wichtig. Ich wäre bereit, sie zu beenden.«

Es begann ganz zart in ihren Schläfen zu pochen. Ein Schmerz, der fast nicht als Schmerz zu identifizieren war, eher einer unangenehmen Störung glich.

Wenn du dich ändern könntest, wenn du es ernsthaft versuchen würdest…

Es wird nicht funktionieren, dachte sie, und sie faßte diese Erkenntnis, mit der sie den Bankrott ihrer Ehe erklärte, erstaunlich kühl und sachlich: Es wird nicht, und es kann nicht. Es hat keinen Sinn. Jeder weitere Versuch wäre Zeitverschwendung.

«Ach, Michael«, sagte sie resigniert. Es tat nicht einmal weh. Das Ende war zu selbstverständlich, um zu schmerzen. Es kam um eine Reihe von Jahren zu spät, aber es war völlig klar, daß es hatte kommen müssen.

«Was heißt: Ach, Michael?«fragte er aggressiv.»Hast du nichts anderes dazu zu sagen? Ich habe dir ein Angebot gemacht. Ich habe einen Vorschlag unterbreitet. Vielleicht gäbe es dazu ein wenig mehr zu sagen als Ach, Michael!«

Das Pochen in ihren Schläfen verstärkte sich. Es wuchs sich zu einem Dröhnen aus. Einem Dröhnen, das sie abschnitt von den übrigen Geräuschen der Welt — dem Stimmengewirr, dem Tellergeklappere, den Möwenschreien. Aber auch von dem Geruch des Essens und des Salzes im Wind. Sogar von den Farben der Blumen, des Meeres und des Himmels.

Hoffentlich habe ich meine Tabletten dabei, dachte sie, ich habe gar nicht nachgeschaut, bevor wir weggingen.

«Michael, ich möchte die Scheidung«, sagte sie.

Maja erschien gegen ein Uhr am Mittag im Wohnzimmer, unausgeschlafen und verkatert. Sie war blaß im Gesicht, und ihre sonst großen, wilden Augen hatten sich zu kleinen Schlitzen verengt. Sie sah um etliches älter aus als die zweiundzwanzig Jahre, die sie zählte. Sie sah auch nicht hübsch aus an diesem Mittag, nicht sexy und attraktiv, aber auch nicht wie ein niedliches, verschlafenes Kind.

Sie sieht einfach ziemlich kaputt aus, dachte Alan.

Sie trug ein übergroßes, weißes T-Shirt mit einem verwaschenen Teddybären-Aufdruck auf der Brust, hatte nackte Beine und nackte Füße. Sie ließ sich auf ihren Platz fallen und stützte aufstöhnend den Kopf in die Hände.

«O Gott, ist mir schlecht!«murmelte sie.

«Möchtest du etwas essen oder trinken?«fragte Alan. Er legte die Zeitung beiseite. Er wunderte sich, wie normal er mit ihr sprach, wie gleichmütig seine Stimme klang. Etwas in ihm vibrierte leise, ein angespannter, gereizter Nerv. Die Unverfrorenheit, mit der sie ihre Übernächtigung, ihren unmäßigen Alkoholkonsum vom Vorabend demonstrierte, schockierte ihn. Sie gab sich nicht einmal die Mühe, so zu tun, als sei sie spät von einem Kaffeekränzchen im Altenheim zurückgekehrt.

Was bin ich für sie? fragte er sich. Ein Waschlappen, bei dem man nicht einmal vorgeben muß, man habe noch eine Spur Achtung vor ihm?

«Nein, bloß nichts essen«, meinte sie gequält,»ich glaube, ich würde sofort kotzen. Kann ich eine Tasse Tee haben?«

«Der Tee ist kalt«, sagte Alan.

«Mach mir neuen«, murmelte sie.

Das Vibrieren wurde stärker.»Mach ihn dir selbst«, sagte Alan.

Immerhin war er damit in die Dumpfheit vorgedrungen, die sie umfangen hielt. Sie blickte überrascht auf, und ihre verquollenen Augen weiteten sich ein wenig.»Wie bitte?«fragte sie.

«Du sollst ihn dir selbst machen«, wiederholte Alan.»Ich habe seit dem frühen Morgen mit dem Frühstück auf dich gewartet. Da wir gestern und vorgestern nichts voneinander hatten, habe ich für heute alle Termine abgesagt und bin nicht ins Büro gegangen. Wenn du meinst, erst mittags aus dem Bett kriechen zu müssen, kannst du nicht erwarten, daß ich aufspringe und ein zweites Mal anfange, alles herbeizuschleppen.«

«Alles! Ich will eine winzige Tasse Tee, und nicht einmal die bekomme ich!«

«Du weißt, wo die Küche ist, du weißt, wo der Tee ist«, sagte Alan ruhig.»Niemand hindert dich daran, dir zu nehmen, was du möchtest.«

Sie starrte ihn ungläubig an, dann sprang sie mit einer unbeherrschten Bewegung auf, nahm sich eine Cognacflasche von der Anrichte, kippte den Cognac in das Glas neben ihrem Teller, das eigentlich für den Orangensaft vorgesehen gewesen war, und trank ihn in großen, durstigen Zügen.

«So«, sagte sie,»dann trinke ich eben das hier! Da ich mir ja nehmen darf, was ich will, wirst du kaum etwas dagegen haben.«

«Ich habe auch nichts dagegen«, erwiderte Alan,»ich denke nur, es wird dir nicht allzugut bekommen. Du siehst jetzt schon zehn Jahre älter aus, als du bist. Durch den Cognac wird das nicht besser.«

Demonstrativ schenkte sie sich sofort nach, trank das Glas zum zweitenmal leer.

«Weißt du«, sagte sie böse,»ausgerechnet von dir so etwas zu hören, ist schon ziemlich komisch. Wer von uns beiden ist denn der Alkoholiker? Vielleicht sehe ich heute morgen älter aus, als ich bin, na und? Spätestens morgen früh bin ich wieder okay. Ich stecke eine durchzechte Nacht wie nichts weg. Ganz im Unterschied zu dir. Du bist dreiundvierzig und siehst aus wie Anfang Fünfzig, und du änderst daran nichts mehr. Egal, was du tust. Du regenerierst dich nicht mehr.«

Jedes einzelne ihrer Worte traf ihn wie ein Schlag. Er mußte sich bemühen, nicht zusammenzuzucken. Das Schlimme war: Sie hatte recht. Sie verspritzte nicht wahllos Gift, versuchte nicht einfach, ihm auf irgendeine Weise weh zu tun. Sie nannte Fakten, gegen die es nichts einzuwenden gab.

«Kein Grund für dich, mir nachzueifern, oder?«sagte er, denn irgend etwas mußte er sagen, und es war das einzige, was ihm einfiel.

Sie lächelte. Es ging ihr noch immer beschissen, aber sie war jetzt hellwach. Und kampfbereit. Und auch wenn Alan sich dafür verachtete: Er fürchtete Maja, wenn sie kampfbereit war.

«Ich eifere dir nicht nach, keine Sorge«, sagte sie.»So wie du werde ich nie sein. Ich bin ein ganzes Stück stärker. Ich weiß, wann man die Bremse ziehen muß.«

«Das zu wissen haben schon viele vor dir geglaubt. Und haben doch den Moment verpaßt.«

Sie zuckte mit den Schultern.»Mir ist es gleich, was du denkst. Du kannst ruhig unken wie eine alte Frau. Machst du mir jetzt den Tee?«

«Nein«, sagte Alan.

Sie setzte sich wieder und sah ihn an.

«Okay, Alan, was ist los? Du hast heute früh den Gesichtsausdruck einer Gouvernante und führst dich einfach unerträglich auf. Was hat dir so die Stimmung verhagelt?«

Er gab jegliche Strategie der Zurückhaltung, der feinen Spitzen, der dezenten Anzüglichkeiten auf.

«Wo warst du gestern?«fragte er direkt.

Ihr Gesicht blieb unbewegt.»Bei Edith. Das hatte ich dir doch gesagt.«

«Bis nachts um halb drei? Ich glaube nicht, daß sie in Altenheimen die Besuchszeiten so weit ausdehnen. Am Samstag war es übrigens auch recht spät, aber für gestern, denke ich, solltest du dir eine gute Erklärung einfallen lassen.«

«Ich war natürlich nicht so lange bei Edith.«

«Aha. Immerhin räumst du das ein. Wo warst du dann?«

Sie stöhnte leise und theatralisch.»Weißt du, wie gräßlich du dich anhörst? Weißt du, wie unattraktiv du wirkst, wenn du so bist? Weißt du, daß es mir stinkt, auf diese Art und Weise von dir verhört zu werden?«

«Wenn du nichts dagegen hast, setzen wir das Verhör trotzdem fort. Ich möchte wissen, wo du warst.«

«Mit welchem Recht möchtest du das wissen?«

«Du lebst in meiner Wohnung. Du lebst von meinem Geld. Auf deinen eigenen Wunsch hin versuchen wir, eine Beziehungsform zu finden. Ich denke, dazu gehört ein gewisses Maß an Aufrichtigkeit.«

Noch immer hörte er sich selbst verwundert zu. Er sprach so ruhig, argumentierte sachlich und wog die Worte ab, ehe er sie über die Lippen brachte.

Falsch, ganz falsch, sagte eine innere Stimme zu ihm: du erklärst, du rechtfertigst. Schrei sie an! Verlier die Beherrschung! Behandle dieses Flittchen so, wie du es seit Jahren hättest tun sollen! Sie gehört zu dieser Sorte Frau. Sie versteht nur diese Sprache.

Das Problem war: Er beherrschte diese Sprache nicht. Er kannte sie, aber er wußte sie nicht zu handhaben. Als Anwalt konnte er alle Register subtiler oder auch offener Bedrohung ziehen, aber das war etwas anderes: In seinem Beruf legte er sich eine Rüstung an, die er in dem Moment auszog, da sein Privatleben begann.

«Ich warte auf deine Antwort«, sagte er.»Wo warst du?«

«Lieber Himmel, du hast einfach überhaupt keine Ahnung, wie sehr du mich nervst! Okay, ich bin bei Edith weg um sieben Uhr. Aber ich bin in den falschen Bus gestiegen und irgendwo am Arsch der Welt gelandet. Was weiß ich, durch welche verrückten Käffer ich gefahren bin… Na ja, und irgendwann habe ich geschnallt, daß ich im falschen Bus sitze, da bin ich ausgestiegen, aber dann habe ich an einem gottverlassenen Ort warten müssen, bis ein Bus kam, der mich zum Altenheim zurückbrachte, und dort mußte ich dann warten, bis der Bus nach London kam, und dann…«

Sie holte tief Luft und sah ihn anklagend an.»Es war eine scheußliche Nacht. Ich habe gefroren, und ich hatte Angst. Und dann muß ich mich am nächsten Morgen von dir auch noch beschimpfen lassen!«

«Drei Dinge wollen mir nicht recht einleuchten«, sagte Alan.»Zum einen, wie es dir gelungen ist, in den falschen Bus zu steigen, nachdem du bereits zum viertenmal in dieser Woche genau diese Strecke gefahren bist. Zum zweiten, wieso du nicht in der Lage warst, irgendwo ein Telefon zu entdecken und mir Bescheid zu sagen, daß es später wird. Oder mich zu bitten, dich abzuholen, was ich, wie du weißt, sofort getan hätte. Und zum dritten, wie du es geschafft hast, während deiner Irrfahrten so viel Alkohol zu trinken, daß du heute früh kaum in der Lage bist, geradeaus zu blicken.«

«Da war eben nirgends ein Telefon«, sagte Maja,»das Heim ist auf dem Land! Das ist in der Mitte von Nirgendwo. Sollte ich mir zwischendurch noch die Hacken ablaufen, um einen Apparat aufzutreiben?«

«Dein Handy hattest du nicht zufällig dabei?«

«Ich hatte es vergessen.«

Sie log, das erkannte er sofort, aber da er ihr die Lüge nicht würde nachweisen können, verzichtete er darauf, diesen Umstand anzusprechen.

«Okay.«

Er nickte.»Bleiben die Fragen nach dem falschen Bus und dem Alkohol.«

«Bist du noch nie, noch nie in deinem Leben in einen falschen Bus oder in eine falsche Bahn gestiegen? Hast du dich noch nie verfahren? Hast du noch nie…«

«Gut, gut!«

Er winkte ab.»Also ein Zufall, ein Mißgeschick, wie es jedem zustoßen kann. Und was«, er neigte sich näher zu ihr hin, betrachtete sie eindringlich,»was ist mit dem Alkohol? Wann, um Himmels willen, hast du so viel gesoffen, daß du heute früh wie eine wandelnde Leiche aussiehst?«

Jetzt war sie in die Enge getrieben, und sie reagierte auf die für sie typische Weise: Sie verwandelte sich in

Sekundenschnelle in eine gereizte Katze.

«Du bist so etwas von gemein, Alan Shaye!«fauchte sie.»Gemein und bösartig! Du versuchst, den ekelhaften Anwalt herauszuhängen, versuchst mich zu verhören, mich niederzumachen, mir irgend etwas anzuhängen. Aber es wird dir nicht gelingen. Ich werde einfach aufhören, deine Fragen zu beantworten. Du hast überhaupt kein Recht, mich unter Druck zu setzen! Du hast kein Recht, derart zu insistieren. Es ist meine verdammte Sache, was ich wann trinke! Und mit wem!«

Er gab das Spiel auf. Es war der richtige Moment dafür. Er kannte die Anzeichen, die dafür sprachen, daß ein Angeklagter mit der Wahrheit herausrücken wollte, weil er es leid war, zu lügen. Maja war soweit.

«Hören wir auf«, sagte er.»Wir wissen beide, was los ist, also sollten wir dieses unwürdige Hin und Her beenden. Wenn du überhaupt bei Edith warst gestern, dann bist du ziemlich früh von dort weggegangen, aber meiner Ansicht nach bist du überhaupt nicht dort gewesen. Du hast dich mit irgendeinem Kerl getroffen, bist mit ihm durch die Kneipen gezogen und vermutlich irgendwann ins Bett gegangen. Stimmt's?«

Sein Kalkül ging auf. Sie stand dicht genug mit dem Rücken zur Wand, um ihre übliche Vorsicht aufzugeben. Sie wollte sich nicht mehr verteidigen, sie wollte zurückschlagen.

«Ja«, sagte sie heftig,»du hast es genau erfaßt, Alan. Ich habe mit einem anderen Mann geschlafen. Und es war verdammt viel besser als jemals mit dir!«

Er hatte gewußt, daß sie fremdgegangen war, und trotzdem schmerzte es. Es tat so weh, daß es ihm für Sekunden den Atem nahm. Wie aus weiter Ferne hörte er sich sagen:»Und warum bist du dann noch hier?«

«Wie? Was meinst du mit ›Warum bist du dann noch hier‹?«

«Es gibt einen anderen Mann in deinem Leben, und er ist phantastisch im Bett. Also möchte ich wissen, was du hier noch willst.«

Sie lachte, aber ihr Lachen klang ein wenig unsicher.»Meine Güte, Alan, die Geschichte mit Frank ist doch nicht ernst! Du hast mich ständig allein gelassen, also habe ich mich ein wenig getröstet. Das ist alles!«

«Sieht Frank das auch so?«

Sie zuckte mit den Schultern.»Woher soll ich wissen, wie Frank das sieht?«

«Euer Kontakt ist ziemlich intim. Könnte doch sein, daß ihr manchmal über euch und eure Gefühle sprecht!«

Sie fuchtelte ungeduldig mit den Händen umher. Es war ihr anzumerken, daß sie sich ärgerte. Frank hatte sie nicht preisgeben wollen. Sie wünschte, sie könnte ihre Aussage widerrufen, sie wünschte, sie wäre nicht so bereitwillig in die von Alan gestellte Falle getappt. Alan erkannte, daß es ihr nun darum ging, die Begegnung mit Frank herunterzuspielen.

«Frank ist wirklich nicht wichtig. Er ist ein netter Junge, er ist okay. Aber er ist kein Mann für mich, verstehst du? Wäre ich nicht so allein gewesen, die Sache mit ihm wäre nie passiert.«

Er war immer wieder von neuem perplex, mit welch unverhohlener Dreistigkeit sie sich aus ihren Fehltritten herausredete.

«Aha«, sagte er,»soll ich das so verstehen, daß du auch in Zukunft immer dann, wenn du dich langweilst oder allein fühlst, die Berechtigung zu haben glaubst, eine kurze Affäre mit einem anderen Mann einzuschieben? Zum Zeitvertreib? Manche belegen einen Sprachkurs oder besuchen ein Sportstudio. Du nimmst dir ein paar Quickies. Und das liegt für dich ungefähr auf der gleichen Ebene.«

«So wie du das jetzt formulierst…«

«Ich denke, ich formuliere es genau so, wie es ist. Alles andere wäre beschönigend.«

Er machte eine kurze Pause. Der Schmerz tobte in ihm. Es war nicht nur der Schmerz über das, was geschehen war. Die Qual lag in dem Bewußtsein, daß er die Beziehung mit Maja beenden mußte, wenn er auch nur einen Funken Selbstachtung behalten wollte. Der Punkt war endgültig erreicht. Übersprang er ihn jetzt wieder, dann würde er sich zu keinem Moment seines Lebens mehr im Spiegel ansehen können.

«Ich hatte dir gesagt, daß ich dich heiraten will«, fuhr er fort,»aber als Mrs. Shaye würdest du die Dinge genauso handhaben wie jetzt — nicht wahr?«

«Was weiß ich! Alan, wirklich, muß ich jetzt eine Erklärung abgeben für immer und alle Zeiten? Willst du jetzt wissen, was ich wann, wie, in welcher Situation tun werde? Keiner von uns kann sagen, was sein wird! Niemand weiß…«

«Hör auf mit diesen Allgemeinplätzen, Maja!«

Nimm endlich Abschied von dieser Frau, Alan!» Hör auf, um den Kern herumzureden! Wir wissen beide, was los ist. Du kannst nicht treu sein. Selbst wenn du es unbedingt wolltest, könntest du es nicht. Du könntest es nicht, und wenn dein Leben davon abhinge. Du bist so veranlagt, und wahrscheinlich kann man dich nicht einmal dafür verantwortlich machen.«

Er betrachtete sie. So schrecklich sie aussah an diesem Morgen, konnte er es doch nicht verhindern, daß Zärtlichkeit ihn bei ihrem Anblick erfüllte.

Ich werde lange brauchen, dachte er, und Angst stieg in ihm auf bei der Vorstellung von all den langen, einsamen, traurigen Stunden und Tagen, da er versuchen würde, sie stückweise aus seinem Herzen zu reißen. Ich werde sehr lange brauchen, bis ich über sie hinweg bin, und vielleicht gelingt es mir nie.

«Aber ich kann mit dieser Veranlagung bei dir nicht umgehen«, fuhr er fort,»ich habe es fast fünf Jahre lang versucht. Ich habe gehofft, du würdest dich ändern, oder ich würde einen Weg finden, die Art, die du nun einmal hast, zu ertragen. Beides hat nicht funktioniert, und es war vermutlich dumm von mir zu glauben, es könnte irgendwie gehen. Ich hätte mir viel Zeit und Kraft erspart, wenn ich die Vergeblichkeit meiner Hoffnung früher erkannt hätte.«

Er gewahrte einen Ausdruck der Unruhe in ihren Augen. Offensichtlich merkte sie, daß etwas anders war als sonst. Er hatte schon manchmal zu ihr gesprochen wie jetzt, sie hatte zugehört, und er hatte ihr angesehen, daß sie ihn keine Sekunde lang ernst nahm.

Jetzt aber ist sie nervös, dachte er, doch diese Erkenntnis gab ihm kein Gefühl des Triumphs.

«Alan, wir sollten…«, begann sie, aber zum wiederholten Mal an diesem Vormittag schnitt er ihr das Wort ab.

«Wir sollten nichts mehr, Maja. Wir sollten uns nur noch trennen. Das ist das einzig Richtige und Vernünftige.«

Sie lehnte sich über den Tisch, wollte seine Hand ergreifen, aber er zog sie zurück und ließ keine Berührung zu.

Ihre Augen wurden schmal.»Du meinst es ernst?«

Er erwiderte ihren Blick, wußte, daß sehr viel Schmerz in seinen Zügen zu lesen war, aber auch viel Entschlossenheit.»Ich meine es ernst, ja. Und ich möchte nichts mehr hinauszögern. Nach dem Frühstück packst du deine Sachen und verläßt meine Wohnung.«

«Wo soll ich denn hin?«

«Zu Frank.«

«Zu Frank? Frank wohnt in einem winzigen möblierten Zimmer! Da ist überhaupt kein Platz für mich!«

«Es war doch offensichtlich genug Platz vorhanden, um dich dort mit ihm zu treffen und mit ihm ins Bett zu gehen. Ich denke, du wirst klarkommen. Du lebst einfach mal für einige Zeit in einem ›winzigen, möblierten Zimmer‹. Es geht. Du wirst es sehen.«

Ihre Hand krallte sich um die Papierserviette, die neben ihrem Teller lag, zerknüllte und zerdrückte sie.

«O Gott, Alan«, sagte sie leise,»du ahnst ja nicht, wie gern ich gehe! Wie satt ich es habe, mit dir zusammenzusein! Du bist langweilig und spießig und siehst noch dazu alt und versoffen aus!«

Sie erhob sich langsam von ihrem Stuhl, während sie ihre Giftpfeile abschoß.»Ja, Alan, das mußt du dir leider sagen lassen, du siehst nicht einmal mehr gut aus. Du warst einmal ziemlich attraktiv, aber deine Schönheit hast du dir inzwischen weggesoffen. Wie konnte ich nur so blöd sein und überhaupt mehr als einen Tag mit dir verbringen! Und mehr als eine Nacht!«

Ihre Stimme wurde noch leiser und böser.»Du bist eine solche Null im Bett, Alan, eine solche Null! Jede Sekunde war verschwendet. Aber eines sage ich dir«, sie lehnte sich vor, ihre Augen funkelten,»du wirst nach mir schreien! Du wirst betteln, daß ich zurückkomme. Denn du wirst niemanden mehr finden. Niemanden! Du wirst so allein und so einsam sein, daß du noch mehr säufst, um damit fertig zu werden. Dir wird es so dreckig gehen, daß du zähneklappernd hinter mir herläufst. Du tust mir von ganzem Herzen leid, Alan!«

Sie warf die zerknüllte Serviette auf den Tisch und verließ das Zimmer.

10

Obwohl der Abend friedlich war und der Wind sanft wehte, brandeten die Wellen mit beeindruckender Gewalt gegen die Steilküste, schlugen an den Felsen hoch, warfen weiße, schaumige Gischt über das Gestein, zogen sich rauschend zurück und warfen sich im nächsten Moment erneut mit wütender Kraft gegen den Widerstand, der sich ihnen entgegenstellte. Dort unten hätte man im Getöse der Brandung sein eigenes Wort nicht mehr verstanden. Aber bis nach oben klang sie nur noch als sanftes Brausen, nicht lauter, als hätte ein leichter Wind die Blätter der Bäume gefächelt.

Die Sonne hing als vollkommene, feuerrote Kugel am Horizont tief über der Wasseroberfläche, malte eine kupfergoldene, breite Straße über die Wellen und tauchte die Felsen und das karge, bräunliche Gras auf den Hochflächen in ein überirdisch schönes Licht. Selbst die Wolken, die über den Himmel segelten, wurden angestrahlt. Das Bild hätte kitschig anmuten können, wäre die Landschaft nicht so rauh, so brüsk und so wenig lieblich gewesen.

Es war der Ort, den Beatrice auf der ganzen Insel am meisten liebte. Hier, am Pleinmont Point, im Südwesten Guernseys, konnte sie stundenlang sitzen und über das Wasser schauen oder laufen und sich den Wind durch die Haare wehen lassen. Sie liebte die Wildheit der Küste und die Kraft des Meeres. Sie liebte die Einsamkeit, die dieser Platz verströmte. Irgendwie kam ihr Pleinmont wie ein Ebenbild ihrer selbst vor: herb, kühl, zäh. Pleinmont kam nie zur Ruhe, behauptete sich jedoch standhaft. Hier wuchsen weder Blumen noch Palmen, und wenn nicht gerade die Sonne unterging, gab es keine Farben außer dem Graubraun der Felsen und dem Graugrün des Grases. Häßlich und kalt ragten die steinernen Türme der ehemaligen deutschen Befestigungsanlage in den Himmel. Hier mischten sich Trotz und Entschlossenheit mit Melancholie und einer Schönheit, die nur wenige zu empfinden vermochten.

Auf jeden Fall, dachte Beatrice, fühle ich mich hierher gehörend, ob ich nun passe oder nicht.

Sie saß im Auto, hatte den Wagen auf dem staubigen, unbefestigten Parkplatz zehn Minuten vom Pleinmont Tower entfernt abgestellt. Sie rauchte eine Zigarette, starrte auf das Meer. Aus dem Radio dudelte ganz leise Musik.

Sie saß hier seit fast einer Stunde, und in der ganzen Zeit waren nur zwei Spaziergänger vorbeigekommen. Trotz des herrlichen Sonnenuntergangs schien es die zahlreichen Touristen auf der Insel kaum an diesen Ort zu locken. Beatrice vermutete, daß die meisten beim Essen saßen — es war kurz nach halb neun — oder eher die Sandbuchten im Süden oder Osten der Insel aufsuchten, Lagerfeuer machten oder entlang den Klippenpfaden träumten. Um so besser. Sie war froh, ungestört zu bleiben.

Sie hatte Helene bei Kevin abgesetzt und sich selbst entschuldigt.»Es tut mir leid, Kevin. Ich weiß, es ist unhöflich, so kurzfristig abzusagen, aber ich kann nichts essen. Es ist unmöglich. Ich…«

Sie hatte ihn bittend angesehen, auf sein Verständnis hoffend.»Sei mir nicht böse. Ich muß allein sein.«

«Sie hat mit Alan telefoniert«, hatte Helene eingeworfen und dabei vielsagend die Augenbrauen hochgezogen,»und das war wieder einmal… unerfreulich.«

«Tut mir leid«, sagte Kevin. Er sah erschreckend blaß aus. Beatrice entging nicht, daß seine Hände leicht zitterten.»War er wieder…?«

Sie nickte. Für den Augenblick brachte sie keinen Ton hervor.

«O Gott«, sagte Kevin,»das tut mir leid.«

Er fuhr sich mit allen zehn Fingern durch die Haare. Sie standen ohnehin schon strubbelig vom Kopf ab, ein ungewohnter Anblick, wenn man sein sonstiges gepflegtes Äußeres kannte.

«Wo ist Franca?«fragte er.»Kommt sie allein nach?«

«Kevin, es tut mir leid, aber Franca kommt auch nicht«, sagte Beatrice. Sie biß sich auf die Lippen. Franca hatte sie am frühen Nachmittag gebeten, Kevin in ihrem Namen abzusagen, aber über das Telefonat mit Alan hatte sie es völlig vergessen.

Wir benehmen uns alle miteinander unmöglich, dachte sie, Kevin hat für drei Gäste gekocht, und nun kommt gerade mal einer.

«Francas Mann ist überraschend aufgetaucht«, erklärte Helene,»und die beiden haben offensichtlich ein paar äußerst problematische Dinge miteinander zu klären. Sie muß den Abend mit ihm verbringen.«

Kevin war beängstigend fahl im Gesicht.»Also sind wir beide allein«, sagte er zu Helene.»Himmel, ich dachte… ich habe eine Menge gekocht, und…«

«Es tut mir wirklich leid«, wiederholte Beatrice,»es ist ein ungünstiger Tag heute, in jeder Beziehung. Für jeden von uns.«

«Für mich nicht«, lächelte Helene. Sie war in himmelblaue

Seide gehüllt, ihr Kleid hatte einen bauschigen Tüllrock, der an die Petticoats der fünfziger Jahre erinnerte. Sie sah nach Beatrices Ansicht ein wenig grotesk aus, aber sie selbst schien mit sich äußerst zufrieden.

«Ich freue mich auf den Abend mit dir, Kevin«, fuhr sie fort,»wir werden uns wunderbar unterhalten, nicht wahr? Es ist immer so gemütlich und harmonisch bei dir. Und das Essen duftet wieder einmal ganz herrlich.«

Kevin hatte Beatrice zum Auto zurückbegleitet und noch einmal gefragt, ob sie nicht doch bleiben wolle, aber sie hatte brüsk abgelehnt, was ihr gleich darauf leid tat, denn schließlich hatte sie sich unhöflich verhalten, nicht er. Es verwunderte sie, daß er soviel Wert auf ihre Anwesenheit legte, denn für gewöhnlich forcierte er Treffen mit Helene allein, weil er sie nur dann ungestört anpumpen konnte.

Nicht mein Problem, hatte sie schließlich entschieden, über Kevin kann ich jetzt nicht nachdenken. Ich habe genug andere Sorgen.

Nun drückte sie die halb aufgerauchte Zigarette im Autoaschenbecher aus, öffnete die Tür und stieg aus. Sie brauchte frische Luft, sie mußte ein paar Schritte laufen. Der Wind war kühl um diese Zeit, sie kuschelte sich tiefer in ihre Jacke. Sie lief ein Stück den Pfad entlang, wandte sich dann nach links und ging über die Wiese, die zu den großen, vorgelagerten Felsen führte. Hier gab es keinen Weg, der Boden war steinig und uneben, aber vor ihr waren nur das Meer und um sie herum nur die Klippen, die Wiesen und die Einsamkeit. Das überwältigende Gefühl von Freiheit, das sie jedesmal an diesem Ort fand, streifte sie auch in diesem Moment, aber ihre Sorgen wogen zu schwer, als daß sie sich ihm hätte hingeben, als daß sie es hätte wirklich zulassen können.

Den halben Tag lang hatte sie mit sich gekämpft, ob sie Alan anrufen sollte, und es war ihr die ganze Zeit über so vorgekommen, als warne sie eine innere Stimme davor. Dann hatte sie mit Franca gesprochen, und Franca hatte überhaupt nichts gefunden bei dem Gedanken, sie könne mit Alan telefonieren. Und schließlich hatte sie gedacht: Wo ist denn eigentlich das Problem? Ich will meinen Sohn sprechen, will ihn fragen, wie es ihm geht. Das ist die normalste Sache der Welt.

Um vier Uhr hatte sie in seinem Büro angerufen und erfahren, daß er für diesen Tag alle Termine abgesagt hatte und daheim geblieben war. Tief beunruhigt hatte sie daraufhin seine Privatnummer gewählt, und eine Ewigkeit lang war niemand an den Apparat gegangen. Als sie schon wieder hatte auflegen wollen, hatte Alan sich gemeldet, in letzter Sekunde. Im allerersten Moment hatte sie nicht begriffen, daß er es war, dann hatte sie begriffen und war erstarrt.

Noch jetzt, auf diesen rauhen Wiesen, die getaucht lagen in das rotgoldene Licht des wunderbaren Frühsommerabends, spürte sie die eisige Kälte, den Schmerz dieses Moments. Sie erinnerte sich an jedes Wort, an jedes Schweigen, an jeden Atemzug wahrend des Gesprächs.

«Wer is' da?«hatte es aus dem Hörer gelallt, und sie hatte zurückgefragt:»Hallo?«

«Wer is' da?«wiederholte die Stimme am anderen Ende, und in dieser Sekunde hatte sich alles in ihr zusammengekrampft.

«Alan?«

«Ja. Wer is' da?«

«Ich bin es. Beatrice. Mummie. Alan, bist du krank? Du klingst so eigenartig.«

Sie wußte, daß er nicht krank war, aber sie krallte sich an einem winzigen Funken irrationaler Hoffnung fest.

Es dauerte eine Weile, bis er antwortete. Es schien ihm schwerzufallen, seine Gedanken zu sammeln und sich zu konzentrieren.»Mummie?«

«Ja. Alan, wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?«

«Oh… klar… alles in Ordnung.«

Er sprach abgehackt, verschluckte einzelne Silben.»Wie geht… es… dir?«

«Alan…«

Ihre Stimme klang wie klirrendes Glas.»Hast du etwas getrunken?«

«O Gott… Mummie… rufst… rufst du deshalb an?«

Er klang so undeutlich, daß sie ihn kaum verstand.

«Alan!«

Es war ihr, als müsse sie ihn festhalten mit ihrer Stimme.»Warum hast du getrunken? Es ist mitten am Tag! Warum bist du nicht im Büro?«

«Ein… einen Whisky«, sagte er angestrengt.»Ehrlich… einen… kleinen… Whisky…«

«Das war kein kleiner Whisky. Das waren mehrere doppelte. Mindestens. Du bist völlig betrunken.«

«Uns… Unsinn. Mummie, du… bist ziemlich hys… hysterisch.«

Er brachte das Wort mit größter Mühe hervor.»Mach dir keine… Sorgen. M… mir geht's gut… ehrlich.«

«Dir geht es überhaupt nicht gut, sonst wärst du nicht so betrunken mitten am Tag. Wo ist Maja?«

«Maja?«

«Ja. Maja! Sie lebt doch seit ein paar Wochen bei dir. Wo ist sie?«

«Sie… is' nich' da.«

«Wo ist sie denn?«

«Ich… weiß nich'.«

«Du weißt es nicht? Das mußt du doch wissen, wenn ihr zusammenlebt. Alan, konzentriere dich doch mal!«

Verzweifelt versuchte sie, seinem alkoholumnebelten Gehirn einzelne Erinnerungsfetzen zu entreißen.»Was ist mit Maja? Habt ihr euch gestritten?«

Er begriff nicht, was sie ihn fragte, versuchte, sie mit sinnlosen Auskünften zufriedenzustellen, stammelte irgend etwas von einem juristischen Fall, mit dem er im Vorjahr beschäftigt gewesen war. Zwischendurch machte er so lange Pausen, daß Beatrice meinte, er sei gar nicht mehr am Apparat. Dann jedoch lallte er plötzlich weiter, plapperte zusammenhanglos, und einmal lachte er laut, lachte so schrill und verzweifelt, daß es ihr das Herz zerschnitt. Irgendwann, im Verlauf der folgenden Stunde, fand sie in mühevoller Kleinarbeit und durch zähes Nachfragen heraus, daß Maja für immer gegangen war, genauer gesagt, daß er sie hinausgeworfen hatte.

«Sie is' jetz' bei Frank«, erklärte er, nachdem er längere Zeit überlegt hatte, wie der Nebenbuhler hieß, mit dem sich Maja eingelassen hatte,»ich hab ihr gesagt, sie… soll bei ihm bleiben.«

«Das ist vernünftig, Alan. Das einzig Richtige, was du tun konntest. Alan, hör zu«, sie hatte versucht, trotz ihrer

Verzweiflung einen sachlichen Ton anzuschlagen,»Alan, du wirst dieses Mädchen nicht mehr wiedersehen. Hast du verstanden? Maja tut dir nicht gut. Es ist jedesmal das gleiche. Es funktioniert nicht zwischen euch, und du wirst damit immer schlechter fertig. Hörst du? Begreifst du, was ich sage?«

Irgendwann hatte sie ihn so weit, daß er folgsam versicherte, er werde mit Maja nichts mehr anfangen, aber Beatrice vermutete, daß er nicht wirklich begriffen hatte, was los war. Sie redete auf ihn ein, er solle alle Flaschen wegstellen, sich ins Bett legen und für den Rest des Tages auf keinen Fall auch nur einen Tropfen Alkohol zu sich nehmen. Er versprach auch das, doch es schien ihr unwahrscheinlich, daß er sich daran halten würde. Er würde an jede Reserve gehen, die er in seiner Wohnung auftreiben konnte, und das würde nicht wenig sein.

Sie hatte das Gespräch beendet und war in eine tiefe Depression gestürzt, hatte nicht gewußt, was sie tun sollte, war planlos im Haus herumgelaufen, war schließlich in den Garten gegangen und hatte begonnen, die Rosenbeete vom Unkraut zu befreien. Aber ihre Hände hatten gezittert dabei, und ihre Knie waren weich gewesen. Irgendwann war Franca aufgekreuzt und hatte ein totenblasses Gesicht gehabt.

«Wo ist denn Ihr Mann geblieben?«hatte Beatrice gefragt, eher mechanisch, denn es interessierte sie kaum in diesem Moment.

«Wir waren zum Essen im Chalet-Hotel«, sagte Franca,»an der Fermain Bay. Sie hatten dort noch ein Zimmer, das hat er gleich genommen.«

Sie wirkte fahrig, unruhig.

Heute ist kein guter Tag, dachte Beatrice.

«Ich kann heute abend nicht mitkommen zu Kevin«, sagte Franca,»ich muß Michael noch einmal treffen. Es ist… es müssen eine Menge Dinge geklärt werden, und daher muß ich ihn noch einmal sehen. Wenn Sie mir Kevins Telefonnummer…«

«Ich gehe sowieso ins Haus, ich rufe ihn an«, erklärte Beatrice und kam wacklig auf die Beine. Es hatte keinen Sinn, mit den Rosen weiterzumachen, ihr war übel, und sie würde irgendwann zusammenklappen. Sie ging hinein, aber dann fehlte ihr plötzlich die Energie, mit Kevin zu sprechen; sie verschob das Vorhaben, ihn anzurufen, und zog sich in ihr Zimmer zurück, wo sie bis zum Abend blieb. Schließlich hörte sie, wie sich Helene im Bad zurechtmachte. Wie meistens summte die alte Frau dabei vor sich hin und vermittelte einen Eindruck von Selbstzufriedenheit, der Beatrice aggressiv machte.

Franca geht es nicht gut, und mir geht es nicht gut, dachte sie zornig, aber sie merkt nichts und tut so, als sei die Welt in Ordnung.

Franca zog schließlich zu dem Treffen mit Michael ab; sie trug das neue, kurze Kleid, das Helene ihr in St. Peter Port gekauft hatte. Mit ihrer leicht gebräunten Haut, den frisch gewaschenen Haaren und ein wenig Farbe auf den Lippen sah sie besser aus denn je, obwohl sie ernst und traurig wirkte.

Ihr Mann wird einige Hebel in Bewegung setzen, um ihr Herz zurückzugewinnen, dachte Beatrice, aber ich glaube nicht, daß er erfolgreich sein wird.

Und nun lief sie über die Klippen, weil sie sich unfähig gefühlt hatte, einen Abend mit Helene zu ertragen. Hätte sie mit Kevin allein sein können, sie hätte ihm von dem Telefonat erzählt, hätte mit ihm über die Dinge gesprochen, die sie beschäftigten. Aber Helenes Kommentare hätte sie nicht anhören können. Sie wollte ihr nichts erzählen. Alans schrecklicher Zustand ging Helene nichts an. Schlimm genug, daß sie etwas ahnte; sie hatte das Telefonat mitbekommen, und natürlich konnte sie sich manches zusammenreimen. Sie wußte um sein Problem. Jeder auf Guernsey wußte es. Und eine Menge Leute in London vermutlich auch.

Gott, ich wußte es, dachte sie, ich wußte es, ich wußte es. Als ich hörte, Maja ist zu ihm gegangen, da wußte ich, was passieren würde.

Sie war schnell gelaufen, ihr Atem ging heftig. Sie stieg den Felsen hinauf, der unmittelbar vor ihr aufgetaucht war. Ihre Hände legten sich auf das rauhe Gestein, das noch warm war von der Sonne des Tages. Wie immer war es ihr, als ströme etwas von der Kraft des Steins in sie. Der Zauber versagte nie, und selbst an diesem fürchterlichen Tag erwies er sich als Trost. Sie wurde ein wenig ruhiger, ein wenig entspannter. Sie setzte sich auf einen Stein am höchsten Punkt des Felsens und stützte den Kopf in die Hände.

Verdammt, dachte sie, er wird nicht davon loskommen. Er schafft es nicht. Es geschehen immer wieder Dinge, die ihn zurückreißen.

Es hatte sie so entsetzt, ihn ins Telefon lallen zu hören, weil sie seine Stimme kannte, wenn er in diesem Zustand war, wenn er zu betrunken war, um noch gerade stehen zu können, wenn ihm die Sprache versagte, wenn er sich wie ein Kleinkind anhörte, kaum einen Gedanken fassen und ihn schon gar nicht zu Ende denken konnte. Sie hatte ihn so oft so erlebt, daß sie es nicht mehr hätte zählen können.

Wann war es das erste Mal? überlegte sie. Sie kramte in ihrem Gedächtnis: Er mußte einundzwanzig oder zweiundzwanzig gewesen sein. Er hatte schon studiert und war während der Ferien auf Guernsey gewesen. Es hatte Probleme gegeben, mit denen er nach und nach erst herausgerückt war; es war, soweit sie sich erinnerte, um mißglückte Prüfungsarbeiten gegangen. Nachdem er es einmal gesagt hatte, konnte er nicht mehr aufhören, davon zu reden, es hatte ihn umgetrieben und beschäftigt, Tag und Nacht. Weder Helene noch Beatrice hatten dieses Ereignis, das sich für ihn als Katastrophe darstellte, als eine solche empfunden, aber Beatrice dachte heute, daß sie hellhöriger hätte sein müssen.

Ein Mensch sprach nicht ständig über ein Thema, wenn es ihn nicht zutiefst beschäftigte. Eines Nachts hatte sie ihn nach Hause kommen und auf der Treppe schwer stürzen hören, sie war hinausgelaufen und zurückgezuckt vor der Alkoholfahne, die ihr entgegenschlug. Alan lag über die beiden untersten Stufen gebreitet und stöhnte. Sein Hemd war aus der Hose gerutscht, sein Jackett hatte er im Flur verloren. Seine Haare standen wirr und struppig um den Kopf, sein Gesicht war gerötet.

«H… hallo, Mummie«, lallte er, versuchte aufzustehen, brach aber sofort wieder zusammen.

«Lieber Himmel, Alan, was hast du denn gemacht?«

Sie neigte sich zu ihm, hob seinen Kopf, strich ihm mit den Fingern über die glühenden Wangen.

«Mir… ist schlecht«, murmelte Alan.

Natürlich war inzwischen auch Helene wach geworden und eilte herbei. Sie reagierte geschockt, fast hysterisch.

«O nein, was ist los? Ist Alan verletzt? Großer Gott, er ist doch nicht betrunken? Er stinkt ja fürchterlich nach Alkohol! Meinst du, er hat…?«

«Er hat«, sagte Beatrice kurz,»und das kommt bei jedem jungen Mann hin und wieder vor. Jetzt hilf mir, ihn auf sein Zimmer zu bringen.«

Gemeinsam zogen sie Alan die Treppe hinauf. Zwischendurch übergab er sich, was erneut heftiges Zetern bei Helene auslöste. Sie dramatisierte die Geschichte über alle Maßen — hatte Beatrice damals gefunden. Heute dachte sie: als ob sie den Beginn der Tragödie geahnt hätte!

Alan hatte, auf seinem Bett liegend, ununterbrochen geredet, und ständig war es um die Prüfungen gegangen, bei denen er durchgefallen war. Beatrice hatte ihn ausgezogen und gesäubert und ihm erklärt, er solle die dummen Prüfungen vergessen; er werde sie wiederholen, und in kürzester Zeit sei Gras über die Angelegenheit gewachsen. Sie hatte sich gesagt, daß ihm etwas schiefgegangen war und er sich tief frustriert hatte vollaufen lassen. Wem war so etwas noch nicht passiert?

Es passierte Alan für den Rest der Ferien an jedem einzelnen Abend. Er ging mit Freunden weg und kehrte völlig betrunken nach Hause zurück. Einige Male kam er gar nicht wieder, und Beatrice ging ihn suchen, fand ihn am Hafen von St. Peter Port auf Parkbänken oder auf den Steinen liegend. Häufig lag er in seinem Erbrochenen. Sie wußte, daß das nicht mehr normal war. Es passierte zu häufig, und sein Konsum war zu unmäßig. Er betrank sich nicht einfach. Es schien, als wolle er sich zu Tode trinken. Es schien, als finde er das Leben so unerträglich, daß er ihm ständig und am besten für immer entfliehen wollte. Beatrice klammerte sich an der Hoffnung fest, es geschehe nur während der Ferien, während dieser Ferien. Wenn er wieder an der Uni war, regelmäßig arbeiten mußte, konnte er sich derartige Eskapaden kaum leisten. Dann mußte er zu einer anderen Lebensweise zurückfinden.

Er fand nicht mehr zu einer anderen Lebensweise zurück,zumindest nicht dauerhaft. Es gab Phasen, da war er trockener, aber das bedeutete auch nur, daß sich sein Alkoholkonsum in Grenzen hielt, die es ihm erlaubten, sich unauffällig zu bewegen. Er brauchte eine bestimmte Menge jeden Tag, mit der er» gut «war erfolgreich, kommunikativ, selbstsicher. Blieb er darunter, wurde er zittrig und nervös. Überschritt er die Menge, dann lag er in einer Ecke, und es war nichts mit ihm anzufangen. Seiner Umgebung — selbst Beatrice — machte er auf diese Weise eine ganze Weile lang glaubhaft vor, es sei alles in Ordnung mit ihm. Wer die typischen Merkmale des Gewohnheitstrinkers nicht kannte — die großporige Haut, die gerötete Nase, die gelbliche Färbung der Wangen, die tiefen Säcke unter den Augen —, hätte ihn für einen gesunden, stabilen Mann gehalten, der manchmal ein wenig elend aussah, was man aber auf Streß und Überarbeitung zurückführen konnte. Beatrice hatte Jahre gebraucht, um zu begreifen, daß ihr Sohn ständig trank. Daß er jedem Problem des Alltags mit Alkohol begegnete. Jeder beruflichen Herausforderung, jedem Ärger mit Kollegen oder Mandanten, jeder Frustration in seinem Beziehungsleben. Sie wußte später gar nicht genau zu sagen, woran sie es am Ende erkannt hatte, es war ein schleichendes Erkennen gewesen, ein langsamer Prozeß, in dessen Verlauf sie gelernt hatte, die Anzeichen zu deuten, hellhörig und scharfsichtig zu werden. Irgendwann gelang es ihr nicht mehr, sich noch etwas vorzumachen. Ihr Sohn war Alkoholiker. Und es schien keinen Weg zu geben, ihm zu helfen. Sie konnte ihm nur immer wieder zu verstehen geben, daß sie da war. Daß er — was auch immer passierte — nie eine Scheu haben mußte, zu ihr zu kommen.

Sie saß auf dem Felsen und sah zu, wie die Sonne ins Wasser fiel, und dachte verzweifelt, daß alles erst wirklich schlimm geworden war, als er begonnen hatte, sich mit Maja einzulassen. Was zum Teufel fand er an dieser kleinen, billigen Schlampe, die ihm das Wasser nicht reichen konnte? Maja war sehr attraktiv, aber es gab unendlich viele attraktive Frauen, und viele von ihnen hatten darüber hinaus Stil und Anstand und lebten nach gewissen moralischen Regeln. Alan sah gut aus und hatte einen interessanten Beruf. Beatrice wußte, daß ihn viele Frauen anhimmelten. Warum mußte es die unmöglichste Person von ganz Guernsey sein?

Und natürlich war es nun wieder schiefgegangen. Es ging immer schief, und außer ihm hatte das auch schon jeder begriffen. Zwei Wochen lang hatte sich Maja offenbar zusammengenommen, dann war sie in das ihr angestammte Verhaltensmuster geglitten. Genaugenommen hatte sie ihr Muster wohl nie verlassen. Es hatte nur zwei Wochen gedauert, bis Alan ihr auf die Schliche gekommen war.

Mae, diese dumme, naive Person! Die außer Alan als einzige immer noch glaubte, Maja werde sich ändern.

Wie beleidigt war sie wieder, als ich meine Sorgen äußerte, dachte Beatrice, und sie war einmal mehr der Ansicht, ich übertreibe! Es macht sie fertig, wenn jemand schlecht reden könnte über ihren kleinen Liebling. Bis zu ihrem Tod wird sie in Maja das Unschuldslamm sehen.

Sie fröstelte. Die Sonne war jetzt untergegangen, und sofort wurde es kühl. Der Himmel im Westen war noch rot gefärbt, aber über die Felsen und Wiesen kroch nun die Dunkelheit. Sie wußte, wie die Entwicklung sein würde: Alan würde sich nicht nur an diesem heutigen Montag bis zur Besinnungslosigkeit betrinken. Er würde es während dieser, der nächsten und der übernächsten Woche Tag für Tag tun. Er würde völlig ausfallen, für niemanden zu sprechen sein,keinen einzigen beruflichen Termin mehr wahrnehmen. Seine Sekretärin, die glücklicherweise treu und völlig verschwiegen war, würde die Hände ringen und wieder einmal mit aller Kraft versuchen, die Situation zu retten, Ausflüchte und Erklärungen zu finden, um ihren Chef wenigstens vor den Mandanten in Schutz zu nehmen, sein Ansehen zu wahren. Beatrice ahnte, daß ihr das immer schlechter gelang. In der Branche hatte es sich natürlich längst herumgesprochen, was mit Alan Shaye los war, und niemand war an Diskretion interessiert. Niemandem war daran gelegen, Alans Integrität zu schützen. Es war eine Frage der Zeit, wann seine Mandanten abspringen würden. Es hing von der Häufigkeit ab, mit der er Termine platzen ließ. Niemand machte das allzuoft mit. Die Leute gingen los und suchten sich einen anderen Anwalt, und Beatrice vermutete, daß viele das auch schon getan hatten, daß Alan nur nicht darüber sprach. Maja würde nicht nur seine Gesundheit ruinieren. Sie konnte ihn auch in ein berufliches Fiasko treiben.

Beatrice wußte auch, aus jahrelanger, leidvoller Erfahrung, wie es nun zwischen Alan und Maja weitergehen würde. Er hatte sich von ihr getrennt und litt wie ein Hund, und sie ging ihren Vergnügungen nach und wartete in aller Seelenruhe ab. Sie wußte ganz genau, daß er sie zurücknehmen würde, daß er betteln würde, sie möge sich ihm wieder zuwenden. Er würde ungefähr zwei Wochen saufen, dann würde er wieder ins Büro gehen, er würde aussehen wie ein Gespenst, bleich und krank und elend, aus einer Hölle emporgestiegen und nachhaltig von ihr gezeichnet, aber zunächst einmal wieder unter den Lebenden weilend, wobei sein Aufenthalt dort befristet war. Die Hölle hatte ihn, es bedurfte nur einer geringen Erschütterung, ihn dorthin zurückkehren zu lassen. Er würde sich durch den Berufsalltag schleppen, sich auf sein» normales«

Alkoholmaß einpendeln, das, wie stets nach derartigen Einbrüchen, wieder ein wenig über dem Pegel der Zeit davor liegen würde. Er würde leiden, er würde seine Einsamkeit spüren, sie würde in jede Faser seines Körpers und seiner Seele eindringen, ihn schwach machen, trostlos und krank. Seine innere Einsamkeit in den Zeiten ohne Maja stellte seinen schlimmsten Feind dar — und für Maja den Schlüssel zu ihrer Rückkehr. Irgendwann war er soweit. Er vergaß seinen Stolz, gab jede Selbstachtung auf. Sie beteuerte, sie wolle sich bessern, und er wollte es glauben und glaubte es daher auch, klammerte sich an die trügerische Hoffnung und eilte dem nächsten Absturz entgegen.

Sie stand auf, kuschelte sich noch tiefer in ihre Jacke, aber das nützte nichts mehr bei dem frischen Wind, der nun vom Meer kam. Zudem fror sie von innen, und dagegen half nicht einmal die wärmste Wolle.

Ich wünschte, Maja wäre tot, dachte sie, während sie zum Auto zurückging. Sie spürte die Verzweiflung wie einen stechenden Schmerz und erschrak nicht einmal über die Inbrunst ihres Wunsches. Ich wünschte, es würde sie einfach nicht mehr geben.

Sie setzte sich ins Auto, fühlte sich klein und verloren. Schuldgepeinigt. Denn irgendwo lag eine Schuld auch bei ihr. Alan war ihr Kind. Sie hatte nicht genügend aufgepaßt.

Sie wollte nicht nach Hause. Sie blieb im Auto sitzen und sah der Nacht zu, die sich über die Insel senkte.

Sie saßen im Old Bordello, das so plüschig war, wie es sein Name verhieß, und ignorierten das Gähnen und Hüsteln der Kellner, die um sie herumeilten und sichtlich nur darauf warteten, daß sie endlich die Rechnung verlangten und gingen. Sie waren die einzigen Gäste. Im Lauf des Abends war noch ein anderes Paar dagewesen, hatte aber sehr schnell gegessen und war dann eilig wieder verschwunden. Franca hatte den Eindruck, daß jemand während der vergangenen fünf Minuten schleichend die Musik lauter gedreht hatte. Sie wollten ihnen die Unterhaltung erschweren. Sie wollten sie endlich hinausekeln.

Allerdings sprachen sie ohnehin nicht miteinander, seit einer halben Stunde schon nicht mehr. Michael hatte noch einen Cognac geordert und drehte das Glas hin und her, als wolle er den Stiel abbrechen. Es befand sich ein winziger Rest Cognac in dem Glas, eine letzte goldene Färbung am Grund.

Wofür spart er ihn sich auf? fragte sich Franca. Ist es seine Rechtfertigung dafür, hier ungebührlich lange sitzen zu bleiben? Oder will er mich halten? Er weiß, wie absurd höflich ich in jeder Lebenslage bin. Ich würde nicht aufstehen und gehen, solange noch jemand am Tisch nicht fertig gegessen und getrunken hat.

Sie hatte eine Tablette genommen, um den Abend überstehen zu können, dann war sie losgefahren und hatte Michael in seinem Hotel abgeholt. Sie wollte ihm die Wahl des Restaurants überlassen, aber er war zu lange schon nicht mehr auf Guernsey gewesen, ihm fiel kein Name ein. Sie waren an den Hafen gefahren, hatten das Auto geparkt und waren die Uferstraße entlanggelaufen, und plötzlich hatte Michael gesagt:»Schau mal, dieses Restaurant dort heißt Old Bordello! Das klingt doch witzig, oder? Laß uns hineingehen.«

Franca fand, daß die Situation an diesem Abend alles andere als witzig war, daher verstand sie ihn nicht recht, aber da es ihr ohnehin gleich war, wo sie aßen, stimmte sie zu. Immerhin saßen sie am Fenster und hatten einen schönen Blick auf Castle Cornet. Obwohl auch das im Prinzip keine Rolle spielte. Es ging um ihre Scheidung. Das Ambiente war in dieser speziellen Situation zweitrangig.

Michael hatte zunächst, ein wenig mühsam, oberflächliche Konversation gemacht, Smalltalk über das Wetter, die Insel, die Mentalität der Menschen, die hier lebten.

«Eine Dame im Hotel erzählte mir vorhin, daß auf der ganzen Insel am 9. Mai Feierlichkeiten stattfinden«, sagte er,»Umzüge, Paraden, Blumenschmuck… Wie fändest du es, wenn wir eine Woche hierblieben, um dabeizusein? Ich meine, was meine Arbeit betrifft, kann ich es mir kaum leisten, aber ich könnte einmal fünf gerade sein lassen. Die Augen zumachen und einfach leichtsinnig sein… Was hältst du davon?«

Es war der Moment gewesen, an dem sie das eigentliche Thema ein zweites Mal anschneiden mußte.

«Ich will nicht Ferien mit dir machen«, sagte sie,»ich will besprechen, wie wir unsere Scheidung regeln.«

Der Kellner hatte das Essen gebracht, und Michael hatte einen Moment gewartet, ehe er antwortete, obwohl der Bedienstete ihre auf deutsch geführte Unterhaltung wohl ohnehin nicht hätte verstehen können.

«Du bist aufgewühlt und erregt«, sagte er dann,»und du hast dich da in etwas hineingesteigert… Deshalb hielt ich es auch für völlig falsch, daß du einfach weggelaufen und hierhergereist bist. Ich verstehe ja, daß dich meine… meine Affäre wütend gemacht hat.«

Er stocherte etwas verlegen mit der Gabel in seinem Essen herum.

«Es tut mir leid«, sagte er schließlich. Wer ihn kannte, hätte die Einzigartigkeit des Augenblicks zu schätzen gewußt. Franca konnte sich nicht erinnern, daß Michael sich jemals entschuldigt hätte — bei wem auch immer.

«Es war nicht richtig von mir. Ich habe dich verletzt. Ich werde die Sache beenden, und es wird nie mehr vorkommen.«

«Michael…«

Er hob die Hand.»Moment. Ich wollte noch hinzufügen, daß Weglaufen in solchen Situationen völlig falsch ist.«

Natürlich, dachte Franca, es wäre ja auch das erste Mal, daß ich etwas richtig mache.

«Es ist nicht gut, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen und vor sich hin zu grübeln. Ich kann verstehen, daß du Abstand wolltest, daß du allein sein wolltest. Aber man kommt auf dumme Gedanken, wenn man sich im engen Gefängnis des eigenen Kopfes ständig im Kreis dreht. Du siehst es ja in deinem Fall. Nun denkst du an Scheidung — was eine völlige Überreaktion ist.«

Franca schob ihren Teller ein Stück von sich. Sie bezweifelte plötzlich, daß sie in der Lage sein würde, auch nur einen Bissen hinunterzubekommen.

«Es ist keine Überreaktion«, sagte sie,»und ich habe diesen Plan auch nicht im ›engen Gefängnis meines Kopfes‹ gefaßt, wie du es nennst. Tatsache ist, daß ich bis heute morgen überhaupt nicht daran gedacht habe. Erst in der Sekunde, in der du zur Tür hereinkamst…«

Sie überlegte, wie sie in Worte fassen sollte, was sie empfand.»In der Sekunde wußte ich, daß wir uns trennen müssen. Verstehst du, es war keine Überlegung. Es war ein Wissen. Ich brauchte und brauche nicht darüber nachzudenken. Es geht nicht mehr.«

«Mein Gott, das ist ja noch schlimmer!«

Auch Michael schob seinen Teller zurück, zündete sich eine Zigarette an.»Das ist ja eine richtige Kurzschlußreaktion! Dir schießt ein Gedanke durch den Kopf — ein Gedanke solch ungeheuren Ausmaßes in den Auswirkungen. Du bildest dir ein, es handle sich um ein Wissen, und — peng! Schon knallst du mir die Scheidung hin und willst nicht einmal mit mir darüber reden!«

«Wenn ich es ablehnen würde, mit dir zu reden, säßen wir nicht hier. Nach zehn Jahren gehe ich nicht weg ohne ein Wort. Wir können reden, aber das wird nichts an meinem Entschluß ändern. Und zwar deshalb, weil ich, selbst wenn ich wollte, nichts ändern könnte. Ich kann nicht! Es geht nicht mehr. Versteh das doch, schon rein körperlich kann ich bei dir nicht bleiben.«

Er sah sie beunruhigt an.»Du willst nicht mehr mit mir schlafen? Aber wir haben doch sowieso sehr selten…«

«Aber es geht doch nicht um Sex!«

Sie ahnte, daß er nicht begreifen würde, was in ihr vorging.»Ich habe eine körperliche Angstreaktion gespürt heute morgen. Ich hatte nasse Hände und weiche Knie. Mein Atem ging schneller. Ich merkte, wie ich… o Gott, Michael, das ist doch nicht normal, oder? Keine Frau sollte sich so fühlen, wenn ihr Mann ins Haus kommt.«

«Natürlich nicht, aber ist das nicht eine Reaktion, wie du sie bei dir kennst? Ich bin wirklich bereit, eine Menge Schuld auf mich zu nehmen…«

Genau das bist du nicht, dachte Franca.

«…aber ich muß doch widersprechen, wenn du behaupten willst, dies sei eine Reaktion von dir speziell auf mich. Du reagierst auf alles mögliche so. Du bist so! Panisch, überängstlich, nervös und — sei mir nicht böse — zudem hysterisch. Das ist ja auch der Grund für dein berufliches Scheitern.«

«Aber selbst wenn das stimmt — wenigstens bei dir sollte ich doch Geborgenheit finden, oder nicht?«

«Ja, das wäre schön. Ich denke auch, ich habe eine Menge getan, dir dieses Gefühl zu vermitteln.«

Er sah sie gekränkt an, beleidigt, weil sie seine Mühen nicht zu schätzen gewußt hatte.»Aber offensichtlich hat es nichts genützt. Du hast dich gegen meine Hilfsangebote ja auch immer gewehrt. Ich habe dich zu stützen versucht, habe dir erklärt, was ich an deiner Stelle tun würde und was nicht… aber meistens wurde mir dann ja der Vorwurf gemacht, ich würde dich gängeln und bevormunden. Was ich auch tat für dich, es war dir nicht recht.«

Der Kopfschmerz meldete sich wieder, fein und hintergründig wie ein Hauch nur, aber Franca nahm ihn dennoch wahr und wußte, er würde nun von Minute zu Minute stärker werden. Der Schmerz kam immer, wenn Michael auf sie einredete. Vielleicht lag es an der Eindringlichkeit, mit der er sprach, vielleicht an den ewigen Vorwürfen, die er ihr machte, ganz gleich, um welches Thema es ging. Daß er nicht merkt, daß es keinen Sinn mehr hat zwischen uns, dachte sie voller Staunen, daß er nicht merkt, wie krank und kaputt alles ist.

Aber er konnte es nicht fühlen, überlegte sie, weil er sich nie so gestreßt gefühlt hatte in ihrer Ehe. Er war nicht niedergemacht worden. Er hatte sich nicht ständigen Angriffen ausgesetzt gesehen. Er hatte sich nicht Tag für Tag in Frage stellen müssen. Er hatte vermutlich nie an diesem nagenden Kopfschmerz gelitten. Er war ganz einfach völlig anders bei Kräften als sie.

Der Kellner hatte inzwischen bemerkt, daß sie beide ihre Teller weggeschoben hatten, und eilte herbei.

«Ist mit dem Essen etwas nicht in Ordnung?«

«Wir haben keinen Hunger«, knurrte Michael,»Sie können abräumen.«

«Aber…«

«Nehmen Sie es weg. Und bringen Sie mir einen Schnaps!«

Der Kellner eilte mit den unberührten Tellern davon. Michael rauchte mit hastigen Zügen.

«Ich weiß nicht, was vorgefallen ist«, sagte er,»aber irgendwie mußt du ein wenig größenwahnsinnig geworden sein hier auf Guernsey. Ich meine, du kennst dich doch schließlich! Du bist völlig lebensunfähig allein. Über Wochen konntest du nicht einmal in einen Supermarkt gehen, ohne Panikreaktionen zu bekommen, also bist du einfach nicht gegangen. Du wärst glatt verhungert, wenn ich nicht eingekauft hätte. Überlege dir doch einmal, wie eine Frau allein leben will, die kaum die Nase zur Tür hinausstrecken kann, ohne sich vorher mit Beruhigungstabletten vollzustopfen.«

«Ich bin, trotz allem, immerhin allein bis Guernsey gekommen«, erinnerte Franca,»und ob du es glaubst oder nicht, ich betrete hier auch Supermärkte. Ich sitze mit dir in einem Restaurant. Bisher habe ich kein Anzeichen von Panik gezeigt.«

«Du hast vermutlich Tabletten genommen.«

«Ja. Aber das habe ich früher auch immer getan, und trotzdem konnte ich die meisten Dinge nicht bewältigen.«

Ich müßte etwas essen, dachte sie, der Hunger wird das Kopfweh schlimmer machen. Aber ich werde nichts hinunterbringen.

«Guernsey ist eine kleine, in sich abgeschlossene Welt, die dir offenbar ein Gefühl der Sicherheit vermittelt«, meinte Michael,»aber das ist trügerisch. Irgendwann mußt du ins normale Leben zurück. Und dann sind die alten Probleme wieder da.«

«Vielleicht bleibe ich auch auf Guernsey«, sagte Franca.

Michael starrte sie entgeistert an.»Auf Guernsey? Was willst du denn hier machen?«

«Leben.«

«Leben? Und wovon, wenn ich das wissen dürfte?«

«Eine Zeitlang werde ich ganz gut durchhalten, wenn wir unser Vermögen aufgeteilt haben. Und dann muß ich weitersehen.«

«Aha. Endlich sprichst du Klartext. Du willst Geld.«

«Ich denke, die Hälfte von allem, was wir haben, steht mir zu. Das ist so.«

«Darum geht es dir also! Mich arm zu machen und dann das Weite zu suchen. Vermutlich hoffst du, weit mehr als die Hälfte zu bekommen. Aber ich…«

Der Schmerz erreichte nun jäh eine betäubende Heftigkeit. Er kam so überfallartig, wie sie es selten erlebt hatte. Es war, als wetze ein Tier seine Krallen in ihrem Kopf.

«Ich will nicht mehr, als mir zusteht«, sagte sie mühsam.»Aber über diese Dinge können wir später reden. Wir werden uns irgendwie einigen. Ich denke, wir sollten versuchen, die Trennung fair und sauber zu bewältigen.«

Michael zündete sich die nächste Zigarette an. Die Haut um seine Nase herum hatte sich gelblich verfärbt, ein Zeichen dafür, daß er unter großer Anstrengung stand.

«Es ist nicht zu fassen«, sagte er,»es ist einfach nicht zu fassen! Wir sitzen hier auf einer verfluchten Insel am Abend des 1. Mai und sprechen über unsere Scheidung! Ich glaube es nicht!«

«Irgendwann«, sagte Franca,»werden wir uns beide nur noch erlöst fühlen.«

Sie kramte ein Aspirin aus ihrer Handtasche und warf es in ihr Wasserglas.

«Entschuldige. Ich brauche rasch eine Tablette.«

Von da an war Schweigen gewesen, nur ab und an unterbrochen von Schuldvorwürfen und Anklagen, die Michael aussprach, und von düsteren Schilderungen, mit denen er Francas Zukunft ausmalte. Dazwischen bestellte er Wein und Cognac und ließ sich neue Zigaretten bringen. Franca hielt sich an ihrem Mineralwasser fest, registrierte erleichtert, daß der Kopfschmerz ein wenig nachließ, und hoffte, der Abend möge vorübergehen. Mit einer fast erschreckenden Heftigkeit sehnte sie sich von Michael fort. Sie hatte den Eindruck, daß das Gebot der Höflichkeit sie verpflichtete, den Abend durchzustehen, Michael die Möglichkeit zu geben, loszuwerden, was ihm im Kopf herumging, auch wenn es Gift war, was er in sie hineinträufelte. Sie hatte die Trennung verlangt, und irgendwie schien es ihr die gerechte Buße zu sein, daß sie nun hier sitzen und ihn über sich ergehen lassen mußte. Sie war entschlossen, durchzuhalten. Notfalls würde sie ein zweites Aspirin nehmen.

Aber irgendwann, dachte sie, irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft wird es überstanden sein. Wir werden einander nie wiedersehen. Er wird seinen Weg gehen und ich meinen, und es wird keine Berührungspunkte mehr geben.

Sie forschte in sich, ob sie irgendwo Trauer fand bei dieser Vorstellung oder wenigstens ein Gefühl der Beklemmung. Aber da war nichts. Statt dessen war es, als liege, noch verborgen hinter Bergen aus vergessenem Schmerz und alten Ängsten, eine lebendige Freude auf der Lauer, ein Glücksgefühl, das in seiner Kraft und Vitalität fast erschreckend schien. Eine innere Stimme mahnte zur Vorsicht, während eine andere ihr zurief, daß sie nicht länger vorsichtig zu sein brauche. Etwas hatte sich geändert und stand im Begriff, sich noch weiterhin zu ändern, aber noch mißtraute sie diesem Angebot, das ihr das Leben machte. Sie hatte jegliches Glücksgefühl, jedes Gefühl von Freude und Zuversicht zu lange entbehrt. Sie hatte keine Vorstellung, wie es sein mußte, damit umzugehen.

Es war kurz vor Mitternacht, als sich der Kellner erneut entnervt ihrem Tisch näherte.

«Wir schließen jetzt um zwölf Uhr«, nuschelte er,»wenn ich Ihnen die Rechnung bringen dürfte…«

«Ich entscheide selbst, wann ich gehe«, bellte Michael. Er war ziemlich betrunken inzwischen und brauchte überdies ein Ventil für seine Aggressionen. Franca ahnte, daß er sich mit dem Kellner ernsthaft anlegen würde, wenn dieser auch nur den kleinsten Fehler machte. Eilig zog sie ihre Brieftasche hervor.

«Bringen Sie mir die Rechnung«, sagte sie,»ich übernehme das.«

«Du läßt dich von dem Typen nötigen?«fragte Michael mit schwerer Zunge.»Meine Frau läßt sich aus einem Restaurant weisen wie ein lästiger Zechpreller? Du…«

«Wir sitzen hier lange genug«, unterbrach Franca,»diese Leute haben auch irgendwann Feierabend. Wir hätten längst…«

«Wir hätten gar nichts längst! Das ist wieder typisch Franca! Einer kommt und sagt etwas, und Franca zieht den Schwanz ein. Du kuschst, wenn ein anderer nur den Mund aufmacht. Du bist so etwas von unterwürfig, das hat die Welt noch nicht gesehen.

Du…«

«Michael!«bat Franca leise. Er war ziemlich laut geworden, die Kellner blickten schon irritiert herüber.

«Ich lasse mir doch von dir nicht den Mund verbieten!«fuhr Michael auf.

«Ich bin müde«, sagte Franca,»ich möchte nach Hause.«

«Du möchtest nach Hause? Du möchtest das Gespräch beenden? Und du meinst, so einfach kommt du davon? Du knallst mir die Scheidung hin und erklärst dann, du seist jetzt müde und müßtest ins Bett?«

«Es gibt nichts mehr zu besprechen«, sagte Franca,»deshalb macht es keinen Sinn, hier noch länger zu sitzen.«

Der Kellner brachte die Rechnung. Franca legte ein paar Scheine auf den Tisch.

«Wir sind noch nicht am Ende«, sagte Michael.

Sie stand auf. Ihre Knie fühlten sich weich an. Der Tag war ihr an die Nerven gegangen, aber sie hatte den Eindruck, sich insgesamt gut geschlagen zu haben.

«Doch, Michael«, sagte sie,»wir sind am Ende.«

Es war seine Sache, wie er in sein Hotel zurückkam. Es gab Taxis. Es war nicht ihr Problem. Sie verließ das Restaurant, wußte, daß er ihr fassungslos hinterherstarrte, und ging zu ihrem Auto. Sie konnte fühlen, daß er in diesem Moment begriff: Es hat keinen Sinn, sie zurückhalten zu wollen. Die Angelegenheit war entschieden.

Sie schloß die Autotür auf, ließ sich auf den Sitz vor dem Lenkrad fallen. Vor ihr lag das hell angestrahlte Castle Cornet. Die Wellen des Meeres rauschten an den dunklen Strand.

Ich bin frei, dachte sie. Es war ein fast überwältigendes Gefühl, das sie für ein paar Sekunden fest die Augen schließen ließ. Ich bin frei. Und ich habe mir meine Freiheit selbst genommen. Niemand hat sie mir zugeteilt oder aufgezwungen oder gnädig gewährt. Ich habe sie genommen.

Sie öffnete die Augen. Sie wußte, daß Selbstzweifel und Ängste wieder erwachen, an ihr nagen würden. Aber für den Moment spürte sie eine Kraft, die so grenzenlos und unbezwingbar war, daß es ihr fast den Atem nahm.

Ich muß mich immer an diese Sekunden erinnern, dachte sie, immer, solange ich lebe. Ich muß mich erinnern, daß es diese Kraft gibt. Ich könnte sie nicht spüren, wenn sie nicht da wäre. Sie ist in mir. Sie wird immer in mir sein. Ich muß es nur wissen.

Sie wartete ein paar Sekunden, bis sich ihr Herzschlag beruhigt hatte, dann startete sie den Wagen und verließ den Parkplatz.

Es war genau Mitternacht.

11

Sie fuhr durch das tief schlafende Le Variouf und schlich die steile, gewundene Straße am Ende des Dorfes hinauf. Die Nacht war klar und dunkel. Wahrscheinlich ist der Himmel voller Sterne, dachte sie.

Sie bog in die Einfahrt, bremste hinter einem dort bereits parkenden Wagen. Es war Beatrices Auto. Erst als sie ausstieg, bemerkte sie, daß Beatrice noch hinter dem Steuer saß.

Sie klopfte gegen die Scheibe. Beatrice schrak zusammen, öffnete dann die Tür.

«Ach Franca, Sie sind es«, sagte sie,»ich habe völlig die Zeit vergessen. Wie spät ist es?«

«Es müßte gleich halb eins sein. Was machen Sie denn hier im Auto?«

«Ich habe nachgedacht.«

Beatrice stieg aus, schüttelte den Kopf, als wolle sie eine Reihe von unangenehmen Gedanken abschütteln.»Es gibt Probleme mit Alan, wissen Sie. Irgendwie werde ich das heute den ganzen Abend über nicht los.«

«Hat Kevin Sie ein wenig ablenken können?«

«Ich war gar nicht dort. Ich habe Helene abgesetzt und bin zum Pleinmont Point gefahren. Dort habe ich lange auf den Klippen gesessen. Wahrscheinlich«, sie lachte, und es klang gekünstelt,»bekomme ich eine Erkältung, und das ist alles, was ich von diesem Abend haben werde.«

Sie gingen nebeneinander her zum Haus, traten ein.

«Helene schläft sicher schon«, meinte Beatrice.»Wie war Ihr Abend, Franca? Wie lief es mit Ihrem Mann?«

Franca zuckte die Schultern.»Es war unerfreulich. Aber ich denke, wir sind fertig.«

Beatrice betrachtete sie forschend.»Sie sehen eigentlich nicht traurig aus!«

«Ich bin auch nicht traurig«, sagte Franca. Sie hängte ihren Mantel, den sie über dem Arm getragen hatte, an die Garderobe.»Ich bin erleichtert.«

«Ich werde noch rasch nach Helene sehen«, meinte Beatrice,»ich will wissen, daß sie wieder gut hier gelandet ist. Und dann trinken wir einen Rotwein, und Sie erzählen mir ein bißchen, ja?«

Franca berührte kurz ihren Arm.»Was ist mit Alan?«fragte sie leise.

«Das erzähle ich Ihnen dann auch«, sagte Beatrice.

Sie lief die Treppe hinauf. Franca blieb unten vor dem Spiegel neben der Garderobe stehen.

Wie sieht eine Frau aus, die frei ist? fragte sie sich. Sie lächelte ihrem Bild zu. Die Frau in dem leuchtendroten Kleid lächelte zurück. Sie sieht gut aus, entschied sie. Freiheit scheint attraktiv zu machen.

Oben lehnte sich Beatrice über die Brüstung.

«Helene ist nicht da!«rief sie. Ihre Stimme klang beunruhigt.»Sie ist nicht in ihrem Bett.«

«Vielleicht sonst irgendwo im Haus?«meinte Franca.

Beatrice runzelte die Stirn.»Es ist alles dunkel. Und still. Nein, sie ist offenbar nicht daheim.«

«Dann ist es eben später geworden bei Kevin. Sie kommt sicher gleich.«

Beatrice eilte die Treppe hinunter. Sie schien zutiefst irritiert.

«Helene schafft es gar nicht, so lange aufzubleiben. Spätestens um halb elf ist sie todmüde. Sie ist noch nie so lange weggeblieben.«

Sie schien ernsthaft verstört zu sein.

«Das kommt mir sehr eigenartig vor«, sagte sie.

Um Viertel nach eins riefen sie bei Kevin an. Zuvor hatten sie das ganze Haus durchsucht. Schließlich konnte Helene auch in den Keller gegangen und dort unglücklich gestürzt sein, wie Beatrice meinte.

Nirgends war eine Spur von ihr zu finden.

«Ihr Mantel hängt nicht an der Garderobe«, stellte Franca fest,»demnach ist sie nicht heimgekommen.«

Beatrice schnappte sich die große Taschenlampe, die in der Küche auf einem Regal lag.»Vielleicht hat sie den Schlüssel vergessen und ist irgendwo im Garten. Im Gewächshaus oder im Schuppen. Aber wenn ich sie dort nicht finde, rufe ich Kevin an, und wenn ich ihn aus dem tiefsten Schlaf hole.«

«Ich komme mit«, bot Franca an.

Beide Frauen stolperten durch den nächtlichen Garten. Die Taschenlampe malte einen hellen Lichtkegel in die Dunkelheit vor ihnen. Der Mond stand nur als schmale Sichel am Himmel, geheimnisvoll rauschte der Wind im Laub der Bäume. Franca trat in die weiche, aufgeplusterte Erde einiger Maulwurfshügel.

«Es ist unheimlich hier in der Nacht«, sagte sie schaudernd.

Beatrice rief Helenes Namen, aber es kam keine Antwort. Sie leuchteten in jeden Winkel der beiden Gewächshäuser, durchstöberten den alten Schuppen, in dem nun vorwiegend Fahrräder, ausrangierte Möbel und ein paar Bücherkisten standen. Franca kletterte sogar die Leiter zur ehemaligen kleinen Wohnung hinauf. Sie hörte ein paar Mäuse raschelnd verschwinden und verfing sich in klebrigen Spinnweben.

«Hier oben ist niemand!«rief sie hinunter.

«Jetzt rufe ich Kevin an«, sagte Beatrice entschlossen.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis Kevin an den Apparat ging. Beatrice hatte dreimal gewählt, jedesmal endlos durchläuten lassen. Als er sich endlich meldete, klang er keineswegs verschlafen.

«Hallo, wer ist denn da?«fragte er. Er war hellwach.

«Kevin! Mein Gott, ich hatte schon Angst, du hast das Telefon abgestellt und kannst das Läuten nicht hören. Hier ist Beatrice. Ist Helene noch bei dir?«

«Nein. Schon lange nicht mehr.«

«Seit wann ist sie fort?«

Er überlegte.»Seit etwa halb elf.«

«Halb elf? Es ist bald halb zwei. Sie ist nicht daheim!«

«Das ist eigenartig«, sagte Kevin.

«Eigenartig? Ich finde das außerordentlich beunruhigend. Hast du gesehen, wie sie ins Haus gegangen ist?«

«Ich habe sie gar nicht nach Hause gefahren.«

«Wie ist sie denn dann heimgekommen?«

«Mit einem Taxi. Sie hat es zwischen zehn und halb elf bestellt.«

«Aber wieso hast du sie nicht gefahren? Das hast du immer gemacht!«

«Ja, aber diesmal nicht. Ich hatte zuviel getrunken.«

«Das ist dir doch noch nie passiert!«

«Diesmal ist es aber passiert. Ist es ein Verbrechen, einmal etwas zuviel Alkohol zu erwischen?«

Beatrice merkte, wie sie langsam zornig wurde. Zum Teufel, Kevin sollte nicht so tun, als sei alles wie immer. Er hatte sich nicht an die Spielregeln gehalten, und nun war Helene nicht auffindbar, und offenbar schien es Kevin nicht einmal besonders zu erschüttern.

«Kevin, verdammt, diese alte Frau war zuletzt bei dir, also hattest du die Verantwortung! Wer war der Taxifahrer?«

«Das weiß ich nicht. Sie hat das Taxi bestellt.«

«Aber du hast ihr doch wahrscheinlich die Nummer gegeben.«

«Nein. Aber es hängt eine Taxinummer über meinem Telefon, die hat sie wohl gewählt.«

«Wieso mußte sie sich selber…«

«Himmel, Beatrice, ich war betrunken! Ich hatte einen Aussetzer… sie wollte weg… jetzt mach mich doch nicht so fertig deswegen!«

«Ich möchte die Nummer haben. Irgend etwas stimmt da nicht. Helene löst sich nicht plötzlich in Luft auf!«

«Vielleicht ist sie noch irgendwo hingegangen«, meinte Kevin.

Beatrice schnaubte.»Kevin, ich bitte dich! Wir kennen beide Helene! Sie ist nicht die Frau, die plötzlich nachts durch die Kneipen von St. Peter Port zieht! Würdest du mir jetzt bitte die Nummer von dem Taxi-Unternehmen geben? Vielleicht wissen die etwas von einem Unfall.«

Sie notierte die Nummer, sagte hastig:»Ich melde mich wieder, Kevin!«, legte auf und rief bei dem Taxi-Unternehmen an. Sie mußte es wieder und wieder versuchen, ehe sich endlich eine Frau meldete. Sie klang verschlafen und war offensichtlich wütend über die Störung.

«Entschuldigen Sie bitte«, sagte Beatrice,»aber wir vermissen eine Frau, die heute abend mit einem ihrer Taxis gefahren ist. Sie ist offenbar nicht daheim angekommen.«

Am anderen Ende der Leitung wurde ausgiebig und demonstrativ gegähnt.

«Muß das jetzt sein?«fragte die Frau verärgert.

«Natürlich muß es jetzt sein«, sagte Beatrice.»Vielleicht ist der alten Dame etwas zugestoßen. Ich kann mit meinen Nachforschungen nicht bis morgen früh warten.«

«Mein Mann ist am Abend gefahren. Ich werde ihn wecken. Er wird nicht begeistert sein, das kann ich Ihnen sagen.«

Beatrice hörte sie davonschlurfen. Ganz langsam schien sich ein immer dichter werdendes Netz von Bedrohung und Angst über sie zu breiten. Der Taxi-Unternehmer selbst war gefahren. Er lag offenbar friedlich schlafend in seinem Bett. Also hatte es keinen Unfall gegeben, was zwar bedeutete, daß niemand verletzt worden war, was aber die Angelegenheit noch mysteriöser machte.

Gleich weiß ich mehr, dachte sie und hatte dabei die dumpfe Ahnung, daß etwas Schreckliches auf sie zukam.

Der Taxifahrer, der nach einer schier unendlichen Zeit brummig und mißgelaunt ans Telefon kam, berichtete, daß sein einziger Angestellter derzeit Urlaub in Frankreich mache und daß er daher alle Fahrten selbst übernehme. Er erinnerte sich gut an den Auftrag in Torteval, erinnerte sich an Helene, die er dort abgeholt und nach Le Variouf gefahren hatte.

«Eine ziemlich verängstigte Person«, sagte er,»ich hatte sie selbst am Telefon und konnte sie kaum verstehen. Sie flüsterte. Ich verrenkte mir fast das Ohr, um zu begreifen, wo sie ist und was sie will. Ich sagte, sie solle lauter sprechen, aber das konnte sie offenbar nicht.«

«Sie hat geflüstert?«

«Sag ich doch. Schien mir total daneben zu sein. Als ich dann nach Torteval kam, stand sie schon an der Ecke zur Hauptstraße und sprang mir fast ins Auto. Als sie dann im Wagen saß, ging es ihr wohl besser. Sie sagte, sie wolle nach Le Variouf, und ich solle mich beeilen.«

Das klang mehr als eigenartig und beunruhigte Beatrice zutiefst.

«Sie haben sie dann am Fuß der Auffahrt abgesetzt?«fragte sie.»Oder haben Sie sie bis nach oben zur Haustür gefahren?«

Es schien, als winde sich der Fahrer ein wenig, aber offenbar hielt er es dann doch für angebracht, mit der Wahrheit herauszurücken.

«Ich bin nicht bis zum Haus gefahren«, nuschelte er,»ich meine, nicht mal bis zum Grundstück. Ich… ach, zum Teufel, konnte ich denn wissen, daß die alte Dame nun plötzlich verschwindet? Ich habe sie ein Stück weit unterhalb vom Haus abgesetzt, vielleicht hundert Meter entfernt.«

«Weshalb das denn?«fragte Beatrice entgeistert.

«Da gabelt sich doch die Straße.«

Es war deutlich, daß der Fahrer seine Bequemlichkeit verfluchte, die ihn nun möglicherweise in große Schwierigkeiten bringen würde.»Ich dachte, weiter oben könnte ich vielleicht nicht mehr so gut wenden. Hinter mir war ziemlich dicht ein anderes Auto, und… na ja, die Straße dort ist extrem schmal…«

«Die Straßen sind praktisch überall auf der Insel so schmal«, unterbrach Beatrice,»und Sie hätten in unserer Einfahrt problemlos wenden können!«

«Ja, aber die alte Dame meinte, dort sei das Tor womöglich zu, und ehe sie es aufgemacht hätte… Ja, und der hinter mir saß mir wirklich ziemlich im Genick… Jedenfalls fragte ich sie, ob es ihr etwas ausmache, dort an der Abzweigung schon auszusteigen, und sie meinte, sie ginge ganz gern noch ein paar Schritte, das tue ihr auf jeden Fall gut. Also….«

«Also ließen Sie eine achtzigjährige Frau allein durch die Nacht laufen! Ich muß sagen, ich…«

«Knapp hundert Meter!«

Der Taxifahrer war jetzt hellwach und hochnervös.»Bestimmt nicht mehr. Sie kennen doch sicher die Stelle!«

«Auf diesen knapp hundert Metern, «sagte Beatrice,»muß irgend etwas geschehen sein, weshalb Helene jetzt nicht daheim ist. Das könnte ein Problem werden für Sie, ich hoffe, das ist Ihnen klar!«

Sie knallte den Hörer auf die Gabel, sah Franca an, die neben ihr stand.»Dieser verdammte Idiot! Nur um sich ein etwas kompliziertes Wendemanöver zu ersparen und schnell nach Hause ins Bett zu kommen, läßt er Helene vorn an der Weggabelung aussteigen! Es hätte sich gehört, sie die Auffahrt hinaufzufahren und sich zu vergewissern, daß sie gut ins Haus kommt. Mein Gott, sie ist eine alte Frau!«

«Ich frage mich allerdings wirklich, was auf diesem kleinen Stück passiert sein kann«, sagte Franca.»Wir sind hier nicht in New York, wo man an jeder Straßenecke überfallen werden kann. Guernsey! Ich dachte immer, hier passiert überhaupt nichts.«

«Ich kann es nicht begreifen.«

Beatrice schüttelte den Kopf.»Aber ich habe ein äußerst ungutes Gefühl.«

«Vielleicht hat sie noch irgendwelche Nachbarn besucht…«

«Nicht so spät. Und ringsum ist ja auch alles dunkel. Da ist doch niemand mehr wach.«

«Aber dann…«

«Ob sie vielleicht in eine Art Verwirrung gefallen ist? Anstatt nach Hause zu gehen, den Weg in Richtung Klippen eingeschlagen hat…«

«Das wäre sehr gefährlich«, sagte Franca,»in der Dunkelheit… Und sie ist auch nicht besonders sicher auf den Beinen.«

«Los«, sagte Beatrice entschlossen,»wir gehen noch einmal hinaus. Diesmal nehmen wir die Hunde mit. Und suchen das Gelände außerhalb des Grundstücks ab.«

Franca hielt sie zurück.»Sollten wir nicht die Polizei rufen?«

«Wenn wir sie in einer Stunde noch nicht gefunden haben«, antwortete Beatrice,»dann werden wir das tun.«

Die Hunde, allen voran die unverwüstliche Misty, sprangen aufgeregt bellend um sie herum, entzückt über den nächtlichen Ausflug. Sie schnüffelten so wild am Wegesrand, als seien in den vergangenen acht Stunden wenigstens hundert neue, aufregende Gerüche entstanden. Wieder warf die Taschenlampe ihren hellen Schein, malte geheimnisvolle Bilder auf die steinerne Mauer entlang des Weges, auf die wuchernden Hecken, den Efeu, die Bäume. Am Himmel waren Wolken aufgezogen, die zeitweise den Mond verdeckten.

«Es wird regnen«, sagte Beatrice, und auch Franca bemerkte die schwere Feuchtigkeit, die in der Luft lag.

«Ob sie bis zu Petit Bôt gelaufen ist?«fragte sie, und Beatrice erwiderte:»Ich verstehe nicht, weshalb sie das tun sollte. Sie hatte nie einen Bezug zu diesem Ort.«

Misty, die jetzt ein ganzes Stück vor ihnen war, blieb plötzlich stehen und hob witternd die Nase. Ihre Ohren stellten sich auf, ihr ganzer Körper nahm eine angespannte Haltung an. Die beiden anderen Hunde taten es ihr nach. Alle drei standen unbeweglich wie Standbilder auf dem Weg.

«Irgend etwas muß da vorn sein«, sagte Beatrice.»Hoffentlich…«

Misty jaulte leise auf. Eine Art ängstliches Unbehagen ging von den Hunden aus.

«Das sieht nicht gut aus«, meinte Beatrice, und für ein paar Sekunden waren beide Frauen ebensowenig in der Lage, sich zu bewegen, wie die Hunde.

Aber dann setzten sie sich allesamt in Bewegung, die Hunde vornweg, die beiden Frauen hinterher. Als die Hunde laut bellend stehenblieben, sagte Beatrice:»O Gott, ich denke, das ist das Ende.«

«Wieso meinen Sie, daß…«, setzte Franca an, und in diesem Moment sah sie das dunkle Bündel vor sich auf dem Weg liegen, neben dem die Hunde sich aufgebaut hatten. Misty fiepte, die beiden anderen stellten knurrend die Haare auf. Langsam, zögernd richtete Beatrice den Strahl der Taschenlampe auf die Gestalt. Sie erkannten Helenes schmales Gesicht. Die schulterlangen, grauen Haare hatten sich aus der Spange, die sie immer trug, gelöst und lagen wirr um ihren Kopf herum auf dem Weg. Und dann sahen sie die dunkle Lache, die sich gleich neben dem Kopf über die Schottersteine ergoß, und Franca sagte erschrocken:»Ich glaube, das ist Blut!«

Beatrice machte eine unkontrollierte Bewegung mit der Hand, der Schein der Taschenlampe wanderte ein Stück weiter hinunter vom Gesicht, und nun sahen sie es: Man hatte Helene die Kehle durchgeschnitten und sie auf dem schmalen Weg, der zur Petit Bôt führte, verbluten lassen.

12

Gemessen an den üblichen Verhältnissen auf Guernsey, wo tatsächlich praktisch nie ein Verbrechen geschah — wenn man von den Yacht-Diebstählen absah, und deren regelmäßiges Vorkommen war seit Jahrzehnten Teil des Inselgeschehens —, war es ein ungeheures Polizeiaufgebot, das sich in der Nacht über Le Variouf und die Umgebung ergoß. Beamte von der Spurensicherung überprüften Schuhsohlen- und Reifenprofile und sperrten den Tatort weiträumig ab. Im Dorf war man aufmerksam geworden; die Menschen verließen ihre Betten, wanderten die Straße hinauf und drängten sich an der Absperrung. Selbst von St. Martin kamen sie herüber, begierig, nichts von der Sensation zu versäumen. Auf geheimnisvolle Weise hatte sich bereits herumgesprochen, daß Helene Feldmann Opfer eines Verbrechens geworden war, und vom Schauer des Entsetzens gepackt, raunten die Menschen einander zu:»Es heißt, ihr sei die Kehle durchgeschnitten worden! Großer Gott, könnt ihr euch so etwas vorstellen?«

Beatrice und Franca saßen im Wohnzimmer, jede in einem Sessel, eigenartig weit voneinander entfernt, als ertrüge eine die Nähe der anderen nicht. Ein Beamter befragte sie, nachdem ein Arzt die Erlaubnis dazu gegeben hatte. Franca war zunächst überzeugt gewesen, Beatrice habe einen schweren Schock erlitten. Zum erstenmal hatte sie die alte Frau bewegungs- und handlungsunfähig gesehen, Beatrice hatte auf dem Feldweg gestanden und zu zittern begonnen, die Taschenlampe war ihr aus den Händen gerutscht und krachend vor ihre Füße gefallen. Franca hatte die Lampe aufgehoben und Beatrice am Arm genommen. Zu ihrer Verwunderung zitterte sie selbst kein bißchen.

Vielleicht kommt das später, dachte sie.

«Wir müssen die Polizei rufen«, sagte sie dann.»Kommen Sie, Beatrice, wir gehen ins Haus zurück.«

Beatrice ließ sich willenlos von ihr den Weg entlangführen. Franca rief die Hunde; verstört, mit hochgestellten Nackenhaaren und gesenkten Köpfen folgten sie ihnen.

Im Haus drückte Franca Beatrice in einen Sessel und stellte ein Glas mit Cognac vor sie hin, dann rief sie die Polizei an und schilderte einem völlig verblüfften Beamten, der vermutlich gerade Kreuzworträtsel gelöst und vor sich hin gedämmert hatte, was geschehen war. Im ersten Moment hielt er die Geschichte für einen schlechten Scherz.

«Sie sind sicher, das stimmt, was Sie da gerade erzählt haben?«fragte er.

«Bitte kommen Sie sofort her«, sagte Franca und dachte, sie würde wahrscheinlich nicht die Kraft haben, mit diesem Mann nun noch lange zu diskutieren.

«Haben Sie etwas getrunken, Madam?«vergewisserte er sich noch.

«Nein. Bitte schicken Sie jetzt ein paar Leute her!«

Endlich kam Leben in den Beamten.»Sofort«, sagte er,»und fassen Sie nichts an am Tatort.«

Franca ging wieder ins Wohnzimmer, wo Beatrice mit grauem Gesicht saß. Sie hatte ihren Cognac nicht angerührt.

«Beatrice, bitte, nehmen Sie einen Schluck«, drängte Franca.»Sie fallen sonst gleich um!«

Beatrice sah sie an. Ein eigentümlicher Ausdruck von Leere stand in ihren Augen.

«Sie haben ihr die Kehle durchgeschnitten«, flüsterte sie,»wie entsetzlich. Wie unvorstellbar entsetzlich.«

«Wir sollten jetzt nicht darüber nachdenken«, sagte Franca. Sie wußte, daß sie selbst zusammenklappen würde, wenn sie nun anfing, sich mit Details des Verbrechens zu beschäftigen. Die Vorstellung, daß da draußen ein Geisteskranker herumlief, der Menschen überfiel und ihnen die Kehle durchschnitt, der dort irgendwo in den Hecken entlang der Straße gelauert und dann die arglose Helene überfallen hatte… Es hätte jeden treffen können, dachte sie, jeden, auch mich. Wie viele einsame Spaziergänge über die Klippen habe ich gemacht in den letzten Tagen…

Sie merkte, daß Übelkeit in ihr aufstieg, und verdrängte rasch diese Gedanken. Später konnte sie alle Möglichkeiten des Grauens durchspielen, aber nicht jetzt. Für den Moment mußte sie die Nerven behalten.

Es erschienen zwei Polizisten, mißtrauisch und ganz offensichtlich immer noch überzeugt, irgend jemand leide entweder unter Halluzinationen oder erlaube sich einen dummen Scherz. Franca schickte sie zum Ort des Geschehens und sagte, sie würden die Frau mit der durchschnittenen Kehle dort auf dem Weg liegen sehen. Die beiden zogen los, und bald darauf kehrte einer von ihnen mit totenblassem Gesicht zurück.

«Jesus«, keuchte er,»so etwas habe ich ja noch nie gesehen.«

Und kurze Zeit später wimmelte es von Beamten, Scheinwerfer tauchten die ganze Gegend in gleißendes Licht, die Schaulustigen drängten herbei, und ein Krankenwagen raste mit Sirenengeheul durch die Nacht. Franca erklärte dem Arzt, sie selbst sei in Ordnung, sie brauche keine Hilfe, aber Beatrice gehe es schlecht, und er solle sich um sie kümmern.

Der Arzt musterte sie aufmerksam.

«Ich fürchte, Sie sind der Typ, der mit Verspätung zusammenbricht«, sagte er.»Hier«, er drückte ihr ein kleines Fläschchen, gefüllt mit weißen Kügelchen, in die Hand,»ein rein homöopathisches Präparat. Nehmen Sie fünf Stück, wenn die Nerven zu wackeln beginnen.«

Sie versprach es und sah zu, wie er Beatrice eine Spritze gab, was diese ohne Protest über sich ergehen ließ.

«Nur zur Beruhigung«, meinte er.

Beatrices Wangen bekamen kurz darauf wieder ein klein wenig Farbe, und sie tauchte aus der Trance auf, die sie umfangen gehalten hatte.

«Fragen Sie«, sagte sie zu dem Beamten, der zaghaft auf sie zutrat,»ich werde alles beantworten.«

Ihre Stimme hatte an Festigkeit gewonnen.

Sie reagierte mit erstaunlicher Ruhe auf alle Fragen, die der Beamte ihr stellte. Sie erzählte, daß Helene am Abend bei Kevin in Torteval zum Essen gewesen und gegen halb elf mit dem Taxi nach Hause aufgebrochen war. Der Beamte schrieb eifrig mit und zeigte sich sehr interessiert, als er hörte, daß der Fahrer Helene ein Stück unterhalb des Hauses hatte aussteigen lassen.

«Auf diesen hundert Metern könnte sie ihrem Mörder begegnet sein«, meinte er.

«Sie kam an dem Weg vorbei, der an der Ostseite unseres Grundstücks entlang zum Klippenpfad führt«, sagte Beatrice,»der Weg also, auf dem sie…«

«Ja. Der Tatort.«

«Glauben Sie, sie wurde an der Stelle getötet, an der wir sie gefunden haben?«fragte Beatrice.»Oder vorne an der Straße?

Man könnte sie auch…«

Der Beamte schüttelte den Kopf.»Die Spurensicherung hat ihre Arbeit noch nicht abgeschlossen, aber nach allem, was ich gesehen habe, denke ich, sie ist direkt am Fundort getötet worden. Wir hätten sonst Blut- und Schleifspuren sehen müssen.«

«Ja, natürlich«, sagte Beatrice, und ihre Wangen wurden wieder ein wenig bleicher.

«Ich müßte noch wissen, wo Sie beide heute abend waren«, sagte der Beamte und sah Franca an.»Verbrachten Sie den Abend zusammen?«

«Nein«, antwortete Franca. Sie berichtete von ihrem Essen im Old Bordello.

«Aber Ihr Mann wohnt nicht hier?«hakte der Polizist nach.

Franca verneinte.»Er wohnt im Chalet-Hotel an der Fermain Bay.«

«Aha. Und er hat Sie nicht hierher begleitet?«

«Nein. Ich bin allein mit dem Auto zurückgefahren.«

«Mrs. Shaye war daheim, als Sie ankamen?«

«Sie saß in ihrem Auto in der Auffahrt.«

Der Beamte sah Beatrice an.

«Dann waren Sie auch in diesem Moment gerade erst gekommen? Oder wollten Sie wegfahren?«

«Ich war seit einer halben Stunde da«, sagte Beatrice,»ich saß noch im Auto und dachte nach.«

Der Polizist blickte sie überrascht an.»Sie saßen eine halbe Stunde lang im Auto und dachten nach? Wieso gingen Sie denn nicht ins Haus?«

Sie zuckte die Schultern.»Ich hatte keine Lust. Ich kam gar nicht darauf. Ich hatte völlig die Zeit vergessen. Wäre Franca nicht plötzlich aufgetaucht, ich säße wahrscheinlich jetzt noch dort.«

«Sehr eigenartig«, murmelte der Beamte und notierte kopfschüttelnd die Aussage.

Franca fand es keineswegs eigenartig, daß jemand im Auto sitzen blieb, nachdachte und die Zeit vergaß, wenn ihn gerade schwerwiegende Probleme beschäftigten, aber möglicherweise war dies für eine schlichte Beamtenseele schwer nachvollziehbar.

«Kann es sein, daß Sie zur Tatzeit bereits hier waren?«fragte der Beamte.

Beatrice überlegte kurz, aber Franca mischte sich sofort ein.»Nein. Ich kam etwa um zwanzig nach zwölf hier an. Wenn Beatrice zu diesem Zeitpunkt bereits seit einer halben Stunde da war, muß sie gegen viertel vor zwölf gekommen sein. Helene stieg in Torteval um halb elf ins Taxi…«

Sie überlegte.»Noch vor elf war sie dann hier. Also mindestens eine dreiviertel Stunde vor Beatrice.«

«Vielleicht kann uns der Taxifahrer noch etwas zu der genauen Uhrzeit sagen«, meinte der Beamte.»Im übrigen denke ich, daß Mrs. Shaye nicht völlig sicher sein kann, daß sie tatsächlich eine halbe Stunde lang hier vor dem Haus stand. Sie sagte schließlich, sie habe die Zeit vergessen. Also kann sie auch eine oder anderthalb Stunden hier gewesen sein.«

«Ich meine, ich bin kurz vor halb zwölf am Pleinmont Point losgefahren«, sagte Beatrice,»aber ich kann mich natürlich irren.«

«Was haben Sie nachts am Pleinmont Point gesucht?«

Es war dem Beamten anzusehen, daß ihm Beatrice immer eigentümlicher vorkam. Nach seinem Verständnis tat sie sehr seltsame Dinge.

«Ich war schon am Abend da«, antwortete sie auf seine Frage,»ich bin ein wenig spazierengegangen. Habe dem Sonnenuntergang zugesehen. Und habe dann auch dort im Auto gesessen.«

Der Polizist zog die Augenbrauen hoch.

«Sie haben also den Abend und die halbe Nacht über im wesentlichen in Ihrem Auto gesessen? Zuerst am Pleinmont Point und dann hier? Ich finde das ziemlich eigenartig. Sind das sehr schwerwiegende Probleme, die Sie derzeit beschäftigen?«

«Ja«, sagte Beatrice knapp, und ihr Gesichtsausdruck fügte unmißverständlich hinzu: Und mehr werden Sie darüber nicht erfahren.

«Sie könnten also zur Tatzeit bereits hiergewesen sein?«

«Wenn die Tatzeit für elf Uhr festgelegt wird, kann ich nicht hiergewesen sein. Ich bin keinesfalls vor elf Uhr am Pleinmont Point losgefahren.«

Er kritzelte etwas auf seinen Notizblock und sah Beatrice an. Es schien, als sei seine Ausstrahlung, sein Gebaren um eine Nuance kälter geworden.

«Gibt es jemanden, der Ihre Angaben bestätigen kann?«fragte er.

Beatrice schüttelte den Kopf.»Nein.«

Er klappte sein Notizbuch zu.»Vorerst habe ich keine Fragen mehr.«

Aber halten Sie sich zu unserer Verfügung, dachte Franca.

«Aber halten Sie sich zu unserer Verfügung«, sagte er.

Alan legte den Telefonhörer ganz langsam auf die Gabel zurück. Er starrte den Apparat an, als habe er ihn noch nie vorher gesehen. Er war fassungslos und betäubt.

«Guter Gott«, murmelte er.

Er ging zur Anrichte, entkorkte den Sherry, schenkte sich ein Glas ein, kippte ihn hinunter, öffnete dann die Whiskyflasche. Sherry reichte nicht auf einen solchen Schock hin. Außerdem war es nach sechs Uhr am Abend, da durfte man zu den härteren Sachen greifen. Er ließ gerade den ersten Schluck die Kehle hinabrinnen, begrüßte das warme Brennen, das das Leben soviel erträglicher machte, als es an der Wohnungstür klingelte.

Er überlegte kurz, ob er überhaupt öffnen sollte, im Grunde hatte er keine Lust, wollte mit sich und seinem Erschrecken allein sein. Und mit seinem Whisky.

Ich bin einfach nicht daheim, dachte er. Der Tag war hart und anstrengend gewesen. Eine Menge Termine, vorwiegend unerfreulicher Natur. Er hatte sich mit Gin und einem Malt Whisky über die Stunden gerettet. Seit seinem Absturz vor drei Tagen hing er wieder völlig durch. Er hatte den ganzen Montag getrunken, den Dienstag und den halben Mittwoch. Am Mittwoch nachmittag hatte er sich stundenlang übergeben und war erschrocken über den unrasierten Mann, der ihm aus dem Spiegel entgegenblickte. Seine Hände hatten gezittert.

Ein Penner, dachte er, ich sehe aus wie ein Penner!

Das Telefon hatte immer wieder geläutet, aber er war nicht an den Apparat gegangen. Er hatte nicht den Eindruck gehabt, daß es ihm gelingen würde, einen zusammenhängenden, intelligenten Satz herauszubringen. Am Ende würde er sogar lallen. Es hätte nahegelegen, dies einmal auszuprobieren, in der Einsamkeit des Badezimmers ein paar Worte an sich selbst zu richten, aber selbst davor fürchtete er sich. Sein Anblick reichte, ihn tief zu erschüttern. Seine eigene Stimme hätte er nicht zusätzlich ertragen.

Er hatte sich am späten Abend zum letztenmal übergeben und sich inzwischen so entkräftet gefühlt, daß er auf allen vieren zitternd aus dem Badezimmer gekrochen war. Das Telefon läutete immer noch. Irgend jemand schien ihn äußerst dringend erreichen zu wollen. Wahrscheinlich Beatrice. Er erinnerte sich dunkel, am Montag mit ihr gesprochen zu haben. Er war ziemlich betrunken gewesen, und vermutlich regte sich Beatrice deswegen wieder schrecklich auf. Er hatte nicht die geringste Lust auf ihre Vorhaltungen, und er hatte nicht die Kraft, ihrem Gezetere — wie er es für sich nannte — etwas entgegenzusetzen.

Er legte sich ins Bett, glaubte, die Erschöpfung werde ihn sofort in tiefen Schlaf fallen lassen, aber zu seiner Überraschung war er plötzlich hellwach und ruhelos. Er wälzte sich von einer Seite zur anderen, gepeinigt von dem Gedanken an einen Schluck Whisky. Das Zittern würde aufhören, das Herzrasen, er würde Ruhe finden… Aber es würde nicht bei einem Schluck bleiben, das wußte er auch, und das war gefährlich. Wenn er am nächsten Tag ins Büro wollte, dachte er verzweifelt, verdammt, ich werde es nicht schaffen. Es fängt alles von vorn an. Das Alleinsein. Die Trinkerei.

Am heutigen Morgen hatte er noch immer schrecklich ausgesehen, aber nachdem er ausgiebig geduscht, die Haare gewaschen und gefönt, sich rasiert und zwei Tassen starken Kaffee getrunken hatte, meinte er, es riskieren zu können, wieder unter Menschen zu gehen. Er zog einen guten Anzug an und schluckte zwei Aspirin.

Im Büro sagte ihm die Sekretärin, es habe Probleme gegeben wegen einiger ausgefallener Termine an den vergangenen drei Tagen, und er nickte; er hatte sich das gedacht, es war immer so gewesen, wenn er abgestürzt war. Bislang hatte es ihn noch nicht wirklich in Schwierigkeiten gebracht, aber auch was diesen Punkt anging, dachte er: Es darf so nicht weitergehen.

«Wenn meine Mutter anruft«, sagte er zu der Sekretärin,»dann stellen Sie sie bitte nicht durch. Sagen Sie, ich habe einen Termin nach dem anderen.«

Die Sekretärin nickte. Auch das kannte sie. Wenn der Chef einen Zusammenbruch gehabt hatte, war er nie für seine Mutter zu sprechen. Die alte Dame konnte offensichtlich unangenehm werden in solchen Fällen.

«Ihre Mutter hat zweimal angerufen«, teilte sie ihm mittags mit. Er hatte es geahnt. Aber immerhin wußte sie nun, daß er noch am Leben war.

Mehr braucht sie nicht zu kümmern, dachte er aggressiv.

Irgendwie überstand er den Tag, klammerte sich an dem Ziel fest, am Abend einen Whisky trinken zu können.

Ein Whisky kann nicht schaden, sagte er sich, aber nun hielt er schon das zweite Glas in der Hand, und davor hatte er den Sherry gehabt, aber Sherry zählte eigentlich nicht, vor allem dann, wenn man gerade eine schockierende Nachricht erhalten hatte.

Es klingelte wieder und wieder an der Tür, mit einer Penetranz, die eigentlich nur auf einen Vertreter schließen ließ, der sich Einlaß verschaffen wollte.

Ich bin nicht da, dachte Alan und nahm einen Schluck Whisky. In dem Moment hörte er, wie ein Schlüssel im Schloß herumgedreht wurde. Als er in die Diele hinaustrat, stand er Maja gegenüber.

«Tut mir leid«, sagte sie anstelle einer Begrüßung,»aber als du überhaupt nicht aufmachtest…«

«Du kannst doch nicht einfach hier hereinkommen!«

«Ich hatte noch den Schlüssel. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Seit vorgestern versuche ich ständig, dich telefonisch zu erreichen. Im Büro warst du nicht, und hier hat sich auch niemand gemeldet. Da wollte ich nachsehen.«

Er streckte die Hand aus.»Gib mir bitte den Schlüssel. Und dann geh wieder. Du weißt ja nun, daß ich in Ordnung bin.«

Ihre hübsche Nase — die er so zerbrechlich fand, so zart — zuckte ganz leicht. Als sei sie ein Tier, das eine Witterung aufgenommen hatte.

«Du hast getrunken«, stellte sie fest.

Er nickte.»Einen Whisky. Das dürfte erlaubt sein, oder? Und jetzt gib mir bitte den Schlüssel.«

Sie ging, ohne seiner Aufforderung Folge zu leisten, an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Überall standen noch Flaschen und Gläser herum. Eine Szenerie, die ihr alles verraten mußte.

Verdammt, dachte er und folgte ihr.

Sie drehte sich um. Sie schien verstört, ihre Augen waren größer als sonst.

«Du hast von Helene gehört?«fragte sie.

Er atmete tief.»Gerade eben. Beatrice rief mich an.«

«Großmutter hat es mir am Dienstag morgen erzählt. Sie hat so geweint, daß ich sie ganz lange nicht verstand. Ich hatte sie eigentlich nur angerufen, weil ich sie bitten wollte, mir noch etwas Geld zu schicken… und dann so etwas! Ich habe dann dauernd versucht, dich zu erreichen. Ich wollte mit jemandem sprechen, der Helene kennt, der so fassungslos ist wie ich…«

Sie hielt inne. In ihren Augen stand echtes Entsetzen.

Es war ein sehr seltsamer Moment, fand Alan. Er erlebte Maja zum erstenmal, seit er sie kannte, in einem Zustand der Echtheit. Ihre Erschütterung war ungekünstelt. Es war, als sei eine Maske von ihrem Gesicht genommen worden und als stehe sie für den Moment als der Mensch da, der sie war: ein nettes, normales Mädchen.

«Es ist entsetzlich«, sagte Alan,»unfaßbar. Ein solches Verbrechen auf Guernsey…«

Er dachte an Helene. Sie hatte immer unverzichtbar zu seinem Leben gehört. Wie eine Tante, die eben stets da war. Helene hatte auf ihn aufgepaßt, wenn Beatrice nicht zu Hause gewesen war, hatte ihm Geschichten erzählt, Kuchen für ihn gebacken, ihm deutsche Märchen vorgelesen und ihn getröstet, wenn er nachts aus Alpträumen aufschreckte. War irgend etwas schiefgegangen, so war er immer zu Helene gelaufen. Beatrice konnte hart sein, manchmal verständnislos, häufig gereizt. Helene war stets ausgeglichen gewesen. Sanft und immer freundlich, hilfsbereit und fürsorglich. Er hatte ihr schlechte Noten gebeichtet und jeden Ärger, den er mit Lehrern oder Mitschülern gehabt hatte.

Er konnte es sich nicht vorstellen, daß Helene tot sein sollte. Und noch weniger konnte er sich vorstellen, daß sie auf eine so entsetzliche Weise ums Leben gekommen war. Wie fürchterlich, dachte er, und das Grauen überschwemmte ihn mit einer Woge von Übelkeit. Wie sehr muß sie gelitten haben!

«Großmutter sagt, die Handtasche habe neben ihr gelegen«, sagte Maja,»und offensichtlich seien ihr Geld und ihre Kreditkarte da gewesen… man hat sie wohl nicht berauben wollen.«

«Ein Sexualverbrechen ist auch auszuschließen?«fragte Alan. Er hatte nicht lange mit Beatrice gesprochen, war zudem viel zu erschüttert gewesen, um überhaupt eine Frage zu stellen.

«Bestimmt nicht«, sagte Maja,»wer würde denn über so eine alte Frau herfallen?«

«So etwas passiert schon hin und wieder«, sagte Alan,»es passieren im übrigen noch ganz andere Dinge.«

«Es heißt, die Polizei tappt völlig im dunkeln, was das Motiv angeht«, sagte Maja.»Also scheint ein Sexualverbrechen auch nicht vorzuliegen.«

«Ich kann mir nur vorstellen, daß es sich bei dem Täter um einen Geisteskranken handelt«, meinte Alan,»ein Verrückter, der einfach um des Tötens willen handelt. Helene hatte das Pech, im falschen Moment am falschen Ort zu sein. Was tat sie überhaupt nachts auf der Straße?«

«Sie kam von Kevin zurück. Der Taxifahrer setzte sie ein Stück unterhalb des Hauses ab, um besser wenden zu können. Auf diesem letzten Wegstück…«

Maja atmete tief durch.

«Kann ich auch einen Whisky haben?«fragte sie mit leiser Stimme.

Schweigend schenkte Alan ein, reichte ihr das Glas. Sie kippte den Whisky wie Wasser hinunter.

«Scheiße«, sagte sie inbrünstig,»ich habe im Moment das Gefühl, nie wieder unbefangen sein zu können. Weißt du, was ich meine? Irgendwie war vorher alles in Ordnung, aber nun kann nichts mehr so sein, wie es war. Viele Jahre lang nicht.«

Er verstand, was sie ausdrücken wollte. Gewalt in dieser Form war weder in ihrem noch in seinem Leben jemals vorgekommen. Gewalt kannte man aus den Fernsehnachrichten und aus den Zeitungen. Man wußte davon, wurde aber nicht selbst davon berührt. Nun war die Gewalt greifbar geworden. Die Wunde, an der Helene verblutet war, hatte auch die Menschen in ihrer Umgebung verletzt.

Vielleicht hat sie recht, dachte Alan, vielleicht wird wirklich nie wieder etwas so sein, wie es einmal war.

«Meine Mutter sagt, sie geben die…«

Er biß sich auf die Lippen. Er hatte» Leiche «sagen wollen. Aber das Wort klang so furchtbar im Zusammenhang mit Helene, daß er es nicht aussprechen konnte.»Die Polizei gibt Helene Anfang nächste Woche frei«, sagte er,»am Mittwoch soll sie beerdigt werden.«

«Wirst du dabeisein?«

«Natürlich. Helene ist… war eine Art zweite Mutter für mich. Außerdem muß ich mich um Beatrice kümmern. Sie wird jetzt Hilfe brauchen.«

«Das glaube ich weniger«, meinte Maja.»Beatrice ist sicher geschockt wie wir alle, aber ihr Schmerz wird sich durchaus in Grenzen halten.«

Überrascht sah Alan sie an.»Sie hat praktisch ihr ganzes Leben mit Helene verbracht. Für sie muß nun eine Welt zusammengebrochen sein.«

«Sie hat Helene nie gemocht. Es hat kaum einen Menschen gegeben, den sie sich mehr aus ihrer Nähe fortgewünscht hat, als Helene.«

«Du übertreibst. Natürlich hat es manchmal Reibereien zwischen den beiden gegeben, aber das ist doch normal. Im Prinzip…«

«Im Prinzip hat sich Helene wie eine Zecke an Beatrice festgesaugt, und Beatrice hat sie dafür zum Teufel gewünscht«, sagte Maja. Der Schock hatte ihrer Urteilsfähigkeit nichts an Klarheit genommen und die Deutlichkeit ihrer Ausdrucksweise nicht vermindert.

«Du solltest ein wenig vorsichtig sein mit dem, was du sagst«, meinte Alan ärgerlich.»Ich denke nicht, daß du…«

Sie lachte leise, aber das Lachen klang nicht fröhlich und kokett wie sonst. Etwas Schrilles und Gehetztes schwang darin mit.»Alan, das ist wirklich immer so entzückend bei dir. Du bist bei diesen beiden Frauen groß geworden, hast dein halbes Leben mit ihnen verbracht. Trotzdem weißt du offenbar nicht, was außer dir die ganze Insel weiß: daß die beiden über fünfzig Jahre lang eine fürchterliche Beziehung hatten, und daß keine im Grunde mit der anderen zurechtkam. Helene kam nicht weg von Beatrice, weil sie völlig abhängig war von ihr, und Beatrice konnte sich ihrer nicht entledigen, weil sie möglicherweise Mitleid hatte oder…«

«Meine Mutter hat mit niemandem jemals Mitleid«, korrigierte Alan,»das ist sicherlich nie ihr Motiv gewesen, eine Person in ihrem Haus zu dulden, die sie im Grunde nicht dort haben wollte. So ist Beatrice nicht. Ein klein wenig kenne ich sie durchaus. Wenn sie jemanden nicht will, dann sagt sie ihm das sehr deutlich und unmißverständlich.«

«Ganz offensichtlich hat sie das aber bei Helene nicht getan.«

«Möglicherweise deshalb«, sagte Alan,»weil sie Helene mochte.«

«Mae sagt…«

«Mae!«

Alan runzelte ärgerlich die Stirn.»Nimm es mir nicht übel, Maja, aber deine Großmutter Mae plappert eine Menge dummes Zeug, wenn der Tag lang ist. Du solltest nicht auf alles etwas geben.«

«Ganz sicher nicht auf alles. Aber sie hat recht in dem, was sie über Beatrice und Helene sagt. Denn außer ihr sagen noch hundert andere Leute genau das gleiche. Und überdies hatte auch ich immer diese Empfindung.«

«Es ist müßig, darüber zu diskutieren«, sagte Alan.»Helene ist tot, und… mein Gott!«

Er ließ sich in einen Sessel fallen, barg das Gesicht in den Händen. Als er wieder aufblickte, waren seine Augen vor Traurigkeit gerötet, ohne daß er geweint hätte.

«Was tust du überhaupt hier?«fragte er tonlos.

«Das habe ich doch gesagt.«

Maja stand mitten im Zimmer, das leere Whiskyglas in den Händen.»Ich wollte mit jemandem sprechen, der Helene gekannt hat.«

«Du hättest auch zu Edith gehen können.«

«Edith soll es nicht wissen. Sie ist zu alt, es würde sie zu sehr aufregen.«

«Nun gut. Du bist also zu mir gekommen. Du hast mit mir gesprochen. Jetzt könntest du eigentlich wieder gehen.«

«Ja. Eigentlich könnte ich das.«

«Und?«

«Möchtest du, daß ich gehe?«

«Wenn du irgendwelche Probleme hast«, sagte Alan,»solltest du mit deinem Freund darüber sprechen. Für das Trösten ist er zuständig.«

«Ach, der…«

Ihre Stimme klang gepreßt.

«Ja?«

«Mit dem ist es aus. Ich habe nichts mehr, kein Geld, keine Wohnung, keinen Menschen.«

Sie brach in Tränen aus.»Ich werde in das gottverdammte St. Peter Port zurückkehren müssen.«

13

«Ich verstehe nicht, wie dieser Beamte so herzlos sein kann, Beatrice am selben Tag zu verhören, an dem Helene zu Grabe getragen wurde«, sagte Franca.»Man könnte ihr doch ein wenig Zeit geben.«

«Das ist kein Verhör«, erinnerte Alan,»der Beamte bat sie um ein kurzes Gespräch und stellte ihr völlig frei, ob sie sich darauf einlassen wollte oder nicht. Sie war sofort dazu bereit und lehnte sogar meinen Beistand ab. Ich denke also, sie hatte tatsächlich nichts dagegen.«

Es war ein strahlend schöner Maitag; nicht eine einzige Wolke verdüsterte den blauen Himmel. Die Sonne schien fast so warm wie im Hochsommer, kein Windhauch regte sich. Die Wiesen und Hecken entlang den Klippen über dem Meer blühten. Das Meer glitzerte in einem türkis schimmernden Blau. Ein paar Segelboote kreuzten entlang der Küste oder dümpelten träge in den Buchten. Ein heißer, stiller, träger Tag.

«Ich muß einfach ein Stück laufen«, hatte Franca gesagt, kurz nachdem der Polizeibeamte erschienen und mit Beatrice im Wohnzimmer verschwunden war,»ich glaube, mir platzt sonst der Kopf.«

«Wenn Sie nichts dagegen haben, komme ich mit«, meinte Alan. Er stand ebenso unschlüssig wie sie in der Diele herum und starrte auf die Tür, die hinter seiner Mutter und dem Polizisten ins Schloß gefallen war.»Ich könnte es auch vertragen, mir ein wenig die Beine zu vertreten.«

Die Trauerfeier hatte ihn angegriffen; er hatte sie nur durchgestanden, weil er kurz davor ein paar Gläser Cognac in sich hineingekippt hatte. Nach der Beerdigung hatte Beatrice in ihrem Haus ein kaltes Büffet angeboten, dazu wurden Wein und Bier gereicht. Alan trank genug, um eine gewisse Ruhe zu bewahren. Natürlich hatte er bemerkt, daß Beatrice ihn die ganze Zeit über aus scharfen Augen musterte, daß sie die Gläser mitzählte, die er trank. Aber in Anwesenheit der vielen Gäste konnte sie nichts dazu sagen, und er achtete sorgfältig darauf, keinen Moment lang mit ihr allein zu sein. Und kurz nachdem die letzten Gäste gegangen waren, erschien auch schon der Polizist, und damit hatte Beatrice erneut keine Gelegenheit, ihn beiseite zu nehmen und ihm Vorhaltungen wegen seines Alkoholkonsums zu machen.

Nun wanderte er neben Franca den Pfad hoch über dem Meer entlang. In stillschweigender Übereinkunft hatten sie den Weg gemieden, an dem man die ermordete Helene gefunden hatte. Sie waren hinunter ins Dorf gegangen und hatten den Pfad eingeschlagen, der gleich hinter dem ehemaligen Haus der Wyatts in Richtung Petit Bôt Bay führte. Hier herrschte tiefer Schatten, und ein Hauch von Kühle wehte aus dem feuchten Gras am Wegesrand herauf. Doch dann öffnete sich das Dach aus Blättern, und nun glühte die Sonne auf sie nieder.

«Wir hätten uns vielleicht umziehen sollen«, meinte Alan. Er trug noch den schwarzen Anzug von der Beerdigung, Franca ein schwarzes Kostüm und unbequeme, hochhackige Pumps.»Können Sie in diesen Schuhen überhaupt laufen?«

«Wenn wir nicht zu schnell gehen…«

Das Meer tauchte vor ihnen auf, ein glänzender, sonnenüberfluteter Spiegel. Selbst an einem Tag wie diesem empfand Franca den Zauber der Landschaft.»Wie schön es hier ist«, sagte sie.

«Ja, nicht wahr?«

Er folgte ihrem Blick und dachte, daß sie recht hatte: Es war wirklich schön. Da er die Landschaft von klein auf kannte, hatte er ihre wilde, malerische Schönheit immer als etwas Selbstverständliches hingenommen. Nun betrachtete er sie durch Francas Augen und nahm sie, wie ihm schien, zum erstenmal wirklich wahr. Das Meer und die Felsen waren wie ein Trost. Helene war verbunden gewesen mit dieser Insel.

Sicher ist sie an einem Ort, an dem es so aussieht wie hier, dachte er und kam sich dabei ein wenig kindisch vor.

«Haben Sie die Blicke bemerkt, die uns im Dorf folgten?«fragte Franca.

Er hatte gar nichts bemerkt. Er war völlig in seine eigenen Gedanken versunken gewesen.»Nein. Wessen Blicke folgten uns?«

«Die von ein paar Menschen aus dem Dorf. Ich habe gesehen, wie sich Gardinen bewegten, und ein paar Leute hörten mit den Arbeiten in ihren Gärten auf und starrten uns an.«

«Das ist normal«, sagte Alan.»In meiner Familie ist ein schreckliches Verbrechen passiert. Deshalb wurde ich angestarrt. Und Sie haben das Pech, seit einigen Wochen im Haus meiner Mutter zu leben. Daher wurden Sie angestarrt. So sind eben die Menschen.«

Sie schüttelte den Kopf.»Es kursiert ein häßlicher Verdacht auf der Insel.«

«Ein Verdacht?«

«Beatrice kann nicht erklären, wo sie jenen Abend verbracht hat. Das heißt, sie kann es natürlich schon erklären, aber es klingt für die meisten ein wenig eigenartig. Sie hat stundenlang auf den Klippen am Pleinmont Point gesessen, dann noch einmal eine halbe Stunde lang vor dem Haus im Auto. Manche sagen, das klingt merkwürdig.«

«Woher wissen Sie, was manche sagen?«

«Mae erzählt es.«

«Mae! Schon wieder Mae!«

Mit einer ärgerlichen Handbewegung wischte er den Namen fort.»Hört denn jeder hier nur noch auf das Gewäsch dieser Klatschtante?«

«Wer denn noch?«

«Maja. Sie fing auch vor ein paar Tagen von ihr an.«

Franca zuckte mit den Schultern.»Ich kann nur sagen, was ich gehört habe. Und was ich zudem selbst empfinde. Die Leute wittern eine Sensation und steigern sich natürlich hinein.«

Alan blieb stehen.»Man glaubt im Ernst, Beatrice habe Helene umgebracht?«

«Ich glaube nicht, daß sich irgend jemand das tatsächlich vorstellt«, sagte Franca,»aber man tuschelt herum, daß Beatrices Schilderung, wie sie den Abend verbracht hat, einfach merkwürdig sei. Und nachdem man ja weiß, wieviel Haß und…«

«O nein«, sagte Alan,»jetzt fangen Sie auch noch damit an! Meine Mutter hat Helene nicht gehaßt!«

Franca sah ihn an. In ihren Augen las er weder Sensationsgier noch Lust am Klatsch. Er sah Wärme, Anteilnahme und sehr viel Aufrichtigkeit.

«Ich denke auch nicht, daß Haß das richtige Wort ist«, sagte sie.»Aber Ihre Mutter hat Helene so weit fortgewünscht, wie es überhaupt nur möglich ist. Und jeder Einheimische auf Guernsey weiß das.«

Eigenartig, dachte Beatrice, durch dieses Haus zu gehen und zu wissen, daß Helene nicht mehr da ist. Daß sie nie mehr wiederkommen wird.

Der Beamte hatte sich eine Viertelstunde zuvor verabschiedet. Er hatte noch einmal eine Reihe von Fragen zum Ablauf jenes Abends gestellt, hatte wissen wollen, was Beatrice wann und warum getan hatte.

«Sie waren doch auch bei Kevin Hammond zum Abendessen eingeladen. Weshalb sind Sie nicht hingegangen?«

«Das habe ich doch schon gesagt. Ich hatte Probleme. Ich wollte allein sein.«

Er hatte geduldig genickt.»Probleme mit Ihrem Sohn, ich weiß. Welcher Art waren diese Probleme?«

«Das ist meine Privatangelegenheit.«

Er hatte nicht weiter nachgehakt.

«Ist Ihnen an Helene Feldmann irgend etwas Besonderes aufgefallen an jenem Tag? War sie anders als sonst?«

«Sie war wie immer. Sie freute sich auf den Abend. Mir ist nichts aufgefallen, nein.«

«War sie öfter Gast bei Mr. Hammond?«

«Alle vier bis fünf Wochen vielleicht. Im Durchschnitt. Mal häufiger, mal weniger. Die beiden verstanden einander gut.«

«Eigenartig, nicht? Dieser junge Mann und die alte Frau… eine seltene Konstellation.«

«Sie war seine Vertraute. Eine Art mütterliche Freundin.

Und er war für sie der Sohn, den sie nie gehabt hat.«

«Trafen sich die beiden oft allein?«

«Ja. Sonntag abend allerdings, wie bereits erwähnt, hätten Mrs. Palmer und ich dabeisein sollen. Es war Zufall, daß die beiden am Ende nur zu zweit waren.«

«Nach meiner Information traf sich Mrs. Palmer mit ihrem Mann, der an diesem Tag überraschend aus Deutschland angereist kam.«

«Ja.«

«Warum kam Mr. Hammond nicht auf die Idee, seine Dinner-Einladung abzusagen? Wenn von drei Gästen zwei nicht erscheinen…«

«Wir waren ein wenig unhöflich. Wir versäumten es, Kevin anzurufen. Erst als ich Helene bei ihm absetzte, sagte ich ihm, daß sowohl Franca als auch ich nicht am Essen teilnehmen würden.«

«War er verärgert?«

«Er war nicht gerade glücklich. Er hatte ja schon gekocht und alles vorbereitet.«

«Sie vereinbarten, er werde Helene Feldmann nach Hause bringen?«

«Wir vereinbarten das nicht ausdrücklich. Es stand ja sozusagen fest. Er brachte sie immer heim, wenn sie bei ihm gegessen hatte.«

«Normalerweise fuhr sie also nicht mit dem Taxi?«

«Nein. Das hatte sie noch nie getan.«

«Mr. Hammond sagt, er habe sie nicht gefahren, weil er betrunken gewesen sei. So etwas war vorher nie vorgekommen?«

«Soweit ich mich erinnere, war so etwas noch nicht passiert, nein.«

«Warum trank er an jenem Abend zuviel?«

«Das müssen Sie ihn fragen. Ich weiß es nicht.«

«Wir haben ihn natürlich gefragt. Er gab an, seit einiger Zeit in finanziellen Schwierigkeiten zu stecken. Er hat sich offenbar mit dem Kauf zweier Gewächshäuser übernommen. Er habe, sagte er, in der letzten Zeit überhaupt mehr getrunken, um seine Sorgen zu vergessen.«

«Wenn er Ihnen das gesagt hat, dann wird es so sein.«

«Offensichtlich war er nicht einmal in der Lage, für Mrs. Feldmann das Taxi zu bestellen. Erstaunlich, daß man den Gast selber telefonieren läßt, nicht wahr? Als Sie später in der Nacht mit ihm sprachen — war er da noch sehr betrunken? Er hätte eigentlich kaum in der Lage sein dürfen, ein vernünftiges Wort mit Ihnen zu wechseln.«

Sie überlegte kurz.»Nein… nein, ich hatte eigentlich nicht den Eindruck, daß er betrunken war. Er schien mir wach und ziemlich klar zu sein.«

«Hm. Sie werden zugeben müssen, daß das ein wenig widersprüchlich klingt, oder? Zwischen zehn und halb elf am Abend ist ein Mann zu betrunken, um für seinen Gast ein Taxi herbeizutelefonieren, und um kurz nach eins kann er ein ganz normales Gespräch führen. Dieser Sache werden wir nachgehen müssen.«

Er hatte in seine Aufzeichnungen geblickt.»Der Taxifahrer gab an, Helene Feldmann habe auf ihn einen verstörten Eindruck gemacht. Am Telefon habe sie so leise gesprochen, daß er sie kaum habe verstehen können. Sprach Mrs. Feldmann beim Telefonieren generell sehr leise?«

«Nein. Sie sprach nie besonders laut, aber man konnte sie immer gut verstehen.«

«Zudem stand sie bereits an der Straßenecke, als der Fahrer kam. Sie hat nicht im Haus gewartet. Das scheint mir ebenfalls nicht das typische Verhalten einer alten Dame zu sein!«

Sie hatte keine Erklärung gewußt.»Ich habe keine Ahnung, was mit ihr los war. Ich kann nur sagen, daß sie den Tag über ganz normal war. Bedrückt, ja. Aber das war sie immer am 1. Mai. An diesem Tag vor fünfundfünfzig Jahren ist ihr Mann gestorben.«

«Könnte es sein, daß sie abends — nachdem sie ja auch ein wenig Alkohol getrunken hatte — deswegen in eine sentimentale oder sogar depressive Stimmung fiel? Daß sie deswegen so leise sprach und die Ankunft des Taxis nicht erwarten konnte?«

«Das wäre möglich. Helene ist über den Tod ihres Mannes nie wirklich hinweggekommen.«

«Der Taxifahrer sagt, ihm sei ein anderer Wagen gefolgt. Er sei ihm ziemlich dicht aufgefahren — was ihn, den Fahrer, wohl auch verleitete, die weiter vorn gelegene Wendemöglichkeit zu nutzen und Mrs. Feldmann unterhalb des Hauses hinauszulassen. In dem Wagen könnte ein wichtiger Zeuge sitzen, und es wäre sehr nützlich, ihn ausfindig zu machen. Natürlich hat der Taxifahrer die Nummer nicht erkannt, und er weiß nicht einmal, um welchen Wagentyp es sich handelte. Wir haben in Presse und Radio dazu aufgerufen, daß der Fahrer dieses Autos sich bei uns meldet, aber bislang hat sich nichts getan.«

Der Beamte stand auf und schob seinen Notizblock in die Tasche.»Das war es im wesentlichen, was ich wissen wollte. Nur eine Frage noch.«

Er hatte sie angesehen, sehr aufmerksam, wie es ihr schien.»Wie war Ihr Verhältnis zu Helene Feldmann?«

Sie dachte später noch über ihre Antwort nach, während sie durch das Haus ging und sich auf der Suche befand nach einem Menschen, der nicht mehr da war.

«Wir kannten einander seit fast sechzig Jahren.«

Erwartungsgemäß hatte er darauf gesagt:»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«

Sie hatte nicht die geringste Neigung verspürt, dem Beamten Einzelheiten über die komplizierte Beziehung zwischen ihr und Helene anzuvertrauen.»Wir lebten seit fast sechzig Jahren miteinander unter einem Dach. Das ist durchaus eine Antwort auf Ihre Frage. Wir waren eine Art Familie geworden. Die Mitglieder seiner Familie sucht man sich nicht aus, und man hinterfragt nicht ständig das Verhältnis, das man zu ihnen hat. Man kann ja doch nichts ändern. Man gehört zwangsläufig zusammen.«

Er hatte noch nicht lockergelassen.

«Gab es häufig Streit zwischen Ihnen?«

«Nein. Wir stritten sehr selten.«

«Gab es Vorbehalte von Ihrer Seite aus? Ursprünglich war Mrs. Feldmann schließlich als Frau eines Besatzers in Ihr Haus gekommen.«

«O Gott, ich war ein Kind damals! Das hat keine Rolle mehr gespielt, schon lange nicht mehr.«

«Was hat denn eine Rolle gespielt zwischen Ihnen und Mrs. Feldmann?«

«Wir respektierten einander. Und wir hatten uns aneinander gewöhnt.«

Er hatte geseufzt. Ganz offensichtlich wußte er wenig mit diesen Informationen anzufangen.

Dabei, dachte Beatrice nun, habe ich ihm wahrscheinlich wirklich die einzig richtige Antwort gegeben. Respekt und Gewohnheit. Das ist es gewesen in den letzten Jahren.

Tatsächlich? Sie stieg die Treppe hinauf, öffnete die Tür zu Helenes Zimmer, blieb dort stehen. Der Raum sah unverändert aus, so als werde seine Bewohnerin jeden Moment zurückkehren. Er roch auch noch nach Helene, nach ihrem Parfüm und nach dem Talkumpuder, den sie zu benutzen pflegte. Auf dem zierlichen Sekretär neben dem Fenster stapelten sich Papiere, die mit ihrer Handschrift bedeckt waren. Ein unüberschaubarer Wust von Zetteln, Briefen, Zeitungsausschnitten.

Lieber Gott, sie hat wohl alles aufgehoben, was ihr je in die Hände gefallen ist, dachte Beatrice, es wird mühsam werden, alles durchzugehen und zu sortieren.

Sie würde die Kleider und die Wäsche aus den Schränken räumen müssen; einen Teil würde sie wegwerfen, den anderen einer gemeinnützige Organisation spenden. Die Papiere durchgehen, nach unbezahlten Rechnungen sehen, Bankauszüge prüfen.

Wer erbt überhaupt ihr Geld? fragte sie sich. Gibt es ein Testament?

Sollte das Zimmer Helenes Zimmer bleiben — auch nach deren Tod? Das hieße, daß Helene auf irgendeine Weise noch da wäre, selbst jetzt noch.

Ich werde das Zimmer leerräumen, entschied Beatrice. So, wie ich die Kleider weggeben, wie ich die Papiere wegwerfen werde. Das Zimmer kann ein weiterer Raum für Feriengäste werden.

Die Schnelligkeit, mit der sie beschloß, sich von den Habseligkeiten der alten Frau zu trennen, erschreckte sie ein wenig.

Wie war Ihr Verhältnis zu Mrs. Feldmann?

Sie schaute in das Zimmer.»Sie hat mir ziemlich in meinem Leben herumgepfuscht. Es gab Zeiten, da wünschte ich sie zum Teufel.«

Haben Sie sie auch jetzt noch zum Teufel gewünscht? hatte der Beamte daraufhin gefragt.

Sie überlegte.»Ich denke nicht, daß das jemals aufgehört hat. Ja, ich glaube, ich wünschte sie noch immer zum Teufel. Vielleicht an jedem einzelnen Tag unseres Lebens.«

Sind Sie erleichtert, daß sie tot ist?

«Ich weiß nicht… Ein solches Ende habe ich ihr nicht gewünscht. Aber ich denke, wenn der Schock vorüber ist, wird sich Erleichterung einstellen.«

Wahrscheinlich, dachte sie, würde ich die perfekte Zielperson für eine Mordanklage abgeben.

Wer hatte Helene etwas so Entsetzliches angetan?

Sie hatte sich mit Franca während der vergangenen Tage darauf geeinigt, daß es sich um die Tat eines Wahnsinnigen handelte. Es war die Version, mit der sie beide am besten leben konnten. Die Vorstellung, daß ein geisteskranker Mörder auf Guernsey umherlief, war schlimm, aber noch schlimmer war der Gedanke, jemand könne einen solchen Haß auf Helene entwickelt haben, daß er ihr die Kehle durchschnitt und sie auf einem einsamen Feldweg verbluten ließ.

Sie hörte ein Geräusch auf der Treppe und zuckte zusammen. Für einen Moment kam ihr der absurde Gedanke, der Polizeibeamte könne sich nach der Verabschiedung wieder ins Haus geschlichen haben, sei nun leise heraufgekommen und habe ihren Monolog, der einer Selbstbezichtigung gleichkam, belauscht. Aber das war Unsinn, kein englischer Polizist würde so etwas tun.

Sie trat nach vorn an die Brüstung und rief:»Hallo?«

Im selben Moment sah sie Kevin, der sich gerade anschickte, die Treppe heraufzuschleichen. Es hatte den Anschein, als erschrecke er fast zu Tode bei ihrem Ausruf. Ein Ruck ging durch seinen ganzen Körper, sein Gesicht wurde fahl.

«Mein Gott! Ich dachte, niemand wäre daheim! Ich habe vorn an die Tür geklopft, bin dann durch die Küche ins Haus gekommen und habe gerufen… aber niemand hat geantwortet.«

Er wirkte fahrig und nervös.»Tut mir leid, daß ich einfach so…«

«Unsinn. Du gehörst zur Familie, Kevin.«

Sie lief die Treppe hinunter und realisierte dabei wirklich, daß er die Treppe hinauf gewollt hatte — was sie tatsächlich ein wenig eigenartig fand.

«Was wolltest du oben, Kevin?«fragte sie so leichthin wie möglich und küßte ihn auf beide Wangen.

Er erwiderte ihre Küsse, seine Lippen fühlten sich kalt an.»Ich… ich weiß, es gehört sich nicht. Aber ich wollte ihr Zimmer noch einmal sehen.«

«Dann geh hinauf. Du brauchst diesen Abschied von ihr so nötig wie ich. Ich mache uns inzwischen einen Kaffee.«

Sie hörte ihn oben herumgeistern, während sie in der Küche hantierte. Vielleicht, überlegte sie, habe ich ihm unrecht getan, wenn ich immer dachte, er suche ihre Gesellschaft nur, um sie anzupumpen. Vielleicht hat ihn mehr mit ihr verbunden.

Vielleicht war es genau so, wie ich heute zu dem Beamten sagte: Sie war eine mütterliche Freundin für ihn.

Sie stellte Kaffeekanne, Tassen, Zuckerdose und Milch auf ein Tablett und trat auf die Veranda, die hinter der Küche lag. Kurz fiel ihr die Silvesternacht ein, in der sie hier mit Erich gestanden hatte. Einer der wenigen Momente, da er nicht vom Endsieg gesprochen hatte. Er hatte Angst gehabt. Er hatte gewußt, daß sich sein Führer ins Verhängnis manövriert hatte und daß sie alle mit ihm untergehen würden. Er hatte ihr aufgetragen, für Helene zu sorgen.

Das Tablett zitterte, die Kaffeelöffel klirrten. Rasch stellte sie es auf dem Tisch ab.

Zum Teufel, es war nicht die Zeit, daran zu denken. Jene Nacht lag so viele Jahrzehnte zurück, sie lag auf der anderen Seite eines ganzen Lebens. Eine naßkalte Nacht, in der sie sich eine Lungenentzündung geholt hatte.

Heute war ein heißer Maitag. Ein warmer Wind ließ die Blätter in den Bäumen rauschen.

Beatrice atmete tief. Mit Helene war ein weiteres Stück einer belastenden Vergangenheit verschwunden. So spät erst, so spät!

«Ich werde es mir nie verzeihen, wie dieser Abend verlaufen ist«, sagte Kevin,»der letzte Abend mit Helene.«

Unbemerkt war er zu ihr getreten.

«Du kannst doch nichts dafür, Kevin. Es ist völlig normal, einen Gast mit dem Taxi nach Hause fahren zu lassen. Nicht einmal dem Fahrer kann man wirklich einen Vorwurf machen, er konnte mit einem solchen Vorkommnis beim besten Willen nicht rechnen. Nein«, Beatrice hob hilflos die Hände,»es war Schicksal. Es sollte so sein. Niemand konnte es ändern.«

Kevin kramte eine Zigarette hervor und versuchte sie anzuzünden. Drei Streichhölzer knickten ab, ehe es ihm gelang.

«Himmel, Kevin, was ist denn los mit dir?«fragte Beatrice.»Seit wann rauchst du wieder?«

«Seitdem ich auch zuviel trinke.«

Er tat ein paar hastige Züge.»Beatrice, ich stecke in ernsthaften Schwierigkeiten. Ich weiß, heute ist nicht der Tag, darüber zu sprechen, wir haben Helene begraben, und…«

«Wenn du die Schwierigkeiten heute hast, dann solltest du auch heute darüber sprechen. Dir geht es seit einiger Zeit nicht gut, das kann jeder sehen.«

«Ja… nun.«

Er druckste herum, rauchte. Er war so bleich, als sei er ernsthaft krank.»Beatrice, ich brauche ganz dringend Geld. Ich brauche eine ziemlich große Summe. Es… es steht alles auf dem Spiel für mich. Meine gesamte Existenz, alles, was ich habe.«

«Wieviel Geld? Wofür?«

«Fünfzigtausend Pfund.«

«Fünfzigtausend Pfund? Um Himmels willen, das ist ein Vermögen!«

«Ich weiß!«

Verzweifelt fuhr er sich mit der rechten Hand durch die Haare, daß sie wild vorn Kopf abstanden.»Ich weiß, es ist entsetzlich viel Geld. Ich hätte es nie so weit kommen lassen dürfen, aber nun ist es, wie es ist. Und ich muß die Summe möglichst schnell haben.«

«Wem schuldest du den Betrag?«

«Der Bank. Ich habe mein Haus, mein Grundstück, alles beliehen. Bis unters Dach. Da gibt es keinen Grashalm, auf dem nicht eine Hypothek liegt.«

«Aber wozu brauchst du denn soviel Geld? Fünfzigtausend Pfund gibt man schließlich nicht so nebenher aus!«

«Über die Jahre«, sagte Kevin bedrückt,»das kam über die Jahre zusammen. Das Leben ist teuer, und… na ja, mit meinen Rosen habe ich nie so schrecklich viel umgesetzt.«

«Du hast gar nicht so schlecht verdient«, sagte Beatrice,»aber du hast ein wenig zu üppig gelebt. Dein Lebensstil lag immer ein ganzes Stück über deinem Einkommen.«

«Ja. Das tat es wohl«, räumte Kevin kleinlaut ein.»Und das war mein Verhängnis.«

«Die Bank macht jetzt Schwierigkeiten?«

«Die Zinsen brechen mir das Genick. Ich kann sie seit Monaten nicht mehr zahlen. Von der Tilgung will ich gar nicht sprechen, da bewegt sich ohnehin nichts. Aber was die Zinsen angeht, setzen sie natürlich die Daumenschrauben an.«

Er drückte seine Zigarette aus. In der Bewegung lagen Wut und Verzweiflung.«

O Gott, Beatrice, ich werde alles verlieren. Alles.«

«Dann würde es dir doch zunächst helfen, wenn dir jemand bei den Zinsen unter die Arme griffe«, sagte Beatrice vorsichtig,»um die Pfändung erst einmal abzuwenden.«

«Ja, aber was nützt das auf längere Sicht? Im nächsten Monat stehe ich genauso da, und im Monat darauf schon wieder. Ich müßte zumindest einmal den größten Teil abtragen, damit die Zinsbelastung insgesamt geringer wird. Verstehst du?«

«Ich würde dir gern helfen, Kevin. Aber soviel Geld habe ich nicht. Beim besten Willen nicht. Komm«, sie schenkte Kaffee ein, setzte sich und wies einladend auf den zweiten Stuhl.»Setz dich. Trink einen Schluck. Wir müssen in Ruhe beratschlagen, was wir tun können.«

Als er die Tasse zum Mund führte, zitterte seine Hand so stark, daß Kaffee über seine Hose schwappte.

«Helene hat dir immer wieder geholfen, nicht?«hakte Beatrice behutsam ein.

Er nickte.»Ja. Ohne sie wäre ich schon seit langem verloren gewesen. Sie hat mir wesentlich mehr Geld gegeben, als du mitbekommen hast. Zigtausende.«

«Woher hatte sie das Geld?«

«Sie hatte es eben.«

«Sie bekam eine Rente, aber die war nicht allzu üppig. Ich kann mir kaum vorstellen, daß sie davon ein größeres Sparguthaben hat anlegen können.«

«An dem Abend, an dem sie starb«, sagte Kevin,»habe ich ihr zum erstenmal das ganze Ausmaß meiner verzweifelten Lage geschildert. Ich sagte ihr, auf welche Höhe sich meine Schulden tatsächlich belaufen.«

«Das wußte sie bis dahin nicht?«

«Ich hatte nie so konkret darüber gesprochen. Ich sagte nur immer wieder, daß ich gerade diese oder jene Summe brauchte.«

«Wollte sie nie wissen, wofür?«

«Doch, aber ich hatte immer den Eindruck, es handle sich dabei eher um rhetorische Fragen. Präzise interessierte es sie nicht. Ich sagte ihr im Prinzip die Wahrheit, nämlich, daß ich Bankschulden hätte. Nur kannte sie eben die gesamte Höhe nicht.«

«Und am Montag abend…«

«…legte ich alle Karten offen auf den Tisch.«

«Wie reagierte Helene?«

«Sie war keineswegs so erschrocken, wie ich gefürchtet hatte. Sie schimpfte ein wenig, weil ich nicht von Anfang an offen mit ihr gewesen war. Sie meinte, ich hätte wohl kein Vertrauen gehabt, und so weiter. Und ich merkte, wie ich ruhiger wurde.«

Er versuchte, den nächsten Schluck Kaffee zu nehmen, und beschmutzte erneut seine Hose.»Sie saß da in ihrem albernen, himmelblauen Kleid, viel zu stark geschminkt, die Haare zu lang, eine alte Frau, die vergeblich versucht, wie ein junges Mädchen auszusehen, aber auf einmal hatte sie etwas von einer gütigen Großmutter. Sie wirkte plötzlich so reif. Du weißt, bei Helene hatte man sonst eigentlich nie den Eindruck, sie sei erwachsen…«

Sie nickte. Wie oft hatte sie gereizt gedacht, daß Helene hundert Jahre alt werden könne, und sie würde sich immer noch kindisch benehmen.

«Sie sagte, alles würde gut werden«, fuhr Kevin fort. Er mußte schlucken, die Tränen saßen locker bei ihm an diesem Tag, das bemerkte Beatrice deutlich.

«Sie würde mir helfen, und ich solle aufhören, mir Sorgen zu machen.«

«Was ja nett gemeint war von ihr«, sagte Beatrice,»aber da ging sie natürlich an jeglicher Realität weit vorbei. Dein Schuldenberg überstieg ihre Möglichkeiten bei weitem.«

Er versuchte es erneut mit der Kaffeetasse, gab aber diesmal von vornherein auf. Er würde es nicht schaffen, die Tasse zum Mund zu führen.»Sie sagte, sie würde mir das Geld geben«, sagte Kevin. Seine Stimme klang brüchig. Er war so dicht am Ziel gewesen. Der Absturz hatte ihn hart und brutal getroffen.»Sie wollte am nächsten Tag zu ihrer Bank gehen. Ich sollte sie abholen und hinfahren. Sie wollte mir fünfzigtausend Pfund leihen.«

Beatrice lehnte sich vor. Sie runzelte die Stirn.»Woher wollte sie soviel Geld nehmen?«

Kevin sah sie an, sein Blick war müde und fast ausdruckslos.»Du weißt nicht alles über Helene«, sagte er,»so inbrünstig sie sich stets als deine beste Freundin und engste Vertraute bezeichnete, so geschickt hat sie dennoch ein paar wesentliche Details ihres Lebens vor dir verheimlicht. Beatrice, Helene war eine schwerreiche Frau. Sie saß auf einem Vermögen. Die bescheidene kleine Rente, auf die sie sich stets berief, um dir klarzumachen, daß du dich um sie zu kümmern hattest, war eine Farce. Die fünfzigtausend Pfund hätte sie mir aus der Portokasse gezahlt.«

Beatrice spürte, wie sie blaß wurde.»Wie ist sie an das Geld gekommen?«

«Das ist eine lange Geschichte«, sagte Kevin. Er hörte sich nicht so an, als genieße er es, Überbringer einer sensationellen Neuigkeit zu sein und seine jahrelange geheime Komplizenschaft mit einer alten Frau zu enthüllen, die nun auf schreckliche Weise ermordet worden war. Er war zu erschöpft, um überhaupt irgend etwas außer seiner Müdigkeit zu empfinden.»Wenn du möchtest, erzähle ich sie dir.«

«Ich bitte darum«, sagte Beatrice.

Загрузка...